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German Pages 561 [572] Year 1979
HANDWÖRTERBUCH DER KRIMINOLOGIE Begründet von
ALEXANDER ELSTER und H E I N R I C H L I N G E M A N N In veilig nau bearbeiteter zweiter Auflag· herausgegeben von
Rudolf Sieverts und Hans Joachim Schneider
Ergönzungsband
w DE
G Berlin 1979 W A L T E R DE G R U Y T E R · B E R L I N · N E W Y O R K
Dr. jur. Rudolf Sieverts ist em. ο. Professor an der Universität Hamburg. Dipl.-Psych. Dr. jur. Hans Joachim Schneider ist ο. Professor an der Universität Münster/Westfalen. Er ist geschäftsführender Herausgeber dieses Bandes.
Erscheinungsdaten der Lieferungen Vergleichende Kriminologie: Japan - Strafzumessung (1.Lieferung): Januar 1977 Historische Kriminologie - Straffälligenhilfe (2.Lieferung): August 1979
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Handwörterbuch der Kriminologie / begr. von Alexander Elster u. Heinrich Lingemann. - In völlig neu bearb. 2. Aufl. hrsg. von Rudolf Sieverts u. Hans Joachim Schneider. - Berlin, New York : de Gruyter. 1. Aufl. u. d. T.: Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften. NE: Elster, Alexander [Begr.]; Sieverts, Rudolf [Hrsg.] Bd. 4. Ergänzungsband - 1979. ISBN 3 11 008093 1
© Copyright 1979 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck Steinkopf & Sohn, Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
KARL OTTO CHRISTIANSEN 1908-1976 IN MEMORIAM
VORWORT ZUM ERGÄNZUNGSBAND Der Ergänzungsband (4. Band) umfaßt Artikel, die in den ersten drei Bänden fehlten und die in den Ergänzungsband verwiesen werden mußten. Er enthält ferner Ergänzungsartikel, die das Gesamtwerk auf den neuesten Stand der theoretisch- und empirisch-kriminologischen Forschung bringen. Da einige wenige Sachgebiete der Kriminologie auch im Ergänzungsband nicht abgehandelt werden konnten, werden noch ein paar Artikel als Nachträge im Register- und Nachtragsband (5. Band) erscheinen. Nachdem im 2. Band, der Shufu Yoshimasu gewidmet worden ist, die enge Verbundenheit der deutschen mit der japanischen Kriminologie zum Ausdruck gebracht und nachdem im 3. Band, dessen Widmung an Hermann Mannheim erinnern soll, der Dank der deutschen an die angloamerikanische Kriminologie abgestattet worden ist, soll die Widmung dieses Bandes dem Andenken Karl Otto Christiansens dienen. Dieser große dänische Kriminologe hat nicht nur hervorragende internationale kriminologische Arbeit geleistet, sondern er war auch in besonderer Weise der deutschen Kriminologie verbunden. Mit dieser Widmung soll der Wunsch nach weiterer guter Zusammenarbeit der deutschen mit der skandinavischen Kriminologie zum Ausdruck gebracht werden. Auch an dieser Stelle gebührt allen Autoren wieder Dank für ihre konstruktive und geduldige Mitarbeit. Meiner Redaktionsassistentin, Frau Sybille Kappel, danke ich für ihre Mithilfe beim Lesen und Redigieren der Manuskripte. Ich danke ihr und meinem Assistenten, Ulrich Mattern, für das Lesen der Korrekturen. Meiner Sekretärin, Frau Magdalene Jäger, danke ich für das Schreiben von Manuskripten und das erneute Schreiben von redigierten Manuskripten. Ohne die Mithilfe meiner Frau Hildegard Schneider hätte ich auch diesen Band nicht herausgeben können. Ihr sei wiederum mein besonderer Dank ausgesprochen. Münster, im Mai 1979 Prof. Dr. Hans Joachim Schneider, geschäftsführender Herausgeber
INHALTSVERZEICHNIS Vergleichende Kriminologie: Japan. Von Prof. Dr. Dr. Koichi Miyazawa und Prof. Dr. Hans Joachim Schneider Internationale Verbrechensbekämpfung. Von Kriminaldirektor Kurt Schäfer . . . Gewaltkriminalität. Von Ltd. Kriminaldirektor Günther Bauer Reform des Strafverfahrensrechts. Von Prof. Dr. Heinz Zipf Strafzumessung. Von Prof. Dr. Karl Peters Historische Kriminologie. Von Prof. Dr. Wolf Middendorf^ Richter am Amtsgericht Attentat. Von Prof. Dr. Wolf Middendorff, Richter am Amtsgericht Kriminalgeographie. Von Prof. Dr. Hans-Dieter Schwind, Niedersächsischer Justizminister Städteplanung und Baugestaltung. Von Prof. Dr. Hans Joachim Schneider Unterschlagung. Von Prof. Dr. Friedrich Geerds Urkundendelikte. Von Prof. Dr. Friedrich Geerds Wilderei. Von Kriminaldirektor Günter Kierstein Fahndung. Von Ltd. Kriminaldirektor Günther Bauer Fehlurteil. Von Prof. Dr. Karl Peters Kriminalprognose. Von Prof. Dr. Hans Joachim Schneider Massenmedien. Von Prof. Dr. Hans Joachim Schneider Strafgesetzgebung. Von Sebastian Scheerer, Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle Vorbeugung des Verbrechens. Von Prof. Dr. Albert G. Hess und Jürgen Brückner Haftpsychologie. Von Prof. Dr. Rudolf Sieverts Strafvollzugsrecht. Von Prof. Dr. Heinz Müller-Dietz Kriminaltherapie. Von Prof. Dr. Hans Joachim Schneider Jugendstrafvollzug. Kriminologischer Beitrag. Von Prof. Dr. Alexander Böhm Jugendstrafvollzug. Übersicht über die internationale Praxis. Von Dr. Walter T.Haesler Straffälligenhilfe. Von Dr. Walter T. Haesler
1 46 80 121 132 142 157 169 181 197 205 222 248 259 273 338 393 404 445 455 495 522 535 553
VERGLEICHENDE KRIMINOLOGIE: JAPAN* A. Sozial- und Rechtsgeschichte in Japan Um die Situation der Kriminalität in Japan deutlich werden zu lassen, ist es notwendig, die sozialen Hintergründe der Kriminalität und das Werden des japanischen Rechtssystems aufzuzeigen. Da die Volksmentalität nicht zuletzt auf Tradition und Sitte beruht, ist zum Verständnis der Kriminalitätsphänomene ein Überblick über die japanische Geschichte, insbesondere die Rechtsgeschichte, unerläßüch. Die Geschichte Japans kann in den letzten hundert Jahren seit Mitte des 19. Jahrhunderts als Übergang aus einem stagnierenden, mittelalterlich-feudalistischen Staatsgebilde in eine hochentwickelte, moderne Industrienation gekennzeichnet werden. Für Japan war dieser Weg mit vielerlei Opfern und Rückschlägen verbunden, die dem Volk immer wieder das Letzte abverlangt haben. Den großen Einschnitt bildete die Restauration des Jahres 1868, in deren Verlauf der erst fünfzehnjährige Kaiser Meiji die Herrschaftsgewalt in seine Hände nahm, die bis dahin für mehr als 250 Jahre von den Shogunen der TokugawaFamilie beansprucht wurde. Ein Überblick über die Geschichte Japans bis zur Meiji-Periode vermittelt die historische Tafel 1. Sie verdeutlicht die jahrhundertelange Vorherrschaft der Kaiser und Fürsten, die innere Zerrissenheit des Landes und die Isolation, in die sich Japan im Laufe seiner Geschichte brachte. Es war das Lebensziel jedes mächtigen Landesherren, die damalige Hauptstadt Kyoto, den Kaiser-Sitz, zu besuchen, um dort vom Kaiser zum Seii-Taishogun (kurz Shogun) ernannt zu werden. Der Seii-Taishogun war der Oberbefehlshaber in ganz Japan, der die Aufgabe hatte, das Land zu einigen. Während der Bürgerkriegszeit, * Die Verfasser danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ohne deren finanzielle Unterstützung dieser Artikel nicht hätte geschrieben werden können. Koichi Miyazawa (Tokio) dankt der DFG für die Finanzierung einer Gaatprofesaur an der Universität Münster/Westf. im Wintersemester 1975/76. Hans Jochim Schneider dankt der DFG für eine finanzielle Beihilfe zu einer Kriminologischen Vortragsreise nach Japan im Herbst 1974. 1 HdX, 2. Aufl., Ergänzungsband
die im 16. Jahrhundert begann, versuchten mehrere Landesherren, Shogune zu werden. Im Jahre 1590 konnte Toyotomi Hideyoshi (1535—1598) zum ersten Mal die anderen mächtigen Landesherren besiegen und an die Spitze des SamuraiStandes — des Schwertritterstandes — treten. Da er jedoch seiner Herkunft nach zur allerniedrigsten Schicht gehörte, wurde er vom Kaiser nicht zum Shogun, sondern zum höchsten Adeligen am Kaiserhof ernannt. Nach seinem Tode im Jahre 1598 kam die Unruhe. Sein Sohn Hideyori war damals zu jung, und der zweitmächtigste Landesherr Tokugawa Ieyasu (1541—1616) wollte daher an seine Stelle treten. Die treuen Samurai, die zu der Familie Toyotomi gehörten, versuchten die Ambitionen von Tokugawa zu verhindern und infolgedessen war ganz Japan bald in die zwei verfeindeten Kriegslager gespalten. Nach dem Sieg in der Schlacht von Sekigahara in Zentraljapan im Jahre 1603 ließ sich Tokugawa Ieyasu vom Kaiser zum erblichen Shogun ernennen und sicherte damit seiner Familie die tatsächliche Regierungsgewalt über ganz Japan. Der Kaiser war — wie stets — nur nominell das Staatsoberhaupt, und der Kaiserhof hatte auch weiterhin seinen Sitz in der formellen Hauptstadt Kyoto, während die Shogune der Tokugawa-Familie, in deren Händen die tatsächliche Regierungsgewalt lag, das Land von Edo, dem heutigen Tokio, aus verwalteten. Durch diese Umstände hatte Edo, d. h. Tokio, bereits im 17. Jahrhundert einige Millionen Einwohner und konnte so innenpolitisch die Rolle der wirklichen Hauptstadt Japans spielen. Es kommt also nicht von ungefähr, daß Tokio eine der größten Städte in der Welt geworden ist. Unter der Herrschaft der Shogune war das gesamte japanische Reich in 260 Clan- oder Feudalländereien gegliedert, über die die Daimyo, die Landes- oder Provinzialherren, herrschten, die ihre Länder entweder direkt vom Shogun als Lehen erhalten oder aber ihre Clangebiete dem Shogun unterstellt und diesem die Treue geschworen hatten. So standen alle Lehensherren als Vasallen zum Shogun in einem persönlichen Treueverhältnis. Die gleiche Beziehung herrschte auch zwischen den Daimyos und deren Gefolgsmannen,
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Vergleichende Kriminologie: Japan Geschichtliche Tafel 1 1. Jahrhundert: Sippenverband (Japan war in etwa 100 Sippen geteilt) 239 n. Chr.:
Königin „Himiko" entsandte einen Boten nach Ghi (China)
Mitte des 4. Jahrhunderts: Japan war unter dem Yamato-Kaiserhof vereinigt Asuka Periode (4. bis Mitte des 7. Jahrhunderts) 604 n. Chr.: 645 n. Chr.:
Kronprinz Shotoku erläßt eine 17-Faragraphen-Verfassung Restauration Taika (enger Kontakt mit der Tang-Dynastie) Hakuho Periode (645 bis 694 n. Chr.) Nara Periode (694 bis 794 n. Chr.)
701 n. Chr.: 718 n. Chr.: 893 n. Chr.:
1167 n. Chr.: 1185 n. Chr.: 1192 n. Chr.:
Taihoritsu Strafgesetz unter dem Einfluß des Tang-Rechts erlassen Yororitsu (Strafgesetz) Heian Periode (794 bis 1192 n. Chr.) Bushi-Stand (Samurai = Schwertritter) gegründet Die Fujiwara-Familie übernimmt die politische Herrschaft im Kaiserhof (857 bis 1094 n. Chr.) Die Tadra-Familie reißt die politische Herrschaft an sich Minamoto Yoritomo besiegt Heike (aus der Taira-Familie) Yoritomo wird vom Kaiserhof zum „Seii-taishogun" (Oberbefehlshaber in Japan) ernannt „Kamakura-Bakufu" (Fürstenregierung) gegründet Kamakura Periode (1192 bis 1333 n. Chr.)
1219 n. Chr.:
Die Hojo-Familie erlangt die politische Hoheit
1232 n. Chr.:
Goseibai-shikimoku (Gesetzbuch mit 51 Paragraphen) erlassen Nanbokucho Periode (1334 bis 1399 n. Chr.) Die Kaiser-Familie teilt sich in zwei Teile (Süd- und Nord-Kaiserhöfe), die sich bekämpfen
1543 n. Chr.: 1649 n. Chr.: 1568 n. Chr. 1582 n. Chr. 1590 n. Chr. 1600 n. Chr. 1603 n. Chr.
1612 n. Chr. 1615 n. Chr. 1641 n. Chr. 1742 n. Chr. 1774 n. Chr.
Muromachi Periode (1405 bis 1576 n. Chr.) (Bürgerkriegszeit) Portugiesen landen in Japan und bringen moderne Waffen (Gewehre) mit Franzisco Sabiel kommt in Kagoshima an und besucht die Hauptstadt Kyoto Oda Nobunaga nimmt die politische Herrschaft in seine Hände Nobunaga wird von seinen Untertanen ermordet Toyotomi Hideyoshi (1535 bis 1598 n. Chr.) erobert ganz Japan Schlacht bei Sekigahara Tokugawa Ieyasu (1541 bis 1616 n. Chr.) wird zum Shogun (Oberbefehlshaber in Japan) ernannt Edo Periode (1603 bis 1867 n. Chr.) Verbot der Verbreitung der christlichen Lehre Toyotomi-Familie wird im Schloß Osaka umgebracht Isolationspolitik wird vollständig durchgeführt Osadamegaki-Gesetz mit 100 Paragraphen erlassen Anatomie-Tafel (Kaitai-shinsho) wird veröffentlicht
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Geschichtliche Tafel 1 (Fortsetzung) 1792 n. Chr.:
Die Russen tauchen um die Hokkaido-Insel auf
1797 n. Chr.:
Die Engländer tauchen um die Hokkaido-Insel auf
1853 n. Chr.: 1854 n. Chr.: 1864 n. Chr.:
Amerikanischer Kommodore Perry kommt nach Edo (heute Tokio) Handels- und Schiffahrtsabkommen geschlossen Innere Unruhe wächst
1867 n. Chr.:
Tokugawa Yoshinobu tritt zurück Meiji Periode (1868 bis 1912 n. Chr.)
1868 n. Chr.: 1870 n. Chr.:
Karikeiritsu (vorläufiges StGB) wird erlassen Shinritsu-Koryo (neues StGB) wird erlassen
1873 n. Chr.: 1880 n. Chr.:
Kaitei-ritsurei (revidiertes StGB) wird erlassen Altes StGB und alte StPO sind unter dem Einfluß des Code pinal und des Code d'instruction criminelle erlassen Reichsverfassung unter dem Einfluß der preußischen Verfassung erlassen
1889 n. Chr.: 1907 n. Chr.:
Das geltende StGB wird unter dem Einfluß des deutschen StGB von 1871 erlassen
den Samurai oder Schwertrittern. Die Daimyos bildeten als erbliche Territorialfürsten mit ihren Vasallen einen festen Lehensverband. Verlor ein Daimyo die Gunst des Shogun und damit sein Lehen, so waren davon auch seine Gefolgsleute betroffen. Gelang es seinen Samurai nicht, sich einem neuen Daimyo anzuschließen, blieb ihnen nur der Weg, sich als Ronin, als herrenlose Wandernde, durchs Leben zu schlagen oder aber ihren Rang als Samurai abzulegen und Mitglied des gewöhnlichen Volkes zu werden. Nach damaliger Samurai-Sitte durfte der ordentliche Samurai keinem anderen Herrn als Untertan dienen. Diese Sitte spielt im heutigen Japan noch eine gewisse Rolle. So ist es ζ. B. selten, daß Universitätsprofessoren von einer zur anderen Universität gehen, und für Studenten ist es unmöglich, während ihrer Studienzeit die Universität zu wechseln. Sie bleiben bis zum Ende des Studiums an derselben Universität, an der sie sich immatrikuliert haben. Dies ist bei den Angestellten und Berufstätigen in Industrie, Handel und Behörden ebenso. Falls sie in einer Firma oder in einem Geschäft einmal die Arbeit aufgenommen haben, bleiben sie meistens bis zum Ende ihrer Berufstätigkeit in derselben Firma. Auf diese Weise gibt es in der heutigen japanischen Gesellschaft noch Spuren der feudalistischen Lebensart. Der erste Shogun Tokugawa Ieyasu wollte seiner Familie möglichst dauerhaft die Spitze der herrschenden Klasse sichern. Um dies zu erreichen, hat er die Streitkräfte der anderen Landesherren, insbesondere die der damaligen Toyotomi-A^gehörigen, geschwächt. Dies ist ihm dadurch gelungen, daß er seine eigenen Familienangehörigen und seine treuen Gefolgsleute an die wichtigsten Schalt1*
stellen der Mächte setzte, um auf diese Weise die Verräter seines Herrschaftssystems möglichst schnell erkennen und einsperren zu können. Die allermächtigsten Landesherren mußten in der Provinz ihre Ländereien bewirtschaften. Die politische Strategie der Tokugawa-Regierung war äußerst geschickt. Jeder Daimyo mußte jedes zweite Jahr in Edo, dem Regierungssitz der Tokugawa-Shogune, verbringen. Während der übrigen Zeit, in der der Daimyo auf seinem Lehen wohnte, hatten die nächsten Familienangehörigen, die Frau oder die Kinder, als Sicherstellung für die Treue und den Gehorsam ihres Herrn in Edo zu leben. Dieses sogenannte San-Kin-Kotai-System ermöglichte dem Shogunat eine nahezu vollkommene Kontrolle über alle Daimyos, stellte aber für die Fürsten eine wirtschaftliche Belastung dar, da sie gezwungen waren, in Edo einen zweiten Hof zu unterhalten, der sich vielfach in eine Hauptresidenz und eine Zweitresidenz für die im Rang niedrigeren Gefolgsleute teilte. Dieses System ließ Edo zu einer blühenden Stadt mit einem hohen Konsumstandard werden, da natürlich die einzelnen Daimyos in ihrer Hofhaltung mit dem Hof des Shoguns, aber auch mit den anderen Fürsten wetteiferten. Die Daimyos mußten indessen bei ihrer Reise von ihrem Lehen nach Edo und zurück viele Gefolgsleute mit ihrem Gepäck transportieren, und das bedeutete eine besondere Belastung für jeden Feudalherren. Diese Politik der Tokugawa-Regierung muß deshalb als Verarmungsstrategie gegenüber den Landesherren bezeichnet werden. Im Hinblick auf die Schwächung dieser Territorialherren muß noch erwähnt werden, daß die Zentralregierung ein strenges Verbot für Neubauten sowohl bei Burgen und
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Schlössern wie auch für die Herstellung moderner Waffen, wie ζ. B. für Kanonen, erlassen und dessen Durchführung genau überwacht hat. Im Gegensatz zu den einzelnen Landesherren besaß die Tokugawa-Regierung auf diese Weise eine der stärksten Streitkräfte. Nach Weisung des ersten Tokugawa-Shogun, Ieyasu, lebte Japan — seit 1603 von den erblichen Shogunen der Tokugawa-Familie regiert — in Abgeschiedenheit vom Geschehen in der übrigen Welt. In der rund 250 Jahre dauernden Absperrungszeit von ausländischen Einflüssen, während der im Lande Friede herrschte, entwickelten sich Kultur, Kunst und Wissenschaft zu einer für mittelalterlich feudale Verhältnisse erstaunlichen Höhe und großartigen Blüte. Den einzigen und äußerst beschränkten Kontakt des Inselreichs während seiner langen Isolationsperiode mit der westlichen Welt bildete die kleine Handelsstation der Holländer auf der künstlich geschaffenen kleinen Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki. Über diesen von der Zentralregierung streng kontrollierten Handelsposten durfte ein begrenzter Warenaustausch mit chinesischen und holländischen Kaufleuten stattfinden. Diese kleine Faktorei der Holländer war zugleich auch die einzige Informationsquelle, durch die das Abendland einiges über dieses seltsame Inselreich erfahren konnte. Vor allem sind hier die Berichte der beiden deutschen Ärzte Engelbert Kämper und Philipp Franz von Siebold zu nennen, die von 1690 bis 1692 und von 1823 bis 1828 auf der Insel Dejima und letzterer abermals von 1859 bis 1862 in Edo gewirkt haben. Sie konnten allein deshalb in Japan leben und arbeiten, weil sie für Holländer gehalten wurden. Die japanischen Übersetzungsbeamten, die die holländische Sprache nicht so gut beherrschten, hielten die deutsche Sprache für einen holländischen Dialekt. Maßgeblich für die ethischen Grundlagen des von den Shogunen der Tokugawa-Familie regierten Staates war der Neo-Konfuzianismus. Die japanische Gesellschaft umfaßte gemäß dieser Lehre vier Klassen: Samurai, Bauern, Handwerker und Kaufleute. Soziale Mobilität zwischen diesen vier Klassen war nicht erlaubt. Die herrschende Klasse waren die Samurai, die als einzige ein Schwert tragen durften. Gewöhnlich trugen sie ein langes und ein kurzes Schwert, die Symbole ihrer sozialen Stärke waren. Innerhalb dieser herrschenden Klasse, deren Mitglieder Gefolgsleute der verschiedenen Daimyos oder des Shoguns selbst waren, bestand wiederum eine vielschichtige Ranggliederung. Diese reichte angefangen vom Shogun an der Spitze über die Daimyos, Hatamato und Gokenin, die direkten Hausvasallen, hinunter bis zu den Ashigaru, den gemeinen Fußsoldaten. Die Samurai waren Soldaten, Politiker, Regierungsbeamte oder Gelehrte, deren Stellung erblich war. Die Daimyos waren in ihren Lehen,
den Feudalprovinzen, oberste Herren mit eigener Gerichtsbarkeit über ihre Untertanen. Sie standen indessen unter scharfer Kontrolle des Bakufu, der Shogunatsregierung, die durch die sogenannten Ometsuke, Kontroll- und Sicherheitsorgane, ausgewählt wurde, deren Aufgabe es war, die Durchführung der vom Bakufu erlassenen Gesetze und Verfügungen zu überwachen, und die so etwas wie eine Sicherheitspolizei des Staates waren. Die Säule des Tokugawa-Staates waren die Bauern. Der Reis war nicht nur das Hauptnahrungsmittel, sondern bildete auch die Währungsgrundlage. Mit Reis wurden die Steuern bezahlt. Auf Reis gründeten sich die Renten der Samurai. Nach der Ertragshöhe war die Größe der Lehensgebiete festgelegt, und durch den Verkauf überschüssigen Reises war es den einzelnen Feudalländereien möglich, Bargeld zu bekommen und überdies andere Waren zu erstehen. Alle diese Handelsgeschäfte wurden damals über Osaka abgewickelt, wo alle Feudalprovinzen Handelsniederlassungen unterhielten. Die langdauernde Friedensperiode brachte zusammen mit einer Änderung der Machtverhältnisse im Bereich der Wirtschaft eine moralische Degeneration mit sich, die sich in allen Gesellschaftsschichten bemerkbar machte. Die Samurai, die durch die langen Friedensjahre zur Untätigkeit verurteilt waren, verloren ihren traditionell kämpferischen Geist. Sie wurden träge, überheblich und lebenslustig. Die unter der gewaltigen Steuerlast stöhnenden Bauern verarmten immer mehr. Die Kaufleute, die auf der untersten Stufe der sozialen Rangleiter standen, wurden wirtschaftlich immer stärker. Hier lag eine Wurzel zu jener Krise, die schließlich den Zusammenbruch der Herrschaft der Tokugawa-Regierung herbeiführen sollte. Vor allem waien es die Samurai der niedrigeren Ränge, die als erste in wirtschaftliche Not gerieten, dadurch mit der bestehenden Ordnung unzufrieden wurden und nach neuen Wegen und Möglichkeiten zu suchen begannen. Der Großteil dieser Samurai war gebildet und hatte einen gesunden Sinn für Realität. Sie erkannten, daß sich die alte, feste Ordnung zu lockern begann, ja beginnen mußte, wollte Japan nicht an Selbstvergiftung zugrunde gehen. Was diesen jungen Samurai niedrigen Ranges so große Hoffnung gab, war die Ausbildung in den modernen Wissenschaften, d. h. in den Wissenschaften, wie sie von Holländern in Japan gelehrt wurden. In der neueren Geschichte Japans hat die damalige Außenpolitik, die sogenannte Abkapselungspolitik, d. h. die Politik äußerster Isolation gegenüber den Europäern (mit der einzigen Ausnahme Hollands), in der Edo-Periode (1603—1867) unvergleichliche Einflüsse auf das Land und sein kulturelles Leben gehabt. Dank dieser Politik spielte die Fürstenregierung Tokugawa innenpolitisch die mächtigste Rolle. Diese völlige Isolation gegenüber den Welt-
Vergleichende Kriminologie: Japan mächten der damaligen Zeit hat zwar zur Entwicklung der traditionellen Kultur Japans in Poesie, Malerei und Musik beigetragen. Sie bewirkte indessen auch, daß sich die modernen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, im 17. Jahrhundert in Japan nicht genügend zu entfalten vermochten. Nachdem die Isolation im Jahre 1641 vollständig durchgeführt war, blieb der kulturelle Austausch zwischen Europa und Japan ausschließlich den Holländern überlassen. So konnten die Japaner nur durch holländische medizinische Bücher die medizinischen Fortschritte kennenlernen. Der Import sonstiger Bücher, insbesondere der Bücher über die moderne Kriegstechnik, wie ζ. B. über Kanonen- und Gewehrherstellungsmethoden, wurden vom Tokugawa-Bakufu streng verboten. Diejenigen, die Holländisch einigermaßen beherrschten, waren lediglich Übersetzungsbeamte, die als Beamte zum niedrigen Rang der Samurai gehörten. Damals war die chinesische Naturwissenschaft, insbesondere die chinesische Medizin, in Japan vorherrschend. Im Laufe der Zeit waren einige Gelehrte, insbesondere Mediziner, mit der chinesischen Medizin unzufrieden. Im Jahre 1771 haben daher drei Ärzte, die mit Genehmigung der Regierung zum ersten Mal die Leiche eines Hingerichteten seziert und mit einer ins Holländische übersetzten deutschen Anatomie-Tafel verglichen haben, damit angefangen, den Anatomie-Atlas ins Japanische zu übersetzen. Drei Jahre später — nach unvorstellbar mühsamer Arbeit — erschien die japanische Übersetzung. Diese Übersetzungsleistung fand ein großes Echo unter den jungen Medizinern, und danach wuchs die Zahl der Japaner, die Holländisch studieren wollten, immer mehr. Im Jahre 1783 wurden das erste holländische Lehrbuch der Grammatik und im Jahre 1796 das erste holländisch-japanische Wörterbuch herausgegeben. Um die Jahrhundertwende tauchten russische und englische Kriegsschiffe rings um die japanischen Inseln auf und bedrängten die Regierung, ihre Isolationspolitik aufzugeben. Unter diesen Umständen wollten die jungen, den unteren Rängen angehörenden Samurai holländische Wissenschaften studieren. Schließlich wurde im Jahre 1838 von dem Mediziner Ogata Koan in Osaka eine private Schule für holländische Wissenschaft „Tekijuku" eröffnet. Obwohl es für diese jungen Leute damals wegen des strengen feudalistischen Statussystems keine Möglichkeit sozialer Mobilität entsprechend ihren Fähigkeiten und ihrer Intelligenz gab, konnten sie dank ihrer Kenntnisse moderner Wissenschaft von ihren Landesherren zu Sonderoffizieren ernannt werden. Nach der zwangsweisen Öffnung des Landes, die im Jahre 1853 mit dem Besuch des amerikanischen Kommodore Perry in Tokio begann, erlebte Japan eine etwa 15jährige Periode innerer Unruhen. Während
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dieser Bürgerkriegszeit konkurrierten einige mächtige Landesherren, die ihren Sitz in entfernten Provinzen hatten, mit der Tokugawa-Regierung um die Herrschaft über ganz Japan. Daher unterstützten sie die europäisch ausgebildeten jungen Samurai, gaben ihnen einen neuen hohen Status und nutzten ihre Kenntnisse. Die TokugawaRegierung selbst mußte sich dieser Entwicklung anschließen, da die Samurai der höheren Ränge, die aufgrund des feudalistischen Systems erbliche Privilegien genossen, den revolutionären Bewegungen in der Gesellschaft verständlicherweise wenig positiv gegenüberstanden. Nach der Übernahme der Herrschaft durch Kaiser Meiji (1867) versuchte Japan in dieser als Restauration bezeichneten Zeit, einige hundert Jahre Entwicklung nachzuholen. Das führte zur totalen Umkehrung allen politischen und auch wissenschaftlichen Denkens. War vorher Japan, der nach außen fast völlig abgeriegelte Inselstaat, der Angelpunkt allen Denkens und Handelns, so zählte plötzlich fast nur noch das, was aus dem Ausland, d. h. aus Amerika und Europa, kam. Hierdurch wurde es Japan möglich, trotz innenpolitischer Kämpfe und Bürgerkriege, die erst 1877 endeten und das Land erstmals seit knapp 1000 Jahren wieder unter kaiserlicher Herrschaft vereinten, seinen Entwicklungsrückstand in unglaublich kurzer Zeit wettzumachen. Die allzu schnelle Veränderung der Gesellschaft und des kulturellen Lebens brachte zwar viele positive Leistungen, jedoch gleichzeitig auch Negatives mit sich. Die neue Regierung betrieb die Modernisierung Japans mit allen Kräften und suchte alle möglichen Institutionen, etwa des Rechtssystems und des Wirtschaftswesens, nach dem Modell der nordamerikanischen und europäischen Länder einzuführen. Der Versuch der Regierung, möglichst schnell Systeme aus dem Ausland zu errichten, ihre Inhalte aber erst später allmählich zu praktizieren, entspricht einer alten japanischen Volks Weisheit: „Ohne religiöse Gesinnung baut man Buddhas Statue." Die europäische Wissenschaft und Kultur wurde in Japan planlos, willkürlich und zufällig übernommen, ein Phänomen, das nicht nur für die Edo- und Meiji-Perioden, sondern auch für die Gegenwart gilt.
B. Geschichtliche Entwicklung des japanischen Strat- und Jugendrechts Im 8. Jahrhundert wurde das erste Strafgesetz in Japan unter chinesischem Einfluß erlassen (siehe Geschichtliche Tafel 1). Japan war damals mit der Tang-Dynastie eng verbunden und unterstand ihrem kulturellen Einfluß. Es hat viel Kulturelles, wie den Buddhismus und die chinesische Kunst, aus China übernommen und auch die chinesischen Rechtsinstitutionen eingeführt. Im Jahre
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701 wurde das „Taihoritsu"-Strafgesetz erlassen, dessen Inhalt verlorengegangen ist. Im Jahre 718 ist das revidierte „Yororitsu"-Strafgesetz entstanden (Koichi Miyazawa 1965). Dieses Gesetz war zwar ein vollständiges Gesetzgebungswerk. Jedoch mangelte es damals an einem passenden Rechtswesen, das das Rechtssystem hätte praktizieren können. So blieb das „Yororitsu" auf dem Papier stehen. Im Jahre 1232 wurde zwar das „Goseibaishikimouk"-Gesetzbuch erlassen, das aus 51 Paragraphen bestand und ausschließlich für den Samurai-Stand bestimmt war (siehe Geschichtliche Tafel 1). Die mangelhafte Lage der Rechtsinstitutionen war jedoch weiter so geblieben wie zuvor. Nach einer unruhigen Bürgerkriegszeit gelangte die Fürstenregierung Tokugawa im Jahre 1616 auf fester politischer Basis in ganz Japan zur Herrschaft. Diese Regierung, die vom SamuraiStand geprägt war, stand politisch und militärisch an der Spitze. Der Kaiser war nur noch formell Staatsoberhaupt. Sowohl das Rechts- als auch das Verwaltungswesen blieben unverändert. Die Gesellschaft war hierarchisch in vier Klassen unterteilt, und es war keine soziale Mobilität zwischen den einzelnen Schichten erlaubt: Bushi (Offiziere und Soldaten), Bauern, Handwerker und (als niedrigster Stand) Kaufleute. Es gab kein einheitliches Strafgesetz, sondern einige mächtige Landesherren hatten partikulare Strafgesetze für ihre eigenen Territorien erlassen, die nach wie vor unter dem Einfluß des chinesischen Strafrechts der Ming- und Ching-Dynastie standen. Die damaligen Strafgesetze waren Standesgesetze, die zwischen dem Samurai- und den anderen drei Ständen strenge Trennungen vorsahen. Das galt insbesondere für das Strafensystem. Der Strafprozeß verlief der Gewohnheit gemäß und nach gesundem Menschenverstand. Adressat der Gesetze war der Richter. Dem Volk wurden sie nicht bekanntgemacht. Das zeigt eine auf der Rückseite eines Gesetzes („Osadamegaki", 1742) verlautbarte allgemeine Bemerkung: Keinem anderen als einem Richter darf dieses Gesetz gezeigt werdenl Die Fürsten-Regierung Tokugawa hatte im Jahre 1854 mit den Amerikanern, den Engländern und Russen, im Jahre 1855 mit den Franzosen und im Jahre 1860 mit Preußen ungleiche Abkommen, Handels- und Schiffahrtsverträge, abgeschlossen, die Japan weitgehend seiner Zollfreiheit beraubten und in denen den fremden Kaufleuten Exterritorialrechte eingeräumt worden waren. Es war eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Regierung, die im Jahre 1868 unter der Herrschaft des Kaisers Meiji an die Macht gekommen war, diese Verträge zu verbessern und neue, gleichberechtigte Abkommen zu schließen. Die westlichen Länder wollten hingegen die Verträge erst reformieren, wenn Japan die vollständige Rechtsstaatlichkeit erlangt hatte. Die Regierung mußte deshalb so schnell wie möglich ihre Gesetze vervoll-
ständigen, und sie hat, insbesondere bei der Strafgesetzgebung, die chinesischen Strafgesetzbücher als Modell benutzt. So wurden drei Strafgesetzbücher, nämlich Karikeiritsu (1867), Shinritsukoryo (1870) und Kaitei-ritsurei (1872), erlassen. Im Vergleich zu den früheren japanischen Gesetzen war das chinesische Recht fortschrittlich. An den Maßstäben europäischer Gesetzgebung und Rechtsstaatlichkeit gemessen, war sein Inhalt jedoch altmodisch und zu stark an der ostasiatischen Ethik ausgerichtet. Es kannte hierarchisch begründete Strafunterschiede und sehr grausame harte Strafen. Die westlichen Mächte waren mit dem Strafrecht sehr unzufrieden und lehnten die Vorschläge der japanischen Regierung, die mit der Tokugawa-Regierung geschlossenen Abkommen zu reformieren, weiterhin ab. Die MeijiRegierung versuchte daraufhin, die Strafgesetzgebung nach europäischem Modell schnell in Gang zu setzen. Dabei wurde der „Code pinal" deshalb ausgewählt, weil Japan bereits am Ende der Tokugawa-Regierung mit Frankreich eng verbunden war und die anderen Länder, wie England und Amerika, „Common-law"-Länder waren. Im Jahre 1873 wurde Gustave Boissonade, Professor der Rechte an der Universität Paris, zum Ratgeber im Justizministerium ernannt. Er hat zunächst Vorlesungen über französisches Recht an der neu gegründeten Rechtsakademie des Justizministeriums gehalten. Erstaunlicherweise hielt er fast alle Vorlesungen in französischer Sprache, die die Studenten durchaus beherrschten. Nach zweijährigen Vorbereitungen wurde im Jahre 1875 die Kommission für Strafrechtsreform berufen. In der konstituierenden Sitzung wurden folgende drei Vereinbarungen beschlossen: a. Das System des kommenden StGB soll nach dem Muster der westlichen Länder, ähnlich dem der kontinentalen und anglo-amerikanischen Staaten, gestaltet werden. b. Dabei sollen japanische Wertvorstellungen und traditionelle Gebräuche berücksichtigt werden. c. Die Gesetzessprache soll traditionsgemäß die chinesischen Fachausdrücke verwenden. Für die heutige Betrachtung ist besonders Punkt b. von Bedeutung. Es war zweifelhaft, welche Wertvorstellungen und traditionellen Gebräuche bei der Abfassung des neuen Strafgesetzbuchs berücksichtigt werden sollten. Aus politischen Gründen wurde seinerzeit die Schaffung eines starken Hausvaterwesens von der Regierung gewünscht. Der pater familias besaß absolute Autorität den anderen Familienangehörigen gegenüber. Die Ehefrau war zur bedingungslosen Treue dem Mann gegenüber verpflichtet, während er selbst durchaus andere Bindungen eingehen konnte. Alle Kinder — mit Ausnahme des ersten Sohnes — mußten sich dem Willen des Hausvaters fügen, der sich insbesondere bei der Wahl des Ehegatten des Kindes entscheidend durchzusetzen vermochte. Diese Wertvorstellungen im Bereich der Familie
Vergleichende Kriminologie: Japan konkretisierten sich strafrechtlich ζ. B. in der Ausgestaltung der Ehebruchsvorschriften und in der Strafverschärfung im Fall der Aszendententötung. Insbesondere im Familienbereich sollte den modernen europäischen Ideen von der freien Eigenbestimmung jedes einzelnen entgegengewirkt werden. Zur Verwirklichung dieser japanischen Grundvorstellungen und um das Eindringen allzu westlich bestimmter Ideen zu verhindern, bestand die Kommission ausschließlich aus Japanern, während Boissonade zunächst nur als außenstehender Berater tätig sein durfte. Die Mitglieder der Kommission hatten an Boissonades Vorlesung über französisches Strafrecht, die am 15. September 187& an der Akademie begonnen hatte, teilgenommen und konnten ihn über vieles befragen. So entstand der erste Entwurf des StGB, Allgemeiner Teil, der aus 82 Paragraphen bestand. Er war jedoch — inhaltlich betrachtet — vom chinesischen Rechts- und Systemdenken beeinflußt und wurde von Boissonade vernichtend kritisiert. Daraufhin durfte er an den Sitzungen einer zweiten Kommission teilnehmen und seine Formulierungshilfen vortragen. Im Mai 1876 waren zwei Entwürfe (Allgemeiner Teil) mit 103 bzw. 117 Paragraphen fertig, am Ende desselben Jahres dann weitere zwei Entwürfe (Allg. und Bes. Teil) mit 479 bzw. 524 Paragraphen. Das alte japanische StGB von 1880 ist auf der Basis dieses Entwurfs von 1876 entstanden und besteht aus 430 Paragraphen, die im Jahre 1882 in Kraft getreten sind. Wenngleich Boissonade das Gesetz eindeutig geprägt hat, wurde sein Ziel, eine gereinigte, perfektionierte Fassung des „Code pinal" zu schaffen, nicht erreicht. Vor seiner Rückkehr nach Frankreich gab er daher noch einen Text zum reformierten StGB in französischer Sprache heraus, der seinen Vorstellungen entsprach. Auch die Japaner waren mit der Fassung des Gesetzes nicht vollends zufrieden. Als Gründe dafür sind folgende Tatsachen zu nennen: Die gesetzlich angedrohten Strafen, insbesondere die zahlreichen Spielarten der Freiheitsstrafe, waren allzu verschiedenartig. Für Japan praktisch bedeutungslose Strafen, wie ζ. B. die Verbannung, waren gesetzlich geregelt. Die Systematik sowohl des Allgemeinen wie des Besonderen Teils war nicht korrekt. Der Hauptgrund der Reformbedürftigkeit bestand allerdings darin, daß 1890 eine stark an das preußische Recht angelehnte Verfassung in Kraft getreten war und daß man der Meinung war, republikanisches französisches Strafrecht sei mit kaiserlichem deutschen Verfassungsrecht nur schwer zu vereinbaren. Die wirklichen geschichtlichen Hintergründe der Annäherung Japans an Preußen waren folgende: Die Tokugawa-Regierung hat gegen Ende ihrer Herrschaft ihr Militärwesen nach dem Muster Frankreichs modernisiert, und die Meiji-Regierung hat das so reformierte Militärwesen übernommen. Nach dem französisch-
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preußischen Krieg (1870/71) aber hat sie ihren Blick auf die neuerlich aufgestiegene Macht Preußens gerichtet. Im Jahre 1882 besuchte die Kommission zur Verfassungsgebung Preußen und erforschte auch das Militär- und Polizeiwesen. Die Meiji-Regierung entschloß sich danach, das japanische Staatssystem nach preußischem Muster zu modernisieren. Nach vergleichenden Untersuchungen war man der Meinung, daß das deutsche StGB von 1871 viel moderneres Recht sei als der „Code ptoal" von 1810. Seit 1893 hat die Kommission für Strafrechtsreform einige Entwürfe veröffentlicht, die auf der Grundlage des deutschen StGB verfaßt waren. Im Jahre 1907 ist das neue StGB erlassen worden, das am 1.10. 1908 in Kraft getreten ist. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß in Deutschland gerade zu dieser Zeit der Schulenstreit zwischen der klassischen und der modernen Strafrechtsschule heftig tobte und die Reformbewegung unter Leitung des führenden Strafrechtslehrers Franz von Liszt in Gang kam. Im Jahre 1909 wurde der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch veröffentlicht. Das Hauptanliegen der folgenden Entwürfe in Deutschland war es, wie und in welchem Umfang man die modernen Mittel der Verbrechensbekämpfung, d. h. die Sicherungs- und Besserungsmaßnahmen, in das kommende StGB einführen sollte, wovon freilich das japanische n e u e StGB nichts wußte und die es immer noch vergebens aufzunehmen versucht. Das alte StGB von 1880 hat dem geltenden japanischen StGB von 1907 als Muster gedient. Es wurde inzwischen mehrmals novelliert, und im Jahre 1947 hat es eine große Teilrevision erfahren. In der japanischen Strafrechtsreform, die im Jahre 1953 begonnen hat, wurde der amtliche deutsche Strafgesetzentwurf 1962 als Vorbild in vielen Punkten berücksichtigt. Diese Tendenz beruht auf der langen Verbundenheit des japanischen Rechtssystems mit dem deutschen, aber auch auf der gemäßigt verlaufenden Reformbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Anders verhält es sich im Fall der Strafprozeßordnung. Im Jahre 1880 ist die erste StPO unter dem Einfluß des französischen „Code d'instruction criminelle" erlassen und im Jahre 1890 den japanischen Verhältnissen entsprechend revidiert worden. Dabei wurde die deutsche Reichs-StPO (1877) berücksichtigt. Bei der Entstehung der zweiten japanischen StPO (1922) wurde die deutsche StPO dann in vielen Punkten zum Vorbild. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die gegenwärtig geltende StPO entstanden. Diesmal wurde die StPO des Staates Illinois als Modell genommen. So ist eine völlig reformierte StPO in Japan in Kraft getreten. Im japanischen Strafvollzugsgesetz überwiegt indessen wieder der deutsche Einfluß. Bereits im Jahre 1889 stand das kaiserliche Edikt über den Strafvollzug unter dem Eindruck des
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Vergleichende Kriminologie: Japan
deutschen Rechtsdenkens auf diesem Gebiet. Dieser Eindruck geht auf Kurt von Seebach, einen jungen Beamten der Strafanstalt Berlin-Moabit, einen Schüler Carl Krohnes, zurück. Er war Direktor der japanischen Strafvollzugsakademie. Er hat nicht nur Gefängniskunde und Vollzugsrecht gelehrt, sondern auch den Anstaltsbediensteten europäische Gymnastik beigebracht. Seebachs Ideen wurden durch seinen Schüler Ogawa Shigejiro fortgeführt. Sie haben einige Niederschläge in der Gesetzgebung gefunden, und zwar in der erneuerten Durchführungsverordnung des Innenministeriums über den Strafvollzug von 1899 und auch im gegenwärtigen (geltenden) Strafvollzugsgesetz und in der Durchführungsverordnung des Justizministeriums zum Vollzugsgesetz von 1908. Ein aktuelles Problem des geltenden japanischen StGB ist die Gesetzessprache. Das Strafgesetz ist selbst für Fachjuristen schwer zu lesen. Dieser Umstand widerspricht der Garantiefunktion und der vorherigen Bestimmtheit des Strafgesetzes. Nach § 38 Abs. 3 jap. StGB schließt Unkenntnis des Gesetzes den Willen, eine Straftat zu begehen, nicht aus. Die schwere Verständlichkeit der Bestimmungen des japanischen StGB sind auf die Vereinbarung der Strafrechtskommission aus dem Jahre 1875 zurückzuführen: Die Gesetzessprache sollte die chinesischen Fachausdrücke verwenden. Diese Vereinbarung hat nicht nur auf die Fassung des alten, sondern auch auf die des geltenden StGB eingewirkt. Die meisten schwer lesbaren Fachausdrücke gehen auf die chinesische Gesetzessprache des 8., 15. und 17. Jahrhunderts zurück. Im japanischen, unter dem chinesischen TangStrafrecht beeinflußten StGB „Yororitsu" (718 n. Chr.) gab es Sonderbestimmungen über die Strafmilderung gegenüber den alten und jungen Rechtsbrechern. Täter über 70 Jahre und unter 16 Jahren wurden milder bestraft. 8- bis 15jährige galten als beschränkt Schuldfähige. Dieser Gedanke beruhte auf dem ostasiatischen Toleranzprinzip. Strafmilderungsmöglichkeiten für junge und alte Täter waren auch nach den drei Strafgesetzbüchern möglich, die unmittelbar nach der Meiji-Restauration erlassen und von dem chinesischen Strafgesetzbuch der Ming- und ChingDynastie beeinflußt worden waren. Die modernen Grundsätze für die Behandlung krimineller Jugendlicher stammten freilich aus Gedankengut, das im Rahmen der Rezeption westlicher Errungenschaften in Japan wirksam geworden ist. In dem Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1880 wird die Strafmündigkeit auf 12 Jahre festgesetzt. Bei mangelnder Einsichtsfähigkeit kann ein Jugendlicher bis zum Alter von 16 Jahren wie ein Strafunmündiger behandelt werden. Bei Jugendlichen bis zum Alter von 20 Jahren muß die Strafe gemildert werden. Strafunmündige von 8 bis 12 bzw. 16 Jahren können in eine Art Erziehungsanstalt, in chöjijö, eingewiesen werden. Von der
Konzeption her waren die chöjijö bereits recht bedeutsam. Die Insassen sollten unter der Leitung von Sonderschullehrern täglich drei bis vier Stunden Lesen, Schreiben, Rechnen und Zeichnen üben. Die Realität sah jedoch anders aus. Die chöjijö waren meist nichts anderes als Abteilungen in Gefängnissen für Erwachsene, und für eine Sonderbehandlung der Jugendlichen war kein geeignetes Personal vorhanden. Die Bestimmungen über die chöjijö im alten Strafrecht von 1880 standen daher nur auf dem Papier. Während die Behandlung jugendlicher Straftäter durch den Staat unwirksam blieb, war es die private Initiative, die den Sinn des Gesetzes eher erfüllte. 1884 stiftete Frau Ikegami aus Osaka das erste kankain, eine Fürsorgeanstalt für delinquente Jugendliche. Weitere Stiftungen folgten, unter anderen auch die einiger buddhistischer Tempel in Chiba, deren Mönche in den durch ihre finanzielle Unterstützung errichteten kanka-in als Lehrer tätig wurden. Wenngleich das Strafgesetzbuch die kanka-in nicht erwähnt, nutzten die Gerichte diese privaten Institutionen und sandten Kinder und Jugendliche zumeist lieber dorthin als in die chöjijö. Im Jahre 1900 wurden die kanka-in durch Gesetz (Kankaho) in der Art anerkannt, in der sie schon seit Jahren benutzt worden waren. Nunmehr wurden sie allerdings staatlicher Verwaltung unterstellt. Sie unterstanden unmittelbar der Präfektur, also in letzter Instanz dem Innenministerium. Die weiterhin bestehenden chöjijö wurden hingegen vom Justizministerium verwaltet. Trotz reger Diskussion der Reformierung der Vorschriften über die Behandlung delinquenter Jugendlicher brachte die Strafrechtsänderung von 1907 diesbezüglich nur wenige Ergebnisse: Die chöjijö wurden abgeschafft, und das Alter der Strafmündigkeit wurde von 12 auf 14 Jahre heraufgesetzt. Ebenfalls im Jahre 1907 gab ein Ereignis den Anstoß zur echten Fortentwicklung des japanischen Jugendrechts. Der Rechtsphilosoph Hozumi Nobushige hielt vor der Arbeitsgemeinschaft für Rechtstheorie einen Vortrag über das „Jugendgericht in den USA", in dem er seine in Amerika gesammelten Erfahrungen auswertete. Dieser Vortrag regte die Diskussion derart an, daß kurz darauf eine parlamentarische Debatte stattfand, die in die Bildung einer Sonderkommission zur Schaffung eines Jugendrechts mündete. Den Vorsitz in dieser Kommission hatte Hozumi inne. 1913 wurde von diesem Gremium ein erster und 1918 ein zweiter Entwurf vorgelegt. Der dritte Entwurf aus dem Jahre 1919 wurde dann am 17. 4.1922 als neues Jugendgesetz verkündet und trat am 1.1.1923 in Kraft. Die wesentliche Neuerung dieses Gesetzes bestand zunächst darin, daß ein besonderes Spruchorgan vorgesehen war, das über delinquente Jugendliche, die nicht älter als 18 Jahre waren, ebenso wie über noch nicht kriminell gewordene, aber gefährdete und verwahr-
Vergleichende Kriminologie: Japan loste Jugendliche gleichen Alters entscheiden konnte. Diese Shönen-shimpan-jo (wörtlich übersetzt: Stellen zur Tatsachenbeurteilung Jugendlicher) waren keine formellen Jugendgerichte. Abgesehen von ihrer organisatorischen Zuordnung zum Justizministerium waren die Shönen-shimpan-jo allerdings im Verfahren im Hinblick auf die Auswirkung ihrer Entscheidungen Jugendgerichten sehr ähnlich. Der Shönen-shimpan-kan (wörtlich übersetzt: Beamter für die Tatsachenbeurteilung bei Jugendlichen) leitete das Verfahren und fällte die Entscheidung. Ihm assistierten die Shönen-hogoshi (wörtlich übersetzt: Amtsträger für Jugendfürsorge) und der Shoki (Sekretär). Erstere waren für die Ermittlungen zuständig und nahmen somit Staatsanwälten vergleichbare Positionen ein, wenngleich die Staatsanwaltschaft selbst auch im Verfahren vor dem Shönen-shimpan-jo noch Aufgaben wahrnahm. Gleichzeitig war der Shönen-hogoshi für die Untersuchung der sozialen Umgebung der Jugendlichen zuständig, also für alle nur erreichbaren Daten, die auf die Persönlichkeit des Jugendlichen und seine Entwicklungsmöglichkeiten schließen lassen. Über die Zuständigkeit des Shönen-shimpan-jo entschied der Staatsanwalt. Stieß er im Laufe seiner Ermittlungen auf jugendliche Täter, so konnte er entscheiden, ob die Sache als Fürsorgeangelegenheit dem Shönen-shimpan-jo zugewiesen oder aber als Strafsache vor Gericht angeklagt werden sollte. Überdies hatte er im Rahmen seiner praktisch unbegrenzten Opportunität auch die Möglichkeit, keine der beiden Maßnahmen zu treffen und die Sache trotz hinreichenden Tatverdachts nicht weiter zu verfolgen. Übrigens war diese Entscheidung über das kompetente Entscheidungsgremium keine gerichtlich zu regelnde Zuständigkeitsfrage, weil der Shönen-shimpan-jo kein Gericht, sondern Verwaltungsbehörde war. Der Shönen-shimpan-jo hatte die Auswahl zwischen neun verschiedenen Maßnahmen, die er verhängen konnte, falls er der Ansicht war, der Jugendliche benötige staatliche Fürsorge. Er konnte den Jugendlichen ζ. B. einem buddhistischen Kloster, einer shintoistischen oder auch christlichen Glaubensgemeinschaft oder Fürsorgevereinigung oder einer geeigneten Einzelperson zur weiteren Erziehung übergeben. Der Shönen-shimpan-kan konnte den Jugendlichen der Beobachtung eines Hogoshi unterstellen. Diese Maßnahme kann als Behandlung in Freiheit bezeichnet werden, die gesetzlich in Japan zum ersten Mal vorgesehen war. Meistens blieb der Jugendliche bei seinen Eltern und wurde des öfteren von seinem Hogoshi besucht. Eine weitere bedeutsame Neuerung bestand darin, daß erstmalig auch Maßnahmen zur Rehabilitierung angeordnet werden konnten, die außerhalb von Anstalten und Institutionen, also innerhalb des im übrigen ungestörten Privatlebens der Betroffenen, wirkten. Die Shönen-shimpan-jo hatten
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somit unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft außerordentliche Möglichkeiten, um auf die Bekämpfung der Jugenddelinquenz Einfluß zu nehmen. Im Jahre 1922 gab es allerdings nur insgesamt zwei Shönen-shimpan-jo, eines in Osaka und ein weiteres in Tokio. Bis zum Jahre 1942 hatten sich diese Zahlen nur unbedeutend verbessert. Denn es gab nunmehr sieben Shönenshimpan-jo, also in jedem der damaligen japanischen Oberlandesgerichtsbezirke eines. Für das Gerichtsverfahren gegen Jugendliche sah das Jugendgesetz von 1922 Sonderregelungen vor. Verfahren gegen Jugendliche mußten von Verfahren gegen Erwachsene getrennt werden. Die Verhängung einer innerhalb eines begrenzten Rahmens unbestimmten Strafe war möglich. Schließlich durfte bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe diese nicht in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden. Seit dem Jahre 1900 gab es in Japan ein Jugendfürsorgegesetz (Kanka-ho), das neben dem Jugendgesetz aus dem Jahre 1922 galt. An seine Stelle trat im Jahre 1933 ein Jugendzuchtgesetz (Shönenkyogo-ho), das bis heute neben dem Jugendgesetz in Kraft ist. Es regelt Maßnahmen, die das Innenministerium zum Schutz der Jugend ergreifen kann. C. Die gegenwärtige Situation der Kriminalität in Japan Im Jahre 1974 hatte Japan 110 049 000 Einwohner, davon 84 789 000 strafmündige, über 14jährige und 9 667 000 14- bis 20jährige Jugendliche. Ohne Straßenverkehrsdelikte sind in Japan im Jahre 1974 1 211 005 Straftaten verübt worden. Die Häufigkeitszahl (die Zahl der bekanntgewordenen Fälle auf 100 000 Einwohner) betrug 1100,4. Die Bundesrepublik Deutschland hatte im Jahre 1974 62040900 Einwohner. In ihr wurden im selben Jahr ohne Straßenverkehrsdelikte 2741728 Rechtsbrüche begangen. Die Häufigkeitszahl betrug im Jahre 1974 4419. Die kriminelle Belastung beläuft sich nach den offiziellen polizeilichen Kriminalstatistiken also in Japan auf ein Viertel derjenigen, die in der Bundesrepublik vorhanden ist. Die Kriminalität ist in der Bundesrepublik nicht nur höher als in Japan. Sie steigt vielmehr auch an, während sie in Japan — wenn auch nur leicht, aber beständig — abfällt. Die Häufigkeitszahlen wuchsen in der BRD von 3031 im Jahre 1965 über 3924 im Jahre 1970 auf 4419 im Jahre 1974 an. Demgegenüber fielen sie in Japan von 1367,2 im Jahre 1965 auf 1233,9 im Jahre 1970, auf 1100,4 im Jahre 1974 ab. Die Entwicklung der Gesamtkriminalität und der Kriminalität mit Ausnahme der Körperverletzung und Tötung im Straßenverkehr nach Beendigung des 2. Weltkriegs ergibt sich aus Abbildung 1. Die Kriminalität wuchs in Japan in der
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Vergleichende Kriminologie: Japan 200 («10 0001 190
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Abbildung 1: Entwicklung der polizeilich bekanntgewordenen Fälle nach dem StGB in Japan nach dem 2. Weltkrieg : Gesamtkriminalität : Kriminalität mit Ausnahme der Körperverletzung und Tötung im Straßenverkehr Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 2 Nachkriegszeit. Von I960 bis 1965 hatte sie eine fallende Tendenz. Die Gesamtkriminalität stieg von Mitte der fünfziger Jahre bis Ende der sechziger Jahre an. Dieser Anstieg wurde durch die Straftaten im Straßenverkehr (-> Verkehrsdelikte) bewirkt. Denn die Kriminalität mit Ausnahme der Körperverletzung und Tötung im Straßenverkehr zeigte seit Ende der fünfziger Jahre eine fallende Tendenz. Seit Ende der sechziger Jahre fällt auch die Gesamtkriminalität. Die Entwicklung der Anzahl der Kraftfahrzeuge und der Zahlen für Verletzte und Tote im Straßenverkehr seit 1965 zeigt Abbildung 2. Im Jahre 1970 gab es in Japan 18586503 Autos. Bis zum Jahre 1974 stieg die Zahl der Autos auf 26182062 an. Trotz dieser Zunahme gingen die Zahlen für Verkehrsunfälle, für Tote und Verletzte bei Straßenverkehrsdelikten zurück. Im Jahre 1970 gab es in Japan 718080 Unfälle mit 16765 Toten und 981096 Verletzten. Diese Zahlen sanken bis zum Jahre 1974 auf 586713 Unfälle mit 14574 Toten und 789948 Verletzten. Der Gesetzgeber hatte zwischenzeitlich die Freiheitsstrafe für fahrlässige Straßenverkehrsdelikte erheblich erhöht. Ferner sind in jüngster Zeit viele Sicherheitszäune und Fußgängerüberwege an den Autostraßen gebaut worden. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß sich die Zahlen für die Unfälle im Straßenverkehr nicht mit den Zahlen der Kraftfahrzeuge und
nicht einmal mit zunehmender Verkehrsdichte erhöhen. Ab einer bestimmten Anzahl von Kraftfahrzeugen und einer bestimmten Verkehrsdichte nehmen die Unfälle mit Verletzten und Toten im Straßenverkehr nicht mehr zu, sondern sogar ab. Die Verkehrsteilnehmer haben einen Lernprozeß durchgemacht, der sie vorsichtiger fahren läßt.
1
Kraftfahrzeuge
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— Verletzte im »•^Straßenverkehr
100 Tote im Strafienverkehr 1365 66
67
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Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl der Kraftfahrzeuge, der Unfalltoten und -verletzten Anmerkung: 1965 = 100 (Indexzahl) Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 438
Vergleichende Kriminologie: Japan
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Fahrlässige Körperverletzung und Tötung im Strallenverkehr
27,6 % Alle Fälle
. 1 671 965 Sonstige Delikte Schwere Delikte Sexualdelikte Intelligenz delikte fioheits-und Gewaltdelikte
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Diebstahl
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1,7%,
Abbildung 3: Prozentsätze der polizeilich bekanntgewordenen Fälle (StGB-Delikte) im Jahre 1974 Quelle: Japanisches Kriminalamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1974. Tokio 1975, S. 1 Die zunehmende Verkehrsdichte erlaubt kein Fahren ohne relative Rücksichtnahme auf die anderen Verkehrsteilnehmer (vgl. auch Günther Kaiser 1973, S. 192). Allerdings wächst mit der Anzahl der Kraftfahrzeuge ihr Mißbrauch zu kriminellen Zwecken (Hans Joachim Schneider 1964). Beim Einbruchsdiebstahl wurden im Jahre 1966 in Japan zu 11,8%, im Jahre 1974 zu 21% Autos benutzt. Die entsprechenden Zahlen lauten beim Raub für das Jahr 1966 22% und für das Jahr 1974 29,3%. Bei der Vergewaltigung wurde das Auto im Jahre 1974 sogar zu 45,9% gebraucht (-»• Viktimologie). Die Kriminalitätsstruktur in Japan wird aus Abbildung 3 ersichtlich. Der Diebstahl spielt eine zentrale Rolle (wie in der BRD). Von den 1211005 im Jahre 1974 polizeilich bekanntgewordenen Fällen (außer Straßenverkehrsdelikten) wurden 696535 aufgeklärt. Die Gesamtaufklärungsquote betrug in Japan im Jahre 1974 57%, während sich die Gesamtaufklärungsquote in der BRD im Jahre 1974 auf 45,6% und in den USA im Jahre 1974 auf 21% belief. Beim Diebstahl wurden in Japan im Jahre 1974 immerhin 51,1% der Taten aufgeklärt (gegenüber einer Aufklärungsquote für Einbruchsdiebstahl in der BRD von 20,4% und für einfachen Diebstahl in der BRD von 40,7% und gegenüber einer Aufklärungsquote für Einbruchsdiebstahl in den USA von 18% und für einfachen Diebstahl in den USA von 20%). Der Ladendiebstahl wurde in Japan sogar zu 96,7%
aufgeklärt. Diese hohe Aufklärungsquote rührt indessen aus folgender Praxis: Falls ein Täter auf frischer Tat gefaßt wird und falls man feststellt, daß er vor dieser Tat weniger als dreimal Ladendiebstahl begangen hat, wird der Fall informell erledigt. Die größeren Verkaufszentren haben eigene Abwehrapparate entwickelt, oder sie beauftragen Detektivgesellschaften mit dem Schutz ihrer Waren gegen Diebstahl. Die Firmendetektive haben Befugnisse, jeden Fall nach den Tatumständen und den Täterpersönlichkeiten zu lösen (informelle Entkriminalisierung). In Japan zieht man es vor, die Bagatellkriminalität durch die primäre Sozialkontrolle zu verhüten. Nach dem Diebstahl nehmen in der Begehungshäufigkeit die fahrlässige Körperverletzung und Tötung im Straßenverkehr den zweiten Platz ein. Ihnen folgen die Roheits- und Gewaltdelikte: Versammlung mit Waffen (im untechnischen Sinne), Gewalttaten (nach japanischem Verständnis: Vorstufen der Körperverletzung), Körperverletzungen, Drohungen und Erpressungen. Die Intelligenzdelikte umfassen nach japanischem Sprachgebrauch Betrug, Unterschlagung, Urkundenfälschung, aktive und passive Bestechung und Untreue. Nach den Sexualdelikten stehen die schweren Delikte: vorsätzliche Tötung, Raub, vorsätzliche Brandstiftung und Notzucht — abgesehen von der sonstigen Kriminalität —· an letzter Stelle in der Häufigkeitsskala. Bei der Analyse der Gesamtkriminalität in der BRD und den USA hat die Gewaltkrimi-
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Vergleichende Kriminologie: Japan
Abbildung 4: Entwicklung der Kriminalität nach Deliktsarten Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 10
nalität sowohl lang- wie kurzfristig einen wesentlich geringeren Stellenwert als die Vermögenskriminalität. Die Gewaltkriminalität verläuft in ihrer Entwicklung auch entscheidend flacher als die Vermögenskriminalität. Das Hauptproblem der Kriminologie liegt in der Vermögenskriminalität, der ein hoher Stellenwert bei der Analyse der Gesamtkriminalität eingeräumt werden muß und deren Anstieg lang- wie kurzfristig in der BRD und den USA sehr steil verläuft. Aus Abbildung 4 folgt, daß auch in Japan die Vermögenskriminalität eine wesentlich größere Bedeutung hat als die Gewalt- und auch die Fahrlässigkeitskriminalität. Während die Gewaltdelikte auf etwa gleich niedriger Basis seit 1949 verblieben sind,
gehen die Vermögensdelikte zurück. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zur Entwicklung der Vermögens- und Gewaltkriminalität in der BRD und den USA (vgl. hierzu Hans Joachim Schneider 1974, S. 73—75). In diesen Ländern stellt insbesondere der steile Anstieg der Vermögenskriminalität eine „Fieberkurve der Kriminalität" dar. Die Aufklärungsquoten der Gewaltkriminalität sind in Japan ebenfalls höher als in der BRD und den USA: kriminelle Tötung 96,1% in Japan, 95,1% in der BRD und 80% in den USA; Raub 76,9% in Japan, 53,8% in der BRD und 27% in den USA; Vergewaltigung 91,3% in Japan, 72% in der BRD und 51% in den USA; Körperverletzung 92,5% in Japan, 83,8% in der BRD und
Tabelle 1: Tatsächliche Situation der Ausländerkriminalität in der BRD und in Japan Kategorie
— Land
Gesamte Einwohnerzahl Ausländer Prozentsätze der Ausländer Polizeilich festgenommene Verdächtige Ausländer als Tatverdächtige Prozentsätze der Ausländer an den Tatverdächtigen
BRD
Japan
61967200 3858269 6,2
108710000 738410 0,7
1023129 126559 12,4
521554 15335 2,9
Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 122
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Vergleichende Kriminologie: Japan 63% in den USA. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1974. Die BRD liegt in der Effektivität ihrer Kriminalpolizei, die sich in den Aufklärungsquoten ausdrückt, zwischen Japan und den USA. Das Risiko, als Krimineller entdeckt zu werden, hat eine abschreckende Wirkung.
Wie sich aus den Tabellen 1 und 2 ergibt, spielt die Ausländerkriminalität in Japan im Vergleich zur BRD eine untergeordnete Rolle, weil der Ausländeranteil an der Bevölkerung in Japan sehr gering ist. Es handelt sich um eine noch homogenere Gesellschaft als in der BRD, so
Tabelle 2: Anteile der Ausländer an einigen wichtigen Delikten in der BRD und in Japan Land
BRD
Japan
Prozent Festgenommene Davon Personen Ausländer
Verbrechensart
2804 5612 460366 126030 17530 1674
Vorsätzliche Tötung Notzucht Diebstahl Betrug Urkundenfälschung Glücksspiel
642 1695 40708 11826 3240 834
22,9 30,2 8,8 9,4 18,5 49,8
Festgenommene Davon Personen Ausländer 2113 4786 174003 15908 1857 15631
59 172 4413 430 66 693
Prozent
2,8 3,6 2,5 2,7 3,6 4,4
Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 123
• •
1973
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—1 ttblstt 3ahrealt
II 16bis 17 Jahrealt
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Mi 18bis19 ' 20bis2t Jahrealt Jahrealt
25bis29 Jahrealt
30bis39 Jahrealt
tOMs« Jahrealt
50bis59 Jahrealt
OberEO Jahrealt
L i Jugendliche Erwachsene (1(.bis20 (201ahrealt Jahrealt) und älter)
Abbildung 5: Kriminalitätsbelastung auf 1000 Personen und nach Altersgruppen Quelle: Japanisches Kriminalamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1974. Tokio 1975, S. 42
14
Vergleichende Kriminologie: Japan
daß Kulturkonflikte nur in äußerst geringem Maße entstellen können. Die Kriminalitätsbelastung nach Altersgruppen veranschaulicht Abbildung 5. Während die größte kriminelle Belastung in der BRD auf den 18- bis 21jährigen Heranwachsenden ruht (vgl. Hans Joachim Schneider 1974, S. 81/82), sind in Japan die 14- bis löjährigen und die 16- bis 16jährigen Jugendlichen am stärksten kriminell belastet. Der starke Rückgang der Kriminalität nach dem 30. und besonders nach dem 40. Lebensjahr ist in Japan genauso wie in der BRD zu beobachten. In beiden Ländern ist die Jugendkriminalität höher als die Kriminalität der Erwachsenen. Drogenkriminalität kommt in Japan im Verhältnis zu anderen Industrieländern, ζ. B. in den USA und der BRD, selten vor. Man kann dieses Phänomen nicht nur mit der Insellage und der somit besseren Überwachbarkeit der Grenzen erklären. Die japanische Gesellschaft ist wegen ihrer Tradition nicht so drogenanfällig wie die Gesellschaften in den USA und in der BRD. Das Problem des Mißbrauchs von Rauschmitteln konzentriert sich in Japan auf den Erregungsmittelmißbrauch, der aber auch in jüngster Zeit zurückgegangen ist. Der Japaner ist nicht leicht stimulierbar und nicht so durchhaltefähig wie der Europäer oder Nordamerikaner. Diese nicht so ausgeprägten Eigenschaften sollen durch Erregungsmittel ersetzt werden. Während die Kriminalitätsrate der Männer in den letzten zehn Jahren stabil geblieben oder sogar zurückgegangen ist, stieg die Kriminalität der weiblichen Erwachsenen und Jugendlichen an. Die Entwick-
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Jahr Prozentsatze
1970
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1972
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Abbildung 7: Prozentsätze der von weiblichen Jugendlichen begangenen Kriminalität an der Gesamtjugendkriminalität
18
(»10001 16
lung der polizeilichen Festnahmen der weiblichen Jugendlichen seit 1970 wird aus Abbildung 6 deutlich. Der Anteil der Kriminalität der weiblichen Jugendlichen an der Gesamtjugendkriminalität wächst (Abbildung 7). Der Anstieg der Krimina-
Vergleichszahlen auf 1000 Personen
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Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 188
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Festgenommene Personen Vergleichszahlen auf 1000 Perconen
Abbildung 6: Entwicklung der polizeilichen Festnahmen der weiblichen Jugendlichen weibliche Jugendliche : Vergleichszahl auf 1000 Personen Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 187
lität ist auf die 14-/15jährigen und die 16-/17jährigen weiblichen Jugendlichen konzentriert (Abbildung 8). Es handelt sich vor allem um Gewaltkriminalität (Abbildung 9). Diese Entwicklung verläuft parallel zu demselben Ablauf in den USA. Zwischen 1965 und 1973 stieg die Delinquenz der 10- bis 17jährigen Mädchen um 110%, diejenige der gleichaltrigen Jungen um 52% an. Zwischen 1960 und 1973 wuchsen die Festnahmen der Mädchen unter 18 Jahren um 393% für Gewaltdelikte und um 333% für Vermögensdelikte. Die entsprechenden Zahlen für die gleichaltrigen Jungen in den USA betrugen 236% und 82%. Ursachen für diesen Wandel liegen in der aktiveren, unabhängigeren und aggressiveren Rolle der Frauen und Mädchen in der Gesellschaft. Das weibliche Geschlecht ist in die „Männergesellschaft" stärker integriert. Es hat mehr Geiegen-
Vergleichende Kriminologie: Japan
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Abbildung 8: Entwicklung der weiblichen Jugendkriminalität nach Altersgruppen : 14- bis 16jährige — : 16- bis 17jährige : 18- bis 19jährige Anmerkung: 1970 = 100 (Indexzahl) Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 188 heit zur Kriminalität und ist stärker Konflikten ausgesetzt. Es genießt nicht mehr so stark den Schutz der familiären Gemeinschaft, weil es sich dieses Schutzes durch Berufstätigkeit und freieres Freizeitverhalten weitgehend begibt. Die Frauen und Mädchen haben sich zum großen Teil der primären Sozialkontrolle entzogen. Die informelle Konfliktregelung ist stark abgeschwächt. Die Instanzen der Sozialkontrolle, ζ. B. Polizei und Gerichte, üben gegenüber Frauen und Mädchen weniger Nachsicht, weil sie „gleichberechtigt" sind. Trotz einer sich immer mehr anbahnenden emanzipatorischen Entwicklung sind die Frauen und Mädchen in Japan immer noch gegenüber den Männern stark in ihrem sozialen Status, ζ. B. im Berufsleben, diskriminiert. Nicht wenige japanische Kriminologen beurteilen den Anstieg der Kriminalität der Frauen und Mädchen als Protesthandlungen gegenüber andauernder Diskriminierung und Frustration. Das Sinken der Gesamtkriminalität in Japan wird demgegenüber auf folgende Gründe zurück-
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1970
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Abbildung 9: Entwicklung der polizeilichen Festnahmen der jugendlichen Gewalttäter : Gesamtzahl weiblicher Jugendlicher : weibliche jugendliche Gewalttäter — : männliche jugendliche Gewalttäter : Gesamtzahl männlicher Jugendlicher Anmerkung: 1970 = 100 (Indexzahl) Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 188 geführt: Die Wirtschaft hat sich gut entwickelt. Dank der Erhöhung des allgemeinen Lebensstandards gibt es kaum noch Armut. Trotz der gegenwärtigen Wirtschaftskrise (1976) steigt die Arbeitslosenrate nicht wesentlich. Die Solidarität am Arbeitsplatz ist in typisch japanischer traditioneller Weise ausgeprägt. In Japan hat sich der Charakter einer familiären Gemeinschaft für die Gesamtgesellschaft noch stärker erhalten als in westlichen Industriestaaten. Die politische Situation ist seit Jahrzehnten stabil. Die primäre Sozialkontrolle, insbesondere durch Familie,
Vergleichende Kriminologie: Japan
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Schule, Nachbarschaft und Berufsgemeinschaft, ist immer noch effektiver als in vergleichbaren Industriestaaten, obwohl sie — an der japanischen Tradition gemessen — lockerer geworden ist. Die Verstädterung wirkt sich auf die primäre Sozialkontrolle negativ aus. Innerhalb der Schulgemeinschaft kommen Schwierigkeiten vor, weil die Schüler unter starkem Leistungsdruck, ζ. B. unter dem Druck der Zugangsexamina, stehen und weil es große qualitative Unterschiede im Schul- und Universitätssystem gibt. Die japanische Gesellschaft ist nur theoretisch eine „offene" Gesellschaft. Denn es gibt gute, weniger gute und schlechte Schulen und Universitäten. Nach dem Besuch der jeweiligen Schule und Universität richten sich nicht nur das Sozialprestige, sondern auch die Zugangschancen in der Gesellschaft. Der Ausbildungsstand ist hoch entwickelt. Es gab im Jahre 1974 etwa 1,9 Millionen Studenten an 900 Universitäten und 4 Millionen Schüler an 4861 Gymnasien. Die Vielzahl der Hochschulabsolventen ist selbst in einem so hochindustrialisierten Land wie Japan nicht in ihrer Ausbildung angemessene Berufe zu vermitteln. Immerhin wird Jugendarbeitslosigkeit vermieden, und die jungen Leute können in der Schule besser kontrolliert werden, was die Kriminalitätszahlen senkt. Die Instanzen der Sozialkontrolle, ζ. B. Polizei und Gerichte, funktionieren in Japan gut. Sie werden gleicherweise von Regierung und Bevölkerung in einem Maße unterstützt, wie es in vergleichbaren Industriestaaten, wie ζ. B. in den USA und der BRD, nicht der Fall ist. Die Polizei und Justiz verhalten sich diszipliniert, und sie genießen das Vertrauen des Volkes. Durch die sich vergrößernde Anonymität der Großstädte läßt allerdings die Unterstützung der Polizei durch das Volk nach: Während im Jahre 1969 noch 43,2% der Kri-
l»10M
minalfälle durch die Mithilfe der Bevölkerung aufgeklärt wurden, sank diese Unterstützungsrate im Jahre 1973 auf 31,7%.
D. Ursachen der Kriminalität, insbesondere der Jugendkriminalität 1.
Jugendkriminalität wirkt wie ein Fieberthermometer. Wenn sie steigt, ist das ein Symptom für eine Erkrankung der Gesellschaft. Verbesserung der Sozialpolitik heißt deshalb die fundamentale Stellungnahme der japanischen Kriminalpolitik. Was allerdings eine „Verbesserung" ist, darüber kann in zahlreichen Fällen gestritten werden. Die Entwicklung der Jugendkriminalität in Japan wird an Hand der Zahlen der polizeilichen Festnahmen seit 1949 aus Abbildung 10 ersichtlich. Die Jugendkriminalität erreichte ihren ersten Höhepunkt im Jahre 1951. Danach fiel sie ab, bis sie im Jahre 1955 wieder anstieg. Sie gelangte im Jahre 1966 zu ihrem zweiten Höhepunkt. Danach fällt sie kontinuierlich ab. Die historische Entwicklung Japans macht die geschichtliche Tafel 2 deutlich. Seit 1933 herrschte eine nationalistisch-militaristische Stimmung in der japanischen Gesellschaft. An der Spitze des Staates stand der Kaiser mit der Generalität. Seit dem Ausbruch des China-Krieges im Jahre 1937 mußten viele junge Leute Wehrdienst leisten. Wegen der strengen polizeilichen Kontrolle war das Land im Hinblick auf die Kriminalitätsrate sehr stabil. Die Entwicklung der Jugendkriminalität zwischen den Jahren 1941 und 1950 folgt aus der Tabelle 3. Die Zahlen waren während des 2. Weltkriegs
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Nachkriegskriminalität
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66 67
8,3 9,2 9,6 10,5 11,2 11,6 11,5 11,5 12 11,2 10,5 9,6
68
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9,2 8,9 10
71 72 10
73
74
9,8 10,8 11,6
Abbildung 10: Entwicklung der polizeilichen Festnahmen der delinquenten Jugendlichen auf 1000 Einwohner der Altersgruppe Quelle: Japanisches Polizeiamt (Hrsg.): Weißbuch der Polizei. Tokio 1975, S. 174
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Vergleichende Kriminologie: Japan Geschichtliche Tafel 2: Entwicklung Japans nach dem zweiten Weltkrieg 1945:
Ende des 2. Weltkriegs. Kontrollrat der alliierten Mächte
1946:
Eröffnung des Militärgerichtshofs in Tokio
1948: 1950:
Verurteilung der Hauptkriegsverbrecher Ausbruch des Korea-Krieges. Japanische Sicherheitsstreitkräfte. Wiederbelebung der Schwerindustrie Zahlreiche Landfriedensbrüche durch die Leitung der kommunistischen Partei Japans
1948—1951: 1951: 1959:
Friedensvertrag und Sicherungsabkommen mit den USA Widerstand der Linksstudenten gegen das Sicherungsabkommen, Unruhe um das Parlament
1961: 1966: 1967—1968:
Intensivierung der Industrialisierung Japans Unruhen an mehreren Universitäten Starke soziale Reaktionen auf Wasser- und Luftverschmutzung
1970:
Ende 1970 lagern 4,3 Milliarden US-Dollar in der Nippon Bank. Höhepunkt der japanischen Wirtschaftsentwicklung Ölkrise, Preissteigerungen, Wirtschaftskrise, Inflation
1973:
Tabelle 3: Entwicklung der Jugendkriminalität von 1941 bis 1950
Jahre
Anzahl der Delikte
1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950
42601 55905 51543 63358 45778 99389 92551 113763 113530 118809
Anzahl der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren 8955000 9084000 9147000 9664000 9785000 9962000 10003000 10127000 10242000 10384000
Zahl der Delikte auf 1000 Jugendliche der gesamten Bevölkerung 4,7 6,2 5,6 6,6 4,7 10,0 9,3 11,2 11,1 12,4
Anmerkung: Im Jahre 1941 brach für Japan der 2. Weltkrieg aus. Seit 1937 kämpfte es gegen China. Fundstelle: Hatakeyama Katsumi-Hiyama Shiro: Geschichte der Jugendkriminalität. Tokio 1974
niedrig, weil sich die Jugend bei den Streitkräften befand, die im Jahre 1944 eine Stärke von 5 Millionen Soldaten erreichten. Die Jugendkriminalität stieg dann sprunghaft nach Beendigung des 2. Weltkrieges an. Nach dem Zusammenbruch waren überall Ruinen, Bunker und Schotterhügel übrig geblieben. Die größten Städte, wie ζ. B. Tokio, Osaka, Nagoya, waren völlig durch Bomben zerstört. Mit wenigen Ausnahmen wurden die Städte während des Krieges bombardiert. Die Soldaten kamen aus der Gefangenschaft zurück. Sie waren arbeitslos. Das Staatssystem war gelähmt und die polizeiliche Kontrolle schwach, das Wirtschafts2 HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
system zerstört. Hungrige Leute suchten nach Lebensmitteln, auf den total zerstörten Plätzen unter dem freien Himmel verkauften Schwarzhändler einige bescheidene Waren. Wegen der Inflation stiegen die Preise an. Die Waisen und die wohnungslosen Menschen sammelten sich in den Bahnhöfen wie in den Untergrundtunneln und nahmen dort Quartier. Als Folge der Schwächung der Polizeikräfte stieg die Kriminalität im Land, insbesondere in den Großstädten, stark an. Japan geriet in eine anomische Situation. Charakteristisch für diese Periode war, daß der Anteil der Diebstähle über 70% wuchs. Am schlimmsten
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Vergleichende Kriminologie: Japan
waren die Jahre 1946 bis 1948, in denen die Diebstähle von den gesamten Delikten über 80% ausmachten. Jedoch wurde diese ansteigende Tendenz dank der Verbesserung des sozialen Klimas allmählich vermindert. Nach dem Ausbruch des koreanischen Krieges im Jahre 1950 konnte die Schwerindustrie wieder produzieren, die die amerikanische Besatzungsregierung nach dem 2. Weltkrieg völlig zerstören wollte. Nun widerrief sie ihren Befehl, um sich das japanische Industriepotential nutzbar zu machen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit stieg die Produktivität der japanischen Industrie an. Das Volksleben normalisierte sich. Beeinflußt durch diese günstigen Umstände fiel die Kriminalitätsrate der Jugendlichen allmählich ab. Andererseits stieg die Rate der Kriminalität auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts, insbesondere im Hinblick auf den Mißbrauch von Erregungsmitteln, rasch an. Diese Tendenz beruhte auf der unruhigen Stimmung unter den Besatzungsstreitkräften, die während des Korea-Krieges überall in Japan auf Militärbasen waren. Sie brauchten diese Mittel im langdauernden und hoffnungslosen Krieg zur psychischen Erregung, um die abscheulichen Kriegsträume zu verdrängen. Sie verkauften diese Mittel auch an Japaner. Das organisierte Verbrechertum macht damit auf dem Schwarzmarkt ein gutes Geschäft. Die japanische Regierung hat im Jahre 1951 das Gesetz gegen Erregungsmittelmißbrauch erlassen und die Polizei bekämpft diese Kriminalität aus ganzen Kräften. Seit 1954 flaute sie erheblich ab und ist jetzt fast völlig verschwunden. Die Kriminalitätsrate stieg seit 1956 wieder an, und im Jahre 1966 erreichte sie ihren höchsten Punkt. Hier spielten die Roheitsdelikte eine große Rolle. Dieser Trend bezog sich auf die unruhige politische Situation in dieser Zeit. Im Jahre 1960 wollte die japanische Regierung das Staatssicherheitsabkommen mit den USA, das sie im Jahre 1951 mit dem Friedensvertrag zusammen abgeschlossen hatte, verlängern, und die Oppositionspartei versuchte, mit radikalisierten Gewerkschaften und Studenten das Vorhaben der Regierung zu verhindern. Viele Menschen demonstrierten um das Parlament, und es kam zu Situationen, die Gewaltdelikte begünstigten. Alltäglich berichteten die Massenkommunikationsmittel über die heftigen Zusammenstöße auf den Straßen und in den Universitätsgebieten. Seit 1965 fällt die Rate der Roheitsdelikte, wie ζ. B. Erpressung, Drohung, Körperverletzung und Notzucht, erheblich ab. Statt dessen steigt die Rate der passiven Kriminalität, d. h. wiederum der Erregungsmittelmißbräuche, des Inhalierens von Leim- und Farbverdünnern, an. In den Jahren nach dem Zusammenbruch lebte Japan in chaotischen Zuständen. Kinder ohne Familie, ohne Wohnungen lebten überall auf den Straßen. Die japanische Regierung hatte keine
finanziellen Mittel, damit sie die Kinder retten konnte. Die traditionellen japanischen Wertvorstellungen wurden von den Besatzungsmächten total vernichtet. Statt dessen sollte der „American way of life" treten. Da alle Familien den Kampf gegen Hunger führen mußten, konnten sie keine Rücksicht auf jugendliche Verfehlungen nehmen. Überall waren Hunger und Armut erkennbar. Nach der Uberwindung der Wirtschaftskrise kam die politische Unruhe. Die Jugendlichen, die nach dem 2. Weltkrieg geboren waren, standen unter dem Einfluß der Konfliktkultur. Zwar waren die wirtschaftlichen Verhältnisse in den meisten Familien inzwischen viel besser geworden, aber die Eltern konnten keine vernünftigen Antworten über die politische Gegenwartssituation geben. Es gibt keine Übereinstimmung in den Wertvorstellungen einer pluralistischen Gesellschaft. Die nachdrückliche Ablehnung von Gewalttätigkeiten konnten sie nicht glaubhaft machen. Die Linksradikalen, wie ζ. B. Studenten und Journalisten, benutzten das deutsche Wort „Gewalt", um ihre rechtswidrigen Gewalttätigkeiten zu rechtfertigen. „Verbrechen ist falsch, aber die Gewalt gegenüber der Gewalt des Establishments, insbesondere gegen die Polizei, ist erlaubt." Trotz der mächtigen Protesttätigkeiten und der großen Opfer konnten die Oppositionskräfte gar keine durchgreifenden Erfolge erzielen. Sowohl die sozialistische als auch sogar die kommunistische Partei haben nach der Vereitelung der Gegenbewegung gegen die Verlängerung des amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrages den richtigen Weg der Oppositionsparteien eingeschlagen, d. h. auch sie werden zum „Establishment". Die ultralinken Studentenschaften, die im Jahre 1960 mit der Opposition zusammen gekämpft hatten, sind vor allem von der kommunistischen Partei als „Trotzkisten" abqualifiziert worden. Sie begehen ab und zu radikale Akte im In- und Ausland. Im Vergleich zu den sechziger Jahren ist unter den jungen Leuten eine gewisse Resignationsstimmung spürbar. Die jugendlichen Kriminellen von heute, die meistens nach der Aufstiegsperiode Japans geboren sind und deswegen nie die Armut und Hungersnot erlebt haben, kommen mit der Rückzugskultur in Kontakt. Weil sie nur schwer Narkotika in die Hand bekommen, verwenden sie „Terpentin" als Rauschmittel. Wegen der Erhöhung des Lebensstandards in vielen Familien haben die Hausfrauen viel freie Zeit, die sie nicht für sich selbst, sondern für die „Erziehung" ihrer Kinder zu verwenden pflegen. Sowohl in der Schule als auch zu Hause müssen die japanischen Jugendlichen unter strenger Kontrolle ständig studieren, um eine „gute" Schule besuchen zu dürfen. Der übertriebene Leistungsdruck lastet auf den Jugendlichen und verursacht Kinderund Jugendkriminalität. Als Ergebnisse der verfehlten Familien- und Schulverhältnisse stammen
Vergleichende Kriminologie: Japan die japanischen jugendlichen Delinquenten jetzt nicht mehr aus armen und unvollständigen, sondern aus wirtschaftlich tadellosen, normalen Familien. 2. Störungen in Familien und Schulen Im japanischen Gesellschaftsleben spielt die Familie eine große Rolle. Während der feudalistischen Zeit hatte die Familie vielseitige Funktionen: So war sie ζ. B. die kleinste Kampfeinheit, übte polizeiliche Kontrolle aus und besaß quasigerichtliche Entscheidungsbefugnisse. Der Hausvater herrschte in seiner eigenen Familie unumschränkt, und in den genannten Angelegenheiten war er ein Souverän in der ganzen Familie, die nicht Kern-, sondern Großfamilie bedeutete. Alle Familienangehörigen standen unter der Kontrolle eines Familienoberhaupts, also des Hausvaters. Nach der Meiji-Restauration hat die Familie viele ihrer Befugnisse verloren: So durfte — mit Ausnahme der Offiziere der Armee — niemand mehr Schwerter tragen, niemand ohne Sonderbefugnisse einen anderen festnehmen oder gar bestrafen. Im Zuge der Industrialisierung hat die Familie ihre Funktion als Handwerksbetrieb, im Zuge der Entwicklung des Bank- und Kreditsystems ihre Aufgabe als Kreditträger verloren. Das neu entwickelte Schulsystem trat an die Stelle der Familie. Der Familie blieben lediglich Funktionen wie die Nachwuchsausbildung und die Überlieferung der sittlichen und der besonderen familieneigenen Wertvorstellungen übrig. Das Hausvatersystem war das Rückgrat der sittlichen Wertordnung in der japanischen Gesellschaft bis zum Kriegsende. Nach dem Krieg wurde im Jahre 1946 eine neue Verfassung erlassen und das
19
Familien- und Erbrecht völlig geändert. Das Hausvatersystem wurde abgeschafft. Die Tendenz zur Kernfamilie schritt rasch voran. Das zeigen die folgenden Zahlen: Im Jahre 1950 war die durchschnittliche Mitgliederzahl der japanischen Familie 4,97, was der Situation in den USA im Jahre 1870 entspricht. Im Jahre 1966 war die Anzahl der Familienangehörigen in den größeren Städten durchschnittlich 3,86, was der sozialen Lage in den USA im Jahre 1940 vergleichbar ist. In ganz Japan betrug die durchschnittliche Familiengröße 4,06, was der Situation in den USA im Jahre 1930 entspricht. Also hat Japan innerhalb von 15 Jahren das durchgemacht, was in den USA 60 Jahre dauerte. Diese rasche KernFamilien-Entwicklung beruht auf der Veränderung des Lebensbewußtseins in Japan: Man strebt eine friedliche Koexistenz der Generationen an. Man will einen „Generationenkonflikt" möglichst vermeiden. Durch enge Verbundenheit der Eltern mit ihren Kindern kann die Einzelfamilie friedvoll ihr eigenes Leben führen. Das geht so lange gut, wie es keine Schwierigkeiten gibt. Falls irgendein Problem auftaucht, besitzt die Kernfamilie keine passende schiedsrichterliche Position und gerät in eine untragbare Situation (-»• Ehe und Familie). Seit 1960 sind viele Schwierigkeiten entstanden. Eine große Generationenkluft ist offenbar geworden. Generationenkonflikte sind in vielen Familien entstanden. Dazu kommen noch Unzuträglichkeiten in den Schulen. Aus Tabelle 4 wird die Entwicklung der Mitgliederzahl der japanischen Familie im Laufe von 15 Jahren deutlich. Die Kernfamilie bis zu vier Personen hat ihren Anteil von 45,4% im Jahre 1955 auf 71,4% im Jahre 1970 vergrößert. Demgegenüber ist die Achtpersonenfamilie von 6,5% im Jahre 1955 auf
Tabelle 4: Entwicklung der Mitgliederzahl der japanischen Familie im Laufe von 15 Jahren Familiengröße Gesamt Einpersonfamilie Zweipersonenfamilie Dreipersonenfamilie Vierpersonenfamilie Fünfpersonenfamilie Sechspersonenfamilie Siebenpersonenfamilie Achtpersonenfamilie Neunpersonenfamilie Familie mit zehn und mehr Personen Prozentsätze der Ein- bis Vierpersonenfamilien an den Gesamtfamilien
1955
1960
1965
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
3,5 10,8 14,5 16,6 16,7 14,1 10,3 6,5 3,6 3,5
5,2 12,7 15,9 18,7 17,1 13,1 8,5 4,6 2,3 1,9
8,1 14,3 18,2 22,3 16,2 10,6 6,1 2,5 1,1 0,8
10,8 15,5 19,7 25,5 14,4 8,4 3,6 1,4 0,5 0,3
45,4
52,5
62,9
71,4
Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 48 2*
1970
Vergleichende Kriminologie: Japan
20
Tabelle 5: Situation der Familien delinquenter Jugendlicher Jahre Insgesamt Leibliche Nur der Nur die Mutter Eltern Vater
Stiefmutter
Stiefvater
1955
131512 (100)
59262 (45,1)
22141 (16,8)
23406 (17,8)
1960
158902 (100)
30591 (19,3)
28337 (17,8)
1965
202158 (100)
74821 (47,1) 145265 (71,9)
8571 (4,2)
27424 (13,6)
5356 (4,1) 4203 (2,6) 5912 (2,9)
1971
113619 (100)
72843 (64,1)
3859 (3,4)
11942 (10,5)
3277 (2,9)
2394 (1.8) 2695 (1,7) 3548 (1,8) 1913 (1,7)
1972
105050 (100)
66972 (63,8)
3807 (3,6)
10948 (10,4)
1973
106737 (100)
67706 (63,4)
3727 (3,5)
10588 (9,9)
3006 (2,9) 2766 (2,6)
1828 (1.7) 1838 (1,7)
Adoptiv- Sonstige Keine eltern Angaben 1946 (1,5) 2058 (1,3) 2173 (1.1) 877 (0,8) 784 (0,7) 739 (0,7)
völlig unklar
17007 (12,9) 14379 (9) 4526 (2,2) 1918 (1,7) 1713 (1,6) 1699 (1,6)
333 (0,3)
1818 (1,1) 3900 (1.9) 16657 (14,7)
213 (0,2)
15779 (15)
226 (0,2)
17448 (16,3)
839 (0,4)
Anmerkung: Die Angaben beziehen sich auf die im Familiengericht behandelten Fälle. Zahlen in Klammern sind Prozentangaben. Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 312
1,4% im Jahre 1970 zurückgegangen. Die jugendlichen Delinquenten stammten im Jahre 1955 überwiegend aus unvollständigen Familien und aus der Unterschicht. Delinquente aus vollständigen Familien gab es 1955 nur zu 45,1%, aus der Ober- und Mittelschicht nur zu 30,6%. 1973 kamen 63,4% der delinquenten Jugendlichen aus vollständigen Familien und 83,7% aus der Oberund Mittelschicht. Aus Tabelle 5 wird die Situation der Familien delinquenter Jugendlicher im Ablauf der Jahre zwischen 1955 bis 1973 deutlich. Der Trend geht von der unvollständigen Familie zur vollständigen. Hier zeigt sich die große kriminologische Bedeutung der funktional gestörten, äußerlich vollständigen, innerlich aber zerrütteten Familie (-»· Ehe und Familie). Zwischen den Familienverhältnissen und der Jugendkriminalität sind drei Beziehungen wichtig. Erstens übt die Familie eine kontrollierende Wirkung auf die Jugendkriminalität aus. Zweitens wirkt sie in zahlreichen Fällen kriminogen. Drittens wird sie von der Kriminalität eines Kindes tief beeinflußt. Das Familienleben hat zwei Seiten: Es fördert das Wohlbefinden der Einzelmitglieder. Es wirkt sich auf die Gestaltung ihrer Persönlichkeit aus. In normalen Familien sind die Eltern zu Hause. Die familiären Verhältnisse sind in einem stabilen Zustand, und die Eltern haben ihren Beitrag zur Persönlichkeitsgestaltung geleistet. In diesen Familien sind die Kinder zufrieden. Es fragt sich aber dann, wie der plötzliche Anstieg der Jugendkriminalität in den normalen Familien zu erklären ist. Man kann diese Entwicklung auf folgende Gründe zurückführen: Erstens vergrö-
ßern sich wegen der Pluralisierung der Wertvorstellungen und der vermehrten Ansprüche der Familienangehörigen die Wert- und Anspruchskonflikte innerhalb der Familie. Zweitens gibt es unter den „normalen" Familien diejenigen, die formell betrachtet zwar vollständig, materiell aber zerrüttet sind. Seit langem streiten sich die Eltern. Es ist keine Harmonie mehr in der Familie. Drittens wird die elterliche Kontrolle allmählich schwächer, beeinflußt von der Erhöhung des individualistischen Trends in der Allgemeinheit. Schließlich ist viertens die Faszination des Lebens außerhalb der Familie auf die Moralvorstellungen der Jugendlichen in der Familie außerordentlich groß. Das Alter der Eltern der kriminell hoch belasteten Jugendlichen zwischen 14 und 15 Jahren ist durchschnittlich 35 bis 40 oder 45 Jahre. Gerade zu dieser Zeit sind die meisten Familien in einem instabilen Zustand. Die Kinder sind in dem Alter zwischen 14 und 15 Jahren seelisch leicht zu verletzen. Sie werden schwer erziehbar und geraten in ihre Trotzphase. Ausgerechnet in dieser Zeit müssen sie sich auf die Aufnahmeprüfung zur Mittelschule vorbereiten. Die älteren Jugendlichen von 18 bis 19 Jahren haben eher die Chance, psychisch Entspannung zu finden. Bei den 14/15jährigen kommt die physische Akzeleration noch hinzu. Der Aufwand der japanischen Familie für die Ausbildung ihrer Kinder steht in keinem Verhältnis zum durchschnittlichen Einkommen. Der Vater ist gewöhnlich als Arbeitnehmer in seiner Firma bis zum Abend beschäftigt. Er kann sich nicht der familiären Erziehung seiner Kinder widmen, die dann seine Frau über-
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Vergleichende Kriminologie: Japan nehmen muß. Hieraus entsteht bei den Jungen ein „männlicher Protest" (TaJcott Parsons). Das Eintrittsexamen in die Mittelschule verursacht einen großen psychischen Druck auf die Jugend im heutigen Japan. Das Hauptanliegen der Mutter ist nicht mehr so sehr die gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Es geht vielmehr um die Ergebnisse der Tests, also um gute Noten. Sie versucht, ihr Kind möglichst lange Zeit am Studientisch zu fesseln. Das japanische Schulsystem wirkt kriminogen. Der Anteil der Schüler und Studenten an der Gesamtzahl der polizeilich festgenommenen Jugendlichen betrug im Jahre 1970 56,2%, im Jahre 1972 62,7% und im Jahre 1974 70,8%. Im japanischen Schulsystem besteht Schulpflicht bis zur Mittelschule, also bis zum 15. Lebensjahr. Die Anzahl der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen belief sich auf insgesamt 14996129. Im Jahre 1973 besuchten 1380000, also 89,4%, aller Mittelschulabsolventen die höhere Schule. Im Jahre 1954 waren es noch etwa 50%, danach steigt der Prozentsatz ständig. Im Jahre 1970 beträgt er bereits über 80% und drei Jahre später steigt er auf 89,4%. Der Prozentsatz der Mädchen wächst hierbei viel schneller als der der Jungen. Im Jahre 1954 besuchten 45% der weiblichen Mittelschulabsolventen die höhere Schule, und im Jahre 1973 waren es 90,6%. Diese Entwicklung verursacht einige ernste Sozialprobleme. Es mangelt an jungen Arbeitskräften. Der Anteilprozentsatz der Schüler und Studenten an der gesamten Jugendkriminalität wächst erheblich an. Obwohl dieses Phänomen die Dysfunktion des heutigen japanischen Schulsystems
zeigt, ist diese sozialpathologische Situation für die Bekämpfung der Jugendkriminalität nicht absolut ungünstig. Weil die delinquenten Jugendlichen meistens aus normalen und wirtschaftlich ziemlich guten Familien stammen (vgl. Tabelle 6), könnten die Familiengerichte wie die anderen staatlichen Instanzen Einwirkungsmöglichkeiten nutzen. Die Familiengerichte pflegen unter diesen Umständen die delinquenten Jugendlichen lieber in der freien Gesellschaft, d. h. zu Hause, zu belassen und durch ambulante Maßnahmen zu behandeln. Das japanische Schulsystem war bis zum Jahre 1947 sehr vernünftig, und zwar stand es unter deutschem Einfluß. Damals bestand Schulpflicht in der Volksschule. Ein kleiner Teil der Kinder besuchte dann entweder das humanistische Gymnasium oder die Fachhochschule. Die Besatzungsregierung hat versucht, das System völlig umzuformen und alles nach dem nordamerikanischen Modell auszurichten. Früher besuchten die Kinder mit 6 Jahren die Volksschule. Dann wechselten wenige Absolventen zur 4jährigen Mittelschule. Schließlich war für eine ganz kleine Elite entweder die Fachhochschule oder die Universität für die Dauer von 3 Jahren vorbehalten. Nach 6 Jahren Volksschule folgen nunmehr 3 Jahre Mittelschule, die der nordamerikanischen „Junior high school" entspricht, und sodann 3 Jahre Höhere Schule, die ebenfalls der nordamerikanischen „High school" nachgebildet ist. Die Universität wird schließlich vier Jahre lang besucht. Innerhalb der ersten eineinhalb bis zwei Jahre der Universitätszeit müssen die Studenten eine allgemeine Ausbildung als Pflichtfach durch-
Tabelle 6: Schichtzugehörigkeit der Familien delinquenter Jugendlicher Jahre
Insgesamt
1955
116976 (100)
972 (0,8)
1960
141523 (100)
1965
Unterschicht
Unterste Unterschicht
34838 (29,8)
69618 (59,5)
11548 (9,9)
1188 (0,8)
49395 (34,9)
82477 (58,3)
8463
189794 (100)
4373 (2,3)
136466 (71,9)
43426 (22,9)
5529
1971
96064 (100)
2701 (2,8)
74288 (77,3)
16314 (17)
2761
1972
88669 (100)
2496 (2,8)
69806 (78,7)
13797 (15,6)
1973
88722 (100)
2828 (3,2)
71414 (80,5)
12016 (13,5)
2570 (2,9) 2464 (2,8)
Oberschicht
Mittelschicht
(6) (2,9) (2,9)
Anmerkung: Die Zahlen in Klammern sind Prozentangaben. Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 313
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Vergleichende Kriminologie: Japan
laufen. Nach der Ausbildungsreform wurden alle Hochschulen und sogar Gymnasien „Universitäten". In vielen Städten wurden Universitäten neu gegründet, die „Kiosk-Universitäten" genannt wurden, weil sie wie Kioske auf den Bahnsteigen Überall herumstehen. Japan hat jetzt alles in allem 900 Universitäten aller Art und beinahe 2 Millionen Studenten. Die Qualität der Universitäten ist außerordentlich unterschiedlich, weil man nicht so viele qualifizierte Wissenschaftler als Universitätsprofessoren haben kann. Wenn man die absoluten Zahlen, insbesondere die Entwicklung der Zahlen der delinquenten Mittel- und Höheren Schüler, einmal vergleicht, kann man erkennen, wie die Kriminalitätsrate unter den Höheren Schülern seit dem Jahre 1970 ansteigt. Dieser Anstieg kann abhängig sein von der Zunahme der Schüler, die trotz fehlender Intelligenz die Höhere Schule besuchen, also abhängig von einer unerfreulichen sozialen Modeerscheinung. Die negativen Auswirkungen des Schulsystems im Kriminalisierungsprozeß werden deutlich. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Einfluß der Schule auf den Kriminalisierungsprozeß sekundär ist. Die latente Neigung zur Kriminalität, die meistens auf Persönlichkeitseigenschaften der Probanden und verschiedenen Störungen innerhalb ihrer Familien beruht, wird als Anpassungsstörung an das Schulverhältnis manifest. Als Symptome der Nichtanpassung an das Schulleben sind die rapide Verschlechterung der Noten und Schulschwänzen zu nennen. Während in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft bereits ohnehin mehrere kriminogene Faktoren, wie ζ. B. die Unvollständigkeit der Familien, die Desorganisation der Wohnviertelgemeinschaften und die Übertreibung des Wettbewerbs bei den Eintrittsexamen vorhanden sind, funktioniert zudem noch das Schulsystem schlecht, das zur Überwindung dieser negativen Faktoren beitragen und durch seine Einwirkung auf die Jugendlichen eine positive Entwicklung ihrer Persönlichkeiten herbeiführen sollte. Die Jugendlichen, die zur sozialen Unterschicht gehören und in der feudalistischen Zeit keine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg hatten, könnten je nach ihren Fähigkeiten, ihrer Intelligenz und ihren Leistungen einen besseren Sozialstatus gewinnen. Bis zum 2. Weltkrieg funktionierte das Schulsystem in Japan als Auswahlmechanismus gut. Gegenwärtig ist der Zugang zur Schule und Universität für alle theoretisch offen. Praktisch ist jedoch der Zugang zur guten Schule sehr schmal. Bei den Auswahlexamen besteht häufig nur einer aus 10, 15 oder 20 Kandidaten, nicht selten einer von 50 oder noch mehr. Die Examen finden in Japan im Frühling statt. Von Mitte Februar bis Anfang April prüfen alle Schulen und Universitäten schriftlich und mündlich. Ein Kandidat kann sich theoretisch täglich um ein Examen an verschiedenen Fakultäten und
Universitäten nacheinander bewerben. Von den unterschiedlichen Schulen, zu denen er Eintrittserlaubnis bekommen konnte, kann er die Schule auswählen, die seinem Wunsch am besten entspricht. Wenn er Pech hat, muß er ein Jahr warten, manchmal sogar mehrere Jahre. Das alles ähnelt einer großen Lotterie. Der Akademiker wird danach beurteilt, an welcher Universität er studiert hat. Wenn er eine „gute" Universität besuchen konnte, ist es ihm möglich, ohne weiteres einen lukrativen Beruf in seinem künftigen Arbeitsleben zu bekommen. Wenn nicht, muß er lebenslang mit einer niedrigen Stelle zufrieden sein. Hier wirkt sich immer noch die traditionelle hierarchische Ordnung der japanischen Gesellschaft aus. Seit zehn Jahren werden diese unzuträglichen Umstände immer untragbarer. Die Mütter, die sich mit der Betreuung ihrer Kinder befassen, streben danach, ihre Kinder zum Studium, meistens zum Erlernen von Examenskenntnissen, zu zwingen und zum Wettbewerb mit ihren Mitschülern anzuhalten. In der „guten" Schule sind die Klassenkameraden nicht mehr Freunde, sondern Feinde und Konkurrenten. Dieser absurde Wettbewerb wirkt auf den Jugendlichen deprimierend und belastet ihn psychisch außerordentlich. Für die „guten" Schüler liegt das Schwergewicht ihres Interesses auf ihren Noten und auf der Wahrscheinlichkeit, ob sie als Sieger der lang dauernden Konkurrenz die „gute" Schule besuchen können oder nicht. Die kausale Kette dieser Wettbewerbe läuft so: Um eine gute Universität besuchen zu können, muß man ein Examen einer „guten" Höheren Schule bestehen. Dafür muß man wiederum an einer „guten" Mittelschule gelernt haben. Um für eine „gute" Mittelschule zugelassen zu werden, muß man zunächst eine „gute" Volksschule besucht haben, und vorher muß man bereits in einem „guten" Kindergarten gewesen sein. Wenn es zu spät ist, um in einem „guten" Kindergarten aufgenommen zu werden, muß für das Kleinkind ein Privatlehrer engagiert werden. Überall in Japan gibt es „Vorbereitungskurse zum Examen". Man sagt, daß die aussichtsreichste Industrie jetzt „die Erziehungsindustrie" ist. In einem Fernsehprogramm „Kinder in den Vorbereitungskursen" wurde eine eindrucksvolle und charakteristische Szene gezeigt. Ein Interviewer fragte einige Bänder: „Was willst du denn heute gern tun?" Die Antwort lautete: „Ich möchte genug schlafen." Daraufhin fragte der Interviewer: „Kannst du denn nicht so lange schlafen, wie du willst?" „Ach nein, Onkel, das geht nicht." „Warum denn nicht?" „Meine Mutter verbietet es mir. Sie sagt: „Paß mal auf, dein Klassenkamerad schläft nicht so lange wie du. Du darfst nicht so lange schlafen, sonst verpaßt du eine gute Chancel Oder willst du wie dein Vater werden? Er war faul. Darum konnte er keine „gute" Universität besuchen.
Vergleichende Kriminologie: Japan Gerade deswegen muß er niedriger Angestellter sein. Findest du nicht, daß das sehr peinlich ist?" Dieses Fernsehinterview ist für die Schul- und Hochschulsituation in Japan kennzeichnend. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis verschlechtert sich immehr mehr. In der Schule lehrt der Lehrer unter dem Druck der mächtigen „Pressure group" der Mütter nur das, was beim Examen nützlich ist. Daß die Schüler durch die Persönlichkeit ihres Lehrers seelisch und geistig beeinflußt und kulturell begeistert werden, ist ein unrealistischer Traum geworden: Das Examen wird nach nordamerikanischem Vorbild nach dem „Multiple choice test Verfahren" durchgeführt. Deshalb denken die Jugendlichen nicht so gründlich. Denn sie müssen möglichst schnell und genau auf die Fragen reagieren. Zwischen „falsch" und „richtig" gibt es keinen Mittelweg. Das Endergebnis eines solchen Trainings ist deprimierend. Denn die Menschen werden von ihrer Kindheit an ausschließlich an die Findung der einzigen richtigen Antwort unter verschiedenen möglichen Lösungsversuchen gewöhnt. Für die jungen Leute sind Schlag Wörter, Eigennamen, Fachausdrücke wichtig. Der Inhalt der Ideologie interessiert sie nicht. Auf dem Universitätsgelände spricht ein Student von der Notwendigkeit der „Revolution". Er sagt oft: „nach der Lehre von Marx-Lenin". Auf Befragen stellt sich heraus, daß er nicht weiß, daß Marx u n d Lenin zwei verschiedene Personen sind. Für ihn ist es völlig gleich, was die beiden geschrieben haben und wer sie eigentlich sind. Trotz der Erhöhung des Einkommens und des allgemeinen Lebensstandards ist es im heutigen Japan unmöglich, den Kindern genug Geld zu geben, damit sie die Luxuswaren kaufen können, die sie haben wollen. Von Kindheit an hat die Mutter vieles erlaubt, um ihr Kind zum Studium anzuspornen. Dadurch ist das Kind verwöhnt, seine Toleranzgrenze zur Verführung ist schwächer geworden. Die Jugendlichen sind unzufrieden. Was sie gerade reizt, wollen sie sofort haben. Was die Jugendlichen heute stehlen, sind keineswegs Gegenstände, die sie zum täglichen Leben brauchen, sondern Luxusgegenstände wie Modellcars, Briefmarken, Transistorradios und Schmuck. Bei der weitgehend von außen kommenden Zerstörung der japanischen traditionellen Sozialstruktur durch Europäisierung und Amerikanisierung verwundert es, warum die Jugendkriminalität nicht noch höher ansteigt. Es liegt nahe, daß sich die familiäre Kontrolle doch noch stark auswirkt. Ferner ist die traditionelle Sozialkontrolle immer noch wirksam. Im Falle einer verbrecherischen Handlung eines Jugendlichen wird die gesamte Familie als verbrecherisch beurteilt. Die Familienangehörigen werden als Mitschuldige einem sozialen Vorwurf unterworfen. Im Falle eines 27jährigen Jungtäters, der als Mitglied einer radikalen Studentenorganisation einen Polizisten erschoß,
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wurde sein Vater zum Selbstmord gezwungen. Die Mitgliedschaft von Jugendlichen in radikalen Organisationen führt oft zu tragischen Auswirkungen auf ihre Familien, speziell auf ihre Eltern. In anderen Fällen werden die Familien von ihren Nachbarn isoliert. Der Vater kann sogar seine berufliche Stellung verlieren. Nach Ruth Benedict (1887—1948) ist die japanische Kultur eine „Shame culture". Die Scham wirkt sich kriminalitätsverhindernd aus. Wegen der Verstädterung wird Japan jedoch, vor allem in den Großstädten, zur anonymen Gesellschaft, die immer weniger soziale Solidarität kennt. Ein Schamgefühl gegenüber Unbekannten gibt es kaum. 3. Industrialisierung
und
Urbanisierung
In den letzten zehn Jahren ist eine Abwanderung der Bevölkerung aus den kleineren Präfekturen in die Großstädte, meist Millionenstädte, unverkennbar. In ganz Japan gibt es zehn Städte mit über einer Million Einwohner: Tokio 11621598, Osaka 2811205, Yokohama 2568251, Nagoya 2080970, Kyoto 1438714, Kobe 1348879, Sapporo 1178224, Kita-Kyushu 1052368, Kawasaki 1004600 und Fukuoka 941467. In den letzten zehn Jahren haben die folgenden Präfekturen einen gToßen Zustrom von neuen Einwohnern erhalten: Kanagawa (Hauptstadt Yokohama) 1794000, Osaka 1503000, Aichi (Hauptstadt Nagoya) 1048000, Tokio 650000, Hyogo (Hauptstadt Kobe) 622000. Die Bevölkerung hat in Handels- und Industriestädten zugenommen, in ländlichen Gebieten dagegen abgenommen. Die Veränderung der Sozialstruktur in Japan seit 1951 wird aus Abbildung 11 deutlich. Japan war bereits im Jahre 1951 ein Land des Handels und der Dienstleistungen und eine moderne Industriegesellschaft. Der Anteil der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei am Sozialprodukt machte nur 25,3% aus. Die Entwicklung Japans zur Handels- und Industrienation hat sich bis zum Jahre 1973 entschieden vollzogen. Die Land- und Forstwirtschaft und die Fischerei waren nur noch mit 7,1% am Sozialprodukt, die Industrie war dagegen mit 36,5% und Handel und Dienstleistungen waren sogar mit 56,5% am Sozialprodukt beteiligt. Hier wird die radikale Industrialisierung Japans in den letzten zwanzig Jahren sehr deutlich. Wenn Japan ein flaches Land wie Frankreich oder Westfalen wäre und die Grundstücke für die Industrie leicht verfügbar wären, hätten die Japaner keine so großen Probleme mit der Umweltverschmutzung (vgl. hierzu Abbildung 12). In ganz Japan gibt es zu etwa 70% Gebirge, in denen fast kein Mensch wohnen kann. Auf dem engen Staatsgebiet wohnen etwa 110 Millionen Menschen, die meist auf dem am Meer entlang liegenden flachen Land dicht gedrängt leben. Die
24
Vergleichende Kriminologie: Japan Land-und Forstwirtschaft Fischerei
1951
30,6
/ 1955
/
28,9
1 uiuiiiiillllllllllJJ
wm
36,4
1 1965
Handelund Dienstleistungen
Industrie
lipillllllll 25,3
11,3
35,9
-
38,5
illlillllli
IIIIII
1973 7.1
1
36,5
IIIIII
0
10
20
1
5U
,6 5
30
40
50
60
70
90
Prozentsätze des Sozialprodukts
100%
Abbildung 11: Veränderung der Sozialstruktur in Japan Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.:) Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 41
Absolute Zahlen
500
1000
—1
1500
1
1
2000 1
3500 Ii—I—
1000 -1
1500
5000
LU
828
1183
1961 3 51.5 i. 716
Abbildung 12: Entwicklung der Umweltverschmutzungskriminalität Anmerkung: Die absoluten Zahlen beziehen sich auf die Fälle, die von der Polizei zur Staatsanwaltschaft weitergegeben worden sind. Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 28
Vergleichende Kriminologie: Japan Industrie braucht viele Grundstücke, die unweit vom Meer liegen. Fischer- und Bauerndörfer werden zum Zwecke des Aufbaues der Industrie verkauft und die in Landwirtschaft und Fischerei Beschäftigten arbeiten in den Fabriken und verdienen gut. In den Bauerndörfern klagt man hingegen über Mangel an Arbeitskräften und an Nachwuchs. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die japanische Regierung im Jahre 1950 ihren Plan des Wiederaufbaus der Industrie in Gang gesetzt, um die Industriegebiete planmäßig und organisatorisch über das ganze Land zu verteilen. Im Jahre 1962 hat sie diesen Plan noch weiter entwickelt und einige neue Industriestädte und Sondergebiete zur Industrialisierung ausgewiesen. Im Jahre 1969 hat sie zum zweiten Mal ihren Plan erneuert, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Im Laufe dieser Planung wurden viele Dörfer, die seit langem Landwirtschaft oder Fischerei betrieben haben, zu Industriegebieten umgeformt. Da die neuen Industriestädte Arbeitskräfte haben und in den verkehrsgünstigen Orten angesiedelt werden wollten, mußten die Fabriken inmitten großer Wohnbezirke gebaut werden. Im Laufe der Zeit traten ernste Probleme der Luft- und Wasserverschmutzung in Erscheinung. Die MinamataKrankheit war unter diesen Umständen entstanden. Eine große Chemiefabrik hatte ihr ungereinigtes Gebrauchtwasser in eine Meeresbucht fließen lassen. Dort pflegten die Fischer der Nachbardörfer immer wieder zu fischen oder Muscheln zu züchten. Menschen, die die Fische und Muscheln gegessen haben, wurden von den chemischen Stoffen vergiftet, die allmählich Fische und Muscheln verschmutzt hatten. Sowohl die Erwachsenen als auch die Embryonen wurden dadurch geschädigt. Es handelt sich hier um eine direkte Nachwirkung der Industrialisierung. Man muß indessen auch ihre indirekte Wirkung berücksichtigen, die sich in der Kriminalitätsentwicklung vor allem im Anwachsen der Jugendkriminalität zeigt. Unter dem Begriff der „Urbanisierung" versteht die Kriminologie zwei verschiedene Kategorien. Die Stadt, die sich bereits zu einer großen Stadt entwickelte, erstreckt sich wegen Wandels in der Gesellschaft (oder wegen Änderung der Struktur der Gesellschaft) auf die Nachbargebiete und schließt sie in den eigenen Kreis ein, um eine noch größere Stadt hervorzubringen, wie ζ. B. Tokio, Osaka und Nagoya. Wegen der Industrialisierung wurden aber auch zahlreiche Bauern- und Fischerdörfer zu Industriegebieten umgeformt. Viele fremde Leute ziehen dorthin um, und es entwickeln sich künstlich gestaltete Industriestädte. Beispiele sind die Keiyo- und KashimaIndustriegebiete, in denen große Kraftwerke, Eisen-, ölverfeinerungs- und Chemieindustrien als Kombinate nebeneinander stehen. Sie brauchen einen großen Hafen zum Transport der
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Rohstoffe und Fertigprodukte. Daher müssen sie am Strand liegen. In beiden Fällen stehen die Einwohner früherer Zeit unter dem Einfluß der größeren Städte. Selbst in Tokio lebten die Einwohner der Randgebiete lange Zeit unter ihrer eigenen Kultur. Sie arbeiteten auf dem Feld oder im Wald und feierten das Dorffest. In den letzten zehn Jahren wurden Felder zu Wohnvierteln völlig umgewandelt, viele Wälder kahlgeschlagen und als Grundstücke für neue Hochhäuser verwandt. Diese Urbanisierungstendenz erstreckt sich auch auf die Nachbarpräfektur. Vom Zentrum Tokios stehen die Häuser ununterbrochen 100 km nebeneinander. In ihnen leben Menschen, die meist erst in den letzten zwanzig Jahren nach Tokio gekommen sind. Wie es meist in Großstädten der Fall ist, haben die Einwohner keine einheitlichen Wertvorstellungen und keine übereinstimmenden moralischen Standards und Leitbilder. Sie leben isoliert und wollen möglichst wenig Kontakt mit ihren Nachbarn haben. Diese sogenannte städtische Kultur beeinflußt die Ureinwohner der neuen Territorien sehr, und es kommen Kulturkonflikte zwischen alten und neuen Einwohnern vor. Da die Ureinwohner in diesen Gebieten seit Jahrhunderten dort gelebt haben und eigene Traditionen und Sitten entwickelt haben, leben die Neuankömmlinge mit völlig verändertem Lebensgefühl. Weil die Struktur der Gesellschaft verändert und die Grundlage des Volkslebens völlig zerstört ist, hat das Volksfest nur eine symbolische Bedeutung, Symbol dafür, was hier früher einmal war. Falls es sich um ein Fischerdorf handelte, hatte das Fest Bedeutung im Zusammenhang mit der Fischerei. Zu allen Jahreszeiten muß man die Arbeit nach der Art des Fanges gemeinsam vorbereiten. Im Winter repariert man gemeinschaftlich Fischernetze oder -boote. Im Frühling sammelt man Meerwürmer oder junge Sardinen, um im Sommer damit große Fische zu fangen. Am Strand züchtet man Muscheln, die im Sommer von den Gästen aus den großen Städten gesammelt werden. Das Volksfest war das gemeinsame Vergnügen nach harter gemeinschaftlicher Vorbereitungsarbeit. Falls es sich um ein Bauerndorf handelte, war das Fest vom Bauernleben charakterisiert. Im Frühling sät man die Reiskörner. Dann pflückt man die 15 cm langen jungen Reisstämme und verpflanzt sie gemeinschaftlich auf die neugepflügten Reisfelder. Im Sommer muß man die Reisfelder bewässern und das Unkraut jäten. Im Herbst muß man gemeinsam ernten, bevor ein Taifun die Felder verwüstet. Also war das Frühlings- und Herbstfest im Bauerndorf das Vergnügen nach mühsamer gemeinsamer Arbeit. In den neuen industriellen Gebieten feiert man das Fest. Man feiert jedoch aus Nostalgie. Obwohl die Sitte übrig bleibt, verstehen die neuen Einwohner sie nicht. Die traditionelle Lokalsitte beherrscht
Vergleichende Kriminologie: Japan
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die gesamten Einwohner nicht mehr. Die Mehrheit der Einwohner fühlt sich keineswegs der Sitte verbunden. Dadurch entstehen Kulturkonflikte. Aus einer dörflichen Gemeinschaft ist eine großstädtische Gesellschaft geworden. Die Häufigkeit der Verbrechensbegehung in einzelnen Gebieten Japans veranschaulicht Abbildung 13. Die ländlichen Gebiete mit gesunder Sozialstruktur weisen die wenigste Kriminalität auf. Dort, wo eine hohe Bevölkerungsdichte vorhanden ist, wie in bestimmten Gebieten der Hauptinsel Honshu, ist auch eine hohe Kriminalitätsbelastung zu erkennen. Das gilt für das Ballungsgebiet um Tokio, aber auch für die Ballungsräume Kyoto und Osaka. Das am höchsten mit Kriminalität belastete Gebiet der Insel Kyushu ist gleichfalls ein Bevölkerungsballungsraum (Kitakyushu). Demgegenüber ist die hohe kriminelle Belastung aller Bezirke der Insel Hokkaido und zweier Bezirke der Insel Schikoku darauf zurückzuführen, daß in diesen Gebieten die Industrialisierung stark vorangetrieben wird und daB
Durchschnitt 1000 bis 1200 Fälle
Hokkaido
Honshu
Shikoku
Abbildung 13: Häufigkeit der Verbrechensbegehung in einzelnen Bezirken • •
über 1200 Fälle
H l
1000 bis 1200 Fälle
H D 800 bis 1000 Fälle I
1 unter 800 Fälle
Anmerkung: Stand 1.10.1974, ohne Delikte im Straßenverkehr, Häufigkeit auf 100000 Einwohner Quelle: Japanisches Kriminalamt (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik 1974. Tokio 1975, S. 38
sich diese Räume im Sinne einer Verstädterung in starkem Wandel befinden. Der Einfluß der Industrialisierung auf die Jugendlichen im Industriegebiet Keiyo kann aus folgenden Gründen hergeleitet werden: Auf der anderen Seite der Tokio-Bucht liegt die ChibaPräfektur. Am Strand entlang befanden sich idyllische Fischerdörfer. Seit 1& Jahren baut man dort eine riesige Industriestadt. Jetzt stehen überall auf neuerschlossenen Grundstücken am Strand die verschiedensten Fabriken. Die Fischer haben ihre Fischereirechte den Unternehmern abgetreten und arbeiten jetzt entweder als Arbeiter in den Fabriken oder sie betreiben mit dem Entschädigungsgeld kleine Geschäfte, wie ζ. B. Restaurants oder kleine Warenhäuser. Ein Team des kriminologischen Forschungsinstituts im japanischen Justizministerium hat eine empirisch-kriminologische Untersuchung der Jugendlichen in diesem Gebiet im Jahre 1965 durchgeführt. Probanden waren insgesamt 701 Volks- und Mittelschüler, die aus 6 Schulen dreier verschiedener Wohnbezirke ausgewählt worden waren. Eine Stichprobe aus dem Fischerwohnbezirk wurde mit einer zweiten aus einem Bauerngebiet und einer dritten aus einem Zuzugsraum verglichen. Die Ergebnisse der einheitlich durchgeführten Tests verschiedener Art zeigen statistisch signifikante Unterschiede unter diesen drei Stichproben. In der ersten Stichprobe, d. h. unter den Kindern und Jugendlichen aus dem Fischerbezirk, befinden sich zahlreiche Problemkinder und -jugendliche. Früher war es noch schlimmer, da ihre Eltern ihren Beruf völlig änderten und bei dem Berufswechsel einige Konflikte in ihren Familien durchzustehen hatten. Diese Probanden standen unter dem tiefen seelischen Einfluß des Gesellschaftswandels. Nach der gesellschaftlichen Strukturänderung gerieten die Probanden in chaotische familiäre Situationen. Der Vater verlor seine Selbstachtung, Lebensform und Landschaft änderten sich völlig, und die fest verbundene Nachbarschaft lockerte sich. Die Probanden besaßen jedoch einen guten Sinn für Anpassungsfähigkeit an die Wandlungen und eine zufriedenstellende Intelligenz. Eine niedrige Intelligenz und geringe Anpassungsfähigkeit zeigten die Probanden aus dem Bauembezirk. Viele quasischwachsinnige Probanden wurden erkennbar. Jugendkriminalität war allerdings wenig vertreten. Da ihr Wohnbezirk noch wenig unter dem Einfluß der Industrialisierung stand und ihre Familie noch in landwirtschaftlichen Gemeinschaften lebte, war das Leben dort verhältnismäßig ruhig und stabil. Die Probanden mit niedrigem Intelligenzniveau und geringer Anpassungsfähigkeit können vom gesellschaftlichen Leben nicht abweichen und sind gut integriert. Die Probanden im Zuzugsbezirk zeigten beste Ergebnisse in allen Tests. Es gibt fast keine Problemkinder. Unter den Probanden
Vergleichende Kriminologie: Japan erkennt man indessen sofort, daß eine Art Resignationsstimmung vorherrschend ist. Sie fühlten sich als „Versager" bei der Konkurrenz mit ihren Kameraden. Sie hatten einen ziemlich ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex, obwohl sie im Vergleich zu den Probanden der anderen beiden Bezirke ein qualitativ hohes Intelligenzniveau aufwiesen. Folgende Prognosen wurden vom kriminologischen Forschungsinstitut des japanischen Justizministeriums gestellt: Die Probanden des Fischerbezirkes haben ihre Schwierigkeiten überwunden. Ihre Verwendungsfähigkeit in dem neuen gewandelten sozialen Leben signalisiert ihre positive Zukunft. Bedenklich sieht es für die Probanden im Bauernbezirk aus, da ihr Wohngebiet im Laufe der Zeit unter den unvermeidbaren Einfluß der Industrialisierung kommen und sich das soziale Leben bei ihnen schnell ändern wird. Es ist dann zweifelhaft, ob sich die Probanden mit einer schlechten Intelligenz und mit niedriger Anpassungsfähigkeit überhaupt an die rapide Änderung ihres Lebens anzupassen vermögen. Das ist ein großes Problem. Denn bei ihnen ist die Gefahr der sozialen Abweichung sehr groß. Bei den Probanden im Zuzugsgebiet war zur Zeit der Untersuchung alles in Ordnung. Ihre Resignationsstimmung muß man allerdings berücksichtigen. Sie befanden sich zur Zeit der Untersuchung als Mittelschüler in der Schule ihres Wohnbezirks und standen unter familiärer und nachbarschaftlicher Kontrolle. Falls sie als Gymnasiasten die Schulen außerhalb ihres engeren Kreises besuchen sollten und unterwegs mit abweichenden Schülern anderer Schulen in Kontakt kommen und von ihnen beeinflußt würden, bestünde für sie doch die Gefahr der Sozialabweichung. Ihre Eltern und Lehrer wurden auf ihre Gefährdung aufmerksam gemacht. Die Kriminalität und ihre Bekämpfung im Industriegebiet Kashima stellt sich folgendermaßen dar: Kashima liegt direkt am Meer. Früher wohnten sehr wenig Menschen dort. Man lebte von unproduktiver Landwirtschaft. Der Spitzname für dieses Gebiet hieß „Tibet" im KantoFlachland. Seit 1964 hat die Bezirksregierung hier mit einem großen Projekt der Industrialisierung angefangen. Sie hat einen Hafen bauen lassen, in dem 4 bis 5 große Transportschiffe über 1000000 Tonnen gleichzeitig be- und entladen werden können. Im Laufe der Bauzeit kamen viele Verbrechen in verschiedenen Phasen vor. Man hat mit dem Kashima-Projekt im Jahre 1964 begonnen. Im Jahre 1972 wurden die Bauten und Industriebetriebe in Gang gesetzt. Die Einwohnerzahl des Kashima-Gebietes betrug im Jahre 1960 57000. Es handelte sich hauptsächlich um kleine Bauern. Im Jahre 1975 beläuft sich die Einwohnerzahl auf etwa 300000. Sie hat sich also innerhalb von 15 Jahren um etwa das Fünffache vermehrt. Sowohl die allgemeinen als auch die
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Verkehrsdelikte wuchsen in den letzten zehn Jahren stark an. Man kann allerdings Unterschiede zwischen dem Kashima- und dem Süd-OkayamaIndustriegebiet feststehen. In Kashima gab es früher keine große Gemeinde. Überall breitete sich Wüste aus. In Süd-Okayama befanden sich zahlreiche Fischerdörfer. Die meisten Einwohner in Kashima waren zur Zeit der Untersuchung Zugezogene. Sie ziehen nach einigen Jahren immer wieder weg. Die Einwanderer gehören ausnahmslos zur Mittelschicht und haben eine große soziale Mobilität. In Süd-Okayama wohnen viele Ureinwohner. Sie arbeiten als Fabrikarbeiter. In Kashima war die Situation vor allem in den Jahren zwischen 1965 und 1969 schwierig, weil zahlreiche Bau- und Straßenbauarbeiter aus ganz Japan hierher eingewandert waren und in Barakken wohnten. In dieser Aufbauphase kamen sie mit anderen zugewanderten Arbeitern in Konflikt. Es gab also viele Delikte gegen die Person. Qualitativ betrachtet, sind die Begehungsformen der Vermögensdelikte völlig anders geworden. Bevor das Kashima-Projekt auf dem Papier stand, waren die Leute in diesem Gebiet sehr arm, und es spiegelt sich die Armut in den Kriminalfällen wider, die meist aus Not begangen wurden, wie ζ. B. Feld- oder Ladendiebstähle. Während des Aufbaus der Industriegebiete findet man Fundunterschlagung oder Einbruchsdiebstähle aus den Lagern für Baumaterialien. Inzwischen sind die Bauern schnell reich geworden, weil sie ihre Grundstücke den Fabrikunternehmern veräußert haben. Der Lebensstandard der Einwohner steigt, und fast alle Bauern wurden Millionäre. Die Art der Jugendkriminalität spiegelt die Änderung der Gesellschaftsstruktur wider. Die Jugendlichen stehlen nicht mehr das, was sie für ihren täglichen Bedarf benötigen, sondern sie begehen Fahrrad-, Moped- und Autodiebstähle. Sie begehen diese Fahrzeugdiebstähle, um das neueste Modell möglichst schnell zu besitzen und damit ihren Luxusansprüchen zu genügen. Seit einigen Jahren führt ein Projektteam im kriminologischen Forschungsinstitut des japanischen Justizministeriums eine empirische Untersuchung durch. Es wurden 47 Präfekturen und ihre Kriminalitätsstrukturen überprüft. Als Indexdelikte sind Diebstahl, Betrug, vorsätzliche Tötung, Körperverletzung, Notzucht und fahrlässige Tötung und Körperverletzung im Verkehr ausgewählt worden. Zu diesen einzelnen Delikten untersuchte man einerseits die Häufigkeitszahlen und andererseits die demographischen Daten der einzelnen Präfekturen mit ihren sozialen Änderungen, also ζ. B. soziale Faktoren wie Ausbildungskosten, Anzahl der Krankenbetten und der Autos, Faktoren der ökonomischen Prosperität, also ζ. B. die Anzahl der Beschäftigten im Handels- und Dienstleistungsgewerbe, die Anzahl der verkauften Zeitungen und die Zahl der Ärzte,
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Vergleichende Kriminologie: Japan
Faktoren der Urbanisierung, wie ζ. B. Einkommen der Einwohner, Heiratsrate, Produktivität. In jeder Deliktskategorie spiegeln sich die ortsbedingten Eigenschaften der jeweiligen Präfektur wider. Die größten Städte, wie ζ. B. Tokio, Osaka, Kobe, nehmen eine höhere Stelle in der Rangordnung der Häufigkeit beim Diebstahl, beim Betrug und bei der Körperverletzung ein, während sie bei der Tötung und bei der Notzucht an niedriger Stelle der Häufigkeitsskala einzuordnen sind. Präfekturen mit landwirtschaftlichem Charakter sind mit vorsätzlicher Tötung, Körperverletzung und insbesondere mit Notzucht hoch belastet. Eine ähnliche Tendenz besteht in den Fällen der im Verkehr begangenen fahrlässigen Tötung und Körperverletzung. Seit 1950 fällt die Häufigkeitszahl des Diebstahls allmählich ab. Sein Prozentsatz an der klassischen Kriminalität (also außer Straßenverkehrsdelikten) steigt dagegen von 67,2% im Jahre 1950 auf 82% im Jahre 1973 an. Die Präfekturen, in denen Diebstähle häufig begangen werden, enthalten die größten Städte (Tokio, Fukuoka, Osaka, Kanaqawa, Hyogo und Kyoto), während die Diebstahlsrate in den landwirtschaftlichen Präfekturen, ζ. B. in Nord-Japan, überall niedrig ist. Die Faktoren, die einer instabilen Sozialstruktur zuzuschreiben sind, wirken kriminalitätsfördernd: Arbeitslosigkeit, Ehescheidung, Selbstmord und Sozialhilfeunterstützung, während sich die Faktoren, die sich auf eine stabile Sozialstruktur beziehen, kriminalitätshemmend auswirken: Höhe der Ausbildungs- und Baukosten, Höhe der Versicherungsbeträge, Größe der Wohnungen und Bettenzahlen in der Klinik. Die Tötungsdelikte zeigen seit 1950 eine fallende Tendenz. Die Präfekturen, deren Häufigkeitszahlen bei Tötungsdelikten hoch sind, liegen ausnahmslos im westlichen und südlichen Teil Japans. Aus den Untersuchungen des Justizministeriums in den Jahren 1973 und 1974 sind die folgenden Daten hervorzuheben: In den Fällen der vorsätzlichen Tötung bei Jugendlichen sind die Prozentsätze der Opferbeteiligung sowohl bei Verwandten als auch bei Freunden und Bekannten sehr hoch: 78,6% und 55,5% (->- Viktimologie). Da in Notzuchtfällen Sitte und Gewohnheit jeder Gemeinde eine große Rolle spielen und die Anklage von der Mentalität der Einwohner stark abhängig ist, muß man die wirkliche Situation vorsichtig beurteilen. Die Häufigkeitsrate ist bei Vergewaltigung sehr hoch — im Gegensatz zu den Fällen der vorsätzlichen Tötung — in den landwirtschaftlichen Präfekturen in Nord-Japan und in einigen westlichen Präfekturen mit Entwicklungscharakter, während sie in den Präfekturen mit größeren Städten ziemlich niedrig ist. Im Jahre 1974 sind 3956 Notzuchtfälle in Japan polizeilich bekanntgeworden. Davon sind 1058 Opfer Schülerinnen und Studentinnen (26,7%), 594 Opfer Angestellte in Klubs, Bars, Kabaretts und Lokalen (15,0%),
417 Opfer Firmenangestellte (10,5%), 343 Opfer Hausfrauen (8,7%), 267 Opfer Angestellte in Läden (6,7%) und 236 Opfer Fabrikarbeiterinnen (6,0%). Nach Altersgruppen teilen sich die Opfer folgendermaßen auf: 6- bis 13jährige 349 (8,8%), 14- bis 19jährige 1380 (34,9%), 20- bis 24jährige 986 (24,9%), 25- bis 29jährige 416 (10,5%), 30bis 39jährige 451 (11,4%) und 40- bis 49jährige 226 (5,7%). E. Reaktion auf Kriminalität, insbesondere auf Jugendkriminalität 1. Das japanische
Familiengericht
Nach dem Krieg wollte die amerikanische Besatzungsmacht das traditionelle japanische Rechtssystem völlig reformieren. Im Rahmen dieser Besatzungspolitik wurde das Innenministerium abgeschafft, und seine Verwaltungsfunktionen wurden auf untergeordnete Behörden verteilt. Das Justizministerium wurde verkleinert. Früher unterstanden ihm die Staatsanwaltschaft und die Gerichte. Diese wurden nunmehr verselbständigt. Lediglich die Staatsanwaltschaft unterstand weiterhin dem Justizministerium. Der Grund dieser Reform liegt darin, daß die Staatsanwaltschaft, insbesondere deren Sonderabteilung „Staatsschutz", einen mächtigen Impuls auf die Gerichtspraxis ausübte und die Selbständigkeit der Richterschaft beeinträchtigt hatte. Im Rahmen einer allgemeinen Rechtsreform sollte auch das Jugendgesetz neu gefaßt werden. Gegen den hierzu von der japanischen Regierung vorgelegten Entwurf wandte sich der Chef der Abteilung für Vollzugswesen beim Hauptquartier der amerikanischen Besatzung, Burdett G. Lewis, energisch. Ihm mißfiel insbesondere, daß das nichtgerichtliche Verfahren vor dem Shönen-shimpan-jo mit der starken Einflußmöglichkeit der Staatsanwaltschaft beibehalten werden sollte. Lewis erzwang ein neues Jugendgesetz, das stark am amerikanischen „Standard Juvenile Court Act" ausgerichtet war. Diese neue Fassung wurde als Gesetz Nr. 168 (Jugendgesetz, JG, Shönenhö) am 15.7.1948 verkündet und trat am 1.1.1949 in Kraft. Es gibt im wesentlichen drei verschiedene Kategorien von Jugendgerichten: das Jugendgericht innerhalb der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit, das Jugendgericht als selbständige Institution und das „Jugendgericht" als Jugendwohlfahrtskommission. Die erste Kategorie findet sich zumeist auf dem europäischen Kontinent, wie ζ. B. in der BRD, in Österreich, Italien und der Schweiz. Das Verfahren kann als kleiner Strafprozeß für Kleinerwachsene bezeichnet werden. Der Prozeß verläuft zeremoniell. Zeugenverhör und Beweiserhebung sind ebenso wie im Strafprozeß für Erwachsene geregelt. Anders verläuft das Verfahren im Fall der zweiten Kategorie, zu der die
Vergleichende Kriminologie: Japan Jugendabteilung des Familiengerichts in Japan gehört. Das Verfahren ist informell. Der Jugendrichter, der Erzieher und der Erziehungsberechtigte, der Untersuchungs- und Fürsorgebeamte und der Jugendliche selbst nehmen am runden Tisch Platz. Sie erörtern die Zukunft des Jugendlichen wie in einer Konferenz. Man bezweckt keineswegs eine Vergeltung seiner Tat, sondern vielmehr seine reibungslose Rückkehr in die von ihm geschädigte Gesellschaft. Hier spielen weniger rechtliche Erwägungen als vielmehr die tatsachenwissenschaftlichen Kenntnisse über seine körperlichen wie psychischen Zustände und seine Milieuverhältnisse eine Rolle. Das Jugendgericht hat mehr den Charakter einer Klinik als den eines Rechtsprechungsorgans. Die dritte Kategorie gründet sich auf die skandinavische Selbstverwaltung. Schweden plante, das amerikanische Jugendgericht einzuführen, hielt dann aber doch an seiner kommunalen Lösung der Behandlung der Jugenddelinquenz fest. Nach seinem Jugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahre 1962 besitzt die Jugendwohlfahrtskommission die Zuständigkeit für Delikte, die Jugendliche unter 18 Jahren begangen haben. Sie kann den delinquenten Jugendlichen einer Pflegefamilie zuweisen, ihn unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers stellen oder aber ihn in die Jugendfürsorgeanstalt einweisen. Bei Behandlungsschwierigen kann sie die Sache an die Staatsanwaltschaft abgeben. Bei Jungtätern von 19 bis 23 Jahren bearbeitet der Staatsanwalt die Sache. Er kann vor dem Kriminalgericht Klage erheben. Falls er es für angemessen hält, kann er das Verfahren einstellen und den Jungtäter an die Jugendwohlfahrtskommission seines Wohnsitzes überweisen, damit diese Fürsorgemaßnahmen ergreife. Eine entscheidende Änderung im neuen japanischen Jugendrecht ist die Einführung des Familiengerichts nach amerikanischem Muster. Dadurch wurde die Institution des Shönen-shimpanjo endgültig abgelöst. Um die Stellung des Familiengerichts im Gesamtsystem zu verdeutlichen, soll zunächst ein Abriß der japanischen Gerichtsverfassung gegeben werden. Anders als die Einteilung in fünf Gerichtsbarkeiten wie in der Bundesrepublik Deutschland kennt das japanische Gerichtsverfassungsgesetz nur die ordentliche Gerichtsbarkeit. Innerhalb dieser gibt es dann lediglich die Abteilung für Zivilsachen, Strafsachen und öffentlich-rechtliche Streitigkeiten. Laienrichter sind für keine dieser Verfahrensarten vorgesehen. Im allgemeinen Rechtszug können vier verschiedene Gerichtsinstanzen tätig werden. In Zivilsachen und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ist bis zu einem Streitwert von umgerechnet 3.000 DM das Kan'i-saibansho (wörtlich übersetzt: Gericht für kleine Angelegenheiten) zuständig. Das Gericht ist mit einem Richter besetzt. Das Distriktsgericht (auf Japanisch: Chiho-saiban-
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sho) hat die allgemeine Zuständigkeit als Gericht erster Instanz bei Streitwerten über umgerechnet 3.000.— DM. Es ist zweite Instanz für die Berufung gegen Urteile des Kan'i-saibansho, also dem deutschen Landgericht vergleichbar. Das Obergericht (auf Japanisch: Koto-saibansho) ist Berufungs- bzw. Revisionsgericht gegen Entscheidungen des Distriktgerichts und des Kan'i-saibansho. Erstinstanzliche Zuständigkeit besteht u. a. für Streitigkeiten bei öffentlichen Wahlen, für Disziplinarsachen gegen Richter und für das habeas-corpus-Verfahren. Bei allen Fragen entscheidet das Gericht in der Besetzung mit drei Richtern. Der Oberste Gerichtshof (auf Japanisch: Saiko-saibansho) dient als Revisionsgericht für Verfahren, die erstinstanzlich von Distriktgerichten entschieden wurden. Gleichzeitig ist der Oberste Gerichtshof alleiniges Verfassungsgericht. Darüber hinaus hat er die Aufgabe, das Verfahrensrecht, also ZPO, StPO und Jugendgesetz durch „Regeln", das sind ergänzende und ausführende Verfahrensnormen, zu vervollständigen, deren Verletzung wie eine Gesetzesverletzung behandelt wird. Endlich nimmt der Oberste Gerichtshof die Aufgabe der Justizverwaltung für Rechtsanwälte und Gerichte wahr. Der Oberste Gerichtshof tagt entweder in drei Senaten zu je fünf oder als großer Senat mit allen 15 Richtern. Für Strafsachen gilt ein entsprechender Aufbau. Das Kan'isaibansho ist für Kleinkriminalität zuständig und kann regelmäßig nicht mehr als Geldstrafe verhängen. In Ausnahmefällen darf es zu Zuchthaus bis zu drei Jahren verurteilen. Das Distriktgericht ist für alle übrigen Delikte, die keinem besonderen Gericht zugewiesen sind, in erster Instanz zuständig. Das Obergericht ist in Drei-Richter-Besetzung Berufungsgericht für Entscheidungen des Kan'isaibansho- und des Distriktgerichts. Mit fünf Richtern besetzt ist es erstinstanzliches Gericht für Hochverrat. Die Aufgaben des Obersten Gerichtshofes sind in Zivil- wie in Strafsachen gleich. Das Familiengericht greift in diesen Aufbau ein, indem es teilweise die zivil- und die strafrechtliche Zuständigkeit für sich beansprucht. Seine Jurisdiktion erstreckt sich auf Fälle nichtdeliktischer familienrechtlicher Problematik (wie ζ. B. Ehescheidung, Adoption, Erbstreitigkeiten) wie auf Angelegenheiten delinquenter oder auch nur prädelinquenter verwahrloster Jugendlicher (§ 3 JG). In diesen Angelegenheiten besteht absoluter Vorrang der Zuständigkeit des Familiengerichts, das allerdings von sich aus Verfahren an Ziviloder Strafgerichte zurückverweisen kann. Das Familiengericht ist mit einem Richter besetzt und befindet sich jeweils am Sitz eines Distriktgerichts. Entscheidungen des Familiengerichts können in zweiter Instanz beim Obergericht und in letzter Instanz beim Obersten Gerichtshof angefochten werden, was aber sehr selten vorkommt, da nur der Jugendliche anfechtungsberechtigt ist, keines-
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Vergleichende Kriminologie: Japan
wegs die Staatsanwaltschaft. Die Grundidee, warum Familien- und Jugendsachen im selben Gericht behandelt werden, beruht auf der Argumentation, daß die Ursachen der Jugendkriminalität meist in gestörten Familienverhältnissen wurzeln und daß man deshalb im selben Gericht genaue Informationen über die Behandlung der betreffenden Sachen wirksam sammeln kann. Das Familiengericht ist im Verfahren nach dem Jugendgesetz mit einem Berufsrichter besetzt. Es ist zuständig für alle Delikte Jugendlicher. Das sind Personen unter 20 Jahren. Bei Jugendlichen unter 14 Jahren spricht das Gesetz nicht mehr von Delikten und Delinquenten, sondern nur noch von Personen, die Strafgesetze verletzen. Hiermit wird Bezug genommen auf das, was früher als Strafmündigkeit bezeichnet wurde. Da jedoch das Jugendgesetz im Fürsorgeverfahren einerseits keine Strafe kennt und andererseits für Jugendliche jeder Altersstufe Fürsorgemaßnahmen vorsieht, kann der Begriff der Strafmündigkeit nicht mehr verwandt werden. Bei besonders schweren Verbrechen, begangen von Jugendlichen über 16 Jahren, kann das Familiengericht indessen die Sache an den zuständigen Staatsanwalt verweisen, der dann gemäß Art. 46 J G Anklage erheben muß. Weiterhin ist das Familiengericht zuständig für kriminell gefährdete Jugendliche, die noch nicht delinquent geworden sind. Nach Art. 3 Abs. 3 J G hat das Familiengericht Gerichtsbarkeit über diejenigen Jugendlichen, die unter Berücksichtigung ihres Charakters oder ihrer Umgebung dazu neigen, Delikte oder Verletzungen eines Strafgesetzes zu begehen, wenn sie sich gewohnheitsmäßig keiner vernünftigen Kontrolle ihrer Erzieher unterwerfen, wenn sie ohne Gründe ihrem Elternhaus fernbleiben, wenn sie Umgang mit Personen pflegen, die einen kriminellen Hang oder unmoralischen Charakter haben, oder wenn sie häufig Plätze schlechten Rufs aufsuchen und wenn sie einen Hang zur Begehung von Taten zeigen, die für ihre oder die Moral anderer Personen schädlich sind. Die recht weite Formulierung der gesetzlichen Merkmale, die eine solche Gefährdung indizieren, ermöglicht eine umfangreiche präventive Tätigkeit der Familiengerichte. Das Vorgehen des Familiengerichts ist bei steter Berücksichtigung des Erziehungsgedankens auf äußerste Behutsamkeit angelegt. Hierzu regelt Art. 22, Abs. 1 J G : „Die mündliche Verhandlung soll in milder Atmosphäre mit gütigem Wohlwollen geführt werden." Da das Gericht selbst oder durch seinen Beauftragten die Untersuchung führt, hat es bei der mündlichen Verhandlung Kenntnis über alle Fakten des Falles. Das ist anders als im Strafverfahren gegen Erwachsene, in dem der Richter keinerlei Kenntnis von den Ermittlungen des Staatsanwalts noch von den Einlassungen des Beschuldigten hat und lediglich als Schiedsrichter im Parteienstreit zwischen Staatsanwalt und An-
geklagtem bzw. dessen Verteidiger tätig ist. In allen Verfahrensabschnitten sind beim Familiengericht ausschließlich Personen und Beamte beschäftigt, die in keiner Verbindung zum Strafgericht stehen. Der in Japan sonst so mächtige Staatsanwalt hat im Fürsorgeverfahren nach dem Jugendgesetz keinerlei Befugnisse. Das Gesetz versucht, die formelle Gerichtsverhandlung möglichst zu vermeiden oder aber doch hinauszuschieben. Es möchte Regelungen bereits in den Vorstufen des Verfahrens ermöglichen. Auf diese Weise soll die Stigmatisierung verhindert werden, die selbst noch mit der „Verurteilung" durch das Familiengericht in Fürsorgesachen bewirkt wird. So können etwa nach Art. 6 Abs. 2 J G Polizeibeamte und Erzieher unmittelbar dem Beratungsund Fürsorgezentrum für Kinder Meldung über kriminelle oder gefährdete Jugendliche machen, wenn dem Anzeigenden das günstiger erscheint als ein Verfahren vor dem Familiengericht. Hat das Familiengericht Kenntnis von einem solchen Jugendlichen, wird die Voruntersuchung durch den Chösakan, d. h. einen gerichtlichen Voruntersuchungs- und Fürsorgebeamten, geführt. In Japan versucht man seit langem, möglichst viele Kriminalpsychologen, -Soziologen oder -pädagogen für die Strafverfolgungsorgane zu gewinnen, um ihre Kenntnisse für eine wirksame Verbrechensverhütung und -bekämpfung nutzbar zu machen. In den Familiengerichten arbeiten etwa 1500 gerichtliche Voruntersuchungs- und Fürsorgebeamte, die an der Universität Kriminologie studiert haben. In den Jugendabteilungen der Familiengerichte arbeitet etwa die Hälfte solcher kriminologischen Empiriker. Vor der Hauptverhandlung im Familiengericht untersuchen sie die Täterpersönlichkeit und ihren sozialen Hintergrund (Haruo Nishihara, Hans Joachim Schneider 1963). Sie behandeln die Jugendlichen sowohl fürsorglich als auch ratgeberisch, was alles informell durchgeführt wird. Sie stellen die Täterprognose (->• Kriminalprognose) und schlagen dem Richter vor, wie man den jugendlichen Delinquenten am besten behandeln soll. Der Chösakan spielt deshalb eine große Rolle bei dem endgültigen Beschluß über die Behandlung der delinquenten Jugendlichen. In den Akten der einzelnen Fälle haben seine Gutachten große Bedeutung. Der Jugendrichter ist als Rechtskundiger und der Chösakan als Tatsachenwissenschaftler tätig. Beide arbeiten zusammen. In der Tat erfüllt der Chösakan eine wichtige Aufgabe im japanischen Behandlungssystem der kriminellen und kriminell gefährdeten Jugendlichen. Im Verfahren nach dem Jugendgesetz kann der Jugendliche durch Übersendung einer schriftlichen Mahnung gerügt werden. Er kann aber auch durch Gerichtsbeschluß für eine begrenzte Zeit (meist unter einem Monat) in ein Klassifikationszentrum eingewiesen oder der Aufsicht des Chösakan unterstellt werden (Shiken-
Vergleichende Kriminologie: Japan kansatsu: -wörtlich übersetzt: Probeaufsicht). Diese Aufsicht kann in einer Weise angeordnet werden, die den Jugendlichen in seiner Bewegungsfreiheit im wesentlichen uneingeschränkt läßt und ihm lediglich verschiedene Verhaltensanordnungen (Meldung beim Chösakan, Meidung gewisser Lokale usw.) auferlegt. Die Aufsicht kann ferner die Form einer Einweisung annehmen. Nach Art. 25 Abs. 2 Nr. 3 J G kann der Jugendliche im Rahmen der Hodö-itaku (Beauftragung zur erzieherischen Führung) beispielsweise einem buddhistischen Kloster, einer aufnahmebereiten Familie oder einem Geschäftsbetrieb überwiesen werden. Die Dauer dieser Maßnahme beträgt durchschnittlich drei Monate. Die den Jugendlichen aufnehmende Person, Institution oder Vereinigung muß bei ihrer Bewerbung lediglich einen guten Ruf und einen Schlafplatz für den Jugendlichen nachweisen. Da es sich herumgesprochen hat, daß man auf diese Weise ohne allzu großes Risiko billige und in diesen Altersstufen auf dem Arbeitsmarkt praktisch nicht zu bekommende Hilfskräfte bekommen kann, bewerben sich häufig kleinere und mittlere Geschäftsleute. Die Jugendlichen kosten nur Unterbringung und Verpflegung, und auch diese Unkosten können ganz oder teilweise vom Familiengericht erstattet werden. Da einem geregelten Arbeitsleben erzieherische Bedeutung nicht abzusprechen ist, kann kaum eine Grenze zum Mißbrauch gezogen werden, zumal von den Jugendlichen niemals unzumutbare Arbeit (Schwerarbeit oder gesundheitsgefährdende Arbeit) verlangt wird. Die durchschnittliche Länge einer solchen informellen Einweisung beträgt drei Monate. Das ist eine erstaunlich lange Zeit, wenn man bedenkt, mit welcher Sorgfalt in Art. 17 J G die Dauer der Einweisung in ein Klassifikationszentrum auf vier Wochen begrenzt worden ist. Häufig werden die der Erleichterung der Untersuchung dienenden Möglichkeiten dazu genutzt, informell, d. h. ohne Eröffnung der Verhandlung, dem Jugendlichen Fürsorge angedeihen zu lassen oder ihm einen Denkzettel zu geben. Art. 26 a J G stützt eine solche Handhabung, weil dort bestimmt wird, daß auch bei Absehen von einer mündlichen Verhandlung, also bei einer Verfahrenseinstellung aus besonderen, meist durch Geringfügigkeit des Delikts und Besserungsfähigkeit des Jugendlichen bestimmten Gründen, die Einweisung in ein Klassifikationszentrum bis zu sieben Tagen weiter aufrechterhalten werden darf. Außerdem kann das Gericht jederzeit einen Haftbefehl gegen den Jugendlichen erlassen, wenn das „zum Wohl des Jugendlichen, der dringend der Fürsorgemaßnahmen bedarf", notwendig erscheint. Der Haftbefehl ist entweder im Klassifikationszentrum oder in der Obhut des Chösakan zu vollziehen. Art. 13 Abs. 2 J G verfolgt die gleichen Ziele wie die bereits erwähnten Maßnahmen. In diesem Zusammenhang werden die Gefahren
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deutlich, die ein solches System der informellen, nicht stigmatisierenden Regelungen mit sich bringt. Im Widerstreit zwischen Erziehungspriorität und institutionalisierter rechtsstaatlicher Sicherung ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, eine Lösung zu finden, die in beiden Richtungen befriedigend ist und einen Mißbrauch ausschließt. Hält das Familiengericht die Eröffnung einer mündlichen Verhandlung für angebracht, so beschließt es in diesem Sinne. Da in dieser Verhandlung nur Beschlüsse erlassen werden dürfen, kann Art. 22 Abs. 2 J G die Öffentlichkeit bei der Verhandlung generell ausschließen, ohne damit die Verfassungsbestimmungen des Art. 82 der japanischen Verfassung zu verletzen, die anordnet, daß ein Urteil und die dazu führende Verhandlung öffentlich sein müssen. Art. 61 J G schließlich verbietet Angaben, aus denen sich die Identität eines in ein Verfahren vor dem Familiengericht verwickelten Jugendlichen ergeben könnte. Möchte das Familiengericht im Anschluß an die mündliche Verhandlung Fürsorgemaßnahmen verhängen, so kann es den Jugendlichen gem. Art. 24 J G der Aufsicht eines Amtes für Bewährungshilfe unterstellen oder ihn in ein Ertüchtigungsheim für Jugendliche (Kyögo-in), ein Heim für unterstützungsbedürftige Jugendliche (Yögoshisetsu) oder in eine Erziehungsanstalt für Jugendliche (Shönen-in) einweisen. Im Jugendschutzverfahren nach Art. 37 J G werden vom Familiengericht die Delikte Erwachsener behandelt, die mittelbar oder unmittelbar gegen das Wohl von Jugendlichen gerichtet sind. Im Gegensatz zum Fürsorgeverfahren entscheidet das Familiengericht hier durch Urteil. Ist ein Verfahren gegen Jugendliche vom Familiengericht zum Staatsanwalt überwiesen worden, so soll dieses Verfahren selbst dann, wenn Erwachsene mitverwickelt sind, möglichst vom Verfahren gegen andere Erwachsene abgetrennt werden. Untersuchungshaft soll gegen Jugendliche nur bei ganz außergewöhnlichen Umständen verhängt werden. Sie soll anstatt in deT Untersuchungshaftanstalt im Klassifikationszentrum für Jugendliche vollzogen werden. Führt ein Strafverfahren gegen Jugendliche zur Verurteilung, so muß die Strafe gemindert werden und die Fristen bei der Aussetzung des Strafrestes, bei der bedingten Entlassung, sind günstiger als bei Erwachsenen. Bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe darf diese nicht in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden. Die Verhandlungen sind gemäß den allgemeinen Vorschriften zwar öffentlich. Doch gilt das bereits erwähnte Verbot der Publikation von Daten, die den Jugendlichen identifizieren könnten, auch hier. Nach Verbüßung der Strafe oder deren Erlaß im Wege der Aussetzung des Strafrestes (parole) wird die Tatsache der Verurteilung sozusagen aus der Lebensgeschichte des Jugendlichen gestrichen, indem er in bezug auf alle gesetz-
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Vergleichende Kriminologie: J a p a n
lieh f ü r irgendeinen Beruf aufgestellten Qualifikationserfordernisse als nicht vorbestraft gilt. 2. Klassifikationszentrum, Trainingsanstalt Jugendstrafanstalt
und
In J a p a n behandelt man die delinquenten Jugendlichen im Verfahren vor dem Jugendgericht „fürsorgerisch". Falls der Jagendrichter es f ü r angezeigt hält, die Sache im Strafprozeß abzuhandeln, weist er den Jugendlichen der Staatsanwaltschaft seines Wohnsitzes zu. Als Vollzugsanstalten gibt es in J a p a n drei verschiedene Kategorien: Klassifikationszentrum, Trainingsanstalt für Jugendliche (auf Japanisch: Shönenin) und Jugendstrafanstalt. Die Zentralverwaltung dieser Vollzugsanstalten ist die Abteilung für Vollzugswesen im Justizministerium. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland ist der Vollzug in J a p a n nicht die Sache der Länder, sondern er gehört zur Zuständigkeit der Zentralregierung. Der E t a t für alle Vollzugsanstalten wird von ihr getragen. Dieses System h a t insofern einen Vorteil, als die Einrichtungen aller Anstalten und deren Lebensbedingungen im einzelnen möglichst standardisiert werden können. In J a p a n gibt es Klassifikationssysteme f ü r Erwachsene u n d für Jugendliche. Bei den erwachsenen Insassen werden die Verurteilten vor dem Beginn ihrer Strafvollstreckung in die Klassifikationszentren der Vollzugsbezirke eingewiesen. Die jugendlichen Probanden werden vor der Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem Familiengericht im zuständigen Klassifikationszentrum körperlich u n d seelisch-geistig untersucht, damit das Gericht eine zuverlässige Prognose f ü r ihre Behandlung (-»• Kriminalprognose) stellen kann. Aufgrund der Testergebnisse im Klassifikationszentrum u n d der Milieuforschung der gerichtlichen Voruntersuchungs- und Fürsorgebeamten beschließt der Jugendrichter, wie m a n den Jugendlichen behandeln soll. In ganz J a p a n gibt es 51 Klassifikationszentren (mit einer Zweigstelle), die in den Zuständigkeitsbezirken aller Familiengerichte liegen. Die gesetzliche Belegzahl der Bediensteten beträgt 1201 und die der Häftlinge 2573. Unter den 1201 Angehörigen des Personals befinden sich 17 hauptamtliche Ärzte, 13 Psychiater, 179 Psychologen und 657 Pädagogen. In allen Zentren arbeiten einige Ärzte und Psychiater zeitweise. Die Regierung brachte als E t a t für diese Institutionen im J a h r e 1975 umgerechnet 35238166 DM auf. Innerhalb der letzten 10 J a h r e wurden 18 Anstalten neu- oder umgebaut. 10 Anstalten sind im Bau. Die japanische Regierung h a t diese Neuund Umbauten mit umgerechnet 14768758 DM finanziert. Die personellen u n d finanziellen Verhältnisse in den Klassifikationsanstalten sind gut. Anders war die Situation kurz nach der Einführung dieses Systems. Fast alle Gebäude waren
früher als Kasernen, Feldkrankenhäuser oder Munitionslager genutzt worden. Alle Anstalten waren überfüllt. Überall kamen Ausbrüche u n d Lynchfälle vor. Die wenigen Inhaftierten werden gegenwärtig (1976) unter idealen Bedingungen tatsachenwissenschaftlich untersucht. Unter den drei Inhaftierungsmaßnahmen: Einweisung in ein Ertüchtigungsheim f ü r Jugendliche (auf J a p a nisch: Kyögo-in), in ein Heim f ü r unterstützungsbedürftige Jugendliche (auf Japanisch: Yögoshisetsu) und in eine Trainings- oder Erziehungsanstalt f ü r Jugendliche (auf Japanisch: Shönenin), die das Familiengericht unter den Fürsorgemaßnahmen auswählen kann, ist die Einweisung in die letztgenannte Anstalt a m schwierigsten. Die anderen beiden Anstalten unterstehen dem Ministerium für Sozialwesen und Wohlfahrt. Das Heim „Yögo-shisetsu" ist mit Ausnahme von Säuglingen f ü r verwahrloste oder sonst fürsorgebedürftige Jugendliche bestimmt. Das Kyögo-in versorgt Jugendliche, die Verfehlungen begangen haben oder kriminell gefährdet sind. Demgegenüber untersteht das Shönen-in dem Justizministerium. Es kennt vier verschiedene Kategorien: Das Shotö shönen-in ist die Elementar- oder Grundstufe f ü r Jugendliche von 14 bis 16 Jahren, die keine erheblichen körperlichen oder seelischen Störungen besitzen. Das Chütö shönen-in ist die Mittelstufe für Jugendliche von 16 bis 20 Jahren. Das Tokubetsu shönen-in ist eine Sonderanstalt f ü r Personen von 16 bis 23 Jahren, die bereits fortgeschrittene verbrecherische Tendenzen erkennen lassen. Iryö-shönen-in ist eine Krankenanstalt f ü r Personen von 14 bis 26 Jahren, die unter erheblichen körperlichen und/oder seelischen Störungen leiden. Die gesetzliche Grundlage ergibt sich aus § 2 des Gesetzes über Trainingsanstalten f ü r Jugendliche vom 15. 5.1948, Gesetz Nr. 169. Die Vorschrift des § 4 dieses Gesetzes bestimmt: Erziehungshilfen f ü r Jugendliche in Erziehungsanstalten sollen darauf abzielen, die Jugendlichen zur Führung eines ordentlichen Lebens zu befähigen, das sich auf den Ansporn gründet, sich selbst zu helfen und sich so dem sozialen Leben anzupassen. Die Erziehungshilfen auf den Gebieten des Schulunterrichts, der Berufsausbildung und der medizinischen Pflege sind wie folgt gegliedert: In den Erziehungsanstalten der Grundstufe soll Schulunterricht der Grund- u n d Mittelschule erteilt werden. In den Erziehungsanstalten der Mittelstufe und in den Sonderanstalten soll neben diesem Unterricht bei Bedarf auch akademischer Unterricht erteilt werden, der dem Niveau an Höheren Schulen, an Höheren Berufsschulen und an der Universität entspricht. In Krankenanstalten soll Unterricht entsprechend dem von Schulen erteilt werden, der dem Unterricht an Schulen für Behinderte oder an anderen Sonderschulen entspricht. Die Trainingsanstalten J a p a n s ähneln sehr stark denen der USA u n d Kanadas (Hans
Vergleichende Kriminologie: Japan Joachim Schneider 1967). Auf weiten Geländen stehen Verwaltungs-, Wohn-, Schul- und Gymnastikgebäude. In den Klassenräumen gibt es moderne Einrichtungen für alle Unterrichtsgegenstände, wie ζ. B. chemische, physikalische, biologische, geologische und mathematische Unterrichtsmaterialien. Die meisten Anstalten liegen in reizvoller Landschaft. Die finanziellen und personalen Zustände sind für diese Institutionen sehr günstig. Japan hat 62 Trainingsanstalten mit zwei Zweigstellen. Die Zahl der Planstellen für das Personal beträgt 2849, die gesetzliche Belegzahl für jugendliche Häftlinge 9758. In Wirklichkeit befinden sich gegenwärtig allerdings nur 2414 Probanden in allen Anstalten. Als Behandlungspersonal sind in den japanischen Trainingsanstalten 69 Ärzte, 6 Psychiater, 7 Pharmakologen und 2344 Pädagogen tätig. Theoretisch besteht ein Verhältnis von einem Pädagogen zu einem Häftling. Der Etat für die Trainingsanstalten für Jugendliche betrug im Jahre 1975 umgerechnet etwa 87.056.960 DM. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat die Regierung 18 Anstalten neu- oder umgebaut. Es sind weitere zwei im Bau, und sie hat für Baukosten umgerechnet etwa 26.311.000 DM aufgewandt. Die durchschnittliche Zahl der jugendlichen Häftlinge in allen Anstalten hat sich im Jahre 1974 (2414) im Vergleich zu der bisher höchsten Zahl im Jahre 1951 (10858) um etwa drei Viertel verringert. Die Atmosphäre in den Trainingsanstalten ist im Vergleich zu den Jugendstrafanstalten fürsorgerisch. Die Trainingsanstalten sind lediglich umzäunt. Einige Sonderanstalten haben eine Mauer. Das sind allerdings Ausnahmen. Zum Personal der Trainingsanstalten zählen meist Pädagogen, die ihre Aufgabe als fürsorgerische Erziehung, keineswegs als Bewachung verstehen. Außer dem Schulunterricht können die Insassen Berufsausbildung, ζ. B. in Holzverarbeitung, in Elektronik und Autoreparatur, durchmachen und Unterstützung in Lebensführung, ζ. B. durch Einzel- und Gruppenberatung, erhalten. Die freiwilligen Helfer im Strafvollzug geben Unterricht im Malen, in buddhistischer und christlicher Lehre. Es gibt gegenwärtig (1976) in ganz Japan neun Anstalten, die den Namen „Jugendstrafanstalt" tragen: im Tokio-Vollzugsbezirk drei (Kawagoe, Mito, Matsumoto), im Osaka-Vollzugsbezirk zwei (Himeji und Nara), im Hiroshima-Vollzugsbezirk eine (Iwakuni), im Fukuoka-Vollzugsbezirk eine (Saga), im Sendai-Vollzugsbezirk eine (Morioka) und im Sapporo-Vollzugsbezirk eine (Hakodate). In den anderen zwei Vollzugsbezirken Nagoya und Takamatsu befindet sich keine solche Anstalt. Die „Jugend"-strafanstalten sind praktisch keine Anstalten für „Jugendliche". Die Insassen sind dort meist „erwachsene" Jungtäter. Unter den tatsächlichen Strafgefangenen in den neun Jugendstrafanstalten sind die jugendlichen Häftlinge 3 HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
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wie folgt vertreten: in Kawagoe: 97 Jugendliche unter 715 Strafgefangenen insgesamt (also 13,6%), in Mito: kein Jugendlicher unter 387 Strafgefangenen, in Matsumoto: 7 Jugendliche unter 236 Strafgefangenen insgesamt (also 2,96%), in Himeji: 4 Jugendliche unter 189 Strafgefangenen insgesamt (also 2,1%), in Nara: 67 Jugendliche unter 322 Strafgefangenen insgesamt (also 20,8%), in Iwakuni: 26 Jugendliche unter 148 Strafgefangenen insgesamt (also 17,6%), in Saga: 14 Jugendliche unter 417 Strafgefangenen insgesamt (also 33,6%), in Morioka: 16 Jugendliche unter 247 Strafgefangenen insgesamt (also 6,5%) und in Hakodate: 4 Jugendliche unter 395 Strafgefangenen insgesamt (also 1%). Aus diesen Zahlen ergibt sich, daß die kleine Anzahl der jugendlichen Gefangenen den „Jugendstrafanstalten" zwar ihren Namen gibt und daß sie gleichzeitig bei der Abfassung des Vollzugsplans aber eine Belastung bedeutet. Diese sonderbare Situation in den „Jugendstrafanstalten" ist auf die abnehmende Tendenz sowohl bei den Strafgefangenen überhaupt als auch bei den jugendlichen Strafgefangenen im besonderen zurückzuführen. Die höchste tatsächliche Belegzahl war bei den erwachsenen Strafgefangenen im Jahre 1950 85254. Die Anzahl im Jahre 1974 beläuft sich auf 38598. Also macht die jetzige Belegzahl im Vergleich zu der vor 25 Jahren 45,3% aus. Die Anzahl der jugendlichen Strafgefangenen beträgt 249. Im Vergleich mit der Zahl vor 4 Jahren, 891, macht sie 27,9% aus. Innerhalb von fünf Jahren ist die Anzahl der jugendlichen Strafgefangenen auf ein Viertel zusammengeschmolzen. Die Anstaltsatmosphäre in den „Jugendstrafanstalten" ist im Vergleich mit der in den Trainingsanstalten für Jugendliche streng und auf Disziplin orientiert. Alle Anstalten haben fünf Meter hohe Mauern, und die Insassen müssen Anstaltsarbeiten leisten. Außer der Arbeit können die jungen Häftlinge dort entweder Schulunterricht oder Berufsausbildung haben. Architektonisch betrachtet sind die meisten „Jugendstrafanstalten" altmodisch, ausgenommen Kawagoe und Marioka. Die erste ist im Jahre 1969 neugebaut und die letzte im Jahre 1974. Den Umstand, daß die Anzahl der jugendlichen Häftlinge in den Jugendstrafanstalten so gering ist, kann man darauf zurückführen, daß der Strafprozeß im Vergleich mit den Fürsorgeverfahren vor dem Familiengericht länger dauert und viele jugendliche Angeklagte auf diese Weise im Laufe des Strafverfahrens über 20 Jahre alt werden. 3. Die Folgen der Straftat
in
Japan
Es gibt in Japan sechs Hauptstrafen und eine Nebenstrafe. Hierzu bestimmt § 9 des japanischen StGB. „Todesstrafe, Zuchthausstrafe, Einschließung, Geldstrafe, Haft und Geldbuße sind Haupt-
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Vergleichende Kriminologie: Japan
strafen. Die Einziehung ist Nebenstrafe". Die Zuchthausstrafe und die Einschließung sind lebenslänglich oder zeitig. Die zeitige Zuchthausstrafe oder die zeitige Einschließung beträgt mindestens einen Monat, höchstens fünfzehn Jahre. Der zu Zuchthausstrafe Verurteilte wird in einer Strafanstalt untergebracht und ist dem Arbeitszwang unterworfen. Die Einschließung unterscheidet sich von der Zuchthausstrafe dadurch, daß sie keine Arbeitspflicht kennt. Im Fall der Milderung der zeitigen Zuchthausstrafe oder Einschließung kann unter einen Monat heruntergegangen werden. Die Geldstrafe beträgt umgerechnet mindestens 40 DM, im Fall der Milderung kann unter 40 DM heruntergegangen werden. Die Haft beträgt mindestens einen Tag und höchstens dreißig Tage. Der zu Haft Verurteilte wird nach dem Gesetz in einer Haftanstalt untergebracht. In Wirklichkeit wird die Haft jedoch in der Haftstelle der Polizeibehörde vollstreckt und hat keine kriminalpolitische Bedeutung. Die Geldbuße beträgt mindestens zwanzig Pfennige und höchstens 40 DM. Diese Strafe hat praktisch keine Bedeutung. Die höchste Zahl der zu -»• Todesstrafe Verurteilten betrug 116 im Jahre 1948. Diese Zahl spiegelt die gestörten sozialen Zustände nach dem 2. Weltkrieg wider. In den letzten 16 Jahren vermindern sich die Fälle der Verurteilung zu Todesstrafe allmählich. Insbesondere im letzten Jahr sind nur 2 Täter zu Todesstrafe verurteilt worden: die geringste Zahl in der Geschichte der Strafrechtspflege in Japan. Dennoch will das japanische Volk grundsätzlich an der Todesstrafe festhalten. Nach einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 1974 haben sich 5 7 % der Befragten für die
Todesstrafe ausgesprochen. Nach einer Meinungsumfrage aus dem Jahre 1967 lauteten noch 70% der Antworten für die Beibehaltung der Todesstrafe. Die Dauer zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung ist sehr unterschiedlich, weil einmal das Gesuch um Wiederaufnahme oder Gnade genau geprüft werden muß und weil der Justizminister den Hinrichtungsbefehl nur sehr ungern unterschreibt. Die Anzahl der zu Todesstrafe Verurteilten betrug zwischen 1946 und 1974 806. Innerhalb dieser 29 Jahre wurden 624 Personen hingerichtet (also durchschnittlich pro Jahr 18). In den letzten fünf Jahren wurden 57 Personen hingerichtet (also durchschnittlich pro Jahr 11). In diesem Zusammenhang wird die abnehmende Tendenz der Vollstreckung der Todesstrafe erkennbar. Nach begangenen Delikten sind die in den letzten fünf Jahren Hingerichteten wie folgt verurteilt worden: Raubmord 39 Fälle, Mord 16 Fälle, vorsätzliche Brandstiftung ein Fall, Notzucht beim Raub ein Fall. Die tatsächliche Belegzahl sowohl der jugendlichen als auch der erwachsenen Strafgefangenen ist in Japan in den letzten 10 Jahren erheblich gesunken. Die Entwicklung der Anzahl der in Strafanstalten neu aufgenommenen Gefangenen im Zeitraum zwischen 1945 und 1974 ergibt sich aus Abbildung 14. Aus diesem Schaubild wird die insgesamt stark abnehmende Tendenz seit Ende der fünfziger Jahre erkennbar. Bei einer Einwohnerzahl von 110049000 hatte Japan im Jahre 1974 37769 Strafgefangene; die BRD hatte im selben Jahr bei 62040900 Einwohnern 36763 Strafgefangene. Für die Gefangenen hat Japan seit langem ein Klassifikationssystem eingeführt. Es gibt acht Klassifikationszentren, die in jedem Oberlandes-
Abbildung 14: Entwicklung der Anzahl der in Strafanstalten neu aufgenommenen Gefangenen Anmerkung: Maßstab 1:10000. Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 163
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Vergleichende Kriminologie: Japan gerichtsbezirk liegen, so daß 8 Vollzugsbezirke gebildet werden: Sapporo, Miyagi, Tokio, Nagoya, Osaka, Hiroshima, Takamatsu und Fukuoka. Für die neuaufgenommenen Insassen, d. h. die zum ersten Mal in die Strafanstalt Eingewiesenen, gilt das folgende Programm: Während einer Untersuchungsperiode von 15 Tagen werden Orientierung, körperliche und seelisch-geistige Untersuchungen mittels Tests durchgeführt, um die passende Anstalt und Arbeit — der Persönlichkeit der Insassen gemäß — auszuwählen. Damit die Arbeitsfähigkeit und eine richtige Arbeitsstelle gefunden werden können, wird der einzelne Insasse durch Probearbeit und Leistungsfähigkeitstests während einer Probezeit von weiteren 30 Tagen genau beobachtet. Man kennt schließlich eine Vorbereitungsperiode zur Verlegung, die 10 Tage lang dauert und in der Beratung, Disziplinierung und Orientierung auf das künftige Anstaltsleben durchgeführt werden. Für die Insassen, die unmittelbar in die Strafanstalt eingewiesen werden, führt man das gleiche Programm in etwas verkürzter Form in den zuständigen Anstalten durch. In das Klassifikationszentrum wird außerdem derjenige Insasse geschickt, der wegen Abartigkeit sowohl seiner Persönlichkeit als auch seines Benehmens einer intensiven Untersuchung bedürftg ist. Japan hat seit dem 1. 4.1972 das sogenannte Doppelsystem in der Klassifikation eingeführt. Es kennt die Klassifikation nach den Kategorien der Inhaftierung und die Klassifikation nach den Kategorien der Behandlung. Die Strafgefangenen werden nach Geschlecht, Nationalität, Strafart, Alter und Strafdauer eingestuft: Klasse W Frauen (women), Klasse F Ausländer (foreigner), Klasse I Einschließung (imprisonment), Klasse J Jugendliche (juveniles), Klasse L Strafdauer von mehr als acht Jahren (long term imprisonment), Klasse Y Jungerwachsene (young adults). Die Insassen werden ferner nach dem Grad ihrer Kriminalitätsneigung eingeteilt: Klasse Α für diejenigen, deren Kriminalitätstendenz noch nicht weit entwickelt ist, und Klasse Β für diejenigen, deren kriminelle Karriere bereits weit fortgeschritten ist. Geistig (mental) und persönlich (personal) Behinderte und Kranke werden folgendermaßen klassifiziert: Klasse Mx Schwachsinnige, Klasse My Psychopathen, Klasse Mz Psychotiker, Neurotiker und Süchtige, Klasse Px körperlich Kranke, Klasse Py körperlich Behinderte, Blinde, Taubstumme, Klasse Pz körperlich Schwache und Alte (über 60 Jahre alt). Die Schwerpunkte der Behandlung werden nach folgenden Maßstäben bestimmt: Klasse V (vocation) beruflich Auszubildende, Klasse Ε (education) erzieherisch zu Beeinflussende, Klasse G (guidance) der Führung in der Lebensgestaltung Bedürftige, Klasse Τ (therapy) zu Therapierende, Klasse S (speciality) der besonderen fürsorgerischen Betreuung Bedürftige, 3·
Klasse Ο für den offenen Vollzug Geeignete und Klasse Ν als Gehilfen der Vollzugsverwaltung Geeignete. Die Strafanstalten sind in Japan folgendermaßen differenziert; JY 13, JYA 4, Y 3, YA 4, YB 4, A 12, Β 14, BL 4, L 4, AI 4, I 3, Μ 2, Ρ 1, MP 2, W 5 und F 1 . Die 37769 Insassen aller japanischen Strafanstalten sind am Ende des Jahres 1974 in folgender Weise klassifiziert worden: A 6451, FA 179, ΙΑ 675, JA 50, LA 1124, YA 3209, MA 119, PA 115, WA 427, Β 17792, FB 1, IB 46, JB 30, LB 1738, YB 3235, MB 457, PB 308, WB 369. Hinzu kommen noch 1444 Nichtklassifizierte. Der Stand der Klassifikation bezieht sich auf den 31.12.1974. Der Ablauf der Klassifikation im konkreten Fall wird in Abbildung 15 verdeutlicht. Die Anstaltsarbeiten, die die Insassen leisten, sind recht vielseitig: Holzbearbeitung 2572 (7,1%), Druckerei 2679 (7,3%), Schneiderei 3451 (9,5%), Metallverarbeitung 7801 (21,4%), Lederverarbeitung 1100 (3%), leichte Handarbeit 1590 (4,4%) und Verwaltungsarbeit
Beines
Anfertigunqei ifens Gutachten
Bekanntgabe
I
Behandlungshinweis
Entlassung
Abbildung 15: Ablauf des KlassifikationsVerfahrens Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975, S. 364
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Vergleichende Kriminologie: Japan
in der Anstalt 6843 (18,8%). Die Gefangenen arbeiten 48 Stunden in der Woche. Sie bekommen umgerechnet durchschnittlich 13 DM Belohnung im Monat, höchstens jedoch umgerechnet 25 DM. Die Einführung einer leistungsgerechten Entlohnung scheiterte. 59,2% der Verurteilten wurden im Jahre 1973 Strafaussetzung zur Bewährung zugebilligt. Das System der Strafaussetzung zur Bewährung wurde unter dem Einfluß des französisch-belgischen Rechts bereits im Jahre 1905 in Form eines Sondergesetzes in das japanische Rechtswesen eingeführt. Die Bedingungen für die Gewährung der Strafaussetzung wurden im Laufe zahlreicher Reformen immer mehr gelockert. Zunächst konnten nur Strafen bis zu einem Jahr Einschließung ausgesetzt werden, später auch solche bis zu zwei Jahren. Heute können Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren oder Geldstrafen bis zu umgerechnet 1670 DM ausgesetzt werden. Die Vorschriften und die Praxis der bedingten Entlassung, insbesondere bei Lebenslänglichen, sind im Vergleich zu den deutschen Verhältnissen wesentlich fortschrittlicher. Wenn der zu Zuchthausstrafe oder Einschließung Verurteilte aufrichtige Reue zeigt, kann er bei zeitlich begrenzter (zeitiger) Strafe nach Ablauf eines Drittels der Strafdauer, bei lebenslänglicher Strafe nach Ablauf von zehn Jahren durch Verfügung der Verwaltungsbehörde aus der Strafanstalt vorläufig entlassen werden. Die zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten werden praktisch nach Ablauf von drei Vierteln ihrer Strafdauer aus der Strafanstalt entlassen. Die „Verwaltungsbehörde", die darüber bestimmt, ist — dem nordamerikanischen „Board of Parole" vergleichbar — die lokale Resozialisierungs- und Fürsorgekommission, die in allen 8 Vollzugsbezirken besteht. Die Unterlagen des Gesuchs zur bedingten Entlassung werden durch den Anstaltsleiter der Kommission vorgelegt. Wegen der schriftlichen und persönlichen Prüfung dauert das Verfahren ziemlich lange. Die vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Institution wird, obgleich sie immerhin nur als Kann-Vorschrift ausgestaltet ist, in der Praxis für Lebenslängliche weitgehend genutzt. Die Mehrzahl der zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen wird nach etwa vierzehn bis sechzehn Jahren bedingt in die Freiheit entlassen. Länger als achtzehn Jahre befinden sich nur noch 8% in der Strafanstalt. Demgegenüber werden immerhin etwa 18% schon nach zehn bis dreizehn Jahren entlassen. In Japan bedeutet also — anders als bis heute (1976) in der Bundesrepublik — „lebenslänglich" nicht mehr „bis ans Ende des Lebens", sondern der Verurteilte kann damit rechnen, daß sich nach ungefähr fünfzehn Jahren für ihn die Gefängnistore wieder öffnen. Gerade der Gedanke, die Gefangenen nicht jeder Hoffnung berauben zu dürfen, war eine der Grundüberlegungen, die bei der Ein-
führung des Instituts der bedingten Entlassung in Japan maßgebend gewesen ist. Die erstaunlich frühe Einführung, die nicht einmal erst im Jahre 1880, sondern noch früher, mit dem StGB-Entwurf aus dem Jahre 1877, begonnen hat, sah bereits die Möglichkeit der bedingten Entlassung „Lebenslänglicher" nach zwanzig Jahren vor. Der französische Rechtsgelehrte Gustave Boissonade, der 1873 zur Beratung der Regierung nach Japan gekommen und maßgeblich an der Fassung des neuen japanischen Strafrechts beteiligt gewesen ist, spricht in seiner Kommentierung des StGBEntwurfs 1877 den Gedanken aus: Obwohl die lebenslange Freiheitsstrafe (neben der Todesstrafe) die höchste Strafe sei, dürfe man den Verurteilten die Hoffnung auf Rückkehr in die Gesellschaft nicht nehmen. An gleicher Stelle findet sich auch der Hinweis auf den zweiten Pfeiler, der im japanischen Bewußtsein die Gewährung vorzeitiger Entlassung selbst für „Lebenslängliche" trägt: die in östlicher Toleranz verankerte Idee des Erbarmens, der religiösen (buddhistischen) Barmherzigkeit und der väterlichen Güte des Kaisers. Demgegenüber bleibt in Deutschland den zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten bis heute — bald hundert Jahre nach Einführung einer kriminalpolitisch nützlichen und human notwendigen Regelung in Japan — nur die unsichere Hoffnung auf Gnade, eine Gnade, die oft nie oder aber spät, viel zu spät kommt. Die Praxis in den einzelnen Bundesländern ist unterschiedlich, aber jedenfalls liegen die Mittelwerte teilweise über zwanzig Jahre, und auch dieses ferne Datum ist keineswegs ein Fixpunkt, auf den die Gefangenen eine begründete Hoffnung richten können. Für viele endet auch heute noch die lebenslängliche Freiheitsstrafe mit dem Tod im Gefängnis. Die Geldstrafe ist die in Japan am meisten verhängte Strafart. Sie macht im Jahre 1974 95,8% aller Verurteilungen aus. Eine Verhängung der Geldstrafe in Tagessätzen ist bisher in Japan nicht eingeführt. Der Freispruch kommt in den Ergebnissen der japanischen erstinstanzlichen Verurteilung nur in 0,02% der Fälle im Jahre 1974 vor. Die geltende japanische Strafprozeßordnung steht unter dem Einfluß des amerikanischen Rechts, und zwar ist sie nach dem Modell der StPO des Staates Illinois gestaltet. Sie hält am Prinzip des Parteienprozesses fest. Trotz dieser prozessualen Struktur wird der japanische Angeklagte, der in der Hauptverhandlung seine Unschuld aktiv zu beweisen versucht, als „nicht aufrichtige Reue Zeigender" beurteilt und zu schwerer Strafe verurteilt, da er durch seine Prozeßtätigkeit die freie Beweisführung des Richters beeinträchtigt habe. Im deutschen Strafprozeß, unter dessen Einfluß die japanische Strafprozeßordnung von 1922 stand, kämpft der Angeklagte aus ganzen Kräften um seine Unschuld oder wenigstens um eine geringe Strafzumessung. Dagegen benimmt sich
Vergleichende Kriminologie: Japan der japanische Angeklagte im Gerichtssaal wie auf einer Trauerfeier, um die Überzeugung der Richter im Sinne einer aufrichtigen Reue zu beeinflussen. Der nordamerikanische Parteienprozeß, der sich auf Individualismus und aktive Verfechtung eigenen Rechtes gründet, paßt nicht zur patriarchalischen hierarchisch orientierten Mentalität der Japaner. 4. Die Selektionstätigkeit der Staatsanwaltschaft
japanischen
Seit 1968 ist die Gesamtzahl der rechtskräftigen Strafurteile zurückgegangen. Der Grund hierfür liegt in einer Gesetzesänderung auf dem Gebiet des Verkehrsstrafrechts. Während bis Mitte 1968 jede Verkehrsübertretung, sei sie auch noch so geringfügig (etwa falsches Parken), im Gerichtsverfahren geahndet werden mußte, können seit dem 1.7.1968 (für erwachsene Rechtsbrecher) und seit dem 1. 8.1968 (für jugendliche Täter) kleinere Verkehrsverstöße im Verwaltungsverfahren erledigt werden, das den deutschen Regelungen im OWiG ähnelt (-»• Ordnungswidrigkeiten). Die verschwindend geringe Zahl von Freisprüchen ist bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das japanische Strafprozeßrecht um die Wahrung der Rechte des Angeklagten bemüht ist. Die Verwunderung des ausländischen Beobachters wird noch verstärkt, wenn man die Statistiken bis zur Zeit nach dem 2. Weltkrieg, also bis zur Schaffung der neuen japanischen StPO, zurückverfolgt: Mit Ausnahme der Jahre 1948 bis 1962, in denen die Quote bis nahe an 1% herankam, ist seither der Anteil an Freisprüchen beständig im Bereich zwischen 0,01% und 0,02% geblieben. Sucht man nach den Gründen für diese Ergebnisse, so findet man zwei Anhaltspunkte. Einmal mag zu einem Teil die besondere Ausgestaltung der Hauptverhandlung ein Faktor sein. Der tiefere Grund liegt zum andern in der besonderen Stellung des japanischen Staatsanwalts, der im Untersuchungsverfahren praktisch richterliche Gewalt ausübt und auch während der Hauptverhandlung Rechte in Anspruch nehmen kann, die ihn, wenn nicht dem Richter gegenüber überlegen, so doch gleichberechtigt erscheinen lassen. Der japanische Strafprozeß ist eine Mischform aus angloamerikanischem und deutschem Recht mit einigen Rechtseinflüssen aus dem französischen Prozeßrecht. Genauso wie im Fall des StGB entwarf Gustave Boissonade die erste japanische StPO nach dem Vorbild des französischen „Code d'instruction criminelle"; sie trat 1880 in Kraft. Weil sie inhaltlich veraltet war und weil der Erlaß eines unter dem preußischen Einfluß entstandenen Verfassungsrechts im Jahre 1889 auch eine Reform der StPO notwendig machte, wurde eine neue StPO (sogenannte Meiji-StPO) im Jahre 1890 geschaffen. Diese neue StPO fußte auf der alten
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StPO von 1880, war aber durch die deutsche StPO von 1877 stark beeinflußt worden. Etwa zehn Jahre danach begann man aufgrund der Erfahrungen in der Praxis mit der Reform der Meiji-StPO. Reformentwürfe wurden 1901, 1916 und 1921 vorgelegt. Die deutsche StPO von 1877 wurde in vielen Punkten berücksichtigt. Endlich fand der letzte Entwurf von 1921 die Billigung des japanischen Parlaments. Die neue StPO wurde im Jahre 1922 verkündet und trat im Jahre 1924 in Kraft. Die Entstehung dieser revidierten StPO (sogenannte Taisho-StPO) wurde von dem deutschen Entwurf der StPO von 1920 tief beeinflußt. Die Taisho-StPO galt — mehrfach geändert — bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Viel verdankt das japanische Strafprozeßrecht der deutschen Gerichtspraxis und Rechtslehre. Dies beruht vor allem darauf, daß der im deutschen Prozeßrecht vorgesehene Büro- und Beamtenapparat den feudalistischen japanischen Verhältnissen leicht angepaßt werden konnte. Die Änderung der japanischen Verfassung nach dem zweiten Weltkrieg machte eine Anpassung der StPO an die neue Verfassung notwendig. Am 1.1.1949 löste eine völlig neue japanische StPO, deren Fassung auf die StPO des Staates Illinois zurückgeht, die Taisho-StPO ab. Am selben Tag trat die vom Obersten Gerichtshof erlassene „Regelung" in Kraft, durch die die technischen Einzelheiten des Verfahrens festgelegt wurden und deren Verletzung die gleichen Folgen wie die Verletzung von Vorschriften der StPO hat. Eine gerichtliche Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung im Sinne der deutschen StPO gibt es nicht (-»- Strafverfahren, Strafverfahrensrecht). Das Gericht m u ß eröffnen. Entspricht die Anklage in ihren Formalien nicht den gesetzlichen Erfordernissen, so stellt das Gericht der Hauptverhandlung das Verfahren mittels Urteil ein. Das Fehlen einer gerichtlichen Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung findet seinen Grund in der Übernahme des angloamerikanischen Gedankens des Parteienprozesses. Da hiernach die Beweisbeschaffung im wesentlichen Aufgabe von Staatsanwalt und Angeklagtem oder dessen Verteidiger ist und das Gericht dabei als unparteiischer Dritter die vorgebrachten Argumente und Beweise unvoreingenommen beurteilen soll, hat die japanische StPO folgerichtig vorgesehen, daß Richter keinerlei Vorinformation erhalten dürfen, die sie beeinflussen könnte, andere Ergebnisse als die in der mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung vorgebrachten zusätzlich bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Da der Richter die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung nicht kennt und auch nicht weiß, wie und mit welchen Beweismitteln der Angeklagte sich einlassen wird, ist die in der japanischen StPO vorgesehene richterliche Verhandlungsleitung weitestgehend theoretisch
Vergleichende Kriminologie: Japan
38 Unmittelbar zur S t a a t s anwaltschaft
Eingestellte Fälle
Freiheitsstrafe
28 385
Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung Freisprüche . Zum Familiengericht
—ν
Polizei
'
v
Staatsanwaltschaft
t1 163
—ν
Gerichte
Abbildung 16: Der tatsächliche Ablauf des Strafverfahrens in Japan Quelle: Japanisches Justizministerium (Hrsg.): Weißbuch der Kriminalität. Tokio 1975. S. 125 und im Regelfall darauf beschränkt, die von Staatsanwalt und Angeklagtem oder dessen Verteidiger gestaltete Verhandlung zu überwachen und ergänzende Fragen zu stellen. Neben dem bisher skizzierten Normalverfahren gibt es noch das vereinfachte und das summarische Verfahren. Im ersteren können Beweise zwangloser vorgetragen werden, und mit Zustimmung des Staatsanwalts und des Angeklagten ist der mittelbare Beweis unbeschränkt zulässig. Das summarische Verfahren ist nach dem Vorbild des deutschen Strafbefehlverfahrens geschaffen worden und ermöglicht ein rein schriftliches Vorgehen. Das Gesetz zum summarischen Verfahren in Verkehrssachen vom 18. δ. 1949 gestattet eine Art Strafverfügungsverfahren, allerdings mit mündlicher Verhandlung, die weitgehend formfrei durchgeführt werden kann. Der tatsächliche Ablauf des japanischen Strafverfahrens ergibt sich aus Abbildung 16. Bemerkenswert ist, daB eine sehr große Zahl der Fälle im vereinfachten Verfahren erledigt wird. Von 2,8 Millionen Fällen, die die Staatsanwaltschaft bearbeitet hat, gelangen nur rund 75000 ins ordentliche Strafverfahren. Zu Freiheitsstrafe, die verbüßt werden muß, werden schließlich nur rund 28500 Rechtsbrecher verurteilt. Wird die Erhebung einer Anklage durch Berücksichtigung der Persönlichkeit, des Alters und der Umweltverhältnisse des Täters, der Schwere und der Umstände der Straftat und des Verhaltens des Rechtsbrechers nach der Straftat unnötig, so kann von der Erhebung der Anklage abgesehen werden. Die Umstände, die in diesen strafprozessualen Vorschriften genannt werden, sind eindeutig darauf gerichtet, Täter zu erfassen, die ohne die Stigmatisierung einer strafrechtlichen Ver-
urteilung noch (Re)-Sozialisierungschancen haben. Insofern geht die japanische Strafprozeßordnung davon aus, daß die im Strafvollzug durchgeführten (Resozialisierungsbemühungen wenn nicht ineffizient, so doch wenigstens weit unwirksamer sind als andere, nicht strafgerichtlich verhängte Maßnahmen. Die Erwähnung der Schwere der Tat geht auf eine Anregung des Hauptquartiers der amerikanischen Besatzungsmacht zurück und bringt einen generalpräventiven Gesichtspunkt in die Strafprozeßordnung. Die praktische Bedeutung dieses Gesichtspunkts ist jedoch gering. Allein wegen der Schwere der Tat verzichtet kein japanischer Staatsanwalt — von den wenigen Ausnahmen wirklich grausamer Verbrechen einmal abgesehen — auf seine relative Ermessensfreiheit nach dem Opportunitätsprinzip, wenn er meint, der Täter könne ohne gerichtliche Hilfe besser in die Gesellschaft wiedereingegliedert werden. In den Jahren 1970, 1971 und 1974 sind beispielsweise 11,2%, 9,7% bzw. 9,8% aller vorsätzlichen Tötungen trotz hinreichender Beweise nicht angeklagt worden. Bei vorsätzlicher Brandstiftung, einem im Lande der Holzhäuser überaus ernstgenommenen Delikt, lag in denselben Jahren der Anteil der NichtVerfolgungen gar bei 30,3%, 28,4% bzw. 20,7%. Die Durchschnittsquote der Klageerhebung beträgt im Jahre 1974 61,6%. Die Klageeinstellungsquote im eigentlichen Sinne beläuft sich im Jahre 1974 auf 33,3% (im Jahre 1973 auf 31,8%). Rein formalistisch betrachtet, beeinträchtigt die Tätigkeit des Staatsanwalts die Rechtsprechung nicht, weil nur der Richter ein Urteil im Sinne des Gesetzes, eine endgültige Entscheidung also, fällen kann. De facto sind jedoch auch die Entscheidungen des Staatsanwalts häufig endgültig und werden von den Beschuldigten
Vergleichende Kriminologie: Japan auch so verstanden. Historisch betrachtet waren es Gesichtspunkte der Prozeßökonomie, die zum Opportunitätsprinzip führten. Bereits im Jahre 1899, also zur Zeit der Meiji-Restauration, meinte der damalige Justizminister Oura — nachdem sein Vorgänger im Amte Yamada 1885 Polizei und Staatsanwaltschaft zur Nichtverfolgung von Kleindelinquenz zum Zweck der Entlastung von Untersuchungshaftanstalten und Gerichten ermutigt hatte —, daß die Opportunität zwar nicht so sehr dem rechtsstaatlichen Denken, aber desto mehr der Prozeßökonomie wie auch der japanischen Tradition entspräche. Im Jahre 1913 äußerte Justizminister Matsuda, der Gebrauch staatsanwaltschaftlicher Opportunität solle nicht nur auf Kleindelinquenz, sondern auch auf schwere Straftaten Anwendung finden, falls Besserungsfähigkeit bestehe. Damit war der Erziehungsgedanke klar formuliert und gleichzeitig das Bekenntnis abgelegt, daß in Strafanstalten keine positive Erziehung von Rechtsbrechern erzielt werden könne. Durch die außergerichtliche Regelung von Straftaten wird die soziale Stigmatisierung vermieden, die allein schon die öffentliche Hauptverhandlung hervorruft. Die Formlosigkeit des Verfahrens hat ihre positiven Seiten. Das „Verfahren" ist kurz und kann deshalb der polizeilichen Aufklärung unmittelbar folgen. Es gibt keine auf bloße Formalien gestützte Diskussionen. Man kann deutlich miteinander reden. So bringt denn auch, seltsam wie es klingen mag, der Japaner dem Staatsanwalt eher als dem Richter persönliches Vertrauen entgegen, weil er mit ersterem unjuristisch sprechen kann. Vergleicht man die europäische Geschichte des Strafrechts bezüglich des Problems: Strafen oder Bessern? mit der japanischen, so nimmt die Selbstverständlichkeit wunder, mit der die Japaner sich so früh für die Besserung entschieden haben, ist es doch selbst heute in der BRD nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, daß Besserung das vornehmste und vernünftigste Ziel jeden Strafrechts ist. Man stelle sich nur vor, in Deutschland werde ein Mörder ohne jedes Gerichtsverfahren freigelassen, etwa weil die psychologischen und psychiatrischen Gutachter übereinstimmend bekundet hätten, der Täter habe aus einer psychischen Ausnahmesituation heraus gehandelt, die nicht wiederholbar sei (beispielsweise Geliebtenmord). Der Mangel an aggressivem Vergeltungswillen bei den Japanern ist durch ihre von der europäischen so unterschiedliche Kulturgeschichte und ihre besondere gesellschaftliche Struktur bedingt. 5. Behandlung in Freiheit
In Japan gebraucht man als Oberbegriff für die in der freien Gesellschaft lebenden Straffälligen nnd die Entlassenen unter staatlicher Kontrolle
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das Wort „Schutzbeobachtung", besser gesagt „fürsorgerische Aufsicht", das der deutschen Bewährungshilfe entspricht. Die Grundidee dieses Systems entspricht der Probation u n d Parole im angloamerikanischen Sinne. Das japanische System gründet sich auf Ergebnisse der modernen Wissenschaften vom Menschen und zieht die Konsequenzen aus den Überlegungen über die negativen Wirkungen der Freiheitsstrafe in ihrer jetzigen Form. Dieses Bedenken erstreckt sich inzwischen auf jegliche Form der Inhaftierung. Statt dessen versucht man neue Verbrechensbekämpfungsmittel zur Verwirklichung der Resozialisierungsfürsorge zu praktizieren. Um die Kriminalität zu bekämpfen, vermeidet man es, den Verbrecher in einer Anstalt zu inhaftieren. Man beläßt ihn statt dessen in der freien Gesellschaft. Gleichzeitig versucht man, auf den Straffälligen selbst und seine Umwelt einzuwirken, um damit seine Resozialisierung zu bewirken und ihm zu helfen. Man beabsichtigt also mit dem Rechtsinstitut der „fürsorgerischen Aufsicht" einerseits den Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrecher, zum anderen die soziale Fürsorge für den Straftäter. In Japan gibt es heute fünf Formen der „Schutzbeobachtung", die für folgende Personengruppen bestimmt sind: Jugendliche, die vom Familiengericht unter „Schutzbeobachtung" gestellt worden sind; Jugendliche, die aus der Trainingsanstalt bedingt entlassen worden sind; Erwachsene, die aus der Strafanstalt bedingt entlassen worden sind; Erwachsene, denen Strafaussetzung zur Bewährung zugebilligt worden ist; Prostituierte, die aus der Fürsorgeanstalt für Prostituierte vorläufig entlassen worden sind. Die Entstehungsgeschichte der „Schutzbeobachtung" ist belastet durch den Mißbrauch dieser Maßnahme gegen politische Täter während des Zweiten Weltkriegs. Als die „Schutzbeobachtung" gesetzlich geregelt wurde, hatte dieser Mißbrauch bereits schlimme Formen angenommen. Im Jahre 1936 wurde das System der „Schutzbeobachtung" durch das Sondergesetz zum Staatssicherheitsschutz sehr weit ausgedehnt. Die damalige Regierung bediente sich dieser neuen kriminalpolitischen Maßnahme, um ein dringendes Problem, nämlich die Bekämpfung der Ideologietäter (nicht nur der Kommunisten und Sozialisten, sondern auch der Liberalen) zu lösen. Die „Schutzbeobachtung" wurde nicht nur bei Strafaufschub oder vorläufiger Entlassung angewandt, sondern auch beim Aufschub der staatsanwaltschaftlichen Anklageerhebung und sogar bei der Entlassung nach Verbüßung der gesamten Strafe. Vor diesem Sondergesetz bestimmte bereits das alte Jugendrecht aus dem Jahre 1922, daß ein Jugendlicher unter die Beobachtung des Jugendfürsorgers gestellt werden konnte. Diese Maßnahme war eine Art Verwaltungsakt, den das damalige Jugendfürsorgeamt erlassen konnte. Die „Schutzbeobachtung" ist
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nunmehr als eine der Fürsorgemaßnahmen im Jugendgesetz vorgesehen, von denen das Familiengericht Gebrauch machen kann. Außerdem haben zwei Gesetze das angloamerikanische Probation· und Parolesystem in Japan eingeführt: Im Jahre 1949 wurde das Gesetz zum Zwecke der Verbrechensvorbeugung und der Resozialisierung des Verbrechers erlassen und 1954 das Gesetz zum Zwecke der „Schutzbeobachtung" bei Gewährung von Strafaufschub. Im Gesetz von 1949 ist der substantielle Teil der „Schutzbeobaehtung" geregelt. Zur Durchführung der „Schutzbeobachtung" wurden 50 Beobachtungsstellen in allen Präfekturen Japans neu geschaffen. Das Gesetz bestimmt 8 Ausschüsse der Bezirksresozialisierungsfürsorge in den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen der Obergerichte, die die Anträge auf vorläufige Entlassung prüfen. Das Gesetz von 1954 sieht Strafaussetzung zur Bewährung für weitere Erwachsenengruppen vor, und das Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 erweitert den Anwendungsbereich der obligatorischen und fakultativen Schutzbeobachtung, die mit der Benennung des leitenden Bewährungsbeamten in der zuständigen Schutzbeobachtungsstelle ihren Anfang nimmt. Der unter „Schutzbeobachtung" Gestellte muß sich selbst zur zuständigen Schutzbeobachtungsstelle begeben. Der leitende Beobachtungsbeamte spricht mit dem Probanden und seiner Begleitperson, prüft gleichzeitig die Untersuchungsakten des Familiengerichts, die Unterlagen des Bezirksresozialisierungs- und -fürsorgeausschusses und etwaige Akten anderer Behörden. Anhand dieser Unterlagen muß er versuchen, sich ein Bild über die psychische und physische Verfassung des Probanden und über seine Lebensführung zu verschaffen. Er muß die Ursachen, die zu den Verfehlungen geführt haben, herauszufinden versuchen. Sodann hat er festzulegen, auf welche Art und Weise der Proband behandelt werden soll; er muß ferner notwendige Behandlungsmaßnahmen treffen. Danach benennt der Leiter einen bestimmten Beauftragten (meistens einen freiwilligen Fürsorger), der für den Probanden zuständig ist, und veranlaßt den Probanden zum Besuch seines Aufsichtsbeauftragten, damit mit der „Schutzbeobachtung" begonnen werden kann. Mit der Durchführung der „Schutzbeobachtung" sind die Beobachtungsstellen betraut. Es gibt 50 Beobachtungsstellen, die jeweils für die Distriktgerichtsbezirke zuständig sind. Diese Beobachtungsstellen führen die Maßnahmen der „Schutzbeobachtung" innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs durch. Jede Schutzbeobachtungsstelle ist mit Beobachtungsbeamten und freiwilligen Fürsorgern besetzt, in deren Händen die praktische Durchführung der Schutzbeobachtung liegt. Schutzbeobachtungsbeamte sind Staatsbeamte, die Psychologie, Pädagogik, Soziologie oder Psychiatrie studiert oder sich auf andere
Weise spezielle Kenntnisse oder Techniken in Menschenkenntnis angeeignet haben. Ihre Aufgabe besteht hauptsächlich in der Durchführung von Schutzbeobachtungsmaßnahmen. Außerdem bereiten sie die Rückkehr der vorläufig aus dem Gefängnis oder der Erziehungsanstalt für Jugendliche Entlassenen vor und ordnen die Umwelt, in die diese nach der Entlassung zurückkommen. Unter diesen Umständen leiten sie sogar die verbrechensvorbeugende Tätigkeit innerhalb ihres Zuständigkeitskreises. Im Jahre 1975 gab es in ganz Japan insgesamt nur 871 Beobachtungsbeamte ; davon sind 84 in Bezirksresozialisierungsund -fürsorgeausschüssen tätig, so daß sich nur 789 Beamte mit praktischen Fällen befassen. Deshalb nehmen meist die freiwilligen Fürsorger die Aufgaben der Beobachtungsbeamten wahr, sind dem Rechtsbrecher bei der Besserung und Resozialisierung behilflich, sind bestrebt, die Meinung der Öffentlichkeit über die Resozialisierung von Rechtsbrechern zu beeinflussen, und versuchen, das Milieu zu verbessern, in dem der Proband lebte und in das er nach seiner Entlassung zurückkehren wird. Die gesetzliche Anzahl der Fürsorger beträgt 52500. Tatsächlich waren im Jahre 1975 etwa 46000 Fürsorger tätig, die auf 927 Fürsorgebezirke in ganz Japan verteilt sind. Sie arbeiten zwar im Auftrag des Justizministers, sind aber private und freiwillige Helfer. Voraussetzung für die Aufgabe des Fürsorgers sind: soziales Vertrauen, Fleiß und genügend Zeit für die Erledigung der Aufgaben, ein gesicherter Lebensunterhalt und gute Gesundheit. Inhaltlich besteht die Methode der „Schutzbeobachtung" darin, den Probanden zu leiten und zu beaufsichtigen und ihn zur Befolgung bestimmter Auflagen zu veranlassen oder, falls er über genügend Selbstverantwortung verfügt, ihn zu leiten und ihm zu helfen. Als allgemeine Auflagen sind zu nennen: Aufenthalt in einer bestimmten Wohnung, Ergreifen eines Berufs, ordentliche Lebensführung, Meiden des Kontaktes mit Kriminellen, Einholen der Genehmigung des Schutzbeobachters bei Wohnungswechsel oder Antritt einer längeren Reise. Spezielle Auflagen sind ζ. B.: Rückkehr an einen bestimmten Ort, Verbot, eine unsittliche Arbeit anzunehmen oder mit bestimmten Personen zu verkehren, Alkoholverbot, Wiedergutmachung des Schadens, Pflege der eigenen Familie. Handelt der Betroffene den Auflagen zuwider, stellt der Leiter der Beobachtungsstelle den Antrag, die Person wieder in die Anstalt aufzunehmen oder den Widerruf der vorläufigen Entlassung auszusprechen. Die freiwilligen Fürsorger kommen aus folgenden Berufen: Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft 22%, Geschäftsleute und Beamte 19%, religiöse Berufe 15%, Kaufleute 10%, Wohlhabende ohne bestimmten Beruf 9%, Hausfrauen 9%, Sonstige 16%. Nach den Altersgruppen teilen sich die freiwilligen Fürsorger folgendermaßen auf:
Vergleichende Kriminologie: Japan 60- bis 70jährige 37,4%, über 70 Jahre 17,7%, unter 50 Jahre 16,2% und 51 bis 60 Jahre 29,6%. Die vorläufige Entlassung aus der Strafanstalt wird sorgfältig vorbereitet. Vor der Entlassung setzt sich der Leiter der Strafanstalt mit dem Direktor der zuständigen Beobachtungsstelle in Verbindung. Daraufhin ordnet der Beobachtungsbeamte oder der Fürsorger die Umwelt des Strafgefangenen und gibt den Familienangehörigen oder sonstigen Personen passende Hinweise, zu denen der Häftling entlassen wird. Die Beobachtungsstelle erfährt also bereits vorher von der Entlassung des unter Schutzbeobachtung Gestellten. Bedenklich muß die allzu kurze Dauer der „Schutzbeobachtung" dieser Personengruppe stimmen: Bei 27% liegt sie unter einem Monat, bei 40,4% beträgt sie 2 bis 3 Monate. Sehr augenfällig ist gegenwärtig die Zunahme der Einwohnerzahl der großen Städte und ihrer Nachbargemeinden und die Verminderung der Einwohnerzahl der Fischer- und Bauerndörfer. Die Zahl der unter „Schutzbeobachtung" Gestellten vergrößert sich in den Großstädten und damit vermehren sich auch die Fälle der Amtshilfe zwischen den Schutzbeobachtungsstellen und die Anzahl der Aktenversendungen an die Umzugsorte. Trotz dieser ungünstigen Umstände für die Bewährungshilfe, insbesondere für die Bewährungsämter in den größeren Städten, vermindert sich die Zahl der Vermißten: Im Jahre 1970 waren 8,4% der gesamten unter „Schutzbeobachtung" Gestellten Vermißte, und 1974 waren es 6,8%. Im Jahre 1974 wurden 68652 Probanden unter „Schutzbeobachtung" gestellt. Also hat ein Beamter durchschnittlich 87 Personen zu betreuen. Im Jahre 1966 war das Verhältnis eins zu 170,6. Von wichtigen Fällen abgesehen, führen die Beobachtungsbeamten nur das Anfangsinterview durch und behandeln die Sache im übrigen aufgrund der Berichte der beauftragten Fürsorger. Die unmittelbare Berührung mit den unter „Schutzbeobachtung" Gestellten und ihre Behandlung bleibt daher meist den Fürsorgern überlassen. Unter den zu diesem Problemkreis abgegebenen Stellungnahmen ist die Meinung hervorzuheben, daß man die Behandlung der unter „Schutzbeobachtung" Gestellten nicht allein freiwilligen Helfern überlassen dürfe, sondern daß die Beobachtungsbeamten als Sachkenner eine intensive Behandlung betreiben müßten. Als eine Zwischenlösung ist hervorzuheben: Seit Mai 1965 führen in Tokio, Osaka und Nagoya die Beobachtungsbeamten eine unmittelbare Behandlung für einen Teil der Jugendlichen durch. Diese Methode zielt darauf ab, einen möglichst engen Kontakt zwischen dem beauftragten Beobachtungsbeamten und dem in der Nähe der Beobachtungsstelle wohnenden Probanden herzustellen. Nach einem justizministeriellen Bericht hat die intensive „Schutzbeobachtung" positive Wirkungen auf die
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Verbrechensvorbeugung. Der Fürsorger ist der Vertreter der Schutzbeobachtungsstelle in seinem Wohnbezirk. Die meisten Fürsorger haben einen hohen sozialen Status, sind sozial integriert und haben großartige Erfolge zu verzeichnen. Sie spielten und spielen immer noch eine große Rolle bei der tatsächlichen Durchführung der „Schutzbeobachtung". Als Japan eine Agrargesellschaft war, wurde eine in ihrer Gegend sozial angesehene Person zum Fürsorger bestimmt und übte — ihrem Ansehen gemäß — ihre Rolle als Vermittler zwischen der Staatsmacht und dem Wohngebiet gut aus. Wegen der Industrialisierung kamen viele Fremde in die Industriegebiete und führten dort ein völlig anderes Leben als die Alteingesessenen. Im Industriegebiet gilt der Fürsorger, der aus traditionellen Wohngebieten stammt, nicht mehr als Vertreter der Bezirkseinwohner, und die neuen Einwohner nehmen keine Rücksicht auf ihn. Dadurch wird das Bewährungssystem in den Industriegebieten allmählich ausgehöhlt. Als Nebenerscheinung ist hervorzuheben: Durchschnittlich ist ein Fürsorger mit 1,5 Fällen betraut. Aber wegen der Wanderungsbewegung der Jugendlichen wie Erwachsenen in die großen Städte ist die Belastung der Fürsorger sehr unterschiedlich. Gerade in den großen Städten sind viele Fürsorger überlastet. Dazu kommt das Generationenproblem zwischen Fürsorger und Probanden. Der alte Fürsorger versteht das Verhalten der jungen Leute nicht; die Jugendlichen verstehen nicht die Ratschläge des alternden Fürsorgers. Da die Fürsorger freiwillige Helfer sind, ist es außerordentlich schwierig, Personen, die im besten Mannesalter stehen, als Fürsorger zu gewinnen. Auf dem Papier scheint das System sehr wirksam zu sein, in Wirklichkeit hat es aber viele Schwächen.
F. Ablehnung der Vergeltungsideologie Zunächst war es der Buddhismus, insbesondere in der Form des Zen, der über Jahrhunderte hinweg stärksten Einfluß auf die japanische Kultur ausübte und die Menschen zur Duldsamkeit anhielt. Das hat nun allerdings in Europa das Christentum für eine noch längere Zeitspanne auch getan. Im Gegensatz zum Christentum zeigte jedoch der Buddhismus Toleranz auch im Handeln. Glaubenskriege sind im Namen des Buddhismus nie geführt worden. Die Christenverfolgung zu Anfang und während der Edo-Periode (17. Jahrhundert) hatte rein politische Gründe. Die Tokugawa-Regierung fürchtete, daß die Christen als Verbindungsglieder zur westlichen Welt die japanische Isolationspolitik stören und damit die Shogunatsherrschaft ernsthaft gefährden würden. Das mag an der weniger sozial als vielmehr
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autistisch angelegten Lehre des Buddhismus liegen. Selbstbesinnung, Selbstdisziplin, Eigenreflektion, Selbstaufopferung, Glauben an ein Leben nach dem Tode im Himmel sind Zentralpunkte der Religion. Sozial erwünschte Verhaltensweisen sind eher Folgeerscheinungen hiervon. Die Bereitwilligkeit des Buddhismus, die Wichtigkeit der Dinge dieser Welt zu verneinen, verhinderte weitgehend die Konstituierung eines religiös begründeten ethischen Systems. Die hieraus resultierende Toleranz gegenüber anderen kann deshalb auch ebensogut Indifferenz genannt werden. Der Grundgedanke der Besserung des Rechtsbrechers: „Wir hassen die Straftat, hassen wir doch nie den Täter selbst" kann philosophisch mit der buddhistischen Toleranzideologie begründet werden. Der zweite Grund für das fehlende Vergeltungsbedürfnis der Japaner ist in der Besonderheit ihrer gesellschaftlichen Struktur und in ihren Sprachgebräuchen zu finden. Erst mit dem Ende der Edo-Periode erwachte Japan aus seiner strengen Isolation, die die Zeit im 17. Jahrhundert hatte anhalten lassen. Die sozialen Gruppierungen waren zu dieser Zeit noch voll erhalten, während in Europa bereits die industrielle Entwicklung die alten sozialen Einheiten zu zerstören begonnen hatte. In Japan sind gerade erst 100 Jahre verflossen, in denen die neue Lebensrealität die überkommenen sozialen Gefüge beeinträchtigen konnte. Die Gesellschaftsstruktur ist daher noch besser erhalten, wodurch die Fähigkeit gestärkt wird, ohne staatliche Unterstützung Probleme abweichenden Verhaltens zu lösen. Die hierarchische Struktur der japanischen Gesellschaft fördert die Eigenständigkeit wie auch die Abneigung vor Einmischung Fremder. In dieser Struktur sind die Vertreter staatlicher Macht auch dann Fremde, wenn sie in internen Angelegenheiten der Gruppe hilfreich sein wollen. Diese vertikale Struktur wird hierarchisch durch drei Arten von Bindungen bestimmt: die patriarchalisch geordnete Familie; das Verhältnis von Autoritätsperson zum Untertanen, vom Lehrer zum Schüler, das der Eltern-Kind-Beziehung nachgeformt ist und ihr in keiner Weise an Intensität nachsteht; das Verhältnis von älteren zu jüngeren Gruppenmitgliedern, d. h. derjenigen, die höher als in Augenhöhe stehen, das sind die einen höheren Sozialstatus genießenden Personen, zu denjenigen, die niedriger als in Augenhöhe stehen, das sind die einen niedrigeren Status einnehmenden Personen. Besonderes Kennzeichen der so gefestigten Gruppen ist die ausschließliche Existenz von Bindungen, die vertikal, also zwischen ungleichrangigen Personen verlaufen. Daher ist beispielsweise auch die Bereitschaft einer Gruppe zur Kooperation oder gar gleichberechtigten Verbindung mit einer anderen Gruppe sehr gering. Symbolisch dafür ist die japanische Sprache. Japanisch ist eine Klassensprache, mit anderen Worten eine statusorien-
tierte Sprache. In ihr unterscheidet man zwischen männlicher und weiblicher, geschriebener und gesprochener Sprache. In Japan gibt es Sprachformen sowohl bei den Personalpronomen als auch bei der Konjugation der Tätigkeitswörter je nach dem Alter, Geschlecht, Sozialstatus, kurz je nach den menschlichen Beziehungen zwischen den Gesprächspartnern. Die Japaner können sofort aus dem Gespräch oder aus dem Schreiben verstehen, wer wem gegenüber gesprochen oder geschrieben hat. Will der Japaner seinen Willen äußern, so versucht er zuerst zu erkennen, wer eigentlich derjenige ist, der vor ihm steht. Dann wählt er die standesgemäß richtige Ausdrucksform. Er unterwirft sich also immer den sprachlichen Riten. In der japanischen Sprache muß man diesen sprachlichen Gesetzen gehorchen. Wählt man unpassende Ausdrücke oder will man seine Ansichten gar mit eigenartiger frecher Haltung geltend machen, wird man mit lächelndem Gesicht antworten, aber gleichwohl dem so Handelnden die Durchsetzung verweigern. Niemand darf seine Eigengesetzlichkeit durchsetzen. Japaner müssen sehr vorsichtig sein, wenn sie individualistische Selbstbehauptung vor fremden Leuten, insbesondere innerhalb eines Kreises von Unbekannten oder unter älteren Leuten äußern. Ein weiteres Merkmal dieser vertikalen Struktur ist die totale Erfassung des einzelnen durch die Gruppe. Ein gutes Beispiel hierfür bietet das japanische Arbeitsverhältnis. Ob Hochzeit oder Geburtstag, Urlaubsreise, Freizeitgestaltung oder sonstige gesellschaftliche Aktivitäten: der paternalistische Arbeitgeber ist dabei, hat vorgesorgt und ist Helfer und Berater in allen Lebenslagen. Die Anstellungskörperschaft bildet für alle Mitarbeiter eine Art Großfamilie, und man spricht wirklich gerne von „unserer Familie" oder „unserem Haus". Das gilt selbst für die großen japanischen Konzerne. Unter diesen Umständen ist der Klassenkampf im eigentlichen Sinne selten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem privaten Unternehmen wetteifern gemeinsam gegenüber einem anderen Unternehmen um Produktivität und Prosperität der eigenen „Familie". In einem derart engmaschigen Gewebe vielfältiger Überund Unterordnungsverhältnisse ist es der Gruppe ohne weiteres möglich, aus eigener Kraft ihre Probleme zu bewältigen. Der Ruf nach einer externen, in diesem Zusammenhang also staatlichen Autorität ist den so organisierten Personen deshalb fremd. Anerkannte Autorität besteht nur innerhalb der Gruppe. Vergeltung wird in der Gruppe und durch die Gruppe ausgeübt. Folglich ist kein Interesse an Handlungen Gruppenfremder vorzufinden. Das hinwiederum läßt keinen Platz für einen allgemeinen, nicht auf die Gruppe und ihre Mitglieder bezogenen Vergeltungswillen. Für eine Vergeltung nur, „weil Unrecht begangen wurde", besteht kein Bedürfnis.
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Internationale Verbrechensbekämpfung DAG
. . . .
Deutsches Auslieferungsgesetz vom 23.12.1929 i.d.F. vom 2. 3. 1974
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5.1949 i.d.F. vom 28. 7.1972 GVG . . . . Gerichtsverfassungsgesetz vom 27.1.1877 i.d.F. vom 9. 5.1975 IKPK . . . . Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission IKPO-Interpol Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation-Interpol NZB
. . . .
Nationales Zentralbüro (der IKPO-Interpol) RiStBV . . . Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1.12.1970
RiVASt . . . Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 16.1.1959 StGB . . . . Strafgesetzbuch vom 15. 5. 1871 i.d.F. vom 2.1.1975 StPO
. . . .
Strafprozeßordnung vom 1877 i.d.F. vom 7.1.1975
1.2.
I. PROBLEME UND GRENZEN DER DARSTELLUNG Unterzieht man die Situation der Verbrechensbekämpfung in den deutschen Staaten während der letzten Jahrhunderte einer grobgerasterten Überprüfung, so gelangt man — bei zahlreichen Argumenten für und wider — zu dem Ergebnis, daß frühestens zur Mitte des 18. Jahrhunderts innerhalb ihrer Hoheitsgebiete geordnete Polizeiverwaltungen existierten bzw. einigermaßen geregelte sicherheitspolizeiliche Verhältnisse herrschten. Zu diesem Zeitpunkt sind indessen noch keine überzeugenden Anzeichen für die Existenz eines international agierenden Verbrechertums im eigentlichen Sinne dieses Phänomens registrierbar. Ernstere, zum Teil besorgniserregende Ausmaße nahm das überörtliche und vor allem das reisende Verbrechertum frühestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts an, so daß erste Anfänge einer internationalen Verbrechensbekämpfung nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts angesetzt werden können. Legt man gar moderneren Auffassungen angenäherte Einstufungskriterien zugrunde, so kann man füglich von einer bewußt und gezielt betriebenen internationalen Verbrechensbekämpfung praktisch erst seit Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) im Jahre 1923 sprechen. Weitere Einschränkungen quantitativer wie qualitativer Art bleiben im Rahmen der Abhandlung zu berücksichtigen. Zunächst ist festzustellen, daß die Internationale
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Kriminalpolizeiliche Organisation-Interpol (IKPOInterpol) als Folgegründung der IKK die einzige staatenübergreifende Einrichtung war und ist, die sich — mit Erfolg — die praktische Bekämpfung des internationalen Rechtsbrechers zum Leitziel gesetzt hat und daß vergleichbare Institutionen in nichtpolizeilichen Bereichen, insbesondere auf justizieller Ebene, fehlen. Gegenwärtig umfaßt die IKPO-Interpol bereits 120 Mitgliedsstaaten aus allen Teilen der Erde und sie kann ihrer großen Verdienste um die Verbrechensbekämpfung einschließlich der Anerkennung ihrer Bedeutung sicher sein; dennoch stellt sie weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht eine global institutionalisierte bzw. agierende Organisation dar. Sie ist kein allgemein anerkanntes Völkerrechtssubjekt und besitzt keine auf internationaler Ebene einsetzbaren Weisungs- oder Exekutivbefugnisse; ferner gehören ihr namentlich die meisten Staaten aus dem kommunistischen Machtbzw. Einflußbereich nicht an oder kooperieren mit ihr in nur eingeschränktem Umfang. Als Fazit dieser Ausführungen bleibt festzustellen, daß bis heute eine von den Regierungen aller souveränen Staaten dieser Erde mit bestimmten Aufgaben und Kompetenzen für den Bereich der Verbrechensbekämpfung ausgestattete supranationale Behörde (Weltorganisation) nicht existiert. Zwangsläufige Folge dieses Sachverhalts ist das gleichzeitige Fehlen einer über umfassendes, die globalen Bezüge des Kriminalitätsgeschehens beinhaltendes Fall- und Erkenntnismaterial verfügenden Zentralstelle. Daher müssen sich die nachfolgenden Ausführungen notgedrungen auf die Darstellung jenes Geschehens beschränken, das sich, von dem nationalen Hintergrund als Kernposition ausgehend, an Sachzusammenhängen und Verflechtungen zu zwischenstaatlichen und weltweiten Sachverhaltsbezügen abzeichnet. Aus gleichem Grunde müssen sie sich weiterhin überwiegend auf Erkenntnismaterial und Erfahrungswissen stützen, das sich — innerhalb der aufgezeigten Grenzen — aus der Zusammenarbeit deutscher und ausländischer Strafverfolgungsbehörden im Rahmen der IKPO-Interpol erschließt. Und noch ein Hinweis erscheint an dieser Stelle angezeigt: Die auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung im In- und Ausland anzutreffende Begriffsvielfalt in rechtlicher, strukturell-organisatorischer und terminologischer Hinsicht ist geradezu verwirrend. Wollte man diese Begriffsfülle und alle begriffsinhaltlich gegebenen Nuancierungen berücksichtigen, wäre eine Überladung der Abhandlung mit zahllosen Erläuterungen, Zitaten, Verweisungen oder weitschweifigen Ergänzungen die unausweichliche Folge. Soweit sachlich vertretbar, wird daher einer transparenten und ökonomischen Stoffbehandlung der Vorzug vor einer vorrangig an (über-)exakter Begriffs·
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Internationale Verbrechensbekämpfung
beschreibung und -Verwendung orientierten Darstellung eingeräumt. So werden die Bezeichnungen „Polizei" und „Kriminalpolizei" regelmäßig nicht in differenzierender Weise, sondern gemäß ihrer funktionalen Bedeutung verwendet, d. h. im Hinblick auf die beiden Institutionen gemeinsam übertragene Aufgabe der Verbrechensbekämpfung. Der Begriff der Verbrechensbekämpfung seinerseits umfaßt, gemäß dem Gesamtauftrag des Staates an die Polizei, stets Repression und Prävention. Π. GESELLSCHAFTSPOLITISCHE RELEVANZ Die gesellschaftspolitische Bedeutung der internationalen Verbrechensbekämpfung wird durch Grad und Ausmaß der Sozialschädlichkeit der auf internationaler Ebene verübten Kriminalität bestimmt. Aus der Sicht der Bekämpfungsorgane stehen bei der näheren Beurteilung des Sachverhalts naturgemäß die Person des Straftäters sowie die von ihm im Einzelfall angewandten Arbeitsweisen im Vordergrund. Zwar gibt es keinen Tätertyp des internationalen Rechtsbrechers; die kriminalistische Praxis verfügt indessen über zahlreiche Anknüpfungspunkte, die als Charakterisierungsmerkmale gelten können, ohne daß diese Eigentümlichkeiten ausschließlich auf den internationalen Straftäter bzw. sein deliktisches Verhalten beschränkt wären oder in jedem einschlägigen Fall gegeben sein müßten. So legt der internationale Rechtsbrecher seinen Aktionsradius regelmäßig weiträumig an und schafft Verflechtungen, die nicht selten über mehrere Staatsgrenzen hinweg reichen. Im Vorfeld der Deliktsbegehung zeigt er einen unträglichen Instinkt zum Aufspüren tatbegünstigender Umstände, lukrativer Betätigungsmöglichkeiten sowie zum Ausloten von Schwachstellen innerhalb der staatlich geschaffenen Ordnungs- oder Rechtssysteme. Langfristiges Planen, Flexibilität und das Ausklügeln von Begehungsformen und -methoden, das vorbedachte Einbeziehen strafrechtlich unterschiedlicher, in der Gewinnplanung und -realisierung jedoch sorgfältig aufeinander abgestimmter Betätigungsbereiche kennzeichnen sein Agieren ebenso, wie wohlbedachte Arbeitsteilung, gezielter Einsatz von Spezialisten sowie geschickte Ausnutzung aller seine Mobilität fördernden Umstände, sei es zur raschen und minuziös geplanten Tatbegehung, zur erfolgreichen Spurenverwischung oder zur Flucht bzw. zum Untertauchen vor dem drohenden Zugriff der Strafverfolgungsorgane. Er entfaltet seine kriminellen Aktivitäten in nahezu allen Deliktsbereichen und tritt in den unterschiedlichsten Täterformen in Erscheinung: als raffinierter, draufgängerischer Einzeltäter, als Gehilfe oder Aktivist innerhalb einer mehr oder weniger lose geformten Gruppe, in den verschiedenartigsten
Rollenfunktionen innerhalb einer bereits wohlformierten und zielstrebig agierenden Verbrecherbande oder als Mitglied bzw. Drahtzieher im Rahmen einer straff aufgebauten, unternehmensähnlich betriebenen, auf Dauer angelegten Verbrecherorganisation. Als entscheidende und zugleich bestimmende Wesenselemente international registrierbarer Kriminalität lassen sich somit Erscheinungsvielfalt, Komplexität der Sachzusammenhänge, Tatplanung mit Geschehenslenkung bzw. -Steuerung, Tätermobilität, Schaffung und Nutzung geeigneter Tarnmöglichkeiten sowie Entfaltung erheblicher krimineller Energie bestimmen. Dieses Ergebnis belegt überzeugend den extrem hohen Grad der Gefährlichkeit dieses Phänomens für Staat und Gesellschaft. Aus ihm erhellt zugleich aber auch der außergewöhnliche Rang internationaler Verbrechensbekämpfung einschließlich ihrer kriminalpolitischen Notwendigkeit. ΙΠ. BEGRIFF A. Sachverhaltaspezilisehe Vortragen Eine als allgemein gültig anerkannte Definition des Begriffes „internationale Verbrechensbekämpfung" fehlt. Die gelegentlich in Literatur und Schrifttum vorgestellten Umschreibungen weichen inhaltlich, je nach angestrebtem Erfolgsziel oder fachwissenschaftlich bezogenem Standort, teils recht erheblich voneinander ab. Entwicklungsgeschichtlich handelt es sich um einen aus der Praxis der Strafverfolgungsorgane, insbesondere der polizeilichen Tätigkeit hervorgebrachten Begriff. Ganz allgemein setzt Verbrechensbekämpfung einen das Verbrechen fixierenden Tatbestand, die Bestimmung seines Anwendungsbereichs sowie eine diese Norm vollziehende Institution voraus. Während diese Voraussetzungen innerhalb der Nationalbereiche eindeutig erfüllt sind, bestehen für das Gebiet der internationalen Verbrechensbekämpfung Festlegungs- und Abgrenzungsprobleme in rechtlicher und institutioneller Hinsicht. Zunächst bedeutet „international" sprachinhaltlich soviel wie „nicht national begrenzt" oder „zwischenstaatlich". Ausgehend von dem staatsrechtlichen Begriff der Souveränität als Anknüpfungspunkt, bezeichnet der Begriff „international" somit den über diesen Anknüpfungspunkt hinausgehenden Bereich, ohne zugleich eine globale, d. h. die gesamte Welt umspannende Wirkung zum Inhalt zu haben. Diese Interpretation steht mit dem gegebenen Sachverhalt in Übereinstimmung: Bis heute existiert weder ein Weltstraf recht im eigentlichen Sinne des Wortes noch eine supranationale Exekutivbehörde mit entsprechenden Bekämpfungskompetenzen. Ein „internationaler" Fall ist somit konkret stets dann gegeben, wenn zwei souveräne Rechts-
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Internationale Verbrechensbekämpfung bereiche tangiert werden, d. h. entweder aus nationaler Position der Eigenbereich überschritten oder aus einem Fremdbereich in den Eigenbereich eingewirkt wird. Notwendige Bezugspunkte sind somit für die internationale Verbrechensbekämpfung in juristischer Hinsicht die nationalen Rechtsvorschriften und institutionell die eigenstaatlichen Exekutivorgane. Der so verstandene Begriff der Verbrechensbekämpfung umfaßt Maßnahmen der Repression und der Prävention ebenso, wie das gesamte Instrumentarium und die Bekämpfungsmethoden der Bekämpfungsorgane. In der Wissenschaft, insbesondere der Kriminologie, fehlen zur Begriffsbestimmung konkret verwendbare Untersuchungen oder Erkenntnisse. Das Strafrecht seinerseits kennt einen Tatbestand „internationale Straftat", der als korrespondierender Sachverhalt für jenen der internationalen Verbrechensbekämpfung herangezogen werden könnte, nicht. Insoweit wird auch in den §§ 3—7 StGB lediglich der Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts und nicht etwa internationales Strafrecht im eigentlichen Sinne normiert, da ein deutsches Gericht letztlich stets nur deutsches Recht anzuwenden vermag. Als Lösung im Rahmen dieser Abhandlung verbleibt mithin nur die Formulierung einer auf der Gesamtheit der einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften basierenden, praxisorientierten Begriffsumschreibung. B. Begrilfsumschreibung Internationale Verbrechensbekämpfung ist jede rechtskonforme, repressiven oder präventiven Zielen dienende Tätigkeit, die von einer zuständigen Justiz- oder Polizeibehörde betrieben wird und die Rechtsinteressen oder Rechtssphären mindestens zweier souveräner Staaten tangiert. Theoretisch ist mithin die Gesamtskala der potentiellen internationalen Verbrechen mit der Gesamtheit der in den Strafvorschriften aller Staaten normierten Straftaten identisch, d. h. daß kein Verbrechen denkbar ist, das — zumindest hypothetisch — im Einzelfall nicht ein internationales Verbrechen darstellen könnte. Ohne Bedeutung ist bei dieser Bewertung, ob der Tatbestand durch Handlungen des Täters, Mittäters oder Gehilfen erfüllt oder ob über die Person des Opfers bzw. Geschädigten, eines Zeugen oder über irgendwelche Tatfolgen der Tatbezug hergestellt wird; ebenso, ob die Straftat versucht oder vollendet ist. IV. RECHTSGRUNDLAGEN A. Rechtstheoretische Grundsatzfragen Die Darstellung der Rechtsgrundlagen zur internationalen Verbrechensbekämpfung wird vor allem durch zwei Umstände erheblich erschwert: die Tatsache, daß der Begriff „internationale 4 HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
Verbrechensbekämpfung" aus der (kriminalpolizeilichen) Praxis frei entwickelt wurde und durchaus nicht einheitlich definiert wird, sowie das Fehlen einer den darunter zu subsumierenden Sachverhalt abdeckenden Legaldefinition. So fehlt namentlich eine strafbewährte Vorschrift, die den Sachverhalt des internationalen Verbrechens beschreiben würde und die gegebenenfalls als Anknüpfungspunkt in die Abhandlung einbezogen werden könnte. Die Ursachen hierfür sind historischer wie rechtstheoretischer Natur. Nach wie vor werden die nationalen Rechtsordnungen von dem Prinzip der uneingeschränkten Staatssouveränität beherrscht. Demzufolge befinden ausschließlich die Träger der Staatsgewalt selbst darüber, inwieweit die nationalen Strafrechtspflegeorgane zur Verfolgung und Aburteilung von In- und Auslandsstraftaten durch In- und Ausländer zuständig sind. Hier liegen auch die Gründe für ein Fehlen eines von völkerrechtlich autorisierten Organen aufgestellten und ausgeübten, d. h. weltweit als verbindlich anerkannten Weltstrafrechts. Dem tradierten Rechtsverständnis zufolge begründen auch völkerrechtliche Vereinbarungen oder Abkommen gleich welcher Art für die vertragschließenden Staaten kein unmittelbar bindendes Recht, sondern beinhalten stets nur die Verpflichtung zur Schaffung entsprechender nationaler Rechtsnormen oder zur Integrierung der völkerrechtlich vereinbarten Tatbestände und Verfahrensregeln durch Gesetzgebungsakt in den Bestand nationaler Rechtsvorschriften. Es ist evident, daß so entstandenes Strafanwendungsrecht durchaus, und zwar je nach dem nationalen Standort unterschiedlich geprägt und ausgestaltet, sich darstellen kann. Als Rechtsgrundlagen zur internationalen Verbrechensbekämpfung können für die Strafverfolgungsorgane der Bundesrepublik Deutschland somit nur Vorschriften aus dem Bereich des deutschen Strafanwendungsrechts herangezogen werden, soweit diese den Sachverhalt (entsprechend der unter III.B. erarbeiteten Formulierung) unmittelbar oder mittelbar betreffen. Da die gesamte Strafrechtspflege in der Bundesrepublik Deutschland an die in Art. 103 Abs. I I GG verankerten Rechtsgrundsätze „nullum crimen sine lege" und „nulla poena sine lege" gebunden ist — die als Verfassungsrecht auch Eingang in die §§ 1 und 2 StGB gefunden haben —, können sich für das deutsche Strafrecht Tatbestände und ihre Rechtsfolgen nie aus ungeschriebenem Völkerrecht ergeben. B. Innerstaatliche Rechtsvorschriften 1. Das Grundgesetz Bundesrepublik
als Rechtsquelle für die Deutschland (GG)
Zu verweisen ist hier zunächst auf Art. 25 GG, wonach die allgemeinen Regeln des Völkerrechts
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Bestandteile des Bundesrechts sind, den Gesetzen vorgehen und für die Bewohner des Bundesgebietes unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen, mithin Verfassungsrang haben. Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, wovon die Bundesrepublik Deutschland durch ihren Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften auf Grund der 1967 in Rom unterzeichneten Verträge Gebrauch gemacht hat. Ferner kann der Bund — vertreten durch den Bundespräsidenten — auf der Grundlage des Art. 59 GG völkerrechtliche Verträge schließen, die der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften bedürfen, wenn sie die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf die Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen. Bezüglich der internationalen Verbrechensbekämpfung bleibt festzustellen, daß sie in keinem der aufgeführten völkerrechtlichen Bereiche bisher eine Behandlung oder Regelung erfahren hat. Ebenso wenig existieren völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen über die internationale polizeiliche Zusammenarbeit oder über den polizeilichen Nachrichten- bzw. Informationsaustausch. Die Statuten der IKPO-Interpol nehmen in diesem Zusammenhang eine ausgesprochene Sonderstellung ein (siehe IV.D.). Besondere Beachtung ist im Rahmen der internationalen Verbrechensbekämpfung Art. 16 Abs. 2 GG zu schenken, wonach kein Deutscher (Art. 116 GG) an das Ausland ausgeliefert werden darf und politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Art. 35 Abs. 1 GG, wonach sich alle Behörden des Bundes und der Länder gegenseitig Rechtsund Amtshilfe leisten, ist für die Praxis der internationalen Verbrechensbekämpfung insoweit von Bedeutung, als der Aufgabenvollzug auch gegenseitige Unterstützungshandlungen im innerstaatlichen Bereich notwendig werden läßt. 2. Strafrechtliche
Vorschriften
Die Regelungen bezüglich des sog. internationalen Strafrechts enthalten die §§ 3 bis 7 (ergänzt durch § 9) des Strafgesetzbuches (StGB) vom 15. 5.1871 i.d.F. vom 2.1.1975. Allerdings dürfte hier die Bezeichnung „internationales Strafrecht" insoweit unzutreffend sein, als ein deutsches Gericht stets nur deutsches Strafrecht anzuwenden vermag, es sich somit vielmehr um sog. Strafanwendungsrecht handelt, da durch die Vorschriften der Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts bestimmt und mithin festgelegt wird, in welchem Umfang Taten und Täter deutschen Strafgesetzen unterworfen sind. Hierbei stellt das StGB das sog. Territorialitätsprinzip in den Vordergrund, das jedoch durch das an die deutsche Staatsangehörigkeit anknüpfende Personalitätsprinzip, durch das den Schutz
international anerkannter Rechtsgüter bewirkende Weltrechtsprinzip sowie das Prinzip der stellvertretenden Rechtspflege (das jene Fälle erfaßt, in denen eine ausländische Strafrechtspflege nicht wirksam werden kann) ergänzt wird. a) § 3 StGB Ihm zufolge gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die im Inland begangen werden (Territorialitätsprinzip), und zwar unabhängig davon, ob die Tat von einem Deutschen, einem Ausländer oder einem Staatenlosen begangen ist. Eine Sonderstellung nehmen hierbei allerdings bestimmte Personen oder Personengruppen ein, die der deutschen Gerichtsbarkeit aufgrund staats- oder völkerrechtlicher Vereinbarungen entzogen sind oder ihr nur in beschränktem Umfang unterliegen (Exterritoriale, exterritoriales Gefolge, §§ 18.19.20 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) i.d.F. vom 9. 5. 1975, Mitglieder der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Streitkräfte, NATOTruppenstatut vom 19.6.1951 mit Zusatzabkommen). Der Begriff „Inland" wurde von dem Gesetzgeber nicht definiert. Strafrechtlich gehört jedoch nicht nur das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und jenes des Landes Berlin, sondern auch das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zum Inland. b) § 4 StGB Er erweitert die Grundregel des § 3 StGB auf Taten, die auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden, auch wenn sie sich im Ausland befinden, sofern sie berechtigt sind, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen. c) § 5 StGB Er enthält Tatbestände nach dem sog. Schutzprinzip, so daß das deutsche Strafrecht auch dann gilt, wenn die Tat im Ausland begangen wird, ohne Rücksicht darauf, ob der Täter In- oder Ausländer ist (ausgenommen die Nrn. 3a, 5b, 8, 9, 11, 12) und ob die Tat nach dem Recht des Tatorts strafbar ist. In den Nrn. 3 a, 5 b, 8, 9 und 11 überschneidet sich das Schutzprinzip mit dem Personalitätsprinzip. Der Begriff „Ausland" umfaßt alle Gebiete außerhalb des Inlandes, also auch solche, die keiner Staatshoheit unterliegen, sowie das offene Meer. d) § 6 StGB In ihm sind Tatbestände zusammengefaßt, die dem sog. Weltrechtsprinzip unterliegen, d. h. Straftaten betreffen, die von allen Kulturstaaten als schwerwiegende Rechtsverletzungen eingestuft werden. Unerheblich für eine Verfolgung sind hierbei sowohl die Staatsangehörigkeit des Täters als auch das Recht des Tatorts. Besondere Bedeu-
Internationale Verbrechensbekämpfung tung kommt im Hinblick auf die internationale Verbrechensbekämpfung der Nr. 8 zu. Sie enthält eine Generalklausel, die die Verfolgbarkeit von Straftaten ermöglicht, zu deren Verfolgung sich die Bundesrepublik Deutschland durch zwischenstaatliche Abkommen verpflichtet hat, ohne daß im Einzelfall eine Änderung des StGB erfolgen müßte. Zu verweisen ist in diesem Sachzusammenhang auf: — das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20. 4.1929; —
das Ubereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen vom 16.12.1970;
— die Internationalen Übereinkommen zur Gewährung wirksamen Schutzes gegen den Mädchenhandel vom 18. 6.1904 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 4. 5.1949, zur Bekämpfung des Mädchenhandels vom 4. 5.1910 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 4. 6.1949 und zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels vom 30. 9.1921 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 12.11.1947 sowie das Abkommen betreffend die Sklaverei vom 26. 9.1926 i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 7.12. 1953; — das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichungen vom 12. 9.1923 (von der Bundesrepublik Deutschland gekündigt mit Wirkung zum 28.1.1975). e) § 7 StGB Während durch Abs. 1 der Vorschrift Fälle des sog. Schutzprinzips erfaßt werden, gelangt in Abs. 2 der Grundsatz der sog. stellvertretenden Strafrechtspflege zur Geltung, wobei die Nr. 1 allerdings auch Elemente des Personalitätsprinzips enthält.
3. Strafverfahrensrechtliche
Vorschriften
a) Gerichtsverfassungsgesetz und Strafprozeßordnung Soweit nicht spezielle Rechtsnormen etwas anderes bestimmen, gelten die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vom 27.1. 1877 i.d.F. vom 9. 5.1976 sowie jene der Strafprozeßordnung (StPO) vom 1. 2.1877 i.d.F. vom 7.1.1975. b) Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) vom 1.12.1970. Sie behandeln bundeseinheitlich in den Nrn. 209 bis 215 die zwischenstaatliche Rechtshilfe und andere das Ausland berührende Maßnahmen. 4*
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Sie sind vornehmlich für den Staatsanwalt bestimmt, wollen aber auch dem Richter die geschäftsmäßige Behandlung der Rechtshilfesachen und seine Entscheidungen durch Hinweise und das Aufzeigen von Grundsätzen erleichtern. Sie sind auf den Regelfall abgestellt, so daß in besonders gelagerten Fällen von ihnen abgewichen werden kann. Sie erschöpfen sich weitgehend in Verweisungen auf weitere einschlägige Bestimmungen. c) Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt) vom 15.1.1959. Sie wurden von der Bundesregierung und den Landesregierungen gesondert für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich erlassen. Sie sind vornehmlich für die Staatsanwaltschaft und die Verwaltungsbehörde bestimmt, wollen aber — wie die RiStBV — dem Richter durch Hinweise seine Entscheidungen sowie die geschäftsmäßige Behandlung der Rechtshilfesachen erleichtern. Die Vorschriften sind anzuwenden, sofern ihnen nicht zwischenstaatliche Verträge oder Vereinbarungen entgegenstehen. Da sie auf den Regelfall abstellen, kann in besonders gelagerten Fällen von ihnen abgewichen werden. Von den Vorschriften mit Grundsatzcharakter soll die Nr. 2 der Richtlinien hervorgehoben werden, da in ihr der Begriff der zwischenstaatlichen Rechtshilfe definiert wird. Danach ist zwischenstaatliche Rechtshilfe in Strafsachen jede Unterstützung, die der ersuchte Staat für ein von einer ausländischen Behörde betriebenes Strafverfahren gewährt, gleichgültig, ob das Verfahren von einem Gericht oder einer anderen Behörde betrieben wird und ob die begehrte Rechtshilfemaßnahme von einem Gericht oder einer anderen Behörde vorzunehmen ist. Den Schwerpunkt der Richtlinien bildet der erste Teil, der den Rechtshilfeverkehr mit ausländischen Behörden behandelt. Neben der zitierten Begriffsumschreibung in der Nr. 2 werden hier allgemeine Anwendungsgrundsätze aufgestellt, Zulässigkeit und Grenzen der Rechtshilfe beschrieben, die Geschäftswege festgelegt sowie einzuhaltende Formvorschriften normiert. Bei getrennter Behandlung von eingehenden und ausgehenden Ersuchen folgen dann nach einleitenden Vorschriften mit Allgemeinaussagen (so ζ. B. zum Grundsatz der Gegenseitigkeit, über Versagungsgründe, Prüfungspflichten, die Anfertigung von Übersetzungen) besondere Richtlinien zu den Bereichen Auslieferung, vorübergehende Auslieferung, Durchlieferung, Herausgabe von Gegenständen und dem sog. kleinen Rechtshilfeverkehr. Die weiteren Teile enthalten Vorschriften über die Rechtshilfe durch Polizei- und Zolldienststellen, den Verkehr mit diplomatischen und konsularischen Vertretungen, die Vornahme von Amtshandlungen in strafrechtlichen Angelegen-
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Internationale Verbrechensbekämpfung
heiten im Ausland, die Behandlung von Strafverfolgungsersuchen, und den Austausch von Strafnachrichten. Angefügt folgen Muster und Vordrucke zur Arbeitserleichterung im Schriftverkehr mit dem Ausland, ferner sachdienliche Zusammenstellungen über die im Auslieferungsverkehr auf dem Land-, See- und Luftweg in Betracht kommenden Übernahme- und Übergabebehörden bzw. -orte sowie die verfügbaren Grenzgefängnisse. Des weiteren sind in Anhängen zu den RiVASt die innerstaatlichen Vorschriften, die wichtigsten im Verhältnis zu den einzelnen Ländern der Welt zu beachtenden Rechtshilfegrundsätze sowie die für die Bundesrepublik Deutschland maßgeblichen mehrseitigen Abkommen von strafrechtlicher Bedeutung wiedergegeben. Angesichts ihrer Bedeutung für die Praxis der internationalen Verbrechensbekämpfung sei auf folgende Vorschriften aus dem zweiten Teil der RiVASt über die Rechtshilfe durch Polizeidienststellen ausdrücklich hingewiesen: — gemäß Nr. 163 Abs. 2 ist das Bundeskriminalamt in seiner Eigenschaft als deutsches Zentralbüro der IKPO-Interpol berechtigt, Rechtshilfe durch ausländische Behörden zu vermitteln oder für diese zu leisten: 1. zur Durchführung von Fahndungsmaßnahmen, 2. in Verfahren zur Feststellung der Identität einer Person oder 3. durch Erteilung von Auskünften aus eigenen Unterlagen. Es darf ferner Ersuchen der Justizbehörden um Festnahme und um Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft übermitteln; — gemäß Nr. 162 dürfen die deutschen Polizeidienststellen Ersuchen ausländischer Behörden um Erstattung kriminaltechnischer Gutachten an ihren Instituten unmittelbar erledigen, soweit die gegenseitige Unterstützung internationaler Übung entspricht. d) Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 2. 5.1953. Es regelt die Behandlung von Ersuchen deutscher Gerichte und Behörden außerhalb seines Geltungsbereiches um Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen. Es legt insbesondere die Grenzen der Rechts- und Amtshilfe fest und bestimmt, daß für Ersuchen, denen entsprochen wird, die Vorschriften des GVG und der StPO gelten, soweit das Gesetz selbst nichts anderes vorsieht. Im einzelnen werden alle nennenswerten Rechts- und Amtshilfehandlungen einer Genehmigungspflicht durch den zuständigen Generalstaatsanwalt unterworfen, die Verfahrensmodalitäten festgelegt sowie die Eintragung von Gerichtsentscheidungen in das Strafregister von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht.
4. Deutsches Auslieferungsgesetz (DAG) vom 23.12.1929 i.d.F. vom 2.3.1974 und Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Auslande in Strafsachen (Zuständigkeitsvereinbarung) vom 20. 2.1952 a) DAG Es bestimmt den Rechtshilfeverkehr in Strafsachen mit dem Auslande, soweit nicht zwischenstaatliche Verträge und Vereinbarungen oder multilaterale Abkommen abweichende Regelungen vorsehen. Es gilt insoweit für ein- und ausgehende Ersuchen und bindet alle inländischen Behörden und Beamten. Obgleich das Gesetz fast ausnahmslos nur eingehende Ersuchen behandelt, folgt die Bindung ausgehender Ersuchen an die Vorschriften des DAG zwingend aus dem im internationalen Rechtshilfeverkehr allgemein geltenden Grundsatz der Gegenseitigkeit. Das Gesetz behandelt den gesamten Bereich des Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen, wobei es ihn in vier Abschnitte unterteilt. — Auslieferung und Durchlieferung (§§ 1—33) Hierzu enthalten die §§ 1—6 die Bedingungen bzw. Voraussetzungen in persönlicher, rechtlicher und formeller Hinsicht, die erfüllt sein müssen, um eine Person ausliefern, d. h. amtlich in die Strafgewalt eines ausländischen Staates überstellen zu können. Von ihnen seien die wichtigsten kurz hervorgehoben: es kann nur ein Ausländer, nicht ein Deutscher, zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung ausgeliefert werden, wozu ein Ersuchen und ein Haftbefehl oder das vollstreckbare Straferkenntnis der zuständigen ausländischen Behörde vorliegen müssen. Unzulässig ist eine Auslieferung, wenn die den Anlaß gebende Tat nach deutschem Recht nur nach den Militärstrafgesetzen strafbar ist, nur mit einer in eine Freiheitsstrafe nicht umwandelbaren Vermögensstrafe geahndet wird oder es sich um eine politische Tat bzw. um eine Zusammenhangstat mit einer solchen handelt. Stets muß weiterhin die Gegenseitigkeit verbürgt sein sowie Gewähr dafür bestehen, daß der Grundsatz der Spezialität Beachtung finden wird. Die nachfolgenden Vorschriften bestimmen Art und Umfang der Maßnahmen und Mittel zur Vorbereitung bzw. Durchführung einer Auslieferung (Erlaß eines Steckbriefes, Festnahme, Verhängung der Auslieferungshaft und der vorläufigen Auslieferungshaft) regeln die örtliche und sachliche Zuständigkeit (Ansiedelung bei der Staatsanwaltschaft des Oberlandesgerichts bzw. dem Oberlandesgericht) sowie die Verfahrensmodalitäten (Bekanntgabe des Haftbefehls an den Verfolgten, Vernehmung, Haftvollzug). Eine Bewilligung der Auslieferung darf nur erfolgen, wenn sie das zuständige Gericht für zulässig oder der Ver-
Internationale Verbrechensbekämpfung folgte sich zu Protokoll eines Richters mit ihr einverstanden erklärt hat. Gemäß § 33 kann eine Durchlieferung eines Ausländers durch das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgen, wenn die Auslieferung des Verfolgten zulässig sein würde. — Herausgabe von Gegenständen (§§ 34—40) Sie ist hiernach auf Ersuchen einer zuständigen Behörde eines ausländischen Staates möglich bei Gegenständen: 1. die als Beweismittel für ein ausländisches Verfahren von Bedeutung sein können, 2. die in einem ausländischen Strafverfahren der Einziehung oder Verfallerklärung unterliegen, 3. die sich im Besitz der Verfolgten befinden, die er oder ein Teilnehmer im Ausland durch die rechtswidrige Tat, wegen deren er verfolgt wird, oder als Entgelt für solche Gegenstände erlangt hat, 4. die bei der Durchlieferung mit dem Verfolgten übernommen werden. Zulässig ist die Herausgabe indessen nur, wenn die Gegenseitigkeit verbürgt ist und in dem Strafverfahren, für das die Herausgabe geschehen soll, eine Auslieferung zulässig sein würde. Soll sie ohne Zusammenhang mit der Auslieferung oder Durchlieferung eines Verfolgten geschehen, muß ein Beschlagnahmebeschluß der zuständigen ausländischen Behörde vorliegen. Schließlich müssen Rechte dritter Personen unberührt bleiben und bei der Übergabe gemachte Vorbehalte beachtet, gegebenenfalls die herausgegebenen Gegenstände auf Verlangen unverzüglich zurückgegeben werden. Ist die Herausgabe von Gegenständen zulässig, so können diese nach Eingang eines entsprechenden Ersuchens sichergestellt oder beschlagnahmt werden. örtliche und sachliche Zuständigkeit sind wie im Falle der Auslieferung bzw. Durchlieferung geregelt. Eine Besonderheit innerhalb des Verfahrens ist insoweit gegeben, als auch ein Beteiligter, mithin jeder, der an dem Gegenstand ein Recht geltend macht, die Entscheidung des Oberlandesgerichtes über die Zulässigkeit der Herausgabe beantragen kann. — Sonstige Rechtshilfe in Strafsachen (§§ 41—43) Sie umfaßt praktisch alle nicht durch Auslieferung bzw. Durchlieferung oder durch Herausgabe von Gegenständen möglichen Rechtshilfeleistungen. Nach dem DAG — das eine abschließende Aufzählung der Fallkategorien nicht enthält — kann sie insbesondere gewährt werden durch: 1. Erteilung von behördlichen Auskünften, 2. Zustellung von Schriftstücken oder Bewirkung von Ladungen, 3. Untersuchungshandlungen unterschiedlichster Art, wie die Vernehmung von Beschuldigten, Zeugen und Sachverständigen, die Beschlagnahme und Durchsuchung und die Einnahme des richterlichen Augenscheins, 4. Zuführung verhafteter Personen an ausländische Behörden zum Zweck der Zeugenvernehmung oder der
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Gegenüberstellung mit anderen Personen. Angesichts der geringeren Gewichtigkeit dieser Rechtshilfeleistungen sind sie auch nur an die Erfüllung bescheidenerer Bedingungen bzw. Voraussetzungen geknüpft als ζ. B. die Auslieferung und die Herausgabe von Gegenständen. So genügt in diesen Fällen bereits zur Rechtshilfeleistung das Vorliegen eines Ersuchens einer zuständigen Behörde des ausländischen Staates, sofern außerdem die Gegenseitigkeit verbürgt ist. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, entscheidet im Zweifel das Oberlandesgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft. — Schlußbestimmungen (§§ 44—55) Von ihnen sind zwei Vorschriften hervorzuheben: Durch § 44 Abs. 1 wird die Entscheidung über die Ersuchen ausländischer Regierungen der Bundesregierung übertragen, und gemäß § 47 gelten ferner die Vorschriften des GVG und der StPO für das Verfahren nach dem DAG, soweit das Gesetz selbst keine abweichenden Regelungen trifft. Auf Grund der Bestimmungen des DAG, insbesondere des § 47, kann jedoch nicht gefolgert werden, daß das Auslieferungsverfahren ein Strafverfahren ist, auch wenn es der Unterstützung einer ausländischen Strafverfolgung oder Strafvollstreckung dient; es bleibt vielmehr wegen seiner besonderen Ziele ein Verfahren eigener Art. Die Annäherung der Vorschriften des DAG an jene der StPO und die hilfsweise Geltung der Bestimmungen der StPO für das Auslieferungsverfahren sind nur ausgesprochen worden, um für das Auslieferungsverfahren weitgehende rechtsstaatliche Sicherungen zu schaffen (BGHSt 2 S. 49). — Zuständigkeitsvereinbarung Der Abschluß dieses Verwaltungsabkommens zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen war erforderlich geworden, weil das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eine Auftragsverwaltung in Auslieferungsangelegenheiten nicht vorsieht und die Ermächtigung nach § 44 Abs. 2 DAG, wonach die „Reichsregierung" die Ausübung ihrer Befugnisse den Landesregierungen übertragen kann, praktisch gegenstandslos geworden war. Durch die Vereinbarung wurde gleichzeitig auch eine dringend notwendige Entlastung der Bundesregierung im Rechtshilfeverkehr bewirkt. Bemerkenswert ist, daß die Bundesregierung in der Vereinbarung nur die Ausübung der Befugnisse, nicht aber die Befugnisse selbst den Landesregierungen überträgt, d. h. daß sie die volle parlamentarische Verantwortlichkeit für jede Entscheidung in Rechtshilfeangelegenheiten behält. Die Vereinbarung fußt auf dem Grundsatz, daß die Zuständigkeit für ausgehende Ersuchen durchwegs jener für eingehende Ersuchen zu entsprechen hat. In ihrer Systematik lehnt sie sich eng an die Gliederung
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des DAG an. Im wesentlichen werden in ihr den Landesregierungen die Ausübung der Befugnisse übertragen: 1. in Auslieferungsangelegenheiten mit Österreich, Dänemark und der Schweiz (ausgenommen Durchlieferungsangelegenheiten), 2. in Fällen der Herausgabe von Gegenständen mit sämtlichen Staaten (sofern die Herausgabe nicht im Zusammenhang mit einer Auslieferung oder Durchlieferung aus einem anderen Staat als Österreich, Dänemark und der Schweiz steht), 3. in allen sonstigen Rechtshilfeangelegenheiten in Strafsachen mit sämtlichen Staaten. Von der Übertragung ausgenommen sind jedoch alle Fälle, in denen 1. von mehreren ausländischen Staaten um die Auslieferung ein und desselben Verfolgten oder um die Herausgabe ein und desselben Gegenstandes ersucht ist, 2. zu prüfen ist, ob die Tat, wegen deren die Rechtshilfe begehrt wird, eine politische oder eine mit einer politischen zusammenhängende Tat i.S. des § 3 DAG ist, 3. die Tat, wegen deren die Rechtshilfe begehrt wird, eine Zuwiderhandlung gegen Vorschriften über öffentlich-rechtliche Abgaben irgendwelcher Art oder Bannbruch ist, es sei denn, daß Gefahr im Verzuge steht. Die Vereinbarung regelt ferner Verfahrensweisen der Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und den Landesregierungen und enthält u. a. die Bereitschaftserklärung der Landesregierungen, die Bundesregierung bei der Führung einer Auslieferungsstatistik zu unterstützen. 5. Das Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalpolizeiamtes (Bundeskriminalamtes) vom 8. 3.1951 i.d.F. vom 29. 6.1973 (BKAG) Es weist dem Bundeskriminalamt im Rahmen der internationalen Verbrechensbekämpfung wichtige Aufgaben und Kompetenzen zu. Diese Tatsache gelangt bereits in der allgemeinen Beschreibung seiner Aufgaben in § 1 Abs. 1 S. 2 zum Ausdruck, wonach ihm u. a. die Bekämpfung des Straftäters insoweit obliegt, als sich dieser international betätigt oder voraussichtlich betätigen wird. Sie findet ihre weitere Bestätigung in § 1 Abs. 2, wonach das Bundeskriminalamt zugleich, d. h. gleichzeitig und gleichrangig neben den ihm sonst im nationalen Bereich zugewiesenen Aufgaben, Nationales Zentralbüro (NZB) der IKPOInterpol für die Bundesrepublik Deutschland ist; ferner durch § 10, wonach dem Bundeskriminalamt der zur Durchführung der Bekämpfung internationaler gemeiner Verbrecher notwendige Dienstverkehr mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden vorbehalten ist. Große Bedeutimg kommt in diesem Zusammenhang § 2 Abs. 1 Nr. 1 zu, der das Bundeskriminalamt verpflichtet, als Zentralstelle alle Nachrichten und Unterlagen für die polizeiliche Verbrechensbekämpfung zu sammeln und auszuwerten. Dabei kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß der Begriff der polizeilichen Verbrechensbekämpfung hier (vor allem im Hinblick auf den Generalauftrag in § 1 Abs. 1 S. 2) auch die zur Bekämpfung des internationalen Straftaten erforderliche Informationssammlung und -auswertung umfaßt. Außerordentliche praktische Relevanz besitzt vor allem aber § 5 Abs. 2 Nr. 1, der dem Bundeskriminalamt originäre polizeiliche Ermittlungskompetenzen zuweist, soweit Fälle international organisierten ungesetzlichen Handels mit Waffen, Munition, Sprengstoffen oder Betäubungsmitteln und der international organisierten Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld vorliegen, die eine Sachaufklärung im Ausland erfordern, darüber hinaus soweit im Zusammenhang damit begangene Straftaten gegeben sind. C. Bl- und multilaterale Verträge, Abkommen nnd Übereinkünfte Die in Betracht kommenden Vorschriften und Bestimmungen über Rechtshilfe in Strafsachen sind so vielfältig, daß sich ihre Einzelaufzählung und Einzelbehandlung in diesem Rahmen verbietet. Die Ausführungen beschränken sich daher auf die Herausstellung der wesentlichsten Sachverhaltsfakten. Auf bilateraler Ebene hat die Bundesrepublik Deutschland mit den meisten europäischen Staaten Auslieferungs- und/oder Rechtshilfeverträge, zumindest aber Vereinbarungen oder Übereinkünfte in diesen Bereichen abgeschlossen, die mithin im Rahmen der internationalen Verbrechensbekämpfung zu berücksichtigen sind. Daneben bestehen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und zahlreichen außereuropäischen Staaten vertragliche Vereinbarungen über Auslieferung und/oder Rechtshilfe in Strafsachen, deren Beachtung gleichermaßen geboten ist. Hinzuweisen ist ferner auf rund 30 von der Bundesrepublik Deutschland als verbindlich anerkannte multilaterale Abkommen, von denen im Hinblick auf ihre Relevanz für die internationale Verbrechensbekämpfung die nachfolgenden genannt sein sollen: — das Internationale Opiumabkommen vom 23. 1.1912, — das Internationale Opiumabkommen vom 19. 2.1925, — das Abkommen zur Beschränkung der Herstellung und zur Regelung der Verteilung der Betäubungsmittel vom 13. 7.1931, — das Protokoll vom 11.12.1946 zur Änderung der die Betäubungsmittel betreffenden Vereinbarungen, Abkommen und Protokolle vom 23.1.1912, 11. 2.1925, 19. 2.1925, 13. 7. 1931, 27.11.1931 und 26. 6.1936,
Internationale Verbrechensbekämpfung — das Protokoll vom 19.11.1948 zur internationalen Überwachung von Stoffen, die von dem Abkommen vom 13. 7.1931 zur Beschränkung der Herstellung und zur Regelung der Verteilung der Betäubungsmittel, geändert durch das Protokoll vom 11.12.1946, nicht erfaßt werden, — das Protokoll über die Beschränkung und Regelung des Anbaues der Mohnpflanze, der Erzeugung von Opium, des internationalen Handels und Großhandels mit Opium und seiner Verwendung vom 23. 6.1953, — das Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe vom 30. 3.1961 mit Protokoll zur Änderung des Übereinkommens vom 2δ. 3.1972, — das Abkommen über Verwaltungsmaßregeln zur Gewährung wirksamen Schutzes gegen den Mädchenhandel vom 18. 6.1904, — das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels vom 4.5.1910, — die Internationale Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels vom 30. 9.1921, — das Übereinkommen über die Sklaverei vom 25. 9.1926, — das Protokoll vom 12.11.1947 zur Änderung der am 30. 9.1921 geschlossenen Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels, — das Protokoll vom 4. 5.1949 zur Änderung des am 18.5.1904 unterzeichneten Internationalen Übereinkommens zur Gewährung wirksamen Schutzes gegen den Mädchenhandel und das am 4. 5.1910 unterzeichnete Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels, — das Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavenähnlicher Einrichtungen und Praktiken vom 7. 9.1956, — das Abkommen zur Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen vom 4. 5.1910, — die Internationale Übereinkunft zur Bekämpfung der Verbreitung und des Vertriebes unzüchtiger Veröffentlichungen vom 12. 9.1923 (von der Bundesrepublik Deutschland gekündigt mit Wirkung zum 28.1.1975), — das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20. 4.1920, — das Internationale Abkommen zur Bekämpfung des Alkoholschmuggels vom 19. 8.1925, — das Internationale Abkommen über Kraftfahrzeugverkehr vom 24. 4.1926, — die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9.12.1948, — die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950,
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— das Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 20. 3.1952, — das Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16. 9.1963, — das Abkommen über strafbare und bestimmte andere an Bord von Luftfahrzeugen begangene Handlungen vom 14. 9.1963, — das Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen vom 16.12.1970. Wegen ihres besonderen Stellenwertes für den praktischen Vollzug im Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung sollen noch — das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1967 und — das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. 4.1959 kurz gestreift werden. Zwar haben beide Übereinkommen für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland vorerst keine Rechtskraft erlangt, weil von deutscher Seite die Ratifikationsurkunden bei dem Generalsekretär des Europarates in Straßburg bislang nicht hinterlegt wurden, mit der Hinterlegung dürfte jedoch in absehbarer Zeit zu rechnen sein. Beide Übereinkommen heben hinsichtlich der Gebiete, auf die sie Anwendung finden, diejenigen Bestimmungen zweiseitiger Verträge, Übereinkommen oder Vereinbarungen auf, die das Rechtshilfeverfahren zwischen zwei Vertragsparteien regeln. Es bleibt den Vertragsparteien jedoch unbenommen, untereinander zwei- oder mehrseitige Vereinbarungen zur Ergänzung der beiden europäischen Übereinkommen oder zur Erleichterung der Anwendung der darin enthaltenen Grundsätze abzuschließen. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen unterwirft alle Vertragsparteien einer generellen Auslieferungsverpflichtung, legt die Auslieferungsvoraussetzungen in persönlicher, materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Hinsicht fest, regelt insbesondere das Verfahren der vorläufigen Auslieferungshaft und enthält Bestimmungen zur Durchlieferung sowie über die Herausgabe von Gegenständen. Hervorzuheben ist die in Art. 16 Abs. 3 vorgesehene Regelung, wonach Ersuchen um vorläufige Auslieferungshaft auch über die IKPO-Interpol übermittelt werden können. In dem Europäischen Übereinkommen über Rechtshilfe verpflichten sich alle Vertragsparteien, gemäß den Bestimmungen des Übereinkommens einander soweit wie möglich Rechtshilfe bei der Verfolgung von Strafsachen zu leisten. Der sachliche Umfang des Übereinkommens erstreckt sich auf alle Arten
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der Rechtshilfe mit Ausnahme der Auslieferung, der Durchlieferung und der Herausgabe von Gegenständen. Es enthält insbesondere Bestimmungen über die Vornahme von Untersuchungshandlungen, Übermittlungen von Beweisstücken, Akten oder Schriftstücken, über die Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen, die Ladung von Zeugen, Sachverständigen und Beschuldigten sowie die Zustellung von Verfahrensurkunden und Gerichtsentscheidungen. Es regelt ferner die Auskunft aus dem Strafregister sowie den Austausch von Strafnachrichten. Von den Verfahrensvorschriften ist Art. 15 Abs. 5 von besonderer Bedeutung, da er die Möglichkeit eröffnet, in allen Fällen, in denen das Übereinkommen die unmittelbare Übermittlung eines Ersuchens zuläßt, diese durch Vermittlung der IKPO-Interpol vorzunehmen. Obgleich zahlreiche Vertragsparteien von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, bezüglich einzelner Bestimmungen Vorbehalte geltend zu machen, stellen die beiden Übereinkommen doch wesentliche Schritte auf dem Weg zu umfassenden zwischenstaatlichen Vereinbarungen dar, da bereits heute nicht nur die meisten europäischen, sondern auch mehrere außereuropäische Staaten den Übereinkommen beigetreten sind. Für den Bereich der polizeilichen Verbrechensbekämpfung bedeuten die Bestimmungen über den Einbezug der IKPO-Interpol nicht nur eine begrüßenswerte Verfahrensregelung bezüglich des Geschäftsweges, sondern darüber hinaus auch die Anerkennung der Leistungsfähigkeit dieser Organisation und die gesetzliche Verankerung dieser Tatsache auf zwischenstaatlicher Ebene.
D. Ein Sonderfall: die Statuten der IKPO-Interpol Die Statuten der IKPO-Interpol in ihrer derzeit gültigen Fassung vom 13. 6.1956 besitzen ihren eigenen Rechtscharakter. Sie haben einen selbst abgesteckten Verbindlichkeitsrahmen, der von den Organisationsmitgliedern de facto auch respektiert wird, sind jedoch kein völkerrechtlicher Vertrag und bewirken mithin nicht die aus einem solchen resultierenden Rechts- und Folgewirkungen. Ihre Besonderheit ist eng mit der Gründungsgeschichte und dem Entwicklungsgang der Organisation verbunden und erklärt sich letztlich nur aus diesen Geschehensläufen. Da sich die Organisationsgründer auf dem Wiener Polizeikongreß 1923 aus Eigeninitiative und ohne Auftrag ihrer zuständigen Regierungsstellen zusammengefunden hatten, konnten die Beschlüsse dieses Gremiums den Regierungen der einzelnen Staaten gegenüber auch keine Rechtsverbindlichkeit besitzen, sondern vielmehr nur den Charakter von Anregungen, Empfehlungen
oder Vorschlägen haben. Zwar entwickelte sich die IKPO in der Folgezeit zunehmend zu einer wirkungsvollen Koordinierungsstelle internationaler polizeilicher Zusammenarbeit, die von den Regierungen ihrer Mitglieder in faktischer Hinsicht anerkannt und schließlich auch finanziell unterstützt wurde; da zwischenstaatliche Vertragsabschlüsse mit der Kommission jedoch nicht zustande kamen, durch die allein eine Aufwertung ihrer Rechtsposition hätte bewirkt werden können, blieb zunächst auch die wenig verbindliche Rechtsnatur der Statuten unverändert erhalten. Erst die 1956 wiederum in Wien beschlossenen neuen Interpol-Statuten brachten die Organisation ein wesentliches Stück auf dem Wege zur Festigung ihres rechtlichen Fundaments und des Grades der Verbindlichkeit ihrer Statuten weiter voran. Zwar sind auch nach der Neufassung der Statuten nicht die Staaten selbst, sondern die von ihren zuständigen Regierungsstellen benannten Polizeibehörden Mitglieder der Organisation; die Aufnahmeersuchen sind jedoch von diesen Regierungsstellen an den Generalsekretär der Organisation zu richten. Dabei gilt der Beitritt — mit dem gleichzeitig auch die Anerkennung der Statuten verbunden ist — erst nach Zustimmung durch die Generalversammlung der Organisation mit ZweidrittelMehrheit als vollzogen. Für die der Organisation am 13. 6.1956 bereits angehörenden Mitglieder sah Art. 45 insoweit eine Übergangsregelung vor, als er den zuständigen Regierungsstellen dieser Staaten ein befristetes Einspruchsrecht bezüglich der Annahme der Statuten einräumte, von dem jedoch keine der betroffenen Regierungen Gebrauch gemacht hat. Mithin kann bei der Bewertung des Verbindlichkeitscharakters der Statuten davon ausgegangen werden, daß sie in ihrer Fassung vom 13. 6.1956 von allen Regierungen der Organisationsmitglieder als verbindliche Grundlage und gültiger Vollzugsrahmen für die organisationsbezogene Kooperation anerkannt sind. Da gemäß Art. 2 die nationalen Gesetze den Bestimmungen der Statuten vorgehen, können sich in praxi keine unlösbaren Konfliktsituationen rechtlicher Art ergeben. In dem hier interessierenden Sachzusammenhang sind folgende Bestimmungen der Statuten hervorzuheben: — Art. 1, in dem die Organisationsbezeichnung („Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation-Interpol") und deren Sitz (Paris) festgelegt werden; — Art. 2 und 3, in denen die Ziele und Kooperationsgrenzen der Organisation bestimmt sind (siehe VI.C.2. und 3.); — Art. 4, der den Begriff „Mitglied" sowie die Voraussetzungen für den Mitgliedsbeitritt festlegt;
Internationale Verbrechensbekämpfung — Art. 5 bis 30, in denen Aufbau und Tätigkeit der Organisation beschrieben werden (siehe VI.C.4.); — Art. 31 und 32, die sich mit der Institution der Nationalen Zentralbüros der Organisation befassen (siehe VI.B.4. und VII.B.3.); — Art. 38 bis 40, die den Haushalt und die Mittel der Organisation betreffen; — Art. 41, der die Beziehungen der Organisation zu anderen Organisationen regelt; — Art. 42 bis 44, die sich mit den Fragen der Anwendung, Abänderung und Auslegung der Statuten befassen. Gemäß Art. 32 der Statuten hat jede zuständige Begierungsstelle eines Mitgliedsstaates eine Dienststelle zu benennen, die die Aufgaben und Funktionen des sog. Nationalen Zentralbüros (NZB) auf nationaler Ebene wahrzunehmen hat. Gemäß § 2 Abs. 1 BKAG hat der deutsche Gesetzgeber das Bundeskriminalamt zum NZB der IKPOInterpol für die Bundesrepublik Deutschland bestimmt (siehe VII.B.4.).
Y. AUF DEM WEGE ZUM ZIEL A. Vorbemerkungen Es entspricht den ursprünglichsten Intentionen des Rechtsbrechers, nach der Tatbegehung einen möglichst großen zeitlichen und räumlichen Abstand zwischen sich und den Strafverfolgungsorganen herzustellen, möglichst unauffällig unterzutauchen, verursachte Spuren zu verwischen sowie die erlangte Beute zu sichern bzw. lukrativ abzusetzen. Dementsprechend waren die Bekämpfungsmaßnahmen und -methoden der Strafverfolgungsorgane seit jeher darauf ausgerichtet, den Zeitvorsprung des Rechtsbrechers auf ein Minimum zu reduzieren, räumliche Distanzen über alle rechtlichen und tatsächlichen Hindernisse hinweg zügig und erfolgreich zu überwinden, durch minuziöse Spurensicherung und Beweismittelerhebung den Täter zu identifizieren und zu überführen, ihn im Wege intensivster Fahndung auszuforschen und gegebenenfalls festzunehmen sowie die erlangte Beute sicherzustellen. Kennzeichnend für die zurückliegenden Zeitabschnitte ist für den Bereich der Strafverfolgung eine fortschreitende faktische Aufgabenverlagerung bei der Straftatenaufklärung von den Justizorganen auf die Polizei. Parallel zu diesem Entwicklungsgang wurde aber auch die Effizienz der Kriminalitätsbekämpfung in immer weitreichenderem Umfang von der Ergiebigkeit polizeilicher Aktivität und mithin der Wirksamkeit polizeilicher Arbeitsweisen und -methoden abhängig. Die Poli-
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zei ihrerseits sah sich genötigt, insbesondere angesichts des bedrohlichen Kriminalitätsanstiegs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der hierbei registrierbaren erheblichen Zunahme überregional und international verübter Delinquenz, nach adäquaten Bekämpfungsmitteln und -methoden Ausschau zu halten. Hierbei kam ihr der seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende, teils geradezu stürmisch verlaufene Fortschritt in nahezu allen Wissenschaftsbereichen sehr zustatten. Von den vielfältigen, aus Wissenschaft und Forschung entdeckten oder fortentwickelten und in diesen Epochen in die Kriminalistik eingeführten Errungenschaften haben im Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung die Anwendung erkennungsdienstlicher Neuerungen die nachhaltigste Wirkung gezeitigt. Bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war in Europa die Bedeutung des Lichtbildes als Hilfsmittel zur Personenidentifizierung erkannt worden. 1843 war in einem Brüsseler Gefängnis die erste Lichtbildaufnahme eines Verbrechers erfolgt und schon 1874 wurde bei der Pariser Polizei eine Lichtbild-Verbrecherkartei eingerichtet, deren Umfang bis 1879 auf rund 80000 Lichtbilder angewachsen war. 1896 führte die Berliner Polizei im Rahmen der Etablierung des „Erkennungsdienstes" die Fotografie als Identifizierungshilfsmittel ein und noch vor der Jahrhundertwende fand sie in ganz Deutschland in dieser Eigenschaft Verwendung. Während die Zeitentwicklung über das von dem Franzosen Bertillon entwickelte Körpermeßverfahren schnell hinweggegangen ist, stellt das von ihm wesentlich geförderte sogenannte „portrait parli" bis heute die Grundlage für die Personenbeschreibung — als weiteres wichtiges Fahndungs- und Identifizierungshilfsmittel — im Polizeibereich dar. Die nachhaltigsten und entscheidensten Auswirkungen hatte jedoch die Einführung der Daktyloskopie in die Dienste der Kriminalistik zur Folge. Nachdem der Engländer Galton die für eine praktische Anwendung der Daktyloskopie entscheidenden Grundaussagen wissenschaftlich erhärtet hatte, entwickelte sein Landsmann Henry (späterer Polizeipräsident von London) gemeinsam mit ihm und bei gleichzeitiger praktischer Erprobung ein bis heute gültiges und im Grundsatz nahezu in allen Staaten der Erde verwendetes Fingerabdruck-Klassifizierungssystem. Der Siegeszug dieses sog. „Galton-Henry-Systems" war einmalig in der Geschichte der Kriminalistik: 1901 wurde es von der Londoner Polizei eingeführt, 1903 fand es bereits weite Verbreitung in Deutschland und 1912 faßte die Berliner Polizeikonferenz den Beschluß, in allen deutschen Bundesstaaten auf diesem System aufbauende daktyloskopische Landeszentralen einzurichten. Ähnlich verlief die Entwicklung in den meisten europäischen und zahlreichen außereuropäischen Staaten.
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Überblickt man die Gesamtentwicklung, so bleibt als Resümee die Feststellung, daß der Polizei auf dem Gebiet der internationalen Verbrechensbekämpfung mit Beginn des 20. Jahrhunderts bereits wichtige und wirksame Instrumente zur Bewältigung der ihr gestellten Aufgaben zur Verfügung standen und gleichzeitig erste Ansätze einer Nutzbarmachung dieser Einsatzmittel zu verzeichnen sind.
B. Erste Impulse: 1906—1919 1. Thesen, Tendenzen,
Entmcklungsphasen
Unsystematische und unstrukturierte Erkenntnisansätze über die Notwendigkeit einer gezielt und kooperativ betriebenen internationalen Verbrechensbekämpfung scheinen vereinzelt bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf. Mit der Zunahme der staatsgrenzenüberschreitenden Kriminalität wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt Stimmen laut, die die Veranlassung adäquater Gegenmaßnahmen forderten und dank ihrer Initiativen das Problembewußtsein der Öffentlichkeit weckten. Erste Konturen zeichneten sich ab, als anerkannte Fachleute unmittelbar oder durch Wirken in Fachverbänden oder fachverwandten Gesellschaften auf den unterschiedlichsten Ebenen ihre Forderungen in Programmen und Resolutionen vorstellten. Allerdings wurde das Thema der internationalen Verbrechensbekämpfung hierbei meist nur punktuell oder im Rahmen anderer, größerer Sachzusammenhänge behandelt. Übereinstimmung bestand regelmäßig in den entscheidenden Grundsatzfragen sowie den Forderungen nach Maßnahmen auf internationaler Ebene, der Bildung nationaler Zentralstellen zur wirksamen Bekämpfung, insbesondere zur Durchführung eines intensiven Nachrichten- und Informationsaustausches. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß die Initiativen von engagierten Privatpersonen oder Fachverbänden entwickelt und getragen wurden und die Initiatoren und Verfechter zwar häufig in Staatsdiensten standen, jedoch nicht in unmittelbarem Staatsauftrag handelten. Neben Juristen und Polizeifachleuten waren es vor allem auch Strafvollzugswissenschaftler (Mediziner, Pädagogen, Soziologen und Psychologen), die sich — wenn auch aus unterschiedlichen Beweggründen und von verschiedenartigen Ausgangspositionen her ·— für eine wirksame Bekämpfung des internationalen Verbrechertums einsetzten. Kennzeichnend für die Entwicklungsphasen bis Mitte des 20. Jahrhunderts — präzise gesagt bis zur Neugründung der IKPK im Jahre 1946 — ist, daß allen Initiativen und Bemühungen der entscheidende Durchbrach zu echt internationaler Anerkennung mit weltweitem Aktionsradius versagt geblieben ist,
zugleich aber ohne ihre wertvolle Pionierarbeit das heute Erreichte nicht vorstellbar wäre. a) Beschlüsse der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) Die ersten konzeptionellen Ansätze für eine systematische Bekämpfung des internationalen Verbrechertums wurden in Deutschland von der 1888 unter der geistigen Führung des Deutschen Franz v. Liszt, des Belgiers Adolphe Prins und des Niederländers G. A. van Hamel gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) entwickelt. Von den Mitgliedern der Vereinigung wurden auf der Sitzung im September 1905 in Hamburg zur Frage der Bekämpfung des internationalen Verbrechertums folgende wichtigen Beschlüsse gefaßt: 1. Als Folgeerscheinung der modernen Verkehrsentwicklung ist ein internationales Verbrechertum entstanden, dessen Erforschung und Bekämpfung internationale Maßnahmen erfordert. 2. In sämtlichen Staaten sind Zentralstellen zur Bekämpfung des internationalen Verbrechertums einzurichten, welche a) den Polizeibehörden der Hauptstädte angegliedert werden; b) alle Nachrichten über internationales Verbrechertum sammeln und ständig zum Zwecke vorbeugender Maßnahmen wie im Interesse der Strafverfolgung austauschen; c) berechtigt sind, unmittelbar miteinander in Verbindung zu treten. Die gleiche Befugnis ist für alle größeren Strafverfolgungsbehörden erwünscht. 3. Fortlaufende wissenschaftliche Aufarbeitung des bei den Zentralstellen gewonnenen Materials muß die Grundlage schaffen zu weiterer Ausgestaltung des Kampfes gegen das internationale Verbrechertum. 4. Die Versammlung beauftragt den Vorstand, bei den Regierungen die Einberufung einer internationalen Konferenz zu beantragen, die sich mit der Vorbereitung einer Vereinbarung zum Zwecke der Bekämpfung der internationalen Verbrechen und Vergehen befassen soll. Bereits im Sommer des gleichen Jahres war von der französischen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung auf ihrer Versammlung ein Antrag angenommen worden, demzufolge eine internationale Konferenz gebildet werden sollte, um die Grundlagen für eine Konvention betreffend die Bekämpfung internationaler Verbrechen und Vergehen zu erarbeiten. Bedauerlicherweise war beiden Initiativen ein Erfolg nicht beschieden. b) Die deutsche Polizeikonferenz in Berlin 1912 Ihr kommt eine weit über den deutschen Rahmen hinausgehende Bedeutung zu, da sie neben den Fragen der Verbesserung und Vereinheitlichung der Bekämpfung des schweren und reisenden Verbrechertums auch Probleme des unmittelbaren gegenseitigen Verkehrs zwischen in- und ausländischen Polizeibehörden behandelte. So
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Internationale Verbrechensbekämpfung wurde die Zulässigkeit des Direktverkehrs für alle Fälle der Verhütung, Erforschung und Aufklärung schwerer Verbrechen gefordert, wozu sich die Staaten gegenseitig jene Behörden mitteilen sollten, denen der unmittelbare Verkehr gestattet aein sollte. Die bezeichneten Behörden sollten befugt sein, unter bestimmten Voraussetzungen bei Verbrechen ein Mitfahndungs- und im Ermittlungsfalle ein Festnahmeersuchen zu stellen und im Falle einer möglichen Auslieferung die Erwirkung eines Haftbefehls sowie die weiteren nach den Auslieferungsverträgen erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Gleichzeitig sollte die ersuchte Behörde verpflichtet sein, ihren Fahndungsdienst wie bei inländischen Ersuchen einzusetzen und alle Fahndungsergebnisse der ersuchenden Behörde auf dem kürzesten Wege zu übermitteln. Schließlich sollten auch im Einklang mit dem inländischen Recht und dem jeweils geltenden Auslieferungsvertrag stehende sonstige Maßnahmen wie Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw. möglich sein und vollzogen werden können. c) Europäische und außereuropäische Polizeikongresse bis 1914 1905 sowie in den Folge jähren bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges fanden wiederholt in europäischen und außereuropäischen Staaten Polizeikongresse statt, die sich auch mit Fragen und Problemen der internationalen Verbrechensbekämpfung befaßten. So wurden 1905 in Buenos Aires, 1909 und 1912 in Sao Paulo sowie 1913 in Washington Kongresse abgehalten, bei denen jeweils Einmütigkeit darüber bestand, daß die Bekämpfung des internationalen Verbrechertums unzureichend sei. Im Interesse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung wurden vor allem eine Reform des Auslieferungsverfahrens, insbesondere des hier vorgeschriebenen schwerfälligen und zeitraubenden diplomatischen Geschäftsweges sowie die Reorganisation des polizeilichen Fahndungswesens gefordert. 2. Ein erster Meilenstein: der internationale Polizeikongreß in Monaco 1914 Im Rahmen der Bemühungen um eine möglichst weit gespannte Bekämpfung des internationalen Verbrechertums kommt dem sog. Ersten Internationalen Polizeikongreß in Monaco, der vom 14. bis 18. April 1914 abgehalten wurde, und an dem Polizeibeamte und Juristen aus 14 Ländern teilnahmen, eine herausragende Bedeutung zu. Leider fehlten die Länder englischer Sprache ganz und Deutschland sowie Österreich-Ungarn waren offiziell nicht vertreten, so daß der Kongreß nach der Art seiner Beschickung nicht im eigentlichen Sinne als international bezeichnet werden kann.
Auf der Tagesordnung des Kongresses standen folgende Hauptthemen: 1. Geeignete Maßnahmen zur Beschleunigung und Vereinfachung der Fahndung nach Rechtsbrechern; 2. Verbesserung der erkennungsdienstlichen Methoden; 3. Einrichtung einer internationalen zentralen Aktenhaltung; 4. Vereinheitlichung des Auslieferungsverfahrens. Mehrere wichtige Fragen wie die Ausarbeitung einer signaletischen Karte und eines einheitlichen Registrierverfahrens, die Einrichtung eines internationalen Zentralstrafregisters und die Erarbeitung einer Definition zum Begriff „internationaler Verbrecher des gemeinen Rechts" wurden zur Behandlung an eine noch zu bildende internationale Unterkommission verwiesen. Ferner wurde von den Kongreßteilnehmern die Einberufung des nächsten Kongresses für August 1916 nach Bukarest sowie — im Fall der Zustimmung durch die zuständigen Regierungen — die Schaffung eines gemeinsamen Organs, das die Zentralisierung von Auskünften zum Ziele haben und die Polizeibehörden aller Länder unterstützen sollte, beschlossen. Durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges wurde die Realisierung dieser Vorhaben jedoch verhindert. C. Neue Initiativen: 1919—1928 1. Ein bedeutender Vorkämpfer:
M. C. van Ηouten
Es ist ein besonders zu veranschlagendes Verdienst im Rahmen der Bemühungen um eine erfolgreiche, gezielte Verbrechensbekämpfung, daß M. C. van Houten, Kaptein der Koninklijke Mar£chauss£e der Niederlande, bereits unmittelbar nach Beendigung des ersten Weltkrieges den Gedanken der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit wieder aufgegriffen und in einem vertraulichen Brief vom 10.12.1919 an die bedeutendsten Polizeibehörden der Welt die Einberufung einer internationalen Konferenz angeregt hat. In seinem Schreiben wies van Houten auf den allgemein registrierbaren Kriminalitätsanstieg als Folge der Kriegs- und Nachkriegszeit, die daraus ableitbare Interessengemeinschaft der verschiedenen Staaten in der Bekämpfung dieser Kriminalität sowie auf die erheblichen Hindernisse hin, die für die Ermittlungen und Maßnahmen der Kriminalpolizei als Folge der bestehenden Staatsgrenzen gegeben seien. Nach seinen Vorstellungen sollten in allen Ländern nationale Polizeizentralen errichtet werden, die unmittelbar gegenseitig zusammenarbeiten und zugleich das Bindeglied zu einer internationalen Zentrale darstellen sollten. Die Aufgaben der internationalen Zentrale umriß van Houten wie folgt: „a. Das Studieren der kriminalistischen Verhältnisse in allen Ländern, b. Dem Völkerbundsrat Vorschläge machen zu internationalen Vereinbarungen, welche der Vor-
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beugung des Verbrechens und der Bekämpfung des Verbrechertums dienen sollen, so daß dadurch zu gleicher Zeit eine gute Zusammenarbeit gefördert wird. c. Das Abgeben von Gutachten an den Völkerbundsrat hinsichtlich solcher Regelungen, die nicht direkt in den Kriminalpolizeidienst einschlagen, bei welchen jedoch wohl auf diesen Dienst Rücksicht genommen werden soll. d. Das Sammeln von Einzelheiten, Signalements, Lichtbildern, Strafblättern usw. von internationalen Verbrechern, e. Beistand leisten bei der Ermittlung von Verbrechern, die vermutlich das Land, wo sie ein Verbrechen begangen, verlassen haben. Zu diesem Zweck wäre von der internationalen Zentrale ein periodisches internationales Fahndungsblatt herauszugeben, f. Auskunftserteilung an Polizeibehörden entweder aus den gesammelten Einzelheiten oder durch anderweitige Erkundigung." Leider war den Bemühungen van Houtens kein Erfolg beschieden. Zweifellos kamen seine vorzüglichen Vorschläge zu früh, um von einer noch mit den Nachkriegswirren beschäftigten, problemüberladenen Welt bereits gehört und befolgt zu werden. 2. Bemühungen in den USA 1922 initiierte Richard E. Enright, Police Commissioner von New York, einen Polizeikongreß in New York, der sich im wesentlichen mit folgenden Punkten befaßte: Standardisierung der Polizeisysteme und polizeilichen Arbeitsmethoden, engere Zusammenarbeit der verschiedenen Polizeibehörden, Einrichtung eines Zentralpolizeibüros für den Kriminalnachrichtendienst und eines gegenseitigen Nachrichtenaustauschdienstes über Verbrecher sowie Einführung einer zweckmäßigen Kontrollmethode bezüglich des reisenden internationalen Verbrechertums. Da Delegierte aus dem außeramerikanischen Bereich an der Veranstaltung nicht teilnahmen, blieb der für den internationalen Bereich angestrebte Erfolg versagt. Nicht erfolgreicher in dieser Hinsicht verlief auch ein 1923 nach New York einberufener internationaler Polizeikongreß, der sich hauptsächlich mit den gleichen Problembereichen befaßte.
D. Der entscheidende Durchbruch: Die Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) 1928 Nach sorgfältiger Vorbereitung und Fühlungnahme mit einer Reihe nahmhafter Polizeifachleute des In- und Auslandes sowie deren Regierungen gelang es der tatkräftigen Initiative des Wiener Polizeipräsidenten Hans Schober im September 1923 einen Internationalen Polizeikongreß nach Wien einzuberufen. Auch wenn England auf dem Kongreß fehlte, so kann er doch als
international bezeichnet werden, da neben Österreich mit seinen Bundesländern 16 europäische Staaten (Dänemark, Deutschland, Fiume, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Lettland, die Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden, die Schweiz, die Tschechoslowakei, die Türkei und Ungarn) sowie 4 außereuropäische Staaten (Ägypten, die USA, China und Japan) vertreten waren. Auf der Tagesordnung des Kongresses, der in der Zeit vom 3. bis 7. 9.1923 abgehalten wurde, standen folgende Hauptberatungspunkte: 1. Organisierung des zwischenstaatlichen Verkehrs der Sicherheitspolizeibehörden (unmittelbare Amtshilfe). 2. Energische Bekämpfung des internationalen Verbrechertums. 3. Auslieferung der verhafteten Verbrecher und Durchführung der Ausweisung abgestrafter Verbrecher. 4. Einführung einer internationalen Verkehrssprache der Polizei. 5. Bekämpfung des Alkoholismus, Morphinismus und Kokainismus innerhalb des polizeilichen Wirkungskreises. 6. Kriminalwissenschaft. Verständlicherweise konnte der Kongreß die sehr weit gespannten Themen und die ihnen innewohnenden vielschichtigen Problemstellungen nicht erschöpfend behandeln, sondern weitgehend nur substantiell erörtern. Überragende Bedeutung kam im Gesamtrahmen dem Referat „Schaffung eines internationalen Polizeibüros" zu. Die wichtigsten Ergebnisse des Kongresses aber waren die am 7. 9.1923 gefaßten Beschlüsse, den Kongreß unter der Bezeichnung „Internationale kriminalpolizeiliche Kommission" in eine permanente Institution umzuwandeln und der neugegründeten Kommission eine Geschäftsordnung zu geben. Im einzelnen lauteten die Beschlüsse zu diesen beiden Punkten wie folgt: „In Erkenntnis dessen, daß der Kampf gegen das internationale Verbrechertum nur durch ein engeres Zusammenwirken der Sicherheitsbehörden aller Kulturstaaten mit Erfolg durchgeführt werden kann, beschließt der im September 1923 in Wien tagende internationale Polizeikongreß die Errichtung einer „Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission", welche ihre Tätigkeit sofort aufzunehmen hat. Er beschließt weiter für diese Kommission folgende Geschäftsordnung: § 1. Zweck der Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission ist: a) Die Verbürgung und Ausgestaltung gegenseitiger weitestgehender Amtshilfe aller Sicherheitsbehörden im Rahmen der in den einzelnen Staaten bestehenden Gesetze. b) Die Sorge für die Schaffung und Ausgestaltung aller Einrichtungen, welche geeignet sind, den Kampf gegen das gemeine Verbrechertum erfolgreich zu gestalten.
Internationale Verbrechensbekämpfung § 2. Der Sitz der Internationalen Kriminalpolizeiüchen Kommission ist Wien, solange nicht im Plenum eine andere Stadt hierfür bestimmt wird. § 3. Die Mitglieder der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission werden von dem in Wien derzeit tagenden Polizeikongreß in der Weise gewählt, daß jeder Staat durch mindestens einen Abgeordneten vertreten ist. Die Regierungen der Staaten, die auf dem derzeit tagenden Polizeikongreß nicht vertreten sind, sind einzuladen, ihre Vertreter zu benennen. Weiter können als Mitglieder alle jene Bewerber zugelassen werden, von denen eine wirksame Förderung der Zwecke der Kommission zu erwarten ist. Über die Aufnahme solcher Bewerber entscheiden die Mitglieder der Kommission mit Stimmenmehrheit. § 4. Die Leitung und Vertretung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission obliegt jenen Funktionären, denen die Leitung des jeweils letzten Kongresses bzw. der letzten Tagung der Kommission als Präsident bzw. stellvertretendem Präsidenten übertragen war. § 5. Dem Präsidenten ist zur Besorgung der Geschäfte ein Verwaltungsausschuß beizugeben, der aus fünf Referenten und einem Sekretär besteht. Zwei dieser Referenten sowie der Sekretär sind den Sicherheitsbehörden jenes Staates zu entnehmen, dem der Präsident der Kommission angehört. Der Verwaltungsausschuß wird von den Mitgliedern der Kommission aus ihrer Mitte mit Stimmenmehrheit gewählt und übt seine Funktion jeweils bis zur nächsten Tagung der Kommission aus. Dem Präsidenten steht das Recht zu, wenn es die Besorgung der Geschäfte erfordert, fallweise aus besonderen Anlässen noch weitere Referenten zu bestellen. § 6. Für den geschäftlichen Verkehr mit dem Präsidenten wählen die Mitglieder der Kommission staatenweise je einen Korrespondenten, soweit sie nicht ohnehin durch einen Referenten im Verwaltungsausschuß vertreten sind. § 7. Anträge der Mitglieder über Gegenstände, die in den Wirkungskreis der Kommission fallen, sind schriftlich an den Präsidenten zu leiten, der sie nötigenfalls den Referenten zur Bearbeitung zuweist. Die Beschlußfassung über solche Anträge erfolgt im Plenum der Kommission. § 8. Der Präsident beruft die Kommission alljährlich zu einer ordentlichen Sitzung ein. Zugleich mit der schriftlichen Einladung ist die in Aussicht genommene Tagesordnung bekanntzugeben. § 9. Zur Beschlußfassung ist die Anwesenheit mindestens der Hälfte der Mitglieder sowie die Stimmenmehrheit erforderlich.
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Der Präsident hat das Recht, eine Beschlußfassung in dringenden Fällen, wenn die Versammlung nicht tagt, auch im schriftlichen Wege zu veranlassen. § 10. Änderungen und Ergänzungen dieser Geschäftsordnung beschließt die Internationale kriminalpolizeiliche Kommission mit Stimmenmehrheit. Zum Präsidenten der neugegründeten I K P K wurde der Hauptinitiator Dr. Schober gewählt. Der Kongreß faßte weiterhin den Beschluß, einen internationalen Code für den telegrafischen Verkehr der Polizeibehörden einzuführen und ersuchte seine Mitglieder, sich bei der Korrespondenz — unbeschadet des Grundsatzes, Rechtshilfeersuchen in jeder Sprache zu erledigen — möglichst der deutschen, englischen, französischen oder italienischen Sprache zu bedienen. Gleichzeitig wurde der unmittelbare zwischenstaatliche Verkehr der Sicherheitsbehörden zum Zwecke der gegenseitigen Amtshilfe als unerläßlich erklärt. Schließlich wurde — neben zahlreichen anderen, im einzelnen hier nicht darstellbaren Beschlüssen und Erklärungen — die österreichische Polizeirundschau „öffentliche Sicherheit" unter dem Titel „Internationale öffentliche Sicherheit" zum zentralen Publikationsorgan der Kommission bestimmt. Es leuchtet ein, daß alle Beschlüsse des Kongresses, wie alle Nachfolgebeschlüsse auch, für die von den Mitgliedern vertretenen Staaten nicht verbindlichen Charakter, sondern ausschließlich den von Empfehlungen, Anregungen und Vorschlägen an die Adressen der zuständigen Regierungen haben konnten. Dennoch steht außer Frage, daß die von dem Kongreß gefaßten Beschlüsse einen ganz entscheidenden Schritt auf dem praktischen Wege zu einer wirkungsvollen internationalen Bekämpfung des Verbrechertums darstellten.
E. Stabilisierung, Ausbau und Rückschlag: 1924-1946 1. Der Entwicklungsgang bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges In den Folgejahren wurde bei der Bundespolizeidirektion in Wien als Zentralstelle der I K P K ein Internationales Büro errichtet, dessen wesentlichste Aufgaben darin bestanden, Nachrichten über Persönlichkeit und Betätigung internationaler Verbrecher auf Grund der von den Zentralsammelsteilen der Mitgliedsstaaten ergangenen Meldungen zusammenzufassen und an diese zu vermitteln, die Fahndung nach ins Ausland geflüchteten Personen zu bewirken, die Herkunft widerrechtlich entfremdeten Gutes aus dem Aus-
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Internationale Verbrechensbekämpfung
land oder im Ausland festzustellen sowie zur Ermittlung im Ausland befindlicher vermißter Personen und zur Feststellung unbekannter, aus dem Ausland stammender Täter beizutragen. Um diese Aufgaben sachgerecht wahrnehmen zu können, wurden schrittweise ein kriminalpolizeilicher Nachrichtendienst über internationale Verbrecher, ein Nachrichtendienst über besonders gefährliche Verbrecherkategorien aus dem internationalen Bereich, ein Personen- und ein Sachfahndungsdienst sowie eine Sammlung über Vermißte und unbekannte tote Personen geschaffen. Ferner wurden eine Zentralstelle zur Bekämpfung von Geldzeichen-, Scheck- und Wertpapierbetrug, eine Zentralstelle zur Bekämpfung von Paßfälschungen sowie eine Zentralstelle für die internationale Versendung von Fingerabdrücken und Lichtbildern internationaler Verbrecher eingerichtet. Als sinnvolle und bedeutsame Ergänzung der genannten Einrichtungen und Sammlungen wurde schließlich eine Sammlung über internationale Ausländer angelegt. Entwickelt und gefördert wurden weiterhin die Arbeiten auf dem Gebiete des internationalen Polizeifunkwesens, für das von der IKPK ein besonderer Funkfachausschuß eingesetzt worden war. So konnte u. a. eine von diesem Ausschuß für den internationalen Polizeifunkdienst entworfene Funkordnung mit Wirkung vom 1.1.1932 in Kraft gesetzt werden. Insgesamt waren die der Gründung folgenden Jahre von einem stetigen Auf- und Ausbau der Kommission gekennzeichnet; eine Entwicklung, die bis 1938 fortdauerte und bis dahin auch in normalen Bahnen verlief. Bis zu diesem Zeitpunkt waren der Kommission bereits 34, meist europäische Staaten beigetreten. 2. Im Schatten des Krieges: Machtmißbrauch durch den NS-Staat
Es gehört zu der besonderen Tragik der Kommission, daß es primär aus ihrer Gründungs- und Entwicklungsgeschichte erklärbare eigene Beschlüsse waren, die es — unvorhersehbar für die an dem damaligen Geschehen Beteiligten — den Machthabern des NS-Regimes nach der Angliederung Österreichs im Jahre 1938 erleichterten, die Organisation durch Manipulation und Willkür dem eigenen sicherheitspolizeilichen Apparat zu unterstellen und im weiteren Verlauf nahezu vollständig einzugliedern. Bereits seit ihrer Gründung im Jahre 1923 war die Kommission an ihrem Sitz in Wien in dem Gebäude der Bundes-Polizeidirektion etabliert. Nach der Pensionierung des Präsidenten der Bundes-Polizeidirektion, Dr. Brendl, der zugleich zweiter Präsident der IKPK war, faßten die Kommissionsmitglieder 1934 den Beschluß, daß die Funktion des Präsidenten der I K P K von dem jeweils amtierenden Polizeipräsidenten in Wien ausgeübt werden sollte. 1937
wurde dieser Beschluß auf der ordentlichen Versammlung in London bekräftigt und in seiner Wirkung bis 1942 verlängert. Diese Personalunion und die dadurch bewirkte enge Bindung der I K P K an die Geschicke der österreichischen Polizei sollten sich indessen schon sehr bald nach dem sog. Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich als äußerst nachteilig und im Endergebnis verhängnisvoll erweisen. Zu spät setzten Bemühungen innerhalb der Kommission ein, deren Bestand im Geiste ihrer Gründer durch Verlegung des Kommissionssitzes in ein neutrales Land zu erhalten. Einflußnahme und Geschehensbeeinflussung seitens der Machthaber des NSRegimes waren bereits so stark angewachsen, daß eine Schicksalswende nicht mehr durchgesetzt werden konnte. Wie die nur unvollständig erhalten gebliebenen Unterlagen aus jenen Kriegsjahren erkennen lassen, war die I K P K praktisch seit 1940 ihrer satzungsmäßigen Bestimmung und damit ihrer echten Funktionen beraubt, nachdem der Chef der deutschen Sicherheitspolizei, Heydrich, durch willkürliche Auslegung ergangener Kommissionsbeschlüsse und Manipulation zum Präsidenten der I K P K ernannt worden war. De facto war die Kommission in der Endphase dieser Entwicklung fest in das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin integriert, das während der letzten Jahre bis zum Zusammenbruch im Jahre 1945 die Aufgaben und Funktionen der I K P K ausgeübt hat. Der Kommission selbst — seit 1942 in Berlin-Wannsee untergebracht ·— wurde nur noch ein Schein- bzw. Schattendasein zugestanden. Wesentlichster Beweggrund für die Bestrebungen, die I K P K in nationale Abhängigkeit zu bringen, war zweifellos die Absicht der NS-Machthaber, eine weltweit aufgebaute, neutrale Organisation in die Hände zu bekommen, um sie fallweise — trotz eingeengter und abgebrochener Beziehungen während des Krieges — als brauchbares Instrument bei der Verfolgung ihrer maßlosen Zielsetzungen verwenden zu können. Unterlagen belegen jedenfalls, daß die Absicht bestand, die IKPK über das Kriegsende hinaus zu beherrschen. Das Ende des zweiten Weltkrieges bedeutete jedoch zugleich auch das faktische Erlöschen der Kommission. F. Die Neugründung der Kommission und Jahre des Fortschritts: 1946—1955 Ähnliche Umstände und Zeitereignisse, wie sie 1923 zu der Gründung der I K P K in Wien geführt hatten, bewirkten auch 1946 die Neugründung der Kommission. Mit der Rückkehr des Friedens lebten die internationalen Beziehungen wieder auf und ermöglichten Kontakte, Initiativen und erste Ansätze einer internationalen polizeilichen Zusammenarbeit. Ein erheblicher Kriminalitätsanstieg seit Kriegsende und untrügliche Anzeichen für ein
Internationale Verbrechensbekämpfung Anwachsen des Berufsverbrechertums veranlaßten schließlich 1946 die belgischen Behörden dazu, auf Anregung von F. E. Louwage, General Inspektor der belgischen Polizei, eine Konferenz nach Brüssel einzuberufen, um die I K P K neu erstehen zu lassen. So versammelten sich hier vom 6. bis 9. Juni 1946 namhafte Kriminalisten aus insgesamt 17 Ländern zu einer Konferenz. An diesem 15. Kongreß seit der Gründung der I K P K in Wien nahmen Vertreter aus 14 europäischen Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Jugoslawien, die Niederlande, Luxemburg, Norwegen, Polen, Portugal, die Schweiz, Schweden, die Tschechoslowakei, die Türkei und das Vereinigte Königreich) sowie aus 3 außereuropäischen Staaten (Ägypten, Chile und der Iran) teil. Die Konferenz nahm neue Statuten an und bestimmte Paris zum Sitz der Organisation. Gleichzeitig wurde ein fünfköpfiges Exekutivkomitee gewählt, das sich aus dem Präsidenten (F. E. Louwage, Belgien), dem Generalsekretär (L. Ducloux, Frankreich) und 3 Generalberichterstattern zusammensetzte. Deutschland war auf der Brüsseler Konferenz nicht vertreten, da weder an die west-, noch an die ostdeutschen Länder eine Einladung ergangen war. So wickelte sich in der Folgezeit (praktisch bis zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1952 in die Organisation) die Zusammenarbeit der westdeutschen Kriminalpolizei mit der I K P K inoffiziell über die drei Zonen-Büros mit Sitz in Hamburg, Baden-Baden und Stuttgart ab, während die drei westdeutschen Zonen selbst auf den Tagungen der Kommission durch je einen Beauftragten der westlichen Besatzungsmächte vertreten waren. Als erster Deutscher nahm nach dem zweiten Weltkrieg der Präsident des kurz vorher errichteten Bundeskriminalamtes, Dr. Max Hagemann, an der 20. Tagung der I K P K in Lissabon als Beobachter teil. Schließlich erfolgte in einer für die Bundesrepublik Deutschland historischen Stunde auf der 21. Tagung in Stockholm ihre Aufnahme als vollberechtigtes Mitglied in die Kommission. Offiziell wurde die Bundesrepublik Deutschland hierbei von dem neuen Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Dr. Jess, sowie dem späteren Präsidenten des Bundeskriminalamtes (1965—1971) und der IKPO-Interpol (1968—1972) Paul Dickkopf vertreten. Der Entwicklungsgang der Organisation in dem ersten Jahrzehnt nach ihrer Neugründung war gekennzeichnet durch die Realisierung wichtiger Reformen, den raschen, aber dennoch soliden Aufund Ausbau in institutioneller und organisatorischer Hinsicht, die Knüpfung weltweiter Kontakte und somit insgesamt die erhebliche Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Effektivität und ihres Einflusses auf internationalem Parkett. Aus der Fülle bedeutender Ereignisse sollen beispielhaft nur einige wenige herausgegriffen werden.
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Bereits auf der 17. Versammlung der I K P K 1948 in Prag war eine für die Aufgabenabgrenzung der Kommission wesentliche Änderung der Satzung vollzogen worden, durch die insbesondere alle Angelegenheiten politischen, religiösen, oder rassischen Charakters aus dem Tätigkeitsbereich der Organisation ausgeschlossen wurden. Erneut war ferner die Forderung bekräftigt worden, zur zentralen Wahrnehmung aller Angelegenheiten der I K P K und im Interesse einer effektiven internationalen Zusammenarbeit in jedem Mitgliedsland ein nationales Zentralbüro der Organisation einzurichten. Eine beachtliche Anerkennung und Aufwertung erfuhr die I K P K im Jahre 1949 auf internationaler Ebene durch die Verleihung des Beraterstatus für zwischenstaatliche Organisationen seitens der Vereinten Nationen. Im gleichen Jahre nahm die Kommission die Regelung über die internationalen Funkverbindungen an und 1952 errichtete sie in Lagny-Pomponne eine zentrale Funksendeanlage. Während sich 1946 zum Festakt der Neugründung in Brüssel noch Vertreter aus lediglich 17 verschiedenen Staaten der Erde versammelt hatten, konnte die I K P K 1955 bereits den Beitritt ihres 50. Mitglieds verzeichnen.
VI. DIE REALISIERUNG EINER IDEE: DIE IKPO-INTERPOL A. Konstituierung der IKPO-Interpol 1956 Bereits 1955 auf der 24. Tagung in Istanbul hatte es die Delegierten Versammlung „in der Erwägung, daß die I K P K seit längeren Jahren einen bedeutenden Platz im internationalen Leben einnimmt, und daß die zur Zeit in Kraft befindlichen Statuten den jetzigen Anforderungen nicht mehr entsprechen, für notwendig erachtet, der Organisation eine bessere Rechtsgrundlage zu geben". Ein beauftragter Unterausschuß erarbeitete in enger Zusammenarbeit mit dem Generalsekretariat der Kommission die neuen Grundsätze, auf denen die künftigen Statuten aufgebaut werden sollten. Auf der 25. Jubiläumstagung der Kommission, abgehalten am 7. 6.1956 am Gründungsort in Wien, wurden die 50 Artikel umfassenden neuen Statuten mit überwältigender Mehrheit (36 Ja-Stimmen, keine Gegenstimme und eine Enthaltung) angenommen. Für die Geschäftsordnung fand sich eine einstimmige Mehrheit. So markiert die Jubiläumstagung in Wien eine wichtige Zäsur in der Entwicklungsgeschichte der Kommission, die sich gemäß Artikel 1 der Statuten nunmehr „Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation-Interpol" nannte. Die Bezeichnung „Interpol" (gebildet aus der Zusammenziehung des englischen Ausdrucks „international police") war von dem Generalsekretariat in Paris bereits 1946 als Telegrammadresse gewählt worden. Ge-
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maß einem Antrag Italiens aus dem Jahre 1947 verwendeten die NZB's der Kommission unter Hinzusetzen des jeweiligen Namens der Stadt, in welcher sie ihren Sitz hatten, bereits ab diesem Zeitpunkt die gleiche Abkürzung als Adresse im telegraphischen und postalischen Verkehr. Da sich in der Folgezeit diese Kurzbezeichnung auch in der breiten Öffentlichkeit eingebürgert hatte, wurde sie angesichts dieser Popularität in den Statuten von 1956 der Organisationsbezeichnung hinzugefügt. Aus der Tatsache, daß die Generalversammlung den größten Teil der Zeit für die Erörterung der Neufassung der Statuten und der neuen Geschäftsordnung aufwendete, ergibt sich die außergewöhnliche Bedeutung der Tagung und der beiden Papiere. Vor allem die Beform der Statuten war unerläßlich, geworden um der Organisation eine adäquate Anpassung an die aktuellen praktischen Erfordernisse bzw. die gesteigerten Leistungserwartungen zu ermöglichen, ihre finanziellen Bedürfnisse und Belange einer tragfähigen Lösung zuzuführen und ihre Ziele klar zu formulieren. Nach Billigung der Statuten durch die Vollversammlung der Organisation wurden sie den Außenministerien aller damaligen Mitgliedsländer zur Prüfung vorgelegt, wobei den Adressaten für die Aufkündigung der Vertragsklauseln eine Frist von 6 Monaten eingeräumt wurde. Von diesem Aufkündigungsrecht hat jedoch keiner dieser Staaten Gebrauch gemacht.
zur Geschäftsordnung beschlossen. Bereits 1964 war mit den Arbeiten zur Errichtung eines Gebäudes an dem Sitz der Organisation in Paris SaintCloud begonnen worden, die 1966 abgeschlossen werden konnten. Mit der anschließenden Unterbringung des Generalsekretariats in dem neuen Gebäude hatte die Organisation einen entscheidenden Schritt in organisatorischer und verwaltungsmäßiger Hinsicht vollziehen können. Durch die erfolgte Verlegung der zentralen Funkstation auf ein von der Organisation erworbenes Grundstück in der Nähe von Paris (rund 6 Jahre später) wurde schließlich auch ein für die Funktionstüchtigkeit der IKPO-Interpol auf nachrichtentechnischem Gebiet bedeutsames Projekt realisiert. Im Jahre 1967 konnte die IKPO-Interpol den Beitritt ihres 100. Mitglieds auch als Beweis des weltweiten Wirkungskreises registrieren. Weitere Bestätigungsbeweise für den ihr zugemessenen Stellenwert in den zwischenstaatlichen Beziehungen erfuhr die Organisation durch die 1971 erfolgte Unterzeichnung eines ihren bisherigen Beraterstatus aufwertenden „Sonderabkommens über Zusammenarbeit" mit den Vereinten Nationen sowie durch den Abschluß eines Abkommens mit der französischen Regierung über den Sitz der Organisation in Paris. C. Die IKPO-Interpol heute 1. Allgemeiner
B. Meilensteine der Entwicklung Bereits in den Jahren 1957/1958 erfolgten tiefgreifende Reformen im Bereich des Finanzwesens. So wurden die bis dahin von den Mitgliedsländern aufgebrachten Mitgliederbeiträge durch ein modernes, sozialgerechtes System von Haushaltseinheiten abgelöst, an Hand dessen die jeweiligen Beitragsleistungen mit Zustimmung des betroffenen Landes festgelegt werden. 1959 konnten die internationalen Beziehungen durch den Abschluß eines Abkommens über die Zusammenarbeit mit dem Europarat ausgedehnt und vertieft werden. Erstmalig tagte 1960 eine Generalversammlung der IKPO-Interpol außerhalb des europäischen Kontinents in Washington und demonstrierte damit die weltweit orientierte Grundposition der Organisation. Gleiche Gesichtspunkte können für die Abhaltung der Ersten Regionalkonferenz in Monrovia/Afrika im Jahre 1962 gelten. Im Rahmen der Rationalisierungs- und Effektivierungsbemühungen erfolgte 1961 die Verlegung der seit 1946 in Den Haag angesiedelten Dienststelle für „Nachahmungen und Fälschungen" zum Generalsekretariat der IKPO-Interpol nach Paris. Im Interesse einer konzentrierteren und erfolgreicheren Zusammenarbeit wurde 1965 die Annahme des Berichts über die Doktrin der NZB's als Anhang
Rahmen
Zur Zeit (Stand 1. 4.1975) gehören der IKPOInterpol folgende 120 Staaten als Mitglieder an: Äthiopien Algerien Antillen (Niederl.) Argentinien Australien Bahamas Bahrain Belgien Birma Bolivien Brasilien Burundi Chile China (Rep.) Costa Rica Dänemark Dahome Deutschland ( B R ) Dominikanische Rep. Ecuador Elfenbeinküste El Salvador Fidschi Finnland Frankreich
Gabun Ghana Griechenland Großbritannien Guatemala Guinea Guyana Haiti Honduras Indien Indonesien Irak Iran Irland Island Israel Italien Jamaika Japan Jordanien Jugoslawien Kamerun Kanada Katar Kenia
Internationale Verbrechensbekämpfung Khmer-Republik Kolumbien Kongo (Brazzaville) Korea (Rep.) Kuba Kuwait Laos Lesotho Libanon Liberia Libyen Liechtenstein Luxemburg Madagaskar Malawi Malaysia Mali Malta Marokko Mauretanien Mauritius Mexiko Monaco Nauru Nepal Neuseeland Nicaragua Niederlande Niger Nigeria Norwegen Oberwolta Österreich Oman Pakistan
Panama Peru Philippinen Portugal Ruanda Rumänien Sambia Saudi-Arabien Schweden Schweiz Senegal Sierra Leone Singapur Spanien Sri Lanka Sudan Surinam Syrien Tansania Thailand Togo Trinidad u. Tobago Tschad Türkei Tunesien Uganda Uruguay Venezuela Vereinigte Arab. Rep. Vereinte Arab. Emirate USA Vietnam (Rep.) Zaire Zentralafr. Rep. Zypern
Ihrer geographischen Zuordnung nach sind somit 36 afrikanische, 27 amerikanische, 33 asiatisch-ozeanische und 24 europäische Staaten Mitglied; eine Auffächerung, die den globalen Rahmen der Organisation belegt. Als beitrittswilliger Staat hat die Demokratische Republik Somalia bereits ein entsprechendes Gesuch an die Organisation gerichtet. 2. Rechtsstatus,
Ziele
Die IKPO-Interpol ist eine Organisation sui generis. Sie besitzt nicht den Status eines Völkerrechtssubjekts, der ζ. B. Voraussetzung wäre, um mit der Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag i.S. des Art. 59 Abs. 2. GG abschließen zu können, sie ist jedoch durch ein Abkommen mit dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (UN) über eine engere Zusammenarbeit zwischen den Organen beider Organisationen als zwischenstaatliche Organisation anerkannt worden. Ferner hat die französiche Regierung 1972 mit ihr ein Abkommen über den Sitz der Organisation unterzeichnet, das ihre & HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
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Rechtsstellung in Frankreich, d. h. in jenem Land, in dem sich die Einrichtungen und Liegenschaften der Organisation befinden, festlegt und das vom französischen Parlament als Gesetz verabschiedet wurde. Andererseits sind eindeutig (Art. 4 der IP-Statuten) Mitglieder der IKPO-Interpol nicht die vertretenen Nationen in ihrer Eigenschaft als souveräne Staaten, sondern vielmehr jene Polizeibehörden der verschiedenen Länder, die der Organisation mit Genehmigung ihrer zuständigen Regierungsstellen angehören. Die Ziele der Organisation sind gemäß Art. 2 der am 13. 6.1956 in Wien beschlossenen und seither in unveränderter Form erhalten gebliebenen Statuten: „a. eine möglichst umfassende gegenseitige Unterstützung aller Kriminalpolizeibehörden im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze und im Geiste der Erklärung der Menschenrechte sicherzustellen und weiterzuentwickeln sowie b. alle Einrichtungen, die zur Verhütung und Bekämpfung der gemeinen Verbrechen und Vergehen wirksam beitragen können, zu schaffen und auszubauen." 3. Prinzipien
der
Zusammenarbeit
Nach dem Geist und Selbstverständnis der Gründer, Mitglieder und Organvertreter sowie den als Ausfluß dieser Grundhaltung in der Geschäftsordnung, den Statuten sowie zahlreichen Resolutionen niedergelegten Grundsätzen ist die internationale Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation an folgende wichtige Prinzipien gebunden: a. Wahrung der nationalen Souveränität und Vorrang des nationalen Rechts Dies bedeutet, daß alle Handlungen oder Maßnahmen von Polizeiorganen, die auf Ersuchen oder im Interesse eines anderen Staates im Inland durchgeführt werden, materiell und formell mit den in dem ersuchten Staat geltenden Rechtsvorschriften in Einklang stehen müssen und in Konkurrenz- oder Zweifelsfällen das nationale Recht Vorrang genießt. b) Zusammenarbeit nur in Angelegenheiten des gemeinen Rechts Gemäß Art. 3 der Statuten ist der Organisation jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters strengstens untersagt. Im Einzelfall liegt bei gestellten Ersuchen die Entscheidung über Stattgabe oder Ablehnung stets im pflichtgemäßen Ermessen der ersuchten Stelle. In Grenzfällen kommt bei der Beurteilung des Ersuchens das Prinzip der nationalen Souveränität zum Tragen, d. h. daß sich jede Behörde unter Berücksichtigung der für ihr Land
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Internationale Verbrechensbekämpfung
geltenden Vorschriften frei entscheiden kann, ob sie mitarbeiten oder ihre Mitwirkung versagen will. c) Universalcharakter der Zusammenarbeit Angesichts der ausgeprägten Mobilität internationaler Rechtsbrecher und der staatsgrenzenüberschreitenden Aktivitäten internationaler krimineller Banden und Organisationen, ist die Zusammenarbeit der Organisation — ungeachtet geographischer, gesellschaftlicher oder sprachlicher Unterschiedlichkeiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten — auf einen ungehinderten intensiven bi- und multilateralen Dienstverkehr zwischen den Mitgliedern ausgerichtet. Für das optimal flexible Kommunikations- und Koordinierungssystem der IKPO-Interpol werden die Mechanismen der Zusammenarbeit daher ausschließlich von den Notwendigkeiten der Verbrechensbekämpfung auf internationaler Ebene bestimmt. d) Funktionaler Charakter der Zusammenarbeit Die Organisation versteht den Begriff „Kriminalpolizei" funktional, nicht institutional, d. h. daß sich alle Behörden, die an der Verbrechensbekämpfung und Strafverfolgung im weitesten Sinne mitwirken, die Vorzüge und Einrichtungen der Organisation und der von ihr praktizierten internationalen Zusammenarbeit zunutze machen können. e) ökonomische Geschäftsabwicklung Die aus der internationalen Zusammenarbeit resultierende Problemvielfalt in der Geschäftsabwicklung wird innerhalb der Organisation durch die Verschmelzung zweier tragender Grundsätze gelöst: Rationalisierung durch Bindung an sachdienlich-rationelle Kooperations- und Kommunikationsmodalitäten, (um den Gefahren der Schwerfälligkeit und der Unübersichtlichkeit zu begegnen) und Flexibilität durch freie Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb des gesteckten Rahmens. Aus der Vielzahl der Regelungen sei jene der Amtssprachen herausgegriffen, wonach Französisch, Englisch und Spanisch als offizielle Sprachen anerkannt sind, ohne daß es dadurch einzelnen Mitgliedern verwehrt wäre, sich im Wechselverkehr einer anderen Sprache zu bedienen. 4. Organisationsstruktur, Führungsorgane Fachdienststellen
und
Beratung und Entscheidung der grundlegenden Fragen der Organisation liegen bei der aus Vertretern der Mitgliedsländer zusammengesetzten Generalversammlung und dem Exekutivkomitee. a) Generalversammlung (Art. 6—14 der Statuten)
Sie ist die höchste Institution der Organisation und tritt einmal jährlich zusammen. Sie ist ein unabhängiges Organ und setzt sich aus offiziellen Delegierten der Mitgliedsländer zusammen. Die Anwesenheit von Beobachtern internationaler Organisationen an den Generalversammlungen ist gestattet. b) Exekutivkomitee (Art. 14—24 der Statuten) Es setzt sich aus 13 Personen (dem Präsidenten, 3 Vizepräsidenten und 9 Delegierten) zusammen, die in geheimer Abstimmung von der Generalversammlung gewählt werden. Es tritt grundsätzlich zweimal jährlich zusammen und überwacht vor allem die Durchführung der Beschlüsse der Generalversammlung. Den Vorsitz bei den Tagungen der Generalversammlung und des Exekutivkomitees führt der von der Generalversammlung auf 4 Jahre gewählte Präsident (seit 1972 W. L. Higgit, Kanada). Als ständige Fachdienststellen, die die Entscheidungen der Generalversammlung und des Exekutivkomitees auszuführen und die polizeiliche Zusammenarbeit in der täglichen Praxis zu gewährleisten haben, wurden das Generalsekretariat und die Nationalen Zentralbüros eingerichtet. c) Generalsekretariat und Generalsekretär (Art. 25—30 der Statuten) Das Generalsekretariat ist das ständige, mit der Verwaltung und der praktischen Arbeit betraute Organ, das den Betrieb der Organisation gewährleistet. Es wird für die internationale Gemeinschaft und in ihrem Namen tätig, untersteht somit keiner Regierung. Das Generalsekretariat wird von dem Generalsekretär der Organisation geleitet, der von der Generalversammlung auf fünf Jahre (Mandatserneuerung möglich) gewählt wird (seit 1963 Jean N6pote, Frankreich). Der Generalsekretär ist für die Ausführung der Aufgaben des Generalsekretariats verantwortlich und soll gemäß Geschäftsordnung aus der polizeilichen Laufbahn (Berufs-Polizeibeamter) hervorgehen. d) Die Nationalen Zentralbüros — NZB's — (Art. 31, 32 der Statuten) Sie bilden in tatsächlicher und technischer Hinsicht die Voraussetzungen für eine sinnvolle und erfolgreiche gegenseitige Zusammenarbeit und stellen mithin ein wichtiges Instrument im Gesamtrahmen der Organisation dar. Sie haben die vielfältigen Aufgaben von ständigen Verbindungsund Zentralstellen für alle Fragen kriminalpolizeilicher Verbrechensbekämpfung zu erfüllen und hierbei insbesondere die aktive Beteiligung ihres Landes an der internationalen Zusammenarbeit sicherzustellen sowie auf die Einhaltung der in den Statuten festgelegten Grundsätze zu achten (siehe VII.B.3.).
Internationale Verbrechensbekämpfung ΥΠ. INSTITUTIONEN UND INSTRUMENTARIUM A. Einleitende Ausführungen Obwohl bereits kurz vor der Jahrhundertwende die wachsende Gefährlichkeit der international begangenen Kriminalität von der Fachwelt klar erkannt und ihre systematische Bekämpfung immer vordringlicher gefordert worden war, haben sich die einzelnen Staaten aus eitlem Souveränitätsdenken, starrem Festhalten an historisch überkommenen Rechtsordnungssystemen bzw. ideologisch bedingten Fixierungen nicht dazu durchringen können, eine mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattete globale Organisation oder Behörde zu schaffen und mit der Bekämpfung des internationalen Verbrechertums zu betreuen. Geschichte und Entwicklung der internationalen Verbrechensbekämpfung finden ihren entscheidenden Gegenpol in der IKPO-Interpol, die es verstanden hat, sich seit ihrer Gründung im Jahre 1923 eine uneingeschränkte und unbestrittene Schlüsselposition in diesem Bereich zu sichern und bis heute zu erhalten. Sofern im Rahmen internationaler Verbrechensbekämpfung die Frage nach einschlägigen Einrichtungen gestellt wird, verbleibt als Antwort ausschließlich der Hinweis auf die Institution der IKPO-Interpol und das von ihr geschaffene aufgabenspezifische Instrumentarium (siehe IV.). An der Leistungsfähigkeit und der Arbeitsqualität der IKPO-Interpol ist wiederholt und in unterschiedlichster Form Kritik geübt worden. Die Kritik an der IKPO-Interpol läßt sich im wesentlichen in zwei Hauptpunkten zusammenfassen: die Organisation arbeite zu langsam und/ oder zu ineffektiv, d. h. sei außerstande, Ersuchen in sachgebotenem Umfang zu erledigen. Tatsächlich sind die wenigsten Ersuchen so geartet, daß sie ausschließlich von der IKPOInterpol selbst beantwortet, d. h. eigenverantwortlich erledigt werden können. Die weitaus größte Zahl der Ersuchen wird von ihr lediglich weitergeleitet bzw. vermittelt, ohne daß sie laut Satzung oder Statuten eine Handhabe hätte, (durchsetzbare) Weisungen zu erteilen. In Zweifelsoder Konfliktfällen haben vielmehr die nationalen Rechtsvorschriften Vorrang vor den Organisationsstatuten (siehe IV. D.). Alle Bemühungen der Organisation um eine Verbesserung dieser Rechtsposition sind bislang an dem starren Festhalten der zuständigen Regierungen an der Maxime absoluter Staatssouveränität auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung gescheitert. Somit kann die IKPO-Interpol im Einzelfall zwar die Erledigung eines Ersuchens anmahnen oder um Ergänzung eines mangelhaft bearbeiteten Ersuchens bitten — sie ist indessen mangels rechtlicher Handhaben nicht in der Lage, solche Erledigungen 5·
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zu erzwingen. Erst recht gelten diese Einschränkungen für den Bereich der zwischenstaatlichen Rechtshilfe, der sich — im Ausland wie im Inland — überwiegend unter Aufsicht der Justizbehörden abwickelt. Somit vermag die IKPOInterpol im Endergebnis nicht schneller und/oder besser zu arbeiten, als dies ihr die Statuten der Organisation und die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zugestehen und es können ihr darüber hinaus keine Schwächen oder Mängel angelastet werden, die sie letztlich selbst nicht zu vertreten hat, weil sie sich bei näherer Betrachtung als Folgen mangelnden guten Willens oder Unvermögens anderer Stellen erweisen. Bedenkt man schließlich die ideologische Zerrissenheit in dieser Welt sowie die oft kaum entwirrbare Verfilzung von Kriminalität mit Ideologie und politischem Fanatismus, muß es vielmehr erstaunen, welcher Leistungen diese Organisation nach wie vor fähig ist. B. Die IKPO-Interpol 1. Institution
und
Aufgabenspektrum
a) Generalsekretär und Generalsekretariat Zentrale und Schaltstelle der internationalen Verbrechensbekämpfung ist das vom Generalsekretär der Organisation geleitete Generalsekretariat. Es führt die Beschlüsse der Generalversammlung und des Exekutivkomitees durch und besorgt die Geschäftsführung der Organisation. Der Generalsekretär ist ihr erster und höchster Beamter und zugleich verantwortlich für die Haushaltsführung sowie das Personal. Ihm obliegt insbesondere auch die Leitung und die Fachaufsicht innerhalb der Fachdienststellen des Generalsekretariats. b) Aktivitäten im zwischenstaatlichen Bereich Seit ihrer Erstgründung 1923 hat die Organisation im Dienste der internationalen Verbrechensbekämpfung ein vielseitiges Aktivitätspensum erfüllt. So hat sie bereits sehr früh mit dem damaligen Völkerbund in Verbindung gestanden und als Beobachter ζ. B. an den Arbeiten zur Abfassung des Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20. 4.1929 teilgenommen. In den Jahren 1934 und 1935 verfolgte sie die Tätigkeiten der Rauschgiftkommission und beteiligte sich an den Arbeiten, die zum Abkommen über die Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels vom 26. 6.1936 führten. 1948 nahm die IKPO-Interpol Kontakt zu den Vereinten Nationen auf und entfaltete hier Aktivitäten insbesondere in den Bereichen Rauschgift, Defense sociale, Verbrechensverhütung und Menschenrechte. Über ihren Arbeitsanteil am Kampf gegen den Drogenmißbrauch legen mehrere Entschließungen der zuständigen Gremien der Vereinten Nationen (so
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der Suchtstoffkommission 1955 und der Konferenz zum sog. „Einheitsübereinkommen" von 1961) Zeugnis ab, in denen die Mitwirkung der IKPOInterpol ausdrücklich erwähnt und gewürdigt wird. Darüber hinaus steht die Organisation bereits seit mehreren Jahren mit weiteren zwischenstaatlichen Einrichtungen in permanenter Verbindung, wie ζ. B. mit dem Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens, um die Zusammenarbeit zwischen Zoll und Polizei im Kampf gegen den internationalen illegalen Rauschgifthandel und -Schmuggel zu fördern. Zu dem Europarat in Straßburg bestehen seit 1959 — nach Abschluß eines Abkommens über Zusammenarbeit — Beziehungen, wobei sich vor allem zu dem Europäischen Ausschuß für Verbrechensprobleme, dessen Hauptaufgabe die Harmonisierung der Strafgesetzgebungen der Mitgliedsländer ist, enge und fruchtbare Kontakte entfalteten. Als sichtbarer Erfolg dieser Zusammenarbeit ist unter anderem die Tatsache zu werten, daß die Tätigkeit der IKPO-Interpol in mehreren europäischen Abkommen Erwähnung findet, teilweise sogar — wie in Art. 15 des Europäischen RechtshiÖeübereinkommens und in Art. 16 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens — eine unmittelbare Mitwirkung der Organisation beim Verfahrensvollzug der Abkommen erreicht werden konnte. c) Aufgabenvollzug im Rahmen der Organisation Beim Vollzug der kaum überschaubaren Aufgabenvielfalt lassen sich im wesentlichen folgende Schwerpunktbereiche unterscheiden: — Bereitstellung schneller, zuverlässiger Nachrichtenverbindungen an alle Organisationsmitglieder bei möglichst weitreichender Überwindung bestehender Sprachbarrieren; — Auf- und Ausbau eines internationalen Bedürfnissen entsprechenden systematisierten Nachrichtensammel- und -auswertungsdienstes innerhalb des Organisationsrahmens; — Unterhaltung eines zuverlässig und reaktionsschnell arbeitenden Fahndungs- und Ausschreibungsdienstes zur Bekämpfung internationaler Rechtsbrecher; — Förderung und Koordinierung gegenseitiger Unterstützungsmaßnahmen im Bereich der sog. technischen Hilfe, durch Entsendung von Beamten, technischen Spezialisten usw. — Förderung der internationalen Zusammenarbeit durch eigenständige oder vermittelnde Tätigkeiten in den Bereichen, Forschung, Ausund Fortbildung, Ausrüstung, Einsatz von Personal und Hilfsmitteln usw.
2.
Instrumentarium
a) Nachrichtenverbindungen Für eine Organisation, die die erfolgreiche internationale Verbrechensbekämpfung zu ihrem Leitziel erklärt hat, sind autonome, schnelle, zuverlässige, weitmaschig geknüpfte und dennoch unkompliziert zu handhabende Nachrichtenverbindungen unverzichtbar, da der durch hohe Mobilität gekennzeichnete internationale Rechtsbrecher nur auf diese Weise erfolgreich „rund um die Uhr" und weltweit verfolgt, überwacht, zuverlässig und beschleunigt identifiziert, überführt und schließlich festgenommen werden kann. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich die IKPOInterpol seit ihrer Erstgründung darum bemüht, ein eigenes, ausschließlich den Zwecken und Bedürfnissen der internationalen Verbrechensbekämpfung dienendes Funkverbindungsnetz zu schaffen. Nach jahrelangen Bemühungen konnte 1929 die erste Polizeifunkverbindung hergestellt und das Funknetz in der Folgezeit bis heute schließlich in vorbildlicher Weise ausgebaut werden. Zur Zeit verfügen bereits 50 der 120 Mitgliedsstaaten über eine eigene Funkstation. Insgesamt zeichnen dieses Nachrichtensystem hohe Wirtschaftlichkeit, Unabhängigkeit von äußeren Störfaktoren, ständige Betriebsbereitschaft sowie sach- und erfolgsorientierte Steuerbarkeit aus. In technischer Hinsicht stellt die Einrichtung ein Netz beliebig auswählbarer Direkt- und Querverbindungen zwischen dem Generalsekretariat der Organisation als Zentrale und den einzelnen in den Mitgliedsstaaten angeschlossenen NZB's dar. Gleichzeitig trägt sie wichtigen und vielfachen kriminaltaktischen Bedürfnissen Rechnung, da sie den Systemteilnehmem die Möglichkeiten eröffnet, Ersuchen sowohl geographisch — an Hand eines vorgegebenen Zonenschlüssels — als auch in zeitlicher Hinsicht — durch Berücksichtigung des für das Ermittlungsgeschehen wichtigen Zeitfaktors — nach festgelegten Dringlichkeitsstufen abzusetzen bzw. zu steuern. So kann fallweise ein äußerst dringendes Festnahmeersuchen nach einem flüchtigen Rechtsbrecher, dessen Aufenthalt in den nordischen Staaten anzunehmen ist, schlagartig an die dafür zuständigen NZB's Interpol Kopenhagen, Oslo, Stockholm und Helsinki gerichtet, eine wichtige Zielfahndung unmittelbar an Interpol Ankara abgesetzt oder ein allgemeines Auskunftsersuchen an alle Mitgliedsstaaten in Südamerika übermittelt werden. Dabei bietet das im gesamten Interpol-Funknetz als Übertragungssystem zur Anwendung gelangende Mörse-System weitere, gerade für den polizeilichen Verkehr bedeutende Vorteile. So können bei der Durchgabe der Meldungen Unterbrechungen zum Zweck der Wiederholung oder Bestätigung des übermittelten Textes vorgenommen sowie Sprachschwierigkeiten bzw. daraus resultierende Mißverständnisse beim
Internationale Verbrechensbekämpfung Übermittlungsvorgang ausgeschlossen werden. Ein beachtlicher Rationalisierungseffekt wird schließlich durch die Anwendung eines InterpolAbkürzungsschlüssels erreicht, der aus jeweils fünfstelligen Kodewörtern besteht, die häufig Satzteile oder mehrere Sätze beinhalten. So steht ζ. B. das Kodewort „GIVLA" für folgenden Text: „Übermitteln Sie alle zweckdienlichen Auskünfte, die Sie über diese Person besitzen oder einholen können. Fügen Sie (falls erforderlich) ihr Lichtbild und ihre Fingerabdrücke bei, teilen Sie gegebenenfalls ihre Vorgänge (Verurteilungen) mit und, falls sie gesucht wird, lassen Sie wissen, ob die Auslieferung beantragt (werden) wird und unter welchen Voraussetzungen." Obgleich das Funknetz nach wie vor das Kernstück der Nachrichtenverbindungen im Bereich der IKPO-Interpol darstellt, hat es die Organisation nicht versäumt, daneben auch den Auf- und Ausbau des Funkfernschreibverkehrs in dem gebotenen Umfang voranzutreiben, um die ständig anwachsende Flut im Nachrichtenverkehr zügig bewältigen zu können. Dieses das Funknetz ergänzende, moderne und schnelle Nachrichtenübermittlungssystem dient vor allem der Entlastung des Funkverkehrs zwischen dem Generalsekretariat und jenen europäischen Mitgliedsstaaten, die das stärkste Nachrichtenvolumen aufweisen. Zur Zeit verkehren das Generalsekretariat und 7 Organisationsmitglieder — darunter auch Interpol Wiesbaden — auf diesem Wege miteinander. Nach langjährigen Untersuchungen konnte die Organisation ferner zwei weitere, äußerst wichtige technische Übermittlungsprobleme lösen; die Bildübertragung von Fingerabdrücken sowie jene von Lichtbildern, so daß heute — neben Interpol Wiesbaden —· bereits 10 weitere Mitgliedstaaten in der Lage sind, mit der Zentralstation des Generalsekretariats in Paris oder untereinander Fingerabdrücke und Lichtbilder internationaler Rechtsbrecher in Minutenschnelle auszutauschen. b) Kriminalpolizeiliche Sammlungen und Auswertungssysteme Der Verlust der alten Sammlungen und Karteien durch die Einwirkungen des zweiten Weltkrieges und die Notwendigkeit, Mittel und Methoden der internationalen Verbrechensbekämpfung den zwischenzeitlich gewandelten Erfordernissen anzupassen, führten nach 1946 zu einem Neuaufbau der Nachrichtensammlungen und Einrichtungen nach modernsten Einsichten und Erkenntnissen. Hierbei orientierte man sich allerdings unverändert an den beiden klassischen Hauptaufgabenstellungen der Organisation als internationale Institution zur Verbrechensbekämpfung,
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nämlich: 1. der Forderung nach Einrichtung und Unterhaltung eines umfassend organisierten und fachgerecht strukturierten Auskunftsdienstes mittels stets Zugriffs- bzw. abrufbereiten Datenmaterials über internationale Rechtsbrecher sowie 2. der Forderung nach Aufbau einer spezifischen, funktionstüchtigen Auswertungszentrale zur Identifizierung internationaler Rechtsbrecher einschließlich der Möglichkeit zur Herstellung von personen- bzw. sachbezogenen Zusammenhängen und Übereinstimmungen, insbesondere durch das Erkennen und Inbeziehungssetzen charakteristischer Arbeitsweisen dieser Straftäter. In struktureller Hinsicht lassen sich die Unterlagen des Generalsekretariats in die Aktenhaltung, die erkennungsdienstlichen Sammlungen sowie die von einzelnen Fachdienststellen geführten Spezialistenkarteien gliedern. aa) Die Aktenhaltung Sie umfaßt gegenwärtig rund 260000 Akten mit den verschiedenartigsten Unterlagen über eine bestimmte Person oder einen bestimmten Sachverhalt. Grundsätzlich werden hier drei Arten von Akten unterschieden: 1. allgemeiner Schriftverkehr der NZB's, an dem das Generalsekretariat nicht direkt mitgewirkt hat, 2. Personenakten, d. h. Unterlagen über eine bestimmte Person, deren Inhalt in einer sog. „Synthese" über die internationale Verbrecherlaufbahn der erfaßten Person zusammengefaßt wird und 3. sog. Fallakten, die jeweils alle einschlägigen Schriftstücke über einen Tatkomplex enthalten, in den mehrere Personen verwickelt sind. Die weit über tausend täglich beim Generalsekretariat eingehenden Schriftstücke unterschiedlichster Art (Funksprüche, Telegramme, Fernschreiben, Schreiben, Ermittlungsberichte, Fingerabdruckblätter, Lichtbilder, Spezialmeldungen zur Rauschgift- oder Falschgeldkriminalität, Sachverständigengutachten usw.) über Rechtsbrecher und deren Aktivitäten werden zunächst an Hand verschiedener Schlüsseldaten in den einschlägigen Karteien überprüft und dann den einzelnen Fachdienststellen zur Bearbeitung zugeleitet. Im wesentlichen erstrecken sich die Überprüfungen auf folgende Einzeldaten bzw. Datengruppen: 1. Personaldaten wie Name, Vornamen, Aliasnamen, Spitz- bzw. Kosenamen, wobei Namenskarteien mit rund 1,5 Millionen Hinweiskarten in alphabetischer und phonetischer Ablagefolge auswertungstechnisch zur Verfügung stehen; 2. Daten von Ausweispapieren sowie Kenn- bzw. Registriernummern bestimmter zu Straftaten in Beziehung setzbarer Gegenstände (wie Pässe, Kraftfahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge, Waffen) zwecks Abklärung ihrer Herkunft oder der Eigentumsverhältnisse; 3. Angaben über international relevante Straftaten hinsichtlich des verletzten Rechtsgutes, des Tatorts, der Tatzeit usw.
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Die in den beiden letzten Gruppen erwähnten sach- und deliktsbezogenen Daten werden in mehreren Sonderkarteien erfaßt, die über 400000 Einzelkarten enthalten. Sie ermöglichen — über den Sachnachweis im Einzelfall hinaus — die Identifizierung von häufig ihre Personalien wechselnden Rechtsbrechern, die Herstellung von Täter- oder Tatzusammenhängen auf Grund gleicher oder gleichgelagerter Arbeitsweisen sowie die übersichtliche Zusammenführung von Tathergängen, die innerhalb einer bestimmten Deliktsgruppe und innerhalb eines bestimmten Zeitraumes registriert wurden. bb) Die erkennungsdienstlichen Sammlungen Sie bestehen aus 1. der Zehnfingerabdrucksammlung mit über 100000 nach der GaltonHenry-Methode klassifizierten Abdruckblättern internationaler Rechtsbrecher, 2. der Einzelfingerabdrucksammlung mit rund 4600 nach dem Müller-System klassifizierten Abdruckblättern internationaler Straftäter, die erfahrungsgemäß Fingerabdruckspuren am Tatort hinterlassen sowie 3. der Lichtbildsammlung, die der Ergänzung der Zehnfingerabdrucksammlung dient und knapp 6000 Lichtbilder enthält. Sie soll die Identifizierung solcher internationaler Rechtsbrecher erleichtern, von denen keine Fingerabdrücke, sondern lediglich ein Lichtbild vorhanden ist. Die Ablage der Lichtbilder erfolgt in erster Linie nach den unterschiedlichen „modi operandi" sowie bestimmten Beschreibungsmerkmalen. cc) Die sog. Spezialistenkarteien In ihnen werden alle bedeutenden Deliktsbereiche mit ihren typischen oder außergewöhnlichen Besonderheiten erfaßt. So befinden sich bei den Fachdienststellen Sammlungen über Trickdiebe, Taschendiebe, Wechselfallendiebe, Scheckund Reisescheckbetrüger, Abonnementsbetrüger, rückfällige Zechpreller, Rauschgifthändler, Falschmünzer, falsche Polizeibeamte, Ärzte oder Geistliche usw., die nach dem Lebensalter der Rechtsbrecher geordnet sind und jeweils eine vollständige Personenbeschreibung mit Lichtbild, Hinweise auf den modus operandi sowie auffällige äußere Merkmale enthalten. Für bestimmte Deliktsbereiche (wie ζ. B. die Rauschgift- und die Falschgeldkriminalität) bestehen an feste Verfahrensregeln gebundene Meldedienste. Ferner wurde bei der auf die Bekämpfung der Falschmünzerei spezialisierten Fachdienststelle ein Labor für die technische Untersuchung von Fälschungen einschließlich Zahlungsmitteln und Reiseschecks eingerichtet. Hier wurden in der Zeit von 1946 bis heute (1975) weit über 6000 Fälschungstypen erfaßt, die die Währungen aus rund 90 verschiedenen Staaten betreffen.
Alle Sammlungen und Karteien des Generalsekretariats bilden eine wesentliche Grundlage für die erfolgreiche internationale Zusammenarbeit der Polizei. Sie ermöglichen nicht nur die Feststellung der von einem Einzeltäter in verschiedenen Ländern begangenen Straftaten, sondern darüber hinaus auch den Nachweis gruppen- bzw. bandenmäßig sowie organisiert begangener Kriminalität. Die Speisung der Karteien erfolgt im Regelfall durch Auswertung der dem Generalsekretariat seitens der NZB's zugehenden Meldungen und Mitteilungen. Das Generalsekretariat seinerseits versorgt die NZB's in einem permanenten Informationsfluß mit allen für sie wichtigen und nützlichen Nachrichten, Erkenntnissen und Auswertungsergebnissen und erteilt jederzeit auf Anfrage sachdienliche Auskünfte. c) Die internationalen Ausschreibungen Sie werden von dem Generalsekretariat auf Ersuchen eines NZB's oder auf Grund eigener Initiative vorgenommen, wobei grundsätzlich nach dem den Anlaß gebenden Ausschreibungsgegenstand, d. h. nach „Ausschreibungen von Personen" und „Ausschreibungen von Gegenständen" unterschieden wird. Für die Untergliederung und arbeitstechnische Behandlung dieser beiden Hauptkategorien gelten weitere, rechtlichen Erfordernissen und praktischen Bedürfnissen Rechnung tragende Kriterien. Die eine Ausschreibung bewirkenden Anlässe entsprechen in ihrer Vielfalt dem breiten Spektrum polizeilicher bzw. strafverfolgender Notwendigkeiten (Fahndung nach einer Person mit dem Ziel ihrer Aufenthaltsermittlung oder ihrer Festnahme, Personenidentifizierung, Beschaffung von Auskünften über eine Person, Unterrichtung über die von einem Rechtsbrecher entfaltete Aktivität mit dem Ziel seiner Überwachung, Fahndung nach gestohlenen Gegenständen usw.). Die außergewöhnliche Bedeutung dieser Ausschreibungen für die internationale Verbrechensbekämpfung beruht auf der Gegebenheit zweier erfolgsbedingender, in der Institution der IKPOInterpol erfüllter Grundvoraussetzungen: der Existenz einer grundsätzlich global angelegten und gleicherweise von ihren Mitgliedern mit Daten, Informationen und Unterlagen gespeisten Organisation, die allein zur Zusammenführung und Erstellung derartiger Ausschreibungen in der Lage sein kann sowie der Möglichkeit, sich über eine derartige Institution den für ein sachgerechtes und effizientes Agieren unverzichtbaren Aktionsradius zu eröffnen und das verfügbare Instrumentarium wirkungsvoll einzusetzen. Ein Musterfall mag diesen Spielraum illustrieren: bei Bedarf wäre das Generalsekretariat der IKPOInterpol jederzeit in der Lage, eigenständig und eigeninitiativ — aber auch auf Ersuchen eines NZB — an Hand seiner fachspezifisch breit-
Internationale Verbrechensbekämpfung gefächerten Materialsammlungen und Unterlagen sowie dank der ihm verfügbaren technischen Hilfsmittel eine Präventivausschreibung über einen international auftretenden, gefährlichen Rechtsbrecher vorzunehmen und zu diesem Zweck den Ausschreibungsvorgang durch Rückgriff auf — beispielsweise — in den USA aufgenommene Lichtbilder, in Österreich gesicherte Fingerabdrücke, mehrere in außereuropäischen Staaten gesammelte sowie sonstige, in den Spezialistenkarteien der Organisation enthaltene Erkenntnisse über die kriminellen Aktivitäten der Bezugsperson mosaikartig zusammenzufügen sowie das Ergebnis im Wege der Veröffentlichung allen Mitgliedern unverzüglich zugängig zu machen. aa) Internationale Ausschreibungen von Personen Sie werden nach dem Prinzip der „Einzelausschreibung mit Personenbeschreibung" erstellt, wobei auf jedem Einzelblatt ein Höchstmaß an Daten, Merkmalen, Abbildungen und Zusatzinformationen eingebracht wird. Der Umfang dieses Identifizierungsmaterials deckt alle Ansprüche ab, die aus polizeilicher Sicht erfüllt sein müssen, um eine Person als zu ihrer Personenfeststellung hinreichend beschrieben zu bezeichnen: Wiedergabe der vollständigen Personalien, des Berufs, der Wohnung und der Staatsangehörigkeit, der Vorstrafen sowie Erkenntnisse allgemeiner Art, der Personenbeschreibung, des Lichtbildes und der Fingerabdrücke. Ferner enthält das Ausschreibungsblatt einen Vermerk über den Grund der Ausschreibung und einen Hinweis auf die Maßnahmen, die von der Polizei im Falle ihres Antreffens zu ergreifen sind. Die Ausschreibungen werden in den Arbeitssprachen der Organisation (Englisch, Französisch, Spanisch) herausgegeben. Soweit sie den Bereich der Bundesrepublik Deutschland betreffen, werden sie bei der Interpolstelle des Bundeskriminalamtes Wiesbaden aus Gründen der Arbeitserleichterung ins Deutsche übersetzt. Die Ausschreibungen gehen allen Mitgliedern der Organisation zu und werden von dem Generalsekretariat durch Ergänzungen und Berichtigungen laufend auf dem neuesten Stand gehalten. Zur Zeit kennt das Generalsekretariat vier in ihrer Zielrichtung und daher inhaltlich wie äußerlich (Emblem der IKPO-Interpol in der rechten oberen Ecke des Ausschreibungsblattes auf jeweils wechselndem Farbuntergrund) unterschiedlich geartete Ausschreibungen: — Ausschreibungen zur Festnahme (sog. „Rotecken") Sie zielen auf die Festnahme der ausgeschriebenen Person zum Zweck ihrer späteren Auslieferung an jenes Land, in dem sich die ersuchende Behörde befindet. Über die Normdaten hinaus
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enthält jede dieser Ausschreibungen präzise Daten und Auskünfte über den von dem Richter ausgestellten Haftbefehl sowie die Frage, aus welchen Ländern die Auslieferung betrieben werden wird. Die Ausschreibungen sind somit Ausgangspunkt und Grundlage für die spätere Einleitung des förmlichen Auslieferungsverfahrens durch die ersuchende Justizbehörde und werden weitgehend als Urkunde anerkannt, auf Grund derer die vorläufige Festnahme des Gesuchten zulässig ist. — Ausschreibungen zur Einholung von Auskünften (sog. „Blauecken") Mittels dieser Ausschreibungen werden Auskünfte unterschiedlichster Art über die beschriebene Person eingeholt. So kann die Ausschreibung die Ermittlung des Aufenthalts einer Person, die ihre Familie mit unbekanntem Ziel verlassen hat, die Überprüfung der Identität einer Person, die Einholung umfassender Erkenntnisse oder die Übermittlung der Verurteilungen über einen Rechtsbrecher usw. betreffen. Regelmäßig werden mit diesen Ersuchen keine polizeilichen Zwangsmaßnahmen erbeten, sie dienen vielmehr meist der Vorbereitung solcher oder anderer Maßnahmen, der Vervollständigung der polizeilichen Unterlagen oder der Förderung eines laufenden Strafverfahrens. — Präventivausschreibungen (sog. „Grünecken") Sie dienen der Effektivierung der vorbeugenden Bekämpfung internationaler Rechtsbrecher, insbesondere gefährlicher Rückfalltäter. Sie informieren die NZB's über das bekanntgewordene Auftreten dieser Rechtsbrecher, verbinden damit gleichzeitig aber auch eine Warnung vor deren künftigen Aktivitäten. Dabei lenken sie die Aufmerksamkeit der Polizeidienststellen auf die ausgeschriebenen Personen, ohne daß diese zum Zeitpunkt der Ausschreibung bereits gesucht oder besondere Nachforschungen über ihren Verbleib erbeten würden. Als besonders nützlich erweisen sich die Auswertungsergebnisse dieser Ausschreibungen im Zusammenhang mit Alibiüberprüfungen Tatverdächtiger und Routineüberprüfungen im Bereich des kriminalpolizeilichen Meldedienstes. — Ausschreibungen zur Identifizierung kannter Toter (sog. „Schwarzecken")
unbe-
Sie bezwecken die Identifizierung von Leichen, die ohne brauchbare Hinweise auf ihre Identität aufgefunden wurden oder sollen der Feststellung von Personen dienen, die verstorben bzw. getötet worden sind und sich vorher falscher Personalien bedient haben. bb) Internationale Ausschreibungen von genständen
Ge-
Hier kommen vor allem Ausschreibungen gestohlener, aus anderen Gründen von den Straf-
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verfolgungsorganen gesuchter sowie unter verdachterregenden Umständen aufgefundener Gegenstände in Betracht. Voraussetzung für eine Ausschreibung ist jedoch, daß die gesuchten Gegenstände hinreichend charakteristische Merkmale besitzen oder daß Lichtbilder, Zeichnungen oder sonstige Darstellungen von ihnen existieren, die eine Identifizierung an Hand polizeilicher Karteien und Unterlagen oder durch Fahndungsaktivitäten der Polizei im internationalen Bereich aussichtsreich erscheinen lassen. d) Allgemeiner Erkenntnis- und Erfahrungsaustausch Über den allgemeinen Schriftverkehr und Nachrichtenaustausch hinaus werden von dem Generalsekretariat der IKPO-Interpol aus den verschiedensten Anlässen und mit unterschiedlichsten Zielrichtungen Berichte, Übersichten oder zusammenfassende Darstellungen bezüglich einzelner Fachbereiche erstellt, soweit ein besonderes polizeiliches Interesse oder Bedürfnis hierfür erkennbar ist. So wurden von dem Generalsekretariat in der zurückliegenden Zeit Broschüren, Rundschreiben sowie Zusammenfassungen über bestimmte Deliktsbereiche und/oder besonders spezialisierte Rechtsbrecher wie Taschendiebe, verschiedene Kategorien von Betrügern und illegale Rauschgifthändler bzw. Schmuggler von Rauschgift veröffentlicht. Daneben richtet es — sei es aus eigener Initiative oder auf Ersuchen einzelner NZB's — Anfragen an die Organisationsmitglieder, um bestimmte aktuelle oder bedeutende Probleme zu untersuchen und übermittelt diesen die eingehenden Resultate in Form zusammenfassender Berichte und Übersichten. Die in diesem Rahmen behandelten Fragen können sich auf alle Gebiete polizeilicher Tätigkeit und Zusammenarbeit erstrecken. e) Sonderveröffentlichungen aa) Die „Internationale Kriminalpolizeiliche Revue" (IKPR) Bereits unmittelbar nach der Gründung der Organisation im Jahre 1923 war der Wunsch der Mitglieder spürbar geworden, über ein eigenes offizielles Publikationsorgan zu verfügen, um auch auf diesem Wege praktische Bedürfnisse der Verbrechensbekämpfung abdecken und zugleich einen regen Gedanken-, Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen den Mitgliedsstaaten pflegen zu können. Diesen Zwecken diente die seit 1924 von der Zentralstelle der IKK in Wien herausgegebene Zeitschrift „Internationale öffentliche Sicherheit". An ihre Stelle trat nach der Neugründung der Organisation im Jahre 1946 die von dem Generalsekretariat inhaltlich neu gestaltete und den gewandelten Bedürfnissen angepaßte „Internationale Kriminalpolizeiliche Revue"
(IKPR). In ihr wird — im Unterschied zu ihrer Vorgängerin — auf Veröffentlichungen zur aktuellen Verbrechensbekämpfung verzichtet, dafür jedoch — in weitreichenderem Umfang als vor 1946 — den fachbezogenen Publikationen breiter Raum gegeben. Sie erscheint jährlich in 10 Nummern in Englisch, Französisch und Spanisch und steht nur einem nach fachlichen Kriterien ausgewählten Bezieherkreis offen. Zu ihren Verfassern zählen hervorragende und international anerkannte Persönlichkeiten, die hier Gelegenheit zur Vorstellung ihrer Arbeiten finden. bb) Halbjahres Verzeichnisse ausgewählter Artikel Sie werden von dem Generalsekretariat seit 1949 herausgegeben und stellen inhaltlich die Titelauswahl von Artikeln dar, die etwa 250 dem Generalsekretariat zugehenden Fachzeitschriften aus rund 45 Ländern entnommen werden. Die Titel der Artikel werden jeweils in der von dem Verfasser gebrauchten Sprache zitiert und durch eine — in französischer und englischer Sprache gefaßte — kurze Inhaltsangabe, die Angabe der Seitenzahl, den Namen des Verfassers sowie die Fundstelle ergänzt. Zur Orientierungserleichterung sind die Verzeichnisse nach Sachgebieten in rund 60 Rubriken unterteilt. Jedes Halbjahresverzeichnis katalogisiert rund 1200 Titel. Insgesamt ermöglichen die Verzeichnisse einen hervorragenden Einblick in die auf internationaler Ebene in Fachzeitschriften vorgenommenen Veröffentlichungen. Sie stellen ferner ein wichtiges Hilfsmittel zur Beschaffung von Fachliteratur dar, da interessierte Leser die jeweils beim Generalsekretariat verwahrten Mikrofilm-Negative der Artikel anfordern können. Durch Einordnung aller in den Verzeichnissen enthaltenen Zielinformationen in die Sachkartei der Forschungsabteilung des Generalsekretariats finden diese ihre unmittelbare Verwertung auch in diesem für die internationale Verbrechensbekämpfung wichtigen Fachbereich. cc) Die internationale Kriminalstatistik Die Bedeutung der Kriminalstatistik als Hilfsmittel für eine wirksame Verbrechensbekämpfung veranlaßte das Generalsekretariat bereits sehr früh, sich um die Erstellung einer internationalen Kriminalstatistik und die Lösung aller damit zusammenhängenden Frage- und Problemstellungen zu bemühen. Es gelang jedoch erst 1954, nach langwierigen und intensiven Vorarbeiten (die vor allem Fragen der Begriffsumschreibung, Regelungen in formativer Hinsicht sowie Koordinierungsprobleme zwischen den Mitgliedern der Organisation betrafen) die erste Sammlung internationaler Kriminalstatistiken der Jahre 1950 bis 1952 mit Auskünften aus 32 Staaten herauszugeben. In der Folgezeit wurden bis 1974 insgesamt 10 Samm-
Internationale Verbrechensbekämpfung lungen bzw. Übersichten veröffentlicht, von denen die letzte die Jahre 1969 und 1970 mit Auskünften aus 78 Staaten umfaßt. Im einzelnen vermitteln die Statistiken Angaben über die Zahl der bei der Polizei bekanntgewordenen Straftaten, die Zahl der polizeilich geklärten Fälle, die Häufigkeitszahl (d. h. den Kriminalitätskoeffizienten auf 100000 Einwohner), die Zahl der Straftäter (jeweils aufgegliedert nach Geschlecht, Erwachsenen und Minderjährigen) sowie die Zahl der Straftäter auf 100000 Einwohner. Angesichts der Vielfalt international geltender Rechtsnormen wurden bislang nur einige große Sammelkategorien von Straftaten des gemeinen Rechts (Tötungsdelikte, Sittlichkeitsdelikte einschl. Notzucht, Diebstahl, Betrug, Falschgelddelikte, Rauschgiftdelikte), soweit diese in allen Mitgliedsstaaten der Organisation als Straftaten gelten, erhoben. Es leuchtet ferner ein, daß dieser notwendigerweise grobe Erfassungsmodus und die in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich gearteten Ermittlungs- und Verfolgungsmöglichkeiten der Polizei keine direkten Zahlenvergleiche oder Schlußfolgerungen qualitativer Art zwischen verschiedenen Ländern zulassen. Aus diesem Grunde beschränkte sich auch das Generalsekretariat bei seinen Veröffentlichungen auf die kommentarlose Wiedergabe der von den Organisationsmitgliedern übermittelten Daten. Zur Zeit sind indessen Bestrebungen im Gange, den Umfang der zu erfassenden Daten erheblich zu erweitern, um über den bisherigen Rahmen hinausgehende spezifische, kriminalistisch relevante Aussagen gewinnen zu können. dd) Die Revue „Contrefaijons et Falsifications" Bereits seit 1923 war die IKPK bemüht, Material für eine umfassende Dokumentation über die Aktivitäten und Arbeitsweisen der Geldfälscher zu sammeln und die Arbeitsergebnisse und Erkenntnisse den Bekämpfungsorganen zugänglich zu machen. Die damals unter dem Titel „Contrefai;ons et Falsifications" gegründete Zeitschrift wurde im Verlauf der Jahre neu bearbeitet und effektiver gestaltet und erscheint heute viersprachig in Französisch, Englisch, Spanisch und Deutsch (Titel der deutschen Ausgabe: „Erkennungszeichen echter und gefälschter Bankkonten"). Sie gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste die Beschreibungen der Fälschungen, der zweite die Beschreibungen der echten Zahlungsmittel (Banknoten und Münzen) und Reiseschecks enthält. Die Zeitschrift stellt ein unentbehrliches Hilfsmittel für alle mit der Bekämpfung der Falschgeldkriminalität im weitesten Sinne befaßten Institutionen dar. Diese Bedeutung wird durch die Tatsache unterstrichen, daß zur Zeit bereits rund 10000 Exemplare dieses Werkes zum Versand an Strafverfolgungsbehörden, Bankinstitute und Fachdienststellen gelangen.
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f) Technische Hilfe Hierunter wird seitens der Organisation die unmittelbare oder mittelbare Unterstützung armer oder finanzschwacher Länder mit dem Ziel der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen oder der Effektivierung der internationalen Verbrechensbekämpfung verstanden. Ausgehend von der Überlegung, daß internationale Zusammenarbeit nur dann erfolgreich praktiziert werden kann, wenn sie in allen Mitgliedsländern auf möglichst gleichem Niveau und in annähernd gleicher Weise betrieben wird, hat sich die Organisation bereits seit ihrer Neugründung darum bemüht, vorhandene Mittel zur Realisierung dieser Zielvorstellungen in förderungswürdigen Ländern einzusetzen. Laut Beschluß der Generalversammlung ist seit 1962 jede Unterstützung an folgende Voraussetzungen geknüpft: der Unterstützungsbedürftige muß Mitglied der Organisation sein, die Unterstützungsleistung muß mit den Zielen und der Tätigkeit der Organisation in direktem Zusammenhang stehen und das unterstützte Land muß sich seinerseits angemessen an den Gesamtausgaben des Projektes beteiligen. Gleichzeitig wurden folgende Arten der Hilfeleistung festgelegt: Unterstützung durch Gewährung von Stipendien für Aus- und Fortbildung, durch Bereitstellung von Ausrüstungsmaterial, durch Entsendung von Fachleuten oder Spezialisten aus technischen Bereichen sowie durch Abhaltung von Arbeitstagungen. Wie ein Rückblick zeigt, wurde bisher Hilfe überwiegend in Form von Arbeitstagungen und gewährten Stipendien geleistet. g) Konferenzen und Arbeitstagungen Im Verlauf der Jahre erwies es sich als zweckmäßig, den einer bestimmten geographischen Region zugehörenden Mitgliedern der Organisation periodische Zusammenkünfte zu ermöglichen, um die jeweils für ihren Bereich spezifischen Probleme der Kriminalität und ihrer Bekämpfung zu erörtern und die wechselseitige Zusammenarbeit auszugestalten. Daher wurde seit 1962 die regelmäßige Abhaltung sog. Regionalkonferenzen in das Arbeitsprogramm der Organisation aufgenommen. Von 1962 bis Ende 1974 fanden insgesamt 10 Regionalkonferenzen — davon je 3 in Afrika, Amerika und Europa und 1 in Asien — statt. Unabhängig hiervon wird seit 1963 auf den sog. Kontinentalversammlungen, die jeweils im Rahmen der Tagungen der Generalversammlungen abgehalten werden, den einem Kontinent zugehörenden Mitgliedern der Organisation Gelegenheit geboten, die sie berührenden und interessierenden Fragen zu behandeln. Schließlich hat es sich als notwendig erwiesen, vor allem eng umrissene Fachfragen auf internationaler Ebene, d. h. über geographisch abgegrenzte Bereiche hinaus zu diskutieren, hierzu gewonnene Erfahrungen direkt
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auszutauschen und nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Mit dieser Zielrichtung veranstaltete das Generalsekretariat seit 1959 bis Ende 1974 insgesamt 20 sog. Arbeitstagungen, an denen jeweils zwischen 40 und 120 Delegierte aus den Mitgliedsländern der Organisation teilnahmen. Die hierbei behandelten aktuellen Themen zeigen ein außergewöhnlich breites Spektrum. So wurden je dreimal die Themen Betäubungsmittel, Straßenverkehrsdelikte, Kriminaltechnik, elektronische Datenverarbeitung und Polizeischulleiterprobleme, zweimal das Thema organisiertes Verbrechen und je einmal jenes der Verbrechensverhütung, der Daktyloskopie sowie der internationalen Betrugsdelikte behandelt. Zwar sind die zu den Arbeitstagungen entsandten Ländervertreter nicht befugt, Beschlüsse zu fassen oder verbindliche Regeln der Zusammenarbeit aufzustellen; die Ergebnisse des Meinungs- und Erfahrungsaustausches finden jedoch jeweils in einem sog. Schlußbericht der Arbeitstagung ihren Niederschlag. Inzwischen haben sich Konferenzen und Arbeitstagungen als unverzichtbares Mittel für den unmittelbaren Gedanken- und Erfahrungsaustausch sowie zur Erörterung und vorbereitenden Lösung von Einzel- und Grundsatzproblemen im Rahmen der Organisation erwiesen. h) Forschung und Dokumentation Als Drehscheibe internationaler polizeilicher Aktivitäten ist das Generalsekretariat auch dazu berufen, zentrale Informations- und Forschungsstelle für alle die Polizei betreffenden fachlichen und rechtlichen Fragen sowie Förderungsstelle für den Gedankenaustausch in fachwissenschaftlicher Hinsicht zu sein. Diese Aufgaben werden von einer gesondert beim Generalsekretariat eingerichteten Forschungsabteilung wahrgenommen, die bemüht ist, sich möglichst umfassend über den wissenschaftlichen Stand auf allen einschlägigen Gebieten, die Entwicklung neuer Methoden und Verfahren (insbesondere der Kriminaltechnik) sowie den Erkenntnis- und Erfahrungsstand in den Bereichen Organisation und Ausrüstung von Polizeibehörden zu informieren. Zu diesem Zweck verfolgt sie laufend die Arbeit internationaler Organisationen und Vereinigungen, erfaßt die Arbeiten internationaler Kongresse, beobachtet den internationalen Bücher- und Zeitschriftenmarkt und wertet rund 130 Fachzeitschriften der Welt in den verschiedensten Sprachen aus. Um die gesammelten Informationen abfragebereit zu halten, werden sie in einer umfangreichen Dokumentation mit Sachregister gespeichert. Um die gesammelten Erkenntnisse fortlaufend auch den interessierten Fachkreisen zugänglich zu machen, werden sie in der Rubrik „Bibliographie" der „Internationalen Kriminalpolizeilichen Revue" (siehe VII.B.2.e.aa.) sowie in den von dem Generalsekretariat herausgegebenen „Halbjahresverzeich-
nissen ausgewählter Artikel" (siehe VII.B.2.e.bb.) veröffentlicht. Schließlich verfügt die Forschungsabteilung des Generalsekretariats als unerläßliches Hilfsmittel für ihre Zwecke über eine umfassende und sachgerechte Dokumentation der einschlägigen Literatur. Sie erfolgt durch Auswertung von rund 250 in den verschiedensten Ländern der Welt erscheinenden polizeilichen und juristischen Zeitschriften, das Sammeln von Monographien oder Studien jeglicher Art oder den Erwerb solcher Werke. Die auf dieser Grundlage eingerichtete internationale Bibliothek des Generalsekretariats umfaßt zur Zeit etwa 2 5 0 0 Titel. 3. Die Nationalen Zentralbüros (NZB's) IKPO-Interpol
der
Sie können gleichsam als Vertreter der Organisation innerhalb des jeweiligen nationalen Zuständigkeitsbereiches bezeichnet werden. Ihr Status, ihre Aufgaben und Funktionen ergeben sich aus den Statuten der Organisation sowie den von ihr als verbindlich erklärten Maximen. Die wesentlichen Aussagen zu der Institution der NZB's finden sich in Art. 31 und 32 der InterpolStatuten. Danach ist die Organisation zur Durchsetzung ihrer Ziele auf die ständige und aktive Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen, die sich ihrerseits — in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung ihres Landes — einer sorgfältigen Beteiligung an der Tätigkeit der Organisation zu befleißigen haben. Insbesondere wird jedes Land, um die Zusammenarbeit innerhalb der Organisation sicherzustellen, verpflichtet, eine Dienststelle zu benennen, die für seinen Bereich die Aufgaben des N Z B übernimmt, das seinerseits für die Verbindung 1. zu den verschiedenen Behörden des Landes, 2. zu den als NZB's tätigen Dienststellen anderer Länder und 3. zum Generalsekretariat der Organisation zu sorgen hat. Mitglieder der Organisation sind somit nicht die vertretenen Nationen in ihrer Eigenschaft als souveräne Staaten, sondern vielmehr jene Polizeibehörden der verschiedenen Länder, die der Organisation mit Genehmigung ihrer zuständigen Regierungsstelle angehören. Die Aufgaben der NZB's werden in ihren Grundzügen durch Art. 2 der Interpol-Statuten (siehe VI.C.2.) bestimmt. In institutioneller Hinsicht ist zu berücksichtigen, daß der hier verwendete Begriff der „Kriminalpolizeibehörden" nach dem Selbstverständnis der Organisation funktional zu verstehen ist, d. h. alle mit der Verbrechensbekämpfung betrauten Polizeibehörden umfaßt. Die Zielsetzung der Organisation ist nicht auf die Wahrnehmung bestimmter, abschließend aufgezählter Aufgaben und Aktivitäten ausgerichtet, sondern umfaßt grundsätzlich alle Bereiche polizeilicher Zusammenarbeit im umfassendsten Sinne, einschließlich der zugehörigen Einrichtun-
Internationale Verbrechensbekämpfung gen. Einschränkungen werden der Organisation insoweit auferlegt, als sie in ihre Zielsetzung in Art. 2 nur die Schaffung und den Ausbau von Einrichtungen einbezieht, die zur Verhütung und Bekämpfung der „gemeinen" Straftaten wirksam beitragen können und in Artikel 3 der Statuten „jede Betätigung oder Mitwirkung in Fragen oder Angelegenheiten politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakters strengstens untersagt". Darüber hinaus stehen die Statuten insgesamt unter dem Vorbehalt des nationalen Rechts („im Rahmen der in den einzelnen Ländern geltenden Gesetze . . . " ) . Der Begriff „gemein" in Art. 2 ist im Sinne von „nicht politisch" zu interpretieren; die Kriterien für die Untersagungsgründe nach Art. 3 fordern — legt man den Wortlaut der Statuten zugrunde — eine weite Auslegung ( . . . „jede Betätigung oder Mitwirkung . . . in Fragen oder Angelegenheiten"...). Die Aufnahme des Gebots strikter Neutralität in bestimmten Betätigungsbereichen resultiert aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, der Vielfalt politischer und ideologischer Überzeugungen und festverwurzelter Dogmen, wie sie sich auf internationaler Ebene als unverrückbares Faktum darstellen, im Interesse des Erhalts der vollen Funktionsfähigkeit der Organisation in geeigneter, konfliktneutralisierender Weise Rechnung zu tragen.
4. Das Nationale Zentralbüro (NZB) für die Bundesrepublik Deutschland: Interpol Wiesbaden a) Die Bestimmungen der Interpol-Statuten und die gesetzlichen Vorschriften des BKAG Nach Art. 4 Abs. 2 der Interpol-Statuten sind Aufnahmeersuchen in die Organisation von der zuständigen Regierungsstelle des betreffenden Landes an den Generalsekretär der IKPO-Interpol zu richten, während der Beitritt selbst erst nach Zustimmung durch die Generalversammlung der Organisation mit Zweidrittel-Mehrheit als vollzogen gilt. Von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland wurde der entsprechende Aufnahmeantrag am 31. 5.1952 über die deutsche diplomatische Vertretung in Paris gestellt, seine Annahme von der am 9. 6.1952 in Stockholm tagenden 21. Generalversammlung der IKPO-Interpol mit der erforderlichen Stimmenmehrheit bestätigt. Zwar ist das Bundeskriminalamt de jure erst seit der Verabschiedung des BKAG vom 29. 6. 1973 NZB der IKPO-Interpol für die Bundesrepublik Deutschland; de facto hat es diese Aufgabe jedoch bereits seit seiner Errichtung im Jahre 1951 ausgeübt. Dennoch kommt der Normierung in § 1 Abs. 2 BKA-Gesetz, wonach das Bundeskriminalamt (zugleich) NZB der IKPOInterpol für die Bundesrepublik Deutschland ist,
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über den rechtsbegründenden Akt hinaus in verschiedener Hinsicht nachhaltige Bedeutung zu. So besitzt diese Aufgaben- und Funktionszuweisung insoweit Ausschließlichkeitscharakter, als neben dem Bundeskriminalamt eine weitere Polizeibehörde der Bundesrepublik Deutschland weder NZB für die Bundesrepublik Deutschland sein noch die einem NZB gemäß den InterpolStatuten obliegenden Aufgaben und Funktionen ausüben kann. b) Tätigkeiten und Effizienz In seiner Eigenschaft als NZB steht Interpol Wiesbaden in ständigem Kontakt sowohl mit dem Generalsekretariat der Organisation in Paris, als auch mit allen NZB's der zur Zeit 120 Mitgliedsländer. Daß das Bundeskriminalamt darüber hinaus noch mit einer Vielzahl anderer Staaten in allen Teilen der Welt ebenfalls eng zusammenarbeitet — soweit dies die gesetzlichen Vorschriften zulassen — sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt. Als Interpol Wiesbaden gewährt und vermittelt es den ausländischen Behörden jede mögliche Unterstützung für deren Ermittlungen oder zur Erfüllung sonstiger polizeilicher Aufgaben und vermittelt umgekehrt und in gleichem Umfang die Unterstützung des Auslandes zugunsten der Polizeibehörden der Bundesrepublik Deutschland. Hierbei liegen die Schwerpunkte gegenseitiger Hilfeleistungen in den Bereichen der Personenund Sachfahndung, der Festnahme gesuchter Personen zum Zwecke der Auslieferung, der Personenidentifizierung, der Erteilung polizeilich relevanter Auskünfte, der Vernehmung, Sicherstellung und Beschlagnahme von Beweismitteln bzw. sonstigen Gegenständen oder Sachen. Seit Jahren weist der Umfang dieses Auslandsverkehrs eine steigende Tendenz auf. 1974 wurden von Interpol Wiesbaden rund 120000 Auslandsvorgänge (Einund Ausgänge) bearbeitet, die sich wie folgt in 41% Schreiben, 48% Funksprüche einschließlich Funkfernschreiben sowie 11% Fernschreiben aufschlüsseln lassen. Nicht enthalten sind in diesen Zahlen die vielfältigen und zahlenmäßig hoch zu veranschlagenden Tätigkeiten der Interpolstelle, die durch den Auslandsschriftverkehr innerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst und bewältigt wurden. Mit den genannten Zahlen steht Interpol Wiesbaden hinsichtlich des ürafanges seiner Aktivitäten im internationalen Bereich weit an der Spitze vor allen anderen Mitgliedsstaaten. Nach überschlägigen Schätzungen beträgt ihr Anteil an der gesamten internationalen Zusammenarbeit etwa 30% bis 40%. Da die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung auch auf internationaler Ebene von besonderer Bedeutung für eine wirksame Verbrechensbekämpfung ist, bedient sich Interpol Wiesbaden bevorzugt des Interpol-Funknetzes, des Funkschreibverkehrs, des öffentlichen Telex-Netzes
Internationale Verbrechensbekämpfung
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sowie der Telebildübermittlung. Zur Zeit wickelt es etwa 60% des gesamten internationalen Nachrichtenaustausches über diese schnellen Kommunikationsmittel ab. Von den im Jahre 1974 im Interpol-Funkverkehr gewechselten rund 194000 Funksprüchen stammten rund 31000 Funksprüche von Interpol Wiesbaden, d. h. daß jeder 6. bzw. 7. Funkspruch von diesem NZB ausging, das zur Zeit an dem gesamten internationalen Funkverkehr mit 16% beteiligt ist. Naturgemäß lassen sich Erfolge im Bereich der Verbrechensbekämpfung rechnerisch nicht eindeutig ermitteln. So läßt sich auch zahlenmäßig nicht darstellen, inwieweit die in den letzten Jahren seitens des Bundeskriminalamtes intensivierten Bemühungen um eine wirkungsvollere Verbrechensbekämpfung auf internationaler Ebene zu größeren Erfolgen geführt haben. Da polizeiliche Erfolge auf den Gebieten der Personenfahndung und der Personenidentifizierung noch am ehesten meßbar sind, sollen einige Ergebniszahlen aus diesen Bereichen beispielhaft für viele andere stehen. So wurden 1974 durch Mitwirkung bzw. Vermittlung von Interpol Wiesbaden für deutsche Strafverfolgungsbehörden im Ausland 148 und im Inland für ausländische Strafverfolgungsbehörden 210 Personen festgenommen. Im gleichen Zeitraum veranlaßte bzw. vermittelte Interpol Wiesbaden für deutsche Strafverfolgungsbehörden im Ausland 9127 und im Inland für ausländische Strafverfolgungsbehörden 1852 Personenidentifizierungen.
VIII. VOLLZUG UND EFFIZIENZ A. Vollzug 1.
Funktionsebenen
In tatsächlicher Hinsicht vollzieht sich die internationale Verbrechensbekämpfung auf zwei Funktionsebenen: a) der des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs, d. h. durch Unterstützung eines von einer zuständigen Behörde eines anderen Staates geführten Strafverfahrens, b) jener des internationalen kriminalpolizeilichen Nachrichten- und Erfahrungsaustausches, d. h. durch Informationsaustausch und -auswertung polizeilicher Daten und Erkenntnisse außerhalb laufender Ermittlungs- oder Strafverfahren. Da auf beiden Ebenen das gleiche Ziel, nämlich die Bekämpfung des internationalen Rechtsbrechers, verfolgt wird, dürfen diese lediglich nach Ansatz und Auftrag unterschiedlich gearteten Aktivitäten nicht isoliert betrachtet, sondern müssen vielmehr als sinnvolle Komponenten zweier gegenseitig sich ergänzender und unter-
stützender Systeme im Rahmen einer übergeordneten Bekämpfungskonzeption verstanden werden. 2.
Kooperationsorgane
Als unmittelbar handelnde Organe kommen hier nur solche in Betracht, die mit Aufgaben der Straftatenverhütung oder der Strafrechtspflege betraut bzw. befaßt sind. Für den zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen ist es hierbei ohne Belang, ob das zu unterstützende Verfahren von einem Gericht oder einer anderen Behörde betrieben wird und ob die begehrte Rechtshilfemaßnahme von einem Gericht oder einer anderen Behörde vorzunehmen ist (Nr. 2 RiVASt). In den internationalen kriminalpolizeilichen Nachrichten- und Erfahrensaustausch sind alle Polizeibehörden einbezogen, die Aufgaben der polizeilichen Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung im weitesten Sinne wahrnehmen (§ 1 Abs. 1 S 2, § 1 Abs. 2 und § 10 Β Κ AG sowie Art. 2 der Interpol-Statuten). Soweit nicht mit Gesetzesvorrang etwas Abweichendes gilt, ist der zur Durchführung der Bekämpfung internationaler gemeiner Verbrecher notwendige Dienstverkehr mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden dem Bundeskriminalamt vorbehalten (§ 10 BKAG). 3.
Kooperationsverfahren
Es wird von den einschlägigen Vorschriften über den jeweils zugelassenen Geschäftsweg bestimmt. So gilt für den Bereich der zwischenstaatlichen Rechtshilfe zunächst der Grundsatz, daß der diplomatische Geschäftsweg — ungeachtet zeitraubender Instanzenzüge und aufwendiger Formalitäten — zu beschreiten ist. Soweit zugelassen, kann neben dem ministeriellen auch der unmittelbare justizielle Geschäftsweg gewählt werden. Von besonderer praktischer Bedeutung für den Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung ist für Polizei -und Justizbehörden der Geschäftsweg über das Bundeskriminalamt in seiner Eigenschaft als NZB der IKPO-Interpol (Nrn. 7,163 RiVASt und § 10 BKAG). Der außerhalb laufender Ermittlungs- oder Strafverfahren praktizierte internationale kriminalpolizeiliche Nachrichten- und Erfahrungsaustausch vollzieht sich demgegenüber ausschließlich zwischen Polizeibehörden, wobei für die Polizeibehörden der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich der Geschäftsweg über das Bundeskriminalamt einzuschlagen ist (Nrn. 162,163 RiVASt, § 10 BKAG sowie Art. 2 der Interpol-Statuten). 4. Allgemeiner
Aktionsrahmen
Er umfaßt auf dem Gebiet der zwischenstaatlichen Rechtshilfe in Strafsachen die gesamte breite Skala des in den einschlägigen Vorschriften enthaltenen Instrumentariums, das von den zu-
Internationale Verbrechensbekämpfung ständigen Strafverfolgungs- und Strafvollstrekkungsbehörden sowie den für Strafsachen zuständigen Gerichten in vollem Umfang aktiviert und umgesetzt werden kann. In Betracht kommen hierbei Initiativen zur Festnahme und Auslieferung eines Straftäters, zur Herausgabe von Gegenständen oder zur Durchführung von Untersuchungshandlungen (wie Durchsuchung, Beschlagnahme, Durchführung von Vernehmungen) ebenso, wie Ersuchen um Vorstrafenauskünfte oder Auskünfte sonstiger Art aus amtlichen Unterlagen, Registern usw. Soweit sich allerdings der Dienstverkehr außerhalb der polizeilichen Schiene vollzieht, wird die Intention einer schnellen und wirkungsvollen Verbrechensbekämpfung häufig durch Zeitverzögerungen oder Erschwernisse unterschiedlichster Art in zum Teil erheblichem Ausmaß beeinträchtigt, da den Justizbehörden oft in nur eingeschränktem Umfang die erforderlichen Nachrichtenübermittlungseinrichtungen sowie fachkundige und facherfahrene Übersetzer unmittelbar zur Verfügung stehen und sie im Bedarfsfall regelmäßig externe Kräfte und Einrichtungen heranzuziehen genötigt sind. Demgegenüber zeitigt die Beanspruchung der Polizei und die Einschaltung des Bundeskriminalamtes durch die Justizbehörden in den Geschehensablauf vielfältige Vorzüge und Erleichterungen für die praktische Arbeit. Sie erhöhen damit die Bekämpfungs- und Erfolgsaussichten beträchtlich. Vor allem der Einsatz technischer Polizeieinrichtungen (wie Fernschreiber, Funkfernschreiber, Funk, Telebildanlagen usw.) im In- und Ausland sowie die permanente Einsatzbereitschaft qualifizierter Kräfte im Innen- und Außendienst lassen eine erhebliche Beschleunigung im Kommunikationsbereich und damit in der Sachbearbeitung zu. Dies gilt vor allem für die besonders wichtigen Gebiete der Personen- und Sachfahndung, wobei die an sich schon zügige Geschäftsabwicklung in besonderen Eilfällen notfalls auf ein Minimum reduziert werden kann, so ζ. B. wenn die sofortige Einleitung einer internationalen Fahndung nach einem flüchtigen gefährlichen Rechtsbrecher oder die Herbeiführung anderweitiger, dringend erforderlicher Sofortmaßnahmen —• etwa zur Unterbindung einer bereits im Vereuchsstadium befindlichen schweren Straftat — geboten sind. Weitere bedeutende Vorzüge bei der Benutzung der polizeilichen Schiene ergeben sich durch die Möglichkeit des raschen, unmittelbaren Rückgriffs auf die umfangreichen Datenbestände polizeilicher Unterlagen, insbesondere die vielfältig gegliederten Spezialkarteien der Polizei mit ihrer Fülle sachdienlicher Informationen und nicht zuletzt durch die Chance unmittelbarer Nutzbarmachung der kriminaltechnischen Einrichtungen und ihres qualifizierten Fachpersonals. Anders als die zwischenstaatliche Rechtshilfe in Strafsachen, bedarf der internationale kriminal-
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polizeiliche Nachrichten- und Erfahrensaustausch keines Ermittlungs- oder Strafverfahrens als Bezugspunkt, er setzt vielmehr unabhängig davon bzw. bereits im Vorfeld der Strafverfolgung an. Er basiert auf polizeieigenen, aus Erfahrung gewonnenen Bekämpfungsmethoden und -Systemen, die in erster Linie auf das Sammeln und Auswerten polizeirelevanter Daten und Nachrichten, Verfahren der Täteridentifizierung sowie die Feststellung von Tatzusammenhängen ausgerichtet sind und die sich institutionell in einer Vielfalt spezifisch angelegter Karteien und Auswertungseinrichtungen darstellen. Dabei wird das Ausmaß des Erfolgs entscheidend von der Qualität der Kooperation, dem Fleiß und der Akribie und der Kombinationsgabe der an dem Gesamtprozeß Beteiligten bestimmt. Offensichtlich ist, daß sich kriminalpolizeilicher Nachrichten- bzw. Erfahrungsaustausch und Strafverfolgung im praktischen Vollzug nicht immer messerscharf voneinander trennen lassen. So werden ζ. B. nicht selten durch Auswertung erkennungsdienstlichen Materials über nationale Grenzen hinweg — zunächst noch völlig losgelöst von einem Ermittlungs- oder Strafverfahren — Straftäter identifiziert oder unbekannt gewesene Tatzusammenhänge aufgedeckt, und erst der Nachweis dieser Fakten führt zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder zum Abschluß eines bislang gegen Unbekannt geführten Strafverfahrens. Zwar stellen die Bereiche der Nachrichtensammlung und -auswertung im weitesten Sinne den Schwerpunkt des internationalen kriminalpolizeilichen Erkenntnis- und Erfahrungsaustausches dar; der Katalog der Kooperationsformen reicht jedoch weit darüber hinaus und umfaßt letztlich alle polizeilichen Problem- und Interessenbereiche wie ζ. B. die der Ausrüstung, der nachrichtentechnischen Ausstattung, der Ausbildung, der Kriminaltechnik und der kriminalistisch orientierten Forschung.
B. Zar Frage des Nutzeffektes In gleicher Weise, wie sich vorbeugende oder strafverfolgende Tätigkeit nicht exakt messen oder rechnerisch darstellen lassen, verschließt sich auch der Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung einer genauen Bewertung. Zusätzlich erschwert werden Effizienzaussagen auf diesem Gebiet jedoch vor allem durch das Fehlen verbindlicher, den Gegenstand selbst bestimmender Abgrenzungskriterien sowie das Fehlen von nach einheitlichen Grundsätzen erhobenen statistischen Unterlagen. Da zudem bis heute weder in nationalen Bereichen, noch auf internationaler Ebene präzise Schadensstatistiken über international verübte Verbrechen geführt werden, kann auch die Gesamtschadenssumme nur spekulativ geschätzt werden. Daß sie alljährlich eine enorme
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Internationale Verbrechensbekämpfung
Höhe erreichen dürfte, kann indessen als ebenso unzweifelhaft gelten wie die Prognose, daß sie auf absehbare Zeit weiterhin von Jahr zu Jahr erheblich ansteigen wird. Das dem Bundeskriminalamt vorliegende, intern gewonnene Zahlenmaterial ist das Ergebnis sogenannter Arbeitsstatistiken, die den Bereich der zwischenstaatlichen Rechtshilfe — soweit sich diese über das Bundeskriminalamt abwickelt — ebenso erfassen wie jenen des internationalen kriminalpolizeilichen Nachrichten- und Erfahrungsaustausches. Den in diesem Rahmen registrierten Zahlen kommt mithin keine repräsentative Qualität zu, sie können vielmehr nur als festgestellte Einzelwerte einer insgesamt nicht erstellbaren Gesamtübersicht gewertet werden. (Zur Effizienz des Bundeskriminalamtes in seiner Eigenschaft als NZB der IKPO-Interpol siehe VII.B.4.b.) Besondere Bedeutung in statistischer Hinsicht kommt im Bereich der internationalen Verbrechensbekämpfung der jährlich von dem Bundesminister der Justiz in dem Bundesanzeiger veröffentlichten „Auslieferungsstatistik" zu, die das Kalenderjahr umfaßt und auf von den Landesjustizministerien und dem Bundesjustizministerium gesammelten Unterlagen basiert. Sie gibt Aufschluß über Zahl und Inhalt aller ein- und ausgehenden Ersuchen um Auslieferung (einschließlich Einlieferung) und Durchlieferung, über die Art ihrer Erledigung, über Zahl, Staatsangehörigkeit und Geschlecht der Verfolgten, die den Ersuchen zugrunde liegenden strafbaren Handlungen sowie die im Einzelfall an den Ersuchen beteiligten Staaten. Das Zählverfahren der bei der Erstellung der Statistik zu beachtenden Richtlinien orientiert sich primär an der Person des Verfolgten sowie der ihm zur Last gelegten Straftat. Bei der Beurteilung von Straftaten, die den eingehenden Ersuchen um Auslieferung oder Durchlieferung zugrunde liegen, werden jeweils die den Strafbestimmungen des ausländischen Rechts am ehesten korrespondierenden deutschen Strafbestimmungen verwendet. Ein kurzer Einblick in die Auslieferungsstatistik für das Kalenderjahr 1974 vermittelt folgende aufschlußreiche Fakten und Erkenntnisse:
1. Eingehende
Ersuchen
a) Ersuchen um Auslieferung zur Strafverfolgung und Strafvollstreckung Behandelt wurden insgesamt 530 Ersuchen (346 neu eingegangene und 184 rückständige) aus 26 Staaten (17 europäischen und 9 außereuropäischen) von denen 334 erledigt wurden. Der Hauptanteil der Ersuchen (und Erledigungen) entfiel auf die nachfolgend aufgeführten 8 europäischen Staaten:
— — — — — — — —
Belgien Frankreich Italien Jugoslawien Niederlande Österreich Schweiz Türkei
21 28 105 48 12 199 53 10
mit mit mit mit mit mit mit mit
13 16 64 27 9 139 34 8
Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen
Die Übersicht zeigt einen relativ hohen Prozentsatz österreichischer, italienischer, schweizerischer und jugoslawischer Ersuchen. Außer den aufgeführten Ersuchen wurden noch 31 Nachtragsersuchen bewilligt. Betrachtet man die Gesamtheit der erledigten Ersuchen nach den ihnen zugrunde liegenden Straftaten, so stehen die Straftatbestände des Diebstahls (einschließlich des schweren Diebstahls), des Betruges, der Unterschlagung, der Urkundenfälschung, der Untreue, des Raubes sowie des sexuellen Mißbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen im Vordergrund. b) Ersuchen um Durchlieferung durch die Bundesrepublik Deutschland zur Strafverfolgung und Strafvollstreckung Hier wurden insgesamt 66 Ersuchen aus 7 europäischen Staaten behandelt. 41 Ersuchen, die 41 Verfolgte betrafen, wurden erledigt; außerdem wurde 1 Nachtragsersuchen bewilligt. Die Ersuchen hatten überwiegend die Straftatbestände des Diebstahls (einschließlich des schweren Diebstahls) und des Betruges zum Gegenstand. c) Staatsangehörigkeit der Verfolgten in Auslieferungs- und Durchlieferungsfällen, bei denen das Verfahren abgeschlossen wurde Gegenstand der Verfahren waren insgesamt 336 Verfolgte (davon 318 männlich und 18 weiblich), deren Staatsangehörigkeit insgesamt 27 verschiedene Staaten betrafen. Die höchsten Anteile entfielen auf die Staatsangehörigkeiten Österreichs (124), Italiens (78) und der Schweiz (20). 2. Ausgehende
Ersuchen
a) Ersuchen um Auslieferung (Einlieferung) an die Bundesrepublik Deutschland zur Strafverfolgung und Strafvollstreckung Gestellt wurden insgesamt 614 Ersuchen (330 neu ausgegangene bei 284 rückständigen) an 32 Staaten (18 europäische und 14 außereuropäische), von denen 323 erledigt wurden. Der Hauptanteil der Ersuchen (und Erledigungen) entfiel auf die nachfolgend aufgeführten 10 europäischen Staaten: — — — —
Belgien Dänemark Frankreich Griechenland
28 12 65 10
bei 17 Erledigungen bei 5 Erledigungen bei 30 Erledigungen bei 6 Erledigungen
Internationale Verbrechensbekämpfung Italien Jugoslawien Niederlande Österreich Schweiz Spanien
42 15 24 174 90 89
bei bei bei bei bei bei
21 2 16 110 44 39
Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen Erledigungen
Die Übersicht zeigt einen relativ hohen Anteil von Ersuchen an die Staaten Österreich, die Schweiz, Spanien und Italien. Neben den aufgeführten Ersuchen wurden 22 Nachtragsersuchen bewilligt. Betrachtet man die Gesamtheit der gestellten Ersuchen, so ist festzustellen, daß sie überwiegend Straftaten des Diebstahls (einschließlich des schweren Diebstahls) und des Betruges sowie in beachtlichem Umfange Strafsachen des Raubes (einschließlich des schweren Raubes), der Urkundenfälschung, der Unterschlagung sowie der Sachhehlerei betrafen. b) Ersuchen um Durchlieferung durch ausländische Staaten zur Strafverfolgung und Strafvollstreckung Hier wurden insgesamt 158 Ersuchen an 14 Staaten (8 europäische und 6 außereuropäische) gerichtet. 67 Ersuchen, die 67 Verfolgte betrafen, wurden erledigt; außerdem wurden 2 Nachtragsersuchen bewilligt. Die Ersuchen hatten überwiegend Straftaten des Diebstahls (einschließlich des schweren Diebstahls), des Betruges, der Urkundenfälschung sowie der Unterschlagung zum Gegenstand. c) Staatsangehörigkeit der Verfolgten in Auslieferungs- und Durchlieferungsfällen, bei denen das Verfahren abgeschlossen wurde Gegenstand der Verfahren waren insgesamt 308 Verfolgte (284 männlich und 24 weiblich), deren Staatsangehörigkeit insgesamt 18 verschiedene Staaten betrafen. Naturgemäß lag in dieser Gruppe der ausgehenden Ersuchen um Auslieferung und Durchlieferung der Anteil der deutschen Staatsangehörigkeit weitaus am höchsten (260). An zweiter und dritter Stelle folgten die italienische und die jugoslawische Staatsangehörigkeit (je 9 Verfolgte). Will man die vorstehenden Daten und Fakten wägen und werten, darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß jede Auslieferungsstatistik letztlich stets nur einen zeit- und sachbegrenzten Ausschnitt des Gesamtgeschehens darstellt. Für den Bereich der sonstigen zwischenstaatlichen Rechtshilfe in Strafsachen ist eine zentrale Erfassung der ein- und ausgehenden Rechtshilfeersuchen nicht vorgesehen. Er läßt sich daher weder quantitativ exakt bestimmen noch in qualitativer Hinsicht schematisieren. 1974 wurden von der Bundesregierung schätzungsweise 8000 ein- und ausgehende Rechtshilfeersuchen auf dem
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Gebiet der sonstigen zwischenstaatlichen Rechtshilfe in Strafsachen behandelt. Da angesichts der geltenden Kompetenzregelungen jedoch nur ein verschwindend kleiner Anteil aller einschlägigen Ersuchen der Bundesregierung zur Prüfung bzw. Bewilligung vorzulegen sind, kann diese Zahl nur einen äußerst geringen Bruchteil des gesamten Rechtshilfeverkehrs in diesem Bereich wiedergeben. Da die Aktivitäten im Rahmen des internationalen kriminalpolizeilichen Nachrichten- und Erfahrensaustausches nicht gesondert erfaßt werden, sind hierzu quantitative Aussagen nicht möglich. Angesichts ihrer außergewöhnlichen praktischen Bedeutung und ihrer erheblichen Präventivwirkung im Alltag internationaler Verbrechensbekämpfung, dürfen die häufig noch im Vorfeld oder in Kriminalitätszwischenbereichen liegenden Polizeimaßnahmen jedoch nicht unerwähnt bleiben, wie sie sich beispielsweise innerhalb des kriminalpolizeilichen Meldedienstes oder in Form von Warnmeldungen bei möglichen Sprengstoffattentaten, bei bandenmäßig verübten Scheck-, Wechsel-, Aktien- oder Wertpapierbetrügereien, der Verbreitung von Falschgeld oder des zu erwartenden Absatzes von Diebes- und Hehlergut vollziehen. Ebensowenig dürfen aber auch die zahlreichen Aktivitäten internationaler Zusammenarbeit in den Bereichen der Kriminaltechnik, des Erkennungsdienstes oder der gegenseitigen unmittelbaren Unterstützung zur Eindämmung der Rauschgiftkriminalität, des Waffenschmuggels, der Falschgeldherstellung oder der Bekämpfung international organisierter Einbrecher-, Diebes- oder Hehlerbanden außer acht gelassen werden. Die Veranschlagung des Nutzeffektes internationaler Verbrechensbekämpfung darf angesichts der extremen Gefährlichkeit des internationalen Rechtsbrechers für die Gesellschaft vordringlich unter qualitativen und nur sekundär unter quantitativen Gesichtspunkten vorgenommen werden. IX. KEIN AUFTRAG AUF ZEIT Entwicklungsgeschichte sowie Art und Ausmaß des Kriminalitätsgeschehens auf internationaler Ebene lassen keine Zweifel darüber zu, daß den Strafverfolgungsorganen hier eine neue, diffizile Daueraufgabe zugewachsen ist, deren Bewältigung neben sorgfältigster Sachverhaltsbeobachtung und -analyse vor allem den Einsatz wirksamer, spezifischer Bekämpfungsmittel und -methoden erfordert. Die Polizei hat als die von den Ereignissen am unmittelbarsten tangierte Institution sehr früh den ihr zufallenden Auftrags- und Rollenanteil erkannt und die ihr möglichen Konsequenzen gezogen. Es wurden im Interesse einer effektiven Bekämpfung internationaler Rechtsbrecher polizeieigene Informationszentralen und
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Gewaltkriminalität
Spezialistenkarteien eingerichtet, spezifische Fahndungsdienste auf- und ausgebaut, die Einrichtungen des Erkennungsdienstes und der Kriminaltechnik verbessert, einschlägige Fach- und Arbeitstagungen veranstaltet sowie eine Fülle zwischenstaatlicher, der Arbeitserleichterung dienender Kontakte angebahnt und entwickelt. Ein die Gesamtsituation entscheidend verändernder, durchgreifender Erfolg war diesen Bemühungen bislang jedoch nicht beschieden. Von den vielfältigen Ursachen hierfür wiegen jene rechtlicher Art am schwersten. So räumen die einschlägigen inländischen Rechtsvorschriften der Polizei, obwohl sie im Regelfall bis zur Anklageerhebung Hauptlast und Hauptverantwortung für Erfolg oder Mißerfolg des Ermittlungsergebnisses zu tragen hat, nur minimale, für eine erfolgreiche Tätigkeit völlig unzureichende Zuständigkeiten ein. Gleichzeitig aber wird ihre Arbeit durch eine verwirrende Fülle zu beachtender Kompetenzregelungen und komplizierter Verfahrensvorschriften sowie die Vorgabe zeitraubender und schwerfälliger Geschäftswege belastet. Bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Strafverfolgungsorganen treten noch zwei weitere erschwerende Umstände hinzu: die Geltung unterschiedlich gearteter Rechtssysteme in den einzelnen Staaten und das strikte Festhalten der Regierungen an dem Grundsatz uneingeschränkter Staatssouveränität auf dem Gebiet der Strafverfolgung. Während mithin als Folge unterschiedlichster Liberalisierungsakte die Staatsgrenzen für den Rechtsbrecher leichter passierbar geworden sind, bilden sie für die Strafverfolgungsorgane unverändert starre Rechtsbarrieren. Es ist offenkundig, daß diese Rechtsstrukturen in einem Zeitalter, in dem internationales Verbrechertum zunehmend organisations- und unternehmensähnliche Formen annimmt, Gewalt- und Schwerstkriminalität klassischer Prägung verstärkt internationale Verflechtungen aufweist und Terrorakte, Bombendrohungen, Flugzeugentführungen, Geiselnahmen einschließlich schamlosester Erpressungsakte über Staatsgrenzen hinweg nahezu Alltäglichkeit geworden sind, dringend grundlegender Korrekturen bedürfen. Sollen Staat und Gesellschaft auf weite Sicht nicht ernsthaft, d. h. substantiell Schaden nehmen, muß es möglich sein, das internationale Verbrechertum, ungeachtet nationaler Grenzpfähle, ohne Verzug, flexibel und deliktspezifisch zu bekämpfen. Um die Voraussetzungen hierfür zu schaffen, müßten vor allem drei Forderungen realisiert werden: 1. die Neugestaltung der Rechtshilfevorschriften innerhalb der Nationalbereiche und ihre Anpassung an die Erfordernisse moderner Verbrechensbekämpfung, insbesondere durch Ausstattung der Polizei mit ausreichenden Kompetenzen;
2. die Schaffung einer nach modernsten Erkenntnissen und Erfahrungen ausgestalteten internationalen Informations- und Kommunikationszentrale zur Verbrechensbekämpfung und Ausstattung dieser Institution mit allen für eine effektive Arbeitsleistung notwendigen Kompetenzen (hierzu könnte die IKPO-Interpol ausgebaut werden, die über günstige Voraussetzungen personeller und materieller Art sowie jahrzehntelange Erfahrungen auf diesem Gebiet verfügt, bereits 120 Mitglieder umfaßt); 3. die Bildung gemischtnationaler kriminalpolizeilicher Einsatzgruppen mit genau festgelegten Exekutivbefugnissen zur gezielten Bekämpfung bestimmter Delikte oder Sachkomplexe. Die Zeit drängt — sie sollte ohne Verzug genutzt werden. Schrifttum F. H. F a l i t z s c b : Die Bekämpfung des internationalen Verbrechertums. 1926. M. H a g e m a n n : Internationale kriminalpolizeiliche Zusammenarbeit. I n : Elster, A. und Lingemann, H. (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie. Berlin 1933, 3. 741 bis 751. Bundeskriminalamt Wiesbaden: Internationale Verbrechensbekämpfung. Arbeitstagung I960. W. U l l r i c h : Verbrechensbekämpfung: Geschichte, Organisation, Rechtsprechung. Neuwied und Berlin 1961. H. J . H o e v e l e r : Internationale Bekämpfung des Verbrechens. Hamborg 1966. J. H a l o u b e k : Interpol In Wien geboren in „Illustrierte Rundschau der Gendarmerie". 1069. J . J e s c h k e : Interpol zwischen 1933 und 1945. Kriminalistik 25. 1971, S. 118—119. Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation-Interpol. In „60 Jahre Interpol 1923—1973". Deutsche Bearbeitung und Übersetzung des Bundeskriminalamtes. Wiesbaden 1973. E. D r e h e r : Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen und Verordnungen. 36. Auflage. München 1976. H. G r ü t z n e r : Internationaler Rechtshilfeverkehr; die für die Rechtsbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ausland in Strafsachen maßgeblichen Bestimmungen. Loseblattsammlung. Hamburg-Berlin-Bonn. 1955 ff. Stand 1975. KURT SCHAEFER
GEWALTKRIMINALITÄT Unter dem Begriff der Gewaltkriminalität sind im folgenden Delikte zusammengefaßt, deren Wesen in der Ausübung körperlichen oder psychischen Zwanges besteht, um bestimmte Forderungen durchzusetzen, Furcht und Schrecken zu verbreiten oder ganz einfach — aus sehr unterschiedlichen Motiven — zu verletzen oder zu zerstören. Die Auffassungen, was unter Gewaltkriminalität zu verstehen ist, sind dabei sehr unterschiedlich.
Gewaltkriminalität Der zur Verfügung stehende Raum verbot eine Darstellung a l l e r Formen der Gewaltkriminalität. Es sind daher nur diejenigen Delikte behandelt worden, die in der Gegenwart — und voraussichtlich auch in der Zukunft — besondere Bedeutung besitzen. Dabei wurden vor allem neue Erscheinungsformen der bereits in anderen Abhandlungen des Handwörterbuchs erörterten Delikte behandelt und darüber hinaus jene Kriminalitätsformen besprochen, die bislang noch nicht ihren Platz in diesem Werk gefunden haben (wie etwa die neuzeitlichen Geiselnahmen).
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Schreitet man den Umkreis menschlicher Partnerschaften ab, so begegnet man einer Vielzahl konfliktträchtiger Beziehungen. So sind Konflikte denkbar: — mit dem Ehepartner, — mit dem oder der Geliebten, — mit den Eltern, — mit den Kindern, — mit dem Berufspartner, Teilhaber, Arbeitgeber, Kollegen, Mitarbeiter, Arbeitnehmer, — mit Nachbarn und Freunden,
A. Morde 1.
Konfliktmorde
Als Konfliktmord bezeichnet man jene Mordtaten, bei denen ein zwischen zwei Menschen bestehender Konflikt den Anlaß zur Tat gab. Mit dem Tode des Opfers tritt für den Täter die Lösung des Konflikts ein — oder sie wird doch wenigstens von ihm erhofft. Jeder Zwiespalt, jede Auseinandersetzung, jeder Streit kann Konflikt in diesem Sinne sein, und nicht alle Konflikte werden offenbar. Mitunter schwelen sie unter der Oberfläche des menschlichen Zusammenlebens, und kein Außenstehender bemerkt sie. Daher wird vielfach bei den auf einen Mord folgenden Ermittlungen ein Konflikt einfach nicht erkannt und demzufolge auch nicht als Motiv bekannt. Die Konfliktlage war auf den ersten Blick nicht zu vermuten. Auch wird mancher Interessengegensatz zwischen Partnern nicht als Konflikt verstanden, und man meint, ein solcher Widerstreit könne doch kaum Anlaß für eine so schwere Tat gewesen sein. So kommt es stets auf die Aufhellung vermuteter oder denkbarer Konfliktlagen besonders an. Konfliktlagen gibt es immer dann, wenn Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen in eine engere Gemeinschaft treten und sich nunmehr aneinander orientieren müssen. Wird keine gemeinsame Basis gefunden, die als Richtschnur dienen kann, so wird die Auffassung des jeweils stärkeren Partners vorherrschen. Der unterlegene Partner kann seine Wünsche oder Vorstellungen nicht durchsetzen. Die einfachste Lösung wäre für ihn, die eingegangene Gemeinschaft wieder zu lösen. Ist dies nicht möglich, kann es zum Konfliktmord kommen. Bis dahin kann jedoch ein längerer Zeitraum verstreichen. Oft stellt sich j a erst im Laufe einer Gemeinschaftsbindung heraus, daß unvereinbare Auffassungen bestehen, oft werden sie erst dann relevant, wenn neue Umstände hinzutreten, so daß sich die Ausgangslage verändert. So kann ein Konflikt jederzeit ausbrechen, selbst dann, wenn die Partnerschaft bislang reibungslos funktionierte. β HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
— mit Mietern und Vermietern, — mit Ausbildungspersonen, — unter Mitgliedern krimineller oder politischer Vereinigungen.
extrem-
Der Ehegattenkonflikt ist ein regelrecht klassischer Konflikt; der daraus resultierende Gattenmord wird schon von Äschylos beschrieben: König Agamemnon wird auf Veranlassung seiner Gattin Klytämnestra ermordet, da er — als Heimkehrer aus dem Krieg — die Beziehungen zu ihrem Liebhaber Ägisthos stört. Sicher war dieser literarisch ausgewertete Mord nicht der erste; Äschylos hat ihn als ein die Menschheit begleitendes Problem gekennzeichnet. Auch beim Morde an der oder dem Geliebten bestehen enge partnerschaftliche Beziehungen. Daher wird man stets auch denjenigen Partner einer ermordeten Person als möglichen Täter in Betracht ziehen müssen, dessen Position sich nach der T a t so gestaltet hat, wie es seinen — vielleicht nur unterschwelligen — Wünschen entsprechen müßte. I m übrigen bestehen zwischen Gatten- und Geliebtenmord einige Unterschiede. Der Mord am Ehepartner wird vom Täter sehr oft verdeckt, verschleiert, verheimlicht, so daß er nur schwer als solcher erkannt werden kann. Ist aber der Todesfall als Mord enthüllt, steht der Täter meist schon fest. Oft genug ist die eheliche Wohnung der Tatort. Außerdem kann der Gattenmörder meist in Ruhe und Ausführlichkeit umfangreiche Vorbereitungen für die T a t treffen; auch liegt es oft in seiner Hand, wann und wie die Umwelt über den Tod des Ehegatten Kenntnis erhält. Anders liegen die Dinge beim Geliebtenmord. Hier wird zumeist die Tatsache des Mordes alsbald offenkundig werden, nicht jedoch die Person des Täters. Anfänglich dürfte zunächst noch offen sein, ob ein Konfliktmord vorliegt; denkbar ist auch ein Sexualmord, wenn Frauen oder Mädchen mit „leichter" Lebensweise getötet werden. Hier gilt es also, unter den möglicherweise zahlreichen Bekannten des Opfers jenen herauszufinden, der Anlaß hatte, sich die lästige Geliebte vom Halse zu schaffen. Solche Morde offenbaren überwiegend Konflikte höchst unehrenhafter Natur; ein „Verhältnis" eines hono-
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Gewaltkriminalität
rigen Bürgers droht bekannt zu werden; eine Schwangerschaft läßt finanzielle Belastungen befürchten, oder dem Täter wird die Geliebte einfach lästig, so daß sie „weg muß", wie gewöhnlich sehr gefühlsroh bei der Vernehmung eingestanden wird. Geliebtenmord aus Verzweiflung liegt in jenen Fällen vor, in denen beide Partner aus dem Leben scheiden, weil die gewünschte gegenseitige Bindung nicht erreicht werden kann: Oft ist einer der Partner verheiratet und eine Lösung der Ehe läßt sich nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erreichen. Die Tat — als Doppelselbstmord — gelingt, wenn gemeinsam Gas eingeatmet oder Gift eingenommen wird. Wählt einer der Beteiligten jedoch eine Schußwaffe als Tötungsmittel, so wird häufig nur der erste Teil der Tat ausgeführt: Der Mann erschießt die Partnerin, ihm fehlt jedoch zum anschließenden Selbstmord die Kraft. Nun stellt sich die Sorge um die eigene Sicherheit ein, und der Täter versucht, sein Handeln zu verdecken und die Tatspuren zu beseitigen. Frauen sind als Geliebtenmörderinnen seltener. Immerhin tritt neben die Frau, die ihren Geliebten tötet, auch diejenige, die lesbisch an eine Geschlechtsgenossin gebunden ist und fürchtet, diese zu verlieren. So tötete in Düsseldorf eine 35jährige Frau ihre 37jährige Freundin, die verheiratet war. Man hatte zunächst eine „Ehe zu Dritt" geführt. Doch trennte man sich wieder, als es zu Streitereien kam. Schließlich lernte das spätere Opfer eine andere Frau kennen und wollte mit dieser den Urlaub verbringen anstatt mit der ersten Freundin. Das war Grund zur Tat. Die Täterin stellte sich selbst der Polizei — die lesbische Bindung wäre sonst wohl kaum bekannt und als Tatursache erkannt worden. Auch der Familienmord wird oft nicht als solcher erkannt. Kindliche oder jugendliche Täter, die ihre Väter oder Mütter töten, werden kaum sofort als Tatverdächtige in die Ermittlungen einbezogen. Man traut es ihnen eben nicht zu. Nur bei Verzweiflungstaten oder der Selbstgestellung werden solche Morde gleich richtig eingeschätzt, zumal der überlebende Elternteil bemüht ist, das Verbrechen zu verschleiern. Überhaupt muß man mit mannigfachen Verdunkelungsversuchen aller Art rechnen. Eine 31jährige Täterin, lesbisch einer amerikanischen Negerin verbunden, tötete ihr öjähriges Kind. Die Leiche wurde zersägt und im Müllkasten eines Krankenhauses abgelegt. Das Kind selbst wurde als vermißt gemeldet, es ging bei einer Ausstellung angeblich verloren. Erst durch Hinweise Dritter wurde das Liebesverhältnis bekannt. Die Täterin wollte ihrer in die USA zurückgekehrten Freundin nachreisen. Hier stand das Opfer im Wege. Auch andere Spannungen und Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung und gehören sozusagen zum sozialen Leben dazu: Es sind alle
jene, die mit Abhängigkeitsverhältnissen verbunden sind. Werden diese Spannungen unerträglich, versucht man, die Bindung zu lösen. Im allgemeinen besteht hierzu auch immer die Möglichkeit. Bindungen nichtfamiliärer Art lassen sich erforderlichenfalls aufgeben. Unerwartete Schwierigkeiten hierbei oder der Wunsch, sich dennoch durchzusetzen, nicht als Versager dazustehen, können jedoch auch in solchen Fällen zum Konfliktmord führen. Der Arbeitgeber, der Partner im Geschäftsleben, der Vermieter, der Nachbar oder frühere Freund sind gleichermaßen gefährdet. Die Tat kann im Dunklen geschehen oder unverhofft. Das Opfer nähert sich auch meist arg- und schutzlos — man kennt sich ja und erwartet nichts Böses. Schließlich sind noch die Konflikte innerhalb krimineller Gruppen zu nennen, die gleichfalls Morde auslösen können. In diesen Vereinigungen mehr oder minder fester Natur wird seit jeher der Verrat mit dem Tode gesühnt, aber es werden auch interne Streitigkeiten mit der Waffe ausgetragen. Der Kampf um Frauen, um Ansehen und Ehre, um die Führerrolle ist hart und blutig; insoweit kommen Formen amerikanischen Gangstertums auch bei uns in Übung. Sind die kriminellen Gruppen politisch ausgerichtet und als Extremisten zu bezeichnen, so werden auch die Abweichler und „Schwächlinge" durch Morde ausgemerzt. Bisher konnte im Regelfall eine eigenhändige Täterschaft des Konfliktbetroffenen angenommen werden — also desjenigen, der aus dem Mord irgendeinen Nutzen hatte. Neuerdings findet jedoch die in den Vereinigten Staaten praktizierte Methode, die Tat durch eigens bestellte Mordgehilfen ausführen zu lassen, auch in der BRD Eingang. So beauftragte 1968 ein Ehemann einen bei ihm beschäftigten Ausländer, die Ehefrau zu töten. Der Versuch wurde auch unternommen, doch konnte das Opfer überleben. In einem anderen Fall veranlaßte eine Ehefrau ihren Geliebten, den Ehemann zu töten. Der Freund der Anstifterin gewann für 50000 Mark auch zwei Männer, die den von der Arbeitsstelle heimkehrenden Gatten beim Betreten seiner Villa beschossen und auch durch einen Bauchschuß verletzten. Je „unbürgerlicher" das Milieu der Opfer ist, desto größer sind die Gefährdungen und die Konfliktstoffe. Im Dirnen- und Call-Girl-Milieu ergeben sich unzählige Konflikte. Werden sie durch Morde „gelöst", so ergibt sich nur selten ein Hinweis auf den Täter, zumal der Bekannten- und Besucherkreis sorgsam verschwiegen wird. Auch die Teilnehmer am Randgeschehen weichen jeder Auskunft aus, kann diese doch existenzgefährdend oder -vernichtend sein. Mit falschen Anschuldigungen oder Hinweisen muß gerechnet werden, und nicht auszuschließen ist die bewußte Irreführung der Ermittlungsbehörden, um dergestalt alte Feinde zu
Gewaltkriminalität belasten oder ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ohnehin ist die Ermittlungsarbeit bei Konfliktmorden erschwert. Ein dem Opfer bekannter Täter hat meist die Möglichkeit, sich Tatort und Tatzeit selbst auszusuchen, hat dann auch meist Zeit und Gelegenheit, Spuren zu vernichten und sich ein Alibi zu beschaffen, ja er kann mitunter sogar die Tatsache des Todes über Tage hin verheimlichen oder durch Vermißtenanzeigen mit falschen Hinweisen die Behörden irreführen und selbst Zeit gewinnen. So kann die Aufklärung des Tatgeschehens unter Umständen den Einsatz eines großen Apparates erfordern und sich über Monate hinziehen, obgleich der Täter im nächsten Umkreis seines Opfers lebte.
2.
Deckungsmorde
Neben den Konfliktmorden nehmen die Dekkungs-, Gewinn- und Sexualmorde einen vergleichsweise bescheideneren Raum ein. Lagen den Konfliktmorden lange andauernde Interessengegensätze oder heftige Auseinandersetzungen, emotionsgeladen, zugrunde, so stehen die Dekkungsmörder unter einem gewissen Zwang. Das, was sie erreichen wollen oder auch erreicht haben — den Erfolg einer kriminellen Handlung —, sehen sie durch ihr Opfer selbst oder andere, dazwischentretende Menschen gefährdet. Es bleibt ihnen entweder die Aufgabe der Tat bzw. die Übergabe an die Verfolgungsorgane des Staates — oder eben die Tötung ihres Gegenüber. Verdeckt werden soll also mit dem Deckungsmord immer eine Tat, die weniger schwer wiegt als der Deckungsmord selbst. Die Tötungshandlung ist insofern unsinnig, als Morde die höchste Aufklärungsquote besitzen, das Risiko der Ermittlung also besonders hoch ist, und die Sühne immer in der lebenslangen Strafe besteht. Die Vernunft sollte es eigentlich gebieten, diesen Schritt nicht zu tun. Doch in der bedrohlichen Situation, in der sich der Täter sieht, scheint ihm der Mord als der einzige Ausweg zunächst weiterzuhelfen. Der kommende Tag werde sicher wiederum Auswege aufzeigen —, so denkt offenbar der Deckungsmörder. Seine Tat bringt allerdings zum Ausdruck, daß er das Leben seiner Mitmenschen geringer achtet als die eigene Freiheit, Egoismus und brutale Durchsetzung eigener Interessen beherrschen ihn, decouvrieren ihn als Gewalttäter. So, wie es im organisierten Verbrechertum der Vereinigten Staaten (Mafia) üblich war, den „Gegner" aus der Konkurrenzorganisation oder den Polizisten, auch den nicht mehr zuverlässigen Genossen, zu erschießen, wenn es zweckmäßig erschien, so handelt auch der Deckungsmörder unserer Tage. Nur bei sehr jungen Tätern oder in Überraschungssituationen wird man konzedieren dürfen, daß die Tat Aus6*
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fluß einer besonderen und nicht beherrschbaren Erregung war. Deckungsmorde zeigen sich zunächst bei der Begehung von Straftaten als Mord an dem Opfer. Bei Notzuchtsfällen, unzüchtigen Handlungen an Kindern, Raubüberfällen wird dem Täter plötzlich klar, daß das Opfer ihn entweder namentlich kennt oder ihn doch nach der Tat beschreiben kann. Um nicht überführt zu werden, tötet er — durch Würgen, Drosseln oder Schlagen. Die Tötung erfolgt also ausschließlich zum eigenen Schutz — nicht etwa, um die Beute erlangen zu können oder weil die sexuelle Erregung erst mit der Tötung eintritt. Eine Deckungstötung erfolgt vielfach auch dann, wenn bei oder nach Begehung einer Straftat •— meist nach einem Eigentumsdelikt, etwa Einbruchsdiebstählen — Wächter, Polizeibeamte oder auch zufällig Hinzukommende den Täter sehen und später identifizieren können bzw. ihn festnehmen wollen. Konnte man in früheren Jahren mehr davon ausgehen, daß der kriminelle Täter, der entdeckt wurde, sich in dieses Schicksal fügte, sofern die Flucht (das einfache Weglaufen) nicht half, so liegen die Dinge heute anders. Der Täter geht zunehmend dazu über, sich der Festnahme oder Entdeckung zu widersetzen, selbst um den Preis der Tötung des Dazwischentretenden. Diese Änderung in der generellen Verhaltensweise des Verbrechers muß bei der Verbrechensbekämpfung seitens der Polizei- und Justizbeamten beachtet werden. Der Rat der Polizei an die Bevölkerung geht heute auch dahin, bei Beobachtungen von Straftaten nicht selbst einzugreifen, sondern lediglich zu beobachten und die Polizei herbeizurufen. Die Bereitschaft, bei kriminellen Handlungen sich, soweit erforderlich, der Gewalt einschließlich der Tötung zu bedienen, ist ein bedeutsames Zeichen für die Entwicklung krimineller Verhaltensweisen auch in der Bundesrepublik Deutschland. Der Trend geht in dieser Hinsicht auch in anderen europäischen Staaten in die gleiche Richtung. Auch bei der Flucht aus Vollzugsanstalten zeigt sich ein entsprechendes Verhalten. Da der ausbruchswillige Häftling sich unter den heutigen Verhältnissen auch Schußwaffen beschaffen kann, ist er auch in der Lage, zu töten. Die Geiselnahmen in Gefängnissen, die oft mit der Tötung des Bewachungspersonals, in einigen Fällen sogar mit der Tötung von Zellengenossen enden, zeigen, daß sich Deckungsmorde in allen Bereichen des kriminellen Lebens ausbreiten. Das zeigt sich besonders bei den polizeilichen allgemeinen Fahndungsmaßnahmen. Bei der Kontrolle von Fahrzeugen und Personen, die schon aus Gründen der Verkehrssicherheit erfolgen, muß der kontrollierende Beamte damit rechnen, von kontrollierten Personen getötet zu werden: Die Feststellung ihres Namens würde zur Festnahme führen, also wird bereits vorher geschossen. Aus
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Gewaltkriminalität
der Siebt des Rechtsbrechers hat das den Vorteil, daß nicht bekannt wird, wer die Tat verübte: denn mit der Personalienfeststellung war ja noch nicht begonnen. Selbst bei bloßen Verkehrsdelikten — Trunkenheitsdelikten etwa — versucht der Fahrzeugfahrer immer wieder, sich der Polizeikontrolle dadurch zu entziehen, daß er auf den Polizisten zufährt, um ihn beiseitezudrängen bzw. zu überfahren. Daß diese Handlung, je nach den räumlichen Verhältnissen, auch als Mordversuch — also Deckungsmord — geahndet werden kann, nehmen auch die bisher gesetzeskonform lebenden Täter in Kauf. Die Notwendigkeit, Gesetzesverstöße zu ahnden und die Konsequenzen falschen Verhaltens auf sich zu nehmen, wird nicht mehr in gleichem Maße anerkannt wie vor Jahren. So wird der Widerstand als legitim betrachtet und der Deckungsmord — letzte Konsequenz dieser Einstellung — damit als Ausweg gesehen. 3. Gewinnmorde Hierzu gehören die Raubmorde, Morde als Mittel des Betruges an Versicherungen, Morde durch Erben oder sonstige zu einer Leistung verpflichtete Personen. Der Raubmord bildet hierunter die größte Gruppe. Er liegt dann vor, wenn zur Erlangung der Beute die Tötung des Opfers erforderlich ist oder diese Tötung von vornherein beabsichtigt war, ohne eine andere Form des räuberischen Zugriffs zu erwägen. Ist letzteres der Fall, so handelt es sich in der Tat um die primitivste Form des Gewinnmordes, wie von Hentig meint, vielleicht sogar die primitivste Form des Verbrechens überhaupt. Prototyp solcher Täter sind Verbrecher wie Masch, der von 1849 bis 1861 durch Mecklenburg und Pommern zog, nachts in Bauernhäuser eindrang, mordete, raubte und anschließend Brände legte — mitunter vorher noch an den Leichen der ermordeten Frauen Sexualverkehr zu vollziehen pflegte. Ähnlich primitiv verlaufen die Taten gewisser Strich] ungen. Sie erklären sich bereit, mit Homosexuellen deren Wohnung aufzusuchen. Nach dem homosexuellen Verkehr, entsprechendem Alkoholgenuß, schläft das „Opfer" ein. Der Strichj'unge tötet nun seinen Partner durch Erschlagen, Erwürgen oder Erdrosseln und beraubt ihn. Dann verläßt er die Wohnung. Hier erfolgt der Mord nicht etwa, um eine Identifizierung durch das Opfer zu verhindern — was bei Raubüberfällen häufiger der Fall ist und Deckungsmord wäre —, sondern dient vornehmlich der Durchführung des Raubes: es ist so einfacher. Da die Täter solcher Morde in keiner Beziehung zum Opfer standen (bis eben auf das eine Mal), ist die Aufklärung sehr schwierig. In anderen Fällen erfolgt eine Tötung des Opfers durch die Art der Tatausführung. So wird beim Straßenraub, bei Raubüberfällen in Woh-
nungen oder Geschäften das Opfer häufig niedergeschlagen oder zu Fall gebracht. In diesen Fällen kann es zur Tötung kommen, die der Täter zwar nicht beabsichtigt hat, die er aber doch in Kauf nahm. Das Opfer sollte durch die Art der Gewaltanwendung auf jeden Fall wehrlos und bewußtlos gemacht werden. Drosselungen, Würgegriffe, Schläge mit einem Werkzeug gegen den Schädel können diesen Zweck erreichen, aber auch zur Tötung führen. Besitzt der Räuber eine Schußwaffe, so sind bei der Drohung mit dieser Waffe keine derartigen Gefahren zu besorgen. Doch besteht hier die Gefahr, daß der Täter die Gegenwehr des Opfers mit dem Gebrauch der Schußwaffe beantwortet, oder, durch andere Umstände nervös gemacht, doch noch schießt. In der Tat ist die Gefahr des Raubmordes dann besonders groß, wenn das Opfer sich wehrt. Die Angestellten der Banken sind daher zu Recht angewiesen, sich nicht zur Wehr zu setzen, sondern den Forderungen der Täter nachzukommen. So kommt es hier kaum zu Raubmorden. Anders verlaufen oft die Raubüberfälle in Wohnungen und Geschäften. Die Opfer, deren Besitztum die Täter teils mit List, teils mittels gewaltsamen Eindringens betreten haben, setzen sich oft instinktiv zur Wehr, wollen auch ihren Angehörigen Fesselungen, Bedrohungen oder Eingesperrtsein ersparen. In der Regel kommt es dann zum Schußwechsel, der nicht selten tödlich endet, bei dem aber in glimpflicher verlaufenden Fällen das Opfer den kürzeren zieht. Der Räuber ist ja auf eine eventuelle Gegenwehr vorbereitet. Er gibt nur dann auf, wenn unvorhergesehene Umstände eintreten, mit denen er nicht rechnete und die er nicht zu lösen weiß. Wenn etwa das Opfer die leere Kasse vorzeigt, oder den Täter auslacht und nicht ernst nimmt (derartige Fälle kamen vor), zieht er ab. Die Widerstandsleistung aber beantwortet er mit der Waffe, sofern es nicht lediglich eine Attrappe ist. Mitunter wird ein Raubmord vorgetäuscht, um vom eigentlichen Motiv abzulenken. In solchen Fällen liegt meist ein Konfliktmord vor, und allzu auffällig wird dann auf fehlendes Geld, fehlende Gegenstände aufmerksam gemacht. Raubmorde in diesem Sinne sind auch die vier Morde des Arwed Imiela in den Jahren 1968 und 1969. Er tötete zunächst eine 68jährige Frau, als deren Vermögensverwalter er sich betätigt hatte, sodann deren 47jährige Tochter, da er befürchten mußte, daß ihr das Verschwinden ihrer Mutter alsbald bekannt werden würde. Imiela hatte das Opfer zielstrebig aus ihrem süddeutschen Lebenskreis herausgelöst und nach Fehmarn gelockt. Später lernte er eine 47jährige Frau mit deren 20jähriger Tochter kennen, deren Vermögen er ebenfalls verwaltete. Auch diese beiden Frauen brachte er um und vergrub die Leichen in einem Waldstück auf Fehmarn. Nur diese Leichen wurden später gefunden, als ein mißtrauisch gewor-
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Gewaltkriminalität dener Bankbeamter der Polizei zutrug, daß der „Lebensberater" Imiela es offenbar auf das Geld einer seiner Klientinnen abgesehen habe: Er habe versucht, ein Aktienpaket dieser Frau im Werte von 150000 Mark mit einer gefälschten Unterschrift abzurufen. Bei den nun wegen Untreue und Urkundenfälschungen einsetzenden Ermittlungen fiel auf, daß von vier Frauen, deren „Berater" Imiela gewesen war, seit längerem keinerlei Lebenszeichen mehr vorlagen. Der Verdacht der Tötung ergab sich sodann und führte in einem Indizien-Prozeß zur Verurteilung in vier Fällen wegen Mordes aus Habgier — denn 350000 DM betrug die Hinterlassenschaft der Toten, in deren Besitz sich Imiela setzen konnte. Er mußte allerdings durch eine Reihe von Fälschungen — Briefe, Dokumente, Urkunden — das Weiterleben der von ihm getöteten Frauen vortäuschen, um mißtrauischen Nachfragen aus dem Wege zu gehen. Letztlich haben gerade diese Fälschungen zum wesentlichen Teile das Urteil mitgetragen, das über ihn gefällt wurde. Doch blieb diese Form des Raubmordes eine Ausnahme •— allzu kompliziert sind Plan und Ausführung. Die weiteren Möglichkeiten des Gewinnmordes sind seltener. Insbesondere ist der Mord als Mittel des Betruges an Versicherungsgesellschaften eine Rarität geworden. Die Frage des Kriminalisten nach einem Morde „wem zum Vorteil" wird ja auch dann gestellt, wenn die Todesursache unklar ist. So müssen schon natürliche Todesursachen vorgetäuscht werden, oder es wird Selbstmord behauptet. Da in jedem Fall die Frage nach den Versicherungsleistungen gestellt wird, müssen umfangreichere Vorkehrungen getroffen werden, um die Täuschung gelingen zu lassen. In neuester Zeit ist es in Amerika hie und da zu Flugzeugabstürzen gekommen, die durch an Bord gebrachte Sprengstoffpakete verursacht wurden. Täter waren hier Männer, die ihre hoch versicherten Frauen auf diese Weise töteten — zusammen mit allen anderen Passagieren. Die umfangreichen Sicherungsvorkehrungen im Zuge der Flugzeugentführungen und Flugzeugattentate haben diese Mordmöglichkeiten vereitelt. Auch führen solche aufsehenerregenden Taten zu eingehenden Untersuchungen und verhindern dadurch den Erfolg. In Dänemark hat nach dem Kriege ein gewisser Breving ein Boot bei Middelfart durch Motorexplosion versenkt, um seine Frau zu töten und die Versicherungssumme zu erlangen. Nachdem es ihm zunächst gelungen war, die Ermittlungsstellen zu täuschen, konnte einige Jahre später der wahre Sachverhalt ermittelt werden. Auch die Möglichkeit, einen anderen als den Versicherten in den Tod zu schicken und ihm dessen Papiere in die Tasche zu praktizieren ist nur zweimal ausprobiert worden. In dem — bekannter gewordenen — Fall Kurt Tetzner nahm dieser einen Mitfahrer in sein Auto auf, tötete ihn,
täuschte einen Verkehrsunfall vor und begab sich ins Ausland, um von dort seine Frau zu verständigen, daß alles erledigt sei, um das Geld zu kassieren. Die Täuschung mißlang, weil die Versicherungsgesellschaft stutzig wurde. Wiederholungen dieser Tatausführung gab es nach dem 2. Weltkriege nicht mehr. Der Mord durch Erben oder sonstige Personen, die zu Leistungen verpflichtet sind, gehört ebenfalls zur Gruppe der Gewinnmorde. Zu denken ist hier an Personen, die gegen eine Leibrente ihren Grundbesitz verkauft haben. Es kommt die Zeit, in der die Leistungsverpflichteten dieser Unterhaltszahlungen müde werden, und den Tod des Leibrentners beschließen. In früheren Zeiten waren die Altensitzermorde üblich — wer in bäuerlichen Verhältnissen als Altsitzer die Erben über Gebühr belastete, geriet in Gefahr, getötet zu werden — Arsen wurde regelrecht das Altensitzerpulver genannt. Schließlich sind noch die Schuldner zu nennen, die ihre Gläubiger ermorden — nicht ohne vorher Urkunden zu fertigen, nach denen sie alles bezahlt haben, was sie schuldig waren. All diese Spielarten des Gewinnmordes kommen nur höchst selten vor. Der Raubmord ist die gängigste, die häufigste Form dieser Gruppe, er ist ganz sicher auch die primitivste Form, es bedarf keiner Verschleierung der Tat, weil der Täter unbekannt bleibt und den Tatort nach der Tat verläßt. Erst die kriminalpolizeilichen Ermittlungen können zu seiner Habhaftmachung führen. Die anderen Arten des Gewinnmordes erfordern gewisse Vorbereitungen, Verschleierungsmanöver, erfordern einen Täter, der mehr dem Betrüger ähnelt und in gleicher Weise geschickt ist. Da aber durch Betrug sich ungleich höhere Summen erzielen lassen, bevorzugt der, der täuschen kann, eben den Betrug, nur selten greift er zum Mord. Dieser bleibt dem Täter vorbehalten, der Gewalt als Ausdrucksmittel seiner Überlegenheit liebt und durch ihre Hilfe Geld und Güter erringen will.
4. Sexualmorde von Hentig bezeichnet als Sexualmorde alle Taten, bei denen vor, während oder nach der Tat sexuelle Regungen auftreten. Mit dieser Definition ist eine praktikable Lösung gefunden, die es ermöglicht, auch jene Delikte einzubeziehen, die nicht ausgesprochene „Lustmorde" sind. Denn häufig geht der Sexualmord in den Gewinnmord über — die Mörder nehmen Wertobjekte ihrer Opfer mit, wie etwa Kürten oder Eichhorn (der seine Opfer nach Geldbeträgen durchsuchte), mitunter ist auch unklar, ob die Tötung nicht lediglich zur Tatverdeckung dienen sollte, oder ob sie der eigentliche Schlußakt einer vorhergehenden Notzucht war, der einfach „dazugehörte".
Gewaltkriminalität
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Unter den Tätern finden wir solche mit einer durchaus normalen Sexualität, wir finden ausgesprochen impotente Täter und entartete, deren Triebe anomal erscheinen. Während das Auftreten erwachsener Sexualmörder — auch von Serientätern ·— offenbar in gewissen Zeitabständen unvermeidlich ist und zur „normalen" Erscheinung der Jahrhunderte gehört, fällt auf, daß Sexualmorde durch Jugendliche und Heranwachsende in den letzten beiden Jahrzehnten häufiger zu verzeichnen sind. Ohnehin ist schon die Zunahme der Mord- und Totschlagsfälle durch diesen Täterkreis bedrükkend, wie die nachfolgende Tabelle zeigt: Mord- und Totschlagfälle 1955—1974 (einschl. Versuche) davon Jahr
1955 1958 1960 1964 1970 1971 1972 1973 1974
angezeigte ermittelte Fälle Täter 927 948 1116 1448 2403 2464 2729 2694 2721
904 950 1071 1426 2335 2465 2757 2764 2723
Kinder
Jugendliche
3 5 1 8 9 10 6 12 8
21 36 25 54 105 101 136 136 144
Seit einigen Jahren werden in der Kriminalstatistik der Raub- und der Sexualmord besonders aufgeführt. Hier zeigt sich folgender Anteil der jungen Täter: Raubmordfälle — Tatverdächtige —
Sexualmordfälle — Tatverdächtige —
Kinder
1972 1973 1974
5 10 3
Kinder
1972 1973 1974
1 1 0
Jugendl.
1972 1973 1974
86 88 75
Jugendl.
1972 1973 1974
5 8 6
Heranw.
1972 1973 1974
156 170 191
Heranw.
1972 1973 1974
4 5 15
Erwachs.
1972 1973 1974
1373 1278 1276
Erwachs.
1972 1973 1974
45 61 53
Die Tabelle schließt die Versuche mit ein. Bei den 63 ermittelten Sexualmordtätern machen
demnach die Jugendlichen einen Anteil von 11,3% und die Heranwachsenden einen solchen von 28,3% aus. Die Beteiligung am Raubmord beträgt bei Jugendlichen 14,5%, bei Heranwachsenden 28,5%, liegt also etwas höher. Der Anteil der Erwachsenen berechnet sich damit beim Sexualmord auf 60,4%, beim Raubmord auf 57,0%. Der Anteil des Sexualmordes an der Gesamtzahl aller Fälle des Mordes betrug 1974 29,0% (Raubmord 38,6%). In der Regel gehen dem Sexualmord andere Straftaten sexuellen Charakters voraus. Bei einer Auswertung der Akten von 45 gewalttätigen Triebverbrechern (vorwiegend Mördern) wurde bei 13 Tätern festgestellt, daß sie bereits in der Pubertät Ansätze für ihr späteres Gewalthandeln zeigten. Einer rechtzeitigen Behandlung in Fällen sexuellen Fehlverhaltens kommt also besondere Bedeutung zu. So gilt auch für alle Fälle, in denen jugendliche Täter wegen gewalttätigen sexuellen Verhaltens auffällig werden, daß die Strafe und deren Verbüßung allein keine Garantie für späteres gesellschaftskonformes Verhalten sind. Besonderes Aufsehen erregen naturgemäß Fälle wie die vier Morde an Kindern durch Jürgen Bartsch: Er lockte die Knaben unter dem Vorwand, Schätze zu suchen oder Detektiv zu spielen, mit in einen früheren Luftschutzbunker in Langenberg, um sie dann nach sexuellen Spielereien, Fesselung und Mißhandlung zu töten und regelrecht zu zerlegen, indem er die Bauchhöhle aufschnitt. Diesen sadistischen Quälereien waren jahrelange homosexuelle Spielereien — meist mit Jüngeren — vorangegangen. In anderen Fällen jugendlicher Sexualmörder kommt es zu Tötungshandlungen im Anschluß oder bereits bei der Durchführung unzüchtiger Handlungen oder des Geschlechtsverkehrs durch Würgen oder Drosseln. Opfer sind — je nach Alter des Täters — Kinder, aber auch erwachsene Frauen, die dann allerdings meist an einsamen Orten oder in der Dunkelheit überfallen werden, um sie zu notzüchtigen. Hierbei kann es dann zur Tötungshandlung kommen, zum Teil bedingt durch die Gegenwehr, aber auch als Teilakt des geplanten Tatbegehens. Allgemein kann zur Sexualkriminalität — insbesondere zu den Sexualmorden — festgestellt werden, daß sie im Laufe der letzten Jahrzehnte wellenförmig verlief. Das gegenwärtige quantitative Tief darf nicht zu dem Schluß verleiten, daß Änderungen krimineller Gepflogenheiten eintraten. Die Notwendigkeit einer vernünftigen Sexualerziehung muß unterstrichen werden, um beginnendes Fehlverhalten rechtzeitig zu steuern. 5. Motivarme und motivlose Morde Schwer zu ergründen sind oft die Tötungsdelikte die von Geisteskranken begangen wurden.
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Gewaltkriminalität Wahnhafte Notwehr, Rache, Eifersucht, Streitigkeiten — alles dies mit oder ohne wahnhaften Hintergrund — stehen bei ihnen an der Spitze. Doch kommen Gewaltdelikte bei ihnen nicht häufiger, wenn auch nicht seltener vor als bei gesunden Tätern. Die Motivation geistesschwacher Täter entspricht der Motivation geistig normal begabter Menschen. Nun gibt es aber auch bei völlig gesunden Tätern den motivlosen Mord: Zwei Bekannte, junge Männer, gingen vor einigen Jahren auf der Straße spazieren. Der eine zog plötzlich ein Messer, stach den anderen nieder und erklärte später, er habe sein bisheriges Leben nicht mehr ausgehalten, und eine lebenslange Strafe erhalten wollen: Nur hier fühlte er sich wohl, alles andere widere ihn an. Vier Jugendliche — drei Männer, ein Mädchen — trafen Anfang 1973 nach einem Gasthausbesuch einen ebenfalls jugendlichen Spaziergänger; das Mädchen rempelte ihn an, fragte, warum er nicht grüße, dann schnitten die Täter ihm auf einer Parkbank die Haare ab, zwangen ihn, sich auszuziehen, mißhandelten und prügelten ihn und schleiften ihn ins nahe Stadion. Mit 32 Messerstichen wurde er hier getötet. Ein Motiv konnten die Täter bei der Verhandlung nicht angeben. Ein Unrechtsbewußtsein war bei ihnen auch in der Hauptverhandlung nicht festzustellen, Reuegefühle waren nach den Gutachten der Sachverständigen allenfalls andeutungsweise vorhanden. Der jüngste der Täter (16) war wiederholt wegen unmotivierter Gewalttätigkeiten in Erscheinung getreten, auch die Tatgenossen kamen einige Male mit dem Gesetz in Konflikt — immer in wechselnden Gruppierungen. Die Familienverhältnisse wurden als „katastrophal geborgenheitssteril" bezeichnet — doch macht das die unmotivierte Tat nicht erklärbar. Andere Vorfälle zeigen ähnliche Charakteristika. Ein 44j ähriger schüttete in einer Wirtschaft ein Getränk auf den Anzug eines Jugendlichen. Zusammen mit einem Freund verließ dieser das Lokal, lauerte dem „Übeltäter" auf und schlug ihn nieder, worauf die beiden Jungtäter ihn solange mit den Füßen bearbeiteten, bis er tot liegen blieb. Die Täter gaben an, ihr Opfer habe sich wegen des Mißgeschicks nicht entschuldigt, daher habe man es überfallen. Zwei 17jährige, die sich aus dem Elternhaus entfernt haben, täuschten nachts eine Mopedpanne vor, um einen Autofahrer anzuhalten, dessen Wagen sie entwenden wollten. Als dieser sich, um ihnen mit Benzin auszuhelfen, über den Kofferraum beugte, schössen sie ihn nieder — drei Kugeln trafen von hinten den Kopf. Sie konnten niemals ein plausibles Motiv für diesen Mord angeben — nötig war er nicht für die geplante Diebestat. Drei Heranwachsende rissen um die Mittagszeit im Oberhausener Stadtwald einen Schüler vom Fahrrad, schleppten ihn zum nächsten Tümpel und ertränkten ihn dort
— auch hier war kein Motiv gegeben. Ein 15jähriger, Sohn des Hausbesitzers, zu dem ein Mieter kam, zog ein Messer, tötete den Mann (einen aus Ungarn stammenden Gelehrten), suchte dann die Wohnung seines Opfers auf, öffnete sie mit einem Zweitschlüssel und erstach die Ehefrau. Die zunächst hinsichtlich der ersten Tat behauptete Notwehr wurde widerlegt. Das Motiv blieb rätselhaft. Nahezu ausschließlich sind diese Taten von jungen Tätern begangen worden. In den meisten Fällen zeigten sich Sozialisationsschäden, geistige Erkrankungen wurden nicht festgestellt. Die bestehende Gemütlosigkeit führt zur hemmungslosen Tötung des Nachbarn oder menschlichen Gegenübers, wobei plötzliche Launen, Unmutsgefühle oder Verärgerungen auslösend sind — Verhaltensweisen, die aus der Rockerszene bekannt sind.
B. Raabtaten 1.
Entmcklung
Unter allen Delikten zeigt die Kriminalitätskurve des Raubes den steilsten Anstieg. Die Raubkriminalität weist jedoch auch in sonstiger Hinsicht Besonderheiten auf, die sich von früheren Erscheinungsformen wesentlich unterscheiden. Der Gewaltcharakter dieses den Bereicherungstaten zugehörigen Delikts tritt schärfer hervor, die Anziehungskraft des Raubes wirkt sich mehr und mehr auf junge und jüngste Jahrgänge aus, die Tatausführung paßt sich den jeweiligen Gegebenheiten sofort an. Eine besondere Darstellung unter dem Gesichtspunkt der Gewaltkriminalität ist daher erforderlich. Zunächst fällt die erhebliche Steigerung der Taten auf. Die Häufigkeitsziffer betrug: 1955
7,06 = =
3685 Fälle
1963
11,7
6721 Fälle
1970
21,5 = 13230 Fälle
1974
30,6 = 18965 Fälle
Diese Steigerung erstreckt sich auf nahezu alle Formen des Raubes — ausgenommen die Raubüberfälle auf Banken, Geldtransporte, Taxifahrer. Hier lag die Spitze in den Jahren 1966/1967, seither ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, allerdings auch ein Übergang zu der neuen Form des Bankraubes mit Geiselnahme. Die Untergruppen des Raubes zeigten in den Jahren 1971 und 1974 folgende Entwicklung:
88
Gewaltkriminalität 1971
1974
Raubüberfälle auf Geldinstitute u. Poststellen
297
266
Raubüberfälle auf sonst. Zahlstellen u. Geschäfte
685
735
Raubüberfälle auf Geldu. Werttransporte
117
117
Autostraßenraub
336
373
Zechanschlußraub
1584
1803
Handtaschenraub Sonstige Raubüberfälle auf Straßen, Wegen oder Plätzen
2301
2979
6054
6954
15531
18965
Gesamtzahl
Die Entwicklung in den Jahren vor 1971 läßt sich leider aus der Kriminalstatistik nicht ablesen. Lediglich für die Sammelgruppe „Raubüberfälle auf öffentliche Kassen einschl. Kassenboten sowie auf Bundesbahn und Bundespost" liegt die Sonderaufstellung von Terpitz vor: 1953
24
1963
1954
30
1964
100 202
1955
43
1965
229
1956
1966
389
1957
66 52
1967
1958
42
1968
430 322
1959
36
1969
212
1960
53
1970
235
1961 1962
53 71
1971
356
Zeigt sich so — die Banküberfälle ausgenommen — eine Steigerung in allen Untergruppen, so hat jedoch der Raub eine Wanderung in die großen Städte angetreten und ist inzwischen „das" Delikt der Großstadt geworden. Die Raubtaten auf dem Lande und in den kleineren Städten sind hingegen prozentual zurückgegangen. Um vergleichen zu können, sind die Zahlen des Jahres 1954 — die auf einer anderen Größenklasseneinteilung beruhen — auf die neue Größenklasseneinteilung umgerechnet worden. Prozentuale Aufgliederung der Tatortbereiche Orte mit mehr als 100000 E. 1954 1964 1974
55,3 61,3 66,4
Orte mit 20000 bis 100000 E. 16,2 19,4 20,8
Orte bis zu 20000 E. 28,5 19,3 12,7
Der Raubtäter hat es gelernt, sich den Verhältnissen der Städte anzupassen. Der Raub in der Dunkelheit auf wenig begangenen Straßen oder zu später Nachtzeit schützt den Täter genauso wie früher der Raub auf der einsamen Landstraße. Das Risiko bei Raubüberfällen auf Geschäfte oder Banken, die j a am Tage und oft auch in den Verkehrszentren der Großstädte erfolgen, wird durch Maskierung, Waffengebrauch (mindestens Androhung) und schnelle Fluchtmittel (Autos) gemindert. Schließlich besteht durch die Geiselnahme kaum noch ein Risiko für den Raubtäter, er kann auch dann, wenn er am Tatort von der Polizei angetroffen wird, dennoch ungefährdet entkommen. List, Ausnutzung der Nacht oder Einsamkeit, körperliche Überlegenheit, Schnelligkeit sind nicht mehr im gleichen Maße nötig wie vordem. Die Waffe macht auch den Schwachen oder Jugendlichen gefährlich, es genügt die Bereitschaft, das Leben anderer einzusetzen und zu gefährden, um jederzeit jedenorts den geplanten Raub ausführen zu können. Die Technisierung hat den Täter unabhängiger und gefährlicher gemacht, er hat die darin liegenden Möglichkeiten ausgeschöpft. Diese Möglichkeit, leicht und rasch über Bargeld verfügen zu können (das im Gegensatz zur Beute des Diebes j a stets ungefährdet ausgegeben werden kann), hat zur Ausbreitung der Raubdelikte beigetragen. Besonders unter den Kindern und Jugendlichen zeigte sich ein Anstieg der Raubtaten. Sogar Raubüberfälle auf Banken durch Jugendliche blieben keine Ausnahme. Bei den Kinder-Raubtaten handelt es sich in der Mehrzahl um Delikte an gleichaltrigen oder jüngeren Opfern bzw. um Taten an älteren Frauen, Betrunkenen oder entsprechenden Opfern. Doch weist die Vielzahl der angezeigten Taten auf die erhebliche Ausweitung der Bereitschaft hin, Gewalt anzuwenden. Beteiligung der Altersgruppen an Raubdelikten Jahr 1954 1964 1971 1974
Kinder 2,1% 3,8% 7.4% 7,4%
Jugendl. Heranw. Erwachs. 9,1% 13,3% 18,4% 19,0%
20,0% 20,2% 22,0% 21,0%
68,7% 62,7% 52,2% 52,6%
Aufschlußreich ist die Aufgliederung nach den Raub-Untergruppen, wie sie für das Jahr 1974 vorliegt:
Raubüberfälle auf Geldinstitute pp.
Kinder
Jugendl.
Heranw.
—
4,4%
11,1%
Gewaltkriminalität Kinder Raubüberfälle auf Zahlstellen und Geschäfte Raubüberfälle auf Geld- und Werttransporte Autostraßenraub Zechanschlußraub Handtaschenraub Sonstige Raubüberfälle auf Straßen pp.
Jugendl. Heranw.
0,4%
11,5%
25,9%
1.0%
10,1% 16,0%
11,1% 31,7%
11,8%
7,7% 41,2%
21,6% 18,3%
13,1%
23,1%
24,0%
—
0,2%
Bei mehr als zwei Dritteln der ermittelten Täter handelt es sich um solche, die bereits kriminalpolizeilich in irgendeiner Weise in Erscheinung getreten sind, d. h. mindestens als Verdächtige vernommen wurden. Das gilt für alle Altersgruppen — also auch für die Jungtäter. Bei der Gruppe „Raubüberfälle insgesamt" sind das 67,3% der ermittelten Täter, bei den Bankräubern waren 73,7% in Erscheinung getreten, während die sonstigen Gruppen sich zwischen 60,3% und 67,7% bewegen. (Höchster Prozentanteil mit 77,5% bei den Geschäftsräubern.) Die Quote der beteiligten Berufs- und Gewohnheitstäter beläuft sich auf 1,6% und weist nur bei den Bankräubern eine Beteiligung auf, die erheblich höher liegt (7,0%). Der Räuber muß beweglich sein. Das zeigt sich am hohen Anteil überörtlicher Täter, der erheblich größer ist als bei den anderen Straftaten. Er beträgt bei der Gruppe Raub-Gesamtdelikte 41,1%, liegt niedriger beim Zechanschlußraub (36,2%), beim Handtaschenraub (41,1%) und bei der Gruppe „Sonstige Raubüberfälle" (32,4%). Bei den einbringlicheren Raubdelikten ist die Beteiligung überörtlicher Täter größer: so beim Bankraub (68,9%), beim Geschäftsraub (58,1%), bei den Überfällen auf Geldtransporte (53,5%) und beim Autostraßenraub (56,6%). Je riskanter die Tat, je größer aber auch die Beute, um so mehr ist der Täter — will er erfolgreich sein — gehalten, seinen Tatort außerhalb seiner Wohngemeinde zu suchen. Alles in allem also heute ein Delikt, das zwar von jedermann — unabhängig vom Alter — am Wohnort begangen werden kann, wenn günstige Zeiten und Gelegenheiten ausgenützt werden, das aber, wenn es sich lohnen soll, den Besitz einer Waffe, eines Fahrzeuges und die Beteiligung von Tatgenossen (Bankraub!) erfordert. 2.
Geiselnahmen
Was jedoch den Raub früherer Jahre von seinen heutigen gefährlichen Formen unterscheidet, ist
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die Bedrohung von Geiseln bei der Tatausführung. Konnte in den Jahren 1968—1970 ein fühlbarer Rückgang der Banküberfälle durch den forcierten Einbau von Sicherungsmaßnahmen (Verkleidung der Kassiererplätze mit schußsicherem Glas, Einbau von Alarmanlagen) erreicht werden, ein Rückgang, der sich vor allem bei den meistgefährdeten ländlichen Bankfilialen zeigte, so nahmen die Überfälle in den folgenden Jahren wieder zu. Zunächst kam die Gepflogenheit auf, nachts in die Wohnungen der Bankkassierer einzudringen, um diese mit Waffengewalt zu veranlassen, mit den Tätern ihre Bank aufzusuchen und hier den Tresor zu öffenn. Oft mußte auch der Besitzer des Zweitschlüssels (Filialleiter) hinzugeholt werden. Die Familien wurden in dieser Zeit von den Tatgenossen bewacht (so die Arbeitsweise der Welperbande im Ruhrgebiet). Bald darauf — am 30.12.1968 — raubte ein 35jähriger Mann bei der Sparkasse Badenweiler 9500.— DM, nahm den Filialleiter als Fluchtgeisel mit, tauschte ihn gegen einen Passanten aus, den er zwang, sein Auto zur Verfügung zu stellen, und erschoß schließlich auf der Flucht diese Geisel. Blieb dieser Vorfall relativ unbeachtet, so wurde der Überfall auf die Deutsche Bank in München am 4.8.1971 weltweit bekannt und konnte am Fernsehen mitverfolgt werden. Hier wurden erstmals in der BRD das gesamte in der Bank tätige Personal sowie die Bankkunden als Geiseln mit dem Tode bedroht, falls nicht die Polizei die Bereitstellung des Geldes (2 Mio DM) und freien Abzug garantiere. Trotz des blutigen Ausgangs (einer der Täter wurde von der Polizei bei der Überwältigung erschossen und konnte vorher noch eine Geisel töten) wurde nun die Geiselnahme Mode und fand überall Nachahmer. Die Waffendrohung richtete sich nicht mehr gegen den ·— völlig geschützten •— Kassierer, sondern gegen die Kunden oder das sonstige Personal. Die Bank wurde nicht mehr aufgesucht, wenn k e i n e Kunden da waren, sondern dann, wenn viele Menschen anwesend waren — um so leichter gelang der Überfall. Die Polizeitaktik — in die Bank zu gelangen, um die Täter zu überwältigen — schlug fehl und mußte geändert werden. Das rechtzeitige Eintreffen der Polizei, während die Täter noch am Tatort waren, provozierte diese geradezu dazu, Geiseln zu nehmen (so in Köln am 27.12.1971). Nicht einmal eine echte Schußwaffe war vonnöten, auch hier genügte eine Attrappe, es genügten auch Paketchen oder dubiose Gegenstände, die als Sprengstoff deklariert wurden, um den gewünschten Erfolg herbeizuführen. Seither ist die Bedrohung des Personals und der Kundschaft bei Nichthergabe des Geldes Gewohnheit geworden. Die bisherigen Sicherungsmaßnahmen wurden damit umgangen und wirkungslos. Bei schnellem Eintreffen der Polizei am Tatort muß immer
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Gewaltkriminalität
mit einer Entführung der Geisel zur Ermöglichung der Flucht gerechnet werden, so daß die Frage, ob Bankräuber in der Bank zerniert werden oder ob man sie zunächst — ohne Geiseln — herauskommen lassen soll, um sie dann abzufangen, jedes Mal geprüft werden muß. Ebenso muB im Falle der Geiselnahme bei Eintreffen der Polizei die Sicherung des Lebens der Geisel gewährleistet werden und zugleich eine Überwältigung des Täters erfolgen. DaB hierbei die Überwältigung des Täters am Orte des ersten Geschehens erfolgen muB, ist inzwischen anerkannt. Frühere Überlegungen, nach denen dem Täter die Flucht ermöglicht wurde, um ihn später bei günstiger Gelegenheit doch noch festnehmen zu können, haben sich als unzweckmäßig erwiesen, und führen nur dazu, daB weitere Straftaten geschehen bzw. der Täter entkommt. Diese neue Verhandlungs- und Zermürbungstaktik hatte sich in Stockholm bewährt. Dort war am 23. 8.1973 der flüchtige Strafgefangene Olsson in die Sverige Kreditbanken eingedrungen, er führte eine Maschinenpistole und Sprengstoff bei sich. Er nahm vier Geiseln und sperrte diese in den Tresorraum. Seine Forderungen: Freilassung des gefährlichen Rechtsbrechers Olofsson und Überstellung in die Bank, Zahlung von 3 Millionen Lösegeld, Gestellung eines Fluchtwagens, freies Geleit unter Mitnahme von zwei Geiseln. Die Polizei überstellte Olofsson, stellte vor der Bank den Fluchtwagen mit 1% Millionen Kronen ab und verlangte lediglich den Abzug ohne Mitnahme der Geiseln, dann würde die Kestsumme gezahlt. Darauf gingen die Täter jedoch nicht ein. In die Decke des Tresors wurden nun Löcher gebohrt, um Gas hineinzublasen. Die Geiselnehmer banden daraufhin ihre Geiseln im Stehen an die Tresorschließfächer mit Schlingen fest, so daß sie bei Eintritt des Gases in die Schlingen fallen und erdrosselt werden mußten. Dennoch wurde in den folgenden Tagen weitergebohrt, auch weiterverhandelt. Durch eins der Bohrlöcher wurde ein Polizist aus der Maschinenpistole von Olsson am Kopf getroffen, die Kugel blieb im Unterkiefer stecken. Am 28.8. begannen die Täter zu resignieren, das Angebot der Polizei auf freien Abzug wurde zurückgezogen. In den Abendstunden wurde eine besonders lautstarke Bohrung angesetzt, bei der Tränengas in die Bohrlöcher geleitet wurde. Hierauf warf Olsson seine Maschinenpistole durch eines der Bohrlöcher und gab auf, zusammen mit einer Geisel räumte er die Hindernisse vor der Tresortür ab. Er wurde zusammen mit Olofsson festgenommen. Während der „Belagerungszeit" wurden die Eingeschlossenen mit Getränken, nicht aber mit sonstigen Nahrungsmitteln versorgt. Auch eine chemische Toilette wurde verweigert, so daß in dem 30 qm großen Raum bald „unbeschreibliche"
Zustände herrschten. Olsson war seit dem 10. Lebensjahr straffällig geworden, und lernte Olofsson im Gefängnis kennen. Olofsson, wegen Polizistenmordes in Strafhaft, war nach einem gelungenen Ausbruch in Deutschland wieder gefaßt worden und galt als der bestbewachte Rechtsbrecher Schwedens. Er war für Olsson ein Idol, den er befreien wollte, um durch diese einmalige Tat bekannt zu werden und seinen geradezu krankhaften Haß auf die Polizei zu befriedigen. Da auch auf dem Sektor der politischen Terrorkriminalität nach und nach diese Taktik der Zermürbung sich durchsetzte, haben ähnliche spektakuläre Taten nachgelassen. Geblieben ist jedoch der Angriff bzw. die Bedrohung Unbeteiligter bei Banküberfällen (angedrohte Geiselnahme) als wirksames Mittel zur Umgehung von Sicherheitsmaßnahmen. Hier bietet sich jedoch als Bekämpfungsmittel der Einsatz von Kameras an, die jede Phase des Raubüberfalles zur späteren Identifizierung aufzeichnen sowie die unbemerkte Alarmierung der Polizei, die verdeckt den Tatort besetzt, um die Täter beim Verlassen der Bank abzufangen. Eine solche unbemerkte Alarmierung ist technisch möglich.
3.
Serientaten
Ebenfalls bemerkenswert beim Raub ist die Beobachtung der Neigung zu Serientaten bei den Tätern. Das gilt nicht nur für Banküberfälle, sondern ist auch bei den Handtaschen-, Zechanschluß- und Kinderraubtaten festzustellen. Gelungene Raubüberfälle verschaffen zwar dem Täter zunächst die erhoffte Geldsumme. Der Taterfolg aber läßt ihn auf den Gedanken kommen, für die Zukunft vorzusorgen, und so wird sogleich die nächste Tat geplant. Die Hamburger Taxiunternehmer (deren prominentestes Mitglied die „Banklady" war), die 1964—1967 insgesamt 19 Überfälle begangen hatten, wollten zunächst insgesamt 100000 DM erbeuten. Nach den ersten Erfolgen beschloß man, daß nun jedes Mitglied der Bande mindestens 100000.— DM erhalten sollte. So zeigen sich Serien von 10, 15, 20 Überfällen, die erst durch das Eingreifen der Polizei beendet werden. Soweit es sich nicht gerade um Handtaschenund Zechanschlußraubtaten handelt, ist in solchen Fällen die Beteiligung mehrerer notwendig. Bei solchen Gruppen oder Banden fällt auf, daß deutsche Täter die Beteiligung ausländischer Tatgenossen nicht verschmähen, mitunter sind sogar Angehörige von drei oder vier Nationen an einer Tat beteiligt. Darüber hinaus kommen natürlich auch Gruppen vor, die ausschließlich aus Ausländern bestehen. Taktiken und Modalitäten ausländischer Verbrecherkreise werden daher zwangsläufig nachgeahmt und übernommen. So sind ja
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Gewaltkriminalität Geiselnahmen und Entführungen in den USA, Italien und Frankreich lange vor ihrer Praktizierung in der BRD üblich gewesen. Die Beteiligung ausländischer Täter erschwert zweifellos die Ermittlungen, ist doch ihre Identität und ihr Aufenthalt nicht so leicht festzustellen wie bei deutschen Tätern. Zudem zeigt sich bei der Tatausführung eine größere Unbefangenheit, d. h. in der Anwendung von Gewaltmaßnahmen und Druckmitteln legen sich die Täter keine Hemmungen auf. Die Schwierigkeit, sich verständlich zu machen, wird durch erhöhten Gewalteinsatz ersetzt. Das ist umgekehrt ebenso: Deutsche Räuber im Ausland sind in den hier bekanntgewordenen Fällen (die zahlenmäßig keine besondere Rolle spielen) genauso rücksichtlos und brutal vorgegangen. Man schlägt die Opfer sehr viel schneller nieder oder schießt auf sie, schon um wieder schnell den Tatort verlassen zu können und in der ja relativ unbekannten Gegend größere Entfernungen zwischen sich und den Tatort zu legen. Für den dargelegten Anstieg der Raubüberfälle und die Brutalisierung der Taten, um auf jeden Fall den Erfolg sicherzustellen, ist ganz sicher nicht echte Not verantwortlich zu machen. Um seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, brauchen heute lediglich der flüchtige Häftling, der Nichtseßhafte oder Kinder/Jugendliche, die ihr Elternhaus aus eigenem Entschluß verlassen haben, Raubüberfälle durchzuführen: Ein Teil der Handtaschenräubereien und der „sonstigen Raubüberfälle" geht auf diese Kreise zurück. Der Großteil der Überfälle geschieht indes, um entweder den Lebensunterhalt gänzlich aus der Raubtat zu bestreiten und nach Verausgabung des Geldes die nächste Tat vorzubereiten (Fälle dieser Art sind genügend verbreitet, so dürfte eine Beute von 50000 DM am Anfang des Jahres sehr gut für die nächsten 12 Monate ausreichen, zumal sie steuerfrei ist!) oder doch um die Einkünfte aufzubessern. Daß hierbei das Opfer brutalisiert wird und auch seelisch unter dem Eindruck der Tat leidet, wird meistens gar nicht mehr empfunden, zumal die Bedrohung mit der Waffe vom Täter nicht als schwerwiegende Tat aufgefaßt wird. Die heute oft übliche Rücksichtslosigkeit und der Egoismus auch im sozialen Leben wirken sich auch auf dem Gebiet der Kriminalität aus. Banken, Großhandlungen, Supermärkte als Raubobjekte werden kaum als „Geschädigte" betrachtet, da der Täter ohnehin meist sehr differenzierte Vorstellungen über den Eigentumsbegriff besitzt. So entschuldigt er seine Tat vor sich selbst und ist leicht geneigt, sie zu wiederholen — sie trifft ja „keinen Armen". Schließlich befriedigt die gelungene Tat auch den im Leben — wenn auch nur vermeintlich — zu kurz Gekommenen oder Gescheiterten. Sie stellt sein Selbstbewußtsein wieder her und befrie-
digt auch vorhandene Aggressionsbedürfnisse. Dies ist wohl auch der Grund für die zunehmende Beteiligung junger Täter, die ihre Rauflust und ihren Wunsch, Anerkennung und Erfolg zu finden, durch die Raubtat befriedigen können: So wird oft aus kindlicher Rauferei und kindlichem Spiel ein regelrechter Raub. Allerdings zeigt sich andererseits bei eintretender Verwahrlosung, daß der Raub recht bald neben dem Diebstahl praktiziert wird und seines schnellen Erfolges halber und wegen des Umstandes, daß die Beute gegen alle anderen Gegenstände „austauschbar" ist, sich großer Beliebtheit erfreut.
C. Geiselnahmen 1.
Entwicklung
Geiseln sollen mit ihrem Leben dafür einstehen, daß die Forderungen des Geiselempfängers oder Geiselnehmers durch andere Personen oder Institutionen erfüllt werden. Der Mensch dient damit als Faustpfand den mannigfachen Zwecken dessen, der ihn „besitzt" — und in der Tat ist die Geisel nichts anderes als eine Art Fortsetzung der Sklaverei. Ursprünglich wurde im Kriege der feindliche Soldat getötet, sobald man seiner habhaft wurde. Später ging man dazu über, seine Arbeitskraft wirtschaftlich zu nutzen — er verlor seine Freiheit und wurde Sklave. Wurden mehr Gefangene gemacht als man Sklaven brauchte, so versuchte man, diese zu verkaufen. Dieser Sklavenhandel blühte noch im 13. Jahrhundert, venezianische Kaufleute verkauften bis in den Orient die Gefangenen aus den Feldzügen dieser Epoche, noch im 16. Jahrhundert lebten tausende von Mauren als Sklaven in spanischen und portugiesischen Haushalten. Bis ins 17. Jahrhundert hinein mußten gefangene Soldaten nach geltendem Kriegsrecht durch Lösegelder freigekauft werden. Der Gefangene hatte also einen gewissen Marktwert, den man nutzen konnte. Wurden Pakte oder politische Vereinbarungen sonstiger Art geschlossen, so konnte die Gestellung von Geiseln vereinbart werden. Der jeweils schwächere oder im Krieg besiegte Part stellte Angehörige von Adelsgeschlechtern, die am Hofe des Gegners lebten — und natürlich sofort getötet werden konnten, wenn der Vertrag nicht eingehalten wurde. Sofern diese Geiseln nicht ohnehin bekannt waren, fand gewöhnlich eine Identitätsüberprüfung statt — denn wenn nicht Geiseln aus der Oberschicht, sondern etwa einfache Soldaten oder Angehörige der unteren Stände unter der Vortäuschung, sie gehörten der herrschenden Klasse an, sich als Geiseln einfanden, waren sie ja wertlos. Der Geiselsteller pflegte in solchen
92
Gewaltkriminalität
Fällen den Vertrag zu brechen und nahm die Tötung der Geiseln in Kauf. Die Gepflogenheiten der Kriegführung sind seit jeher für die Verbrechensbegehung genutzt worden. Und so wurde die Entführung von Menschen, um sie später gegen gutes Geld auszutauschen, zu Wasser und zu Lande recht früh schon betrieben — wahrscheinlich war Dionysos, der griechische Gott des Weines und der Fruchtbarkeit, das erste Opfer: Seeräuber nahmen ihn gefangen, weil sie aus seiner prächtigen Kleidung auf hohe Abkunft schlossen. Der Gott befreite sich jedoch alsbald und verwandelte seine Entführer in Delphine. Die deutschen Raubritter, dem wirtschaftlichen Ruin durch die Heraufkunft der Städte und des Handels preisgegeben, versuchten sich noch eine Zeitlang durch Raubzüge und Geiselnahmen zu halten, wurden aber schließlich im 15./16. Jahrhundert systematisch verfolgt und abgeurteilt, soweit sie sich als pure Räuber betätigten. Ihre Methoden griffen später die entlassenen Landsknechte des Dreißigjährigen Krieges und die Räuberbanden des 18./19. Jahrhunderts wieder auf. Mit der dann eintretenden Festigung staatlicher Gewalt schien die Entführung von Menschen im Grunde genommen beseitigt zu sein. Das StGB kannte nur das Verbot des Menschenraubes zum Zwecke der Verbringung in Sklaverei, Leibeigenschaft oder auswärtige Kriegsdienste; es verbot auch die Aussetzung, den Bruch der elterlichen Gewalt durch Entführung des Kindes und die Entführung von Frauen zum Zwecke der Unzucht. Die Freiheitsberaubung eines Menschen aber — d. h. seine Einsperrung oder die Entziehung der Freiheit auf andere Weise — wurde recht milde geahndet. Eine Sonderbestimmung, die die Entführung eines Menschen zu Erpressungszwecken behandelte, fehlte gänzlich. Eine Notwendigkeit strenger Bestrafung bestand offensichtlich nicht. Erst durch das 12. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16.12.1971 sind nunmehr die §§ 239 a und 239 b eingefügt worden, die die modernen Formen der Entführung entsprechend dem Unrechtsgehalt dieser Taten ahnden. § 239 a stellt die Entführung (oder Bemächtigung) eines Menschen unter Strafe, wenn dadurch die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung gem. §253 ausgenützt werden soll, §239b stellt unter eine härtere Strafandrohung diese Entführung, wenn durch sie ein Dritter durch die Drohung mit dem Tode des Opfers zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt werden soll. In beiden Fällen kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden, wenn der Täter das Opfer unter Verzicht auf die erstrebte Leistung in den alten Lebenskreis zurückgelangen läßt. Die Schaffung dieser Tatbestände wurde nötig, weil nach der Beendigung des 2. Weltkrieges
erpresserische Entführungen —• zunächst von Kindern — mehr und mehr auch in der Bundesrepublik Deutschland vorkamen (der erste Fall ereignete sich 1958) und auch bei anderen Gelegenheiten — etwa beim Bankraub — die Täter sich nachts Zugang zu den Wohnungen von Filialleitern verschafften, um diese zwecks Öffnung der Banktresore zu entführen, während ihre Familienangehörigen mit Erschießen bedroht wurden, falls Widerstand gezeigt wurde. Die Entführung zu Erpressungszwecken, die zunächst in den Vereinigten Staaten praktiziert wurde, ist dort vor allem in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen auch geschäftsmäßig betrieben worden, ζ. T. durch kriminelle Organisationen. In der Zeit nach dem 2. Weltkrieg breitete sich diese Verbrechensform weiter aus und hat derzeit vor allem in Italien um sich gegriffen (1975: 65 Entführungen bei einer Gesamtlösegeldsumme von 231 Mio DM). Auch Frankreich wird von der Zunahme der Entführungen bedroht, so daß nunmehr gezielte energische Gegenmaßnahmen angekündigt wurden. Die unterschiedlichen Formen der Entführungen und sonstigen Arten der Geiselnahmen sollen nun dargestellt werden.
2. Erpresserischer
Kindesraul·
Für die erpresserische Entführung hat sich das Wort „Kidnapping" eingebürgert. Es wurde aus den Vereinigten Staaten für diese Verbrechensform übernommen, stammt aber aus England. Dort wurden im 17. Jahrhundert Kinder gewerbsmäßig entführt, um sie an die Pflanzer in den Vereinigten Staaten als Arbeitskräfte für die Plantagen zu verkaufen. Dieser Handel wurde mit Kidnapping bezeichnet — Kid war der Name für eine junge Ziege, das Ziegenkitz, und dieser Begriff wurde auf die geraubten Kinder übertragen. Heute wird auch die Entführung erwachsener Menschen so genannt. Kidnapping wurde übrigens in England auch die gewaltsame Anwerbung von Rekruten genannt. Die erste bekanntgewordene Kindesentführung zu Erpressungszwecken ereignete sich 1874 in Germantown im Staate Philadelphia (USA). Zwei Männer forderten dort die beiden Brüder Charley und Walter Ross, 4 und 6 Jahre alt, auf, zu einer Spazierfahrt mit ihnen eine Kutsche zu besteigen. Während der ältere kurz darauf nach Hause geschickt wurde, verlangten die Entführer für die Freilassung des zweiten Jungen die Summe von 20000 Dollar. Da der Vater die Summe jedoch nur gegen die Übergabe seines Kindes zahlen wollte, die Täter jedoch Vorauszahlung verlangten, unterblieb die Freilassung. Das Schicksal des Opfers blieb unbekannt, obgleich der Vater in den
Gewaltkriminalität folgenden 20 Jahren mehr als 60000 Dollar für die Suche seines Kindes aufwendete. Die nächsten Entführungen erfolgten in den Jahren 1900 und 1909, dann erst wieder 1924. Bis 1956 folgen weitere zehn Fälle. Ungleich zahlreicher sind jedoch die Entführungen Erwachsener. Sie waren in den Vereinigten Staaten deshalb beliebter, weil zwar die Kindesentführung schnell und reibungslos vonstatten ging, sich jedoch in der Folge dann eine Reihe von Problemen ergab, die kaum zu lösen waren. Kinder sind nur schwer ruhig zu halten, sie fallen in der Nachbarschaft sofort auf, sie müssen anders versorgt werden als Erwachsene. Der Einkauf von Nahrungsmitteln für sie oder gar Spielzeug erregt Aufsehen. Zudem sind Kinder gute Beobachter und bilden daher nach ihrer Freilassung eine Gefahr hinsichtlich der Ermittlung der Täter. So kommt es dazu, daß in vier Fünfteln der Fälle diese kindlichen Opfer getötet werden — sei es aus Furcht, sei es wegen der sich plötzlich ergebenden Komplikationen. Die Entführungen von Erwachsenen endeten hingegen fast immer reibungslos und ohne schwere Folgen. Die aufsehenerregendsten Fälle von Kindesentführungen waren 1924 der Fall Franck, 1932 der Fall Lindbergh und 1953 der Fall Greenlase. Der 14jährige Bobby Franck, Sohn eines Chikagoer Millionärs, wurde von der Straße weg entführt. Die Täter verlangten ein Lösegeld von 10000 Dollar, das Geld sollte aus einem fahrenden Zug zwischen zwei genau bezeichneten Stationen geworfen werden. Kurze Zeit später wurde jedoch die Leiche des Opfers aufgefunden, man hatte das Kind erschlagen, entkleidet und in einen Abzugskanal regelrecht hineingestopft. Neben der Leiche fand sich eine wertvolle Brille. Sie ermöglichte die Ermittlung der Täter, der beiden Millionärssöhne Richard Loeb und Nathan Leopold, beide 18 Jahre alt. Sie hatten das Opfer gut gekannt, es gehörte dem gleichen Gesellschaftskreis an. Loeb und Leopold unterhielten homosexuelle Beziehungen zueinander. Das Motiv dieser Tat blieb ungeklärt. Nach der einen Auffassung wollten sie ein „perfektes Verbrechen" begehen und damit ihre Intelligenz beweisen, nach der anderen Ansicht wollte Loeb durch die Tat seinen Freund Leopold fester an sich binden (Leopold beabsichtigte, sich von seinem Freunde zu trennen, um zu heiraten). Auch das 20 Monate alte Kind des Ozeanfliegers Lindbergh wurde kurz nach der Entführung getötet. Der Täter stieg mittels einer Holzleiter in das Kinderzimmer der Lindberghs ein und bemächtigte sich des Kindes. Sechs Wochen später wurde die Leiche zufällig neben einer Landstraße aufgefunden. Es ist möglich, daß das Baby dem Täter bei der Tat entglitt und dadurch beim Fall getötet wurde. Trotz des ungeheuren Aufsehens und der Mitfahndung der Bevölkerung gelang es nicht, den Entführer zu ermitteln. Dieser hatte
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die geforderten 50000 Dollar erhalten, er gab auch das angebliche Versteck des Kindes an, obgleich er sich der Leiche längst entledigt hatte. 2y 2 Jahre später (September 1934) gelangte über eine Tankstelle einer der damals notierten Geldscheine in den Verkehr. Da der Tankwart noch das Kennzeichen des Fahrzeughalters angeben konnte (die Banknoten waren ungültig geworden und nur bei den Banken einlösbar, deshalb hatte der vorsichtige Tankwart sich den Wagen notiert), war die Ermittlung Routinesache. In der Garage des so ermittelten Richard Hauptmann fanden sich noch 13 000 Dollar des Lösegeldes. Auch der 6jährige Bobby Greenlase wurde 1953 sofort nach der Entführung aus der Schule ermordet. Die beiden Entführer — Carl A. Hall und seine Freundin Bonny B. Heady — vergruben die Leiche auf dem Grundstück der Heady. Das Grab war schon Tage vorher ausgehoben worden. Sie forderten 600000 Dollar und erhielten sie auch. Die Verbrecher gaben das Geld mit vollen Händen aus, Hall erzählte in der Trunkenheit einem Taxifahrer die Tat. So konnte die Festnahme erfolgen. Der erste deutsche Fall ereignete sich 1958. Angeregt durch Zeitungsberichte über die Entführung eines sizilianischen Adligen lockte in Stuttgart der 40jährige Tillmann den 7jährigen Joachim Goehner in den Haldenwald und erwürgte ihn dort. Er forderte telefonisch 15000 DM. Die Geldübergabe verzögerte sich jedoch, dann wurde 7 Tage später die Leiche des Jungen aufgefunden. Als dieser Umstand bekannt wurde, hörten die Kontaktbemühungen des Täters naturgemäß auf. 14 Tage nach der Tat versuchte man, durch Ausstrahlung der mitgeschnittenen Täterstimme den Fall zu klären. Alle anderen Versuche, dieses in der BRD völlig neue Verbrechen aufzuklären, waren vergeblich geblieben. Durch die Ausstrahlung gingen 3000 Hinweise ein, von denen sich 6 auf Tillmann bezogen. Er wurde daraufhin festgenommen, gab die Tat zu, erhängte sich jedoch einige Tage darauf. Auch die nun folgenden weiteren zehn Kindesentführungen endeten nicht so, wie es sich die Täter vorgestellt hatten. In vier Fällen wurden die Kinder ermordet (Hansi Knaup 1961, Timo Rinnelt 1964, Renate Putz 1971 und Willi Zimmermann 1974), in den anderen Fällen konnten sie ihren Eltern zurückgegeben werden. Im Falle Rinnelt hatte der Entführer jeden Kontakt mit den Eltern abgebrochen, als entgegen den Vereinbarungen die Tat in der Presse publiziert wurde. Das Schicksal des Kindes blieb ungewiß. Der Täter meldete sich ein Jahr nach der Tat erstmalig wieder (1965), rief auch 1966 noch einmal an, um Geld zu erhalten, holte jedoch die bereitgelegte Summe nicht ab. 1967 verlangte er brieflich 15000 DM für die Hergabe eines Hinter-
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Gewaltkriminalität
grand-Interviews über den Fall von einer Illustrierten. Kontakte wurden aufgenommen, bei einer Observation konnte er festgenommen werden. Durch einen weiteren Hinweis ergab sich der Verdacht, daß die Kindesleiche in einem ihm zugänglichen Keller versteckt sein könnte. Hier wurde sie in der Tat aufgefunden. Der Täter, der seinerzeit 23jährige Klaus L., hatte sein Opfer erdrosselt, als es anfing zu schreien. Bisher war es in diesen Fällen der Entführung üblich, Kinder reicher oder zumindest wohlhabender Eltern als Opfer auszuwählen. Sie wurden auf der Straße angesprochen und mitgelockt oder in ein Auto gezerrt. Verstecke boten sich in der Wohnung des Entführers selbst, in Schuppen, Gartenhäusern oder Kellern. Der Kontakt zu den Eltern wurde schnellstens aufgenommen, die Lösegeldsumme so bemessen, daß sie rasch gezahlt werden konnte. Die Ablage der Summe sollte regelmäßig so erfolgen, daß sich der Täter unbeobachtet nähern und entfernen konnte. Die Polizei durfte nach dem Wunsche der Täter niemals verständigt werden. Um während der Telefongespräche die Ortung zu verhindern, wurden nur kurze Gespräche von jeweils wechselnden Sprechstellen aus getätigt. Die Freilassung geschah gewöhnlich so, daß das Kind in einer belebteren Straße aus einem Auto aussteigen konnte. Die Erfolge der Kriminalpolizei und die angewandte Polizeitaktik führten indes dazu, daß heute Mittelsmänner eingeschaltet werden. Hierdurch sollen die bestehenden Gefahren umgangen werden: die Aufnahme der Täterstimme auf Band, die Notierung der Banknotennummern und die Observation bei der Geldübergabe. Bevorzugt für diese Rolle werden Geistliche, Reporter, Rechtsanwälte. Von ihnen erwartet man Verschwiegenheit und Einhaltung einmal gegebener Zusagen. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit neuer Polizeitaktiken. Zwar besitzen Angehörige der genannten Berufe keinesfalls ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Zeugnisverweigerung in diesen Fällen, denn die Geldübergabe an Verbrecher ist weder eine journalistische noch eine seelsorgerische oder anwaltliche Tätigkeit, doch wird dennoch in manchen Fällen keine Aussage zu erlangen sein. Neuestens lohnt es sich auch, wahllos irgendein Kind von der Straße aus aufzugreifen und zu entführen, ohne sich vorher über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern zu informieren. Als nämlich bei der Entführung des 5jährigen Stefan Arnold in München der Vater, ein höherer Beamter, die verlangte Summe von 25000 DM nicht sofort zahlen konnte, sprang die Stadt München ein und legte das Geld vor. 1971 wurde das 7jährige Kind eines Schaffners entführt. Die Täter — übrigens die gleichen, die
Arnold entführt hatten — verlangten 200000 DM. Hier erklärte die Landesregierung NRW über das Fernsehen, daß sie zur Zahlung bereit sei und sandte diese Summe auch nach München zu Händen eines Rechtsanwalts, den die Täter eingeschaltet hatten. Dieser zweigte zunächst 25000 DM für einen von ihm geleiteten Verein für Gefangenen-Hilfe ab, übergab das Geld und erhielt das Opfer zurück. Später wurden die Täter ermittelt, wobei auch der Fall Arnold geklärt werden konnte. Einmalig dürfte es sein, daß hier der Anwalt das Geld vorher umtauschte, um eine Täterermittlung auf jeden Fall zu verhindern. Ob in diesem Falle bei den Tätern bereits der Gedanke eine Rolle spielte, es komme auf die Verhältnisse der Eltern nicht an, oder ob es sich um eine Verwechslung mit einem anderen Kind handelte, wird sich wohl kaum mit Sicherheit klären lassen. Die Entscheidung zur Zahlung in diesem Falle ist hie und da kritisiert worden. Es bleibt jedoch angesichts der Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit der Entführer kaum eine andere Lösung übrig. Die Entführung von Kindern bringt für den Täter gewisse Gefahren mit sich, die er vorher nicht einkalkulieren kann. Der erwachsene Entführte hält sich im eigenen Interesse ruhig und weiß, daß offene Gewalt seine Lage nicht ändern kann. Er läßt sich auch leichter verbergen, weil er dadurch Zwangsmaßnahmen (etwa Knebelungen) eher entgehen kann. Anders reagieren Kinder. Sie neigen zu Kurzschlußreaktionen, sind ungebärdig und kaum ruhig zu halten. Das erhöht die Gefahrensituation. Allein hierdurch kann es zu Tötungsdelikten kommen. Als der 13jährige Willi Z. im Jahre 1974 unter dem Vorwand, sein Vater habe einen schweren Unfall erlitten, von dem Täter mittels eines Autos entführt wurde, bemerkte der Junge kurze Zeit später, daß die Sache nicht „stimmte". Er wollte aus dem Auto springen. Der Täter schoß daraufhin mit einer Gaspistole auf ihn und betäubte ihn dadurch. Später erdrosselte er ihn mit einem Gurt, setzte ihn aufrecht auf den Beifahrersitz und versteckte die Leiche in einem Gebüsch. Dann benachrichtigte er die Eltern, forderte 80000 DM und konnte trotz observierter Geldübergabe entkommen. Bei der Ausgabe der Lösegeldsumme wurde er festgenommen. Er hatte übrigens mit 16 Jahren einen Raubmord begangen und einen Tag vor der Kindesentführung eine 70jährige Gastwirtin ermordet und anschließend beraubt.
3. Erpresserische Angeregt durch Babys kam Kate ster-Mutter" aus ken, Erwachsene
Entführung von
Erwachsenen
die Entführung des LindberghBarker, die sogenannte „GangSt. Paul/USA auf den Gedanstatt Kinder zu entführen. So
Gewaltkriminalität wurde auf ihre Veranlassung hin am 17. 6.1933 der reiche Bierbrauer Hamm junior gekidnappt — die Prohibition war gerade aufgehoben worden und die Brauer machten glänzende Geschäfte. Er •wurde in den Mittagsstunden auf dem Weg in seine Wohnung gezwungen, in das Auto von Alvon Karpis zu steigen und erhielt zwei Tage später nach Zahlung von 100000 Dollar die Freiheit. Damit begann die Ära der Erwachsenen-Entführungen in den Vereinigten Staaten, die geradezu zum Modeverbrechen wurde. Das FBI registrierte bis 1960 allein mehr als 500 Fälle. Eine ähnliche Entwicklung ist in der BRD nicht eingetreten. Der erste Fall einer Entführung älterer Personen ereignete sich im Juli 1971. In Baden-Württemberg wurde ein 19jähriger Fabrikantensohn gewaltsam in ein Auto gezerrt. Die Freilassung erfolgte gegen Zahlung von 300000 Mark. Die Täter kauften sich vom Lösegeld zwei teuere Wagen und konnten daraufhin gefaßt werden. Im Frühjahr 1971 hatte sich ein ähnlicher Fall in Frankreich ereignet. Dort wurde die 21jährige Elisabeth Ch., Tochter des BP-Generaldirektors, entführt und gegen 500000 Francs (ursprünglich waren 5 Millionen gefordert worden) entlassen. Es ist möglich, daß diese beiden Fälle, die erhebliches Aufsehen erregten, Anlaß gaben, es auch einmal mit der Entführung reicher Männer selbst (und nicht nur ihrer Kinder) zu versuchen. Als am 23. 8.1971 ein Hamburger Ballhausbesitzer in der Morgenfrühe in seine Wohnung in einem Nachbarstädtchen zurückkehren wollte, wurde er am Hauseingang von drei maskierten Männern in Empfang genommen und in einem Auto entführt. Seine Begleiterin wurde mit der Auflage entlassen, 100000 Mark Lösegeld zu beschaffen (die erste Forderung lautete auf 1 Mio DM). Diese Summe konnte innerhalb der nächsten Stunden besorgt werden, so daß der Entführte noch am gleichen Tage die Freiheit erhielt. Die Täter wurden nie ermittelt. Spektakulärer verlief die Entführung des Essener Großkaufmanns Theo Albrecht, der nach Büroschluß beim Besteigen seines Autos überwältigt, gefesselt und in den Nebenraum der Kanzlei eines Düsseldorfer Anwalts entführt wurde. Die Entführer — der betreffende Anwalt und ein mehrfach vorbestrafter Dieb — forderten 7 Mio DM. Als Vermittler wurde der Ruhrbischof eingeschaltet. Die Verhandlungen über die Lösegeldweitergabe und die Freilassung des Entführten dauerten insgesamt 18 Tage, dann war das Opfer frei. Die Ausstrahlung des gesamten Geschehens — soweit es möglich war — führte zu einer großen Anteilnahme der Öffentlichkeit, der es zuletzt auch zu danken war, daß die Täter ermittelt wurden. Der vorbestrafte Mittäter zahlte —• ent-
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gegen der mit seinem Tatgenossen getroffenen Abrede — mit einem Schein der Lösegeldsumme seine Schulden ab, erregte dadurch das Mißtrauen des Geschäftsinhabers, der ihn kannte, und konnte gefaßt werden. Entführungen dieser Art sind seither (1971) Ausnahmen geblieben. Im benachbarten Ausland, insbesondere in Italien, aber auch in Frankreich, stieg die Kurve der Entführungen erheblich an, Italien verzeichnete 1975 65 Fälle dieser Art. Im Gegensatz zu den genannten Ländern sind die Voraussetzungen für derartige Entführungen in der BRD nicht eben günstig. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist die Beschaffung eines Versteckes, das auch den ungestörten und unbeobachteten Zugang ermöglicht. Am besten eignen sich hierzu Landstriche, die schwach besiedelt oder sonst unzugänglich sind. Im Gegensatz zu Italien und Frankreich mangelt es hieran bei uns. Zwar läßt sich auch in der Großstadt ein solches Versteck anlegen, wie die Entführung von Peter Lorenz gezeigt hat, doch waren die entsprechenden Bedingungen nur im Berliner Bereich vorhanden. Im übrigen aber setzte sich in der BRD eine andere Form der Erpressungskriminalität durch, die mehr Erfolge versprach: Die Geiselnahme bei der Durchführung von Banküberfällen. Die schußsichere Ausgestaltung der Kassiererplätze der Banken führte dazu, daß nunmehr die Kunden bedroht wurden bzw. daß unter Bedrohung der Kunden oder des sonstigen Personals die Bereitstellung erheblicher Geldbeträge sowie ungestörter Abzug — unter Mitnahme wenigstens einer Geisel — verlangt wurden (s. a. die Ausführungen über den Raub). Nahezu alle Fälle dieser Art konnten aufgeklärt werden. In einigen Fällen (so im Kölner Bankgeiselfall v. 27.12. 71 und im Fall Mönchengladbach — 5. 4. 73) konnten die Täter zunächst entkommen, wurden aber später gefaßt. Die derzeitige Polizeitaktik geht darauf hinaus, die Geiselnehmer möglichst am Tatort selbst dingfest zu machen. Hierbei müssen von der psychischen Einwirkung bis zum Gebrauch der Schußwaffe alle Möglichkeiten eingesetzt werden, um einmal das Leben der Geiseln zu retten, andererseits aber die Strafverfolgung sicherzustellen. Der nicht gefaßte Täter bildet weiter eine potente Gefahr, die nicht geklärte Tat führt sofort zur Nachahmung, wie die Verhältnisse im Ausland zeigen. Diese — nach längerer unterschiedlicher Vorgehensweise — heute einheitliche Einsatztaktik garantiert offensichtlich auch, daß Folgetaten sich in Grenzen halten. Auf dem Sektor der Terror-Kriminalität (sog. politische Kriminalität) ist die Geiselnahme zur Durchsetzung irgendwelcher Forderungen jedoch sehr verbreitet geblieben.
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Gewaltkriminalität 4.
Gefängnisgeiseln
Ausbrüche aus Gefängnissen erfolgen gewöhnlich heimlich und werden getarnt vorbereitet. Der Häftling zersägt die Gitter des Zellenfensters oder versucht, beim Spaziergang auf dem Gefängnishof zu entweichen. Außer seinem Zellengenossen oder den Helfern erfährt keiner etwas über sein Vorhaben. Der Ausbruch erfolgt auch meist allein, seltener tun sich zwei oder drei zusammen. Regelrechte Massenfluchten sind wohl nur in Lagern von Kriegsgefangenen möglich (wie etwa der Ausbruch englischer Kriegsgefangener im 2. Weltkrieg aus dem Lager Sagan-Küpper). Der „öffentliche" Ausbruch durch Geiselnahme der Wärter ist hingegen erst eine Erscheinung der sechziger Jahre dieses Jahrhunderts — er hat sich gleichsam wie ein Flächenbrand ausgebreitet und ist in nahezu allen Staaten von Zeit zu Zeit praktiziert worden. Ausbrüche dieser Art in früheren Jahrzehnten blieben Einzelerscheinungen. So etwa der in Canon City / California, von dem von Hentig berichtet. Dort nahmen fünf Häftlinge im Jahre 1929 zwei Aufseher als Geiseln, um dadurch die Freilassung der Häftlinge ihres Zellenblockes zu erzwingen. Dieses Ansinnen wurde abgelehnt, der Block mit Maschinengewehren, Dynamit und Tränengas gestürmt. Die Geiselnehmer erschossen einen Aufseher, begingen dann Selbstmord, acht Beamte wurden getötet, zwölf weitere Insassen verwundet. Middendorff gibt drei weitere Geiselnahmen in den Jahren 1931, 1937 und 1939 an (sämtlich USA) und führt diese Ausbruchsversuche auf die Überfüllung der amerikanischen Gefängnisse und die leichte Verständigungsmöglichkeit der Gefängnisinsassen untereinander zurück. Die Verhältnisse in Europa sind kaum anders, insbesondere bestehen während der täglichen Arbeitszeit, in den Freistunden und bei allen der Resozialisierung dienenden Maßnahmen mannigfache Möglichkeiten, Fluchtversuche und Geiselnahmen miteinander zu besprechen. Allerdings nützen auch bei strengen Überwachungsmaßnahmen Häftlinge gelegentliche Unaufmerksamkeiten aus. 29 zum Tode verurteilte Gefangene sägten heimlich mittels einer Metallsäge die Gitterstäbe ihrer Zellen durch, obgleich sie, wie Middendorff berichtet, ständig unter Kontrolle ihrer Aufseher standen. Nachts überfielen sie diese und verlangten ihre Freiheit. Da indes die kalifornische Strafvollzugsordnung jegliche Verhandlung in solchen Fällen ablehnt, mußte das Unternehmen scheitern — zudem blies man Tränengas in die Räume. In der Tat hat diese kalifornische Bestimmung — die das Leben der Aufseher dadurch sichert, daß sie diese quasi den Häftlingen preisgibt — dazu geführt, daß Aufstände nicht mehr vorkommen.
Die Ära der Geiselnahmen wurde erst 1971 eingeleitet — die Meuterei im Staatsgefängnis von Attica/New York wurde j a weltweit bekannt. Ein Häftling hatte einen Aufseher angegriffen und wurde in eine Arrestzelle abgeführt. Das führte zum Aufstand, die Häftlinge besetzten vier Zellenblocks, mußten sich allerdings dann auf einen wieder zurückziehen, den sie mit 38 Geiseln besetzt hielten. Sie stellten 32 Forderungen, von denen alle — bis auf die nach sofortiger Amnestie und Abzug in ein kommunistisches Land — erfüllt werden sollten. Da es zu keiner Übergabe kam, wurde der Sturm auf den Block beschlossen. Dabei wurden 42 Menschen erschossen, darunter 10 Geiseln. Es muß dabei berücksichtigt werden, daß es die Jahre der Black-Panther-Bewegung waren (deren Anführer Bobby Seale sich in die Verhandlungen einschaltete), und daß die Häftlinge sich als „politische Gefangene" bezeichneten (die sie nicht waren). Die Diskussion über dieses Vorgehen wurde weltweit geführt. Seitens der Gefängnisbeamten wurde jede Verhandlung mit Häftlingen, die Geiseln genommen haben, vom Grundsatz her abgelehnt. Im gleichen J a h r kam es in Kingston / Ontario / Kanada zur Meuterei von 500 Häftlingen, die in einen modernen Gefängnisbau übersiedeln sollten, der mit elektronischen Überwachungsanlagen ausgerüstet war. Die unter straffer Führung stehenden Häftlinge nahmen sechs Geiseln und richteten zunächst Zerstörungen im Werte von 1 Mio Dollar an. Man verhandelte schließlich mit einem Bürgerkomitee und ergab sich bedingungslos. Ein Häftling wurde von den Meuterern getötet, elf weitere verletzt ·— Sexualverbrecher oder solche, die man als Vertrauensleute der Gefängnisleitung verdächtigt hatte. Die Meuterei in Attica veranlaßte die Gefängnisinsassen von Clairvaux / Aube, Frankreich, zur Nachahmungstat. Am 21. 9. 1971 nahmen zwei Häftlinge im Krankenrevier einen Wärter und eine Krankenschwester als Geiseln, verlangten freien Abzug, 10000 Francs, einen Fluchtwagen und zwei Gewehre mit Munition. Bis auf die Waffen wurde alles genehmigt. Am folgenden Morgen — die Verhandlungen waren wegen des letzten strittigen Punktes abgebrochen worden — fanden die in das Revier eindringenden Gendarmen die Geiseln tot vor. Am 4. 11. 1971 folgte die nächste Anschlußtat — diesmal in Österreich. Im Kultursaal der Strafanstalt Stein nahmen einige Häftlinge Einblick in ihre Akten. Zwei davon — wegen Raubes vorbestraft — entrissen zwei Aufsehern die Pistolen, und nahmen — nachdem noch ein dritter Häftling dazugestoßen war — den aufsichtführenden Richter und seine Schriftführerin als Geiseln. Sie forderten freien Abzug, ein Fluchtauto und 100000 Schilling
Gewaltkriminalität sowie Nichtverfolgung für zwei Tage. Bis auf die Erfüllung der Geldforderung wurde alles zugestanden, die Schriftführerin gegen einen Polizeimajor ausgetauscht. Dann hielten die drei Ausbrecher drei Tage lang die Öffentlichkeit in Atem, nahmen nacheinander 13 Geiseln im Austausch fest, raubten einem Polizeibeamten die Schußwaffe, erpreßten auf einer Polizeiwache 50 000 Schilling, kaperten einen Funkstreifenwagen der Polizei, und ergaben sich schließlich nach längeren Verhandlungen und gutem Zureden, nachdem sie, wie sie erklärten, „ihre Gaudi" gehabt hatten. Auch in Italien waren Aufruhr und Unruhen in den Gefängnissen keine Seltenheit mehr. Aufsehen erregten jedoch eine Geiselnahme in Eom im Jahre 1973, bei der ein Häftling zwei Geiseln nahm und bei der Flucht aus der Anstalt schwer verletzt wurde, sowie die Unruhen des Jahres 1974. Es begann mit einer Geiselnahme in der modernen Vollzugsanstalt Alessandria, die als „Gefängnis-Hotel" galt: Am Tage erhielten die Häftlinge Unterricht, der bis zum Mittelschul-Abschluß führte, es erfolgte eine individuelle Behandlung, nur nachts schliefen die Häftlinge weiter isoliert. Am 9. 5. 74 nahmen drei mit Revolvern bewaffnete Häftlinge nach Beendigung des Unterrichts Lehrer als Geisel, überwältigten vier weitere Lehrer und lockten vom Lazarett aus den Gefängnisarzt und vier Aufseher zu sich, die ebenfalls überwältigt wurden. Mit insgesamt 17 Geiseln verbarrikadierten sich die Täter in den Toilettenanlagen und forderten nun freien Abzug, Gestellung eines Klein-Busses sowie eine unbewaffente Polizei-Eskorte zur Sicherung der Flucht. Man verhandelte zunächst (eine Sozialarbeiterin hatte sich in die Gewalt der Aufrührer begeben, um sie zur Aufgabe ihrer Pläne zu bewegen), bis dann diese freiwillige Helferin von den Tätern erschossen wurde (sie hatten vordem angedroht, alle 30 Minuten eine Geisel zu erschießen). Es kam zum zweimaligen Angriff auf die Aufrührer, schließlich wurden zwei von ihnen getötet, einer schwer verletzt. Auch vier Geiseln kamen zu Tode, 15 weitere Personen wurden verletzt. Der Plan der Geiselnahme war der Polizei bekannt gewesen, sie hatte ihn der Gefängnisleitung mitgeteilt. Doch dort unternahm man nichts, weil man bei einer Verlegung von Häftlingen auf jeden Fall Proteste und Unruhen befürchtete, man untersuchte nicht einmal die Häftlinge auf Waffen. Ob diese Geiselnahme in Zusammenhang stand mit dem Plan, während der Volksabstimmung am 12. und 13. Mai über die Ehescheidung in 27 italienischen Gefängnissen Aufstände durchzuführen, weil dann die Polizei mit der Volksabstimmung weitgehend beschäftigt war und nicht hätte eingreifen 7 HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
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können, ist nicht ganz geklärt, doch wußten die Täter sicher von dieser Planung, die sich „Operation Clockwork Orange" nannte, und die den gesamten italienischen Strafvollzug — einschließlich der Häftlingstransporte — lahmlegen sollte. Infolge der strengen polizeilichen und strafanstaltlichen Sicherungsvorkehrungen kam es indes nur im Gefängnis von Padua zu einer nächtlichen Meuterei von 100 Gefangenen, die durch den Einsatz von Tränengas beendet wurde. Diese Meuterei hatte sich im Anschluß an die Fernsehübertragung der Ereignisse von Alessandria ereignet, die von den Häftlingen mitverfolgt werden konnte. Auch in Frankreich kam es im selben Jahr zu erheblichen Unruhen, von denen zwölf Gefängnisse berührt wurden. In Loos-lez-Lille wurde am 26.7. die Gefängniswerkstatt in Brand gesetzt, es begann dann die Zerstörung und Verwüstung des ärztlichen Untersuchungsraumes und von mehr als 400 Zellen. Die auf dem Sportplatz zusammengetriebenen — meist jüngeren — Häftlinge wehrten sich mit Steinwürfen und versuchten, die Tore aufzubrechen. Sie mußten mit Tränengas überwältigt werden, während zur gleichen Zeit im Nachbarbau weitere 700 Häftlinge ihre Decken anzündeten und sie als Fackeln in die Tiefe warfen. Die ebenfalls zernierten Häftlinge wurden zunächst nur durch Zuwurf mit Lebensmitteln versorgt, da sich kein Wärter in die umzäunten Räume traute, um nicht als Geisel dienen zu müssen. Hier war es nicht mehr zur Geiselnahme gekommen; hier sollte durch Brand und Aufruhr die Aufmerksamkeit auf die Probleme der Häftlinge gelenkt werden: In der Tat haben die auf den Dächern stehenden Häftlinge, die Dachziegel auf die im Hof versammelten Feuerwehrleute, Polizisten und Aufseher schleuderten, ein sehr wirksames Bild vermittelt. In Colmar kam es hingegen zur Geiselnahme: 110 Häftlinge überwältigten zwei Wärter und flüchteten mit ihnen auf die Dächer der Anstalt, während 19 Häftlinge im allgemeinen Trubel flüchteten. Weitere Aufstände ereigneten sich ζ. B. in Melun, Lyon, Toulouse, Riom, Marseille, Clairvaux, Amiens, Grenoble, Mülhausen, Ensisheim, Paris. In Laval konnte der Gefängnisdirektor allein die Häftlinge beruhigen. Er meinte, diese hätten sich eben nur einmal zeigen wollen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sicher ist, daß ein Teil der Anschlußtaten nur deshalb erfolgte, um ebenfalls auf die nach Meinung der Häftlinge unzumutbaren Zustände in den Haftanstalten hinzuweisen. So ging es vor allem um die Trennung der „normalen" Gefangenen von denen, die psychisch abartig sind, um die Möglichkeit, mehr von der Bewährungsfrist Gebrauch zu machen, um eine bessere Wiedereingliederung nach der Beendigung der Strafhaft und eine
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Gewaltkriminalität
berufliche Ausbildung für Jugendliche innerhalb der Anstalten — sicher auch um die Renovierung und den Ausbau der vielfach sehr überalterten Anstalten. Ebenfalls im Juli 1974 geschah die Geiselnahme im Staatsgefängnis von Texas in Huntsville. Ein wegen mehrfachen Mordes (wie man annimmt, in 50 Fällen) inhaftierter Täter nahm dort zwölf Geiseln, mit denen er sich im Schulraum der Gefängnisbücherei verschanzte. Zwei weitere Häftlinge unterstützten ihn. Man forderte kugelsichere Westen und Schutzhelme, Funksprechgeräte, Waffen und Munition sowie ein Fahrzeug. Schließlich wurde den Tätern ein Panzerfahrzeug auf dem Gefängnishof bereitgestellt. Auf dem Wege dahin hatten sich der Anführer und zwei seiner Helfer mit tragbaren Wandtafeln umgeben, die mit Büchern verstärkt waren. Innerhalb dieses Schutzschildes befanden sich auch vier Geiseln, während die anderen acht die Ausbrecher von außen mit ihren Körpern decken mußten. In der Mitte des Weges zum Fahrzeug wurde dieser Geiselring durch starke Wasserwerfer der Polizei weggesprengt, die sodann begann, auf die Ausbrecher zu schießen, als diese anfingen, die Wasserschläuche der Polizei mit Schüssen zu durchlöchern und damit funktionsunfähig zu machen. Bei diesem Kampf kamen der Anführer und einer seiner Helfer sowie zwei Geiseln ums Leben. Neun Geiseln blieben unverletzt, eine trug eine Brustverletzung davon, der dritte Mittäter blieb ebenfalls unverletzt. Nach den Mitteilungen der eingesetzten Polizei war man auf ein schlimmeres Ende gefaßt gewesen, hatte jedoch ernstlich nie die Absicht gehabt, den mehrfachen Mörder entkommen zu lassen. Die deutschen Geiselnahmen in Gefängnissen nehmen sich demgegenüber sehr bescheiden aus. So entwendete ein Gefangener, der in seiner Zelle in der J V A Tegel von einem Kriminalbeamten vernommen wurde, dessen Pistole, verlangte Zurückverlegung in eine Einzelzelle, Kontakt mit der Ehefrau und einmaligen Ausgang. Diese Forderungen wurden zugebilligt, worauf sich der Täter abführen ließ. Im selben J a h r (1970) bedrohten in der J V A Straubing drei Gefangene mit eingeschmuggelten Pistolen den Hauptwerkmeister in der Buchbinderei. Sie zwangen ihn, die Türen zu öffnen, und gelangten bis zum Haupttor der Anstalt. Andere Bedienstete bemerkten das und griffen ein. Obwohl die Täter auf die Angreifer Schüsse abgaben, wurde niemand verletzt. Die Gefangenen wurden überwältigt. 1974 besuchte eine Pädagogin die J V A Duisburg, um doit mit den Gefangenen Unterricht abzuhalten. Drei der Gefangenen stürzten sich auf ein verabredetes Zeichen auf die Lehrerin, würgten sie und drückten ihr einen spitzen Dorn gegen den Leib. Während die übrigen Ge-
fangenen durch Drohungen zur Ruhe gezwungen wurden, nahmen die Täter der Lehrerin den Zellenschlüssel ab und schleppten sie zum Ausgang, um fliehen zu können. Die Täter wurden schließlich von mehreren Anstaltsbediensteten umringt und überwältigt, nicht ohne daß ein Beamter durch einen Stich in den Unterleib verletzt wurde. Als Werkzeuge dienten außer dem selbstgebastelten Dorn ein Hammer, ein Schraubenzieher sowie gebündelte Achsen von Spielzeugautos. Schließlich bedrohte ein Häftling in einer Anstalt des halboffenen Vollzuges seine Ehefrau, die ihn besucht hatte, mit einem Messer und drohte ihre Tötung an, wenn er nicht sofort entlassen würde. Ihm war bekanntgeworden, daß seine Frau Beziehungen zu einem anderen Mann unterhielt (der übrigens vor dem Anstaltstor mit seinem Auto wartete), und wollte dies künftig unterbinden. Der Täter konnte überredet werden, sein Messer herauszugeben, er kam wieder in die Zelle zurück. In den Fällen der Geiselnahme in Gefängnissen handelt es sich entweder um Verbesserung wirklicher oder angeblicher Mißstände oder um die Forderung nach sofortiger Freilassung. Wie die Beispiele zeigten, spielt es dabei keine Rolle, ob es sich um ältere, überfüllte oder neue und moderne Vollzugsanstalten handelt. Die Möglichkeiten, solche Pläne zu besprechen, bestehen in jedem Falle. Ganz sicher läßt sich durch den modernen und auf Wiedereingliederung bedachten Strafvollzug ein gewisser Zündstoff ausräumen, der Anlaß zu Verzweiflungstaten geben könnte. Gerade die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten zeigten, daß sich hierdurch manches verhindern ließe. In vielen Fällen erwies es sich, daß eine vernünftige Besuchsregelung, Kontakte mit den Angehörigen, insbesondere der Ehefrau, und die Möglichkeit, Kurzurlaub zu erhalten, den Gedanken auf gewaltsamen Ausbruch gar nicht erst aufkommen lassen — sofern die Strafzeit überschaubar ist. Anders liegen die Dinge bei langjährigen Verbüßungszeiten. Hier wird gern die Flucht versucht, hier nimmt man Gelegenheiten der Geiselnahme wahr — die sich insbesondere dann bieten, wenn gefährliche und aggressive Täter für Resozialisierungsvorhaben oder Fortbildungsmöglichkeiten melden, weil sie bei solchen Gelegenheiten ihre Pläne leicht durchführen können.
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Fluchtgeiseln
Das Bestreben der Gefängnisinsassen ist auf Besserung ihrer Zustände, oft aber auf Flucht gerichtet. Indessen bedarf dieses Vorhaben gewisser Vorbereitungen. Es muß daher langfristig geplant sein, die Bewachungsmaßnahmen müssen durch die Geiselnahmen umgangen, die Flucht
Gewaltkriminalität durch Bedrohung der Aufseher in den Gefängnisräumen erzwungen werden. Da seitens der Vollzugs- und Polizeiorgane lediglich der Schutz der von den Gefangenen genommenen Geiseln bedacht werden muß, Außenstehende aber kaum gefährdet sind und die Überwältigung am gleichen Ort erfolgen kann, sind die taktischen Maßnahmen der Geiselnehmer wie der Polizei anders als in sonstigen Geiselfällen anzulegen. Das wissen die Häftlinge, und so versuchen sie, durch besonders hartes Vorgehen und größere Brutalität zum Ziele zu kommen. Hier herrschen in jeder Weise besondere Verhältnisse, die Gefahr der Solidarisierung besteht außerdem. Wenn Straftäter bei sonstigen Gelegenheiten durch Geiselnahmen ihre Flucht erzwingen wollen, gelten die nachfolgenden Grundsätze. Es ist daher richtig, beide Gruppen, wie hier, zu trennen. Während der Bankräuber Geiseln nimmt, um die Ausführung der Tat zu ermöglichen und zugleich den ungestörten Abzug garantiert zu erhalten, werden die allein der Flucht dienenden Geiseln bei anderen Gelegenheiten genommen. Besonders beliebt ist es, anläßlich einer Gerichtsverhandlung oder Vorführung vor dem Richter günstige Gelegenheiten zur Flucht auszunutzen. Hierzu bietet sich die Geiselnahme des Richters selbst, der Vorführungsbeamten oder irgendwelcher Besucher des Gerichtsgebäudes an. Anders als bei der Flucht aus der Haftanstalt brauchen Sicherungsvorkehrungen nicht mehr überwunden werden. Man ist sofort im öffentlichen Verkehrsraum und kann hier untertauchen, die Verfolger müssen auf ein größeres Publikum Rücksicht nehmen. Als regelrechter Skandal wurde beispielsweise die Geiselnahme des Schwerverbrechers Milloquet im Pariser Justizpalast am 9. 7.1975 angesehen (ein nahezu gleichartiger Fall geschah am gleichen Ort im Jahre 1972). M. wurde zur Vernehmung wegen eines Autodiebstahls vorgeführt, auf der Anklagebank saßen noch viele andere Delinquenten, die auf ihre Vernehmung warteten. Da näherte sich eine Rechtsanwältin dem Gerichtsschreiber (wie sich herausstellte, die Ehefrau des Häftlings), zog eine Handgranate, forderte alle Anwesenden zur Ruhe auf und warf ihrem Mann eine Pistole zu. Dieser fesselte den Gerichtspräsidenten und seinen Vertreter mit den Handfesseln, die man den Vorgeführten vor Betreten des Gerichtssaales abzunehmen pflegte. Durch eine Nebentür gelangte man auf die Straße, der Kommandant der Garde wurde angeschossen, als er sich den Flüchtenden in den Weg stellte. Mit einem bereitstehenden PKW wurde die Flucht fortgesetzt, die Geiseln wurden alsbald freigelassen, die Täter tauchten unter. Der Richter erklärte nachher, er habe nicht
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gewußt, daß es sich um einen der gefährlichsten Verbrecher Frankreichs gehandelt habe. Es stellte sich weiter heraus, daß Personen, die Anwaltsroben tragen, bei Betreten der Gerichtssäle nie angehalten oder kontrolliert werden. Man fand auch nichts dabei, daß in diesem Saal 42 Angeklagte unterschiedlichster Gattung warteten und 200 andere Besucher sich dort aufhielten. Fälle dieser Art haben sich vorher und nachher sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa ereignet. Sie gelingen dann, wenn ein früherer Tatgenosse oder ein Familienmitglied sich bei solchen Vorführungen in den Gerichtsräumen einfinden kann und die Häftlinge mit Waffen versorgen kann. Durch eine solche Unterstützung früherer Tatgenossen wurde auch Andreas Baader am 14. 5. 1970 in Berlin befreit (s. Abschnitt Terrorismus). Auch bei bevorstehenden Festnahmen durch Polizeibeamte oder auf dem Wege zum endgültigen Verwahrungsort besteht die Gefahr von Geiselnahmen. 1972 wurde bei München ein Mann zur Personalienüberprüfung aufgefordert, in den Dienstwagen der Polizei zu steigen und mit zur Wache zu fahren. Während der Fahrt entwendete er einem der Beamten die Pistole, und schoß ihn beim Verlassen des Fahrzeugs nieder, bedrohte zunächst erfolglos den zweiten Beamten, ihn weiterzufahren und zwang schließlich die Fahrerin eines vorbeikommenden PKWs, ihn mitzunehmen. Er konnte dann überredet werden, die Fahrt allein fortzusetzen. 1973 hatte ein Kriminalbeamter den Auftrag, einen mehrfach Vorbestraften festzunehmen. Der Beamte betrat mit einem Kollegen die Wohnung dieses Mannes (er kannte ihn sehr gut) und forderte ihn auf, mitzukommen. Daraufhin wurde er angeschossen und verletzt. Der zweite Beamte wurde nun aufgefordert, die Polizeidienststelle zu verständigen, daß diese nichts unternehmen solle, während sich der Angeschossene, ständig durch die Pistole des Täters bedroht, in das Polizeifahrzeug setzen mußte, um mit dem Täter selbst nach dessen Angaben wegzufahren. Die Funkleitstelle der Polizei gab Weisung, dieses Fahrzeug zu verfolgen, aber nicht einzugreifen, da für den Beamten Lebensgefahr bestand. Der PKW gelangte jedoch in einen anderen Funkkreis, dessen Dienststelle diese Mitteilung nicht erhalten hatte. So wurde das Fahrzeug angehalten, im gleichen Augenblick erschoß der Täter den Beamten, während er selbst, durch die Schüsse der anhaltenden Polizeibeamten getroffen, ebenfalls starb. Auch im Anschluß an Straftaten werden Möglichkeiten der Fluchtunterstützung durch Geiselnahmen oft wahrgenommen. In Regensburg schoß der 24jährige B. im Eros-Center einen
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Gewaltkriminalität
Zuhälter mit 12 Schüssen nieder und flüchtete dann in eine Gastwirtschaft. Ein Freund erklärte sich bereit, zur Flucht seinen PKW zur Verfügung zu stellen. Zur weiteren Absicherung zwang er eine Prostituierte, mitzufahren, unterrichtete von einer Telefonzelle die Polizei, daß er zwei Geiseln habe und diese bei einer Verfolgung erschießen werde, und fuhr ab. Nach einer Stunde meldete sich der Freund des B. und verlangte nunmehr einen gültigen Paß, 1000 DM und freies Geleit. Inzwischen wurde der Aufenthaltsort des B. bekannt, es gelang, die Freundin aus der betreffenden Wohnung zu locken und B. festzunehmen. In Trier erschien ein G. in einer Gastwirtschaft und verlangte von der Gastwirtin, den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren, da er ihn erschießen wolle. Die Polizei wurde alarmiert, worauf der Täter in eine nahegelegene Schule lief, eine Klasse mit 12—15jährigen Kindern betrat und die Lehrerin sowie zwei Kinder als Geiseln nahm. Später durften auch diese Kinder die Klasse verlassen, es kam zum Schußwechsel mit der Polizei. Schließlich wurden die Angehörigen herbeigebracht, die den Täter überredeten, sich zu ergeben. B. und D. brachen 1973 aus einer niederländischen Strafanstalt aus, begingen einen Raubüberfall und flüchteten mit einem gestohlenen PKW. Alsbald hielten sie einen anderen PKW an, um umzusteigen. Der Fahrer, der mit einer Pistole bedroht wurde, konnte schließlich aussteigen und die Polizei benachrichtigen. Die Täter flüchteten inzwischen in ein nahegelegenes Bauernhaus, da der Tank fast leer war. Als sie hier die Polizei stellte, bedrohten sie die drei anwesenden Personen, forderten freies Geleit und die Mitnahme einer Geisel. Das Anwesen wurde umstellt, nach 24 Stunden erklärten sich die Täter bereit, sich nach Den Haag fahren zu lassen, um dort mit der Mutter eines der Täter zu verhandeln. Hier wurden sie schließlich nach Abschießen von Tränengas wieder festgenommen. Mitten in Stockholm glaubten sich zwei gesuchte Bankräuber 1973 erkannt. Sie stürzten in ein Haus, das von einer Frau mit zwei vierjährigen Kindern bewohnt wurde. Sie forderten freien Abzug, da andernfalls die Geiseln getötet würden. Ein Polizeibeamter betrat die Wohnung zu Verhandlungen, verlangte die Freilassung der Kinder, mußte aber dann selbst an ihrer Stelle als Geisel dableiben. Inzwischen wurden das geforderte Geld — 100 000 Kronen — und der Fluchtwagen bereitgestellt. Der Polizeibeamte ging vor den Tätern die Treppe hinunter, flüchtete jedoch plötzlich in den Keller des Hauses. Einer der Täter folgte ihm schießend, lief dabei aber in eine Falle: Im Keller hatten sich inzwischen Polizeibeamte einquartiert, die ihn niederschossen. Der andere Täter ergab sich nunmehr.
Auch bei Erpressungsversuchen, die gewöhnlich mit der Übergabe des geforderten Geldes und gleichzeitiger Festnahme durch die observierende Kriminalpolizei enden, sind Geiselnahmen möglich. So nahm anläßlich einer solchen Gelegenheit der 22jährige Erpresser in Brüssel in dem Augenblick, in dem sich Polizeibeamte näherten, eine Frau als Geisel und drohte, sie mit einem Messer zu erstechen. Es gelang jedoch, ihn festzunehmen. Diese Fälle von Fluchtgeiseln können also oft durch Ermüdung, Überraschung oder Überredung des Täters ihren Abschluß finden, zumal dann, wenn der Geiselnehmer ohne jegliche Vorbereitung zur Geiselnahme greift und diese einem impulsiven Entschluß entspringt. Steht jedoch eine längere Freiheitsentziehung auf dem Spiel, wurde eine schwere Straftat begangen oder ist Geld im Spiel, so wird sich eine harte Konfrontation nicht immer vermeiden lassen. Nichts wäre nämlich verkehrter, als diese Spielart des Verbrechens durchgehen zu lassen — die Nachahmungsgefahr ist beträchtlich. Die meisten der Fluchtgeiselnahmen ließen sich indes durch bessere Vorkehrungen, mehr Aufmerksamkeit und Wachsamkeit verhindern — und durch ein gewisses gesundes Mißtrauen bei allen Amtshandlungen. 6. Geiselnahmen in Flugzeugen
Der Gedanke, die Insassen eines Flugzeuges als Geiseln zu nehmen, mußte eigentlich zwangsläufig einmal kommen, ließ sich doch hierdurch die Zahl der Geiseln erheblich vervielfachen und der Druck auf andere verstärken. Auch war in solchen Fällen das ausersehene Opfer gezwungen, recht kurzfristig die gestellten Forderungen zu erfüllen — jedes Flugzeug kann nur eine begrenzte Zeit in der Luft bleiben, und dem Piloten bleibt gar nichts anderes übrig, als den Wünschen der Geiselnehmer zu willfahren. Eine Gegenwehr durch ihn ist ausgeschlossen, eine Gegenwehr durch die Passagiere muß zwangsläufig in einem Blutbad enden. Die erste Flugzeugentführung wurde von der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde im Jahre 1930 registriert, in Peru entführte damals ein Luftpirat eine Maschine. Als häufiger vorkommende Erscheinung der Kriminalität sind Flugzeugentführungen indes erst seit den sechziger Jahren festzustellen, das Jahr 1969 bildete mit insgesamt 89 Entführungen den Höhepunkt, 1970 verringerten sich diese Entführungen auf die Zahl von 80, 1971 auf 52. Seither spielen sie lediglich als eine sehr beliebte Form der Erpressung durch Terroristen (insbesondere durch palästinensische Organisationen) eine Rolle, im übrigen handelt es sich um Einzelfälle. Zu unterscheiden sind Entführungen mit Geiselnahmen in Flugzeugen aus politischen
Gewaltkriminalität Motiven, in gewinnsüchtiger Absicht, durch Geisteskranke oder Psychopathen und durch Terroristen: Zur ersten Gruppe gehören solche Personen, die aus politischer Überzeugung ein anderes Land aufsuchen wollen, um dort zu leben. Bevorzugtes Ziel war in der Hochblüte der Entführungen Kuba — zwischen 1961 und 1971 registrierte man 140 Flugzeugentführungen, bei denen die Täter in Kuba landeten. Auch andere Staaten — etwa Algerien ·— sind als Fluchtziele gewählt worden. Hin und wieder kam es auch zu Entführungen aus Ostblockstaaten in die Bundesrepublik Deutschland. So entführten am 19. 10. 1969 zwei Ost-Berliner Mechaniker eine polnische Maschine und zwangen den Piloten, in Berlin-Tegel zu landen. Zwei unbrauchbare Revolver hielten während des Fluges Warschau—Berlin die Besatzung in Schach, im November des selben Jahres zwangen zwei Polen die Besatzung eines polnischen Flugzeuges, in Wien zu landen, am 8. 6. 1970 kaperten zwei Tschechen ein Flugzeug zwischen Karlsbad und Prag und landeten in Nürnberg, am 14. 9. 1970 folgte eine Entführung eines Ungarn (Landung in München), am 8. 6. 1972 entführten zehn Tschechen (darunter drei Frauen) eine Linienmaschine von Marienbad nach Bayern. Der Pilot wurde erschossen. Während sich der Täter erhängte, wurden die Gehilfen später verurteilt. Neben diesen reinen Fluchtzwecken dienenden Entführungen gab es auch solche mit anderen politischen Zielen. Im September 1972 überwältigten drei Kroaten auf dem Fluge von Göteborg nach Stockholm den Piloten und erzwangen eine Landung in Malmö. Dort verlangten sie die Freilassung von 7 in Schweden verurteilten Häftlingen, darunter auch der Mörder des früheren jugoslawischen Botschafters in Stockholm. Die Regierung erfüllte diese Bedingungen, das Flugzeug nahm Kurs nach Spanien. Bei der Landung dort wurden die Entführer und Häftlinge gefangengesetzt. Die wohl längste Entführung inszenierte am 31. 10. 1969 der entlassene US.-Soldat Raffaele Minichielle, der nach Rückkehr aus dem Kriege zu wenig Geld auf seinem Gehaltskonto vorfand, durch einen Einbruch in ein Waffenmagazin der US.-Armee sich schadlos stellen wollte und dabei ertappt wurde. Er entführte zwischen Los Angeles und San Francisco eine Boeing 707, ließ in Denver die Passagiere aussteigen und die Maschine auftanken und nahm Kurs nach Rom mit Zwischenlandungen in Denver, New York, Bangor/Maine und Shannon/Irland. In Rom nahm er einen Polizeioffizier als Geisel, fuhr mit diesem und dem bereitgestellten Fluchtauto in die Campagna und wurde dort kurze Zeit später verhaftet. Er wollte einfach „nach Hause", wie er angab. Von einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren verbüßte er lediglich 18 Monate
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und wurde dann von seiner Heimatgemeinde zum Ehrenbürger gewählt. Entführungen aus Gewinnsucht scheinen erst ab 1971 vorgekommen zu sein, am 23. 11. 71 brachte ein gewisser Cooper eine Boeing 727 in seine Gewalt, ließ sich in Seattle 200000 Dollar sowie zwei Fallschirme übergeben und sprang über einem Waldgebiet ab. Trotz der Beschattung des Flugzeuges durch Militärmaschinen konnte er entkommen. Diese Taktik fand sehr bald Nachahmer. In der Folgezeit wurde das Abspringen nach Erhalt der Geldsumme Gewohnheit, denn anders als der Flucht-Entführer blieben die Gewinn-Entführer ja im Lande. Teils handelte es sich um Täter, die mit den Gepflogenheiten des Flugbetriebes vertraut waren, teils um völlige Laien: So ließ ein Entführer, der durch die Bodenluke abspringen wollte, sich per Funk Anleitungen bei den Herstellerwerken geben, wie diese zu öffnen sei. In einigen anderen Fällen verlangte der Täter bei der Landung und der Übergabe des Lösegeldes auch ein Fluchtfahrzeug, um damit zu entkommen. Die US.-Behörden suchten diesen Gewinn-Tätern dadurch zu begegnen, daß sie die Fallschirme mit Peilsendern versahen und den Absprung mit Beobachtungsmaschinen verfolgten, um über Funk die Verfolgungsfahrzeuge einzuweisen. In dem einen oder anderen Fall wurden Kriminalbeamte als Flugzeugpersonal verkleidet eingesetzt, um den oder die Täter zu überwältigen, in anderen Fällen gelang die Überwältigung auch bei der Geldübergabe. Hier ist jedoch anzumerken, daß die US-amerikanischen Waffengebrauchsbestimmungen auch — ohne daß die Notwehrvoraussetzungen vorliegen — die Tötung des Rechtsbrechers gestatten, wenn dieser sich nicht ergibt. Das bisher höchste Risiko ergab sich bei einer Entführung am 10.11.1972. Auf dem Fluge von Birmingham nach Montgomery übernahmen drei vorbestrafte farbige und zur Festnahme gesuchte Verbrecher das Kommando über die Maschine, verlangten 10 Mio Dollar, Panzerwesten und Nahrungsmittel. Nach Erhalt von 2 Mio Dollar (die Panzerwesten wurden nicht geliefert) dirigierten sie die völlig übermüdete Besatzung über mehr als 12 Zwischenstationen bis nach Kanada, dann zurück in die USA und drohten hier, über dem Atomforschungszentrum Oak Ridge die Maschine abstürzen zu lassen. Bei einem Zwischenaufenthalt in Orlando konnten zwar die vier Reifen des Flugzeuges zerschossen werden, doch konnte die Maschine dennoch ihren Flug fortsetzen, bis sie in Havanna/Kuba landete. Dort wurden die Täter allerdings festgenommen. Unberechenbar und deshalb besonders gefährlich sind die Geisteskranken und Verwirrten aller Schattierungen. Im Oktober 1972 bestieg ein gewisser W. — mit einem Overall bekleidet —
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Gewaltkriminalität
eine auf dem Frankfurter Flughafen auf den Start wartende kanadische DC. Er zog eine Pistole und zeigte ein Sprengstoffpaket vor, bis auf die Stewardeß mußte die Besatzung die Maschine verlassen. Zunächst verlangte er die Freilassung des verhafteten tschechischen Flugzeugentführers Adamica, sodann die Freilassung der Angehörigen der Baader-Meinhof-Bande. Aus dem „Schriftwechsel", der bei den Verhandlungen geführt wurde, ergab sich der Verdacht der Geisteskrankheit. Es gelang schließlich, den Täter durch ein erbetenes Kofferradiogerät abzulenken und ihn dabei — allerdings tödlich — zu treffen. W. hielt nahezu 24 Stunden Flugzeug und Geisel in seiner Gewalt. Auch ein ähnlicher Fall kurz vorher in Nevada endete mit schweren Verletzungen. Der Entführer bestieg mit einem Gewehr ein Flugzeug, ließ es nach Vancouver fliegen und verlangte dort 2 Millionen Dollar, 15 Pfund Barrengold, drei Radios, 20 Handschellen, 8 Windeln, erklärte, er sei Mitglied einer Terrororganisation, und war endlich mit dem Rückflug nach Seattle einverstanden, weil in der Provinz Britisch-Kolumbien so viel Geld nicht einzutreiben war. Bei der Übergabe des Geldes kamen zwei Kriminalbeamte, die als Piloten verkleidet waren, durch die Hecktür und verletzten den Täter schwer. Unter den Verwirrten finden sich solche Täter, die einfach aus ihren Verhältnissen „entlaufen", weil sie mit den sich hier ergebenden Problemen und Konflikten nicht fertig werden. Die Entführung eines Flugzeuges, die Möglichkeit, sich mit dem erpreßten Geld woanders eine Existenz oder Lebensbasis aufzubauen, scheint ihnen die naheliegendste Lösung zu sein. Kriminelle Gewohnheiten, durch die Tagespresse ihnen nahegebracht, auch überall besprochen, reizen offenbar zur Nachahmung. Hier hat jedoch in nahezu allen Fällen bei der Übergabe des Lösegeldes und den vorangehenden Gesprächen eine gewaltlose Lösung stattfinden können — die Täter ergaben sich. Abgesehen von den Geiselnahmen in Flugzeugen durch palästinensische und japanische Terroristen (s. die Ausführungen hierzu) bilden Flugzeugentführungen kriminalistisch gesehen kein großes Problem. Die Amerikaner haben erhebliche Aufklärungs- und Ermittlungserfolge zu verzeichnen gehabt: So wurden nach Middendorff 1969 von 86 Entführungen 7 verhindert, 1970 bei 80 Entführungen 27 verhindert, 1971 stieg die Erfolgsquote auf 34 Fälle bei 61 Entführungsvorhaben, 1972 wurden bei 32 Entführungen 46 Täter registriert. Alle Täter sind identifiziert, und sind entweder tot, in Untersuchungshaft oder werden als Flüchtige gesucht. Mit den ernsthaften Bemühungen, dieser neuen Form — die regelrecht als Modeerscheinung zu bezeichnen war — zu begegnen, hat sich auch
sofort ein erheblicher Rückgang solcher Straftaten gezeigt. Es wird einheitlich die Meinung vertreten, daß die sprunghafte Zunahme der Entführungen auf die ausführliche Berichterstattung darüber und dem dadurch vermittelten Eindruck der leichten und wenig riskanten Tatbegehung zurückzuführen ist. Ähnliche Beobachtungen konnte man in den Jahren 1966 und 1967 bei der sprunghaften Zunahme der Raubüberfälle auf Sparkassen und Banken machen. 7. Geiselnahmen zur Durchsetzung sonstiger Forderungen Auch zur Durchsetzung anderer Vorhaben und Wünsche werden Geiselnahmen zunehmend vorgenommen. So kam es bereits vor der „Welle" der Geiselnahmen, die durch den Münchener Bankraub und den Terrorismus ausgelöst wurde, hin und wieder dann zu Geiselnahmen, wenn etwa nach einer Ehescheidung dem Ehemann das bei ihm verbliebene Kind weggenommen und der Mutter zugeführt werden sollte. In solchen Fällen verbarrikadierte sich der Vater in der Wohnung und erklärte —· oft unter Vorzeigen des bedrohten Kindes am Fenster —, er werde das Kind in dein Augenblicke erstechen, in dem die Polizei die Wohnung betrete. Auch Fälle, in denen der Vater eines solchen Kindes die Wohnung der Mutter aufsuchte, dort die Ehefrau oder Kinder als Geiseln nahm und sie zu töten drohte, falls die benachrichtigte Polizei ihm die Kinder nicht übergebe, sind vorgekommen. Seit dem Beginn der siebziger Jahre ist jedoch eine Zunahme der Geiselnahmen auch für andere, oft alltägliche und geringfügige Forderungen, hin und wieder auch aus nichtigen Anlässen, festzustellen. Solche Geiselnahmen scheinen auch geistig gestörten Menschen oder Neurotikern ein geeignetes Mittel zur Lösung ihrer Probleme zu sein — und sei es auch nur, um die Öffentlichkeit auf ihren Fall aufmerksam zu machen. In Berlin betrat ein Jugoslawe eine Bank, legte den Arm um eine Bankangestellte, bedrohte sie mit einem Messer und forderte eine Flugkarte nach Australien sowie die Benachrichtigung der Polizei. Er fürchtete, wie sich ergab, wegen eines Verkehrsdelikts ausge^iesen zu werden, und wollte lediglich eine Hilfe für seinen Fall. Bevorstehende Einweisungen in Landeskrankenhäuser sollen in gleicher Weise verhindert werden, hier dienen die Angehörigen als Geiseln. Ein geschiedener Mann drang bei seiner geschiedenen Frau ein, mit der er auch nach der Scheidung eheähnliche Beziehungen unterhielt, bei der er aber auch wieder Wohnung nehmen wollte. Die Ehefrau verließ die Wohnung, lediglich ein 2jähriges Kind blieb zurück, das mit einem Messer bedroht wurde. Hier gelang es, die Geiselnahme durch eine längere Unterredung
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Gewaltkriminalität zu beenden. Ein arabischer Barkeeper, der wegen Unstimmigkeiten entlassen worden war, wurde gefährlicher: Er wollte seinen früheren Chef wegen der Entlassung sprechen, und bedrohte ihn und das Personal mit einer Fistole, gab einige Schüsse ab und flüchtete mit einer Bardame in eine Toilette. Er gab dann mehrere Schüsse ab, um schließlich mit der Geisel den Versuch zu machen, aus der Bar zu entkommen, und ergab sich, als die Fistole leergeschossen war. Abgewiesene Liebhaber bemächtigten sich ihrer früheren Freundinnen, bedrohten sie mit dem Tode, falls sie nicht einer Heirat zustimmten oder nahmen in gleicher Weise die Eltern als Geiseln. Die in solchen Fällen hinzugerufene Polizei kann in der Regel nur durch Überredungs- und Beruhigungsversuche helfen, da die in den ersten Stunden sehr erregten Täter zu Kurzschlußhandlungen neigen — nicht selten stehen sie unter Alkoholeinfluß. Mitunter sind die Motive völlig unklar. Ein 23 jähriger Mann — früher medikamentensüchtig gewesen — suchte einen Pfarrer auf, zeigte eine selbstgefertigte Bombe vor und gab an, er fühle sich bedroht und müsse in die DDR flüchten. Der Pfarrer solle ihm dazu verhelfen — andernfalls die Bombe gezündet werde. Unterwegs verlangte er eine Unterredung in der russischen Botschaft. Er sprach dort auch vor, kam wieder zurück und suchte nun ein Hotel auf, wo er sich allmählich beruhigen ließ. Völlig unmotiviert war auch die Geiselnahme eines 17 jährigen Fischereigehilfen an der Nordsee. Angetrunken suchte er die Wohnung eines Mannes auf, legte ihm eine Drahtschlinge um den Hals und zwang ihn, gemeinsam zum Hafen zu gehen. Hier holte er sich vom Bord eines Kutters eine Leuchtpistole, schoß in die Luft und fuhr mit seinem Opfer in das nächste Dorf, wo er vergeblich einen Kollegen zur Mitfahrt veranlassen wollte. Schließlich ließ er sich ziellos durch die Stadt fahren. Von 14 Funkstreifenwagen verfolgt, konnte er später festgenommen werden. Geiselnahmen aus Verzweiflung, um auf bestimmte persönliche oder familiäre Probleme aufmerksam zu machen oder solche aus unklaren Motiven, können jedoch plötzlich „umschlagen"; dem Täter fällt ein, das man mit Geld viele Probleme lösen kann, er verlangt dann selbst an Orten, an denen sich keine größeren Summen befinden (Gastwirtschaften, Wohnungen) die Bereitstellung größerer Geldbeträge und eines Fluchtwagens, indem er die Informierung der Polizei selbst fordert oder seine entsprechenden Wünsche an die Polizei heranträgt. Eine Geiselnahme braucht also — um etwa Geldbeträge zu erlangen — keineswegs bei einer Bank zu erfolgen. In einigen Fällen des herangezogenen Materials schien es offensichtlich dem Täter
risikoloser, in eine Wohnung oder in ein Geschäft einzudiingen, um von liier aus dann seine Geldforderung geltend zu machen, nachdem er sich zunächst einer Geisel versichert und einigermaßen verbarrikadiert hatte. Die bei den Fällen dieser Geiselnehmer-Gruppe oft festzustellende Ziellosigkeit, Unbeherrschtheit, der Alkoholgenuß, der sie zur Tat ermutigen soll, und die psychische Labilität erschweren häufig die Verhandlungen, erhöhen auch die Gefahr. Der Versuch, durch Beruhigung den Fall zu lösen, kann erfolgreich sein, doch darf auch dann die nötige Vorsicht nicht außer acht gelassen werden. 8. Zur Täterpersönlichkeit
des
Geiselnehmers
Untersuchungen über die Täter der hier dargestellten Gewaltkriminalität liegen nicht vor. Das liegt einmal daran, daß es sich um Delikte handelt, die statistisch nicht gesondert erfaßt werden (so umfaßt die Freiheitsberaubung auch Taten anderer Art), zum anderen auch wohl daran, daß die Anzahl der auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfaßten Fälle zu gering ist, um hieraus Schlüsse ziehen zu können. Unterlagen aus anderen Staaten — etwa Italien, wo die erpresserische Entführung Erwachsener zur Alltagskriminalität gehört — liegen indes nicht vor oder sind auf hiesige Verhältnisse nicht anwendbar. Generell läßt sich nur sagen, daß Gewaltdelikte jeder Erscheinungsform von Tätern zwischen 15 und 60 Jahren begangen wurden, doch überwiegt der erwachsene Täter. Lediglich bei den erpresserischen Bedrohungen treten jugendliche Täter relativ häufig auf — doch lassen sich ihre Taten bald erkennen, die ihr Vorbild der Lektüre oder dem Film entnahmen. Einen speziellen Tätertyp gibt es nicht. Am häufigsten sind die Täter den Gruppen der antisozialen aber auch asozialen Rückfalltätern zuzuordnen, doch finden wir auch sozial Hilflose (Typologie nach Geerds). In geringerem Maße finden sich Entwicklungsund Konflikttäter und die eigentlichen Durchschnittstäter. Die Gewalttäter gehören generell somit zu den Tätern mit gefährlichen kriminellen Neigungen und sind ihrem Wesen und Verhalten nach am ehesten in der Nähe der Räuber anzusiedeln, mit denen auch diejenigen vieles gemeinsam haben, die keine Raub- oder raubähnlichen Taten begehen. Man könnte sie alle als „fortgeschrittene Räuber", als Gewalttäter höherer Qualität bezeichnen. Überwiegend sind die Gewalttäter überörtlich tätig, recht häufig erfordert die Tatausführung das Zusammenwirken mehrerer Täter. Auch hinsichtlich der Berufsausübung herrscht der Durchschnitt vor. Kaufleute, Handwerker, Angestellte und Arbeiter sind es meistens, bei den Delikten des Terrorismus, bei denen politische Ideologien propagiert werden
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Gewaltkriminalität
sollen, ist der Anteil der Angehörigen aus den oberen Mittelschichten mit dem entsprechenden Bildungsstand höher. Joachim Frenz hat 1973 einmal 53 Fälle aufgeklärter Geiselnahmen mit 74 Tätern untersucht und kam zu folgenden Ergebnissen: Alter der Täter
Anzahl der Täter
unter 16 Jahre
1
Ausgang der Geiselnahmen
Anzahl der Täter
Überwältigung durch Polizei
19
Überwältigung durch Personal Überwältigung durch Passanten
16—20 Jahre
16
Festnahme nach der Flucht
21—24 Jahre
20
getötet
25—29 Jahre
14
30—34 Jahre
13
25—39 Jahre
5
Einzeltäter
39
in 40 Fällen
über 40 Jahre
4
2 Täter
14
in 7 Fällen
3 Täter
9
in 3 Fällen
11
in 3 Fällen
36 3
Täterzahl bei der Tatausftthrung
(Soweit hier und in den folgenden Tabellen sich zahlenmäßige Differenzen ergeben, liegt das an Lücken bei den angefragten Fakten).
mehr als 3 Täter
Schulbildung
Über die Flugzeugentführer veröffentlichte Krefft aus den Tabellen der ICAO folgende Angaben (aus den Jahren 1969—1972):
Anzahl der Täter
ohne Schulabschluß
15
Volksschulabschluß
33
Geschlecht: 543 Männer, 54 Frauen
Oberschule
7
Alter:
mittlere Reife
4
13—18 Jahre: 28
31—40 Jahre: 15
Abitur
2
19—24 Jahre: 44
41—60 Jahre: 12
25—30 Jahre: 22
über 50 Jahre: 3
Berufe
Herkunft der Entführer:
Hilfsarbeiter bzw. ohne Beruf
24
USA:
94
Handwerker
22
Lateinamerika:
97
arabische Länder:
17
Kaufleute
δ
Studenten
1
Lehrlinge
3
Sonstige
7
Anlässe der Geiselnahme Gefängnisgeiselnahme
3
Fluchtgeiselnahme ohne objektive Behinderung
9
Fluchtgeiselnahme bei Behinderung (Polizei)
6
Geiselnahme mit Forderungen (Geld, Auto)
34
unbekannt:
131
Diese Zahlen ergaben sich aus insgesamt 332 Attentaten und Entführungen (einschl. der Versuche). Registriert wurden 76 Attentate ohne Entführung, 157 erfolgreiche Entführungen und 99 Entführungen, die verhindert werden konnten. Bei den terroristischen Gruppen fällt die hohe Beteiligung weiblicher Täter auf. Sie beläuft sich auf etwa 30% der bekanntgewordenen Täter. 7—8% der Täter sind älter als 40 Jahre, die übrigen 82% verteilen sich gleichmäßig auf die Altersgruppen der 30—40jährigen und der 18—30jährigen Täter (mithin jeweils 41%). Sehr hoch ist der Anteil von Studenten, Angehö-
Gewaltkriminalität rigen akademischer Berufe (jeweils 30%), während handarbeitende Berufstätige nur mit etwa 8% beteiligt sind. Doch ist hierbei zu berücksichtigen, daß die kriminelle Tätigkeit terroristischer Gruppen ein weitgespanntes Helfernetz voraussetzt, so daß in diesen Zahlen auch die Tätigkeit solcher Personen enthalten ist, die nicht gesprengt oder entführt, jedoch die Voraussetzungen hierfür geschaffen haben. Über die Vorstrafen aller Gewalttäter ist — soweit es sich nicht um die statistisch gesondert ausgewiesenen · Delikte des Mordes und Totschlages, der Brandstiftung und des Raubes handelt — so gut wie nichts bekannt. Lediglich Frenz bringt aus seiner Befragungsaktion einige Zahlen für die Geiselnahme: Vorstrafen wegen (vers.) Mordes bzw. Totschlages bei 7 Tätern Raubes, räub. Erpressung
bei 14 Tätern
Diebstahls i. weit. Sinne
bei 24 Tätern
sonst. Delikte
bei 10 Tätern insgesamt 65 Täter von 74 Tätern der Erhebung.
Die polizeiliche Kriminalstatistik des Jahres 1974 nennt für §239a 60 ermittelte Täter, von denen 26 bereits kriminalpolizeilich in Erscheinung traten, bei § 239 b 29 Täter, von denen ebenfalls 26 bereits erfaßt waren. D. Erpresserische Bedrohungen Raubüberfälle und Geiselnahmen sind Delikte, die geeignet sind, größere Geldsummen zu erlangen oder sonstige Forderungen und Wünsche erfüllt zu bekommen. Sie erfordern allerdings den persönlichen Einsatz der Täter. Das Risiko der späteren Ermittlung ist groß, da Zeugen zur Verfügung stehen. Dieses Risiko kann ausgeschaltet werden, wenn der Täter im Verborgenen bleiben kann. Die Gefahr für Leib, Leben oder Eigentum des vorgesehenen Opfers muß dann durch ein geeignetes Mittel diesem bekanntgegeben werden. Damit ist — nach Auffassung des Täters — jedes Risiko ausgeschaltet. Voraussetzung des Erfolges ist jedoch, daß die angedrohte Maßnahme sich auch tatsächlich verwirklichen läßt, glaubhaft erscheint und in den Augen des Opfers eine unberechenbare, unvermeidbare und lebensbedrohende Gefahr darstellt. So bietet sich in der Regel die Androhung von Sprengstoffattentaten oder Brandlegungen an, beliebt sind weiter Entführungs- und Tötungsdrohungen. Doch sind gegen diese Drohungen
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Schutzmaßnahmen möglich, während die Durchführung von Sprengstoff- oder Branddelikten sich kaum verhindern lassen dürfte. Angriffsobjekte sind Wohnhäuser, Betriebsanlagen, Verwaltungsgebäude der Wirtschaft oder öffentlichen Hand, Hotels, Warenhäuser, Versorgungsanlagen, Verkehrsmittel (Eisenbahnen, Schiffe, Flugzeuge). Richtet sich die Drohung gegen Versorgungsanlagen oder Verkehrsmittel, so lassen sich auch Forderungen an den Staat richten (Polizei, Justiz). Soll die Ernsthaftigkeit der Drohungen unterstrichen werden oder geht das Opfer nicht so schnell auf die gestellten Forderungen ein, so werden Probe-Attentate unternommen. Mitunter wird aber auch durch allzu schnelles Eingehen auf die Pläne des Täters dieser geradezu ermuntert, das begonnene Spiel — das nur als vager Versuch begann — nun ernsthaft fortzusetzen. Das eigentliche Risiko des Täters wird indes zumeist von ihm übersehen. Er muß zunächst mit dem Opfer in Verbindung treten, um ihm die Drohung zu übermitteln. Damit schafft er die ersten Beweismittel. Er muß sodann die geforderte Geldsumme in Empfang nehmen und zu diesem Zweck ein weiteres Mal mit dem Opfer Kontakt aufnehmen, schließlich sich dahin begeben, wo die Summe hinterlegt wurde. Hier versucht er nun, Sicherungsvorkehrungen einzubauen, um bei diesem letzten Akt nicht gefaßt zu werden. Dabei wird fast immer übersehen, daß nahezu jede Übergabemöglichkeit sich überwachen läßt, so daß das Risiko der Festnahme sehr hoch anzuschlagen ist. Obgleich die erpresserischen Bedrohungen fast hundertprozentig aufgeklärt wurden, erfreut sich diese Verbrechensart dennoch großer Beliebtheit und wird seit Jahren praktiziert. Eine gesonderte statistische Auswertung erfolgt jedoch nicht, so daß Zahlen nicht angegeben werden können. In der Nachkriegszeit hatte zunächst die Ankündigung von Attentaten gegen Eisenbahnanlagen durch einen Täter, der sich Roy Clark nannte, Aufsehen erregt. 1959 schrieb unter diesem Pseudonym ein Unbekannter der Deutschen Bundesbahn Hamburg einen Brief, in dem er 300000 DM verlangte, da er andernfalls Attentate gegen den Bahnbetrieb durchführen wolle. Da jedoch wegen der Übergabe des Geldes keinerlei konkrete Vorschläge gemacht wurden, konnte ein Kontakt nicht aufgenommen werden; Roy Clark meldete sich auch nicht wieder. Erst am 16. 10. 1966 schrieb er erneut. Diesmal verlangte er 60000 DM und drohte Anschläge auf der Linie Hamburg—Bremen an. Die Forderung wurde dann auf 100000 DM erhöht, Anfang Dezember 1966 telefonierte der Täter mit einer Hamburger Tageszeitung, kündigte einen Anschlag an und zündete auch im Schließfach des Hamburger Hauptbahnhofs einen Brand-
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Gewaltkriminalität
satz durch einen mit einer Batterie betriebenen Zeitzünder. Es kam nun in den nächsten Monaten zu weiteren Briefen des Erpressers, zu weiteren Attentaten (so zu Schließfachsprengungen, Vorbereitungen zu Zugentgleisungen, die nur durch Zufall nicht den beabsichtigten Erfolg hatten, zur Erhöhung der Geldsumme auf 300000 DM), bis schließlich die Bild-Zeitung den Täter öffentlich fragte, unter welchen Bedingungen ihm das Geld übergeben werden könne. Roy Clark machte vage Vorschläge, bestellte einmal auch einen Kradfahrer mit dem Geld nach Lüneburg, erschien dann jedoch nicht und gab auch keine Nachricht. Nunmehr wurde die Öffentlichkeit durch Ausstrahlung der Stimme des Täters mobilisiert, worauf wiederum Attentate erfolgten (so am δ. 11. 67: Explosion eines Zementrohres mit TNT auf dem Gelände der DB-Direktion Hamburg). Ein auf sein erneutes Ersuchen an eine Autobahnraststätte bestellter Geldbote mußte wiederum unverrichteter Dinge abziehen. Am 22. 12. 67 ermittelte schließlich eine Sonderkommission den Täter, der — ehemaliger Feuerwerker und Fremdenlegionär — als Kraftfahrer ein bürgerliches Leben führte. Ein Hauskauf hatte ihn in Schulden gestürzt, die er durch die Lösegeldsumme beheben wollte. Doch hatte ihm immer wieder der Mut gefehlt, das Geld tatsächlich aufzunehmen. Trotz der recht hohen Strafe (16 Jahre Freiheitsentzug) fanden sich Nachahmungstäter, die ähnliche Anschläge auf die Hamburger U-Bahn unternahmen. Als Täter wurden zwei Lehrlinge, 16 Jahre alt, ermittelt, spätere Erpressungsversuche an der DB gelangten — wie im Falle Roy Clark — gleichfalls nicht in ein ernsthaftes Verhandlungsstadium. Sehr beliebt sind die Fluggesellschaften als Objekte solcher Erpressungen. Die Täter rufen gewöhnlich nach dem Start einer Maschine an, behaupten, daß sich in der Maschine ein Sprengkörper befinde, und verlangen die Zahlung einer größeren Summe, wobei sie sich verpflichten, dann den Ort der Lagerung des Sprengkörpers und die Möglichkeit seiner Entschärfung zu benennen. Da nun in der Tat — teils zum Zwecke des Versicherungsbetruges, teils durch terroristische Organisationen — Flugzeuge durch Bombenexplosionen an Bord zerstört wurden, müssen solche Drohungen immer ernst genommen werden — auch dann, wenn keinerlei Sprengstoff an Bord gebracht wurde. So teilte im Mai 1971 ein Unbekannter der australischen Gesellschaft Quantas mit, er habe eine Bombe in einer Verkehrsmaschine der Linie Sydney—Hongkong versteckt. Sie explodiere, wenn das Flugzeug eine Höhe von weniger als 6000 Meter erreiche. Gegen Zahlung von 500000 Dollar wolle er Hinweise für die Entschärfung geben. Zum Beweis der Ernsthaftigkeit seiner Forderung bat er,
ein Schließfach im Flughafen Sydney zu öffnen — dort befinde sich gleichartiger Sprengstoff (der in Gestalt von 12 Stücken Dynamit auch gefunden wurde). Der Täter erhielt daraufhin das Geld, die Maschine den Befehl zur Rückkehr, sieben Schiffe fuhren aus, um beim Absturz der Maschine die Fassagiere zu retten. Bald meldete sich der Täter wieder. Er habe nur gescherzt, erklärte er — im Flugzeug sei gar keine Bombe versteckt gewesen. Bei der TWA rief 1972 in New York ein Unbekannter an, der drohte, daß in Abständen von sechs Stunden mehrere Maschinen der Gesellschaft explodieren würden, wenn er nicht 2 Mio Dollar erhalten würde. TWA ließ 250 Maschinen durchsuchen, die in der Welt im Flugbetrieb standen -— in einer Maschine wurde tatsächlich eine Zeitzünderbombe entdeckt, die Zündung wäre 12 Minuten nach der Entdeckung erfolgt. In einer zweiten Maschine explodierte die Bombe, nachdem die Passagiere die Maschine verlassen hatten, in einer dritten erschnüffelte ein Suchhund die Bombe. In der BRD betrieb ein gewisser K. ein ähnliches Geschäft. Er forderte von der PANAM 400000 DM und gab dabei an, die Bombe werde im Flugzeug explodieren, wenn eine Höhe von 10000 Fuß unterschritten werde. Das geforderte Geld wurde bereitgestellt, doch der Koffer (der an der BAB bereitstand) kurz vor der Abholung durch den Täter von einem nichtsahnenden Kraftfahrer als Fundsache sichergestellt und bei der Polizei abgeliefert. Das nächste Opfer war ein Fabrikant, dann wieder eine Fluggesellschaft (TWA). Die Geldübergabe scheiterte auch hier, weil der nach Paris, sodann nach Straßburg bestellte Bote sich verspätete. Die Ermittlung erfolgte durch Ausstrahlung der Stimme des Täters, der übrigens in der Gerichtsverhandlung angab, er habe die verlangten Gelder gar nicht annehmen wollen, sondern die Bedrohungen zur Wiederaufrüstung seines Selbstbewußtseins ausgesprochen. So wurde er nur wegen Nötigung verurteilt. Beliebte Opfer sind Kaufhauskönige, Industrielle, Fabrikanten, wobei nicht nur die bundesweit bekannten Personen aus den Spitzenpositionen ausgewählt werden, sondern durchaus auch Personen aus der engeren Umgebung des Täters, deren Verhältnisse oder Betriebe er einigermaßen kennt. Die Forderungen richten sich nach der vermuteten Vermögenslage des Opfers. Doch lassen sich die Täter, sofern die Verhandlungen telefonisch geführt werden, auch „herunterhandeln", wenn ihre Vorstellungen allzu laienhaft waren. Geschickte Gesprächsführung vermag in diesen Fällen auch eine Änderung der Übergabebedingungen zu erreichen, wenn diese allzu seltsam und zeitraubend erscheinen. Meist verlangen die Täter die Ablage der verlangten Summe im freien Gelände, um so eine
Gewaltkriminalität Überwachung zu erschweren. Oft wird auch verlangt, daß das Opfer die Geldsumme irgendwo abwirft — vorzugsweise im Dunklen — und sich sodann schnell entfernt. Auch der Abwurf auf Brücken, aus Zügen oder Fahrzeugen ist recht beliebt. Selbstverständlich wird die Einschaltung der Polizei untersagt. Die Praxis hat indes gezeigt, daß alle gewählten Orte bisher überwacht werden konnten. Hie und da hat es Fehler gegeben, die zum Entkommen der Täter führten. Werden jedoch alle Vorsorgemaßnahmen eingehalten, so ist mit der Festnahme des Täters zu rechnen. Diese Maßnahmen sind äußerst zeitraubend, da geschickte Täter „Probeablagen" durchführen lassen. Sie beobachten in diesen Fällen lediglich das Vorgehen des Opfers, um sodann Punkte und Abläufe, die ihnen nicht gefallen, zu ändern. So kommt es zu mehrfachen Wiederholungen der Ablagemodalitäten. Auch sind Fälle bekanntgeworden, in denen es den Tätern zunächst am Mut gebrach, das Geld auch abzuholen. Viele Bedrohungen dieser Art werden aus dem gleichen Grunde nicht weiter fortgeführt — man beschränkt sich auf die Drohung und verzichtet schließlich auf die Fortsetzung der Tat. Hiermit nicht zu verwechseln sind allerdings jene Fälle, in denen durch die Androhung von Attentaten lediglich Unruhe und Angst geschürt werden sollen oder in denen die Täter lediglich die Polizei zu Durchsuchungen nach Bomben animieren wollen, um sich über die ergebnislosen Einsätze zu belustigen. Attentatsdrohungen durch terroristische Gruppen sind mit quasi-politischen Forderungen verknüpft, in der Regel gibt sich die Gruppe auch zu erkennen, da sie ja auf ihre Tätigkeit hinweisen will. Zweck dieser Androhungen ist — falls nicht die Freilassung oder Nichtverfolgung bestimmter Personen gefordert wird — die Verbreitung von Unruhe. Den Ankündigungen von solchen Straftaten muß jedoch immer nachgegangen werden, da auch hier der behauptete Sachverhalt (versteckte Sprengkörper) tatsächlich vorliegen kann. Zu den Attentatsdrohungen der Terroristen vergleiche den betreffenden Abschnitt. E. Terrorakte 1. Entwicklung
und
Konzept
Der Gewalttäter wendet zur Durchsetzung seiner Ziele gegen Personen und/oder Sachen Gewalt an. Sie ist jedoch lediglich Mittel zum Zweck, er glaubt, darauf nicht verzichten zu können, weil die Tat sonst fehlschlägt. Oft ist ohne diese Gewaltanwendung die Tat selbst auch nicht möglich (so bei den Tötungsdelikten). Soweit die Anwendung der Gewalt über den Tatzweck hinaus Schrecken erregt oder Aufsehen verursacht, wird das zwar in Kauf genommen,
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weil unvermeidbar, ist aber nicht eigentlich der Zweck und das Ziel der Tat. Bezweckt der Täter jedoch durch die Art und Weise der Gewaltanwendung ein Gefühl der allgemeinen richtungs- und ausweglosen Furcht zu erregen, die einen größeren Kreis von Menschen überfällt, um diesen Kreis zu verunsichern, um auf sich oder seine Auffassungen aufmerksam zu machen oder um durch die ausgelöste Furcht zu herrschen, so sprechen wir vom Terroristen. Ziel und Zweck seiner Taten ist die Erregung von Schrecken. Die Tat soll einschüchtern, die Öffentlichkeit soll erfahren, wer Urheber der Tat ist, soll sich den Wünschen und Forderungen des Täters oder der Tätergruppe beugen. Die Zuverlässigkeit der Staatsorgane, die die Sicherheit und Freiheit des Bürgers garantieren sollen, wird durch die Terrorakte unglaubwürdig gemacht, ihre Unfähigkeit soll demonstriert werden. Daher offenbart sich der Täter bzw. die Tätergruppe bei jeder Tat als Urheber, man setzt das Leben aufs Spiel und läßt sich eher töten als von der Tat abhalten. Nach Hacker ist Terror die Verwendung des Herrschaftsinstruments der Einschüchterung durch die Mächtigen, Terrorismus die Nachahmung und Praxis der Terrormethoden durch die (zumindest einstweilen noch) Machtlosen, Verachteten und Verzweifelten, die glauben, auf keine andere Weise als durch Terrorismus ernst und für voll genommen zu werden. Das Wort Terror bezeichnet jedoch in gleicher Weise die Schreckensherrschaft der Mächtigen, die der Machterhaltung dient, wie die punktuelle oder organisierte Schreckenserzeugung der Ohnmächtigen, die sich gegen die Mächtigen richtet. Terror und Terrorismus ahmen einander nach und bedingen einander, überschneiden sich und gehen ineinander über. Soweit Hacker. Die Gegenwart zeigt, daß sich Terror der Ohnmächtigen zwar gegen den Terror der Mächtigen richtet, er richtet sich aber auch gegen Ordnungen, die keineswegs als terroristisch anzusehen sind, sogar gegen solche, die ausgesprochen freiheitlicher Natur sind. Terrorismus ist also nicht immer abhängig von der Ausübung einer Terrorherrschaft — er wird auch dort praktiziert, wo die den Terrorismus beflügelnde Auffassung oder Ideologie keine Anhänger findet und ihre Verwirklichung aussichtslos erscheint. Unmöglich ist es, eine Darstellung des GesamtTerrorismus zu geben, da er offensichtlich mit der Menschheitsgeschichte eng verbunden ist. Es kann nur hingewiesen werden auf den frühen anarchistischen Terrorismus, auf die Terrorakte der Narodnaja Wolja im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Rußland, auf die russischen Revolutionswirren, die unter Stolypin 1906 eigentlich begannen, den Terrorismus der Araber gegen Israel und der Israelis gegen die Araber, der
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1921 seinen Anfang nahm (wobei immer noch strittig ist, wer wen zuerst terrorisierte). In der Nachkriegsgeschichte sind besonders zu erwähnen die revolutionären und terroristischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika, in den Vereinigten Staaten (Black-Panther-Bewegung) sowie die nationalen Befreiungskämpfe der Iren und Basken. In der Bundesrepublik Deutschland verzeichnen wir — ausgehend vom Jahre 1967 her — ebenfalls terroristische Unternehmen, deren Taktik und Technik — wohl auch die Motivation — zurückgehen auf die Sozialrevolutionären Auseinandersetzungen Lateinamerikas. Hier wurde zuerst das Konzept des modernen Guerillakampfes entwickelt, hier entstand der Begriff des Stadt-Guerillas. Das Wort Guerilla — spanischer Herkunft — bedeutet Klein- oder Bandenkrieg. Guerillas sind bewaffnete Banden, die die einheimische Bevölkerung bildet, um sich gegen feindliche Truppen zur Wehr zu setzen. Bekannt wurde dieses Wort durch den Widerstand der spanischen Bevölkerung gegen die napoleonischen Besatzungstruppen in den Jahren 1807—1814. Nach dem 2. Weltkrieg wurde es für den Kampf unterentwickelter Völker um ihre nationale Selbständigkeit genau so verwendet wie für die Befreiung von diktatorischen Strukturen. Angesichts des atomaren Gleichgewichts der großen Machtblöcke kommt nun dem GuerillaKrieg zunehmende Bedeutung in den Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Staaten zu. Es wird hierbei der Zwang, Atomwaffen zu verwenden, vermieden. Erfolge oder Niederlagen der jeweiligen Guerilla-Bewegung tangieren die sie begünstigenden Staaten zwar faktisch, aber nicht de jure, eine Erweiterung der Einflußbereiche der Großmächte ist hier auch ohne „heißen" Krieg möglich. Dieses Guerilla-Konzept hatte in Kuba zu Erfolgen geführt, sich in Vietnam, Kambodscha und Laos bewährt, in diese neue Form der Kriegführung sind oder waren außerdem Venezuela, Peru, Angola und der Sudan verwickelt. Voraussetzung des Erfolges der DschungelGuerillas waren die dünn besiedelten und schwer zugänglichen Landstriche, das rückständige oder unvollkommene Transport-, Verkehrs- und Nachrichtenwesen und starke soziale Unterschiede. Die Guerillas begannen ihre Aktionen demzufolge außerhalb der Städte und versuchten, die verelendete Landbevölkerung für ihre Ziele zu begeistern, um schließlich diese Landgebiete in ihre Gewalt zu bringen und damit der Regierung die Rohstoffvorkommen und die Produktionsbasis zu entziehen. Eine regelrechte „Feldschlacht" sollte dann die Entscheidung bringen. In dieser Weise gingen ζ. B. die meuternden Offiziere der Garnison von Zapaca (Guatemala) vor, die ihre Garnisonsstadt besetzten, nach dem
Scheitern des Aufstandes in die Höhlen von Siera de la Minas flüchteten und hier zusammen mit den ansässigen Landarbeitern eine trotzkistische Bewegung (Revolutionäre Bewegung vom 13. 11.) gründeten. Ihnen zulaufende Studenten versuchten, durch politische „Aufklärung" die Bauern zum Aufstand zu bewegen, die notwendigen Finanzierungsmittel wurden durch Raubüberfälle und Entführungen beschafft. Die Regierung bildete nunmehr Anti-GuerillaEinheiten, die 1967 in mehreren Gefechten die Rebellen in den Bergen der Siera de la Minas aufrieben und zersprengten. Die Rebellen tauchten in den Städten unter und versuchten, als Stadt-Guerillas nun durch Brandstiftungen, Entführungen (so wurde 1968 der amerikanische Botschafter entführt und erschossen, 1970 wurde der deutsche Botschafter Graf Spreti ermordet) und Überfälle sonstiger Art alle Funktionen des Staates zu blockieren. Offensichtlich reichte das bisherige Konzept nicht mehr aus, es mußte — auch für Südamerika — ein neues entwickelt werden, der Kampf mußte in die Städte und Machtzentren getragen werden, wollte man Erfolge haben. Dieses Konzept stammt aus der brasilianischen Terroristenszene — und damit aus einem Lande, das anders als die übrigen lateinamerikanischen Staaten sich einer aufblühenden Wirtschaft erfreute. Seine Grundsätze legte Carlos Marighela im Minihandbuch für Stadt-Guerilla nieder, das er 1967 verfaßte (M. wurde 1969 erschossen). Als Ziel des bewaffneten Guerilla-Kampfes bezeichnete er 1. die physische Liquidation der Chefs und Henkersknechte der Streitkräfte und der Polizei, 2. die Enteignung von Vermögen und Produktionsmitteln, die der Regierung, den Monopolkapitalisten, Großgrundbesitzern und Imperialisten gehören; mit kleineren Enteignungen für den individuellen Bedarf der Stadtguerillas und größeren für die notwendigen Mittel der Revolution selbst. Für den Kampf gegen „Bourgeoisie und Imperialismus" fordert Marighela die Beschaffung der notwendigen technischen Hilfsmittel: „Für den Stadtguerilla, der mit nichts anfängt und anfangs keinerlei Unterstützung hat, gilt die Logistik-Formel Μ = Motorisierung G = Geld W = Waffen Μ = Munition S = Sprengstoff Die revolutionäre Logistik sieht die Motorisierung als einen Hauptpunkt. Jeder gute Stadt-
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Gewaltkriminalität guerilla muß ein guter Fahrer sein. „Er muß immer versuchen, die Enteignung verschiedener Sachen zu kombinieren; Geld, Waffen, Munition, Sprengstoffe muß er nehmen, wo er sie findet." Voraussetzung auch dieses Konzeptes war allerdings die Unterstützung durch die Bevölkerung und die Verbreiterung der Basis durch Aufnahme neuer und aktiver Mitkämpfer. So konnten durch Raubüberfälle, Entführungen, Befreiungen der Häftlinge aus den Gefängnissen, Exekutionen von Politikern und Befehlshabern und Bombenattentate auf Versorgungseinrichtungen jene revolutionären Zustände geschaffen werden, in denen dann die bewaffnete Macht durch die eigenen Revolutionstruppen übernommen werden konnte. Eine unkritische Übernahme dieses Konzeptes verbot sich indes in europäischen Staaten von selbst. Mit Ausnahme Italiens (das ein erhebliches soziales Nord-Süd-Gefälle aufweist) fehlen hier die starken sozialen Spannungen. Eine aktive Unterstützung durch die breite Bevölkerung war nicht zu erwarten, auch entfiel wohl die Möglichkeit, die Basis der zu Aktionen bereiten Mitglieder zu verbreitern, ein Kampf gegen militärische oder polizeiliche Einsatzkräfte erschien von vornherein aussichtslos — Feuergefechte in den Straßen europäischer Städte erschienen unsinnig und ohne Nutzen. Das Konzept als solches mußte abgewandelt werden, und in der Tat haben die Guerilla-Führer immer wieder vor einer unüberlegten Nachahmung gewarnt. An die Stelle der Massen mußten gut ausgebildete, geschulte und versorgte Kader treten. Zielobjekt mußte die öffentliche Sicherheit und Ordnung sein, die den reibungslosen Ablauf des täglichen Lebens garantierte. Auf Grund des Vertrauens in diese Ordnung beteiligt sich der Staatsbürger am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben und wirkt an den Funktionen der jeweils zuständigen Einrichtungen — Gerichte, Verwaltungen, Parlamente — mit. Zeigt sich jedoch, daß diese Mitwirkung Gefahren mit sich bringt, daß die verantwortlichen Funktionäre nicht mehr geschützt werden können und daß auch der nur an untergeordneter Stelle in diesem Räderwerk Tätige Objekt des Terrors sein kann, ohne daß Polizei oder Rechtsprechung ihre Schutzfunktion ausüben können, dann bricht ein Gefühl der Unsicherheit und Verstörung auf. Das Sicherheitsbewußtsein schwindet, der Bürger gibt seine soziale Funktion auf: Er bleibt seinem Arbeitsplatz fern, das Versorgungs- und Sicherungssystem bricht zusammen. Das ist in der Tat am 10. 11. 1972 in Hamburg geschehen, als dort 19 Firmen Drohbriefe erhielten, in denen Bombenanschläge auf Verkehrsmittel angedroht wurden. Die Beschäftigten dieser Firmen erschienen an diesem Tage
nicht zur Arbeit. Auch die „Kleine Anschlagstrategie für Norddeutschland" (s. u.) verfolgte diese Ziele. Hierbei wurde auch der Zeitfaktor berücksichtigt. Der Terrorist muß seine Aktionen in einem bestimmten Gebiet auf einen möglichst kurzen Zeitraum zusammendrängen, um sodann — wenn eine Massierung von Abwehrkräften erfolgt ist — sofort auszuweichen und seine Tätigkeit zu verlagern. Diese „Anschlagsstrategie" ist darauf abgestellt. 2. Terrorismus
in der Bundesrepublik
Deutschland
Die deutsche Terror-Szene wird — abgesehen von Einzelaktionen arabischer Guerillas — geprägt durch die „Rote Armee Fraktion (RAF)", die von Andreas Baader und Ulrike Meinhof getragen wurde. Die Ziele der RAF umreißt Ulrike Meinhof in der Schrift „Rote Armee Fraktion — Das Konzept Stadtguerilla". Sie fordert darin zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft und zur Anwendung aller legalen und illegalen Mittel einschließlich der bewaffneten Gewalt auf. Es sei Verdienst der Studentenbewegung gewesen, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen nicht auf den Begriff zu bringen seien. Auch habe man die provinzialistische Abkapselung der „alten Linken" durchbrechen können. Die Studentenbewegung habe sich jedoch als ungeeignet erwiesen, eine ihren Zielen angemessene Praxis zu entwickeln, jedoch bekenne sich die RAF zur Studentenbewegung als ihrer eigenen Vorgeschichte. Die Schrift schließt mit den Sätzen: „Die RAF organisiert die Illegalität als Offensiv-Position für revolutionäre Intervention. Stadtguerilla machen heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv führen. Die RAF stellt die Verbindung her zwischen legalem und illegalem Kampf, zwischen nationalem und internationalem Kampf, zwischen politischem und bewaffnetem Kampf, zwischen der strategischen und der taktischen Bestimmung der internationalen kommunistischen Bewegung. Stadtguerilla heißt, trotz der Schwäche der revolutionären Kräfte in der Bundesrepublik und Westberlin hier und jetzt revolutionär intervenieren. Sieg im Volkskrieg!" In der Tat liegt die geistige Wurzel der RAF in der Studentenbewegung der 60er Jahre. Bei den vielen Straßendemonstrationen des Jahres 1967, die durch die antiautoritäre Studentenbewegung ausgelöst wurden, standen die Mitglieder der Berliner Kommune I (Kunzelmann, Fritz Teufel und Rudi Dutschke) im Vordergrund.
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Sie versuchten — zusammen mit anderen radikalen Gruppen — die politische und gesellschaftliche Umformung herbeizuführen. U. a. wurde der Besuch des Schahs des Iran am 2. 6. 1967 zu einer Massen-Demonstration benutzt. Bei den sich daraus entwickelnden Krawallen wurde der Student Benno Ohnesorg durch einen Polizeibeamten in Ausübung der Notwehr getötet. Dieser Vorfall löste eine regelrechte „Demonstrationswelle" aus, in deren Verfolg es am 2. 4.1968 in Frankfurt zu Bränden in zwei Kaufhäusern und am 11. 4. 1968 in Berlin zur Erstürmung der Niederlassung des SpringerKonzerns kam. An den Kaufhausbränden waren vier Täter, darunter Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Thorwald Proll beteiligt. Sie wurden am 4. 4. 68 festgenommen. Die Brandstiftung erfolgte offensichtlich in Anlehnung an den Brand eines Brüsseler Warenhauses am 22. 5. 1967 anläßlich einer Ausstellung amerikanischer Waren durch Vietnam-Kriegsgegner (bei diesem Brand kamen 251 Menschen ums Leben). Gudrun Ensslin trug bei ihrer Brandlegung einen Zettel bei sich, der darauf hinwies: „Ein brennendes Warenhaus vermittelt zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde VietnamGefühl, das wir in Berlin bisher noch missen müssen." Thorwald Proll stellte in diesem Zusammenhang in einem Gedicht Fragen, die das spätere Programm der RAF zum Inhalt haben: „Wann brennt das Brandenburger Tor ? Wann brennen die Berliner Kaufhäuser ? Wann brennen die Hamburger Speicher, Wann brennt der Bamberger Reiter ? Wann pfeifen die Ulmer Spatzen aus dem letzten Loch? Wann röten sich die Münchener Oktoberwiesen?" Umfassender kann man ein Revolutionsprogramm, das der Zerstörung aller Lebens- und Kulturformen dient, nicht charakterisieren. Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter blieben in Haft bis zur Hauptverhandlung, sie wurden verteidigt von Otto Schily und Horst Mahler, unter dessen Teilnahme der Angriff auf das Berliner Springerhochhaus erfolgte (Anlaß hierzu war das Attentat auf Rudi Dutschke). Die Brandstifter wurden schließlich zu je 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, verblieben jedoch bis zur Berufungsverhandlung auf freiem Fuß. Als diese verworfen wurde, flüchteten Ensslin, Proll und Baader ins Ausland. Während Proll sich stellte, wurde Baader am 4. 7. 70 in Berlin festgenommen. Man beschloß die gewaltsame Befreiung, die durch Gudrun Ensslin inszeniert wurde. Sie gab sich als Lektorin eines Verlages aus, für den Baader arbeiten sollte. Zu diesem Zweck sollte er Literatur in einem
Berliner Institut einsehen und erhielt die Erlaubnis, unter Bewachung dieses Institut aufzusuchen. Hier wurde er von Gudrun Ensslin sowie den inzwischen hinzugezogenen Frauen Ulrike Meinhof, Irene Goergens, Ingrid Schubert und Astrid Proll erwartet. Bei der gewaltsamen Befreiung — von der RA Mahler unterrichtet war —· wurden drei Bedienstete ζ. T. schwer verletzt. Drei Tage später ging bei dpa ein Telegramm ein, das mit den Worten Schloß: „Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen! Die Rote Armee aufbauenl" In dieser Zeit bröckelte die Studentenbewegung bereits ab. Man resignierte und trat den Marsch durch die Institutionen an oder wandte sich anderen politischen Gruppen zu. Nur ein sehr kleiner Teil — etwa die Berliner „Tupamaros", die „Bewegung 2. Juni", die „Haschrebellen", das „Sozialistische Patientenkollektiv" — erstrebt eine schnelle Zerschlagung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Der Kern der RAF aber ließ sich zunächst in Jordanien in den Ausbildungslagern der Palästinensischen Befreiungsarmee ausbilden und schulen. Am 9. 8. 1970 kehrten sie zurück. Nach mehreren Brandanschlägen in Berlin erfolgte am 29. 9. 70 der „Dreierschlag", ein gut geplanter Überfall auf drei Berliner Banken zur gleichen Zeit, der der RAF 217000 DM einbrachte. Einen Monat später wurde jedoch Horst Mahler, der führende Kopf der Gruppe, zusammen mit vier Frauen festgenommen, so daß nunmehr Baader der Anführer der RAF wurde, die sich nunmehr in einer Vielzahl von Terrorakten zur Geltung brachte. Durch Einbrüche wurden Blankopersonalausweise beschafft, weitere 17 Banküberfälle brachten das Geld für umfangreiche Waffenkäufe, es kam zum Schußwechsel mit Polizeibeamten, zwei Polizeibeamte wurden erschossen, mehrere schwer verletzt, auch Angehörige der RAF wurden getötet oder verletzt, einige wurden festgenommen oder stellten sich. Die Durchführung des geplanten politischen Konzepts mußte man jedoch vermissen. Der Versuch, die Arbeiterklasse aufzuklären und zu einer Mitwirkung zu motivieren, schlug fehl. Die Mitglieder der RAF mußten sich vielmehr vor der Polizei verbergen, sogenannte „konspirative Wohnungen" anmieten und ganz offensichtlich den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf den Kampf gegen die Polizei verlagern. So kam es zu den Sprengstoffanschlägen des Jahres 1972, die sich gegen amerikanische Dienststellen in Frankfurt/Main und Heidelberg, gegen Polizeieinrichtungen in München und Augsburg, gegen einen Bundesrichter, der mit Ermittlungen beauftragt war und gegen das Hamburger Springer-Hochhaus richteten. 4 Tote und 41 Verletzte waren das Ergebnis, das zwar Furcht und Schrecken verbreitete (vor allem durch die Drohung der Bewegung 2. Juni, in Stuttgart Bomben-
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Gevvaltkriminalität anschlage im gesamten Stadtgebiet durchzuführen, wodurch eine Lähmung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens zu verzeichnen war), die politischen Ziele aber nicht förderte, sondern lediglich eine sehr intensive Verfolgungstätigkeit der Polizei auslöste. Am 1. 6. 72 wurden Baader, Meins und Raspe in Frankfurt, am 7. 6. Gudrun Ensslin in Hamburg und am 15. 6. 72 Ulrike Meinhof festgenommen. Damit war der Versuch, durch Terror die Revolution herbeizuführen, zunächst gescheitert. Denn der „Krieg" konnte nicht gegen die Zentren der multinationalen Konzerne geführt werden, die — nach Ansicht von Ulrike Meinhof — die Gesetze der technischen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Entwicklung in den Vereinigten Staaten, Japan und Europa bestimmen — er mußte sich zunächst gegen die Polizeiorgane richten, die die RAF und ihre verwandten Gruppen behinderten.
3. Aktionen nach der Inhaftierung 1972 Die Inhaftierung der Führungsgruppe ermöglichte jedoch eine Weiterführung der Arbeit in anderer und besserer Form. Die Inhaftierten konnten sich — ungestört und unbehindert durch Polizei-Aktionen — dem Neu-Aufbau ihrer Organisation widmen, wenn man nach dem Konzept der Verbindung illegaler Arbeit mit legaler Tätigkeit vorging. Die Trennung des Führungskaders von der Außenwelt durch die Gefängnismauern mußte überwunden werden, die bisherigen Mitkämpfer aktiviert und geleitet werden. Diese neue Organisation gliederte sich in — — — — —
den Führungsstab (inhaftiert) die illegalen Kommandogruppen das Informationssystem durch die Anwälte legale und illegale Unterstützer heimliche und offene Sympathisanten.
Durch Ausnutzung der Möglichkeiten, die die StPO bot, war es möglich, daß Baader ζ. B. zeitweise 22 Anwälte hatte und daß damit jeder Anwalt gleichzeitig auch Anwalt für die anderen Mitglieder der RAF — auch solcher, die in anderen Anstalten einsaßen — war. Bei den Zellendurchsuchungen Mitte 1973 konnten so 49 von den Inhaftierten verfaßte Zellenzirkulare und 52 von den Anwälten für die Gefangenen verfaßte Rundbriefe sichergestellt werden. Durch Agitation und Propaganda, insbesondere den kollektiven Hungerstreik, dessen propagandistische Auswertung, durch die Gründung von Komitees im In- und Ausland unter Einbeziehung bisher außenstehender und daher unverdächtiger Personen und durch Demonstrationen sollten Verhältnisse erzwungen werden, die
einerseits den bevorstehenden Prozeß verhinderten, andererseits aber eine Aktionseinheit illegaler Gruppen sowie der Unterstützer und Sympathisanten geschaffen werden. Der Wille zum Widerstand und zu weiteren Attentaten sollte gestärkt werden. Eine Reihe anderer anarchistischer und terroristischer Gruppen unterstützten die Aktionen der RAF oder nahmen an deren Vorhaben aktiv teil. Zu erwähnen sind hier insbesondere: Bewegung 2. Juni Debus-Bande Gruppe Petra Schelm Gruppe Use Jandt Rote Volksarmee Sprengstoffgruppe Hamburg Komitees gegen die Folter
Rote Hilfe Schwarze Hilfe Knastgruppen Bewegung der revolutionären Linken Illegale Gruppen Heidelberg, Hamburg und Frankfurt Münchener Gruppe
Sozialistisches Patientenkollektiv Zur Durchführung der Aktionen wurde das bisherige taktische Konzept weiter ausgebaut. Es beruhte auf folgenden Prinzipien: 1. Kodierung wichtiger Befehle,
Aufzeichnungen
und
2. Beschaffung von Original-Blanko-Papieren zur Fertigung falscher Personal- und Wagenpapiere, 3. Beschaffung von Fahrzeugen, die als „Doubletten" liefen (d. h. ein Auto gleichen Fabrikates mit gleichen technischen Daten existierte auch legal und hatte einen unverdächtigen Halter), 4. Beschaffung von Waffen und Sprengstoffen, 5. Beschaffung von Geld durch Überfälle, 6. Beschaffung von Plänen und Unterlagen über Anlagen und Institutionen der Polizei, von Bundeswehr- und ausl. Armee-Einheiten, Versorgungsunternehmen, Verwaltungsstellen, Industrieeinrichtungen, 7. Beschaffung von Lichtbildern, Personenbeschreibungen und Verhaltensgewohnheiten von führenden Personen der Politik, Verwaltung, Justiz, Polizei, 8. Anmietung von konspirativen Wohnungen für die Vorbereitung und den Unterschlupf bei Aktionen. Die Ziele der Terror-Gruppen — auch der mit der RAF zusammenarbeitenden Einheiten — waren insbesondere:
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1. Die politisch-militärische Schulung der Kader, 2. Revolutionierung der Insassen von Strafanstalten für einen Aufstand, 3. Verbreiterung der Basis mit dem Ziele einer Volksfrontbewegung, 4. Attentate gegen Einrichtungen der Industrie und Wirtschaft, insbesondere gegen die multinationalen Konzerne, 5. Attentate gegen Einrichtungen der Polizei, Justiz und Bundeswehr sowie US.-Armee, 6. Anschläge gegen Versorgungseinrichtungen, 7. Entführung von Politikern als Geiseln zum Gefangenenaustausch, 8. Mordanschläge gegen Angehörige der Justiz und Polizei, 9. Einrichtung von Volksgefängnissen für entführte Richter, Staatsanwälte usw. als Geiseln, 10. Ausbildung militärischer Kader in Angola oder Mozambique, 11. Ausbildung einer Fliegergruppe (in Schweden), Einsatz kleiner Flugzeuge zu Bombenabwürfen auf wichtige Einrichtungen. Die hier dargestellten Vorhaben konnten zum Teil verwirklicht werden, andere dieser Vorhaben scheiterten durch die Gegenaktionen der Polizei. Insgesamt war die Aktivität der RAF und ihrer Schwester-Organisationen mit dem Zeitpunkt der Inhaftierung der Führung intensiver und erfolgreicher geworden. Ihre Gefährlichkeit hatte zugenommen, internationale Verbindungen sorgten für weltweite Wirkung. So konnten die geplanten Anschläge gegen den ITT-Konzern überall wie geplant durchgeführt werden: 16. 9.1973 27. 9.1973 28. 9. 1973 7. 10.1973 8. 10. 1973
Zürich 8.10.1973 Rom 6.11. 1973 New York 17. 11. 1973 Mailand 18.11. 1973 Bagneux 10.1.1974 24. 3.1974
Essen Boulogne Berlin Nürnberg Rom Essen (Versuch)
Insgesamt wurden 61 Brand- und Sprengstoffanschläge vom Juli 1972 bis Juli 1975 registriert, die auf das Konto deutscher Terror-Gruppen zurückzuführen waren; hinzu kamen 15 Raubüberfälle, sowie weitere Diebstähle u. ä. Straftaten. Die Aktionen gingen dann ·— nach einer kurzen Pause — ab September 1975 weiter. In diesen Zeitraum fielen auch die Ermordung des früheren Mittäters Schmücker wegen Verrats am 5. 6.1974 und die Ermordung des Präsidenten des Berliner Kammergerichts von Drenkmann am 10. 11. 1974, der offenbar entführt werden sollte. Diese Entführung wurde am 27. 2. 1975
mit besserem Erfolg nachgeholt. Der Berliner CDU-Vorsitzende Peter Lorenz wurde in eins der „Volksgefängnisse" gebracht und gegen 5 bereits verurteilte Terroristen, die in den Jemen geflogen wurden, ausgetauscht. Diese Probeentführung ermutigte am 24. 4. 75 dazu, die Deutsche Botschaft in Stockholm zu überfallen, um die darin befindlichen Botschaftsangehörigen als Geiseln für die gesamte RAFFührung in Gewahrsam zu nehmen. Anders als im Falle Lorenz war hier jedoch der Tatort bekannt, und so wurde das Ersuchen abgelehnt. Die hierüber völlig überraschten Täter versuchten, kämpfend zu entkommen, konnten aber gefaßt werden. Ob die Teilsprengung des Gebäudes zufällig erfolgte oder von ihnen beim Verlassen ausgelöst wurde, blieb ungeklärt. Zwei der Geiseln mußten diesen Anschlag mit ihrem Leben bezahlen. Als Beispiel für die Verunsicherungsstrategie sei hier noch die „Kleine Anschlagsstrategie für Norddeutschland" wiedergegeben, die — angesichts der seit 1975 verstärkten Aktivitäten und Einengung des Mißbrauchs der StPO — in diesem Ausmaße nicht mehr angewandt werden konnte: „1. Schritt: a) Hamburg: Montag vormittag in den Kaufhäusern Karstadt, Kepa, Horten, Kaufhalle, Kaufhof der Hamburger Innenstadt jeweils 2 Brandsätze installieren, es müssen Taschenbrandsätze mit Säurezündern sein, die spätestens nach einer halben Stunde zünden. b) Bremen: In der Nacht von Montag auf Dienstag einen Sprengstoffanschlag auf das spanische Konsulat verüben. 2. Schritt: a) Bremen: Dienstag vormittag in den Kaufhäusern Hertie, Karstadt, Horten der Bremer Innenstadt jeweils zwei Brandanschläge wie unter 1. Schritt verüben. b) Kiel: wie oben. c) Hannover: Nachts Sprengstoff anschlage auf die Dresdner, Deutsche und Vereinsbank verüben. Die kleinen Sprengsätze an die Scheiben kleben. 3. Schritt: a) Hamburg: Mittwoch nacht Brandanschläge auf Filialen des Springerkonzerns verüben. b) Hannover: Nachts Sprengstoffanschlag gegen das Haus der Deutschen Industrie verüben. Dann Ruhe. Nur Nervenkrieg führen. Telefonische Bombendrohungen gegen Springers Hauptquartier, Norddeutscher Rundfunk, Strafjustizgebäude durchgeben.
Gewaltkriminalität 4. Schritt: Hamburg, Hannover, Bremen: In der Nacht von Sonntag auf Montag an den Außenmauern des Hamburger , Bremer Blockland und Hannover Knast Sprengsätze anbringen und explodieren lassen. Dann vollständig zurückziehen. Mindestens zwei Monate lang keine Anschläge verüben und auch kein Nervenkrieg. 5. Schritt: Hamburg, Hannover, Bremen: Brandanschläge auf Bullenwagen verüben, Sprengstoffanschläge auf Bullenwagen. 6. Schritt: a) Hamburg: In der gleichen Woche Sprengstoffanschlag gegen einen Rundfunkübertragungsmast und b) Hannover: Sprengstoffanschläge auf einen Überlandleitungsmaat. Zurückziehen aus der Gegend. Nichts mehr machen, sich in Süddeutschland formieren." Hier sind in geradezu „vorbildlicher" Weise die taktischen Konzepte der Stadt-Guerillas in die Praxis umgesetzt worden. In dem Augenblick, in dem die Beunruhigung am stärksten ist und die Gegenwehr des Staates verstärkt einsetzt, zieht sich der Stadt-Guerilla zurück und weicht aus.
4. Internationale Zusammenarbeit Die Erfolge der R A F und ihrer befreundeten Gruppen, trotz der Inhaftierung der Führungskader den terroristischen Kampf gegen Einrichtungen der B R D zu aktivieren, führten zu Gegenmaßnahmen, bei denen dem Mißbrauch der StPO ein Riegel vorgeschoben und gleichzeitig der Einsatz der Polizei intensiviert, aktiviert und taktisch neu geordnet wurde. Damit erschöpften sich die Möglichkeiten der Terroristen, zumal nach und nach ihre aktiven Anhänger in Haft kamen. Seit dem Sommer 1974 war jedoch eine Konsolidierung terroristischer Maßnahmen auf internationaler Ebene festzustellen. Südamerikanische, arabische, japanische, italienische, französische und türkische Terroristen haben Kontakte untereinander aufgenommen, es bestehen Verbindungen zur deutschen terroristischen Szene. In dieser internationalen Allianz besitzt der Venezolaner „Carlos" (Iljitsch Ramirez Sanchez) eine Führungsfunktion, Leiter der Logistik war der — inzwischen erschossene — Araber Murkabel. Sie unterhielten 8 HdK, 2. Aufl., Ergänzungsband
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Kontakte zu den Lorenz-Entführern und inszenierten die Bombenanschläge gegen drei französische Zeitungen (3./4. 8.1974), die Geiselnahme in der französischen Botschaft in Den Haag, das Attentat auf den Drugstore Saint-Germain des Pres (14. 9. 1974), die Bazooka-Anschläge gegen den Flughafen Orly und die Geiselnahme der arabischen Erdölminister (21.12.1975). Aus den Festnahmen und Ermittlungsberichten dieser Zeit ergibt sich ein nahezu nahtloses Zusammenwirken, um im weltweiten Maßstab Ziele des Terrorismus durchzusetzen, Häftlinge zu befreien (u. a. deshalb, weil man sie für neue Aktionen braucht) oder gar, um politische Ziele anderer Staaten zu durchkreuzen (etwa die Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten durch die Geiselnahme v. 21. 12. 75). Dabei zeigt sich der Führungsanspruch bestimmter Persönlichkeiten (Carlos) oder Gruppen (der Palästinenser und der Japaner). Zugleich internationalisiert sich auch die Zielsetzung, die letztlich auf den „Kampf gegen den Imperialismus" (was immer man auch darunter versteht), letztlich aber auf den gesellschaftlichen Umsturz in allen West-Nationen gerichtet ist — wobei immer drängender die Frage sich erhebt, ob nicht doch Terror um des Terrors willen ausgeübt wird und psychotische Kriminelle lediglich v o r g e b e n , für irgendwelche angeblich politischen Ziele zu kämpfen. Der Kreis der Terroristen — auch deutscher Herkunft — ist inzwischen angereichert worden durch „echte" Kriminelle, durch völlig bindungslose Personen, durch Angehörige auch aus anderen Gesellschaftsschichten: Auch Handwerker, Arbeiter, Angestellte gehören zu den einzelnen Gruppen. Teilweise leben sie „legal", teilweise im Untergrund. Ihre Tätigkeit ist aggressiver geworden, doch fehlt die innere Geschlossenheit. Taktische Fehler führen zur Entdeckung, die Abschottung läßt sich nicht mehr wie in früheren Jahren garantieren. Lediglich ein Kreis von etwa 1600—2000 Sympathisanten, der die Terroristen deckt, schützt und ihnen Hilfe leistet, garantiert eigentlich ihr Leben und Treiben. Taktik und Technik der Terroristen zeigen vielfache Übereinstimmungen mit der Organisation der Mafia in den Vereinigten Staaten. Der Unterschied besteht darin, daß die Mafia eine Form kriminellen Lebens ist, die auf Dauer angelegt wurde — man arrangierte sich also mit den politischen und staatlichen Gewalthabern (Korruption, Infiltration), um so die staatliche Ordnung von innen her auszuhöhlen. Die Terroristen suchen derzeit jedoch die Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt und den Wirtschaftseinrichtungen und nutzen die Möglichkeiten der Illegalität, um gewaltsam gegen diese Einrichtungen vorzugehen. Die vorhandene — oder auch nur vorgegebene — politische Auffassung ist ein Bindemittel, das die Gruppen zusammenhält — Gruppen, die nichts
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anderes als eine neuere Art organisierten Verbrechertums bedeuten. Denn schon zeigt sich der Zug zur Infiltration durch Eintauchen in eine legale Existenz, durch Arbeitsaufnahme unter falschen Namen, zeigen sich Erscheinungen wie plan- und ziellose Aktionen, die nur aufmerksam machen sollen auf die Existenz solcher Gruppen (Sprengmittel in Schließfächern), zeigt sich ein Nachwuchs an Mittätern, der mehr an der Aktion als an der politischen Verwertung der Aktion interessiert ist. So deutet manches auf neue Banden hin, deren bindungslose Mitglieder sich lediglich den Anschein der Unverwundbarkeit und Stärke geben, die im übrigen aber ihren Lebensunterhalt durch Banküberfälle und andere kriminelle Delikte bestreiten und sich auf Dauer hin entsprechend einrichten — vergleichbar den Räuberbanden des 18. Jahrhunderts, die vielfach nationale oder soziale Motive vorschoben, um ihre rein kriminelle Tätigkeit zu beschönigen. Eine Unterscheidung ist schwierig. Denn es gibt hierbei keine zentrale Untergrundorganisation, es gibt vielmehr eine Vielzahl von mehr oder minder militanten Gruppen. Die Mitglieder dieser Gruppen gehören unterschiedlichen Bereichen an. In der Regel gehören zu einer solchen Gruppe — aktive Terroristen, die mit falschen Legitimationspapieren in konspirativen Wohnungen leben, — Terroristen, die als solche bekannt oder gesucht werden, und die mit falschen Papieren in die bürgerliche Welt integriert sind (was ihre Terrortätigkeit zwar behindern kann, aber nicht ausschließt), — Unterstützer oder Sympathisanten, die als nicht erkannte Helfer Mitarbeiter einer Terrorgruppe sind. Zum Teil üben sie auch politische oder verwaltungsmäßige Tätigkeiten aus, die ihnen den Anschein staatsbejahenden Verhaltens geben. Durch diese Gliederung kann terrorpolitischen Aktionen eine größere Bandbreite gegeben werden, die Tarnungsmöglichkeiten sind besser, die Beweisführung ist schwieriger. Ob letztlich eine Gruppe kriminelle Taten begeht, um lediglich ihre Existenz — zumindest der aktiven Terroristen — zu erhalten, oder ob sie im Zuge größerer Planungen mit anderen Gruppen zusammenarbeitet, um bestimmte Ziele zu erreichen, ist daher sehr schwer zu beurteilen.
5. Terror durch Chaoten
Ein anderes taktisches Vorgehen entwickelten jene Gruppen, die als „Chaoten" bezeichnet werden. Sie gingen von der Auffassung aus, daß
die Massen direkt mobilisiert werden müßten. Ihr Arbeitsfeld war daher die Straße, der Betrieb, die Hochschule, ihre Taktik die Massendemonstration. Nach diesem Konzept beteiligten sie sich an allen entsprechenden Demonstrationen, um die gewaltsame Auseinandersetzung mit den Kräften der Polizei herbeizuführen und so die jeweilige Demonstration umzufunktionieren. Besonders beliebt waren neben Streiks, Protestaktionen gegen Fahrpreiserhöhungen öffentlicher Verkehrsmittel und sonstige Bürgerinitiativen, auch Hausbesetzungen oder der Besuch ihnen mißliebig erscheinender Staatsgäste. Hervorzuheben sind etwa die Demonstrationen während der Olympiade am 2. 9.1972 in München, der Rathaussturm in Bonn am 10. 4.1973, die Hausbesetzungen und daraus resultierende Massendemonstrationen in Hamburg und Frankfurt 1973 und 1974. Mehr als 50% dieser Aktionen seit 1971 ereigneten sich in den Städten Berlin, Frankfurt, Hamburg und München, 80—90% aller politisch motivierten Gewalttaten geschahen in Universitätsstädten. Für die Aktionen dieser Art wurde eine Einsatzleitung der Chaoten gebildet, die über Block- und Truppführer ihre Anordnungen weitergab. Das Begehen einzelner Straßen, die Bildung kleiner Gruppen (um die Polizeikräfte zu zersplittern) und der konzentrische Angriff auf die vorgesehenen Ziele wurde genau so vorprogrammiert wie die Ausrüstung der Teilnehmer (Schlagwerkzeuge, Kleidung mit Abpolsterungen), die Sammlung auf Versprengtensammelplätzen und die Bereitstellung von Ärzten, Sanitätern und Anwälten. Das jeweilige Verhalten bei polizeilichem Einschreiten wurde eingeübt, ein Alarmsystem sorgte für Unterrichtung und Alarmierung weiterer unterstützender Kräfte. Man kann von regelrechten Manövern sprechen, in denen bürgerkriegsänliches Verhalten geprobt wurde. Der Kern der Akteure gehört zu den illegalen Vereinigungen der sogenannten „Neuen Linken", die ein buntscheckiges Bild der verschiedenartigsten Vereinigungen bietet.
F. Arabischer Terrorismus Wegen seiner Bedeutung für die Bundesrepublik und Europa soll der arabische Terrorismus noch erläutert werden. 1914 siedelten etwa 80000 Juden in Palästina, die sich auf dem vom Jewish National Found aufgekauften Boden angesiedelt hatten. Ihr Anspruch auf eine Heimstätte dort (1896 von Herzl literarisch begründet) wurde durch die Balfour-Deklaration unterstützt. Gegen diese Siedlungspolitik richteten sich die arabischen Aufstände der Jahre 1919—1921, 1929, 1936— 1939, die sich gegen die britische Besatzungsmacht wie gegen die jüdischen Einwohner richteten und die zu Gegenaktionen führten. Auf Grund des
Gewaltkriminalität UNO-Teilungsplanes für Palästina kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen 700000 palästinensische Araber aus dem israelisch besetzten Lande flohen. Die Gründe für diese Flucht sind strittig. Aus diesen Flüchtlingen (insgesamt später 1350000 Menschen) bestehen die sog. „Palästinenser". Auf der ersten arabischen Gipfelkonferenz von 1964 in Kairo kam es zur Gründung der Palestine Liberation Organization — PLO —, die die Interessen dieser Flüchtlinge wahrnehmen sollte. Die PLO wird von den Führern der El Fatah-Bewegung beherrscht, einer Untergrundorganisation, die — über die nationalen Grenzen hinaus — alle Araber zu einer Befreiung Palästinas aufrufen soll. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 nahm ihre Bedeutung unter ihrem Anführer Yassir Arafat erheblich zu. Sie propagiert den Guerilla-Krieg auf palästinensischem Boden. Im Gegensatz hierzu forderte die Popular Front for the Liberation of Palestine — P F L P — den weltweiten Kampf gegen Israel und alle „imperialistischen Mächte", die Israel in irgendeiner Form unterstützten. Ihr Leiter George Habbash versteht sich als Lenin des Nahen Ostens. Daneben existieren weitere, noch radikalere Gruppen, wie die Popular Democratic Front for the Liberation of Palestine — P D F L P —, die einen Arbeiter- und Bauernrat in einem volksdemokratisch regierten Staat fordert, sowie ausgesprochene TerrorGruppen, wie etwa der vielgenannte „Schwarze September" (so genannt zur Erinnerung an König Hussein von Jordanien, der 1970 den Fedajinaufstand zerschlug, indem er die Operationsbasis der Palästinenser auf seinem Staatsgebiet zerstörte). Es gibt darüber hinaus eine Zahl weiterer Terrorgruppen, die jeweils nur für bestimmte Zwecke und Operationen sich formieren, und dann wieder in ihre Anonymität zurücksinken. Man weiß nur, daß letztlich hinter den Terroranschlägen die PFLP unter ihrem Führer Habbash steht, während Arafat Terroraktionen außerhalb des eigentlichen „Kriegsgebietes" Palästina ablehnt und die Anerkennung als „Regierung" anstrebt. Terroranschläge außerhalb Israels begannen nach der Niederlage der arabischen Staaten im Blitzkrieg des Jahres 1967. Die Planung dieser Terroranschläge lief darauf hinaus, Israel in der gesamten Welt anzugreifen und durch Sprengstoffanschläge und Entführungen regelrecht Krieg zu führen. Von dieser Kriegführung sollten auch alle die Staaten betroffen werden, die Israel unterstützen. Die Anschläge wurden eröffnet durch den Angriff auf ein startendes israelisches Flugzeug in Zürich (18. 2.1969). Am 29. 8. 69 wurde eine US-Maschine auf dem Fluge von Rom nach Damaskus entführt (Anführerin Leila Chalid) und nach Verlassen der Passagiere in die Luft gesprengt. Am 8. 9. 69 wurden in Bonn, Den Haag und Brüssel Handgranatenanschläge gegen Botschaftsgebäude durch Kinder verübt (13—15 8·
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Jahre alt); 1970 sollte eine El-Al-Maschine in München entführt werden; in der Zeit vom 6. bis 9. 9.1970 wurden 5 Verkehrsflugzeuge westlicher Staaten mit insgesamt 751 Menschen gekapert, 4 davon wurden in der jordanischen Wüste gesprengt. Die Terroristen verlangten die Freilassung der bisher inhaftierten Attentäter. Der gleichzeitig in Jordanien ausbrechende Bürgerkrieg führte zwar zu einer Schwächung der Guerillas (Hussein gewann den Kampf), doch durften diese in den von Israel besetzten Gebieten weiter Krieg führen. Als Antwort auf den Sieg des jordanischen Staatsoberhauptes bildete sich der „Schwarze September", der zunächst im November 1971 den jordanischen Ministerpräsidenten in Kairo ermorden ließ. Im Februar 1972 griffen die Anschläge auf die Bundesrepublik Deutschland über, zwei Sprengstoffattentate in Hamburg und ein weiteres in Holland richteten sich gegen Ölraffinerien und eine Israel beliefernde Firma. Kurz darauf wurden durch ein Kommando des Schwarzen September 5 Jordanier in KölnBrühl ermordet. 16 Tage später (22. 2. 72) wurde eine Lufthansa-Maschine in Neu-Delhi entführt und zur Landung in Aden gezwungen. Gegen die Zahlung von 16 Mio DM befreite die LH die 188 Passagiere von der Drohung, mit der Maschine in die Luft gesprengt zu werden. Die Guerillas besetzten sodann am 8. 5. 72 eine belgische Maschine in Lod (Israel), wurden hier jedoch überwältigt und festgesetzt. Als Antwort heuerten die Guerillas drei japanische Terroristen an, die am 30. 5. 72 in Lod landeten und in der Ankunftshalle Handgranaten unter die aus diesem Flugzeug kommenden Passagiere warfen und mit MPi's auf diese das Feuer eröffneten. 26 Menschen wurden getötet, 2 der Terroristen wurden ebenfalls erschossen. Da Israel nun gezeigt hatte, daß es sich auf keinerlei Erpressungen einließ, wurde das Operationsfeld wieder in die westliche Welt gelegt; am 5. 9. 72 ereignete sich der Überfall auf das Israeli-Haus im Olympischen Dorf in München (alle 11 Geiseln wurden ermordet), die 3 festgenommenen Terroristen wurden durch die Kaperung einer LHMaschine am 29.10. 72 über Ankara und die Drohung der Sprengung frei gesetzt. Weitere Morde in Khartum und Nikosia sowie E n t f ü h rungen und Geiselnahmen in Amsterdam, Paris, Dubai und Rom (17.12. 73: 32 Menschen wurden getötet, um in Athen am 5. 8. 73 gefaßte Attentäter — Mörder von 3 Menschen — frei zu bekommen) schlossen sich an. Nach einigen Flugzeugentführungen des folgenden Jahres ebbte diese Welle ab; Aufsehen erregte wieder die Besetzung des Büros der OPEC-Staaten in Wien am 21. 12. 75, bei der 11 Ölminister der arabischen Staaten als Geiseln genommen wurden. Die Entführer — eine international gemischte Gruppe mit arabischen Terroristen unter Führung des Venezolaners „Carlos" — landete mit dem geforderten Flugzeug
Gewaltkriminalität
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in Algerien. Offenbar bezweckten sie die Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel zu stören und andere arabische Länder zu warnen, auf solche Verhandlungen einzugehen. Die Zusammenarbeit der arabischen Terroristen mit denen anderer Staaten setzte bereits 1974 ein. Murkabel, ein führender arabischer Terrorist, inszenierte bereits im August 1974 den Bombenanschlag gegen drei französische Zeitungen in Paris, die Geiselnahme in der französischen Botschaft in Den Haag (die zur Freilassung eines in Frankreich inhaftierten japanischen Terroristen führte, der offenbar für weitere Anschläge benötigt wurde) und die Attentate im Drugstore Saint Germain des Pres und auf dem Flughafen Paris-Orly (9.74 und 1.75). Murkabel selbst wurde im Juni 1975 in Paris festgenommen und bei einer Konfrontation mit „Carlos" erschossen. Dieses Zusammenspiel mit Carlos, der wiederum Beziehungen nach Südamerika, Groß-Britannien, den japanischen und deutschen Terroristen besitzt, deutet auf eine weltweit sich formierende internationale Zusammenarbeit aller terroristischen Organisationen hin — gleichgültig, aus welchen Motiven und mit welchen Zielsetzungen der „Kampf" geführt wird.
G. Brandstiftung
Die Brandstiftung war seit jeher ein Gewaltdelikt par excellence. Das Feuer diente dem Krieg, der Revolution, dem Aufruhr, es unterstützte Mord und Raub, es bedeutete bewußte und gewollte Zerstörung. Der Brand löste Leidenschaften aus, änderte Besitzverhältnisse und förderte soziale Umwälzungen. Daran hat sich seit Jahrtausenden nichts geändert. In allen Fällen erstrebt der Täter die gewaltsame Zerstörung des jeweiligen Objektes. Je nach seiner Ausgangssituation wünscht er, den Eigentümer empfindlich zu treffen oder sieht in der aufsehenerregenden Zerstörung das geeignete Mittel, auf seine Lage oder sein Anliegen hinzuweisen oder die eigenen Spannungen und Komplexe zu lösen. Die Gewaltanwendung kann also zielgerichtet sein und soll eine bestimmte Person treffen, oder sie richtet sich gegen eine x-beliebige Person, weil es dem Täter lediglich auf die gewaltsame Zerstörung ankommt, wobei der Betroffene ihm gleichgültig ist. In allen Fällen wird in Kauf genommen oder sogar gewünscht, daß die Lebensführung des Opfers durch die Tat erheblich beeinträchtigt wird. Die letzten Jahre verzeichnen eine erhebliche Zunahme der vorsätzlichen Brandstiftung. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist folgende Zahlen aus:
Jahr 1960 1962 1964 1966 1968 1970 1974
Bekanntgewordene Straftaten 2132 2347 2909 2835 4019 4966 6009
Häufigkeits- Aufklärungsziffer quote 3,8 4,1 5,0 4,8 6,7 8,1 9,7
56,2% 51,3% 50,5% 47,8% 44,5% 42,9% 38,9%
Leider sind aus den statistischen Unterlagen keinerlei Aufschlüsse darüber zu erhalten, welche Motive bei diesen Vorsatzbrandstiftungen vorlagen. Ein ungefähres Bild läßt sich nur aus den Veröffentlichungen in der Fachpresse und aus einer Analyse und Meldungen gewinnen. Ganz sicher ist dabei, daß die Fälle der Eigenbrandstiftung nicht mehr die Bedeutung besitzen, wie dies in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen der Fall war. Ordnet man die Einzelfälle, so ergibt sich nachstehendes Bild der verschiedenen Motivationen: 1. Brandstiftung aus politischen Gründen 2. Brandstiftung in Schädigungsabsicht 3. Brandstiftung aus Geltungsdrang 4. Brandstiftung aus Brandlust 5. Brandstiftung in Ausnahmesituationen 6. Brandstiftung aus Psychasthenic 7. Brandstiftung aus Gewinnsucht 8. Brandstiftung zur Straftatenverdeckung oder -ermöglichung 9. Brandstiftung durch Geisteskranke Im einzelnen ergeben sich folgende Bilder: 1. Brandstiftung
aus politischen
Gründen
Politische Gruppen und Parteien haben seit jeher die Öffentlichkeit durch Brandstiftungen auf ihre Bestrebungen hinzuweisen versucht oder ihren Wünschen dadurch Nachdruck verschafft. In unserem Zeitalter der Massenmedien lassen sich solche psychischen Zwänge mit potenzierter Wirkung durch Brandlegungen oder Explosionen auslösen. Die Staatsgewalt muß in jedem Falle auf derartige Straftaten reagieren, denn Brandlegungen lassen sich nicht verheimlichen oder vertuschen. Sie schrecken die Bevölkerung auf, man spricht über die Tat und die den Täter bewegenden Anschauungen. Gewöhnlich bekennen sich daher die Brandstifter zu ihrer Tat, sie wollen auf ihre Ideologie aufmerksam machen. In den ersten Jahren nach Beendigung des Weltkrieges 1914/ 1918 kam es vor allem im Freistaat Sachsen (dem
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Gewaltkriminalität ehemaligen Königreich) wiederholt zu politischen Brandstiftungen. Weltweites Aufsehen erregte 1933 die Reichstagsbrandstiftung des politischen Einzelgängers van der Lübbe. Die Synagogenbrände am 9.11.1938 — von den Organisationen der NSDAP angeordnet und durchgeführt — sind wohl ein einmaliges Ereignis, eine von der Staatsführung angeordnete Massenbrandstiftung als Zeichen einer beginnenden Vernichtungsaktion. In der Nachkriegszeit blieben derartige politische Brandstiftungen zunächst aus. Erst bei den politischen Unruhen in Frankreich, Italien und schließlich auch in der BRD in den sechziger Jahren zeigte es sich, daß politische Wirrköpfe, organisierte Anarchisten und moderne Revolutionäre sich dieses bewährten Mittels erinnerten und gern darauf zurückgriffen. Hierbei soll die Brandlegung jedoch sich nicht gegen die Interessen der Bevölkerung richten, sondern soll lediglich auf gewisse Mißstände hinweisen. Sie muß daher die Symbole der staatlichen Macht sowie unbeliebte Einrichtungen treffen. Sie kann sich auch gegen bestimmte Klassen oder Schichten der Gesellschaft wenden, die mit dem Staat identifiziert werden oder die als Unterdrücker angesehen werden. So sind denn seit eh und je in unruhigen Zeiten Einrichtungen der Polizei und Justiz, Gefängnisse und Ministerien, mitunter auch Einzelpersonen, die als Repräsentanten des Staates angesehen werden, Ziele und Objekte der Brandlegungen gewesen. Neuerdings sind als Brandobjekte auch Kaufhäuser in Betracht gekommen. Sie sind als Sinnbilder des Kapitalismus und eines verabscheuungswürdigen Konsumzwanges hingestellt worden. Besonderes Aufsehen haben die Bombenanschläge auf das Polizeipräsidium Augsburg und das Bayerische Landeskriminalamt am 12. 5.1972, auf den PKW eines Bundesrichters (U. R. bei den Ermittlungen gegen die Baader-Meinhof-Bande) am 15. 5.1972 sowie auf das Springer-Hochhaus in Hamburg am 19. 5.1972 erregt. Auch der Anschlag vom 24. 5.1972 auf das Geheimdiensthaus des HQ der Amerikanischen Streitkräfte in Europa ging auf die gleiche Tätergruppe (Rote Armee Fraktion — Baader-Meinhof-Bande) zurück (s. a. Abschnitt „Terrorakte"). Diese rasche Folge von Terrorakten sollte die Bevölkerung verunsichern und ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber der offenbar allmächtigen RAF erwecken. Die Festnahme der Anführer am 1. 6.1972 ging auf die erheblich gesteigerte polizeiliche Aktivität zurück, die zwangsläufig durch die Bombenanschläge intensiviert wurde. Täter solcher Brandlegungen können gutgläubige Idealisten wie politische Wirrköpfe sein, unter ihnen finden sich aber auch machtbesessene oder gestrandete Persönlichkeiten. Unter Revolutionären findet sich auch immer der geschäftstüchtige Postenjäger. Mitläufer aller Art und Schattierung decken die eigentlichen Brand-
stifter und Terroristen, geben ihnen Obdach und Nahrung, beschaffen Bargeld und Ausweise, unterstützen mit falschen Alibis und versuchen, auch auf sonstige Weise den Gang der Ermittlungen zu hemmen. Auch Frauen finden sich regelmäßig — oft in führender Position — in solchen politischen Gruppierungen. 2. Brandstiftung
in
Schädigungsabsicht
Hier geht es ausschließlich um die Schädigung des Opfers, irgendwelche anderen Zwecke werden nicht verfolgt. In der Regel herrscht zwischen dem Täter und seinem Opfer Feindschaft. Die Gründe für diese Feindschaft können sehr unterschiedlicher Art sein, immer aber fühlt sich der Brandstifter seinem Gegner gegenüber unterlegen, das Gefühl der Ohnmacht beherrscht ihn. Um sich zu rächen, um seinem Feinde die Verachtung zu zeigen, bleibt daher nur die Brandstiftung übrig. Haß, Rache, Neid oder Eifersucht können ursächlich für diese Feindschaft sein. Wirtschaftlicher Erfolg, Reichtum, beruflicher Aufstieg, Glück in Ehe oder Familie rufen Neidgefühle hervor, besonders bei denen, die selbst vom Unglück verfolgt wurden oder aus eigener Schuld nicht recht vorankamen. Ist zudem das Verhältnis des vom Schicksal Begünstigten zu seinen Nachbarn kühl oder gespannt, so kommt es auch schon bei geringfügigen Reibereien zur Brandstiftung. Auch bei persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten kann es zu einer Steigerung der Haß- und Rachegefühle kommen, die in der Brandstiftung ihre endgültige Ausprägung erhalten. Das kommt in Landgebieten mit der besonders hohen Brandgefährdung bäuerlicher Anlagen immer wieder vor. Rachebrandstiftungen von landwirtschaftlichen Arbeitskräften sind keine Seltenheit, und auch der enttäuschte Liebhaber oder Ehemann bedient sich mitunter dieses Mittels. Den veränderten Lebensbedingungen entsprechend, zündet allerdings der in der Großstadt wohnende Brandstifter nicht mehr Schuppen oder Scheunen an, sondern zerstört auf diese Weise das Auto seines Gegners, ihn damit des wichtigsten Statussymboles beraubend. Die durchaus begründete Furcht vor der Rachebrandstiftung ist auch der Grund dafür, daß der Landwirt kaum jemals einen Bettler oder Landstreicher abweist, sondern versucht, ihn zufriedenzustellen. Allzu leicht greift der Abgewiesene zum Streichholz. Rachebrandstifter zeigen indes ihre Feindschaft nicht immer offen, sie tarnen sich, heucheln Mitleid und helfen meist auch beim Löschen. In der Maske des Biedermannes oder hilfsbereiten Nachbarn zerstreuen sie so etwa aufkommende Verdachtsmomente. Tatwiederholungen sind die Ausnahme, die Regel ist der Einzelbrand. Der Rache ist damit Genüge getan, der Neid hat sein Opfer gefunden.
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Gewaltkriminalität 3. Brandstiftung
aus
Geltungsdrang
Der Wunsch nach Ansehen und Geltung führt oft zu wunderlichen Ergebnissen. Im ruhigen Gleichmaß verlaufen heute die Tage, Rang und gesellschaftliches Ansehen ergeben sich aus Beruf, Stellung und Einkommen. Der Aufschneider wird von dem Nachbarn bald durchschaut, seine Erzählungen halten der Nachprüfung nicht stand. So bedarf es anderer Mittel, um der Mitwelt zu beweisen, wessen man fähig ist. Eines dieser Mittel ist die Mitgliedschaft bei einem Schützenverein, ein anderes die Zugehörigkeit zu einer freiwilligen Feuerwehr. Hier kann man sich auszeichnen und bei Übungen, vor allem aber bei einem wirklichen Brande sich bewähren. Fehlt es an echten Bränden, so kommt der nach Ehren Geizende auf den Gedanken, nachzuhelfen. Um den Held des Tages zu spielen, um Mut und Einsatzfähigkeit zu beweisen, wird bedenkenlos das Eigentum mehr oder weniger unbekannter Menschen bewußt zerstört. In diesen Fällen ist es oft der Brandstifter selbst, der die von ihm gelegten Brände „entdeckt" oder den Alarm auslöst. Er ist auch beim Löschen der eifrigste. Es kommt ihm einzig darauf an, sich hervorzutun, um für längere Zeit Gesprächsstoff zu bieten. Auch der Wunsch, einmal wieder die Feuerwehruniform anziehen zu dürfen, ist schon Anlaß für Brandstiftungen gewesen. Vor allem in Dörfern und kleinen Gemeinden führen so Eitelkeit und Geltungsdrang zu erheblichen Schäden. In die Kriminalgeschichte eingegangen ist hier vor allem der Bürgermeister von Siebenlehen, der in den Jahren 1896—1906 dreiundvierzig Brände legen ließ, um seine Gemeinde durch Neubauten zu verschönen. Ähnlich dachte vor einigen Jahren ein Jungbauer, der kurz vor der Hochzeit stand. Da ihm die Braut erklärte, in seinen „alten Schuppen" werde sie als Frau nicht einziehen, brannte er den Hof ab. Mit dem Neubau gab sich die Frau zufrieden, die Hochzeit konnte dann stattfinden. Bei dieser Brandstiftungsgruppe muß man jedoch mit Wiederholungsbränden rechnen. Der einmal erworbene Ruhm verleitet dazu, sich immer wieder hervorzutun, um so immer wieder im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen.
4. Brandstiftung
aus
Brandlust
Der Begriff des Pyromanen wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts geprägt. Man schrieb ihm solche Brandstiftungen zu, die offenbar ohne vernünftige Motivation erfolgten oder die dem gesunden Menschenverstand als unnormal erschienen, und wollte sie mit einem besonderen Brandstiftungstrieb erklären. Um diese Zeit sprach man auch von einem Stehltrieb, der Kleptomanie, und meinte, daß es auch bei der Brandstiftung eine solche Manie gäbe. Der Pyromane sollte von
einer krankhaften Sucht besessen sein, Brände zu legen, so daß mangels Zurechnungsfähigkeit ein schuldhaftes Handeln ausgeschlossen war. Die moderne Psychiatrie verneint jedoch solche Brandstiftungstriebe, dennoch findet sich immer noch der Begriff des Pyromanen. Es ist jedoch besser, hier von abartigen Personen zu sprechen, bei denen ein dranghaftes (nicht zwanghaftes) Verlangen vorliegt, Feuer zu legen, um durch die Flammen und das Zerstörungswerk Lustgefühle zu erleben. Unter Umständen sind diese Gefühle auch sexueller Natur. In manchen Fällen onaniert daher der Täter bei der Brandstiftung, in anderen Fällen erfolgt auch ohne solche Handlungen eine sexuelle Entspannung. Das gilt auch für weibliche Brandstifter. Diese Freude am Feuer hängt ohnehin wahrscheinlich mit dem Sexualleben zusammen, die Brandstiftung bildet eine unbewußte Ersatzhandlung. Die machtvoll brennende Flamme soll den Sexus und seine Gewalt symbolisieren. Brandlustige — dieser Ausdruck scheint richtiger zu sein — sind in der Regel Serientäter. Serien von zehn bis dreißig Bränden sind keine Seltenheit. Dabei kommt es nicht nur zu Brandstiftungen an Häusern, Scheunen oder sonstigen größeren Objekten. Auch kleinere Objekte genügen dem Brandlustigen durchaus. So sind auch Keller- und Dachstuhlbrandstiftungen durch Brandlustige bekanntgeworden. Das Treiben solcher Personen fällt immer erst nach einiger Zeit auf. Die ersten Brände mit unklarer Motivation geben zunächst keinen Anlaß, an das Treiben eines Brandlustigen zu denken — vor allem dann nicht, wenn die Objekte geschickt verteilt sind und sich über einen größeren räumlichen Bereich erstrecken. Man sollte daher immer dann, wenn technische Mängel ausscheiden, finanzieller Nutzen nicht in Betracht kommt und auch sonst kein Motiv erkennbar ist, das Treiben eines Brandlustigen in Erwägung ziehen. Mitunter kommen ganz eigenartige, sonderbare Brandlegungen vor. So warf ein solcher Täter in einer Großstadt brennende Lunten in offenstehende Schlafzimmerfenster. Sie wurden naturgemäß rasch bemerkt und gelöscht. Einige Zeit später wurden Autos angezündet, später wurden Mopeds und Krafträder mit luntenartigen Vorrichtungen bestückt, um sie in Brand setzen zu können. Schließlich hörten die Brände auf — kurz darauf aber schlich sich ein zunächst unbekannter Täter nachts in das Schlafzimmer eines Ehepaares ein, um beide Partner mittels eines Spatens gefährlich zu verletzen. Der nun ermittelte Täter kam auch für die Brandstiftungen der hier genannten Art in Betracht. In der Literatur wird erwähnt, daß diese sog. Pyromanen nach ihrer Verurteilung nicht wieder rückfällig werden. Über die Gründe lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Es steht dahin, ob ein „unbewußtes Strafbedürfnis" (Reick) gesättigt ist, ob der Täter wegen der Entdeckung seiner Leidenschaft sich
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Gewaltkriminalität unsicher fühlt oder ob nach einer Serie von Brandlegungen ein bestimmter Lebensabschnitt abgeschlossen wurde, so daß die Verurteilung den Schlußstein setzt. Es kann auch sein, daß die Brandstiftung nur dann innere Entlastung brachte, wenn sie unerkannt erfolgte. Fehlt diese Heimlichkeit künftig, so entfällt auch der Anreiz zur Tat. Zu dieser Kategorie der Brandstiftung aus Brandlust gehören auch die Brände durch Kinder. Sie entstehen als Ausdruck kindlichen Spiels. Aber auch Abenteuerlust, Übermut oder Neugier führen zu solchen Kinderbrandstiftungen. Im Grunde genommen ist ja der Wunsch, sich am Feuer freuen zu können, allen Menschen gemein. Die Flamme bildet den Mittelpunkt des sozialen Lebens, man sammelt sich um den Holzstoß, den Kamin, den Holzkohlengrill. So greift eben das Kind zum Zündholz auch immer dann, wenn der Wunsch nach besonderen gemeinsamen Erlebnissen auftaucht. 5. Brandstiftung in
Ausnahmesituationen
Hier sind Brandstiftungen gemeint, die durch die Pubertät, die Menstruation oder emotionale Stauungen bedingt sind. Insbesondere die Pubertät scheint eine bedeutsame Rolle zu spielen. Gemessen am Anteil an der Gesamtbevölkerung ist die Brandstiftungskriminalität der Jugendlichen doppelt so hoch und die Heranwachsenden viermal so hoch wie die der Erwachsenen. Auch bei den Serienbrandstiftern werden oft heranwachsende oder jungerwachsende Täter festgestellt. Mitunter mag es sich um Brandlust handeln, in der überwiegenden Zahl der Fälle aber liegen Reifungskrisen vor. Der Lüneburger Serienbrandstifter, der wertvolle Bibliotheken und Museen in Brand setzte und einen Schaden von 3 Millionen DM verursachte, konnte weder ein Motiv für seine Taten angeben noch war ein solches erkennbar. Es dürfte sich hier um eine schwere Reifungskrise gehandelt haben, die Brandstiftung diente der Entladung spannungshafter Zustände. Unter den Tätern finden sich Personen mit ausgesprochenen Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstwertkonflikten. Die Neigung zu unüberlegten, kurzschlußartigen Handlungen ist deutlich ausgeprägt, häufig stellt man Kontaktstörungen zum Elternhaus fest, die Täter fühlen sich unverstanden und zurückgesetzt. Bei weiblichen Jugendlichen fanden sich 14- bis 16-jährige Mädchen, die wiederholt zum Streichholz griffen, um ihre Spannungszustände zu entladen. Ähnliche Situationen treten in der Menstruation und im Klimakterium auf. In all diesen Fällen fehlt es indes an besonders auffälligem Verhalten vor der Tat. Wird die Tat entdeckt, so ist ihr damit ein Ende gesetzt, eine Wiederholung findet nicht statt. Die Entdeckung und Ermittlung wird mitunter als regelrechte Befreiung empfunden. Bereitwillig erfolgt das Ge-
ständnis, wiederholt wird auch von Selbstanzeigen berichtet. Brandstiftungen dieser Tätergruppe sind äußerst schwierig zu klären, da die Motive hier ebenfalls nicht ersichtlich sind und äußere Anlässe zur Tat in der Regel fehlen. Hinweise auf die hier erörterte Tätergruppe sind in der Praxis auch kaum zu erhalten. 6. Brandstiftung aus
Psychasthenic
Hierunter sollen alle jene Täter zusammengefaßt werden, bei denen psychisch bedingte Spannungszustände und Krisen sonstiger Art zur Tat hinführen. Die Täter sind in einer Schwächesituation und fühlen sich ohnmächtig. Den Schwierigkeiten des Lebens und ihrer besonderen Situation sind sie nicht gewachsen, sie sind überfordert oder Psychoastheniker. Sie wollen Befreiung und Entspannung von ihrem Leidensdruck und wiederholen ihre Tat öfter, soweit die sie bewegenden Probleme sich nicht inzwischen anderweitig gelöst haben. So kommt es zu Brandlegungen aus Heimweh, Angst, Verzweiflung, aus Liebeskummer oder bei Schwierigkeiten in Schule und Beruf. Ein Gastwirtssohn legte in der väterlichen Gastwirtschaft dreimal Brände an, weil der auf Wunsch des Vaters gewählte Beruf ihm nicht zusagte. Bauernhöfe und Wohnhäuser gingen in Flammen auf, weil die dort beschäftigten Minderjährigen ihre Arbeitsstelle aufgeben wollten oder einfach Heimweh hatten. Ein trunksüchtiger Schlosser, der hierdurch stellungs- und wohnungslos geworden war, zündete dreimal Gebäude an, ein 22jähriges Mädchen legte zweimal Brände, weil ihr Liebhaber — ein wüster Rohling — von der Mutter nicht akzeptiert wurde. Auch hier sind Motive nur schwer erkennbar, werden aber offenbar, wenn die im Lebenskreis des Brandbetroffenen aufhältlichen Personen überprüft werden. Denn diese Schwächebrandstifter agieren ja in der nächsten Nachbarschaft. 7. Brandstiftung aus Gewinnsucht In der kriminalistischen Literatur wird diese Gruppe am ausgiebigsten erörtert. Ihr kommt sicher eine große Bedeutung zu, denn bis auf Zeiten der Inflation lohnt sich eine solche Brandstiftung eigentlich immer. Nur darf nicht verkannt werden, daß die hier erörterten anderen Brandstiftungsgruppen im Laufe der letzten Jahre eine größere Bedeutung erhielten. Bedingt durch die Gesellschaftsstruktur und die vielfältigen Probleme menschlichen Zusammenlebens in der immer enger werdenden Welt nimmt dissoziales Verhalten immer mehr zu und entladen sich die Frustrationen eben auch mehr auf dem Gebiete der Brandstiftung. So kommt der Gewinnbrandstiftung nicht mehr die gleiche Bedeutung zu wie in früheren Jahrzehnten. Eschenbach unterschied zwischen der Pleitebrandstiftung und der Ver-
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Gewaltkriminalität
besserungsbrandstiftung. In beiden Fällen war der Eigentümer auch der Täter. Bei den Pleitebrandstiftern handelte es sich zumeist um Landwirte, selbständige Handwerker, kleine oder mittlere Unternehmer, die sich übernommen oder schlecht gewirtschattet hatten. Die Versicherungssumme sollte ihnen über die Krise hinweghelfen. Der Verbesserungsbrandstifter wollte jedoch seinen alten Betrieb erneuern und ihn der fortgeschrittenen Technik anpassen. Es handelte sich also um aktive, fachlich tüchtige Personen, die mit der Zeit mitgehen und ihren an sich gut geleiteten Betrieb rentabler stellen wollten. So war die ungünstige Lage älterer Gebäude, ein veralterter Maschinenpark oder überhaupt eine ungünstige Lage schon Anlaß zu Verbesserungsbrandstiftungen. Stadtsanierungen und Straßenbauten gaben gleichfalls Anlaß, bisherige Betriebe abzubrennen und an anderer, attraktiverer Stelle neu aufzubauen. Wiederholungsfälle durch den selben Täter kommen nicht vor. Er hat durch den Brand sein Ziel erreicht und will nun weiter in Ruhe wirtschaften. Allerdings eifern ihm die Nachbarn nach. So kann es dahinkommen, daß im selben Dorf alle älteren Höfe warm abgebrochen werden, um sie den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechend wieder aufzubauen. Neben dieser Eigenbrandstiftung kommt auch die Fremdbrandstiftung aus gewinnsüchtigen Motiven vor. Der Eigentümer wirbt den eigentlichen Brandstifter an, so daß er selbst ein einwandfreies Alibi besitzt. So fühlt er sich völlig sicher. Der sog. Lohnbrandstifter dürfte eine Erscheinung außergewöhnlicher Notzeiten sein. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es diesen Tätertyp. So kassierte in Pommern der Lohnbrandstifter Fechtner für jeden Brand 50,— bis 150,— Reichsmark. Er nützte hierbei bestehende bauliche Mängel aus oder zündete die Gehöfte dann an, wenn Gewitter anzogen. Die eigentliche Brandursache ließ sich daher nur schwer klären, zumal er mit seinen Mittätern bemüht war, durch Einreißen von Mauern und Schornsteinen die Brandaufklärung zu verhindern. Serienbrände gab es auch in Zeiten großer Arbeitslosigkeit, wie etwa zu Ende der zwanziger Jahre. Der Wiederaufbau sollte dem heimischen Handwerk helfen. So kam es in der Gegend von Stettin zu einer regelrechten Sammelstelle für Brandstiftungswünsche. Ein Sägewerksbesitzer sorgte für Aufträge, ein Bauunternhemer und ein Ziegeleibesitzer setzten die Brandstifterkolonnen in Stärke von 3—4 Mann ein. Auch hier dürfte es sich um eine Ausnahmeerscheinung handeln. 8. Brandstiftung
zur Straftatenverdeckung -ermöglichung
oder
Das wirksamste Mittel, Straftaten zu verdecken, ist die Brandstiftung nach der Tat. Radikal werden sämtliche Spuren vernichtet, der Täter hat Ge-
wißheit, daß nichts Belastendes übrigbleibt. So erfreut sich diese Brandstiftung bei bestimmten Delikten und Tätern einer gewissen Beliebtheit. Es wurden schon Brände nach Diebstählen gelegt, um evtl. vorhandene Fingerspuren zu beseitigen oder den Diebstahl aus der anvertrauten Ladenkasse zu vertuschen. In der Betrugs- und Unterschlagungskriminalität werden mitunter Geschäftsunterlagen, insbesondere Kassenbücher und Buchführungsunterlagen vernichtet. Handelt hier der Täter noch aus Gründen der Vernunft und sachlichen Überlegung, so beim Mordbrand die anschließende Inbrandsetzung recht häufig auch aus emotionalen Antrieben. In der Vorstellung des Täters gehört das Feuer zum Mord dazu und soll die Tat vollenden und krönen. Man hat dann den Eindruck, als habe der Täter in einem regelrechten Vernichtungs- und Zerstörungsrausch gehandelt. Der Räuber Karl Masch (der von 1856—1864 sein Unwesen trieb) mag hierfür als Beispiel benannt werden. Im Affektzustand handelte 1924 der Prokurist Angerstein, der in Dillenburg innerhalb kürzester Zeit acht Morde an seinen Famüienangehörigen und Bediensteten beging, um anschließend sein Haus in Brand zu setzen. Ähnliche Fälle wurden bereits aus dem vorigen Jahrhundert aus dem bäuerlichen Lebensbereich berichtet. Mord und Brandstiftung dienten dort der radikalen Lösung bestehender Familien- und Lebenskonflikte. Seltener ist die Brandstiftung zur Ermöglichung von Straftaten. Größere Bedeutung kommt ihr offenbar nur beim Vorgehen von Verbrecherbanden zu. So wird aus der Zeit der Hochblüte der deutschen Räuberbanden im 18. und 19. Jahrhundert berichtet, daß zur Erleichterung von Raub und Diebstahl in den angegriffenen Dörfern Brände gelegt wurden, um die Einwohner einzuschüchtern und unbehelligter rauben zu können. In den Jahren 1945—1947 schlossen sich im damaligen besetzten Reichsgebiet zurückgebliebene Zwangsarbeiter zu Banden zusammen und überfielen hier Bauernhöfe und Dörfer, um Vieh zu rauben und Wertgegenstände zu stehlen. Auch hier wurden zunächst Brände gelegt, um die Opfer zu töten und jede Gegenwehr von vornherein auszuschalten. Aus den sechziger Jahren wurden Brandlegungen zum Zwecke der Einschüchterung und Erpressung aus Sizilien berichtet. Die Erpresser versandten anonyme Drohbriefe und ersuchten um Übersendung von Geld. Folgten die Adressaten diesen Wünschen nicht, so wurden sie erschossen oder ihr Anwesen niedergebrannt. Zur Erlangung größerer Versicherungssummen kommt es zunächst zum Morde, dem sich die Brandstiftung anschließt, um die wahre Identität des Opfers zu verschleiern. Erst dann sind die Voraussetzungen zum eigentlichen Erfolg geschaffen. Der Versicherungsgesellschaft wird der Tod des Versicherten angezeigt, um die beträchtliche Ver-
Reform des Strafverfahrensrechts sicherungssumme zu erheben. So nahm der Kaufmann Tetzner in Bayern 1929 einen Wanderburschen in seinem Auto mit, erschlug ihn unterwegs, stattete ihn mit seinen eigenen Kleidungsstücken aus und verbrannte die Leiche einschließlich seines Autos. Die Frau beantragte die Auszahlung der Versicherungssumme von 140000,— RM. Im Jahre darauf kam im ostpreußischen Rastenburg der Möbelkaufmann Saffran auf den gleichen Gedanken. Gemeinsam mit seinem Prokuristen tötete er einen Landstreicher, schaffte ihn in sein Lager, setzte alles in Brand und verschwand nach Berlin. In beiden Fällen gelang jedoch die Aufdeckung der wahren Ereignisse.
9. Brandstiftungen durch Geisteskranke Nach den Erhebungen von Wagner kommt geisteskranken Tätern keine besondere Rolle in der Brandstiftungskriminalität zu. Schwere Fälle der Geisteskrankheit befinden sich in ständiger Verwahrung, leichtere Fälle stehen in der Obhut und Aufsicht der Familie. Die Gelegenheit zur Tat ist somit nur selten gegeben. Unter dem Material Wagners befanden sich überwiegend depressive Kranke, von den 600 geisteskranken Tätern waren nur zwei Epileptiker. 30 Personen waren hochgradig schwachsinnig. Auch Helmer kam zu gleichen Ergebnissen. Er stellt überdies fest, daß auch bei diesem Personenkreis die gleichen Motive vorkommen wie bei Gesunden. Habgier, Haß, Rache, Geltungsdrang kommen hier genauso gut als Tatmotive vor. Insoweit unterscheiden sich diese Taten nicht von denen gesunder Menschen. Als echte Brandstiftungen von Geisteskranken will Helmer nur solche Fälle gelten lassen, bei denen es sich um „geisteskrankhafte Beweggründe" handelt, bei denen also Motive nicht zu ergründen sind, weil sie in der krankhaften Seelenlage ihren Ursprung haben.
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REFORM DES STRAFVERFAHRENSRECHTS A. Der bisherige Verlauf der StrafprozeBreform in der Bundesrepublik Deutschland Die Strafverfahrensreform stand seit Beginn der Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland im Schatten der Reform des materiellen Strafrechts. Dies wird schon sehr deutlich, wenn man nur die bisherige Gesetzgebung im Bereich des formellen und materiellen Strafrechts, sowie den mit 1.1.1975 erreichten Reformzustand betrachtet. Die Entwicklung des Strafprozeßrechts in der Bundesrepublik kann hier nur in ganz groben
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Reform des Strafverfahrensrechts
Umrissen gezeichnet werden (vgl. eingehend Löwe-Rosenberg/Schäfer, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 22. Aufl., Einleitung, Kap. 3, 4). Aufgabe des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. 9.1950 war es, die in den einzelnen Ländern nach 1945 auch auf dem Gebiete des Strafprozeßrechts eingetretene Rechtszersplitterung zu beseitigen und wieder eine einheitlich für das gesamte Bundesgebiet geltende Strafprozeßordnung zu schaffen. Angesichts dieser sehr drängenden Aufgabe bestand auch keine Zeit zu einer inhaltlichen Diskussion über einzelne in den Ländern unterschiedlich gehandhabte Einrichtungen. So war es praktisch nur möglich, zum einheitlichen Rechtszustand vor 1933 zurückzukehren. Dabei lag angesichts der verheerenden Entwicklung im dritten Reich von allem Anfang an das Hauptaugenmerk darauf, die rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrens wieder herzustellen und auszubauen. Diese Zielsetzung hat weitgehend auch die gesamte Entwicklung des Strafverfahrensrechts bis heute bestimmt. Die weitere Entwicklung bis zur kleinen Strafprozeßreform von 1964 verlief in ruhigen Bahnen und erlaubte deshalb die Konsolidierung des Strafverfahrensrechts in der strafrechtlichen Praxis. Neben wenigen, originär das Verfahren betreffenden Eingriffen in die StPO (wie ζ. B. der Wiedereinführung des erweiterten Schöffengerichts) stand die Anpassung an Veränderungen im Bereich des materiellen Rechts im Vordergrund. Erst das Strafprozeßänderungsgesetz vom 19.12. 1964 verwirklichte eine Reihe von für vordringlich gehaltenen prozessualen Reformanliegen. Vorangegangen war ein Beschluß des deutschen Bundestages vom 24. 6.1964, worin einstimmig eine Gesamtreform des Strafverfahrens befürwortet wurde. Jedoch gelangte dieser Beschluß bis heute nicht zur Ausführung, wobei auch immer deutlicher wurde, daß an keine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts in absehbarer Zeit zu denken wäre; vielmehr ging die Entwicklung immer deutlicher und unausweichlicher in die Richtung von Teilreformen im Wege der Novellengesetzgebung. Auf dem zum 1. 1.1975 erreichten Stand der Strafrechtsreform ist heute vollends deutlich, daß eine Reform des Strafverfahrensrechts nur in Teilschritten (wie auch im übrigen beim Besonderen Teil des Strafrechts) denkbar bleibt. Die kleine Strafprozeßreform von 1964 diente insbesondere einer Verbesserung der Rechtsstellung des Beschuldigten. So wurde etwa die Untersuchungshaft in ihrem Anwendungsbereich erheblich eingeschränkt; gleichzeitig wurden die Voraussetzungen für ihre Verhängung verschärft, insbesondere der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit voll angewendet. Weiter
sollte die Rechtsstellung des Beschuldigten durch die Einführung des Schlußgehörs und der Schlußanhörung verbessert werden. Auch wurde der gerichtliche Eröffnungsbeschluß erheblich verändert. Seither lautet der Eröffnungsbeschluß nicht mehr dahin, daß der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Tat hinreichend verdächtig erscheint; vielmehr läßt das Gericht die Anklage der Staatsanwaltschaft nur mehr zu und bestimmt einen Termin zur Hauptverhandlung. Auch wird der Anklagesatz in der Hauptverhandlung nicht mehr vom Vorsitzenden des Gerichts, sondern vom Staatsanwalt selbst verlesen. Da aber die Zulassung der Anklage weiterhin hinreichenden Tatverdacht voraussetzt (§ 203 StPO), ist die Reform in der Sache letztlich gering, wenn auch einzuräumen ist, daß der Eindruck der Identifizierung des Gerichts mit der Anklage für den Angeklagten erheblich abgeschwächt wurde. Weitere Veränderungen der kleinen Strafprozeßreform betrafen die Stellung des Verteidigers (insbesondere das Recht auf Akteneinsicht und den Verkehr mit dem inhaftierten Beschuldigten), eine Ausweitung des Opportunitätsprinzips (§ 154 a StPO) und Verbesserungen im Wiederaufnahmeverfahren, beim Rechtsmittelverfahren und bei der Richterablehnung. Aufschlußreich ist, daß sich viele der in der kleinen Strafprozeßreform geschaffenen Neuerungen als recht kurzlebig erwiesen haben. So mußte die sehr weitgehende Liberalisierung des Rechts der Untersuchungshaft ab Beginn der siebziger Jahre in einzelnen Schritten zurückgenommen werden, so zunächst durch das Gesetz vom 22. 6. 1972 durch eine Ausweitung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr (der sich kaum mit den Zielen des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens vereinbaren läßt) und durch weitere Eingriffe in das Recht der Untersuchungshaft in allerjüngster Zeit. Die 1964 ohne ausreichende — insbesondere auch empirische — Vorarbeiten geschaffenen Institute des Schlußgehörs und der Schlußanhörung wurden in der Praxis seither nie heimisch; sie wurden durch das erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrens ersatzlos beseitigt. Die weitere Entwicklung nach der kleinen Strafprozeßreform verlief bis 1973 wieder in relativ ruhigen Bahnen (vgl. dazu Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, 13. Aufl. 1975, S. 352). Veränderungen im Strafverfahrensrecht brachten in diesem Zeitraum insbesondere das 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. 6.1968, das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24. 5.1968 und das Gesetz zur allgemeinen Einführung eines 2. Rechtszugs in Staatsschutzsachen vom 8. 9.1969. Außerhalb der StPO, aber mit erheblicher Auswirkung auf das Strafverfahrensrecht im weiteren Sinne sind das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8. 3.1971 und das Gesetz über das Zentral-
Reform des Strafverfahrensrechts register und das Erziehungsregister (Bundeszentralregistergesetz) vom 18. 3.1971. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Strafprozeßreform wurde die im Jahre 1974 zu einem gewissen Abschluß gebrachte Strafrechtsreform. Mit dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. 3 . 1 9 7 4 wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der neue Allgemeine Teil in der Fassung des 2. Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 4. 7 . 1 9 6 9 zusammen mit zahlreichen im Einführungsgesetz vorgenommenen Veränderungen im Besonderen Teil zum 1 . 1 . 1 9 7 5 in Kraft treten konnte. Dieses weitgehend umgestaltete Strafrecht (insbesondere im Bereich der Rechtsfolgen der Tat) machte zunächst eine Anpassung zahlreicher strafprozessualer Vorschriften an das veränderte materielle Recht notwendig; diese Anpassung ist im Einführungsgesetz erfolgt. Jedoch beschränkte sich das Einfühmngsgesetz im strafprozessualen Bereich keinesfalls auf eine Anpassung, sondern bewirkte auch zahlreiche weitere Veränderungen der StPO. So wurde insbesondere in § 1 5 3 a StPO n. F. ein neuartiges Mittel zur Ahndung bestimmter Fälle der Bagatellkriminalität geschaffen. Eine von vornherein eigenständig prozessuale Zielsetzung verfolgte das erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG) vom 9 . 1 2 . 1974 mit einem Ergänzungsgesetz vom 2 0 . 1 2 . 1974. Die Zielsetzung dieses Gesetzes ist die Beschleunigung der Strafverfahren. Die überlange Dauer der Strafverfahren ist einer der heute am stärksten beklagten Mängel des gesamten Strafverfahrensrechts mit zahlreichen unerfreulichen Auswirkungen, die von dem durch den längeren Zeitablauf nach der Tatbegehung oft getrübten Wert der Beweisaufnahme im einzelnen Verfahren bis zum negativen Eindruck in der Bevölkerung über das rasche Funktionieren der Strafrechtspflege insgesamt reichen. Ist dieses Reformanliegen völlig unbestreitbar, so ist es doch gerade hier zweifelhaft, ob sich der vom Gesetzgeber erwünschte Effekt durch Einzelkorrekturen überhaupt erreichen läßt. Die Eingriffe des Gesetzgebers in das bisherige Strafverfahrensrecht waren dabei durchaus gravierend. So wurde insbesondere die gerichtliche Voruntersuchung völlig abgeschafft, desgleichen die Schlußanhörung und das Schlußgehör, die sich beide nicht bewährt hatten. Eine Straffung vor allem des Ermittlungsverfahrens verspricht sich der Gesetzgeber insbesondere dadurch, daß er die Ermittlungstätigkeit ganz bei der Staatsanwaltschaft konzentriert. Auch Zeugen und Sachverständige sind nun verpflichtet worden, Ladungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten und vor dieser auszusagen; nur das Recht der Vereidigung ist dem Richter auch insoweit vorbehalten geblieben. Über die Effizienz dieser gesetzgeberischen Maßnahmen läßt sich derzeit noch nichts sagen; auf die Verlagerung von
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Befugnissen auf die Staatsanwaltschaft ist später nochmals in anderem Zusammenhang zurückzukommen (u. C 2). Weitere Regelungen des 1. Strafverfahrensreformgesetzes lassen sich nicht mehr einheitlich auf den Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung beschränken, sondern greifen allgemein für erforderlich gehaltene Reformpunkte auf. Zu nennen sind hier etwa die Verlängerung und Effektuierung der Frist des § 275 StPO für die Urteilsabsetzung, Verlängerungsmöglichkeiten für die Verfahrensunterbrechung im Rahmen des § 229 StPO, der endgültige Abschied vom Schwurgericht, das nunmehr lediglich als Bezeichnung für eine bestimmte große Strafkammer weiterlebt, die sich in der Besetzung und im Tagungsrhythmus nicht von sonstigen Strafkammern unterscheidet. Weiterhin wurde im Gesetz zur Ergänzung des 1. S t V R G die Verteidigerausschließung für bestimmte Fälle gesetzlich geregelt und insoweit die längst fällige Konsequenz aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Bd. 34, 293) gezogen. Die in den §§ 138 a ff. StPO enthaltene Neuregelung hat dabei allerdings schon in kürzester Zeit zu erheblichen Unsicherheiten bei der Anwendung geführt. Auch die Regelung (§ 146 StPO), wonach es keinen gemeinschaftlichen Verteidiger für mehrere Beschuldigte mehr gibt, ist für viele Fälle der Alltagskriminalität wenig sinnvoll, da hier keineswegs immer ein Interessenkonflikt bei der Verteidigung mehrerer Angeklagter durch einen Verteidiger entstehen muß. Betrachtet man die —· hier nur in ganz groben Zügen gezeichnete — Entwicklung des Strafverfahrensrechts in der Bundesrepublik und läßt man dabei die Änderungen außer Betracht, die lediglich der Anpassung von Veränderungen des Strafrechts gedient haben, so drängt sich als Bilanz die Feststellung auf, daß die eigentliche Strafprozeßreform noch nicht stattgefunden hat. Die originären Eingriffe in das Strafverfahrensrecht tragen über weite Strecken den Charakter der aus der drängenden Notwendigkeit des Tages ohne größere Perspektive geschaffenen Augenblicksregelung. Dafür sind ebenso die zahlreichen Rücknahmen von Neuregelungen aus der kleinen Strafprozeßreform als auch insbesondere das völlig unausgereifte Ergänzungsgesetz vom 20. 12. 1974 symptomatisch. Die bisherige Bilanz der Strafprozeßreform ist jedenfalls höchst ernüchternd und weist das Strafprozeßrecht doch insgesamt gesehen als Stiefkind der gesamten bisherigen Strafrechtsreform aus. Dieser aufs Ganze gesehen enttäuschende Verlauf der Reformarbeiten ist heute Faktum, und eine Diskussion über eine möglicherweise falsche Prioritätensetzung hat letztlich nur mehr historisches Interesse. Auf die gesamte Strafverfolgungstätigkeit des Staates bezogen lassen sich materielles und formelles Strafrecht nur als zusammengehörige Wir-
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Reform des Strafverfahrensrechts
kungseinheit erfassen. Der schwächere Teil bestimmt dabei die Gesamtleistungsfähigkeit der Verbrechensbekämpfung. Damit muß der heute deutlich feststellbare Rückstand der Strafverfahrensrechtsreform gegenüber der Strafrechtsreform zwangsläufig zu einer Verlagerung der Reformbemühungen führen: in der weiteren Rechtsentwicklung wird die Reform des Strafverfahrens damit zwangsläufig im Vordergrund stehen. Auch Österreich befindet sich insoweit in derselben Situation. Zwar ist hier die Strafrechtsreform noch weiter vorangeschritten, weil zum 1 . 1 . 1 9 7 5 ein insgesamt erneuertes Strafgesetzbuch (also im Gegensatz zur B R D auch mit einem völlig erneuerten Besonderen Teil) in Kraft getreten ist, die eigenständige Strafprozeßreform steht aber ebenso aus wie in der B R D . Auch hier hat der Gesetzgeber mit dem Strafprozeßanpassungsgesetz vom 11. 7.1974 nur die notwendige technische Angleichung der Strafprozeßordnung an das veränderte materielle Recht geschaffen, aber bisher keine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts in Angriff genommen. Auch hier läßt sich deshalb eine Verlagerung der Reformbemühungen von der verwirklichten Strafrechtsreform, zur ausstehenden Strafprozeßreform erwarten. Auch die Hauptreformanliegen decken sich in beiden Ländern weitgehend (vgl. u. C), wenn auch besonders in bezug auf das Vorverfahren tiefergreifende Unterschiede in der Einschätzung der Stellung der Staatsanwaltschaft und der gerichtlichen Voruntersuchung bestehen, wobei sich aber in allerjüngster Zeit in Österreich die Stimmen für eine Abschaffung oder mindestens Einschränkung der letzteren mehren (vgl. Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts, 1975, 103).
B. Die Strafprozefireform im kriminalpolitischen und kriminologischen Gesamtzusammenhang 1. Straftheorie und Strafrechtsgestaltung als Reformbasis Wenn es im folgenden um eine Standortbestimmung der Strafprozeßreform im Rahmen der gesamten Kriminalpolitik und um das Aufzeigen der jeder Prozeßreform vorgegebenen Bezugspunkte geht, so steht an erster Stelle die Abhängigkeit des Strafverfahrensrechts von der Ausgestaltung des materiellen Strafrechts. Das Strafverfahren dient ja dazu, die in ihren einzelnen Voraussetzungen im Strafrecht festgelegte Straftat in einem geordneten gerichtlichen Verfahren festzustellen und die im materiellen Recht für zulässig erklärten Rechtsfolgen zu verhängen. Insoweit ist die Aufgabe des Strafverfahrens notwendigerweise auf die Realisierung des materiellen Rechts bezogen. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Ab-
hängigkeit des Strafverfahrensrechts von der Ausgestaltung des materiellen Rechts. Diese Abhängigkeit darf man aber von vornherein nicht zu einseitig nur als eine solche des Verfahrensrechts vom materiellen Recht sehen; vielmehr handelt es sich auch hier um das zweiseitige Zusammenwirken dieser Rechtsbereiche. Denn auch umgekehrt gilt: das materielle Recht darf nur solche Regelungen treffen, die im Verfahrensrecht mit den dort gegebenen Mitteln durchsetzbar sind. Dabei ist im materiellen Recht eine Tendenz zur Komplizierung der getroffenen Regelungen erkennbar, die auch ihre Ausstrahlung auf das formelle Recht hat und weiter zunehmend haben wird. J e mehr die Merkmale einzelner Straftatbestände komplexe normative Wertungsvorgänge oder die Hinzuziehung von Sachverständigen zu ihrer Ausfüllung notwendig machen, desto schwieriger wird auch die Anwendung solcher Tatbestände im gerichtlichen Verfahren. Die Abhängigkeit des Strafverfahrensrechts vom materiellen Recht beginnt bereits bei der Bestimmung der Aufgabe des Strafrechts. Die Straftheorie (und diese ist ja wiederum Teil der allgemeinen Staatsauffassung und der Bestimmung der Staatsaufgaben) stellt bereits die Weichen auch für das Strafverfahrensrecht. So erfordert etwa ein Strafrechtssystem, das auf dem Prinzip der persönlichen Verantwortlichkeit jedes mündigen Staatsbürgers aufbaut und die Strafzone in genau umrissenen Straftatbeständen festlegt, ein völlig anderes Prozeßrechtssystem als es etwa ein reines Maßnahmenrecht i. S. der sozialen Verteidigung Grammaticas verlangen würde. Damit ist zunächst zu fragen, welche Basis für die Strafprozeßreform wir insoweit in dem ab 1 . 1 . 1975 geltenden Strafrecht vorfinden. Ergebnis der Strafrechtsreform ist unzweifelhaft ein Tat-Täterstrafrecht, bei dem wir zwar im Sanktionensystem eine eindeutige Verlagerung auf die individuelle Anpassung der eingesetzten Sanktionen an den einzelnen Straftäter finden, bei dem aber gleichzeitig — und dies ist in rechtsstaatlicher Hinsicht auch ganz unverzichtbar — eine konsequente Beibehaltung des Straftatsystems vorliegt. Dieses im materiellen Recht vorgezeichnete Tat-Tätersystem ist die Grundlage für alle Reformbemühungen auch im Strafverfahrensrecht. Dies bedeutet, daß das Strafverfahren sowohl zur rechtsstaatlich einwandfreien Tatfeststellung geeignet sein muß, als auch eine täterorientierte Zumessung der Sanktionen zu ermöglichen hat. Betrachten wir das geltende Strafverfahrensrecht unter diesem Gesichtspunkt, so ist unverkennbar, daß das gegenwärtige Strafverfahrensrecht eindeutig besser auf die Tatfeststellung als auf die täterorientierte Sanktionenbestimmung zugeschnitten ist. Daß dem so sein muß, ist auch nach der historischen Entwicklung einleuchtend. Im Grunde ist das heute praktizierte Modell des
Reform des Strafverfahrensrechts Strafprozesses noch voll der im 19. Jhdt. verwirklichte Typus eines rechtsstaatlich-liberalen Prozesses mit Einbau demokratischer Garantien (etwa bei der Öffentlichkeit und der Laienrichterbeteiligung). Das Verfahren ist darauf zugeschnitten, in rechtsstaatlich einwandfreier Weise die begangene Straftat festzustellen, wobei der Angeklagte nicht mehr als Untersuchungsobjekt, sondern als Prozeßsubjekt mit starken Verteidigungsmöglichkeiten betrachtet wird. Die erst später einsetzende Revolutionierung des Sanktionensystems mit der Entwicklung eines Maßnahmensystems, der Betonung der Täterkomponente und der Hervorhebung der individualpräventiven Zielsetzung bei allen im Strafverfahren eingesetzten Sanktionen war in diesem Prozeßmodell ursprünglich nicht mitbedacht und konnte deshalb bis heute auch nicht systemgerecht voll in dieses Prozeßmodell integriert werden. Wichtige Verfahrensgrundsätze, die für die Tatermittlung durchaus sinnvoll sind (wie ζ. B. Mündlichkeit oder Laienrichterbeteiligung), sind für die Sanktionenbemessung durchaus von zweifelhaftem Wert. Nicht zuletzt hieraus resultiert auch die Forderung nach einer Zweiteilung der Hauptverhandlung (vgl. dazu näher u. C 3). Vor allem in den letzten Jahren hat sich im Zuge einer sich stürmisch entwickelnden Strafzumessungswissenschaft zunehmend das Prinzip der Gleichrangigkeit von Straffrage und Schuldfrage herausentwickelt. Gerade viele Forderungen der Strafzumessungslehre drängen nach prozessualen Konsequenzen, da sich die heute durchgängig im Gesetz geforderte täterorientierte Bemessung der Rechtsfolgen der Tat nur schwer im heutigen Strafprozeßrecht ausreichend verwirklichen läßt. Dies macht ein Blick auf die Strafziele deutlich. Bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§61 ff. StGB) ergibt sich die ausschließlich individualpräventive Ausrichtung dieser Sanktionen schon aus der Grundüberlegung, daß es hier um die Bannung der sozialen Gefährlichkeit des Täters geht. Wenn auch aus der gesetzlichen Regelung der §§46ff. StGB eine ähnlich klare Aussage dem Gesetz selbst nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist, so ist doch auch hier die starke Akzentverlagerung auf die Individualprävention unverkennbar (vgl. § 46 Abs. 1 S. 1, § 56 Abs. 1 und § 47 Abs. 1 StGB). Der Schuld ist demgegenüber eine Begrenzungsfunktion und der Generalprävention (in der Einengung der Verteidigung der Rechtsordnung) eine Korrekturfunktion zugewiesen. Diese im materiellen Recht eingetretene Verlagerung auf die Individualprävention zeichnet die Weiterentwicklung des Strafverfahrensrechts vor. Mit den heutigen prozessualen Möglichkeiten ist aber die Erfassung der Täterpersönlichkeit, die Voraussetzung jedes richtigen Gebrauchs der Individualprävention ist, nur ungenügend möglich; auch die hier häufig gebotene
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Zusammenarbeit zwischen Sachverständigen und Gericht ist im heutigen Verfahrensrecht keineswegs optimal gewährleistet. Nach der Strafrechtsreform muß man der Resozialisierungsidee einen bevorzugten Stellenwert sowohl im Bereich der Vollzugs- als auch der Strafziele einräumen. Dann ist aber unabweisliche Konsequenz, daß schon die Gestaltung des Strafverfahrens selbst im Dienste dieses Zieles stehen muß. Das heutige Strafprozeßmodell steht seiner Entstehung und seiner Weiterentwicklung nach ganz im Zeichen liberaler rechtsstaatlicher Ausrichtung. Durch eine lange Entwicklung ist seither die rechtsstaatliche Komponente unverzichtbarer Bestandteil der Strafprozeßgestaltung geworden. An diesem Erbe ist uneingeschränkt festzuhalten; seine Weiterentwicklung ist auch heute noch aktuelle Aufgabe. Aber dem heutigen Strafprozeßmodell fehlt noch stark die soziale Komponente. Das schon auf Verfassungsebene bestehende Spannungsverhältnis zwischen rechtsstaatlich liberalem und sozialem Gedankengut strahlt naturgemäß ins Strafrecht und ins Strafverfahrensrecht aus. Hier ist ein entscheidender Nachholbedarf vorhanden und hier müssen auch erst klare, in Gesetzesform überführbare Vorstellungen herausgearbeitet werden. Das Sozialstaatsprinzip stärker als bisher zur Geltung zu bringen, wird deshalb die Hauptaufgabe der zukünftigen Strafprozeßentwicklung sein. Die Entwicklungslinien sind auch insoweit schon sichtbar, wenn auch nicht im einzelnen durchgezeichnet. Das materielle Strafrecht hat sich von der — mit dem liberal-rechtsstaatlichen Gedankengut durchaus vereinbaren — Repression und insbesondere vom reinen Tatvergeltungsdenken abgewendet und dem Gesichtspunkt der Sozialisation des straffällig gewordenen Staatsbürgers zugewendet. Diese heute noch nicht abgeschlossene, aber klar vorgegebene Entwicklung wurde aus zahlreichen Quellen gespeist: sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen und einer veränderten Sicht der Staatsfunktionen ebenso wie von zahlreichen empirisch gewonnenen Einsichten der Kriminologie in die sozialen und individuellen Entstehungszusammenhänge des Verbrechens. Diese „Sozialisationsaufgabe des Strafverfahrens" (Kern-Roxin aaO. S. 11) wird wahrscheinlich zur wichtigsten Weichenstellung der zukünftigen Entwicklung des Strafverfahrensrechts werden. 2. Die
Bedeutung der Rechtsvergleichung Strafprozeßentwicklung
für
die
Gerade im Bereich des Strafverfahrens hatte die Rechtsvergleichung stets eine große Rolle gespielt (vgl. eingehend Jescheck, Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform, in: Probleme der Strafprozeßreform, 1975, S. 7 ff.). Betrachtet man die historische Entwicklung des
126
Reform des Strafverfahrensrechts
Strafverfahrensrechts im deutschen Sprachraum, so scheint es so, daß die eigenständigen nationalen Beiträge zur Entwicklung des Strafprozesses eher gering waren und die entscheidenden Impulse aus anderen Rechtsordnungen kamen, so aus dem mittelalterlichen italienischen Strafprozeß und später aus dem französischen und englischen Strafprozeß. Auch heute steht bei der Diskussion um die Strafprozeßreform der Blick auf Verfahrensgestaltungen im Ausland im Vordergrund des Interesses, vor allem nach dem anglo-amerikanischen Vorbild (vgl. dazu eingehend Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971; näher dazu u. C 3). Diese Bedeutung der Rechtsvergleichung gerade für das Strafverfahren hängt sicher mit dem allgemeinen Aufschwung zusammen, den gerade die Strafrechtsvergleichung nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland erlebte. Die Rechtsvergleichung kann aber immer nur dann fruchtbare Impulse für die eigene Rechtsentwicklung geben, wenn man dabei exakt die unterschiedlichen rechtlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen der jeweiligen nationalen Rechtsordnung mit in Rechnung stellt. Das Strafverfahrensrecht wird oft als angewandtes Verfassungsrecht bezeichnet; gemeint ist damit, daß sich die Grundlinien des Strafverfahrensrechts schon im jeweiligen Verfassungsrecht vorgezeichnet finden, schon weil für jede Rechtsordnung die Gestaltung des Strafprozeßrechts die Probe aufs Exempel dafür ist, wie das Verhältnis von Staat und Individuum grundsätzlich gesehen und verfassungsrechtlich ausgestaltet wird. Schon von dieser Grundtatsache her sind der Übernahme von im Ausland bewährten Gestaltungsformen in die eigene Rechtsordnung Grenzen gesetzt. Hinzu kommt, daß man eine rechtliche Regelung nicht von ihrem sozio-kulturellen Hintergrund isolieren kann, wenn man ihre wahre Leistungsfähigkeit beurteilen will. Dies machte etwa die Behandlung des Themas „Die Entschädigung des durch eine Straftat Verletzten" auf dem letzten internationalen Strafrechtskongreß in Budapest (1974) deutlich: während sich über die Anerkennung der Entschädigung als öffentliche Aufgabe bei bestimmten Straftatbeständen relativ leicht eine Einigkeit erzielen ließ, war die Beurteilung des Adhäsionsverfahrens sehr kontrovers. In den Ländern, in denen es bestand, wurde es höchst unterschiedlich beurteilt; die Beurteilung hing dabei weit weniger von der rechtlichen Ausgestaltung des Adhäsionsverfahrens selbst, als vielmehr von dem Zusammenspiel mit der gesamten Rechtsordnung, insbesondere der Ausgestaltung des Zivilverfahrens ab. Wir finden auch insoweit die aus der Kriminologie wohlbekannte Erfahrung bestätigt, daß sich Forschungsergebnisse nur mit großem Vorbehalt und bei Berücksichtigung aller unterschiedlichen
Faktoren der jeweiligen Rechts- und Sozialordnung vergleichen und übertragen lassen. Angesichts dieser Grenzen derrechtsvergleichenden Betrachtung im Bereich des Strafverfahrensrechts wird deutlich, daß es heute nicht um die Übernahme völlig vom deutschen Strafverfahren abweichender Prozeßmodelle gehen kann, sondern immer nur darum, Vergleichsmaterial für mögliche Einzelgestaltungen im Gesamtablauf des Strafverfahrens zu gewinnen. Insoweit wird sich auch zeigen, daß für die u. C zu behandelnden Reformschwerpunkte internationales Vergleichsmaterial besonders notwendig ist.
3. Die Notwendigkeit
empirischen
Wissens
Schon beim Gesichtspunkt der Rechtsvergleichung hat sich gezeigt, daß sie sinnvollerweise nicht ohne Kenntnis der tatsächlichen Geschehensabläufe und Gegebenheiten in der zum Vergleich herangezogenen Rechtsordnung betrieben werden kann. Auch bei der Beurteilung des Funktionierens der eigenen Rechtseinrichtungen ist es völlig unverzichtbar, ausreichendes empirisches Wissen hierüber zu besitzen. Im Gesamtverlauf der bisherigen Strafrechtsreform ist immer wieder schmerzlich deutlich geworden, wie sehr an vielen kriminalpolitischen Brennpunkten noch ausreichend abgesichertes empirisches Wissen fehlt. Zwar folgt aus den empirisch gewonnenen Einsichten nie automatisch die kriminalpolitische Entscheidung, jedoch ist andererseits keine fundierte kriminalpolitische Entscheidung denkbar, die nicht auf der ausreichenden Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge und Gegebenheiten aufbauen kann. Nur ein ausreichendes empirisches Wissen ermöglicht eine solide kriminalpolitische Entscheidung. Dies gilt selbstverständlich auch für den Gesamtkomplex der Strafprozeßreform. Erst in jüngster Zeit ist von zahlreichen empirischen Einzeldisziplinen Material über die tatsächlichen Geschehensabläufe und Zusammenhänge im Strafverfahren zusammengetragen worden. Hier können dafür nur einige Beispiele genannt werden. Insbesondere soziologischen Untersuchungen verdanken wir einen etwas näheren Einblick in die im Laufe des Strafverfahrens stattfindenden Selektionsvorgänge, die zu einer Überdenkung des Legalitätsprinzips führen müssen (vgl. Zipf in Peters-Festschrift 1974, 487). Zwar ist das Dunkelfeld von einer Aufhellung noch weit entfernt, aber zahlreiche kriminologische Untersuchungen (Opferoder Täterbefragungen) haben uns doch so viel Einblick gegeben, daß wir die (in der Strafverfolgung zu bewältigende) Kriminalität nicht als eine feststehende Größe, sondern als eine weitgehend von der Ausgestaltung der Verfolgungs maßnahmen abhängige Variable anzusehen beginnen, woraus sich wiederum wichtige Konsequenzen für
Reform des Strafverfahrensrechts das Legalitätsprinzip, aber auch für die gesamte Ausgestaltung des Vorverfahrens ergeben. Weitere soziologische Untersuchungen vermitteln uns einen Einblick in das Rollenverhalten der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren, woraus sich wichtige Schlußfolgerungen für die Ausgestaltung der Hauptverhandlung ergeben können. Individual- und sozialpsychologische Untersuchungen geben uns wenigstens partielle Einblicke in das Verhalten des Richters im Prozeß der Überzeugungsbildung, sowie bei der Festsetzung der Rechtsfolgen der Tat; andere Untersuchungen dieser Art lassen uns den Beweiswert einzelner Beweismittel genauer erkennen, so etwa den Einsatz des Eides als Mittel der Wahrheitsfindung oder überhaupt die aussagepsychologische Beurteilung von Zeugenaussagen. Leider fehlen noch weitgehend systematisch angelegte Untersuchungen über das Funktionieren einzelner Rechtsinstitute, so ζ. B. über das Einstellungsverhalten der einzelnen Staatsanwaltschaften oder über positive und negative Funktionen der Berufung. Vorbildlich ist hier aber die eindrucksvolle Untersuchung von Peters über die „Fehlerquellen im Strafprozeß" (Bd. 11970; Bd. II 1972; Bd. I I I 1974). Die Auswertung der vorliegenden empirischen Untersuchungen im Rahmen der Strafprozeßreform ist derzeit noch stark erschwert. Die zumeist nur kleinere Ausschnitte behandelnden Untersuchungen lassen nur schwer ein Gesamtbild über das tatsächliche Funktionieren eines bestimmten prozessualen Instituts zu; die oft fehlende Verallgemeinerungsfähigkeit von Forschungsergebnissen ist in kriminalpolitischer Hinsicht ebenso ein Problem wie die Schwierigkeit, einzelne Forschungsergebnisse miteinander in Einklang zu bringen. Schon deshalb ist es sehr zu begrüßen, daß in der Strafprozeßlehre allmählich eine Disziplin heranwächst, die sich um eine „systematische Erforschung der Prozeßtatsachen" (KernRoxin aaO. 7) bemüht; besonders Peters (-»· Lit. Verz.) hat sich um die Entwicklung dieser Disziplin verdient gemacht und damit der gesamten Strafprozeßreform wesentliche Impulse zur Einbeziehung allen empirisch verfügbaren Wissens gegeben. 4. Die Effektivität der Strafverfolgung Die Strafverfolgungstätigkeit einschließlich der gerichtlichen Aburteilung muß sich ebenso wie jede andere staatliche Tätigkeit auch einer Effektivitätskontrolle unterziehen lassen. Dies erscheint um so notwendiger, als in den letzten Jahren zunehmend deutlich die Besorgnis der Bevölkerung bezüglich eines wirksamen Schutzes vor Kriminalität sichtbar wurde. Hier ist in erster Linie die friedensstiftende Funktion des Strafverfahrensrechts angesprochen. Sicher ist es eine
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wichtige Aufgabe, den einzelnen Straffall in prozeßordnungsgemäßer Weise der richtigen Sachentscheidung zuzuführen. Aber nicht nur diese korrekte Einzelentscheidung, sondern die Gesamtverantwortung bezüglich des Fertigwerdens mit der Gesamtkriminalität ist Aufgabe aller Strafverfolgungsorgane. In dieser Hinsicht stellt die Strafprozeßreform die Aufgabe, Regelungen und Institutionen zu schaffen, die gegenüber dem Phänomen der Gesamtkriminalität die Aufrechterhaltung des inneren Rechtsfriedens und das Gefühl der Rechtssicherheit bei der Bevölkerung bewahren. Hierbei geht es primär um die Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens mit einer möglichst zweckmäßigen Funktionsteilung zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft (mit dem wichtigen Ziel einer Erhöhung der Aufklärungsquoten) und eines Ausschöpfens aller Möglichkeiten der Verbrechensvorbeugung. Natürlich gilt dieser Gedanken der Effektivität und Praktikabilität nicht nur bezüglich der Bekämpfung der Kriminalität insgesamt, sondern auch für die konkrete Verfahrensgestaltung im einzelnen. Dies gilt für alle Verfahrensstufen von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis zum Abschluß des Rechtsmittelverfahrens. Möglichkeiten für praktikablere Verfahrensgestaltungen dürften dabei bei allen u. C näher zu besprechenden Reformschwerpunkten zu finden sein. Im Rahmen der Effektivität der Strafverfolgung kommt ein besonderer Stellenwert der Verfahrensbeschleunigung zu (vgl. ο. A). Die überlange Dauer vieler Strafverfahren blockiert in verhängnisvoller Weise die Gesamtleistungsfähigkeit der Strafverfolgungsorgane. Die rasche Aufklärung und Aburteilung von Straftaten ist gerade in generalpräventiver Sicht von eminenter Bedeutung. Ansatzmöglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung gibt es sowohl im institutionellen als auch im personellen Bereich. Da bei letzterem wenigstens derzeit kein Anlaß zum Optimismus im Hinblick auf eine nennenswerte Erweiterung des personellen Ausbaues der Strafverfolgungsorgane vorhanden ist, kommt einer Zeiteinsparung durch Verbesserung und Rationalisierung des Arbeitsstils große Bedeutung zu. Hier liegt auch eine bisher zu wenig beachtete Aufgabe innerhalb der juristischen Ausbildung und Fortbildung (vgl. u. C 6).
C. Einzelne Relormschwerpunkte 1. Veränderung der Gerichtsorganisation in Strafsachen Der Rahmen dieses Beitrags läßt es nur zu, einzelne Schwerpunkte der heute schon erkennbaren Reformdiskussion herauszugreifen, wobei die Auswahl auch notwendigerweise subjektiv ge-
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Reform des Strafverfahrensrechts
färbt sein muß. Weiter muß hervorgehoben werden, daß die einzelnen Gesichtspunkte zwar einzeln betrachtet werden können; dabei darf aber nie der Gesamtzusammenhang zwischen allen einzelnen Reformgesichtspunkten außer Betracht bleiben. Dies zeigt sich schon beim ersten hier zu besprechenden Gesichtspunkt, nämlich der Ausgestaltung der Gerichtsorganisation sehr deutlich, weil hier ein unübersehbarer Zusammenhang mit dem für wünschenswert gehaltenen Rechtsmittelsystem (vgl. u. 4) besteht. Eine Umgestaltung der Gerichtsorganisation in Strafsachen führt in den weiteren Zusammenhang der gesamten Justizreform. Gerade hier stehen aber deutliche Fragezeichen vor der politischen Realisierbarkeit. Selbstverständlich ist es hier nicht möglich, den Gesamtaspekt der großen Justizreform zu erörtern. Die Überlegungen müssen sich darauf beschränken, was für die Aufgaben der Strafrechtspflege wünschenswert erscheint. Dies läßt sich schlagwortartig dahin formulieren: ein dreistufiger Gerichtsaufbau und ein zweistufiger Verfahrenszug. Die Forderung nach einem dreistufigen Gerichtsaufbau hat freilich die Konsequenz, die erstinstanzlichen Spruchkörper beim Amtsgericht und beim Landgericht einem einheitlichen erstinstanzlichen Gericht zuzuweisen. Als erstinstanzlicher Spruchkörper wären dann der Einzelrichter, das Schöffengericht (ein Berufsrichter und zwei Laienrichter) und die Strafkammer (drei Berufsrichter, zwei Laienrichter) vorzusehen. Gegen alle erstinstanzlichen Entscheidungen würde es nur ein Rechtsmittel geben (vgl. näher u. 4). Über das Rechtsmittel würde grundsätzlich das Oberlandesgericht entscheiden; der Bundesgerichtshof wäre stärker als bisher auf die Wahrung der Rechtseinheit hin in seiner Tätigkeit auszurichten, wofür die Vorlagepflicht erweitert werden könnte (vgl. u. 4). Insbesondere die Zulassung eines zweistufigen Verfahrenszuges verspräche einen Gewinn an Verfahrensbeschleunigung, zumal dieses einheitliche Rechtsmittel stärker der heutigen Revision als der Berufung entsprechen müßte (sog. erweiterte Revision, vgl. näher u. 4). 2. Klare Funktionstrennung bei den Strafverfolgungsorganen Sowohl unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung als auch unter dem Erfordernis klarer Zuständigkeiten und Befugnisse wirkt es sich nachteilig aus, wenn eine zu starke Funktionenüberschneidung in einzelnen Verfahrensabschnitten besteht. Besonders das Ermittlungsverfahren bietet hier in zweierlei Hinsicht zur Beanstandung Anlaß. Zum einen ist die Funktions- und Arbeitsteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei nicht optimal gestaltet und zum anderen stellt die Zuständigkeitsver-
teilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht im Vorverfahren ein Problem dar. Im erstgenannten Komplex ist so lange kaum eine befriedigende Lösung zu finden, als de jure die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens ist, de facto aber die Polizei die Ermittlungen weitgehend in eigener Regie führt. Der zweite Komplex ist im deutschen Strafverfahrensrecht durch das erste Strafverfahrensreformgesetz weitgehend einer befriedigenden Lösung zugeführt worden, während im österreichischen Strafverfahrensrecht hier wohl ein Diskussionsschwerpunkt in den nächsten Jahren zu erwarten ist (vgl. Bertel, Grundriß des österr. Strafprozeßrechts, 1975,103). Ein weiterer unter diesem Gesichtspunkt (Anklageprinzip!) seit jeher neuralgischer Punkt ist das Zwischenverfahren mit dem Eröffnungsbeschluß. Die gesamte Problematik positiver oder negativer Funktionen des Eröffnungsbeschlusses kann hier naturgemäß nicht ausgebreitet werden. Sicher ist nur, daß der in der kleinen Strafprozeßreform 1964 geschaffene Kompromiß (Zulassung der Anklage durch das Gericht; Verlesen des Anklagesatzes durch den Staatsanwalt in der Hauptverhandlung) die Diskussion um diesen Punkt nicht zum Verstummen bringen konnte. Hier wären zunächst empirische Untersuchungen darüber nützlich, in welchen Fällen der Eröffnungsbeschluß tatsächlich eine Schutzfunktion zu Gunsten des Angeklagten erfüllt. Sicher dürfte weiterhin auch sein, daß gerade unter den Gesichtspunkten der Beschleunigung und der Praktikabilität die Schaffung einer eigenen Eröffnungszuständigkeit außerhalb des erkennenden Gerichts nicht in Betracht kommt. Ob der Verzicht auf jeglichen gerichtlichen Eröffnungsbeschluß tragbar ist, könnte erst eine umfassende kriminalpolitische Diskussion im Rahmen der Strafprozeßreform ergeben, wofür empirisches Material sehr wichtig wäre. 3. Umgestaltung der Hauptverhandlung Kernstück des Strafverfahrens ist die mündliche Hauptverhandlung, die dementsprechend auch einen deutlichen Schwerpunkt in der Straf prozeßreformdiskussion darstellt. Veränderungen gegenüber dem derzeitigen Rechtszustand werden vor allem in zweifacher Hinsicht erwogen: eine Zweiteilung der Hauptverhandlung (sog. Schuldinterlokut) und Veränderungen bei der Beweisaufnahme, insbesondere beim Zeugenbeweis (sog. Kreuzverhör). Die Forderungen nach einer Zweiteilung der Hauptverhandlung geheninsbesondere auf die Entwicklung der Strafzumessungslehre zurück. In dem Umfang, in dem der Zumessungsakt der Rechtsfolgen der Tat ständig an Bedeutung gewonnen hat und die Straffrage zum gleichrangigen Prozeßthema neben der Schuldfrage wurde, mußte fast zwangsläufig die Forderung auftauchen,
Reform des Strafverfahrensrechts der Deliktfolgenverhängung einen eigenen Abschnitt in der Hauptverhandlung nach der Bejahung der Schuldfrage zuzuweisen. Schon die Charakterisierung des heutigen materiellen Strafrechts als „Tat-Täterstrafrecht" legt ja prozessuale Konsequenzen dergestalt nahe, die Feststellung der Straftat und die Zumessung der täter-adäquaten Rechtsfolgen auch in der Hauptverhandlung deutlich voneinander abzusetzen. Diese Forderung wird durch zahlreiche Gesichtspunkte untermauert. Da die Verhängung der Rechtsfolgen der Tat heute eine weitgehende Erforschung der Täterpersönlichkeit erforderlich macht und die dafür notwendigen Ermittlungen unter Umständen weit in die persönliche Privatsphäre des Angeklagten eindringen müssen, ist es ein Gebot des Schutzes des Angeklagten, solche Ermittlungen erst nach Bejahung der Schuldfrage zuzulassen. Auch können in diesem zweiten Abschnitt teilweise abweichende Verfahrensgestaltungen zweckmäßig sein; so ist ζ. B. das Öffentlichkeitsprinzip in diesem zweiten Abschnitt in der Regel hemmend und bewirkt leicht eine unnötige Bloßstellung des Angeklagten. Die weiter häufig diskutierte Frage, ob im zweiten Verfahrensabschnitt die Richterbank anders zusammengesetzt sein könnte, insbesondere durch Sachverständige ergänzt werden könnte, ist bei Abwägung aller Argumente zu verneinen. Dem steht das Gebot des gesetzlichen Richters wohl ebenso entgegen wie die Erfahrung, daß das sich stets komplizierende Strafzumessungsrecht nur vom Strafjuristen anwendbar ist. Sehr wohl erscheint es aber möglich, hier im zweiten Verfahrensabschnitt aufgelockerte und erweiterte Kooperationsmöglichkeiten zwischen Gericht und Sachverständigen zu erproben. In verfahrenstechnischer Hinsicht wirft die Zweiteilung der Hauptverhandlung schwierige Rechtsfragen vor allem im Hinblick auf die folgenden drei Problemkreise auf: die Abgrenzung der Verfahrensabschnitte, die Bindungswirkung der Entscheidung der Schuldfrage für den zweiten Verfahrensabschnitt und der Anwendungsumfang für ein solches Schuldinterlokut. Daß sich die Abgrenzung zwischen beiden Verfahrensabschnitten keinesfalls von selbst versteht, zeigen schon die beiden heute im Raum stehenden Begriffe des Tatinterlokuts und des Schuldinterlokuts. Vor allem geht es um die Frage, wieweit neben der Feststellung der rechtswidrigen Straftat auch Merkmale der Schuld (i. S. der 3. Verbrechensaufbaustufe der Straftat) noch dem ersten Verfahrensabschnitt zuzuweisen sind. Denn gerade Probleme der Schuldfähigkeit weisen bereits enge Berührungspunkte mit Strafbemessungsfragen auf. Am zweckmäßigsten dürfte es deshalb sein, die Schuldfähigkeit (aber auch nur diese) bereits zur zweiten Verfahrensstufe zu nehmen. 9 HdK, 2. Aull. Ergänzungsband
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Eine weitgehende Übereinstimmung scheint sich dahingehend anzubahnen, daß die Entscheidung im ersten Verfahrensabschnitt nicht selbständig, sondern nur zusammen mit dem die Instanz abschließenden Urteil aus dem zweiten Verfahrensabschnitt anfechtbar sein soll. Eine andere Lösung würde das Verfahren erheblich komplizieren und verlängern und damit in unlösbaren Widerspruch zu anderen wichtigen Reformzielen, insbesondere dem Beschleunigungsgebot, treten. Keine ähnliche Einmütigkeit ist darüber festzustellen, inwieweit ein solches zweigeteiltes Verfahren überhaupt Anwendung finden soll. Da das Schuldinterlokut jedenfalls die Tendenz zur Verfahrensverlängerung in sich trägt und ihm auch die Praxis wohl überwiegend eher Ablehnung entgegenbringt, sollte — jedenfalls für den Anfang — der Anwendungsbereich eher eng gezogen werden. Man sollte das Schuldinterlokut auf die Strafsachen beschränken, in denen wirklich eine eingehende Persönlichkeitserforschung des Angeklagten geboten ist. Dies sind hauptsächlich diejenigen Fälle, die zu Freiheitsstrafe oder zur Verhängung einer mit Freiheitsentzug verbundenen Maßregel der Besserung und der Sicherung führen können. Welche Regelung man hier am zweckmäßigsten trifft, ist noch nicht im einzelnen ausdiskutiert. Dies gilt noch im größeren Ausmaße von der zweiten für die Umgestaltung der Hauptverhandlung grundlegenden Erwägung, nämlich einer Übernahme von Elementen des anglo-amerikanischen Strafverfahrens in die Hauptverhandlung. Kernpunkt der Kritik am gegenwärtigen Rechtszustand ist die Überlegung, daß der Richter bei der Durchführung der Hauptverhandlung, insbesondere der Zeugenbefragung, überfordert und zu sehr auf die Rolle des Inquirenten fixiert sei. Auch hier fehlen uns wieder empirische, insbesondere psychologische Untersuchungen, die uns näheren Aufschluß über die Gefahr der Voreingenommenheit und Überlastung des heutigen GerichtsvoTsitzenden geben könnten. Ob und unter welchen Bedingungen das Kreuzverhör der Leitung der Vernehmung durch den Gerichtsvorsitzenden überlegen ist, könnten nur groß angelegte und vergleichende empirische Untersuchungen ergeben. Unter diesem Vorbehalt stehen auch die folgenden weiteren Überlegungen. Selbst wenn man eine Überlegenheit des Kreuzverhörs zur Ermittlung der Wahrheit feststellen könnte (was aber wahrscheinlich bereits das heute vorhandene und praktizierbare Forschungsinstrumentarium weit überfordert), bliebe mindestens in mittelfristiger Sicht die Gefahr, daß eine solche Reform zu Lasten des Beschuldigten ginge, da kaum von einer faktischen Waffengleichheit zwischen Staatsanwalt und Strafverteidiger gesprochen werden könnte. Jedoch werden letztlich all diese nur schwer verifizierbaren Gesichtspunkte von einer anderen Überlegung verdrängt:
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Reform des Strafverfahrensrechts
der Resozialisierungscharakter auch schon des Strafverfahrens dürfte eine Übernahme des Kreuzverhörs ausschließen, das seinerseits zu sehr auf die Kampfsituation im Gerichtssaal fixiert ist. Im übrigen läßt sich schon im geltenden Verfahrensrecht eine Art Wechselgehör praktizieren, das es jedenfalls erlaubt, ausreichende Erfahrungen zu sammeln, das aber vielleicht selbst schon das Optimum der Zeugenvernehmung darstellt: zunächst veranlaßt der Gerichtsvorsitzende den Zeugen zu einer zusammenhängenden Darstellung seiner Wahrnehmungen über das Beweisthema (wobei der Vorsitzende — besonders bei unbeholfenen Zeugen — selbstverständlich sachleitend eingreifen darf), dann stellen Staatsanwalt und Verteidiger ihre aus ihrer Sicht zur Ergänzung für notwendig gehaltenen Fragen (wobei die Reihenfolge von Staatsanwalt und Verteidiger variabel gehalten werden kann) und abschließend stellt der Gerichtsvorsitzende (oder andere Mitglieder des Gerichts) die i. S. der amtswegigen Aufklärungspflicht noch für erforderlich gehaltenen Fragen. 4. Die Reform des
Rechtsmittelrechts
Eine Umgestaltung des Rechtsmittelrechts ist wohl der derzeit am meisten diskutierte Reformschwerpunkt, wenn sich auch hier sofort Unsicherheit einstellt, wenn man ins Detail geht. Immerhin scheint weitgehende Einigkeit über die Richtung der Reform zu bestehen: Abschaffung der Berufung und Konzipierung eines einheitlichen Rechtsmittels, das im wesentlichen der heutigen Revision entsprechen sol], aber erweiterte Angriffsmöglichkeiten bezüglich der tatsächlichen Feststellungen aufweisen müßte (sog. erweiterte Revision). Die Forderung nach Abschaffung der heutigen Berufung resultiert daraus, daß hier die negativen Punkte bei weitem überwiegen: Erschwerung der Beweisaufnahme mit zunehmendem Abstand vom Tatgeschehen; erhebliche Verlängerung der Dauer des Strafverfahrens ohne spürbaren Gewinn an inhaltlicher Richtigkeit der Entscheidung; Entwicklung zu einer Art „Rabattinstanz"; Entwertung der ersten Tatsacheninstanz durch das Nachschalten einer zweiten Tatsacheninstanz mit voller Beweisaufnahme. Die Verwendung der Berufung ist auch im geltenden Recht schon insoweit zwiespältig, als bei den leichteren Strafsachen eine zweite Tatsacheninstanz in Form der Berufungsinstanz eingebaut ist, während bei den schweren Strafsachen, die am Landgericht beginnen, seit jeher nur die Revision zur Verfügung steht. Damit freilich die Revision die Funktion des einzigen gegen erstinstanzliche Entscheidungen in Strafsachen gegebenen Rechtsmittels erfüllen kann, bedarf es einer erheblichen Veränderung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand. Der
Zuschnitt der Revision ausschließlich als Rechtsrügeinstanz müßte eine Erweiterung dahingehend erhalten, daß in gewissem Umfang die Unvollständigkeit oder deutliche Fehlerhaftigkeit der tatsächlichen Feststellungen angegriffen werden kann. Hier beginnen nun freilich die Schwierigkeiten im Detail, weil bisher keine griffigen Kriterien dafür erarbeitet wurden, wie eine solche Grenzziehung innerhalb des Angriffs auf die tatsächlichen Feststellungen prägnant erfolgen könnte. Hier besteht ein deutlicher Nachholbedarf an rechtsdogmatischer Klärung (vgl. aber jetzt insbes. die Arbeiten von Fezer ->· Literaturübersicht). Eine weitere Reformvorstellung in diesem Bereich setzt sich mit der Frage auseinander, ob der ersten Instanz ein vereinfachtes Verfahren („Strafbescheidsverfahren") bei leichteren Strafsachen vorgeschaltet werden soll, bei dem zunächst eine Entscheidung (Strafbescheid) in einem vereinfachten Verfahren vor einem Einzelrichter ergehen würde, das erst auf Anfechtung durch den Betroffenen hin ins ordentliche Strafverfahren überführt würde. Die hier angesprochene Problematik ist vielgestaltig. Zunächst leuchtet die Überlegung sehr ein, weil damit die Erledigung vieler kleiner Straftaten in schneller Weise verbunden sein könnte. Aber auch die Nachteile sind gravierend. Zunächst besteht ja die Möglichkeit rascher Erledigung bereits im Verfahren nach § 153 a StPO und im Strafbefehlsverfahren; es ist nicht leicht auszumachen, welche Fälle daneben zur Erledigung im Strafbescheidsverfahren geeignet wären. Hinzu käme aber auch die Gefahr einer gewissen Entwertung des Verfahrens vor dem Einzelrichter; auch bedürften die sich gegebenenfalls daraus für das Ordnungswidrigkeitenverfahren ergebenden Konsequenzen einer eingehenden Diskussion. Die kriminalpolitische Entscheidung wird dadurch erschwert, daß hier auch Rechtsvergleichung und empirische Untersuchungen kaum Entscheidungshilfen erbringen können. Bei einer Gesamtabwägung des pro und contra erscheint es daher derzeit zweckmäßiger, zunächst die Erfahrungen mit § 153 a StPO auf breiter Basis abzuwarten. In dem vorgeschlagenen Verfahrensaufbau mit einem dreistufigen Gerichtsaufbau und einem zweistufigen Verfahrenszug wäre die dritte Instanz (der Bundesgerichtshof) viel stärker als heute auf die Rechtseinheitsfunktion hin ausgerichtet. Über eine Neukonstruktion der Vorlagepflicht an den Bundesgerichtshof hinaus könnte man hier noch einen eigenständigen Rechtsbehelf in die Erwägung einbeziehen, der bisher in der Strafprozeßreform in Deutschland nicht näher diskutiert wurde, der aber im österreichischen Strafverfahrensrecht seit langem beheimatet ist und mit gutem Erfolg angewendet wird: die dem Generalprokurator beim Obersten Gerichtshof (würde
Reform des Strafverfahrensrechts dem Generalbundesanwalt entsprechen) zustehende Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach § 33 Abs. 2 östStPO. Mit dieser Wahrungsbeschwerde kann der Generalprokurator gegen Urteile der Strafgerichte, die auf einer Verletzung oder unrichtigen Anwendung des Gesetzes beruhen, sowie gegen jeden gesetzwidrigen Beschluß oder Vorgang eines Strafgerichtes, der zu seiner Kenntnis gelangt, eine Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, und zwar auch dann noch erheben, wenn der Angeklagte oder der Ankläger in der gesetzlichen Frist vom Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde keinen Gebrauch gemacht haben. Dieser außerordentliche Rechtsbehelf, der eine Durchbrechung der Rechtskraft gestattet, zielt auf die Überwachung der richtigen Gesetzesanwendung und damit auf die Wahrung der Gesetzeseinheit ab und ist deshalb auch ein probates Mittel, um eine divergierende Rechtsanwendung rasch einer klärenden höchstrichterlichen Entscheidung zuzuführen. Gerade in der oben skizzierten Reform des Rechtsmittelsystems könnte ein solcher Rechtsbehelf eine bedeutsame Rolle spielen.
5. Die Bedeutung von Ausbildung
und
Fortbildung
Der im vorhergehenden Text nur höchst bruchstückhaft skizzierte, in der Prozeßreform anzustrebende organisatorische und institutionelle Rahmen ist sicher im großen Umfang, aber nicht ausschließlich für die Qualität der Strafrechtspflege ausschlaggebend. Was aus einem Gesetz, insbesondere einer Verfahrensordnung, in der Alltagspraxis wird, hängt zu einem großen Teil von der Einsatzbereitschaft und dem Ausbildungsstand der dabei tätig werdenden Staatsorgane ab. Gerade in einer Zeit sich häufender und in rascher Folge ablösender Reformen wird hier eine Grenze für das durch Gesetz Erreichbare sichtbar, die in jede rechtspolitische Betrachtung einbezogen werden muß. Für die Strafprozeßreform wird es daher darauf ankommen, bei allen beteiligten Strafverfolgungsorganen, insbesondere auch bei Staatsanwälten und Richtern die Einsicht in die Notwendigkeit der Reform zu fördern, und sie durch Ausbildung und Fortbildung in den Stand zu versetzen, geleistete Reformarbeit auch mit Leben zu erfüllen. So könnte etwa die Qualität der Wahrheitsfindung über jede gesetzliche Regelung entscheidend dadurch beeinflußt werden, daß der Richter ausreichend Kenntnis und Erfahrung über die Möglichkeiten und Grenzen aussagepsychologischer Grundtatsachen und Methoden hat. Auch das Problem der Zusammenarbeit zwischen Richtern und Sachverständigen dürfte sich — über sicher notwendige institutionelle Verbesserungen hinaus — nur auf diese Weise voranbringen lassen. Auch die beste Strafprozeßreform ist eben letztlich in der Alltagspraxis nur das wert, was die be9*
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teiligten Rechtspflegeorgane aus ihr zu machen vermögen. Auch aus dieser Sicht heraus wird deutlich, daß ein permanente Fortbildung eine immer wichtiger werdende Aufgabe der Justizverwaltungen darstellt. D. Die Zukunft des Strafverfahrensrechts Das Schicksal der Strafprozeßreform läßt sich heute nicht mit ausreichender Sicherheit überblicken. Sicher scheint bei einer kurz- bis mittelfristigen Betrachtung zu sein, daß es zu keiner Totalrevision des geltenden Strafverfahrensrechts kommen wird, sondern daß die Strafprozeßreform nur in Teilschritten vorankommen kann. Auch über die dabei einzuhaltenden Prioritäten besteht derzeit nur wenig Klarheit. Wahrscheinlich dürfte sein, daß die Reform des Rechtsmittelrechts Vorrang vor einer Reform der Hauptverhandlung eingeräumt erhält. Jedenfalls erscheint vom erreichten Stand der Strafrechtsreform aus ein Fortschreiten auch der Prozeßreform unbedingt notwendig; es geht darum, das Tat-Täterstrafrecht auch verfahrensrechtlich voll anwendbar zu machen. Betrachtet man Strafrecht und Strafprozeßrecht als aufeinander bezogene Wirkungseinheit, so erscheint es auf längere Dauer nicht akzeptabel, ein fortschrittliches Strafrecht in einem rückständigen Strafverfahrensrecht praktizieren zu müssen, um ein Wort von Hans Dahs (NJW 70, 1705) aufzugreifen. Auch erschiene es sehr sinnvoll, die jetzt gebotene Konsolidierungsphase beim materiellen Recht zu Reformschritten im Bereich des Strafverfahrensrechts zu nutzen. Welterfahrende Literatur (Auswahl) G. F e z e r : Die erweiterte Revision — Legitimierung der Rechtewirklichkeit ? 1974. G. F e z e r : Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen. 1975. E.-W. H a n a c k : Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform. Festschrift für Gallas. 1973, 339. E.-W. H a n a c k : Der dreistufige Aufbau der Strafgerichtsbarkeit im Entwurf eines Ersten Justlzreformgesetzes. Festschrift für Schwinge. 1973, 183. H. J u n g : Straffreiheit für den Kronzeugen? 1974. G. K a i s e r : Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle. 1972. O. R. Kissel: Der dreistufige Aufbau in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. 1972. K. P e t e r s : Der Strafprozeß In der Fortentwicklung. 1970. K. P e t e r s : StrafprozeBlehre Im System des Strafprozeßrechts, in Festschrift für Maurach. 1972, 453. H. Zipf: Kriminalpolitik. Eine Einführung in die Grundlagen. 1973. H. Zipf: Kriminalpolitische Überlegungen zum Legalitätsprinzip, in Festschrift für Peters. 1974, 487. Sammelbände: Probleme der Strafprozeßreform, Berliner Gastvorträge von J e s c h e c k (Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform), D t t n n e b i e r (Reform der Untersuchungshaft?), R o x i n (Die Reform der Hauptver-
132
Strafzumessung
handlung im deutschen Strafprozeß), T r ö n d l e (Zur Beform des Rechtsmittelsystems im Strafverfahren) und P e t e r s (Die Reform des Wiederaufnahmerechts), Sammlung Göschen, Bd. 2800. 1975. Denkschrift der Bundesrechtsanwaltskammer zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozeß (unter Mitarb. von Hanack, v. Gerlach und Wahle). 1971. Reform der Rechtsmittel in Strafsachen, Bericht (bearb. v. Fczer) über die Entstehung der gegenwärtigen Rechtsmittelvorschriften und die Bemühungen um ihre Reform. Hrsg. v. Bundesministerium der Justiz. 1974. Stand: 1. 7.1975
HEINZ ZIPF
STRAFZUMESSUNG 1. Allgemeine
Einweise
Strafzumessung ist der Vorgang, bei dem die Strafe nach Art, Höhe und Modalitäten festgesetzt wird. Sie beginnt mit der gesetzlichen Anordnung des Strafrahmens, der Variationsmöglichkeiten im weiteren Ablauf des Vorgangs eröffnet. Nur in besonderen Fällen ist die Strafgröße festgelegt (absolute Strafandrohung). So ist bei Mord (§ 211 StGB) und Völkermord (§ 220 a I Ζ. 1 StGB) allein die lebenslange Freiheitsstrafe angedroht. Inwieweit bei der Tötung eines Menschen eine absolut angedrohte Strafe ausgesprochen wird, hängt von dem angewandten Tatbestand ab. Die Grenzen zwischen Körperverletzung mit Todesfolge, Totschlag und Mord sind infolge der Dehnbarkeit des Vorsatzbegriffes (bedingter Vorsatz I) und der im Gesetz verwandten unbestimmten Tatbestandsmerkmale flüssig. Es läßt sich nicht ausschließen, daß Vorstellungen über die als gerecht empfundene Strafe sich bei der Tatbestandanwendung auswirken. Diese auch sonst denkbare Rückbeziehung von Strafe und Tatbestand bedarf noch näherer Untersuchungen. Zuweilen stellt das Gesetz bei einem Tatbestand nicht nur einen, sondern mehrere Strafrahmen zur Verfügung. Technisch geschieht das durch ein gleichgeordnetes Nebeneinander (Freiheitsstrafe oder Geldstrafe) oder durch eine Gegenüberstellung von Normalfällen und Ausnahmefällen oder Fällen mit besonderen benannten oder unbenannten leichteren oder schwereren Umständen. Die nähere Bestimmung der Strafgröße innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens kann in der Festsetzung einer bestimmten Strafhöhe oder in der Anordnung einer Zeitspanne (unbestimmte Strafe, § 19 JGG) erfolgen. Aber auch die bestimmte Strafe kann beweglich gestaltet werden (Grundsatz der Reaktionsbeweglichkeit). So kann die verhängte Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wobei der Widerruf der Aussetzung offensteht. Die Vollstreckungsdauer kann infolge der Aussetzbarkeit eines Strafrestes (§ 57 StGB)
variabel sein. Einem auf die Täterpersönlichkeit und auf Resozialisation ausgerichteten Strafrecht entspricht die Variabilität der Strafe. Das hat zur Folge, daß die im Urteil verhängte Strafdauer nicht die wirkliche Vollzugsdauer darstellt. Die Vollzugsdauer ergibt sich erst aus einer ergänzenden Entscheidung. Nach § 57 StGB ist jede zeitige Freiheitsstrafe von drei Monaten unbestimmt. Nach deutschem Strafrecht liegt die Ergänzungsentscheidung in der Hand des Richters. Die Zuständigkeit für derartige Entscheidungen im Freiheitsvollzug ist im Erwachsenenverfahren der Strafvollstreckungskammer und im Jugendverfahren dem Vollstreckungsleiter übertragen. Der vollzugsnahe Richter soll in Zusammenarbeit mit den Strafvollstreckungsorganen die Strafe näher ausgestalten. Aus rechtsstaatlichen Gründen entfällt die Möglichkeit, diese Entscheidungen in die Hand von nichtrichterlichen Verwaltungs- und Vollzugseinrichtungen zu legen. 2. Die Wissenschaft von der
Strafzumessung
Das Schrifttum über die Strafzumessung ist — entgegen einer immer wieder aufgestellten Behauptung — äußerst umfangreich. Juristen, Kriminologen, Soziologen, Psychologen und Psychiater haben sich immer wieder um die Klärung und Regelung dieses Vorgangs bemüht. Schon Sauer hat 1921 umfassend die rechtlichen Grundlagen der Strafzumessung dargestellt. Von ihm bis zu Bruns (1974) zieht sich eine lange Kette von gründlichen Abhandlungen in Monographien, Aufsätzen, Lehrbüchern und Kommentaren. Dabei geht es materiellrechtlich um den rechtlichen Charakter der Strafzumessung, die Wertungsgesichtspunkte, die für die Beurteilung maßgebliche Wertungsrichtung und Wertungsschwere und die Grenzen richterlicher Subjektivität. In prozessualer Hinsicht stehen im Mittelpunkt die Gewinnung der Strafzumessungstatsachen, die Anwendung der allgemeinen Beweiswürdigungsregeln auf das gewonnene Material, die Rationalisierung des Strafzumessungsvorgangs und seiner schriftlichen Fixierung sowie die Revisibilität der Strafzumessung. Die Strafprozeßlehre versucht, sowohl die der Wertung zugrunde liegenden Tatsachen aufzuhellen als auch den Bewertungsvorgang selbst zu verdeutlichen. Dabei bedarf es der Zusammenarbeit des Juristen mit Kriminologen, Soziologen, Psychologen und Psychiatern. Die verschiedenen Wissenschaftsrichtungen befassen sich mit dem Wertungsvorgang als solchem und der wertenden Person. Die vielseitigen Probleme der Strafzumessung sind spekulativ und empirisch der Betrachtung zugänglich. Das empirische Material wird aus Aktenuntersuchungen, (zufälliger und geplanter, außenstehender und teilnehmender) Beobachtung, Befragung anhand tatsächlichen und fiktiven
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Strafzumessung Materials, Statistik und Auswertung von juristisch ausger chteten Quellen (ζ. B. Entscheidungssammlungen) gewonnen. Neuerdings bemühen sich um die Strafzumessung mathematische und technische Methoden. Sie suchen zur Erzielung einer Vereinheitlichung und Rationalisierung allgemeingültige Grundlagen herauszustellen. Ob derartige Bemühungen im Ansatz richtig sind, ist ebenso offen wie die Frage, ob sie praktikabel sind. 3. Die Uneinheitliehkeit der Strafzumessung Der Strafzumessungsvorgang läßt sich weder durch eine juristisch wertende noch durch eine faktische Deutung allein richtig erfassen. Die faktischen Umstände beeinflussen die rechtliche Betrachtungsweise wie umgekehrt rechtliche Vorstellungen sich auf den tatsächlichen Vorgang auswirken. Die Trennung beider Betrachtungsweisen führt zu unrichtigen rechtlichen Vorstellungen. Das auf das Leben bezogene Recht kann sich den Tatsächlichkeiten und den sich aus ihnen ergebenden Möglichkeiten nicht entziehen. Das zeigt sich an einer der umstrittensten Rechtsfragen, nämlich bei dem Problem der ideellen Einheitsgröße der zu verhängenden Strafe. Die eine Seite (vor allem Bruns, Spendel), meist heute als herrschende Lehre bezeichnet, ist der Ansicht, daß nur die Verhängung e i n e r Straf große im Einzelfall dem Recht entspreche. Die Gegenauffassung (Engisch, Peters) ist der Auffassung, daß innerhalb eines gewissen Strafrahmens mehrere Strafgrößen rechtens sind. Diese letztere Ansicht beruft sich zunächst darauf, daß erfahrungsgemäß die Verschiedenheit der Strafzumessung feststeht, wobei es unmöglich ist, der einen oder anderen Strafgröße den Vorrang zu geben. Dem Problem läßt sich nicht dadurch ausweichen, daß man beim Vergleich von Straftaten auf die Verschiedenartigkeit des Vorgangs und der sie tragenden Persönlichkeit hinweist (so die Rechtsprechung bei der Beanstandung verschiedener Strafen bei gleichartigen Fällen), denn ganz offensichtlich sind Delikte verschiedener Täter nach Tatschwere und Persönlichkeit durchaus vergleichbar. Gerade im Strafvollzug werden derartige Erwägungen von Personal und Gefangenen angestellt. Daß selbst bei ein und derselben Strafsache die Strafen unter Umständen sehr stark voneinander abweichen, zeigt sich bei Vergleichen zwischen den Anträgen der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Gerichts oder beim Nebeneinanderstellen von Urteilen in erster Instanz und in der Berufungsinstanz oder von Urteilen nach Aufhebung in der Revisionsinstanz oder im Wiederaufnahmeverfahren bei gleichbleibender Sachverhaltsfeststellung. Aufschlußreich sind auch die verschiedenen Strafzumessungen im Falle irrtümlicher Doppelverurteilungen.
Die Verschiedenheit der Strafmaße könnte freilich nur als ein unvermeidliches Übel angesehen werden, das aber der Rechtsidee nicht entspricht. Eine solche Auffassung beruht auf einer statischen Betrachtungsweise. Sie übersieht die Dynamik des Strafzumessungsvorgangs. Er ist nicht nur zu einem weiten Stück unkontrollierbar, sondern in gewissem Rahmen dem Richter zur Verfügung gestellt. Dieser tritt dem Beschuldigten als ein in der persönlichen Verantwortung stehender sachverständiger Beurteiler gegenüber. Er legt seiner Beurteilung die seiner Erkenntnis und seiner Überzeugung entsprechenden Angemessenheitsund Zweckmäßigkeitswertungen zugrunde. Gesichtspunkte und Maßstäbe lassen sich von individuellen Meinungen nicht völlig loslösen. Zwischen Richter und Beschuldigtem besteht eine personale Beziehung. Der Beschuldigte sieht sich nicht einer rechnenden Maschine, sondern einem Mitmenschen gegenübergestellt. Dieser beschließt nach einer bestimmten Ordnung über sein Schicksal. Damit lastet das Urteil auf dem Richter. Der Beschuldigte wiederum trägt das Risiko seines Richters. Der Grundsatz: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege enthält in seinen Bestandteilen Verschiedenes: hinsichtlich des Tatbestandes eine Auslegungsschranke, hinsichtlich der Strafe eine Ermächtigungsgrundlage. Sowohl der Wirklichkeit als auch der Rechtslage nach handelt es sich bei der Strafzumessung nicht ausschließlich um Rechtsanwendung, sondern zu einem Teilstück um Ermessensanwendung aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Ermächtigung. Von dieser Grundvorstellung wird bei den weiteren Erörterungen ausgegangen. 4. Möglichkeiten der Anpassung Trotz Anerkennung der Rechtmäßigkeit verschiedener Strafgrößen bei der Reaktion auf eine Straftat bedarf es im Interesse einer gewissen Gleichmäßigkeit des Versuchs innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens einen engeren Rahmen zu finden, der die für den Einzelfall rechtmäßigen Strafgrößen enthält. Der gesetzliche Strafrahmen umschließt eine Skala, die den vielfältigen Gegebenheiten der denkbaren Einzelfälle, sowohl nach der sachlichen als auch persönlichen Seite umfaßt. Bei der konkreten Strafzumessung ist jedoch ein Rahmen zu finden, der dem Einzelfall bei d i e s e r Sachlage und bei d i e s e r Persönlichkeit entspricht. Die Lösung dieses Problems kann auf verschiedene Weise erfolgen: 1. Der Gesetzgeber könnte die gesetzlichen Strafrahmen enger fassen. Eine Herabsetzung der oberen Grenze des Strafrahmens würde aber bedeuten, daß die schwerstwiegenden Fälle nicht mehr angemessen beantwortet werden könnten. Eine Heraufsetzung der Mindestgrenze würde
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Strafzumessung
dazu führen, daß die leichteren Fälle zu hoch bestraft würden. Der Gesetzgeber könnte weiterhin die einzelnen Tatbestände in näher umschriebene mildere und schwerere Formen mit entsprechenden Strafrahmen zerlegen. Aber eine derartige Aufspaltung der Tatbestände ist dem Gesetzgeber bei der Vielfalt der Geschehensmöglichkeiten, des Unrechtsgehaltes der konkreten Taten, des Verschuldens und der Persönlichkeitsgegebenheiten kaum möglich, ganz abgesehen davon, daß die meisten Tatbestände in so viele Unterformen aufgelöst werden müßten, daß das Strafgesetzbuch völlig unübersichtlich werden würde. 2. Der Gesetzgeber könnte Anweisungen zur richterlichen Strafzumessung geben. a) Er könnte das Mittel oder das Drittel der Höchststrafe als Ausgangspunkt der Strafzumessungserwägungen vorschreiben. Dieser Weg ist ebenfalls nicht gangbar. Der Schwere nach liegen die Straftaten nicht in dem Mittel oder Drittel des Strafrahmens. Die meisten Fälle, die unter einen Tatbestand fallen, sind „leichtere Fälle", die sich vom kriminologischen Kerngehalt des Deliktes weit entfernen. Es ist daher ein zu Unrecht gegen die Gerichte erhobener Vorwurf, daß sie in der überwiegenden Anzahl der Fälle „mildernde Umstände" annehmen oder in die mildere Strafart überwechseln. Diese Tendenz der Rechtsprechung, wie sie Exner schon 1931 festgestellt hat, entspricht durchaus der kriminologischen Wirklichkeit. b) Der Gesetzgeber kann sich in den Strafzumessungsvorgang in der Weise einschalten, daß er bestimmte Gegebenheiten als Bewertungsgesichtspunkte vorschreibt, sie unter Umständen als taterschwerend oder mildernd kennzeichnet und so zur Annahme milderer oder schwerer Strafrahmen oder einer entsprechenden Berücksichtigung innerhalb der Rahmen hinführt. Diesen Weg beschreitet das StGB in §§ 40—46, 51—56. Grundlage für die Zumessung der Strafe ist die Schuld des Täters. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen (§ 46 I StGB). Welche Gesichtspunkte bei Erreichung dieses Doppelziels (Schuldausgleich, Resozialisierung) in Rechnung zu stellen sind, kann das Gesetz nur beispielsweise aufführen. Als „namentlich" in Betracht zu ziehende Umstände erwähnt es die Beweggründe und Ziele des Täters, die aus der Tat sprechende Gesinnung und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders seine Bemühungen um die Wiedergut-
machung des Schadens (§ 46 II). Nach § 48 I StGB führt bei Vorsatztaten der Rückfall zu einem Strafrahmen mit einer erhöhten Mindeststrafe von 6 Monaten, wenn dem Täter im Hinblick auf die Art und Umstände der Straftaten vorzuwerfen ist, daß er sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen. Das Gesetz geht von einer erhöhten Schuld und Resozialisierungsbedürftigkeit aus. Inwieweit der Rückfall sich innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen auswirkt, richtet sich nach der allgemeinen Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB. Hinsichtlich der Abgrenzung der beiden Hauptstrafen: Freiheitsstrafe und Geldstrafe verfolgt das StGB die Tendenz, kurze Freiheitsstrafen zu vermeiden. Dem dienen § 38 (Mindestmaß ein Monat) und § 47 (Freiheitsstrafe unter 6 Monaten nur in Ausnahmefällen). Eine Freiheitsstrafe unter 6 Monaten darf nur verhängt werden, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. Allerdings dringt die kurze Freiheitsstrafe durch das Tor der Ersatzfreiheitsstrafe wieder ein (§ 43 StGB). Der Gesetzgeber hat sich leider nicht zu dem von der Strafvollzugskommission gemachten Vorschlag (Tagungsberichte der Strafvollzugskommission 1. Bd. 1967, S. 60, 146f.) durchringen können. Danach sollte eine Ersatzfreiheitsstrafe unter 6 Monaten nur vollstreckt werden, wenn sich im Zusammenhang mit einer anderen Freiheits- oder Ersatzfreiheitsstrafe eine Summe von wenigstens 6 Monaten ergibt. Außer den unmittelbar die Strafzumessung berührenden Regelungen kommt auch solchen Bestimmungen für die richterliche Strafzumessung Bedeutung zu, die für die Grundtendenzen strafrechtlicher Reaktion Auskunft geben. Das gilt vor allem für die Regelung der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 I StGB), der Aussetzung des Strafrests (§ 57 StGB), der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) und der Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61ff.). Die Gesamtheit der Bestimmungen über die Reaktion auf Straftaten ergibt gegenüber dem bisherigen Strafrecht ein unmittelbar erkennbares Fundament für den Strafzumessungsvorgang. 3. Eine Anpassung der Strafzumessung kann auch durch richterliche Übereinstimmung erfolgen. Ihr können Empfehlungen, die von der Wissenschaft, von richterlichen Tagungen oder Besprechungen ausgehen, zugrunde gelegt werden. Rechtsprechungstabellen könnten veröffentlicht werden. Eine Angleichung kann auch durch ein Taxensystem („Jeder Messerstich neun Monate Freiheitsentzug") erfolgen. Schließlich können sich innerhalb eines Gerichts oder eines Umkreises (Strafzumessungsgeographie) infolge längerer
Strafzumessung Übung eine gewisse Gleichheit in den Beurteilungsgesichtspunkten und Beurteilungsmaßstäben ergeben. Soweit solche Anpassungen im Einzelfall die hinreichende Berücksichtigung von Tat und Täter nicht ausschließen, sind Bedenken nicht zu erheben. Je weniger eine Tat durch die Persönlichkeit gekennzeichnet ist, je stärker die objektiven Umstände die Tat charakterisieren, um so weniger Einwände lassen sich gegen Empfehlungen erheben. Das gilt vor allem für die Vielheit von Verkehrsdelikten. Gerade das Tagesbußensystem bei der Geldstrafe eröffnet gerechte Straffindungen. Je stärker jedoch die Tat durch die Persönlichkeit des Täters bestimmt wird, um so weniger sind generelle Empfehlungen und Wegweisungen möglich. Das Taxensystem kann bei schwereren Straftaten zu erheblichen Ungerechtigkeiten führen. Anpassungstendenzen können sich auch aus rein äußeren Umständen ergeben. Die Zahl der an sich möglichen Strafgrößen verringert sich aus der psychologisch zu erklärenden Tendenz, für die Strafhöhe sich an gewisse Strafgrößen zu halten. Je höher die Strafe ausfällt, um so mehr Einzelgrößen fallen aus. Eine Strafe von einem Jahr einem Monat und sechs Tagen kommt als Einzelstrafe nicht vor (Peters 1932, 92; Rolinski 1969; Schöch 1973, 39). Man spricht hier neuerdings von „Prägnanztendenz". 5. Die Anwendung der gesetzlichen Bewertungsgrundlagen und Bewertungsgesichtspunkte 1. Aus den heute geltenden Bestimmungen ergibt sich gegenüber dem früheren Rechtszustand eine Festlegung der für die Strafzumessung maßgeblichen Strafzwecke. Nur solche Strafzwecke können bei der Strafzumessung verfolgt werden, die mit dem Schuldausgleich und der Resozialisierung verknüpft werden können. Generalpräventive Gesichtspunkte haben daher keinen Raum mehr. Soweit in §§ 47 I, 56 I I I StGB die Rede von der Verteidigung der Rechtsordnung ist, ist dieser Begriff sicherlich auch generalpräventionell zu verstehen. Er berührt jedoch nur die Frage der Anwendung der Freiheitsstrafe unter 6 Monaten und der Vollstreckung der Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten, nicht aber bestimmt sich nach ihm die Strafhöhe. Abgesehen von diesen Sonderfragen scheiden generalpräventionelle Gesichtspunkte aus. Ihnen wird in der gesetzlichen Strafandrohung Rechnung getragen. Nur in begrenztem Umfang dient die Strafe dem Sicherungszweck. Um ihn zu erreichen, stellt das Gesetz vornehmlich Maßregeln zur Verfügung. Sicherungsgesichtspunkte können aus § 46 StGB selbst nicht entnommen werden. Dennoch begründet die Vorschrift keine reine Schuld- und Wiedereingliedrungsbemessung. Die Schuld ist nur die Grundlage und Resozialisierung ein nur zu berücksichtigender Umstand. Aus den in § 46 I
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StGB angeführten Einzelgesichtspunkten ergeben sich Erwägungen, die teils das Unrecht (Maß der Pflichtwidrigkeit), teils die Persönlichkeit, aber eben nicht nur in ihrer Schuldverknüpfung, teils den Tatvorgang betreffen. Die Ortsbestimmung der einzelnen Gesichtspunkte wird dadurch erschwert, daß das Gesetz zwar den Begriff der Schuld anführt, aber gerade dieser Begriff in Rechtsprechung und Wissenschaft äußerst verschieden verstanden wird. Wer Schuld als persönlich zu verantwortendes Versagen auffaßt, wird die Frage, inwieweit die Beweggründe, die Gesinnung oder der Wille, die in der Tat zum Ausdruck kommenden Umstände Schuld und Schuldgrad bestimmen, trotz grundsätzlicher Anerkennung der Schuld im einzelnen nicht beantworten können. Das zwingt dazu, das Maß des objektiven Abweichens von dem zu Erwartenden und Gebotenen in Rechnung zu stellen. Das bedeutet aber nicht mehr einen echten Schuldausgleich, sondern Tatausgleich auf der Grundlage einer ethisch und rechtsphilosophisch angenommenen Schuld. Der Tatmaßstab ist Vergeltung. Wenn auch der Begriff der Vergeltung heute wenig Anklang findet, ist er doch aus dem Gesetz nicht eliminiert noch überhaupt eliminierbar. Weder der Schuldgedanke noch der Resozialisierungsgedanke führt zu einer bestimmbaren Strafgrößenordnung. Diese wird durch ein Verhältnismäßigkeitsurteil unter Verwendung der im Gesetz angeführten Gesichtspunkte sowie sonstiger Daten aus Schuld und Wiedereingliederungsziel gewonnen. Der Sühnegedanke ist im Gesetz nicht erwähnt. Sühne bedeutet die Loslösung von Schuld und Unrecht durch Aufsichnehmen des Leidens. Sie ist eine persönliche Leistung zur Gewinnung geistig-seelischer Freiheit. Sie hängt somit mit Schuld und Persönlichkeitsgestaltung eng zusammen. Sühne hat es weniger mit Vergeltung als mit Spezialprävention zu tun. Ob sie verwirklicht wird, hängt wie bei allen individualisierenden Strafzwecken vom Täter ab. Wegen ihres hohen ethischen Charakters kann der Gedanke der Sühne nur bei schweren Straftaten in Betracht kommen. Im Rahmen der nach § 46 StGB anzustellenden Erwägungen können auch Sühneerwägungen angestellt werden. Die Regelung der Strafzumessung im Strafgesetzbuch bringt zwar eine einheitliche Ausgangssituation. Jedoch kommen je nach den Umständen der Tat weitere nichtbenannte Umstände zur Anwendung. Die einzelnen gesetzlichen Gesichtspunkte führen zu weiteren Untergesichtspunkten. So schieben sich in die Art der Ausführung und der verschuldeten Auswirkungen der Tat die Erkenntnisse der Viktimologie ein. Die in Betracht kommenden Umstände können allgemeiner oder besonderer jeweils auf den einzelnen Tatbestand ausgerichteter Art sein. In letzterer Hinsicht harrt immer noch der Besondere Teil der Strafzumessung
Strafzumessung
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der Lösung. Wichtige Vorarbeiten sind auf Teilgebieten geleistet, so vor allem für die Straßenverkehrsdelikte von Kaiser und Schöch. Trotz aller Anpassung an Gesetz und Rechtsprechung bleibt eine Verschiedenheit in den anzuwendenden Gesichtspunkten bestehen. Noch uneinheitlicher ist die Wertung der Gesichtspunkte, vor allem in ihrer Gesamtabwägung (§ 46 II StGB). 6. Der
Bewertungsvorgang
Die Berücksichtigung der Ziele und Gesichtspunkte der Strafzumessung geht in einem Akt vor sich. Der einzelne Gesichtspunkt wird nicht punktuell gewertet. Es findet keine Addition, Subtraktion und Summierung statt. Die Strafe wird vielmehr in einer Gesamtabwägung gefunden. Dabei mögen manche Umstände stärker ins Gewicht fallen als andere. Dem einen oder anderen kommt, selbst wenn er im Urteil erwähnt ist, unter Umständen überhaupt keine Bedeutung zu. Daraus ergibt sich die Fragwürdigkeit eines Verfahrens, in dem die Fehlerhaftigkeit der Strafzumessung aus einem Einzelumstand hergeleitet wird, sofern dessen Einfluß nicht offensichtlich ist. Das gilt beispielsweise von der in § 46 I I I StGB ausdrücklich erwähnten und in Rechtsprechung und Schrifttum vielfach behandelten Doppelbewertung. Es handelt sich um den Fall, daß ein Tatbestandsmerkmal oder der gesetzliche Grund bei der Strafzumessung nochmals auftaucht, wie beim Totschlag die Tötung eines Menschen, beim Meineid die Gefährdung der Rechtspflege. Solche Hinweise bedeuten in aller Regel ein Gesamturteil über die Schwere der konkreten Tat. Ebensowenig bringen § 50 StGB (Verbot der Doppelberücksichtigung von Milderungsgründen) oder Bemühungen, bei Tateinheit die Strafe im Additionsverfahren zu erhöhen, wirkliche Lösungen. Selbst bei Tatmehrheit wird in der Parxis die Strafe zunächst meist einheitlich gefunden und erst dann zerlegt. Dieses Verfahren entspricht einem persönlichkeitsbezogenen Strafrecht. Bedenken bestehen auch gegen die Praktikabilität der Spielraumtheorie. Sie beruht ebenfalls auf der Vorstellung einer stufenweise vor sich gehenden Strafzumessung. Es soll zunächst aufgrund des Schuldausgleichs- und Resozialisierungsgedankens ein Rahmen gefunden werden, innerhalb dessen nach weiteren Zweckgesichtspunkten die nähere Strafgröße bestimmt wird. Aufgabe der Strafzumessungslehre ist es zu untersuchen, wie der Einzelgesamtakt der Strafzumessung zustande kommt und inwieweit es möglich ist, ihn zu objektivieren und, soweit das nicht möglich ist, den von einem gewissen Punkt ab rein subjektiven Bewertungsvorgang sachbestimmt entstehen zu lassen. Soll die Gesamtbewertung nicht willkürlich sein, so bedarf der
sich im Richter abspielende Vorgang der Sachbindung. Die objektiven Grundlagen des Strafzumessungsvorgangs ergeben sich einmal aus der einzelnen Sache (Tat), sodann aus der sachgebundenen Bewertung. a) Aus dem Tathergang sind die Strafzumessungstatsachen zu gewinnen, d. h. jene Umstände, die überhaupt erst eine Strafzumessung ermöglichen. Solche Tatsachen können in der Tat selbst, in den Verhältnissen vor und nach der Tat, aber auch in der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung liegen. Ansätze in dieser Richtung bringt § 46 StGB. Doch bleibt vieles unklar und unsicher. Die Tat liegt in dem Lebensgang eingebettet Sie kann ein einmaliges Herausfallen aus einer dem Recht entsprechenden Lebensführung sein. Sie kann persönlichkeitsfremd sein. Sie kann aber auch ein in das Lebensbild sich einfügendes Ereignis sein. Einzeltatschuld kann Ausdruck einer Lebensführungsschuld sein. Einzeltatschuld und Lebensführungsschuld sind keineswegs Gegensätze. Die stärkere Verwurzelung der Tat in der Persönlichkeit führt zu verstärkter Betonung präventiver Gedanken, vor allem der Resozialisierung. Die in der Tat zum Ausdruck kommende Täterhaltung ist bestimmt durch Anlage, Umwelt (soziale Bezüge), Lebensereignisse, Auseinandersetzung mit den ihn bedrohenden Kräften, dem Bösen, und den Fähigkeiten zur Formung seiner Persönlichkeit. Die Tat ist äußerst vielfältig verwurzelt. Dadurch wird nicht nur die Bestimmung des Schuldmaßes, sondern auch die Prognose erschwert. Bei dem Prognoseurteil sind auch die Auswirkungen des Strafvollzugs mitzuberücksichtigen. Sie hängen einmal von der Strafempfänglichkeit und Strafempfindlichkeit des Verurteilten ab, sodann aber auch von den Möglichkeiten des Strafvollzugs. Diese lassen sich aber nicht nur generell erfassen, sondern werden auch durch die Verhältnisse der einzelnen Vollzugseinrichtungen bestimmt. Demnach müßte der Richter die allgemeinen Vollzugsprobleme und den speziellen Vollzugshergang kennen. Das ist jedoch beides nicht der Fall. Selbst ein Richter, der über die allgemeinen Strafvollzugsverhältnisse Bescheid weiß, weiß nicht, in welcher Anstalt und in welcher konkreten Einrichtung die Strafe oder Maßregel vollzogen wird. Die Untersuchungen über die Fehlerquellen im Strafprozeß lassen erkennen, wie vielen Ungewißheiten bereits die Feststellung der objektiven Vorgänge und der subjektiven Tatelemente (Vorsatz, Schuldfähigkeit) unterworfen ist. Die Persönlichkeitskenntnis, die Beziehungen Tat-Persönlichkeit und die künftige Persönlichkeitshaltung liegen in noch weit höherem Maß im dunklen. J e weiter sich die Strafzumessungstatsachen vom äußeren Vorgang entfernen, je mehr sie im Persönlich-
Strafzumessung keitsbereich liegen, um so schwieriger werden Ermittlung und Bewertung. In welchem Rahmen sich die Ermittlungen der Strafzumessungstatsachen zu erstrecken haben, hängt vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab. Er wird bestimmt durch die Bedeutung der Tat und die zu bestimmende Reaktion. Der Kreis der heranzuziehenden Tatsachen ist weder geschlossen noch festliegend. Wie die Sachverhaltsfeststellung stößt auch die Ermittlung von Strafzumessungstatsachen an rechtliche Grenzen. Auch sie unterliegt Beweisverboten. Grenzen der Ermittlung werden durch das Grundgesetz errichtet. Ermittlungen und Untersuchungsmethoden, die die Menschenwürde antasten oder in Grundrechte eingreifen sind unzulässig. Wichtige Erkenntnismöglichkeiten werden durch das Bundeszentralregistergesetz, vor allem §§ 49, 50, ausgeschlossen. Auf diese Weise wird die angemessene und richtige Reaktion unter Umständen sogar verhindert. b) Bei der Bewertung der Strafzumessungstatsachen geht es um Richtung und Gewicht. Je nach der Deliktsart kann dieselbe Tatsache mildernd oder strafschärfend wirken. Alkoholgenuß kann bei dem einen Delikt, so beim Sittlichkeitsdelikt, strafmildernd, bei anderen, so beim Straßenverkehrsdelikt straferhöhend wirken. Auch bei ein und derselben Straftat kann ein Gesichtspunkt sich verschieden auswirken. Schlechte Erziehungsverhältnisse oder verminderte Schuldfähigkeit verringert den Schuldvorwurf, kann aber das Sicherungsbedürfnis vermehren oder erhöhte Strafdauer unter dem Resozialisierungsgesichtspunkt erfordern. Inwieweit ein Gesichtspunkt überhaupt in die Bewertung einfließt, hängt von den Umständen der Tat ab. So kann Rückfall den Schuldvorwurf oder die Resozialisierungsnotwendigkeit begründen und die Strafe erhöhen oder aber für die Bewertung ohne Bedeutung oder nur unter einem bestimmten Aspekt (Schuld, Gefährlichkeit, Resozialisierung) von Bedeutung sein. Mit welchem Gewicht eine Strafzumessungstatsache in Ansatz zu bringen ist, hängt je nach dem Zielansatz von sozialethischen und kriminologischen Gesichtspunkten ab. Schuld, Resozialisierung, Sicherung haben völlig verschiedene Bewertungsgrundlagen. Auch hier müssen wiederum in gegenseitiger Abwägung die Gewichte verteilt werden. So notwendig und wichtig die Sachbindung des Richters bei der Strafzumessung auch ist, so übt sie doch nur eine begrenzte Wirkung aus. Schon das Was der Wertung läßt vieles offen und ist nur vom Einzelfall her unter einem Bewegungsraum richterlicher Auswahl genauer bestimmbar. Erst recht ist das Wie der Strafzumessungswertung generell nicht bestimmbar. Die Begrenzung des Ermessens bei der Bestimmung des Beweisum-
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fangs, selbst bei der Beweiswürdigung, ist mit Rücksicht auf die Gesetze der Logik und der Kriminalistik leichter zu bestimmen als die Beschränkung der Freiheit der richterlichen Strafzumessung. Was der Richter für seine Entscheidung für erforderlich hält und wie er wertet, ist zu einem wesentlichen Teil rechtlich nicht umschreibbar. Schon die Frage, ob eine bestimmte Strafhöhe milde oder schwer ist, wird von dem einzelnen Richter verschieden beantwortet.
7.
Richterpersönlichkeit
Ist der Bewertungsvorgang weithin ein persönlicher Entscheidungsakt, so drängt sich die Frage auf, welche Umstände für die Bestimmung des Strafmaßes beim Richter maßgeblich sind. Mit der Beantwortung dieser Frage befassen sich R i c h t e r p s y c h o l o g i e und R i c h t e r s o z i o l o g i e . Dabei handelt es sich keineswegs um Fragestellungen, die erst neuester Zeit sind. Bendix hat sich schon vor mehr als 60 Jahren mit Fragen der psychologischen Grundlagen richterlicher Entscheidungstätigkeit befaßt. Ich selbst habe schon 1932 auf den Zusammenhang von Richterpersönlichkeit und Strafzumessung hingewiesen. Die Fragestellung erfordert nach wie vor eine Antwort, freilich losgelöst von Ideologie und Voreingenommenheit. Wie bei jedem Menschen beruhen die Wertungen auch beim Richter auf seinen Anlagen, vor allem seinem Charakter, seiner Erziehung, Bildung und Ausbildung, seinen Erfahrungen und Erlebnissen, seiner Persönlichkeits- und Lebensgestaltung. Die Fähigkeit, zuzuhören und sich in andere hineinzuversetzen, bewahrt ihn vor Voreingenommenheit. Politische, weltanschauliche und soziale Auffassungen können sich auswirken. Entscheidend ist aber wiederum, wie der Richter sie verarbeitet hat. Vor Vereinfachungen muß gewarnt werden. Es kann ein Richter objektiv sehr strenge sittliche Vorstellungen haben, subjektiv jedoch sehr nachdrücklich davon durchdrungen sein, daß der Mensch in der Gebrochenheit lebt, daß er dem Bösen ausgesetzt ist und auch in der Verurteilung der Mitmenschlichkeit bedarf. Ebensowenig kann der Mangel richterlicher Strafzumessung aus Schichtengegensätzen hergeleitet werden. Abgesehen davon, daß der Angeklagte bei einer ganzen Anzahl von Delikten aus denselben Schichten stammt wie der Richter (so bei Straßenverkehrsdelikten, Amtsdelikten, u. U. auch Sittlichkeitsdelikten), braucht die verschiedene Schichtzugehörigkeit kein Anlaß zu einer unsachlichen Wertung zu sein. Der Schichtfremde kann sogar möglicherweise sachlicher urteilen als der Schichtzugehörige, zumal die Tat des Fremden ihn in seinem Wertgefühl weniger berührt. Anhänger der Meinung, das richterliche Verhalten werde durch die Schicht, aus der der
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Strafzumessung
Richter stammt, bestimmt, übersehen zudem, daß sich nicht von der Schichtzugehörigkeit, sondern eine gewisse (durchaus zu begrüßende) Anpassung von der Berufs- und Gerichtszugehörigkeit ergibt. Durch diese vollzieht sich der schon behandelte Anpassungsvorgang. Bs bildet sich durch wechselseitige Einflüsse und Übung eine zwar nicht bindende, aber doch in gewissem Umfang wirkende einheitliche Grundlage. In ihr kommen auch Gesellschaftsauffassungen zur Geltung, da der Richter selbst Glied der Gesellschaft ist. Inwieweit das Laienrichtertum sich auswirkt, wäre noch näher zu überprüfen. Jedenfalls ist die richterliche Strafzumessung auch ein von außen bestimmter Vorgang. Alles das kann im Einzelfall nicht verhindern, daß eine Strafe übermäßig hoch ausfällt. Selbst Voreingenommenheiten und Stimmungen können nicht ausgeschlossen werden. Ihnen läßt sich nur durch Selbstdisziplin des Richters, durch eine geeignete juristische und kriminologische Ausbildung und eine sorgfältige Persönlichkeitsauswahl begegnen. Die Lösung kann nur von der Berufsethik gefunden werden. Umstände, die dem Richter vielfach nicht zum Bewußtsein kommen, können sich auch aus der Hauptverhandlung ergeben. Es kann von Bedeutung sein, mit welcher Unmittelbarkeit und Lebendigkeit der Sachverhalt vor dem Gericht ausgebreitet wird. So kann ein Zeuge den Sachverhalt mehr oder weniger eindringlich darstellen. Das Ergebnis eines Unfalls kann durch Lichtbilder verdeutlicht werden. Der Staatsanwalt kann in mehr oder weniger mitreißender Weise den Belastungsgründen Geltung verschaffen. Die Art und Weise der Verteidigung des Angeklagten, dessen geschicktes oder ungeschicktes Verhalten, kann Wohlwollen oder Mißfallen des Gerichts herbeiführen. Der Verteidiger kann Wogen aufwühlen oder glätten. Sicherlich können solche Umstände auch der Sache dienen. Sie können aber auch das Ergebnis negativ beeinflussen. Zu den das Strafmaß leicht beeinflussenden strafzumessungsfremden Gründen kann die Tatsache und Dauer der Untersuchungshaft gehören. Es können sich bei der Strafzumessung sachliche und unsachliche Gründe miteinander vermengen. Der Richter braucht sich der Unsachlichkeit nicht einmal bewußt zu werden. Selbst wenn er die ihm maßgeblich erscheinenden Gesichtspunkte in Betracht zieht, besteht nicht einmal die Sicherheit, daß es gerade diese Gesichtspunkte sind, die das Strafmaß entscheidend bestimmt haben. Darin liegt die Fragwürdigkeit der im Urteil erwähnten Strafzumessungsgründe, deren Mitteilung nach § 267 III S. 1 StPO vorgeschrieben ist. Es kann durchaus vorkommen, daß die rational möglicherweise erst bei der schriftlichen Urteilsabfassung gewonnenen Strafzumessungsgründe nicht die wirklichen Strafzumessungsgründe sind.
8. Kontrolle der
Strafzumessung
Eine Kontrolle der Strafzumessung findet in der Rechtsmittelinstanz statt. Im Berufungsverfahren ergeben sich keine besondere Probleme, da hier die Strafzumessung in gleicher Weise wie in der Vorinstanz vor sich geht. Anstoß erregt der sog. „Berufungsrabatt". Geringfügige Änderungen bei gleichbleibendem Sachverhalt sind manchmal tatsächlich nicht recht verständlich. Jedoch kann eine andere Bewertung durch das Berufungsgericht daran liegen, daß die von der Vorinstanz im Urteil angegebenen Gründe Ergänzungen oder Berichtigungen finden. Nicht selten lassen sich Gesichtspunkte erst einführen, wenn ein Urteil mit Gründen vorliegt. Gerade dieser Umstand mag eine geänderte Strafzumessung in der Berufungsinstanz erklären. Ist auch die Strafzumessung des Berufungsgerichts selbständig, so ist, falls der Angeklagte allein oder der Staatsanwalt zu seinen Gunsten Berufung eingelegt hat, das Verbot der Schlechterstellung (reformatio in peius) zu beachten. Der Angriff auf die Strafzumessung kann mittelbar dadurch erfolgen, daß das Urteil als Ganzes in Frage gestellt wird. Haddenhorts (1971) hat in seiner Untersuchung über die Folgewirkungen der Verfahrensrüge festgestellt, daß 19,7% der Verfahren bei erfolgreicher Verfahrensrüge in der neuen Hauptverhandlung mit zum Teil erheblichen Änderungen im Strafmaß abgeschlossen worden sind. Durch die bloße Strafzumessungsrevision kann der Strafausspruch jedoch auch unmittelbar angegriffen werden. In diesem Fall muß ein Rechtsfehler im Strafzumessungsvorgang dargetan werden. Wer, wie Bruns die Strafzumessung für einen Rechtsakt mit einem bloßen Beurteilungsspielraum hält, rügt einen Subsumtionsfehler. Wer den Vorgang für einen Ermessensakt hält, beanstandet einen Ermessensfehler. Ob sich daraus wirklich praktische Verschiedenheiten ergeben, erscheint fraglich. Nach beiden Auffassungen kann vor allem folgenden Fehlern begegnet werden: a) Anwendung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Strafe (Freiheitsentzug, obwohl nur Geldstrafe vorgesehen). Falsche Gesetzesanwendung, Ermessensbetätigung innerhalb eines gesetzlich nicht vorgesehenen Rahmens. b) Übersehen des Vorhandenseins mehrerer Strafrahmen. Nichtbeachtung mehrerer Möglichkeiten als Rechtsanwendungsfehler und als Ermessensfehler infolge Nichtbeachtung des wirklich vorhandenen Ermessensraums. c) Fehlerhafte Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von Strafzwecken, Nichtheranziehung gesetzlich vorgeschriebener oder sonst sachbezogener Gesichtspunkte oder Berücksichti-
Strafzumessung gung gesetzlich nicht zulässiger oder sachunerheblicher Umstände. Fehler in der Subsumtion oder fehlerhafte Ermessensanwendung. d) Verwertung von Gesichtspunkten in falscher Richtung oder in sachunrichtiger gegenseitiger Abwägung. Auch hier führen die grundlegenden Theorien zu keinem anderen Ergebnis. e) Falscher Bewertungsmaßstab. Zunächst kommen Übermaß und Untermaß in Betracht. Das Strafmaß ist offensichtlich unverständlich, unhaltbar und mit der Gerechtigkeit nicht vereinbar. Das bedeutet nach der einen Auffassung eine falsche Subsumtion, nach der anderen Auffassung einen Ermessensmißbrauch. Mit Recht weist Bruns jedoch auch auf die Fälle hin, in denen der Mangel nicht offensichtlich ist, die Strafe aber außerhalb des bei den Gerichten allgemein üblichen Rahmens liegt. Die Revisionsrechtsprechung neigt dazu, den Strafausspruch nicht zu beanstanden und die Verantwortung für das Strafmaß dem Tatrichter zu überlassen. Es läßt daher eine Strafmaßrüge mit der Begründung, die Strafe sei gegenüber den sonstigen Strafen zu hoch oder zu niedrig, nicht zu. Dieser Standpunkt ist nicht richtig. Er verstößt gegen die gleichmäßige Anwendung des Rechts. Er überliefert den Strafausspruch einem nach außen erkennbar hervorgetretenen Subjektivismus. Sicherlich läßt sich die subjektive Auffassung des Richters nicht ausschließen. Das soll auch nicht geschehen. Aber der Subjektivismus darf sich nur in einem gewissen, noch erträglichen Maß auswirken. Wo solche Grenzen erkennbar überschritten sind, ist die objektive Grundlage der Rechtsprechung gefährdet. Das Revisionsgericht soll und kann nicht soziologische vergleichende Urteilsstudien betreiben. Jedoch kann es feststellen, daß das erkannte Strafmaß erkennbar außerhalb der in der Revisionsinstanz gewonnenen Erkenntnisse über übliche und annehmbare Strafgrößen liegt. Im Grund ist der Kern jeder Strafmaßbeanstandung das zu hohe oder zu niedrige Strafmaß. Häufig ist es möglich, einen bestimmten Grund beizubringen, so daß es einer bloßen Bewertungsrüge nicht bedarf. Schließt man die allgemeine Bewertungsrüge aus, so werden die möglicherweise schwerstwiegenden Fälle aus dem Revisionsbereich ausgeschieden, dagegen wird möglicherweise Mängeln, die sich letzten Endes in einer Gesamtbewertung nicht auswirken, eine übermäßige Bedeutung zugemessen. Auch hier zeigt sich wiederum, daß der Darstellungsrüge eine höhere Bedeutung zukommt als der Inhaltsrüge. Sicherlich kann der falsche Inhalt oftmals nur durch die Darstellung erkannt werden. Auf der anderen Seite kann die richtige Darstellung jedoch auch Fehler in sich bergen, die allein aus dem Bewertungsergebnis deutlich werden. Stellt man entscheidend auf die Darstellungsrüge ab, so ver-
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schiebt sich die Revision von einer Abwägungsprüfung auf eine bloße Urteilsabfassungsprüfung. Auch bei der Strafmaßrevision kann es Rügen fehlerhaften richterlichen Verhaltens geben. Hervorzuheben ist die Aufklärungsrüge. Sie beruht darauf, daß sich dem Gericht hätte aufdrängen müssen, bestimmte Strafzumessungstatsachen zu klären, insbesondere bestimmte Zeugen oder Sachverständige zu vernehmen. Auch spezielle Verfahrensfehler, wie Mängel hinsichtlich der Vereidigung, falsche Gerichtsbesetzung, zu Unrecht erfolgte Abweisung eines Ablehnungsantrages können eine Strafmaßrevision begründen. Ist die Entscheidung rechtskräftig, so kann sie nach § 363 StPO nicht im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens zum Zwecke der Änderung des Strafmaßes angegriffen werden. Selbst wenn das Gericht zu Unrecht wichtige Strafzumessungstatsachen, wie ζ. B. verminderte Schuldfähigkeit, schwerwiegendes Fehlverhalten des Opfers, unberücksichtigt gelassen hat und eine erhebliche Änderung des Strafmaßes angebracht wäre (ζ. B. eine zeitige Freiheitsstrafe weit geringeren Umfangs oder eine zeitige Freiheitsstrafe statt einer lebenslangen), ist eine Wiederaufnahme nicht möglich. Eine Änderung kann nur im Gnadenverfahren erfolgen. Der Widerstand der Gnadenträger gegenüber Urteilsberichtigungen läßt praktisch freilich wenig Hoffnung für den Betroffenen. 9. Die Hauptverhandlung
als
Zentralstelle
Je schwieriger die Rechtskontrolle ist, um so mehr kommt es auf die Sicherung einer zuverlässigen Strafzumessung in der Hauptverhandlung an. Beweiswürdigung und Strafzumessung sind die beiden neuralgischen Punkte eines Eindringens eines mit der Rechtsstaatlichkeit nicht vereinbaren richterlichen Subjektivismus. Sicherlich kann dieser, wie schon betont wurde, nicht ausgeschlossen werden. So entsteht das Problem der Verknüpfung von Objektivität und Subjektivität. Die Frage ist, inwieweit kann dort, wo die Subjektivität des Richters unentbehrlich ist, dennoch Objektivität als Grundlage gesichert werden. Das kann zunächst einmal durch eine hinreichende Juristenausbildung in der Strafzumessungslehre und der dazu erforderlichen außerjuristischen Kenntnisse erfolgen. Darüber ist schon beim Problem der Anpassung gesprochen worden. Der Objektivierung können weiterhin Verfahrens Vorschriften dienen. Daß die Verpflichtung zur Angabe der wesentlichen Strafzumessungsgründe nicht allzuweit führt, ist ebenfalls schon betont worden. Wichtiger erscheint mir, die Bedeutung der Strafzumessungsbehandlung vor Gericht herauszustellen. Die Hauptverhandlung hat es mit dem Schuldspruch und Strafausspruch zu tun. Die Erörterung der Strafzumessungstatsachen tritt in aller Regel
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Strafzumessung
gegenüber der Untersuchung der Täterschaft u n d der Schuld zurück. D a ß auch der Schuldspruch fehlerhaft sein kann, wird an den Untersuchungen über die Fehlerquellen i m Strafprozeß deutlich. A n der Sorgfältigkeit dieser Untersuchungen k a n n daher kein Abstrich g e m a c h t werden. Vielmehr ist es erforderlich, jedenfalls in schwerwiegenden Sachen, in denen m i t Freiheitsstrafen zu rechnen ist, die Untersuchung zur R e a k t i o n nicht weniger eingehend zu gestalten. Als ein wesentliches Ermittlungsorgan h a t die S t P O in ihrer neuesten Fassung die Gerichtshilfe eingeführt. Die Untersuchung zur Reaktion k a n n in einer einheitlichen Hauptverhandlung (u. U . m i t einer Unterbrechung) oder aber in einer formal zweigeteilten Verhandlung stattfinden. In der Reformdiskussion spielt das Problem der Zweiteilung der H a u p t v e r h a n d l u n g (Blau, Fischinger, Peters 1975, Weiterführung bei Horn 1973) eine erhebliche Rolle. Der Wandel des Tatstrafrechts z u m Täterstrairecht, in Wirklichkeit die U m g e s t a l t u n g des Strafrechts zu e i n e m stärker persönlichkeitsbezogenen Tatstrafrecht, m a c h t ohnehin Überlegungen notwendig, die der Strafzumessung zugute k o m m e n .
Lehrbücher, Monographien, Festschriften E. A l t a v i l l a : Forensische Psychologie, 2 Bd. (hrsg. von G. B o h n e — W. Sax). Graz-Wien-Köln 1955. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 3. Aufl. Heidelberg 1923. S. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. Tübingen 1949. J. B a u m a n n : Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. Bielefeld 1975. L. B e n d i x : Zur Psychologie der Urteilstätigkeit des Berufsrichters (hrsg. von M. Weiss). Neuwied-Berlin 1968. Έ. B l a n k e n b u r g (Hrsg.): Empirische Rechtssoziologie. MUnchen 1975. G. B o h n e : Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung. Köln 1948. H . - J . B r u n s : Strafzumessungsrecht. Gesamtdarstellung, 2. Aufl. Köln-Berlin-Bonn-München 1974. H. B u e r s c h a p e r : Soziale Strafrechtspflege. Juristische, psychologische und soziologische Probleme der Strafzumessung und des Strafvollzugs. Leipzig 1929. H. D a h s : Handbuch des Strafverteidigers, 3. Aufl. KölnMarienburg 1971. H. D a h s — H. D a h s : Die Revision im Strafprozeß. München 1972. H. Ch. D e c h S n e : Verwahrlosung und Delinquenz. Profil einer Kriminalpsychologie. München 1975. E. D r e h e r : Über die gerechte Strafe. Theoretische Untersuchung für die deutsche strafrechtliche Praxis. Heidelberg 1947. E. D r e h e r : Strafgesetzbuch, 36. Aufl. München 1976. H. D r o s t : Das Ermessen des Strafrichters. Berlin 1930. H. D u b s : Analytische Bewertung als Grundlage richterlicher Strafzumessung. Festgabe zum Schweizerischen Jurlstentag Basel 1Θ63. K. E n g i s c h : Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken. München 1963. K. E n g i s c h : Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie. München 1971. F. E i n e r : Gerechtigkeit und Richteramt. Leipzig 1922. F. E x n e r : Studien über die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte. Leipzig 1931.
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Historische Kriminologie
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HISTORISCHE KRIMINOLOGIE I. DEFINITIONEN UND ABGRENZUNGEN A. Kriminologie Kriminologie wird nicht einheitlich definiert, Hans Joachim Schneider (1974) hat eine Reihe recht verschiedener Definitionen über Gegenstände und Aufgaben der Kriminologie zusammengestellt (S. 229—235). Einige Forscher wollen die Tätigkeit des Kriminologen nur auf die Untersuchung von Tat und Täter eines Deliktes beschränkt sehen, andere beziehen Strafe, Strafgerichtsbarkeit und Strafvollzug in allen Formen in den Forschungsbereich der Kriminologie mit ein (Stephen Schafer 1976, S. 3; Armand Mergen 1978, S. 1). Die wohl kürzeste Formel hat Hans von Hentig gefunden; er definiert Kriminologie als die bekannten Tatsachen über das Verbrechen und die Verbrechenskontrolle (1947, S. 1). Im Sinne dieser Formel soll in den folgenden Ausführungen Kriminologie als interdisziplinäre Wissenschaft verstanden werden, die mit aus verschiedenen Disziplinen herrührenden Methoden Tat, Täter und Opfer eines crimen im weitesten Sinne untersucht und in diese Untersuchung die Arbeit von Polizei, Justiz und Strafvollzug mit einbezieht. Die Geschichte der Kriminologie - nicht zu verwechseln mit der historischen Kriminologie - ist schon häufig dargestellt worden, so von Karl O. Christiansen bei Rudolf Sieverts, Hans Joachim Schneider (1977, S. 190-195). Hermann Mannheim hat die Beschreibung von Lebensläufen bedeutender Kriminologen herausgegeben (1960). Die Entwicklung der verschiedenen Richtungen der Kriminologie wurde von Achim Mechler (1970), Teodolindo Castiglione (1970) und Rüdiger Herren (1973) dargestellt.
B. Rechtsgeschichte Bei der Einbeziehung der Verbrechenskontrolle und damit der Strafgesetzgebung und ihrer Geschichte überschneidet sich die Kriminologie mit der traditionellen Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell (1972) hat die deutsche Rechtsgeschichte als eine Wissenschaftsdisziplin definiert, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in bewußter Abgrenzung gegen die römische Rechtsgeschichte entstanden ist und es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Geschichte des Rechts germanischer Herkunft in Deutschland zu erforschen und darzustellen (1972, S. 10; Waldemar Besson 1961, S. 316-322).
C. Kulturwissenschaft Die Kulturwissenschaft überschneidet sich mit der Kriminologie und der Rechtsgeschichte; kaum ein
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Historische Kriminologie Kriminologe hat so eindringlich versucht, die Ergebnisse der Kulturwissenschaft für die Kriminologie fruchtbar zu machen wie Hans von Hentig (1973). Er hat nicht nur das Material der „positiven" Wissenschaften verwertet, sondern auch das der Dichtung, der Mythologie und der Welt der Legenden zu einer zweiten Wirklichkeit zusammengefügt, stets die Fakten vor die Theorie gesetzt und gehofft, daB sich die Theorie dann von selbst entwickele. In diesem Sinne hat Hans von Hentig früher schon sein Werk über den Ursprung der Henkersmahlzeit (1958) geschrieben, und aus seiner kriminalhistorischen Untersuchung über den .Desperado' wurde ihm unter der Hand eine kulturhistorische Studie (1956). D. Kriminalistik Auch im Verhältnis zur Kriminalistik ergeben sich für den Kriminologen Schwierigkeiten der Definition. Friedrich Geerds definierte die Kriminalistik als die Lehre von der unmittelbaren repressiven una präventiven Bekämpfung der Kriminalität durch die Strafverfolgungsorgane und ihre Helfer in der Lebenswirklichkeit (1977, S. 5; 1969, S. 15). Damit überschneidet sich die Kriminalistik mit der Kriminologie in ihrer umfassenderen Definition, was in der Praxis allerdings bisher nur zu wenig Schwierigkeiten geführt hat, denn die wissenschaftlichen Kriminologen haben sich bisher nur in geringem Umfange mit der Verbrechensbekämpfung, insbesondere durch die Polizei, beschäftigt. Friedrich Geerds hat auch die Abgrenzung der Kriminalistik zu anderen Disziplinen vorgenommen (1977, S. 10-18) und eine historische Kriminalistik entwickelt (1973). In dieser Disziplin ist der Stand der wissenschaftlichen Forschung noch ungünstiger als in der historischen Kriminologie, weil sich trotz der Erkenntnismöglichkeiten und des offensichtlichen Nutzens der historischen Kriminalistik nur wenige Forscher diesem Gebiet zugewendet haben (Friedrich Geerds 1977, S. 55), obwohl gerade der Kriminalist, d. h. in erster Linie der Polizeibeamte, dann der Aufgabe des Historikers besonders nahe kommt, wenn er sich bemüht, einen Fall aufzuklären, d. h. die Wahrheit zu finden (Helmut Seiffert 1977, S. 58; Abt 1943). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Wolfgang Ullrich die Geschichte der Verbrechensbekämpfung dargestellt (1961), es sei weiter auf die Bücher von Wolfgang Wehner (1963), Edwin Kube (1964), Frank Arnau (1962) und Jürgen Thorwald (1965, 1966) hingewiesen. Die beste Bibliographie über Verbrechen, Polizei und Prozesse ist die von HansHeinrich Huelke und Hans Etzler (1959, 1963). E. Allgemeine Geschichte Auch für die allgemeine Geschichte, an der das Interesse in den letzten Jahren spürbar gewachsen ist,
gibt es nur eine wenig scharfe, allumfassende Definition. Nach Aristoteles ist Geschichte ein Bericht der Taten und Leiden menschlicher Individuen. Noch einfacher, aber nicht klarer definiert, ist Geschichte das, was die Historiker tun (Isaiah Berlin 1976, S. 209). Weitere Definitionen finden sich bei Boris Schneider (1974). Man hat auch als Gegenstand der Geschichtswissenschaft das Wissen von der Vergangenheit bezeichnet oder, in der Formulierung Huizinga's, die „Rechenschaft einer Kultur über ihre Vergangenheit" (Waldemar Besson 1961, S. 80-81). F. Historische Kriminologie Die Historische Kriminologie ist, wenn man die obige Definition anwendet, das Wissen von der Vergangenheit, eingeschränkt auf das Wissen über das Verbrechen und seine Bekämpfung. Die Historische Kriminologie ist gleichzeitig Teilgebiet der Geschichte und damit deren Methoden unterworfen (Waldemar Besson 1961, S. 78 ff.) und mit denselben Problemen konfrontiert und eben?ο Teilgebiet der Kriminologie und mit deren Stärken und Schwächen behaftet. Die Historische Kriminologie ist noch nicht alt, bisher sind nur „Ansätze" vorhanden (Gustav Radbruch 1950, S. 68). Als erster Veisuch einer Zusammenfassung historisch-kriminologischer Einzelarbeiten ist das Buch von Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner (1951) anzusehen. Thomas Würtenberger forderte den Ausbau dieses neuen Wissenschaftszweiges (1957, S. 34). Karl S. Bader war zunächst gegenüber der Entwicklung einer Historischen Kriminologie sehr mißtrauisch (1956, S. 31), korrigierte dann aber seine Auffassung zu einem Teil und anerkannte, daß die Möglichkeiten der Historischen Kriminologie nicht für alle Zeiträume gleich gut und gleich schlecht sind (1962, S. 291). Von älteren größeren Arbeiten sind das zweibändige Werk von Luke Owen Pike (Neudruck 1968) sowie Georg Rusche und Otto Kirchheimer (Neudruck 1968), von jüngeren Arbeiten Frank Arnau (1966) und Christopher Hibbert (1963) zu nennen. In diesen Arbeiten zeigte es sich, daß die Verbindung zwischen Historie und Kriminologie eine sehr glückliche ist und eigentlich immer schon sehr eng war, wenn auch die Historiker wie Kriminologen auf gegenseitige Distanz hielten. Historie und Kriminologie haben starke Gemeinsamkeiten und eine ähnliche Entwicklung durchlaufen.
II. GESCHICHTE UND KRIMINOLOGIE A. Parallelen der Entwicklung In der allgemeinen Geschichte pflegte im letzten Jahrhundert der Historismus weithin den Kult des Individuums nach dem Grundsatz „Geschichte ist
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Historische Kriminologie
die Biographie großer Männer". Man schilderte Leben und Taten von Herrschern und Staatsmännern, wobei Kriege und Außenpolitik bevorzugt behandelt wurden. Es war eine Grundregel des Historismus, daß jede historische Individualität „einmalig" ist und nur aus ihrer Zeit und mit den ihr innewohnenden Maßstäben beurteilt werden darf. „Dem Historismus fehlte die Einsicht, wie sehr die Welt der Geschichte von Unvernunft beherrscht und in welchem Ausmaß das Vernünftige in der Geschichte nicht gefunden wird, sondern — wenn überhaupt erst einmal mühevoll und stückweise erreicht werden muß" (Georg G. Iggers 1971, S. 366). Zu derselben Zeit, in der der Historismus blühte, entdeckte Cesare Lombroso, der Vater der modernen Kriminologie, die Persönlichkeit des Straftäters; bis dahin hatten die Strafjuristen im wesentlichen nur die Tat beurteilt (Gerhard Simson 1972). Die biographische Methode in Geschichte und Kriminologie wurde später ergänzt und teilweise abgelöst durch das Aufkommen der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie und Psychologie. Unter dem Einfluß der nordamerikanischen Kriminologie drangen Soziologie und Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg sehr schnell in die deutsche Kriminologie ein; später beeinflußten sie auch die Geschichte, in der heute die Sozialgeschichte manchmal einen Absolutheitswert erreicht. Gleichzeitig entdeckten die Sozialwissenschaften aber auch für sich den Wert der historischen Betrachtungsweise (Wolfgang Mommsen 1974, S. 11-12; Waldemar Besson 1961, S. 314). Die bevorzugte Methode in der Soziologie und Psychologie ist bis heute die statistische; die Psychologie hält aber auch die Verbindung zu den Geisteswissenschaften und versucht, „den einzelnen Menschen in seiner Besonderheit und Einmaligkeit möglichst umfassend zu begreifen" (Herbert Selg, Wemer Bauer 1976, S. 18). In der Gegenwart befindet sich die Kriminologie im Wandel und ist dem Zeitgeist und Modeströmungen unterworfen (Günther Kaiser 1971 a, S. 885886). Obwohl die Soziologie in der Kriminologie eine weitaus größere Rolle spielt, als es in der Vergangenheit der Fall war, steht die Untersuchung der Täterpersönlichkeit jedoch „ungebrochen im Mittelpunkt kriminologischer Forschung" (Günther Kaiser 1971 b, S. 1095,1106). Die Erforschung der Kriminalität als Massenerscheinung und die der Persönlichkeit des Einzeltäters stehen als gleichwertige Aufgaben nebeneinander (Armand Mergen 1978, S. 2; Rudolf Sieverts, Hans Joachim Schneider 1977, S. 217-218). Die Verschiedenheit der Aufgaben bedingt eine Verschiedenheit der angewandten Untersuchungsmethoden bzw. eine Kombination derselben. Wir kennen in der Kriminologie die Einzelfalluntersuchung, die Reihen- und die Massenuntersuchung. Die Historische Kriminologie lehnt sich in ihrer Methodik naturgemäß eng an die Geschichtswissenschaft an (Friedrich Geerds 1977, S. 23-26, S. 45).
Wenn auch die modernen Historiker die Liebe zur Sozialgeschichte entdeckt haben, verzichten sie doch keineswegs auf die Biographien großer geschichtlicher Persönlichkeiten. Nach Michael Rostovtzeff (1941) wird es immer eine der Hauptaufgaben des Geschichtsforschers bleiben, bedeutende geschichtliche Charaktere zu zeichnen (S. 12). Die englische Historikerin C. V. Wedgwood, die durch ihre Bücher über Cromwell, Karl I. und Wilhelm von Oranien bekannt geworden ist, schrieb: „Für mich ist das Verhalten der Menschen als Individuen interessanter als ihr Verhalten in Gruppen oder Klassen. Man kann ebenso gut mit diesem wie mit irgendeinem anderen Vorurteil Geschichte schreiben, es ist nicht mehr und nicht weniger irreführend als andere" (Edward Hallett Carr 1963, S. 33-35, S. 45). Es sei noch ein Wort des Schriftstellers und Historikers Emil Ludwig angeführt: „Nicht von Wirtschaftszahlen wird die Weltgeschichte am stärksten entschieden, wie es heute die Mode will, sondern von menschlichen Leidenschaften . . . Wer geschichtliches Geschehen klar machen will, muß die Menschen darstellen, die es vollziehen" (Werner Schmidt 1950, S. 21-22). Fachhistoriker haben es Emil Ludwig zu seiner Zeit übelgenommen, daß er seine historischen Gestalten - zuweilen vielleicht allzu sehr - psychologisiert hat, und noch heute scheuen die Historiographen weithin vor psychologischen Deutungen zurück. Dagegen hat Nicolaus Sombart am Beispiel Adolf Hitlers die künftigen Aufgaben einer „Psychohistorie" skizziert, die in anderen Ländern schon die wissenschaftliche Autorität hat, die ihr bei uns noch versagt wird (FAZ19. 11. 1977). Auch der Historiker Joachim Fest hat neuerdings kritisiert, daß die Vertreter des sozialhistorischen Ansatzes fast durchweg nichts vom Menschen wissen - in nahezu allen ihren Arbeiten herrsche eine geisterhafte Leere - , und daß der Mensch doch nach wie vor im Zentrum der Geschichte stehe (FAZ 10. 12. 1977). Man mag sich an Jacob Burckhardt's (1974) Wort erinnert fühlen, daß das Zentrum der geschichtlichen Betrachtung der duldende, strebende und handelnde Mensch sei, „wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird".
B. Gemeinsame Aufgaben Geschichte und Historische Kriminologie bieten eine Reihe von gemeinsamen Themen an, und eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen ist von der Sache her notwendig. Die allgemeine Geschichte kann durch die „partikularen Aspekte" wie die Geschichte des Verbrechens und seiner Bekämpfung sinnvoll ergänzt werden (Reinhard Wittram 1968, S. 156). In der Beschreibung und Ergriindung des Individuums, sei dieses Staatsmann oder Verbrecher oder beides, können die Schwerpunkte der
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Historische Kriminologie Untersuchung je nach der Disziplin des Forschers verschieden liegen, sich aber sinnvoll ergänzen. Die guten und strahlenden Seiten eines Helden, die der Historiker beschreibt, können durch die Befunde des Kriminologen vervollständigt werden, der sich nicht nur mit den dunklen Seiten der amtlichen Tätigkeit, sondern auch mit denen des Privatlebens befaßt; beides gehört zur Geschichte und läßt sich nicht, wie man dies früher gerne getan hat, gänzlich voneinander trennen. Wenn der Kriminologe aufgrund seiner Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen ist, daß das Individuum ein „gemischter Charakter" ist, dann hat der bekannte englische Historiker G. P. Gooch dasselbe gesagt, wenn er darauf hinweist, daß ihn Geschichte als Bericht über Staatsmänner, Parteien und Regierungen nie befriedigt habe, „denn ich war schon in der Jugend zu dem Schluß gelangt, daß die Geschichte das Leben der Menschheit in all seiner Höhe, Weite und Tiefe umfaßt" . . . und daß jeder Mensch ein „vielschichtiges Wesen" ist (Fritz Stern 1964, S. 655, 649). Historiker und Kriminologen treffen sich beispielsweise auch im Interesse an politischen Verbrechen, insbesondere an politischen Morden, an Staatsstreichen und Revolutionen. Was heute als Verbrechen zunächst den Kriminologen interessiert, ist vielleicht morgen nach gelungenem Umsturz als Geschichte bevorzugter Gegenstand der Forschung für den Historiker; und was heute noch allein Geschichte ist, mag morgen, nach einer Revolution, zum Verbrechen gestempelt werden. Historiker haben Kriminologen häufig Material geliefert, so ζ. B. Thomas Macaulay in seinem Essay über Clive (1953). Robert Clive (1725-1774) gewann Indien für England. Er bahnte sich seinen Weg mit Betrug, Erpressung, Bestechung und Gewalt, und als er mit ungeheuren Reichtümern nach England zurückkehrte, machten ihm seine Neider den Prozeß. Thomas Macaulay weist auf einen Gesichtspunkt hin, der jeden Strafrichter angeht, weil er - in kleinerem Umfang natürlich - vor einem ähnlichen Dilemma stehen kann. „Die gewöhnliche Strafjustiz kennt nicht den Begriff der Kompensation. Das größte Verdienst kann nicht gegen die Beschuldigung einer ganz geringen Übertretung in Anrechnung gebracht werden". Große Menschen, die weit über gewöhnliche Schranken hinausgehoben und in große Versuchungen geführt worden sind, haben nach Macaulay Anspruch auf ein außergewöhnliches Maß an Nachsicht. „In der Geschichte kann kein einziger großer Herrscher von einem Richter freigesprochen werden, der sein Auge unerbittlich auf ein oder zwei nicht zu rechtfertigende Handlungen richtet" (Thomas Macaulay 1953, S. 90-91). Auch Jacob Burckhardt hat die Verbrechen der großen Männer gesehen und auf das Phänomen hingewiesen, daß für diese Verbrechen eine „merkwürdige Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz" gilt. „Auf den Erfolg kommt hier alles an. Derselbe Mensch, mit derselben Persönlichkeit ausgestattet,
würde für Verbrechen, die nicht zu jenen Resultaten führen würden, keine Nachsicht finden. Erst weil er Großes vollbracht, findet er dann diese Nachsicht für seine Privatverbrechen" (Jacob Burckhardt 1947, S. 49). Eine Rechtfertigung für eine derartige „Dispensation" mag man in einem Brief Schillers an Körner finden, in dem er auf den Zusammenhang zwischen kühnen Tugenden und kühnen Verbrechen hinweist (Johannes Janssen 1879, S. 8). Zu den historisch und kriminologisch bedeutsamen Persönlichkeiten gehören ζ. B. Wallenstein, Fouch£ und Cortdz, dem Salvador de Madariaga in unbestimmten Wendungen vorwirft, er habe seine Frau ermordet (1956, S. 328-329). Eine verbindende Eigenschaft zwischen Helden und Verbrechern ist die Lust am Abenteuer; Wilham Bolitho hat in seinem Buch „Zwölf gegen das Schicksal" (1946) unter anderem auch Alexander den Großen, Christoph Columbus, Karl XII. von Schweden und Napoleon I. als Abenteurer eingestuft. Mit dem Tode des Kronprinzen Rudolf von Österreich haben sich bisher nur die Historiker befaßt; für den Kriminologen, insbesondere den Kriminalisten ergeben sich wohl noch Möglichkeiten der besseren Aufklärung (Clemens Loehr 1968; Fritz Judtmann 1968; Brigitte Hamann 1978). Dasselbe gilt für die Ermordung des letzten Zaren, Nikolaus II. von Rußland, deren Umstände bis heute umstritten sind (Guy Richards 1972; Antony Summers, Tom Mangold 1977). In unserer Zeit sind Historiker und Kriminologen gleichermaßen mit der Geschichte des Dritten Reiches befaßt (Ernst Nolte 1970; Herbert Jäger 1967). Letztlich sei noch auf die Ermordnung des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß am 25. 7. 1934 hingewiesen, ein Fall, der ebenso politische wie kriminologische und kriminalistische Aspekte aufweist (Gordon Shepherd 1961; Gerhard Jagschitz 1976).
C. Gemeinsame Probleme Gemeinsame Methoden und gemeinsame Forschungsthemen in Geschichte und Kriminologie bedingen auch gemeinsame Probleme. Beiden Disziplinen ist ζ. B. wie anderen Wissenschaften auch der Mangel inhärent, daß ihre Erkenntnismittel begrenzt sind, insbesondere, wenn es sich um die Erforschung weiter zurückliegender Zeiten handelt. Als Hilfe bietet sich hier das einfühlende Verstehen an (Helmut Seiffert 1977, S. 118). Der Historismus hatte das „Verstehen, die einfühlende Nachzeichnung vergangenen Geschehens", zum einzig legitimen Verfahren des Historikers erklärt; auch heute noch bildet das „forschende Verstehen" (J. G. Droysen) „ein unverzichtbares Element historischer Forschung" (Wolfgang Mommsen 1974, S. 2). Georg Simmel definierte Verstehen als „die Beziehung eines Geistes zu einem anderen", und in diesem allgemeinen Verstehen liege das spezifische
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historische Verstehen eingebettet (1918, S. 3). Hans-Ulrich Wehler wies darauf hin, daß das „Verstehen" an die intuitive Begabung, an Einsicht, Talent, Genius, Erfahrungshorizont und Alter des Forschers gebunden sei (1973, S. 90-91). Der junge Historiker zeigt nach Karl S. Bader nur in seltenen Ausnahmefällen ein tieferes Einfühlungsvermögen und wirkliches historisches Denken (1942/43, S. 7). Das „Verstehen" des Kriminologen ist dem des Historikers ähnlich. Edmund Mezger definierte das kriminalpsychologische Verstehen als „die Einreihung eines gegebenen seelischen Vorgangs in einen sinngesetzlich wirksamen Sinnzusammenhang"; innerhalb dieses Verstehens unterscheidet Mezger das phänomenologische, motivologische, charakterologische und soziologische Verstehen (1951, S. 8-10; Hans Joachim Schneider 1977, S. 445-446). Hermann Mannheim (1974, S. 250) geht so weit, auch Phantasie und Inspiration als tatsächlich unerläßliche Elemente wissenschaftlicher Forschung zu bezeichnen, schränkt aber ein, daß die Erkenntnisblitze, die dadurch hervorgebracht werden, streng kontrolliert werden müssen. Es ist umstritten, ob die zeitliche Nähe des Forschers zu seinem Forschungsgegenstand von Vorteil oder Nachteil für seine Arbeit ist. Hans von Hentig sagte, seiner Darstellung des „Desperado" sei die Lebensnähe des Forschers zugute gekommen (1956). Dagegen sei auf einen Rat von Theodor Mommsen verwiesen, wonach man über historische Begebenheiten, deren Zeitgenosse man sei, besser nicht als Geschichtsschreiber handele, weil man zu nahe daran sei. Der amerikanische Historiker Arthur Schlesinger sieht die Bedeutung des „historian as participant" darin, daß dieser als Augenzeuge Beweise erheben kann, bevor sie verfälscht sind (1974).
D. Die Persönlichkeit des Forschers In jedem Fall ist die Persönlichkeit des Forschers, sei er nun Augenzeuge oder nicht, für die Ergebnisse seiner Forschung von großer Bedeutung. Erstaunlich ist, daß es für die Berufsbezeichnung dieser Forscher - Historiker und Kriminologen gleichermaßen - keine exakte Definition gibt. Nach Brockhaus ist der Historiker ein Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber; den Kriminologen mag man dem folgend - als Verbrechensforscher bezeichnen. Nähere Umschreibungen dieser Tätigkeiten und der Voraussetzungen ihrer Ausübung fehlen bis heute. Man kann jedoch soviel feststellen, daß es in beiden Wissenschaften zwei sich voneinander stark unterscheidende Grundtypen von Forschern gibt. Der Historiker, der die Sozialgeschichte eines Landes studiert, braucht ähnliche Eigenschaften wie der Soziologe, der sich mit der Entwicklung der Kriminalität befaßt. Beide müssen Empiriker sein und Daten auswerten können, also eine mehr objektive Bega-
bung haben. Andere Eigenschaften werden bei der Beurteilung des großen Individuums oder des „großen" Verbrechers in Geschichte μnd Kriminologie benötigt, insbesondere dann, wenn exakte Daten nur spärlich vorhanden sind. Vom Historiker wird gesagt, er müsse so etwas wie einen „trainierten Wahrheitssinn entwickeln, so wie Niebuhr von dem Auge spricht, das in einem dunklen Raum Dinge erkennt, von denen ein Herzukommender sagen würde, sie seien gar nicht da" (Waldemar Besson 1961, S. 10). Für Johan Huizinga war die „Ahnung" ein wesentlicher Bestandteil der historischen Arbeit. Er fügt hinzu, daß es jedoch unerläßlich sei, Ideen und TTieorien, die eigentlich niemand wissen könne, kritisch zu erläutern (1977, S. 165). Es gibt zahlreiche Versuche, den Begriff Intuition zu definieren; nach Manfred von Ardenne ist Intuition „die Intelligenz des Unterbewußtseins - Intuition ist der Funken, an dem sich alle Formen der Originalität, des Einfallsreichtums und der Findigkeit entzünden. Sie ist die Erleuchtung, die notwendig ist, um das bewußte Denken mit der Phantasie zu verbinden" (1976, S. 311-312). Es ist fraglich, inwieweit der Historiker in der Lage sein muß, mit den Gedanken derer, über die er schreibt, in Fühlung zu kommen, oder gar mit ihnen übereinzustimmen bzw. geistig verwandt zu sein (Emil Ludwig 1966, S. 17). Friedrich Sieburg fragte, ob es möglich sei, die Erscheinung eines Sterblichen ohne Zuneigung zu beschreiben (1935, S. 45). Rolf Hochhuth antwortete: „In der Tat, Sympathie ist der Schlüssel zum Verständnis eines Charakters" (1977, S. 23). Für den Kriminologen gilt das gleiche, was oben für den Historiker gesagt wurde. Oftmals zeigt er für seine Helden eine gewisse Sympathie, wie dies ζ. B. auch bei Kriminalbeamten der Fall ist, die die Täter scheußlicher Verbrechen eher hassen oder verabscheuen müßten. Kriminalisten wie Kriminologen brauchen, wenn sie Tat und Täter verstehen und die Wahrheit finden wollen, ein gewisses Gespür für das Verbrechen und den Verbrecher und die Gabe der Kombination, wie ja auch ein guter Individualpsychologe imstande ist, „aus wenigen Einzelheiten die Lebensmelodie eines Menschen herauszufinden" (Hertha Orgler 1974, S. 3-4). Auf der anderen Seite können Historiker und Kriminologen in die Versuchung geraten, einem „Helden" zuviel Überlegung und „Sinn" im Handeln zu unterstellen, Verschwörungen anzunehmen, wo keine vorhanden sind, und in den Fehler verfallen, den Oskar von Mitis so formulierte, daß die Historiker mehr oder weniger Romantiker seien; „die Erfahrung zeigt aber leider, daß es in der Welt und auch in der Weltgeschichte meist weit banaler, zufälliger und in gewissem Sinne .sinnloser' zugeht, als es die Historiker in ihrem ganz natürlichen, verständlichen und gewiß auch notwendigen Streben nach Harmonisierung und Sinngebung meist wahrhaben wollen" (1971, S. 20).
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Historische Kriminologie Auch Hans Joachim Schneider warnt als Kriminologe vor einer phantastischen, rein spekulativen und anekdotischen Kriminologie (Hans Joachim Schneider 1977, S. 450), die Annahmen und Behauptungen führen kann, die wissenschaftlich nicht begründet sind.
ΙΠ. QUELLEN DER HISTORISCHEN KRIMINOLOGIE Die „Historischen Materialien" (Waldemar Besson 1961, S. 269) der Kriminologie sind zwar vielfältig, aber auch weit verstreut und oft nicht unter kriminologischen Stichworten erfaßt. Es gibt auch keine Erfassung kriminologisch wichtiger Faktoren im Rahmen der Arbeit der Geschichtswissenschaft.
A. Statistiken Für die Arbeit der Historischen Kriminologie gibt es aus früheren Zeiten nur wenig statistische Untersuchungen. Hans von Hentig hat in seinen „Studien zur Kriminalgeschichte" (1962) den beachtlichen Versuch gemacht, kriminalstatistische Daten aus früheren Jahrhunderten auszuwerten und wiederzugeben und zeigt hierbei vor allem in der Behutsamkeit, mit der er methodisch vorgeht und in der er Schlüsse zieht, auf welche Probleme es ankommt. Die Geschichte kann zuweilen mit ihren Erfahrungen helfen: als Historiker hat Wilhelm von Humboldt schon auf das Gesetz der Regelmäßigkeit hingewiesen, wonach die Kriminalität in einer Reihe von Jahren auch eine „bewundernswürdige" Gleichmäßigkeit zeigt und „daß auch die willkürlichen Handlungen der Menschen den Charakter der Natur annähmen, die immer einem nach gleichförmigen Gesetzen in sich zurückkehrenden Gange folgt" (o. J., S. 25).
B. Gesetze und Urkunden Weitere Quellen der Historischen Kriminologie sind Gesetze, Verordnungen und Statuten, deren Wert allerdings oft zweifelhaft ist. In der Vergangenheit wurden viele Rechtsnormen geschaffen, ohne daß auf kriminalpolitische Bedürfnisse Rücksicht genommen wurde; man schuf das Recht nach den Wertordnungen der Gesetzgeber, und in der Geschichte sind deshalb zahlreiche Bestimmungen nachzuweisen, die für die strafrechtliche Praxis nur sehr geringe Bedeutung hatten. „Auch dort, wo Präambeln auf die Verderbtheit der Welt im allgemeinen und auf diejenige der Zeit im besonderen hinweisen, ergibt sich wenig für die Feststellung einer tatsächlichen Kriminalität und ihrer zeitbedingten Eigenarten" (Karl S. Bader 1956, S. 27). Auf der anderen Seite kennen wir einzelne Gesetze, die auf-
grund besonders spektakulärer Vorfälle und Verbrechen geschaffen wurden, wie in Deutschland § 353 a StGB, der sogenannte Arnimparagraph, der den diplomatischen Ungehorsam und den diplomatischen Falschbericht behandelt, oder das Gesetz über den Autofallenraub vom 22. 6. 1938. In den USA wurde das „Große" und „Kleine" Lindbergh-Gesetz aufgrund der spektakulären Entführung des Lindbergh-Kindes geschaffen. Derartige Gesetze erlauben also Rückschlüsse auf einzelne Verbrechen, ihre Bedeutung und die Zeitumstände. Weitere Quellen sind Gesetzesmaterialien und Urkunden aller Art, wobei allerdings nach heutigem Wissen die Einschränkung zu machen ist, daß Urkunden früherer Jahrhunderte in einem in der Vergangenheit nicht bekannten und geahnten Umfang gefälscht sind (Wolf Middendorff 1975).
C. Literatur über Strafrecht und Kriminalität Für die Entwicklung des Strafrechts in Deutschland ist das große zweibändige Werk von Rudolf His „Das Strafrecht des deutschen Mittelalters" (1964) beispielhaft. His stellt allerdings Strafrecht und Verbrechen zu wenig in die soziale Umwelt, d. h. es wird nicht ersichtlich, inwieweit einzelne Straftatbestände in der Praxis überhaupt eine Rolle gespielt haben und wie Gesetze tatsächlich angewendet wurden. Die Geschichte des deutschen Strafprozesses hat Eberhard Schmidt dargestellt (1965). Für England haben wir die große, vierbändige Arbeit von Leon Radzinowicz (1948 bis 1968). Inwieweit derartige Arbeiten auch für die heutige Praxis der Strafrechtspflege von Bedeutung sein können, zeigte sich in der Bundesrepublik bei der Diskussion um die Einführung des sogenannten Kronzeugen, über dessen Wert oder Unwert Erfahrungen in England und den USA vorliegen (Wolf Middendorff 1973). Chroniken und Arbeiten über die Kriminalität von Städten oder Landschaften geben oft ein gutes Bild sowohl von der Gesetzgebung als auch von der Praxis der Strafrechtspflege, insbesondere dann, wenn, wie ζ. B. in Freiburg im Breisgau, genaue Ratsprotokolle vorhanden sind (Georg Schindler 1937; Georg Stahm 1910; Georg Bönisch 1977). In einer Reihe von kriminologischen Arbeiten werden einzelne Delikte und ihre Behandlung in der strafrechtlichen Praxis beschrieben. Wir unterscheiden zwischen in ihrer Eigenart geschichtlich fast gleichbleibenden Verbrechen, wie ζ. B. Diebstahl und Mord, und anderen Straftaten, die sehr eng mit den Wandlungen der sozialen, kulturellen und politischen Wirklichkeit verbunden sind. Hierzu gehören ζ. B. politische Straftaten, Religions- und Eidesdelikte, aber auch Fälschung und Betrug (Thomas Würtenberger 1957, S. 35). Als Beispiel für Deliktsbeschreibungen sei auf diejenige des Betruges mit Antiquitäten (Frank Arnau 1964), die über die Sitt-
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lichkeitsdelikte (Wolf Middendorff 1959), sowie über Brandstiftungsdelikte (Friedrich Geerds 1962) und über die Strafvereitelung (Friedrich Geerds 1967) hingewiesen. Über die Arten des Betruges gibt es das 1761 veröffentlichte Betrugslexikon von Georg Paul Hönn, das einen ausgezeichneten Einblick in die damalige Zeit vermittelt und überraschende Vergleiche mit der Gegenwart erlaubt. Ein modernes Verbrecherlexikon ist das von Dieter Sinn (1976).
D. Strafgerichtliche Akten Akten der Strafgerichte unserer Zeit sind von sehr unterschiedlichem kriminologischem Wert. Viele Richter haben noch nicht erkannt, daß sie durch ihre Urteile wichtiges Material für die kriminologische Wissenschaft produzieren, oder sie haben nicht die Zeit, diese besonderen Aspekte zu berücksichtigen. Viele für die Kriminologen wichtige Strafurteile liegen unbeachtet in den Registraturen der Gerichte. Auf der anderen Seite haben auch Strafurteile ihre Begrenzungen, die sich schon aus der Natur des jeweiligen Falles ergeben. So enthalten Urteile in Mordfällen in der Regel eine sehr brauchbare Schilderung der Persönlichkeit des Täters, - die in kleineren oder mittleren Fällen fehlt - , dafür fehlen in den Urteilen wegen Mordes die so wichtigen Ausführungen zur Strafzumessung, weil es für Mord nur die lebenslange Freiheitsstrafe gibt, es sei denn, diese Ausführungen wären notwendig, wie ζ. B. wenn verminderte Zurechnungsfähigkeit angenommen wird. Neuerdings wurden durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Schutz der Persönlichkeit neue Schranken für den Kriminologen aufgerichtet; viele Gerichte zögern, ihre Akten für die wissenschaftliche Arbeit freizugeben. Das vielfältige und sehr wichtige Aktenmaterial der Rechtsprechung der Kriegsgerichte ist bisher weder für den Ersten noch für den Zweiten Weltkrieg in ausreichendem Maße ausgewertet, wir sind im wesentlichen auf Einzelarbeiten angewiesen (Emst Roskothen 1977; Richard Wittingham 1971).
E. Zeitungsberichte Während in früheren Jahrhunderten Steckbriefe und Gaunerlisten eine wichtige Rolle spielten (Karl S. Bader 1962), sind heute Zeitungsberichte über Verbrechen von hervorragender Bedeutung; ihr historischer Quellenwert ist kaum zu überschätzen (Waldemar Besson 1961, S.296). Eine Berichterstattung über neue Erscheinungsformen des Verbrechens wie z.B. Flugzeugentführungen oder den weltweiten Terrorismus ist zunächst nur durch die kirtische - Auswertung von Zeitungen möglich. Peter Mulzer hat eine Sammlung für die Kriminologie relevanter Zeitungsberichte angeregt (1977). Ar-
leen Keylin und Arto DeMirjan haben aus der „New York Times" die hervorstechendsten Nachrichten und Kommentare über Verbrechen aus den Jahren 1872 bis 1976 zu einer eindrucksvollen Sammlung zusammengestellt (1976).
F. Failschilderungen Fallsammlungen oder Einzeldarstellungen von Kriminalfällen sind Legion, und es können nur einige Beispiele herausgegriffen werden. In Kurzform haben wir von Colin Wilson und Patricia Pitman die „Encyclopedia of Murder" mit Lebensläufen und Tatschilderungen aus vielen Ländern sowie einer fachlichen Einführung (1964). Dieser englischen Sammlung entsprechen bei uns die über tausend Kurzbiographien von Hubert Gundolf (1966). Den französischen Advokaten Fran901s Gayot de Pitaval (1663-1743) kann man als den Vater der Sammlungen von Kriminalfällen bezeichnen. Er gab, beginnend mit dem Jahre 1734, zwanzig Bände selbst heraus. Das Material seiner im Urtext oft weitschweifigen und schwer lesbaren Werke wurde immer von neuem gestaltet und überarbeitet, zuerst von Friedrich Schiller bis zu einer der vorläufig letzten Bearbeitungen von Erich Landgrebe. Die Geschichte dieser Sammlungen hat Alfred Christoph geschildert (1965). In England konzentrierte sich früher das Material über alte Kriminalfälle auf die zahlreichen Bände des Newgate Calendar. Die Engländer sind wie wohl kaum ein anderes Volk für derartige Literatur empfänglich, sie bringen ihr ein „schier unerschöpfliches Interesse" entgegen (Captain Alexander Smith 1974, S. 275). Es stellt auch einen absoluten Rekord dar, daß in neuerer Zeit in England die Reihe der „Notable British Trials" es auf über achtzig Prozeßberichte gebracht hat, während ähnliche Versuche in den USA meist scheiterten und kaum über ein halbes Dutzend Bände hinausgelangten. Dafür überwiegen in den USA die populären, mit Bildern versehenen Fallsammlungen, die auch zum Teil die Entwicklung der Kriminologie und Kriminalistik mit einbeziehen (Julian Symons 1966; Allen Churchill 1964). Die bis heute wohl beste amerikanische Zusammenstellung von Mordfällen ist das Buch von Thomas McDade „The Annals of Murder" (1961). McDade hat alles ihm zugängliche Material Uber Mordfälle von den Anfängen der Kolonialzeit bis zum Jahre 1900 gesammelt und gibt von jedem Fall eine kurze Schilderung im Anschluß an die Bibliographie. Eine Reihe von Fallsammlungen sind in den USA nach territorialen Gesichtspunkten zusammengestellt, andere nach den Berufen der Täter, die ζ. B. Lehrer oder Studenten, Ärzte oder Juristen waren (Wolf Middendorff 1967, S. 247-248). Es ist ein besonderes Verdienst amerikanischer Verleger, daß sie viele seriöse Fallschilderungen und Fallsammlungen in Taschenbuchform herausgebracht haben, wobei man
Historische Kriminologie sich durch eine zuweilen blutrünstige Gestaltung des Umschlages nicht stören lassen darf. Die Fallschilderungen — bei uns oder in anderen Ländern — sind von recht unterschiedlichem kriminologischem Wert. Viele Autoren schildern nur den Ablauf eines Verbrechens und vielleicht noch des folgenden Strafprozesses, enthalten sich aber jeder kritminologischen Wertung. Manche Arbeiten werden von einem bestimmten Standort aus oder für bestimmte Zwecke geschrieben; einige Beispiele seien angeführt: als Kriminalbeamter hat Helmut Ebeling die Hamburger Kriminalgeschichte von 1919 bis 1945 aufgezeichnet (1968); der österreichische Staatsanwalt Werner Olscher hat berühmte österreichische Mordprozesse nach 1945 geschildert (1972). Schriftsteller und Journalisten haben sich naturgemäß besonders häufig der Wiedergabe von Kriminalfällen angenommen; in der Zeit der Weimarer Republik berichtete Sling über die von ihm erlebten Kriminalfälle (1929 und 1969), diese Berichte sind bis heute wohl unübertroffen. Gerhard Mauz bemühte sich in seinen Reportagen für den „Spiegel", diesem Ideal nachzueifern, verliert jedoch zuweilen zu offensichtlich die Distanz zum Angeklagten und vernachlässigt dadurch die Belange der Allgemeinheit (1968 und 1975). Hans Habe hat aus größerer Distanz in seinem Buch „Meine Herren Geschworenen" (1964) auch den geschichtlichen und kulturhistorischen Hintergrund der Verbrechen mit in seine Berichte hineingenommen.
G. Biographien und Memoiren Biographien und Memoiren sind für die historisch-kriminologische Forschung von hohem Wert, teils weil in ihnen auch Kriminalprozesse referiert werden, teils weil sie Angaben über die Persönlichkeiten der Autoren bzw. der dargestellten Persönlichkeiten enthalten. Besonders viel wissen wir über Strafverteidiger. Die bekanntesten Verteidiger im Berlin der zwanziger Jahre waren Erich Frey und Max Alsberg. Während indessen Frey in seinen Erinnerungen ein gutes Bild der Zeit und seiner Angeklagten entworfen hat (1959), ist die Biographie Alsbergs, von Curt Riess verfaßt, unscharf geblieben (1965). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Paul Ronge seine Erinnerungen veröffentlicht (1963); ein Journalist hat Rolf Bossi bei der Veröffentlichung seiner Erinnerungen aus einer 24 Jahre währenden Tätigkeit als Strafverteidiger geholfen (1975) und das zu früh geschriebene Buch nicht gerade verbessert. Auch Jürgen Serkes' acht Porträts von Strafverteidigern in Deutschland sind zu wenig kriminologisch durchgearbeitet und teilweise ideologisch befrachtet (1976). Aus der Struktur des anglo-amerikanischen Strafprozesses als Duell der Parteien ergibt sich, daß - vor allem in den USA - der Strafverteidiger eine überragende Rolle spielt und deshalb auch viel stärker als in
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anderen Ländern in der biographischen und Memoirenliteratur vertreten ist (Wolf Middendorff 1972, S. 46-55). Bei der notwendigen Kritik dieser Art von Literatur kann man nicht übersehen, daß manche Einzelheiten zugunsten der „Helden" verschönt worden sind. Strafrichter haben kaum je ihre Erinnerungen veröffentlicht - ein gutes Zeitbild hat Hans Segelken gegeben (1970) —, es ist auch nur sehr selten etwas über sie geschrieben worden, wie ζ. B. von Arthur Smith über Lord Goddard in England (1959). Von Gerichtsmedizinern und über ihr Leben und ihre Tätigkeit gibt es mehr Berichte, wie den von Marshall Houts über den New Yorker Gerichtsmediziner Milton Helpern, von dem gesagt wird, daß er ungefähr 60 000 Leichenöffnungen entweder selbst durchgeführt oder überwacht hat (1968). Die Erinnerungen des Berliner Gerichtsmediziners Waldemar Weimann (1967) liegen in der Zeit vor 1945, Peter Müller berichtete über berühmte Fälle der Wiener Gerichtsmedizin (1967). An dieser Stelle sei auch der Lebensbericht des Hamburger Psychiaters Hans Bürger-Prinz erwähnt (1973). Kriminologen unserer Zeit haben kaum Erinnerungen hinterlassen, Kriminalisten dagegen häufiger, von denen einer der berühmtesten Harry Söderman war, der in der ganzen Welt einen großen Ruf genoß (1957). Neuere Lebensberichte von Kriminalbeamten haben dieses Niveau nicht erreicht, einige ihrer geschilderten Fälle sind jedoch von kriminologischem Interesse (Karl Kiehne 1972; Michael Preute 1975). Berichte und Erinnerungen aus dem Strafvollzug stammen in der Hauptsache von Strafanstaltspfarrern; Leopold Arthofer (1947) berichtete aus einem österreichischen Zuchthaus, Lother E. Herrwig aus einer deutschen Strafanstalt (1955); Hanns Bücker zeichnete das Leben des „Abb6 Stock", der im Zweiten Weltkrieg in Paris wirkte (1964). Zu erwähnen seien schließlich noch wegen ihrer historischen und kriminologischen Bedeutung die Tagebücher der Henker von Paris, die insbesondere über die Zeit der französischen Revolution Aufschluß geben (Henry Sanson 1924). Memoiren von Straftätern, insbesondere über ihre Zeit in Gefängnissen und Zuchthäusern, sind mit großer Vorsicht aufzunehmen (Rüdiger Herren 1977). Ausnahmen sind ζ. B. 'das Buch von Zeno (1969), der wegen einer Eifersuchtstat zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde; ihm gelingt es, den Strafvollzug mit einer gewissen Distanz treffend zu schildern. Das gleiche gilt für die Erinnerungen von Nathan Leopold, der 1924 in Chicago wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde und nach seiner Begnadigung als Kriminologe in Puerto Rico lehrte (1960). Den Erinnerungen von politischen Gefangenen ist in den meisten Fällen mehr Gewicht beizumessen; Silvio Pellicos Bericht über seine langjährige Kerkerhaft auf dem Spielberg bei Brünn, zu der er als Angehöriger des italieni-
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Historische Kriminologie
sehen Geheimbundes der Carbonari verurteilt worden war, ist wohl bisher unerreicht (1960). Die persönliche Färbung von Tagebüchern und Briefen kann Vorteile für die Erkenntnis historischer Wahrheit bringen, aber sie hat selbstverständlich auch Nachteile, und es bedarf diesen Quellen gegenüber einer besonders aufmerksamen Kritik (Waldemar Besson 1961, S. 296-297). Hans von Hentig ist dem Wert von Tagebüchern nachgegangen (1962); es ist überraschend, in wievielen Fällen Mörder auch dann Tagebuch über ihre Taten geführt haben, wenn sie wußten, daß diese Tagebücher vielleicht der einzige Beweis gegen sie werden konnten und ihnen dann die Todesstrafe drohte.
H. Romanliteratur Für den Kriminologen können Kriminalromane von unschätzbarem Wert sein, insbesondere in bezug auf die Darstellung von Charakterbildern (Hans Joachim Schneider 1977 S. 59). Ähnliches gilt auch für die sogenannte schöne Literatur, deren Autoren ihren Stoff oft aus wahren Kriminalfällen nehmen. Eine der besten literarischen Gestaltungen eines älteren Mordfalles ist wohl Theodore Dreiser's „Amerikanische Tragödie". Clyde Griffith, der Held des Romans, steht zwischen zwei Frauen und zwei Gesellschaftsklassen und wählt als Ausweg aus seinem Dilemma die Ermordung der Geliebten. Dreiser hat lange geschwankt, welchen von verschiedenen, aber ähnlich gelagerten amerikanischen Fällen er als Vorlage nehmen solle und hat sich dann auf den Fall des Chester Gillette konzentriert (Richard Lehan 1969). Somerset Maugham hat es wie kaum ein anderer meisterhaft verstanden, in seiner Erzählung „Makkintosh" zu schildern, wie in einem Menschen langsam der Wunsch wächst, einen anderen Menschen zu ermorden. Erwähnt seien noch F. M. Dostojewski's „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus", die eine Fülle an Material über Verbrechen, Täter und Strafen enthalten. Von den Schriftstellern hat Karl May das besondere Interesse heutiger Kriminologen gefunden; Karl May hat in seiner Jugend selbst eine Reihe von Straftaten begangen und später im Strafvollzug seine Neigungen sublimiert und nach seiner Entlassung seine zahlreichen Romane geschrieben (Claus Roxin 1971). Auch Charles Dickens kann man ein besonderes Verständnis der Welt des Kriminellen nachrühmen (Philipp Collins 1962; Johann N. Schmidt 1978). Zum Material des Kriminologen gehören auch Balladen, Verse, Volkslieder, Moritaten und Marterlinschriften und -bilder (Hans Roth 1973). Olive Wooley Burt hat ein Leben lang in den USA Balladen gesammelt und sie durch die kurze Schilderung der dazu gehörenden Verbrechen ergänzt (1964). Auch Bildmaterial ist von Wert, das in Museen und Bibliotheken in reichem Maße vorhanden ist (Karl S.
Bader 1956, S. 30); insbesondere öffentliche Hinrichtungen haben in der Vergangenheit immer wieder die Phantasie von Künstlern angeregt.
IV. AUFGABEN DER HISTORISCHEN KRIMINOLOGIE A. Allgemeines Forschungen der Historischen Kriminologie bedürfen - zunächst allgemein betrachtet - keiner besonderen Begründung, weil sie wie jede wissenschaftliche Forschung in der Suche nach der Wahrheit ihre Legitimation in sich selbst tragen. Die Forschungen sollten sich sowohl auf die Geschichte des Verbrechens im ganzen, auf Umfang und Wandlungen der Kriminalität in einzelnen Bereichen und auf die Auswertung und die Erforschung des Einzelfalles und der Persönlichkeit des Einzeltäters beziehen. Aus beiden Arten von Forschung läßt sich, Umfang und Zuverlässigkeit des Materials vorausgesetzt, ein Bild der kulturellen und rechtlichen Verhältnisse des jeweiligen Rechtsbereiches gewinnen. Bei der Untersuchung der Persönlichkeit des Einzeltäters ist zu berücksichtigen, daß jeder Mensch ein gemischter Charakter ist, daß zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen noch keine signifikanten Unterschiede ermittelt wurden (Wolf Middendorff 1970, S. 82-84) und daß, nach Leopold Szondi, Menschen mit dem gleichen Zwangsschicksal in vielen Fällen die Wahl haben, dieses Schicksal auf legale oder illegale Weise weiterzuentwickeln (Georg Gerster 1956, S. 32-34). Historisch-kriminologische Forschung hat außerdem den Zweck, aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft zu lernen, (aΑ Waldemar Besson 1961, S. 80). Von Hegel stammt allerdings das Wort, die Geschichte lehre nur, daß die Völker nie aus der Geschichte gelernt hätten; mir scheint dieses Urteil zu pauschal, und es sollte zumindest der Versuch gemacht werden, aus Fehlern in der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu gewinnen. Die Auswertung von einzelnen Kriminalfällen kann beispielsweise Möglichkeiten für die Verbesserung der polizeilichen Arbeit bringen. So läßt sich am Fall des Massenmörders Peter Kürten nachweisen, daß einige der Opfer wohl ihr Leben behalten hätten, wenn die Polizei nicht so viele gravierende Fehler gemacht hätte (Maximilian Jacta 1963, S. 102-148). In der Gegenwart hat sich schon gezeigt, daß aus den früheren Erfahrungen mit Geiselnahmen manches in die Anweisungen zum zukünftigen Verhalten der Polizei in derartigen Fällen eingeflossen ist (Wolf Middendorff 1976). Eine zielgerechte Auswertung von Kriminalfällen kann auch die zukünftige Gesetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts und des Strafprozeßrechts beeinflussen.
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Historische Kriminologie Auswertungen und Vergleiche von Einzelfällen können zur sogenannten induktiven Hypothesenbildung führen und durch sehr vorsichtige Generalisierung der Einzelfälle über die Hypothesenbildung hinaus zur Bildung von kriminologischen Theorien und Typen beitragen (Günther Kaiser u. a. 1974, S. 216, 363). Auch in der Geschichtswissenschaft ist die Typenbildung ein wesentlicher Bestandteil vieler Untersuchungen (Waldemar Besson 1961 S. 88). Weiter können die Ergebnisse der Auswertung von Einzelfällen als Mittel zur Prüfung schon vorhandener Hypothesen und Theorien der Kriminologie herangezogen werden. Schließlich ist die Auswertung von Kriminalfällen ein ausgezeichnetes und bewährtes Mittel für den kriminologischen Unterricht an Universitäten und Polizeischulen. Wie weit die verschiedenen Zwecke der Auswertung von Einzelfällen erreicht werden können, hängt von Güte und Umfang des jeweiligen Materials ab, das meist nicht, wie bei empirischen Untersuchungen, neu und gezielt geschaffen werden kann, sondern das in den Falldarstellungen vorhanden ist und nicht beliebig ergänzt werden kann. Im Idealfall sollte die Materialsammlung möglichst viele Tatsachen über die Persönlichkeit des Täters, die Tat, die eventuelle Mitwirkung des Opfers, die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen, die gerichtliche Hauptverhandlung und das Urteil sowie über den Strafvollzug, die Entlassung und das weitere Leben des Täters enthalten. Uber den Täter sollte man im einzelnen wissen: seinen Lebenslauf, die Verhältnisse im Elternhaus, die Erziehung, Schul- und Berufsausbildung, Ehe und Kinder, Vorstrafen. Zur Tat gehören Fakten über ihre Vorbereitung und Durchführung, das Verhalten nach der Tat, den Zusammenhang zwischen Tat und Persönlichkeit des Täters und Uber besondere Zeitumstände oder geschichtliche Verhältnisse, die für Tat und Täter von Bedeutung sind. Vom Opfer benötigen wir Angaben über seine Persönlichkeit und die Art und den Umfang der eventuellen Mitwirkung bei der Tat. Das Material über die Ermittlungen sollte genaue Angaben über die Tätigkeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft und die hierbei eventuell gemachten Fehler enthalten. Zu Hauptverhandlung und Urteil sind Angaben erforderlich über den Verlauf der Hauptverhandlung, das Verhalten der an der Hauptverhandlung Beteiligten, d. h. des Angeklagten, seines Verteidigers, des Staatsanwaltes, der Zeugen, der Sachverständigen, der Berufsrichter und der Laienrichter, sowie weiter über Schuldspruch oder Freispruch und Ausführungen zur Strafzumessung. Zum Vollzug, der Entlassung und dem späteren Leben gehören Angaben über das Verhalten in der Strafanstalt, wann und warum die Entlassung erfolgte, das Verhalten nach der Entlassung und die Art der Wiedereingliederung bzw. die Rückfälligkeit.
B. Einzelne Aufgaben Von den vielen Aufgaben, die sich der Historischen Kriminologie stellen, können im folgenden nur einige skizziert werden: 1. Die Kriminalität der Frau In den letzten Jahren ist die Kriminalität der Frau in den Mittelpunkt vieler Betrachtungen vor allem in den Massenmedien getreten; es fehlt jedoch bis heute an neueren, fundierten Untersuchungen über Umfang und Veränderungen der weiblichen Kriminalität. In den USA hat sich gezeigt, daß in den letzten Jahren der Anteil der Frauen an der Gewaltkriminalität beträchtlich angestiegen ist (Freda Adler 1975), dies gilt insbesondere für den Anteil der Frauen am Terrorismus; nach Richard Deming (1977) stellen Frauen sogar die Mehrzahl der amerikanischen Terroristen. In anderen Ländern, wie in der BRD, scheint sich eine ähnliche Entwicklung anzubahnen, auf die schon mehrfach hingewiesen wurde. Man rätselt jedoch bisher über die Ursachen dieses Phänomens und weiß auch trotz mancher Einzeluntersuchungen noch kaum etwas über die Persönlichkeit der einzelnen Terroristin auszusagen (Wolf Middendorff 1976; Heiner Geißler 1978, S. 175-189).
2. Fehlurteile Ursachen von gerichtlichen Fehlurteilen zu untersuchen, ist eine immerwährende, ernste Aufgabe auch der Historischen Kriminologie. Man kann hierbei unterscheiden zwischen echten Fehlurteilen, d. h. denjenigen Fällen, in denen sich mit Sicherheit später herausstellt, daß ein anderer Täter als der verurteilte die Tat begangen hat, und unechten Fehlurteilen, d. h. jenen Fällen, in denen ein Verurteilter im Wiederaufnahmeverfahren nach dem Grundsatz „in dubio pro r e o " freigesprochen wird, wobei zu berücksichtigen ist, daß nach 20 oder 30 Jahren die früheren Beweise naturgemäß nicht mehr vorhanden oder schwächer geworden sind. Zu den unechten Fehlurteilen könnte man auch jene Fälle zählen, in denen Angeklagte ζ. B. aus Gründen spektakulärer Abschreckung eine ungewöhnlich hohe Strafe erhalten, d. h. eine viel höhere, als sie dem Durchschnitt bei derartigen Taten und Tätern entspricht. Die umfangreichste Arbeit über Fehlurteile stammt von Karl Peters (1970 und 1972) und enthält sowohl historische Rückblicke als auch die bisher erschienene Literatur. Die neueste Arbeit ist die von Hans M. Sutermeister mit einer überaus großen Menge von Material, das allerdings von unterschiedlichem Wert ist (1976). In manchen Fällen ist die Frage von Schuld oder Unschuld in der Schwebe geblieben.
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Historische Kriminologie 3. Die
Fahrlässigkeitsdelikte
Die Fahrlässigkeitsdelikte wurden in der Kriminologie bisher überaus vernachlässigt; in geschichtlichen Darstellungen spricht man in diesen Fällen meist nur von Unfällen, ohne diese rechtlich zu würdigen. Wenn durch derartige Unfälle Menschen getötet werden, wiegt bis heute der Erfolg schwerer als die Schuld, die diesen Erfolg herbeigeführt hat. In alten Zeiten gab es eine gewisse Automatik, die mit dem Erfolg verbunden war: im englischen Common Law beispielsweise kannte man die Institution des deodandum, d. h. ein Gegenstand, durch den ein Mensch getötet worden war, wurde Gott gegeben. In der Praxis bedeutete dies, daß der Staat diesen Gegenstand erhielt und den Erlös aus seinem Verkauf einem barmherzigen Werk zuführte (Raphael Semmes 1970, S. 136). Auch in Kriegen galt für Feldherren in früheren Zeiten eine gewisse Erfolgshaftung. Bei Verlust einer Schlacht oder gar eines Krieges liefen sie Gefahr, zumindest abgesetzt oder gar getötet zu werden, einige begingen Selbstmord (Hans von Hentig 1966, S. 69). Bei Schiffsunfällen und Zusammenstößen wird bis heute selten die Frage nach der strafrechtlichen Schuld, d. h. in den meisten Fällen der Fahrlässigkeit, gestellt (Peter Padfield 1967). Einer der größten Schiffbruchsskandale war der Untergang der französischen Transportfregatte ,Medusa' im Jahre 1816 unweit der westafrikanischen Küste. Die französische Regierung sah sich nach den Berichten über die Verluste an Menschenleben und die Fälle von Kannibalismus auf dem Floß der Uberlebenden veranlaßt, gegen den Kapitän Anklage zu erheben; er wurde zu drei Jahren Haft und Verlust der Orden und Auszeichnungen verurteilt (Alexander McKee 1976). Auch aus dem spektakulären Zusammenstoß der , Andrea Doria' und der .Stockholm' im Juli 1956 im Nordatlantik, der zum Verlust der .Andrea Doria' führte, ergaben sich keine strafrechtlichen Konsequenzen, obwohl die Fehler und Fahrlässigkeiten der Schiffsführung d e r , Andrea Doria' auf der Hand lagen (Alvin Moscow 1959). Material über Eisenbahnunfälle und ihre Ursachen kommt vor allem aus England (O.S. Nock 1970; L. T. C. Rolt 1960). Am Weihnachtsabend des Jahres 1841 entgleiste ein Zug zwischen Paddington und Bristol, weil schwere Regenfälle den Unterbau unterspült hatten. Acht Passagiere wurden getötet und 17 verletzt. Nach der Untersuchung des Unfalls beschloß eine Jury, 1000 Pfund für die Lokomotive und den Zug als deodandum von der Eisenbahnverwaltung an die Krone bezahlen zu lassen. Die Eisenbahngesellschaft legte gegen diesen Spruch ein Rechtsmittel ein, und die Summe wurde auf einen kleinen Betrag ermäßigt (L.T.C. Rolt 1960, S. 30-31).
Im allgemeinen erfolgte bei Eisenbahnunfällen in England selbst bei grober Fahrlässigkeit keine strafgerichtliche Verfolgung, auch dann nicht, wenn ζ. B. ein Lok-Führer zwei Haltesignale überfahren hatte (O.S. Nock 1970, S. 205). Bei uns hat man in der Beurteilung von Fahrlässigkeitsdelikten stets strengere Maßstäbe angelegt, wie Hans Joachim Ritzau (1972) in seinem Buch über Eisenbahnunfälle anschaulich gezeigt hat. Ein Beispiel sei angeführt: Am 18. 8. 1969 standen bei Meckelfeld der TEE-Gambrinus vor einem defekten Haltesignal und 1300 Meter hinter ihm ein Eilzug ebenfalls hinter einem Haltesignal. Der Fahrdienstleiter der nächsten Station wollte dem „Gambrinus" freie Fahrt geben, drückte aber anstelle der Taste des ersten Haltesignals die des zweiten, so daß sich der Eilzug sofort in Bewegung setzte. In diesem Augenblick rief der Lok-Führer des „Gambrinus" vom Streckentelefon aus an, und der Fahrdienstleiter sagte ihm: „Betriebsgefahr! Fahren Sie weiter"! Der Lok-Führer weigerte sich jedoch und verlangte nach den Vorschriften der Bundesbahn bei Überfahren eines geschlossenen Signals einen schriftlichen Befehl. Selbst die Aufforderung, nur bis hinter das Signal vorzuziehen, befolgte er nicht. So fuhr der Eilzug auf den „Gambrinus" auf, vier Menschen starben, 43 wurden verletzt. Der Fahrdienstleiter wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt; in den Urteilsgründen heißt es, er sei bei seiner Tätigkeit zu gespanntester Aufmerksamkeit verpflichtet, weil die kleinste Nachlässigkeit schwerste Folgen haben könne. In diesem wie in anderen Fällen haben Gerichte nicht bedacht, daß Menschen im Beruf eines Fahrdienstleiters oder bei einer Tätigkeit mit ähnlicher Verantwortung weder physisch noch psychisch in der Lage sind, auf Dauer die gespannte Aufmerksamkeit aufzuwenden, die den möglichen schweren Folgen einer geringen Nachlässigkeit entsprechen würde. Es ist eine durch zahlreiche Untersuchungen nachgewiesene Erfahrung der Verkehrskriminologie, daß jeder Mensch bei jeder Tätigkeit Fehler begeht und diese niemals ganz ausgeschlossen werden können. Es ist eine dringende Aufgabe der Historischen Kriminologie, aus den Einzelfällen der Vergangenheit und aus empirischen Untersuchungen einen Maßstab der Fahrlässigkeit für alle Lebensbereiche zu entwickeln, der der fehlerhaften Natur des Menschen in realistischer Weise Rechnung trägt.
4. Spionage Das Gebiet der Spionage ist bisher von Kriminologen kaum bearbeitet worden, obwohl ein sehr umfangreiches Material an Spionageberichten vorliegt. In diesen Büchern über Spionage finden sich jedoch kaum Literaturnachweise, weil diese Werke vorwiegend von Romanschriftstellern, Journalisten und ehemaligen Angehörigen von Geheimdiensten verfaßt und mit der Absicht geschrieben wurden, den
Historische Kriminologie Leser über ungewöhnliche Spionagefälle zu unterrichten und ihn zu unterhalten. Die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Spionage begann erst in den letzten Jahren und wurde vorwiegend von Historikern betrieben (Max Gunzenhäuser 1968, S. 6-7). Als erste Aufgabe für den historischen Kriminologen bietet sich eine kritische Untersuchung der gleichen oder wechselnden Beteiligung der Frau an der Spionage an; es gibt zahlreiche, mehr oder weniger romanhafte Schilderungen über weibliche Spione, insbesondere über die im Ersten Weltkrieg berühmte .Mademoiselle Docteur', deren wirklicher Name Elsbeth Schragmüller war. Entgegen vielen Darstellungen war sie nicht selbst Agentin hinter der feindlichen Front, sondern leitete während des Krieges in Antwerpen eine Spionageschule und leistete in der Ausbildung von Spionen Vorbildliches (Max Gunzenhäuser 1968, S. 47, 163). Auch die Gestalt der Spionin Mata Hari wurde vielfach verzeichnet. Margarethe Zelle war eine Holländerin, die als Frau eines holländischen Kolonialoffiziers in Java einheimische Tänze kennengelernt hatte und später in europäischen Hauptstädten unter dem Namen Mata Hari (Auge des Morgens) als Tänzerin auftrat. Ihre weltweite Berühmtheit verdankte sie dem Umstand, daß sie in ihrer Person Exotik, Erotik und Spionage vereinigte. Sie war im Ersten Weltkrieg im deutschen und französischen Spionagedienst tätig; ihre Erfolge für den deutschen Nachrichtendienst wurden in der Beurteilung durch die Franzosen, die sie verhafteten, vorsätzlich oder fahrlässig weit überschätzt, und sie wurde 1917 von einem französischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Sam Waagenaar zeigte in einer eindrucksvollen Darstellung, daß Mata Hari zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde (1964). Es gibt auch Darstellungen, nach denen Mata Hari von den Deutschen an die Franzosen verraten wurde, weil sie lästig geworden war. In der Geschichte der männlichen Spionage ist aus der Neuzeit der Fall des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Alfred Frenzel von besonderem Interesse. Frenzel wurde 1960 wegen Spionage für den tschechoslowakischen Geheimdienst im Bundeshaus in Bonn verhaftet. Aus seinem umfassenden Geständnis ergab sich, daß er mit der Drohung erpreßt worden war, man würde der deutschen Öffentlichkeit Unregelmäßigkeiten aus seiner Jugend in seiner sudetendeutschen Heimat bekanntgeben (Hendrik van Bergh 1965, S. 179-191; Wolf Middendorff 1978). Die Geschichte der Spionage ist alt; zunächst gab es nur die militärische Spionage, die im 20. Jahrhundert keineswegs an Bedeutung verloren, sondern eher noch zugenommen hat (Ludwig Barring 1968; Bernard Newman 1964). Über die Persönlichkeit des Spions gibt es bisher nur sehr wenige Arbeiten, obwohl die Herausarbeitung besonderer Eigenschaften von Spionen eine sehr wichtige Aufgabe, sowohl für die Auswahl eige-
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ner wie auch für die Entdeckung fremder Spione ist. Nach Ronald Seth gibt es als moderne Spione eigenen Gepräges den unauffälligen Spion, den exhibitionistischen Spion, den internationalen Spion, die unerwünschte Heroin und den Kurier. Diese Einteilung vermag nicht den Anforderungen an eine wissenschaftliche Typisierung zu genügen (Max Gunzenhäuser 1968, S. 13). Günther Nollau unterscheidet zwei Kategorien von Spionen, die Hauptamtlichen und die Nebenamtlichen, und weist auf die dem Kriminologen vertraute Tatsache hin, daß ein Spion selten nur ein Motiv hat, sondern von mehreren Beweggründen angetrieben wird (1978, S. 55-62). Es ist jedoch auch heute schon möglich, einige Grundtypen von Spionen zu unterscheiden. Dem Spion Alfred Frenzel, der sein eigenes Land verraten hat, entspricht in etwa der schwedische Oberst Stig Wennerström, der ebenfalls gegen sein eigenes Land gearbeitet hat, einmal um dafür Geld zu bekommen und zum anderen, weil er sich für Frustrationen in seiner Offizierslaufbahn rächen wollte. Seine russischen Agentenführer waren psychologisch sehr geschickt und gaben ihm das Gefühl einer besonderen Wichtigkeit und das Bewußtsein, daß er für den Weltfrieden wesentliche Arbeit leistete (Thomas Whiteside 1967). Einen Loyalitätskonflikt haben wir bei Spionen wie Richard Sorge; er verriet sein Vaterland und blieb seiner ideologischen Heimat, der Sowjetunion, immer treu (F. W. Deakin, G. R. Storry 1965). Dasselbe gilt für Kim Philby, der sein englisches Vaterland verriet und für die Sowjetunion spionierte, wo er heute noch lebt (Bruce Page u. a. 1968; Ε. H. Cookridge 1968). Von ganz anderer Art sind Offiziere, die im Ausland für ihr Vaterland spionieren. Der Russe Oberst Abel leitete in den USA das sowjetische Agentennetz; in seinem Prozeß verriet er niemals etwas von seiner Tätigkeit und erlangte die Achtung seiner Richter. Später wurde er in Berlin ausgetauscht; er hatte als Soldat lediglich seine Pflicht getan. (James B. Donovan 1965). Der israelische Offizier Wolfgang Lötz spionierte in der Rolle eines deutschen Staatsbürgers in Ägypten für Israel und wurde nach seiner Verurteilung ebenfalls ausgetauscht (Wolfgang Lötz 1973). Ronald Seth hat die Eigenschaften zusammengestellt (1961), die ein Spion haben sollte, der im fremden Land tätig wird; Seth selbst hatte für England im Zweiten Weltkrieg in von Deutschen besetzten Gebieten Spionageaufträge erfüllt. Nach Seth braucht ein Spion in erster Linie Mut, gute Nerven, eine gute Intelligenz, Entschlossenheit und eine vollständige Kontrolle über sein Verhalten, weil die Erfahrung gezeigt hat, daß Menschen sich durch unwillkürliche, überraschende Regungen auch in kleinsten Dingen verraten können. Um derartige spontane Äußerungen zu vermeiden, braucht der Spion ein gemäßigtes Temperament. Er muß eine große Einsamkeit in feindlicher Umgebung ertragen können; er muß in-
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teger sein und muß sich zu helfen wissen. Er muß einen besonderen Instinkt für seine eigene Sicherheit haben und im Ernstfall bei Entdeckung unter Umständen auch mit der Hand töten können. Leopold Trepper, der Organisator der Spionageorganisation „Rote Kapelle" im Zweiten Weltkrieg, wollte auf bezahlte Agenten möglichst verzichten, den Umgang mit Frauen sollten die Agenten meiden und ihre Rolle nicht „darstellen", sondern „sein". „Ein tapferer Kriegsheld ist nicht unbedingt auch ein guter Agent" (Leopold Trepper 1975, S. 89, 135, 131, 93). Ein enttarnter Agent wird unter Umständen umgedreht und arbeitet dann als Doppelagent (Gert Buchheit 1969, S. 175-183) oder gar als Tripelagent. Ein Doppelagent „muß von Zeit zu Zeit echte Geheimnisse verraten; wenn er mehr gibt, als er bringt, ist er ein Verräter - wenn er mehr bringt, als er gibt, ist er ein Held" (David Wise, Thomas B. Ross 1968, S. 147). In unserer Zeit haben sich neben der militärischen Spionage vor allem die Industriespionage (Jacques Bergier 1970; Clemens Amelunxen 1977) und die Wissenschaftsspionage entwickelt (Jacques Bergier 1975). Über die tatsächlichen Erfolge, die Spione erreichen können, sind zuweilen abenteuerliche Vorstellungen verbreitet. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges zeigen, daß Spione in vielen Fällen außerordentlich gute politische oder militärische Nachrichten an ihre Auftraggeber übermittelt haben, daß man diese Nachrichten aber oft nicht glaubte, weil man sie für Spielmaterial hielt, oder aber, daß man aus ihnen keine entsprechenden Folgerungen zog. Der Einfluß der Spionage auf den Ablauf des Zweiten Weltkrieges wurde, wie man aus heutiger Sicht sagen kann, maßlos übertrieben (Alfred Schickel 1978). Die Zahl der Spionageromane ist Legion; hervorgehoben seien ein Werk von Somerset Maugham, der selbst im Nachrichtendienst tätig war (1976), und eine Sammlung berühmter Spionagegeschichten von Eric Ambler (1964/1966).
5.
Gruppenkriminalität
Die Kriminalität von Gruppen hat in der Geschichte des Verbrechens stets eine große Rolle gespielt (Wolf Middendorff 1972, S. 16-20). Der Begriff Gruppe ist ein sehr weiter; er reicht von der Bevölkerung einer Rechtsgemeinschaft, eines Staates, bis hinunter zur Zweierbande. Kriminalität kann in diesem Zusammenhang bedeuten, daß die Gruppe, wie ζ. B. die Bande, in ihrer Gesamtheit Straftaten begeht, oder daß, wie in einem Staat, nur eine Minderheit straffällig wird. Für die Kriminologie sind Gruppenstraftaten ein besonders wichtiger Untersuchungsgegenstand, weil in Gruppen dynamische Prozesse ablaufen, die Art, Umfang und Intensität
der Kriminalität beeinflussen. Soziologen und Verhaltensforscher haben in mannigfacher Weise geholfen, diese Gruppenprozesse zu klären. Jeder Mensch ist Angehöriger von kleineren und größeren Gruppen, und jede Gruppe entwickelt eine eigene, stärkere oder schwächere Ideologie, die für das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls von Bedeutung ist. Neben der Ideologie ist für den Bestand jeder Gruppe eine gewisse Macht erforderlich, die sich im geschlossenen Auftreten nach außen wie auch in der Führung nach innen zeigt. Aggressionen innerhalb einer Gruppe können relativ leicht auf die Außenwelt abgelenkt werden, und jede Gruppe kann von ihren Angehörigen eine um so größere Hingabe fordern, je bedrohter tatsächlich oder angeblich die Gruppe von außen ist. Nach Konrad Lorenz ist die Reizsituation durch einen Feind für das Abreagieren sozialer Aggression geradezu erforderlich. Es gibt also eine Wechselwirkung zwischen äußerer und innerer Aggression (Wolf Middendorff 1967, S. 125). Über das Sozialverhalten kleiner Gruppen in früheren Zeiten gibt es nur wenig Material; wir kennen ζ. B. eine Reihe von Gruppen, die nur zeitweise oder teilweise Aktivitäten ausübten, die als kriminell gelten. In der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie spielten die Uskoken eine wechselhafte und kriminologisch interessante Rolle. Die Uskoken waren vor der Unterdrückung durch die Türken auf habsburgisches Gebiet geflohen. Sie wurden an der Militärgrenze angesiedelt und sollten Türkeneinfälle abwehren; man hatte nichts dagegen, daß sie - gleichsam zur Übung - auch im Frieden hin und wieder in türkisches Gebiet einfielen. Das taten sie so gründlich, daß ihnen schließlich diese Tätigkeit auf dem Lande nicht genügte; sie gingen als Seeräuber auf das Meer hinaus, drangen in die Adria vor und waren die Ursache zum Krieg zwischen Habsburg und Venedig. Anschließend waren sie als die treuen Soldatenkinder des deutschen Kaisers wieder hervorragende Kämpfer. Nüchterner betrachtet, waren sie „nicht die besten Elemente"; sie gingen mit unnötiger Grausamkeit vor, und ein großer Teil von ihnen wurde aufgehängt, der Rest wieder an die Militärgrenze gebracht (Wolf Middendorff 1972, S. 20). Ähnliche Beispiele sind aus Griechenland bekannt (Johannes Gaitanides 1978, S. 126). Bis heute werden indessen solche Gruppen, hier die Uskoken, auch von Dichtem besungen (Paula von Preradovic 1929, S. 41). Uber die Räuber und Gauner des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland liegt nunmehr die zusammenfassende Arbeit von Carsten Küther (1976) vor. Räuber waren zur damaligen Zeit gleichermaßen Feind aller Menschen und Helfer der Unterdrückten, Zumindestens gaben sie sich diesen Anschein und erreichten damit einen für sie günstigen Ruf und Hilfe und Rückhalt in der Bevölkerung. Selbst in der wohlgeordneten Schweiz konnten es Sozialrebellen und Räuber zu einem gewissen Anse-
Historische Kriminologie hen in der Bevölkerung bringen (Paul Hugger 1967; Nold Halder 1977). Von den Sozialrebellen und den Banditen der Vergangenheit (E. J. Hobsbawm 1959 und 1972) führt ein gerader Weg bis zu den Stadtguerillas und den Bankräubern aus politischen oder nur vorgegebenen politischen Gründen der Gegenwart (Antonio Tellez 1974; Sante Notarnicola 1974). Auch die Persönlichkeit moderner Terroristen läßt sich - zumindest zu einem Teil - aus den Erfahrungen der Vergangenheit über Gruppenkriminalität erklären; auf keinem anderen Gebiet erscheint es zur Zeit so wichtig, diese Erfahrungen praktisch zu verwerten. Auch über die Kriminalität innerhalb größerer Gruppen gibt es für die Vergangenheit ein erhebliches Defizit an Forschung. So hat man bisher ζ. B. kaum Erfahrungen über die Kriminalität innerhalb größerer weltlicher und zugleich religiöser Gemeinschaften, wie etwa des deutschen Ritterordens und des Johanniter- und Malteserordens (Ernie Bradford 1972; Berthold Waldstein-Wartenburg 1969). In den Archiven des Malteserordens in Malta wie in denen des Johanniterordens auf Rhodos liegen zum Beispiel ungehobene Schätze an Materialien über Strafrecht und Kriminalität. Die Theorie vom Kulturkonflikt besagt, daß zwischen den Wertvorstellungen einer großen Gruppe und denen einer kleinen Gruppe wie ζ. B. Gastarbeitern, die in der großen Gruppe, dem Staat, leben, Spannungen auftreten können (Hans Joachim Schneider 1974, S. 58). Es wäre heute bei uns in manchen Strafprozessen wichtig zu wissen, mit welchen Vorstellungen von Ehre, Liebe und Ehe beispielsweise Süditaliener nach Deutschland kommen (Wolf Middendorff 1978), und daß ζ. B. in Kreta die alten Auffassungen von der Notwendigkeit einer Blutrache noch lebendig sind (Ute Kunstmann 1978). Im übrigen ist es für die Zukunft eine der großen Aufgaben der Historischen Kriminologie, eine Geschichte des Verbrechens in Deutschland zu schreiben, wobei Schwerpunkte der Arbeit auf den Wandlungen der Kriminalität und den entsprechenden staatlichen Reaktionen liegen müßten. Daneben wäre es reizvoll, charakteristische Merkmale zwischen der Kriminalität verschiedener Länder herauszuarbeiten, wie ich dies schon (1959,1967,1970) in bezug auf die USA, Italien und andere Länder getan habe.
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ATTENTAT 1.
Allgemeines
Das Wort Attentat, das heute im Alltags-Sprachgebrauch häufig verwendet wird, kann nicht eindeutig definiert werden. Man gebraucht es ebenso für Anschläge auf Eisenbahnen wie Autobahnen wie für politische Morde oder auch Brandstiftungen. In den folgenden Ausführungen soll das Wort Attentat als ein Mordanschlag auf ein Opfer verstanden werden, das an der Spitze oder an hervorragender Stelle eines Staates steht oder diesen in anderer Form repräsentiert oder für den Täter lediglich einen entsprechenden Symbolwert darstellt. Das Attentat in diesem Sinne ist eine Form des politischen Mordes (Rasch 1975). Die Attentäter kann man in zwei große Gruppen aufteilen, die sich nicht immer scharf und eindeutig gegeneinander abgrenzen lassen: Einzeltäter und Gruppentäter. Die Einzeltäter können - einer Einteilung von Langemann (1956) folgend - echte oder vorgeschobene Einzeltäter sein. Die echten Einzeltäter handeln aus eigenem EntschluB, haben sich allerdings zuvor oft ihre Meinung nach „Vorbildern" oder Ideologien gebildet. Die vorgeschobenen oder unechten Einzeltäter führen zwar die Tat allein und selbständig aus, handeln aber auf Befehl ihrer Organisation oder ζ. B. des Geheimdienstes ihres Landes. Die Gruppentäter haben sich zur gemeinsamen Planung und Ausführung des Attentates zusammengefunden. Von 52 von Langemann untersuchten Attentaten waren 13 von echten Einzeltätern, 17 von vorgeschobenen Einzeltätern und 22 von Gruppentätern begangen worden. Langemann glaubte, im 20. Jahrhundert werde die Erscheinungsform des echten Einzeltäters fast vollkommen zurücktreten. Langemann trifft die weitere Unterscheidung zwischen dem Finalattentat, das mit dem Anschlag sein Ende findet, und dem Initialattentat, das einen Staatsstreich oder eine Revolution auslösen soll. Die folgenden Ausführungen befassen sich mit 56 Finalattentaten; von ihnen sind 36 Einzelattentate (30 Männer und 6 Frauen) und 20 Gruppenattentate. Die Beispiele spiegeln die ganze Spannweite der Attentate wieder. Die Auswahl der Fälle war vom vorhandenen Material abhängig; es gibt zwar eine Fülle von Veröffentlichungen über Attentate, aber nur wenige Arbeiten sind für den Kriminologen von Wert. Bei den Literaturangaben wurden nur die wichtigsten Arbeiten aufgeführt, und bei der Auswahl war ihr kriminologischer Wert ausschlaggebend. Fachhistoriker haben leider der Persönlichkeit des politischen Mörders in der Vergangenheit nur selten Aufmerksamkeit geschenkt. Historische Biographien enden mit der Ermordung ihres Helden an dem Punkt, an dem das Interesse des Kriminologen beginnt. Auf der anderen Seite darf nicht verkannt werden, daß es in
158
Attentat
Vergangenheit und Gegenwart besonders schwer war bzw. ist, Ermittlungen in Attentatsfällen durchzuführen, insbesondere wenn noch aktuelle politische Interessen berührt werden. Zudem wandeln sich die Interessen der Historiker: in der antiken Geschichtsschreibung betonte man die persönlichen Motive der Tyrannenmörder und schob sie ungebührlich in den Vordergrund. Heute ist man unter Politikern und Historikern eher geneigt, politische Motive zu stark zu betonen und den persönlichen Hintergrund des Attentäters zu vernachlässigen. Die bis heute wohl ergiebigste Studie über das Attentat wurde von Langemann verfaßt; die erste neuere statistische Arbeit ist die von Mindt, Kiener (1976); die Autoren haben 215 Fälle aus den letzten 200 Jahren erfaßt, allerdings, wie sie selbst sagen,
aus recht heterogenen Quellen. Mangels ausreichender verwertbarer statistischer Daten liegt der Schwerpunkt der Auswertung der folgenden Studie auf der historisch-kriminologischen, besser der biographischen Methode, wie sie der Kriminalpsychologie und der allgemeinen Individualpsychologie nicht fremd ist (Thomae 1969). Das Werkzeug des Historikers, Kriminologen und Psychologen, der sich mit dem Attentat befaßt, das einfühlende Verstehen - „die Einreihung eines gegebenen seelischen Vorgangs in einen sinngesetzlich wirksamen Sinnzusammenhang" (Mezger) - muß sehr vorsichtig angewandt werden. Mit dieser Vorsicht soll versucht werden, aus den folgenden Fällen und dem sonst vorhandenen Material ein Gesamtbild des Attentats zu entwerfen.
Einzelattentate Männer 1. Paris
14. 5.1610
2. Wien
12.10.1809
3. Mannheim
23. 3.1819
4. Paris
13. 2.1820
5. Paris
3. 1.1857
6. Baden-Baden
14. 7.1861
7. Bad Kissingen
4. 7.1874
8. Berlin 9. Washington D.C. 10. Genf 11. Buffalo
11. 5.1878 2. 7.1881 10. 9.1898 6. 9.1901
12. Milwaukee
14.10.1912
13. Paris
31. 7.1914
14. Wien
31.10.1916
15. München
21. 2.1919
16. Lausanne
10. 5.1923
17. Wien
1. 6.1924
18. Paris
6. 5.1932
19. Miami
15. 2.1933
Der Prozeßbevollmächtigte Francois Ravaillac (31) erstach König Heinrich IV. von Frankreich. Der Lehrling Friedrich Staps (17) versuchte, Kaiser Napoleon I. zu erstechen. Der Theologiestudent Carl Ludwig Sand (23) erstach August von Kotzebue. Der Sattler Louis Pierre Louvel (37) erstach den Herzog von Berry. Der Priester Jean Louis Verger (30) erstach den Erzbischof von Paris. Der Jurastudent Oskar Becker (22) schoß auf König Wilhelm I. von Preußen. Der Böttchergeselle Eduard Franz Ludwig Kullmann (21) schoß auf Bismarck. Der Klempnerlehrling Max Hödel (21) schoß auf Kaiser Wilhelm I. Der Anwalt und Evangelist Charles Guiteau (39) erschoß Präsident James Garfield. Der Berufslose Luigi Luccheni (25) erstach Kaiserin Elisabeth von Österreich. Der Handwerker und Bauer Ldon F. Czolgosz (28) erschoß Präsident McKinley. Der Berufslose Johann Nepomuk Schrank (36) schoß auf Präsident Theodore Roosevelt. Der Arbeitslose Raoul Villain (28) erschoß den Sozialistenführer Jean Jaur£s. Der Politiker Dr. Friedrich Adler (37) erschoß Ministerpräsident Graf Stürghk. Der Student Anton Graf Arco (21) erschoß Ministerpräsident Kurt Eisner. Der frühere russische Offizier Moritz Conradi (26) erschoß einen russischen Diplomaten. Der Gelegenheitsarbeiter Karl Jaworek (28) schoß auf Bundeskanzler Seipel. Der Berufslose Paul Gorguloff (37) erschoß Präsident Paul Doumer. Der Maurer Giuseppe Zangara (32) schoß auf Präsident Franklin D. Roosevelt.
Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung 20 Jahre Zuchthaus 14 Jahre Zuchthaus Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung Lebenslänglich Selbstmord Todesurteil Hinrichtung Irrenhaus Freispruch 1936 ermordet Todesurteil Begnadigung und Amnestie Todesurteil Begnadigung Freispruch Fünf Jahre schweren Kerker Todesurteil Hinrichtung Todesurteil Hinrichtung
Attentat 20. Davos
4. 2.1936
21. Paris
7.11.1938
22. München
9.11.1938
23. München
8.11.1939
24. Mexico City
20. 8.1940
25. München
12.12.1957 15.10.1959
26. Dallas/Texas
22.11.1963
27. Kapstadt
6. 9.1966
28. Memphis Tennessee 29. Los Angeles
4. 4.1968 5. 6.1968
30. Washington D.C. 16. 5.1972
31. Paris
13. 7.1793
32. Petersburg
5. 2.1878
33. Interlaken
1. 9.1906
34. Moskau
30. 8.1918
35. Sacramento/Cal. 5. 9.1975 36. San Francisco 22. 9.1975
37. Athen 38. Rom 39. Brügge 40. Canterbury 41. Paris
42. Paris
159
Der Medizinstudent David Frankfurter (26) erschoß den Landesgruppenleiter der NSDAP Wilhelm Gustloff. Herschel Gruenspan (17) erschoß den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath. Der Student Maurice Bavaud (22) versuchte, Hitler zu erschießen. Der Tischler Georg Elser (36) verübte ein Sprengstoffattentat auf Hitler. Der GPU-Agent Ramon Mercader (27) erschlug Leo Trotzki.
18 Jahre Zuchthaus 1945 begnadigt Schicksal unbekannt Todesurteil Hinrichtung Am Kriegsende im KZ getötet 20 Jahre und 1 Tag Zuchthaus Der KGB-Agent Bogdan Staschinskij (1931 ge- Acht Jahre boren) tötete die ukrainischen Exilpolitiker Dr. Zuchthaus Lev Rebet und Stefan Bandera. Der Berufslose Lee Harvey Oswald (24) erschoß Präsident John F. Kennedy. Erschossen Der Parlamentsdiener Dimitrio Tsafendas (48) erschoß Ministerpräsident Verwoerd. Irrenhaus Der Berufslose James Earl Ray (40) erschoß 99 Jahre Martin Luther King. Freiheitsstrafe Der Berufslose Jordanier Sirhan B. Sirhan (24) Todesurteil umgev andelt in erschoß Robert Kennedy. Lebenslänglich Der Berufslose Arthur Bremer (21) schoß auf 53 Jahre Freiheitsstrafe Gouverneur Wallace. Frauen Charlotte Corday (21) erstach Jean Paul Marat. Todesurteil Hinrichtung Vera Sassulitsch (27) schoß auf den Stadthaupt- Freispruch mann General Trepow. Tatjana Leontieff (23) erschoß den Rentner Vier Jahre Müller aus Paris. Zuchthaus, dann Irrenanstalt Die Sozialrevolutionärin Fanja Kaplan schoß auf Erschossen Lenin. Lebenslänglich Lynette Fromme (27) schoß auf Präsident Ford. Lebenslänglich Sara Moore (45) schoß auf Präsident Ford.
Gruppenattentate Harmodios und Aristogeiton töten den Tyran- H. getötet. nen Hipparchos. A. hingerichtet. 15.3.44 Brutus und Cassius u. a. töten Caesar. Brutus Selbstmord. v.Chr. Cassius Selbstmord. 2. 3.1127 Ritter Bertulf u. a. erschlagen Karl den Guten, Täter gelyncht. Graf von Flandern. 29.12.1170 Hugh de Moreville und drei andere Ritter er- Nichts bekannt. schlagen Erzbischof Thomas Becket. 24.12.1800 Frangois Carbon u. a. verüben ein Sprengstoffat- Carbon und Saint Retentat auf den Konsul Napoleon. jant Todesurteil und Hinrichtung, andere Freiheitsstrafe 14. 1.1858 Orsini und andere verüben ein Sprengstoffatten- Orsini, Pieri und de tat auf Napoleon III. Rudio Todesstrafe, de Rudio begnadigt. Gomez lebenslänglich. 514 v.Chr.
160
Attentat
43. Washington D.C. 14. 4 . 1 8 6 5 44. Petersburg
13. 3.1881
45. Dublin
6. 5 . 1 8 8 2
46. Rüdesheim
Sept. 1883
47. Sarajevo
28.
48. Petersburg
29.12.1917
49. Bad Griesbach
26.
8.1921
50. Berlin
24.
6.1922
6.1914
9.10.1934
51. Marseille
27.
52. Prag
5.1942
6.11.1944
53. Kairo
17. 9.1948
54. Jerusalem
55. Washington D.C. 56. Paris
1.11.1950 22.
2. Die
8.1962
Booth u. a. töten und verletzen Präsident Lincoln Vier Todesurteile. Vier Freiheitsstrafen. und Außenminister Seward. Sofia Perowskaja u.a. töten Zar Alexander II. Sechs Todesurteile. Fünf hingerichtet, einer begnadigt. Carey u. a. töten Staatssekretär Lord Cavendish Fünf Todesurteile. Weitere Freiheitsstraund Unterstaatssekretär Burke. fen. Reinsdorf u.a. versuchen ein Sprengstoffattentat Drei Todesurteile. auf Kaiser Wilhelm I. und andere auszuführen. Eine Begnadigung. Gavrilo Princip u. a. töten Erzherzog Franz Fer- Drei Todesurteile. dinand und seine Frau. Und Freiheitsstrafen. Fürst Felix Jussupoff u. a. töten Rasputin. Jussupoff und Großfürst Dimitri verbannt. Tillessen und Schulz erschießen den Zentrums- Tillessen 15 Jahre. Schulz 12 Jahre politiker Erzberger. Zuchthaus. Kern, Fischer u. a. töten Außenminister Rathe- Kern erschossen. Fischer Selbstmord. nau. Freiheitsstrafen. Kirin-Dimitrow u. a. töten König Alexander I. Freiheitsstrafen. von Jugoslawien. Kubis u. a. töten den Stellvertretenden Reichs- Selbstmord. protektor in Böhmen und Mähren Heydrich. Bet Zouri und Hakim töten den englischen Todesurteil. Staatsminister für den Mittleren Osten, Lord Moyne. Jüdische Untergrundkämpfer töten den Ver- Nichts bekannt. mittler der Vereinten Nationen, Graf Bernadotte. Collazo u. a. versuchen, Präsident Truman zu tö- Todesstrafen. ten. Umgewandelt. Bastien-Thiry u. a. versuchen, Präsident de Bastien-Thiry TodesGaulle zu töten. urteil. Freiheitsstrafen.
Tatausführung
Von den 30 männlichen Einzeltätern erreichten 20 ihr Ziel, die Tötung des Opfers, und zwar 13 durch Erschießen (darunter einmal mit einer Giftpistole), 6 durch Erstechen und einer durch Erschlagen. Von den 6 Frauen erreichte nur Charlotte Corday ihr Ziel durch Erstechen, die übrigen benutzten Schußwaffen, wobei Tatjana Leontieff ihr in Aussicht genommenes Opfer, einen früheren russischen Innenminister, mit einem französischen Rentner verwechselte und letzteren tötete; die anderen 4 verletzten ihre Opfer oder schössen daneben. Die Verwendung von Hieb- und Stichwaffen sowie von Handfeuerwaffen setzt voraus, daß es dem Täter gelingt, in die unmittelbare Nähe des Opfers, bei Stichwaffen auf Armeslänge, heranzukommen. Früher galt das Attentat mit Stichwaffen als die klassische Form des politischen Mordes; nach dem Aufkommen von Schußwaffen und der immer stärkeren
Bewachung von Staatsoberhäuptern und führenden Politikern trat die Schußwaffe mehr in den Vordergrund. Die Wahl der Waffe mag auch statt von äußeren Umständen von der Persönlichkeit des Täters abhängen. So läßt nach v.Hentig die Wahl einer Hieb- und Stichwaffe „tief in das Gefühlsleben eines Mörders hineinsehen". Andere Täter haben zur Schußwaffe eine emotionale und irrationale Beziehung; die Waffe ist geeignet, Selbstunsicherheit und Ängstlichkeit zu kompensieren, und sie vermittelt ein Gefühl von Macht und Potenz (Gundolf 1971). Für viele Attentäter sind auch die nahe Konfrontation mit dem Opfer und die Risikosituation wichtig (Mindt, Kiener). Die Nähe zum Opfer erschwert zugleich die Flucht, insbesondere wenn die Tat in geschlossenen Räumen verübt wird, was auf etwa die Hälfte der Einzelattentate zutrifft. Bei Gruppenattentaten zeigt schon die Wahl des Tatortes, daß die Tendenz zur Sicherung des eigenen Lebens stärker ausgeprägt ist. Es ist eigentlich erstaunlich, daß von
161
Attentat Einzel- und Gruppentätern nicht mehr Attentate mit Gewehren mit Zielfernrohr ausgeführt werden, die eine gewisse Chance der Flucht bieten (Oswald, Ray). Erstaunlich ist auch, daB manche Attentäter trotz nächster Nähe zum Ziel ihr Opfer verfehlt haben; Oskar Becker befand sich in nächster Nähe zu König Wilhelm und brauchte nicht zu fürchten, daß er von irgend jemand anderem bei seinem Vorhaben gestört werden könnte. Außerdem hatte er fleißig mit seiner Pistole geübt, dennoch schoß er zweimal daneben. Man kann nur vermuten, ob Täter in diesen Fällen einfach aufgeregt sind oder instinktiv vor dem Mord zurückschrecken. Einige Einzeltäter verwundeten oder töteten Personen, die sich in der Nähe oder in der Begleitung ihres Opfers befanden. Sirhan verletzte 5 Personen, die sich in der Nähe von Robert Kennedy befanden, Oswald verwundete den Gouverneur von Texas, Connally, Zangara erschoß den Oberbürgermeister von Chicago, der sich in Gesellschaft von Präsident Roosevelt befand. In einem Fall (Elser) wurde für das Attentat Sprengstoff benutzt. Elser hätte fast mühelos entkommen können, wenn er nicht noch einmal nach München zurückgefahren wäre, um die Einstellung des Zünders zu überprüfen. Die Schwäche des Sprengstoffanschlags lag darin, daß eine Änderung des ursprünglichen Zeitplanes - Hitler verließ den Bürgerbräukeller früher als beabsichtigt - den Erfolg vereitelte. Die Verwendung von Sprengstoff zeigt, daß die Attentäter keine Rücksicht auf das Leben der Menschen nehmen, die sich gewollt oder ungewollt in der Nähe des in Aussicht genommenen Opfers befinden. Der Umkreis der Wirkung läßt sich beim Sprengstoffanschlag nur sehr schwer oder überhaupt nicht begrenzen. Beim Attentat auf Hitler wurden 7 Menschen getötet und 63 verletzt. Daß sich unter 30 Fällen nur ein Sprengstoffanschlag befand, ist kein Zufall. Der Gebrauch dieses Mittels setzt in der Regel Fachkenntnis sowie intensive Arbeit und konsequente Vorbereitung voraus, d.h. Eigenschaften, die wir in der Persönlichkeit des politischen Mörders nur in sehr geringem Maße finden. Elser war ein Ausnahmefall. Gruppentäter haben eine bessere Chance, ihr Ziel zu erreichen. Sie können eine Arbeitsteilung vornehmen, die vorhandenen Waffen und Sprengmittel verteilen und von mehreren Seiten oder mehrfach nacheinander angreifen. Bevorzugte Opferposition ist die Kutsche, heute das Auto, insbesondere wenn der Fahrer gezwungen ist, langsam zu fahren, ζ. B. in einer scharfen Kurve. Obwohl Gruppentäter dazu neigen, häufiger Sprengstoff zu verwenden als Einzeltäter (Mindt, Kiener), sind unter den 20 untersuchten Gruppenattentaten nur 2 derartige Fälle, die beide mißlangen. Napoleons betrunkener Kutscher fuhr schneller und waghalsiger als sonst um die von den Attentätern aufgebauten Hindernisse herum, so daß der mit Sprengstoff gefüllte Karren erst explodierte, als Napoleon die Rue Saint Niijaise schon verlassen hatte. Reinsdorf und Genossen hatten ge-
plant, die deutschen Bundesfürsten anläßlich der Einweihung des Niederwalddenkmals in die Luft zu sprengen und hatten Sprengstoff in ein Abflußrohr unter der Anfahrtsstraße gepackt. Da es in der Nacht vor der Einweihung regnete, wurde die Zündschnur naß, und der Anschlag mißlang. Nur in einem Fall der Neuzeit, im Phoenix Park in Dublin, wurden die Opfer erstochen; ein Zeichen für besondere Roheit oder für die extreme Armut im damaligen Irland.
3. Die Täterpersönlichkeit Obwohl Attentate größte Aufmerksamkeit erregen und es nahe liegt, die Persönlichkeit der Attentäter genauestens zu untersuchen, fehlt es doch vielfach an dem notwendigen Aktenmaterial, weil entweder die Täter bei ihrem Attentat sofort erschossen wurden, man sie aus politischen Gründen sehr schnell verurteilte und hinrichtete, oder weil sie Selbstmord begingen; andere wiederum verweigerten jede Zusammenarbeit mit den Untersuchungsbehörden. Unter diesen Umständen ist es beim Attentäter noch schwerer als beim sonstigen Täter zu ermitteln, welche kriminologischen Faktoren zu der bisherigen Lebensentwicklung und entscheidend zum Tatentschluß beigetragen haben. Sicher finden wir in den meisten Fällen eine schwer durchschaubare Mischung von mehreren kriminologischen Faktoren und die Täter handelten aus mehr als einem Motiv. „So edel die jeweiligen Attentäter ihre Motive auch darstellen mögen, in der Praxis des politischen Mordgeschehens gesellen sich zu den rein politischen meist noch Gründe privater Natur, und das hieraus resultierende Motivgeflecht aus politischem Idealismus und allzu menschlichen Regungen wie Haß, Rache, Mißgunst, Ehrgeiz, Machtgier und die Aussicht auf persönliche Vorteile aller Art, sei es jenes der Mörder selbst oder ihrer Auftraggeber, läßt sich im Einzelfall meist nur unvollkommen enträtseln . . . handelt es sich um Idealisten, Überzeugungstäter, Kriminelle, Psychopathen, Wahnsinnige, indirekte Selbstmörder, blinde Fanatiker oder machtgierige Egoisten"? (Zentner 1968) Auch in einer amerikanischen Untersuchung wird treffend gesagt, viele politische Morde seien nur „tangential politisch" (Havens u.a. 1970). Schon früh hat man versucht, Typologien des politischen Mörders zu entwickeln. V. Holtzendorff (1875) nannte an erster Stelle den Mörder aus persönlicher Rache für eine wirkliche oder vermeintliche Beleidigung. Es folgt der Täter aus Pflichtwahn, der von der Verdienstlichkeit des eigenen Tuns in religiöser, ethischer oder, politischer Hinsicht fest durchdrungen ist und sich nach der Tat mit voller Überlegung selbst dem Untergang weiht, bzw. sich im Strafverfahren nicht verteidigt. An dritter Stelle wird der Mörder aus Rechtswahn genannt, dessen Wahn auf der Meinung beruht, „daß politisch gefährliche Gegner um der Idee willen getötet werden
162
Attentat
dürfen: eine Ansicht, die bei unklaren Köpfen in den untersten Volksklassen vorkommt und der Verworrenheit kirchlicher, politischer oder sozialistischer Agitation zuzurechnen ist". Die Schwäche dieser Typologie ist offensichtlich, sie zeigt aber die grundsätzlichen Schwierigkeiten jeder Typologie im Bereich der Kriminologie. Andere Versuche hatten das Ziel, einen besonderen Typ des „Königsmörders" herauszuarbeiten. Regis faßte die charakteristischen Züge dieses Täters so zusammen: „1. Alter: 20 bis 25 Jahre. 2. Herkunft: Selbstmörder oder Epileptiker in der Aszendenz. 3. Natur: krankhafte Instabilität, religiöser, politischer oder sozialer Mystizismus. 4. Geisteszustand: Wahn, der sich durch den Glauben, eine Mission zu erfüllen, verrät. Zuweilen bestehen traumhafte Halluzinationen. 5. Attentat: keine Komplizen, lange Planung, Benutzung eines schneidenden Gegenstandes, festes Zuschlagen, kein Fluchtversuch nach dem Attentat. 6. Prozeß: sie versuchen nicht, ihre Schuld zu leugnen, im Gegenteil rühmen sie sich ihres Verbrechens. 7. Bestrafung: wird mit Mut, Unempfindlichkeit und in theatralischer Pose ertragen. 8. Haltung der untersuchenden Ärzte: Beeindruckt von der Schwere des Attentates schließen sie auf Verantwortlichkeit, trotzdem der Königsmörder ein nicht verantwortlicher Geistesgestörter ist" (Lange-Eichbaum, Kurth 1967). 1930 machte Gast einige Bemerkungen zum Typ des politischen Attentäters, die für viele Täter heute noch Gültigkeit besitzen: „Parallel mit dem sympathisch berührenden Charakterzug des unbedingten Festhaltens an der Idee, des Einstehens mit dem eigenen Leben für die Tat, die nach Ansicht des Täters den größten Wert für die Menschheit oder wenigstens für die Nation hat, geht allerdings sehr häufig ein auffallend starker Mangel an Intelligenz. Die politischen Mörder sind vielfach Naturen, die sehr wenig Kritikfähigkeit zeigen, sie haben kein Gefühl für das Mögliche oder nicht Mögliche; dazu kommt meist eine leidenschaftliche Veranlagung, die sie im Verein mit dieser Kritiklosigkeit Suggestionen leicht zugänglich macht, und die ungeheure Rolle, die die Suggestion bei politischen Verbrechen spielt, ist ja nur zu bekannt. Der F a n a t i s m u s , der die meisten politischen Verbrecher auszeichnet, liegt ebenfalls auf derselben Linie, denn starker Wille und schwache Intelligenz sind die für ihn bezeichnenden Merkmale." Fanatismus, ein dem religiösen Bereich entnommener Begriff (fanaticus heißt von der Gottheit ergriffen, rasend), läßt sich allgemeiner definieren als die Bereitschaft zur rücksichtslosen Durchsetzung eines absolut gesetzten Zieles ohne Abwägung der
Vor- und Nachteile und ist zu allen Zeiten zwiespältig beurteilt worden; man kann beim politischen Mord aus Fanatismus insofern einen auch moralisch gerechtfertigten Unterschied machen, als es etwas anderes ist, ob z.B. ein Attentäter Unbeteiligte mitleiden läßt oder nicht. In den USA ermittelte man für jene Täter, die Anschläge auf amerikanische Präsidenten verübt hatten, ein sozialpsychologisches Profil. Aufgrund der ermittelten Daten prognostizierte man, der nächste Präsidentenmörder werde wahrscheinlich klein und von zartem Körperbau sein. Er werde ein Fremder (Ausländer) sein und aus einer zerbrochenen Familie kommen, in der wahrscheinlich der Vater abwesend sei oder keine gute Beziehung zu seinem Sohn habe. Der Attentäter werde einsam, unverheiratet und ohne feste Freundin sein. Er werde keine feste Arbeit haben und sich mit einer politischen oder religiösen Bewegung identifizieren. Der Mord werde ausgelöst durch ein besonderes Ereignis, das mit dieser Bewegung in Zusammenhang stehe. Obwohl der Täter sich mit dieser Bewegung identifiziere, gehöre er ihr nicht an und trage auch sonst nichts zu ihr bei (Kerkham 1970). In heutiger Sicht unterscheidet Göppinger die „matten" Fanatiker, z.B. Sektenangehörige, die den Kriegsdienst verweigern, und die „Kampffanatiker", die entweder für ihre persönliche Sache oder als „Ideenfanatiker" für ein Programm kämpfen. Daneben gibt es noch jene Fanatiker, denen es nur darauf ankommt, „überhaupt zu kämpfen und ihre Person in den Vordergrund zu rücken" (Dietrich 1968). Von Fanatismus allein zu sprechen, genügt nicht; es fragt sich, wie Fanatismus entsteht und in welchem Verhältnis er zu anderen Faktoren steht. Bei einer Minderheit der Fanatiker, die ein politisches Attentat begehen, steht die Idee am Anfang, es folgt darauf die Störung des Verhältnisses zu Familie, Beruf und Umwelt, und nach der Tat wird die Idee ebenso kompromißlos wie vorher bis zum Ende vertreten. Die meisten Täter gehören zu jener Mehrheit der Fanatiker, bei denen es mit Frustrationen, Mißerfolgen und beruflichem Scheitern beginnt, und die dann, als Ausweg, in der Luft liegende Ideen aufgreifen und mit Leidenschaft und Fanatismus vertreten, ohne daß dahinter eine gereifte, ausgewogene politische Uberzeugung steht. Zu dieser Gruppe von Attentätern, deren Tat schwerpunktmäßig aus der eigenen frustrierenden Entwicklung erklärt werden kann, gibt es eine Fülle wissenschaftlicher Äußerungen, insbesondere aus psychologischer Sicht. So hängt Fanatismus häufig mit Eitelkeit und Großmannssucht zusammen (Dietrich), oder mit unbefriedigtem Ich-Erweiterungsbedürfnis, mit Selbstzweifeln oder Minderwertigkeitsgefühlen (Walder 1952). Adler erklärte die Taten politischer Fanatiker mit der Überkompensation von Minderwertigkeitskomplexen (1967). Ein Minderwertigkeitsgefühl kann z.B. aus kleinem Wuchs entstehen; von
Attentat neun politischen Mördern in den USA waren alle kleiner als der Durchschnitt der männlichen weißen Bevölkerung. Einschränkend muß daraufhingewiesen werden, daß „Minderwertigkeit" ein relativer Begriff ist und daß es im Leben wohl jedes Menschen ein Gebiet gibt, auf dem er sich im Vergleich mit anderen minderwertig fühlt und doch deshalb nicht zum Attentäter wird. Es kommt hinzu, daß zwischen dem Traum der Gewalt und dem tatsächlichen Mord ein nur quantitativer, nicht aber ein qualitativer Unterschied besteht. Auf jeder Stufe der Entwicklung vom Gedanken über die Drohung zur Tat kann die Kompensation erfolgen, der Traum, das Staatsoberhaupt zu ermorden, kann dem Träumer bereits die volle Befriedigung verschaffen; in welchen Fällen nun aber der Traum genügt und in welchen Fällen es zur Drohung und schließlich zum Attentat kommt, läßt sich nicht prognostizieren, ein Ergebnis, das letztlich für alle Delikte gilt (Herren 1973). Eine amerikanische Untersuchung von 137 Personen, die zwischen 1945 und 1965 Drohbriefe an den jeweiligen amerikanischen Präsidenten geschrieben hatten - die meisten mit echter Unterschrift - ergab, daß ihre Persönlichkeit der der tatsächlichen Attentäter glich (Lester, Lester 1975). Die Persönlichkeit von Personen, die,normale' Erpresserbriefe geschrieben hatten, war dagegen eine andere (Hartogs, Artzt 1970). Einer besonderen Untersuchung ist die Frage wert, wann und wodurch Attentäter zum ersten Mal auf den Gedanken gekommen sind, einen politischen Mord zu begehen, und wieviel Zeit zwischen dem ersten Gedanken und der Tat verstrich. Von einigen politischen Tätern wissen wir, daß sie ihr Vorbild in Geschichte und Literatur gefunden haben; Oskar Becker las viel über den Tyrannenmord, Staps ließ sich von Gedanken hinreißen, die er bei Kleist gefunden hatte, Conradi fühlte sich als ein neuer Wilhelm Teil, Czolgosz erhielt die Anregung zu seiner Tat durch den Mord an König Humbert I. von Italien, Zangara wollte dem Beispiel des LincolnMörders folgen, Charlotte Corday hatte in ihrer Jugend mit Begeisterung Plutarch gelesen, und ihr Idol war Brutus. Arthur Bremer wollte durch seine Tat seinen Namen in der Erinnerung künftiger Generationen neben die von John Wilkes Booth und Lee Harvey Oswald setzen. Wenn übersteigertes Geltungsbedürfnis die treibende Kraft zum politischen Mord ist, mag beim Täter der Wunsch nach einem ruhmvollen Abgang oder einer letzten Bestätigung hinzukommen; die Nähe zum Selbstmord ist dabei offenkundig. Es ist so leicht, sich Macht über andere Menschen zu verschaffen; die Schußwaffe macht auch den Schwächsten stark und gibt ihm Gewalt über Leben und Tod. „Gewalt ist der Zaubertrank der Schwachen. In der Alchimie des Zusammenpralls, glauben jene Männer, werde sich das gewöhnliche Messing ihres Lebens in heroisches Gold verwandeln". (Berger, Neuhaus) Die Faszination der Gewalt und des Tö-
163
tens kann auf labile Charaktere unwiderstehlich wirken (Gundolf 1971). Nach der Theorie des Symbolismus baut sich der politische Täter eine Theorie auf, „die es ihm erlaubt, seinem Vaterhaß freien Lauf zu lassen, ohne sich schuldig zu fühlen". (Mannheim) Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Gleichsetzung des Staates mit der Vaterfigur. „Das Urbild des politischen Attentates ist die Tötung der verehrten und zugleich gehaßten Autorität und der gefürchteten Schutzinstanz" (Ghysbrecht). Religionspsychologen zeigten, daß nach einem Attentat eine unbewußte „Flucht in die Frömmigkeit" erfolgen kann (Beth 1932). Schließlich sei noch auf die Unterscheidung zwischen Grundgesinnung und tatrelevanter Gesinnung hingewiesen. Der Unterschied zwischen beiden kann beträchtlich sein, er liegt in erster Linie im Moment der Dauer. Für die Strafzumessung kann es von großer Bedeutung sein, ob es sich um einen Täter handelt, der aus seiner destruktiven Grundgesinnung heraus - zufällig - auch einen politischen Mord begeht; man könnte hier an Arthur Bremer, James Earl Ray und Lee Harvey Oswald denken; oder ob der Täter nur durch eine besondere Konstellation politischer und sonstiger Umstände zu seiner einmaligen Tat kommt wie ζ. B. David Frankfurter, Friedrich Adler, Graf Arco und Johann Georg Elser. Cum grano salis kann man bei tatrelevanter Gesinnung an den Gelegenheitstäter und bei Grundgesinnung an den Zustandstäter der allgemeinen Kriminalität denken (Herren 1966). Die meisten Attentäter sind sehr jung, das Alter um die 20 herum scheint besonders „attentatsträchtig" zu sein (Langemann 1956). Der Durchschnitt der oben angeführten 30 Einzeltäter lag bei 28,3 Jahren, der jüngste Täter war 17, der älteste 48. Die Berufssituation des Einzelattentäters ist eindeutig; sie ist selten oder nie in Ordnung; die meisten Täter sind gescheiterte Existenzen und haben nur selten echte familiäre Bindungen. Ein Faktor scheint beim Attentat viel gewichtiger als beim gemeinen Mord zu sein: der Täter ist häufig im Land der Tat ein Ausländer oder ein Fremder, zuweilen ist auch das Opfer für den Täter ein Ausländer oder ein Fremder. Unter dem Begriff .Fremder' ist ein Täter zu verstehen, der zwar die Staatsangehörigkeit des betreffenden Landes haben mag, aber entweder im Ausland geboren oder erzogen worden ist, oder sich lange im Ausland aufgehalten hat, oder, wie bei den Attentätern in den USA, Sohn von Einwanderern oder selbst Einwanderer ist und sich noch nicht in die Verhältnisse des Landes eingefügt hat. Man kann unter den Begriff des,Fremden' wohl auch diejenigen Täter einordnen, die sich Zeit ihres Lebens herumgetrieben haben und nirgendwo heimisch geworden sind. Von den 30 Einzeltätern lassen sich 16 in die Kategorie .Fremder' einordnen. Bisher war nur von männlichen Attentätern die Rede; die Frau ist unter diesen Tätern weit weniger vertreten als in der allgemeinen Kriminalität und
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Attentat
auch weniger als beim gemeinen Mord. Es fiel schwer, Uberhaupt Beispiele zu finden, über die wenigstens einiges Material vorhanden war. In den oben aufgeführten 6 Fällen zeigt sich die sehr große Spannweite von der fast reinen Idealistin Charlotte Corday über die Berufsrevolutionärin bis zur Kriminellen und Gescheiterten (Middendorff 1977). Über die Gruppentäter lassen sich noch weniger Aussagen machen als über die Einzeltäter. Mindt und Kiener ermittelten einige Unterschiede der Gruppentäter gegenüber den Einzeltätern: Die Gruppentäter rechtfertigten zu 98 Prozent ihre Tat, nicht zuletzt weil sie zu 85 Prozent aus Minoritätengruppen stammten. Sie standen bezüglich ihrer Bildung und Intelligenz überwiegend über dem Durchschnitt, waren aber oft in ihrer Bildungs- oder Berufslaufbahn gescheitert und fanden neue Bestätigung und Betätigung in der Zusammengehörigkeit der konspirativen Gruppe. Bei den Gruppentätern war der Anteil der Geistesgestörten gering, sie waren mehr besorgt um ihr eigenes Leben und entkamen häufiger als die Einzeltäter, nicht zuletzt, weil der effiziente Täter für die größeren Ziele der Bewegung oder der Minorität, der er angehörte, erhalten werden sollte. Die Gruppentäter kamen aus allen Schichten und Berufen, der Anteil der Soldaten, ehemaligen Soldaten oder militärisch ausgebildeten Untergrundkämpfer war groß; die Gewöhnung an Kampf und Tod erleichterte den Entschluß zum Attentat, wie es auch enge Beziehungen zwischen Soldaten und Kriminellen gibt (Middendorff 1968).
4. Attentat - Mord - Selbstmord Kriminologen wissen seit langem, daß Selbstmord und Mord der allgemeinen Kriminalität sehr eng zusammenhängen. Kinberg nannte den Mord einen „abgeleiteten Selbstmord". Das im Menschen vorhandene Aggressionspotential kann sich in der einen oder anderen Richtung entladen. Selbstmord kann Ersatz für die Ermordung eines anderen Menschen sein; Mord kann auch ein verkappter Selbstmord sein. Es ist weiter bekannt, daß immer schon Täter, sei es eines politischen Mordes, sei es eines gemeinen Verbrechens, ihre Tat deshalb verübt haben, weil sie damit ihre eigene Hinrichtung herbeiführen wollten. Mitbestimmend für diese Handlungsweise war die Überlegung, daß man durch indirekten Selbstmord die schimpflichen Folgen vermeiden könne, die sonst mit einem Selbstmord verbunden waren, bei dem man ohne Absolution starb und nicht kirchlich beerdigt wurde. Nach einem Morde konnte man jedoch beichten und die Absolution erhalten. Ob unbewußt heute noch derartige Vorstellungen nachwirken, ist fraglich. Der Attentäter, der sein eigenes Leben wegwirft, ist um so gefährlicher, weil ihn neben dem Selbstmordwunsch unter Umständen auch noch der Wunsch treibt, als Märtyrer in die Geschichte einzu-
gehen. Zur Zeit des Hohenstaufer Kaisers Friedrich II. gab es ein geflügeltes Wort: „Wer sterben will, ist Herr über das Leben des Königs." Bei der Untersuchung vieler politischer Morde ist es auffallend, wie erstaunlich leicht die Attentäter nicht nur über das Leben anderer Menschen verfügten, sondern auch mit dem eigenen Leben abgeschlossen hatten. Auch englische Untersuchungen haben ergeben, daß Täter eine Zeitlang unentschieden zwischen der Absicht des Mordes und des Selbstmordes hin- und herschwankten. Die gemeinsame Nähe zum Selbstmord - und nicht nur diese - begründet die enge Verwandtschaft zwischen politischem Mord und dem Mord der allgemeinen Kriminalität. Das aus dem Rorschach-Test gewonnene Bild des Mörders hat Ferracuti folgendermaßen zusammengefaßt: „Er ist durch Egozentrizität und Mangel an emotionaler Kontrolle gekennzeichnet, er ist explosibel und unreif, hat Kontaktschwierigkeiten, geringe rationale Kontrolle und ein starkes Verlangen nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung" (Rasch 1975). Wilson unterscheidet drei Typen von Mördern; die kleinste Gruppe der Mörder ist die mit Frustrationserscheinungen, zu der vielleicht auch Charlotte Corday gehört; die zweite Gruppe ist die der Mörder aus Brutalität und Gefühllosigkeit, und die bei weitem größte Gruppe der Mörder ist die, die aus „der Enge ihres Lebens und dem Mangel an Einbildungskraft" heraus tötet (Wilson, Pitman). Die meisten Attentäter lassen sich ebenfalls in dieses Schema einordnen, die Definitionen des politischen und des gemeinen Mörders ähneln sich und die Gemeinsamkeiten sind stärker als die Unterschiede. Der größte und beherrschende Unterschied liegt im Motiv; beim politischen Mörder ist dieses aber sehr häufig ein rein negatives, nämlich ein glühender Haß, der sich keine Überlegung erlaubt, was mit dem beabsichtigten Attentat erreicht werden kann. Wenn diese Täter vorher ruhig die Folgen ihrer Anschläge überdacht hätten, hätten sie zu dem Ergebnis kommen müssen, daß praktisch durch den Tod des Opfers keine wesentlichen politischen Fortschritte erzielt werden können. Wenn sie dies überlegt haben und dennoch töten, sind sie als rein kriminelle Mörder anzusehen. Wenn sie überhaupt nicht überlegt haben und töten, gilt für sie das gleiche. Als Beispiel für eine typische Entwicklung sei auf den Fall Frankfurter hingewiesen. Frankfurter hatte in seiner ausweglosen Lage zuerst den Selbstmord erwogen; dann reifte in ihm der Plan, einen großen politischen Gegner „mitzunehmen" und sich nachher zu töten. Walder (1962) spricht in diesen Fällen von einem „erweiterten Selbstmord". Im psychiatrischen Gutachten über Frankfurter heißt es zu dem Zusammenhang zwischen Mord und Selbstmord: „Wenn die Tat Frankfurters so erklärt werden kann, wie wir glaubten ausführen zu müssen, so ergibt sich von selbst, daß die große Politik in dieser Sache nichts zu tun hat und daß die Haßpropaganda im ganzen Drama nur eine nebensächliche und sekun-
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Attentat däre Rolle gespielt haben kann. Frankfurter kam aus inneren, seelischen Gründen persönlicher Natur in eine psychologisch unhaltbare Situation, von der er sich frei machen mußte. Seine Depression gebar die Selbstmordidee; der in jedem immanente Selbsterhaltungstrieb hat aber die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer abgelenkt." Nach dem Mord wurde der beabsichtigte Selbstmord nicht mehr ausgeführt; auch dies entspricht einem typischen Verlauf. Der Gutachter schrieb: „Nachdem aber die unseligen Kugeln dem Lauf der Pistole entflohen waren, nachdem das Sühneopfer in seinem Blut dalag, irrt Frankfurter verloren im Schnee herum, sucht vergebens die Waffe auch gegen sich selbst loszudrücken. Erschöpft, verflogen, aufgebraucht sind die Kräfte und Energien, die zu einer solchen Tat führen. In ungeheurer Explosion hat sich entladen, was nach Befreiung von untragbarem Druck rang. Ein zweites Mal kann nicht explodieren, was bereits explodiert ist. Frankfurter stellt sich selbst der Polizei." Auch nicht-politische Mörder lassen sich nach ihrer Tat oft widerstandslos festnehmen. Mindt und Kiener unterstreichen die hohe Selbstmordquote der Einzelattentäter; man kann nur vermuten, in wieviel Fällen noch ein indirekter Selbstmord vorliegt. Die Selbstmordquote der Attentäter liegt signifikant höher als die der Täter des allgemeinen Mordes.
5.
Viktimologisches
Es fragt sich, ob es beim Attentat ähnliche Beziehungen zwischen Täter und Opfer gibt wie bei anderen Straftaten. Eine direkte Verbindung zwischen Täter und Opfer, wie sie z.B. beim Familienmord besteht, gibt es beim Attentat normalerweise nicht. Im allgemeinen kennt der Attentäter sein Opfer nicht persönlich. Nach einem Attentat hingegen mag sich zwischen dem Täter oder seinen Angehörigen auf der einen und den Angehörigen des Opfers auf der anderen Seite eine gewisse persönliche Beziehung ergeben. Wir kennen eine Reihe von Beispielen, daß nach einem mißglückten Attentat die Opfer selbst Schonung für die Attentäter verlangten oder daß nach einem geglückten Mord die Angehörigen dem Täter verziehen oder gar für ihn um Gnade baten. Eine indirekte Beziehung zwischen Täter und Opfer ergibt sich beim Attentat schon daraus, daß das im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende Opfer erfahrungsgemäß eine große Anziehungskraft auf psychisch labile Menschen ausübt. Mehrfach hat ein Attentäter schon, wenn er das eigentliche Opfer, weil dieses zu stark geschützt war, nicht erreichen konnte, einen anderen, weniger geschützten und weniger hochstehenden Mann als Ersatz-Opfer getötet. In diese Kategorie gehören die Morde an Ernst vom Rath 1938 in Paris durch Herschel Grünspan und an Wilhelm Gustloff durch Da-
vid Frankfurter 1936 in Davos. Die Auswahl Gustloffs war, wie der Ankläger im Prozeß ausführte, „rein zufällig", von der politischen Tätigkeit Gustloffs hatte Frankfurter nur wenig Ahnung. Louvel wollte im Herzog von Berry die Bourbonen treffen, die er tödlich haßte; Sand konnte seinen Haß gegen Napoleon nicht anders abreagieren, als daß er Kotzebue erstach. Bremer hatte den Traum, Richard Nixon im Frack zu erschießen; er folgte Nixon und anderen Politikern wochenlang und schoß schließlich auf Gouverneur Wallace. Bremer stellte in seinem Tagebuch eine ganz eigenartige Beziehung zu seinem Opfer dar; er nannte Nixon „Nixy" oder „Nixy-Boy" und Wallace „Wally". Eine indirekte Beziehung zwischen Täter und Opfer ergibt sich beim politischen Mord oft auch durch die Nachlässigkeit des Opfers oder seiner Umgebung oder der für seine Sicherheit Verantwortlichen, wodurch die Ausführung des Attentats erleichtert wird. Fast alle Opfer eines Attentats waren in irgendeiner Form gewarnt worden, oft sogar besonders eindringlich dadurch, daß vorher bereits ein oder mehrere Attentate auf sie versucht worden waren. Psychologisch werden Nachlässigkeiten im Verhalten des Opfers oder seiner Umgebung dadurch entschuldbar, daß das Opfer schon lange unter Todesdrohungen lebte und ihm dieser Zustand allmählich so vertraut wurde wie dem Soldaten an der Front, der sich an die tägliche Nähe des Todes gewöhnt hat und in wachsendem Maße leichtsinnig wird. Einer besonderen Untersuchung wäre es wert, die Rolle der Frauen der Opfer zu untersuchen; ihr Ehrgeiz mag in manchen Fällen ein Attentat erleichtert haben. Durch gelungene Attentate wurden die Fehler in der Bewachung bekannt. Wieviele Attentate jedoch durch guten Schutz schon verhindert worden sind, wird man nie erfahren. Auch von Oswald würde die Welt vielleicht nie etwas gehört haben, wenn es bei der Ankunft von Präsident Kennedy auf dem Flugplatz von Dallas noch ebenso geregnet hätte wie vorher in Fort Worth und man dem Wagen dann das kugelsichere Verdeck aufgesetzt hätte. 6. Das Strafverfahren Die Durchführung der Strafverfahren in den (von Middendorff) untersuchten Attentatsfällen war nach Zeit und Land, nach Strafrecht und Strafverfahren sehr unterschiedlich, so daß sich allgemeine Aussagen verbieten. Das längste und das kürzeste Verfahren wurde in den USA durchgeführt: Der Prozeß gegen Sirhan Sirhan dauerte 66 Tage, 90 Zeugen wurden gehört, der Angeklagte hatte 3 Verteidiger, und die Kosten betrugen 1 Million Dollar; Sach- und Rechtslage waren von Anfang an klar. Das kürzeste Verfahren war das gegen James Earl Ray; in einer Verhandlung von 2 Stunden wurde der Angeklagte zu 99 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt; er hatte den Mord an Martin Luther King zugegeben, dafür hatte
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Attentat
der Staatsanwalt auf die Todesstrafe verzichtet. Die „New York Times" schrieb, dieses in den USA sehr häufig angewendete abgekürzte Verfahren sei ein „schockierender Vertrauensbruch gegenüber dem amerikanischen Volk", das ein Recht habe, alle Tatsachen zu erfahren. Auch Sara Moore wurde auf dieselbe Weise zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt. Ihr Pflichtverteidiger erklärte später, er bedauere, daß sie auf die Durchführung der Hauptverhandlung verzichtet habe, denn sie hätte Aussicht gehabt, für vermindert zurechnungsfähig erklärt zu werden und deshalb eine geringere Strafe zu erhalten. Die Mörder des Erzbischofs Thomas Becket unterwarfen sich dem Richterspruch des Papstes; dieser befahl ihnen als Buße, 14 Jahre dem TemplerOrden im Heiligen Land zu dienen und für den Rest ihres Lebens zu fasten und zu beten. In der Geschichte des Attentats begegnen wir nicht nur ordentlichen Gerichten, sondern Sonder-, Militär- und Volksgerichten aller Art. Auch ordentliche Gerichte haben in außergewöhnlichen Fällen und unter außergwöhnlichen Umständen oft Schwierigkeiten, den richtigen Mittelweg einzuhalten. Das Besondere in diesen Verfahren liegt nicht nur darin, daß die Tat oft als Tyrannnenmord gerechtfertigt wird, sondern auch im Problem der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, um die häufig hartnäckig gekämpft wird. Ist es in normalen Mordverfahren das Bestreben der Anklagebehörde, den Täter als zurechnungsfähig anzusehen, so liegt in politischen Prozessen der Wunsch staatlicher Organe nahe, einen Angeklagten möglichst für unzurechnungsfähig erklären zu lassen, um damit auch fast automatisch die von ihm vertretene Idee zu diskriminieren. Die wegen eines Attentates Angeklagten nehmen dagegen zuweilen eher die Gefahr eines Todesurteils auf sich, als die Ernsthaftigkeit ihrer politischen Erklärungen unter Hinweis auf ihren Geisteszustand anzweifeln zu lassen. Ein gutes Beispiel hierfür ist im Prozeß gegen Friedrich Adler zu sehen. Im Prozeß gegen Charlotte Corday hätten der Vorsitzende und die Laienrichter es gerne gesehen, wenn der Verteidiger auf Freispruch wegen Geistesgestörtheit plädiert hätte. Der Verteidiger hatte jedoch nicht den Mut dazu, und Charlotte Corday wäre auch nicht mit diesem Versuch ihrer Rettung einverstanden gewesen. Auf der anderen Seite verhindert eine auf schnelle Vergeltung eingestellte Justiz vielleicht die Erkenntnis der Unzurechnungsfähigkeit eines Attentäters. Donovan wirft der amerikanischen Justiz vor, Guiteau, Czolgosz und Zangara seien unzurechnungsfähig gewesen und trozdem zum Tode verurteilt und hingerichtet worden (Donovan 1962, Polheim 1964). Es läßt sich heute nicht mehr nachprüfen, inwieweit Gorguloff, Caserio, Hödel, Becker und Sand - ganz oder teilweise — unzurechnungsfähig waren; sie alle wurden, bis auf Becker, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Daß die Stellung des psychiatrischen Sachverständigen im politischen Prozeß eine sehr schwere sein kann, bedarf unter diesen Umständen keiner besonderen Erwähnung. Im Verfahren gegen Sirhan wurde ein Psychiater und Psychologe sieben Tage lang als Zeuge der Verteidigung vernommen; insgesamt stritten sich die Gutachter über vier Wochen lang, und einer von ihnen sagte auf den Vorhalt des Anklägers, die Psychiatrie sei noch unterentwickelt: „Wir Psychiater sind keine Spezialisten für die Frage, wo die Gesellschaft die Grenze zwischen gesund und krank ziehen will." Auch in anderen großen Strafverfahren nach einem Attentat hatten es die Richter und vor allem die Laienrichter besonders schwer. Unter dem Einfluß einer Welle von Antikommunismus wurde 1923 Conradi in Lausanne von einer Mehrheit von Laienrichtern freigesprochen; dieses Urteil wurde auch in der Schweiz hart kritisiert und trug zu einer Reform des Strafverfahrens im Kanton Waadt und anderen Kantonen bei. Auch Vera Sassulitsch wurde 1878 von Laienrichtern freigesprochen, nachdem der Staatsanwalt das Attentat als „lobenswerten Protest der verletzten Menschenwürde" bezeichnet hatte. Dasselbe gilt für Villain, der fünf Jahre nach seiner Tat 1919 freigesprochen wurde. Die Verteidigerhaben ihre Aufgabe nicht immer mit bestem Können und bestem Erfolg gelöst; die Verteidiger Sands hätten z.B. versuchen müssen, mildernde Umstände geltend zu machen, um Sand wenigstens das Leben zu retten; stattdessen forderten sie alles, nämlich den Freispruch, und verloren alles. Auf der anderen Seite kann der tüchtigste Verteidiger durch das politische Klima eines Strafverfahrens in seiner Tätigkeit gehindert sein und gar in Gefahr für Leib und Leben geraten. Wir kennen indessen aus der Geschichte eine Reihe von Fällen, in denen mutige Strafverteidiger trotz aller drohenden Gefahren ihre Aufgabe meisterhaft durchgeführt haben (Ullers 1962). Nach vielen Attentaten wurde in der Öffentlichkeit die urewige Problematik des Tyrannenmords leidenschaftlich erörtert, ohne daß es je gelungen wäre, Einigkeit zu erzielen. Diese zwiespältige Beurteilung hat kaum jemand besser ausgedrückt als Lamartine, der über Charlotte Corday schrieb: „Wenn wir für diese erhabene Freiheitsheldin und hochherzige Tyrannenmörderin einen Namen finden wollten, der die gerechte Bewunderung mit dem ernsten Urteil über ihr Vorgehen verbindet, würden wir sie den Engel des Mordes nennen und in einem Wort Bewunderung und Schauder vereinen." Im alten Griechenland und Rom galt der Tyrannenmord nicht als Verbrechen, sondern als lobenswerte Tat, wenn es sich um die Befreiung des Vaterlandes von einem Despoten handelte. In den ersten Jahrhunderten nach Christus herrschte der Gehorsam gegenüber der öffentlichen Autorität vor, in späteren Jahrhunderten änderte die katholische Kirche ihre Haltung. Thomas von Aquin nahm eine mittlere Position ein. Danach darf die Gemeinschaft
Attentat gegen einen Tyrannen, der die Macht usurpiert hat, gewaltsam vorgehen; der Tyrannenmord aus persönlicher Initiative ist nicht erlaubt. Er ist selbst bei unerträglichen Ausschreitungen des Tyrannen untersagt. „Denn es wäre für die Menge wie für ihre Leiter gefährlich, wenn einige auf private Anmaßung hin sich die Tötung wenn auch tyrannischer Herrscher herausnehmen dürften." Zur Begründung fügte Thomas von Aquin hinzu - und das könnte ein Kriminologe unserer Tage geschrieben haben —, nur die Schlechten seien meistens zu solchen Attentaten bereit und ihnen sei jede Herrschaft, auch die guter Fürsten, lästig, und das Volk könne auf diese Weise auch einen guten Herrn verlieren (Tischleder 1948). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rechtfertigte Mazzini den Tyrannenmord, wenn er mit selbstloser Überzeugung verübt werde, und er hieß das von Orsini auf Napoleon III. verübte Attentat gut. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es keine ernstzunehmende politische Richtung mehr, die ein unbedingtes „Recht" zum Tyrannenmord anerkannt hätte, mit Ausnahme des Nihilismus. Albert Camus rechtfertigte in seinem Schauspiel „Die Gerechten" die Anschläge russischer Nihilisten mit der Pflicht zur Preisgabe des eigenen Lebens. In der neuesten Auflage des „Staatslexikons" schließt der Abschnitt über den Tyrannenmord mit dem Satz: „Das Problem des Tyrannenmordes lösten weder Vergangenheit noch Gegenwart, jede Antwort überschattet menschliche Tragik" (Brack 1962).
7. Die
Verschwörertheorie
Professor Grimm (1961), der im Prozeß gegen David Frankfurter die Nebenklage vertrat, schrieb in seinen Lebenserinnerungen, der Prozeß habe einen ungeklärten Hintergrund gehabt. Frankfurter müsse „ohne Zweifel" Hintermänner gehabt haben. Als 1938 Grünspan vom Rath erschoß und ein Jahr später Elser den Anschlag auf Hitler ausführte, waren das Einzeltaten einer, wie gesagt wurde, weltweiten Verschwörung gegen das Dritte Reich. Daß man für diese Verschwörung keine Beweise fand, zeigte nur um so eindringlicher die gefährliche Verschlagenheit der Hintermänner (Heiber 1957). Die Ermordung Präsident Kennedy's ist bis heute so umstritten wie kaum ein anderes politisches Attentat; es werden immer neue Theorien über eine Verschwörung aufgestellt. Die Entstehung der ersten Komplottheorie liegt in den Fehlern der Obduktion begründet, die nicht durch erfahrene Gerichtsmediziner durchgeführt wurde; diese konnten die obduzierten Einschuß- und Ausschußöffnungen nicht unterscheiden (Houts 1968). Die schnelle Verurteilung von James Earl Ray ohne Beweisaufnahme Heß die Spekulationen über eine Verschwörung besonders üppig ins Kraut schießen, insbesondere auch wieder anläßlich seines Fluchtversuchs im
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Juni 1977. Aber auch in fast allen anderen oben aufgeführten Attentatsfällen vermuteten Polizei, Justiz und vor allem die Öffentlichkeit das Vorhandensein eines Komplotts. Heinrich Mann trug dieser Neigung Rechnung, wenn er in seinem Roman über Heinrich IV. Mitwisser des Mörders einführte, die Ravaillac mit Sicherheit nicht hatte. Die Suche nach Verschwörern und Schuldigen entspricht einem uralten menschlichen Bedürfnis; im Leben eines jeden Menschen spielt das Geheime und das Geheimnis eine große Rolle. „Die Psychologie des Geheimen ist daher ein Schlüssel für unser Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen, doch leider ist unser Wissen auf diesem Gebiet noch sehr unzulänglich". Simmel erkannte, daß es irgendeinen konstanten Grund für das Geheimnis im menschlichen Leben geben müsse und daß ein Geheimnis dem Einzelmenschen ein Bewußtsein des Selbstbesitzes verleiht, welches das Identitätsbewußtsein des Menschen fördert (MacKenzie 1969). Es ist daher kein Wunder, daß bei spektakulären politischen Ereignissen oder Attentaten, ja sogar bei Naturkatastrophen, sofort nach dem dahinterliegenden Geheimnis, nach den Schuldigen gefragt wird. Einen der ältesten derartigen Schuldsprüche entlarvte Tertullian um das Jahr 200: „Wenn der Tiber über die Ufer steigt, wenn der Nil sich auf die Fluren ergießt . . . wenn die Erde bebt, wenn Hungersnot und Seuchen auftreten, sofort schreit alles: Die Christen vor die Löwen!" Hofstätter (1972) kommentiert dieses Phänomen aus der Sicht des Psychologen: „Gerüchte treten vor allem in Situationen auf, die für größere Teile der Bevölkerung bedrückend oder bedrohlich sind. Ihre Aufgabe ist es, diese Situationen durch die Kennzeichnung einzelner oder mehrerer Verantwortlicher überschaubar und im Sinne eines egozentrischen Kausalprinzips verständlich zu machen." Bei der Suche nach den Verantwortlichen eines politischen Mordes kommt hinzu, daß es vielen Menschen schwer fällt zu glauben, daß es so einfach sein soll, ein berühmtes und mächtiges Staatsoberhaupt von einem Augenblick auf den anderen zu beseitigen; hinter einem derartigen Ereignis muß eine groß angelegte Verschwörung stecken. In den USA wies man daraufhin, daß Europa eine lange Tradition von Verschwörungen habe, daß der Amerikaner aber eher geneigt sei, einen Zufall anzunehmen, wo der Europäer die „List der Vernunft" suche (Blair Jr. 1969). Im Strafverfahren gegen einen politischen Mörder können Einzelheiten des Sachverhaltes oder der sonstigen ferner liegenden Umstände offen bleiben; es ist die Aufgabe der Gerichte, eine bestimmte Tat abzuurteilen und nicht die, Zeitgeschichte zu schreiben. Es ist daher durchaus möglich, daß für die Urteilsfindung unerhebliche Zweifel und Widersprüche übrig bleiben, die Gerüchten und Theorien über eine Verschwörung oder Hintermänner Nahrung geben. In den Strafverfahren der allgemeinen Kri-
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Attentat
minalität kennen wir ähnliche „Unvollkommenheiten".
8. Erfolg und Folgen Bei der Beurteilung des Erfolges eines Attentates muß zwischen dem unmittelbaren Erfolg - der versuchten oder gelungenen Tötung des Opfers - und der weitergehenden politischen Wirkung unterschieden werden. Für den Historiker ist es selbstverständlich, daß der Tod Präsident Lincoln's einen tiefen Einschnitt für die amerikanische Politik und Geschichte bedeutete; ähnliches gilt für den Tod Präsident Kennedy's, und der Tod von Senator Robert Kennedy verhinderte vielleicht seine Wahl zum Präsidenten der USA. Viele Spekulationen sind möglich. Für den Kriminologen stellt sich die Frage nach dem Erfolg der Tat etwas anders: erreichte der Täter sein über den Tod des Opfers hinausgehendes Ziel, konnte er die später eingetretenen Folgen voraussehen? Die Antwort lautet recht eindeutig: das erstrebte Ziel wurde selten oder nie erreicht, und mit einiger Überlegung und anhand historischer Beispiele hätte der Täter dieses Ergebnis voraussehen können. Aus amerikanischer Sicht ergibt sich das Resum£, daß der politische Mord „als ein überlegtes Instrument der Politik ein höchst ungewisses und waghalsiges Abenteuer ist mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, daß systematische oder andere weitreichende Veränderungen stattfinden" (Kerkham 1970). In manchen Fällen wird von den Attentätern das Gegenteil des Erstrebten erreicht: Die Tat Frankfurters rüttelte nicht nur die europäischen Juden und die Deutschen auf, sondern gab den Deutschen die Rechtfertigung für ihre Judenpolitik. Auf den Mord an Ernst vom Rath folgte die hemmungslose Zerstörung jüdischen Eigentums in der sogenannten Kristallnacht. Durch das Verbrechen Sands wurde jede Reformbewegung für Jahrzehnte aufgehalten. Zar Alexander II. hatte eine liberale Verfassung in der Schublade, als er ermordet wurde. Die Mörder Caesars erreichten nicht die Wiederherstellung der Republik, das Land fiel in Anarchie und Bürgerkrieg, aus dem das Kaisertum hervorging. Das Attentat im Phoenix Park von Dublin beschleunigte nicht die Unabhängigkeit Irlands, sondern verzögerte sie um 40 Jahre (Corfe 1968). Juden ermordeten Lord Moyne, einen Freund der Juden; Puerto Ricaner versuchten, Präsident Truman zu töten, der mehr als jeder seiner Vorgänger für Puerto Rico getan hatte. Auch die persönlichen Träume der Attentäter werden selten Wirklichkeit, außer, daß sie eine meist kurzlebige Publizität genießen. Wohl der einzige, der getötet hatte und trotzdem nachher eine herausragende Stellung erlangte, war der österreichische Sozialistenführer Adler. Eine absolut wirksame Abwehr gegen Attentate wird es auch in Zukunft nicht geben, wohl aber kön-
nen viele Fehler und Unvorsichtigkeiten vermieden werden, die — unabhängig vom politischen System in der Vergangenheit allzu häufig vorkamen. Selbst im Dritten Reich war trotz deutscher Organisationskunst und größter Machtbefugnisse die Sicherheit Hitlers nur unvollkommen gewährleistet. Der Historiker Hoffmann zählt von 1921 bis 1945 circa 43 Attentate und Attentatsversuche auf. Daß Attentäter auf Politiker der mittleren Garnitur ausweichen, wird niemals zu vermeiden sein. Über die Persönlichkeit des Attentäters haben Kriminologen und Historiker wichtige Erkenntnisse gesammelt; es wird aber wohl nie mit Sicherheit zu prognostizieren sein, ob und wann Menschen mit den Eigenschaften des Attentäters den Mord auch tatsächlich begehen werden. Mit dieser Ungewißheit und Gefahr, die gleichermaßen für den politischen wie den gemeinen Mord gilt, werden wir auch in Zukunft leben müssen. Fallsammlungen R. J. D o n o v a n : The assassins. New York 1962. J. K e r k h a m (Hrsg.): Assassination and political violence. New York 1970. H. L a n g e n m a n n : Das Attentat. Hamburg 1956. W. M i d d e n d o r f f : Der politische Mord. BKA. Wiesbaden 1968. W. M i d d e n d o r f f : Die Frau als politische Mörderin. Krim. (1977) S. 78-81 und 120-124. H. R o h d e n : Attentat. Herford 1966. H. W i l d e : Der politische Mord. Bayreuth 1962. C. H. Z e n t n e r : Den Dolch im Gewände. München 1968. Einzeldarstellungen (Auswahl) zu d e n A t t e n t a t e n Zu 1) R. M o u s n i e r : Ein Königsmord in Frankreich. Berlin 1970. M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. Frankreich III. München 1971. S. 9-26. Zu 2) D. K ü h n : Grenzen des Wideretandes. Frankfurt 1972. S. 17-37. Zu 3) H. J. v o n P o l l e r n : Politische Attentate - der Fall Kotzebue. Baden-Württembergische Polizei. Stuttgart 1969. S. 121-139. M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. Deutschland III. München 1972. S.72-105. Zu 4) A. C a s t e l o t : Die großen Stunden von Paris. Wien 1961. S. 215-222. Zu 5) A. K e r s h a w : Murder in France. London 1955. S.21^10. Zu 6) Der neue Pitaval. 32. Teil. Leipzig 1862. S. 1-60. Zu 7) H. J. v o n P o l l e r n : Politische Attentate vor 100 J a h r e n - d e r Mordanschlag auf Bismarck in Bad Kissingen 1874. Das Polizeiblatt Baden-Württemberg. 1974. S. 130-133. Zu 8) E. E y c k : Bismarck III. Erlenbach, Zürich 1944. S.220-230. Zu 9) R. Ρ ο 1 h e i m : Die früheren Mörder amerikanischer Präsidenten im psychiatrischen Urteil. MschrKrim. 1964. S. 241-252. Zu 10) Μ. Μ at r a y , Α. K r ü g e r : Der Tod der Kaiserin Elisabeth von Österreich. München 1970. A. F o r e l : Verbrechen und konstitutionelle Seelenabnormitäten. München 1907. S. 19-43. Zu 13) M. L e C i d r e : L'assassinat de Jean laures. Paris 1961. M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. Frankreich. München 1963. S.121-132. Zu 14) F. A d l e r : Vor dem Ausnahmegericht. Von J. W. Brügel (Hrsg.). Wien 1967. Zu 15) M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. Deutschland II. München 1967. S. 215-256. Zu 16) A. G a t t i k e r - C a r a t s c h : L'Affaire Conradi. Bern 1975. Zu 17) G. Β o t z : Gewalt in der Politik. München 1976. S. 123-129. Zu 18) M. J a c t a : Berühmte Strafprozesse. Frankreich. München 1963. S. 133-157.
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Zeitschriften- und
Sammelwerkaufsätze
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MIDDENDORFF
KRIMINALGEOGRAPHIE Die Kriminalgeographie hat in den letzten Jahren im Rahmen der Verbrechensbekämpfung an Bedeutung gewonnen. Das zunehmende Interesse, das Wissenschaft und Praxis an diesem Zweig der krimi-
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Kriminalgeographie
nologisch-kriminalistischen Forschung (in Vorträgen und Aufsätzen) gezeigt haben, dürfte damit zu tun haben, daß kriminalgeographische Informationen im Bereich der Repression, aber auch im Bereich der Kriminalitätsprophylaxe die realistische „Beurteilung der Lage" erleichtern.
Λ. Zur Definition „Kriminalgeographie" Der Begriff der „Kriminalgeographie" (oder auch Kriminalitätsgeographie) wird in der Literatur nicht einheitlich definiert. Die weitestgehende Definition stammt von v. Hentig (1961). Für diesen ist Kriminalgeographie „nicht nur Klima, Boden, Landschaft, sie ist Geschichte, Wirtschaftskunde und schließt die Lehre von den Wanderungen ein". Nach Mergen (1967) hingegen befaßt sich die „Kriminalitätsgeographie mit der räumlichen Verteilung der Kriminalität auf der Welt, in den verschiedenen Völkern und innerhalb dieser Völker"; die soziologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte werden mit dieser Begriffsbestimmung (bewußt) ausgeklammert. Während also die Definition von v. Hentig für praktische kriminal-geographische Arbeit zu weit gehen dürfte, will sich Mergen mit seiner Begriffsbestimmung eher auf eine Kriminalitätsverteilungslehre beschränken und schließt damit solche Fragestellungen aus, die sich mit der Ursachenforschung befassen. Demgegenüber tragen die Definitionen von Hellmer (1974) und Herold (1977), die beide selbst kriminalgeographisch gearbeitet haben, eher der Tatsache Rechnung, daß es sich bei der Kriminalgeographie um einen Forschungszweig handelt, der über die Erfassung und Beschreibung hinaus (auch) auf eine Erklärung kriminellen Verhaltens abzielt. So begreift Hellmer die Kriminalgeographie als „die Wissenschaft von der regionalen Verteilung der Kriminalität und der Kriminalitätsfaktoren und von den regionalen Unterschieden in der Kriminalitätsbekämpfung". Nach Herold schließlich ist „die Kriminalgeographie . . . die Wissenschaft von den Beziehungen, die zwischen der spezifischen Struktur eines Raumes und der in ihm örtlich und zeitlich anfallenden Kriminalität bestehen". Eines der Ziele der so definierten Wissenschaft sollte es sein, „die Raumsoziologie zu den Dimensionen der Verbrechensverhütung hin zu erweitern". Insoweit wird ζ. B. nach „Raumdeskriptoren" (gesucht) wie etwa der „Büro- und Geschoßflächendichte oder der Schaufensterdichte". Im Vordergrund der Definition Herolds steht die Frage „wie die kriminelle Attraktivität eines Raumes, sein krimineller Magnetismus, aus der typischen Raumstruktur und Funktion heraus erklärt werden kann". Wenn Herold jedoch meint, daß „Daten zu Alter, Schulabschluß, Erwerbstätigkeit" usw. „die raumorientierte Kriminalgeographie zu einer milieutendierenden Kriminalökologie verschieben . . . , deren kriminalgeo-
graphischer Aussagewert zu bezweifeln" (Herold 1977) sei, so ist das sicherlich zu eng aus polizeilicher Sicht gesehen. Gerade Informationen über Altersstruktur und Schichtzugehörigkeit der Tatverdächtigen haben in Verbindung mit den entsprechenden Bevölkerungsdaten einen nicht zu unterschätzenden kriminalprognostischen Wert. Solche Faktoren dürfen aber auch deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, weil die Kriminalgeographie (die ζ. B. für Opp „Kriminalökologie" ist), „zu erklären (versucht), warum sich abweichendes Verhalten in bestimmter Weise auf die Gebiete verteilt" (Opp 1968) und aus ihren entsprechenden Untersuchungen nicht Faktoren ausklammern kann, die für das Kriminellwerden möglicherweise Bedeutung besitzen. Da es sich bei den kriminalitätsrelevanten Bedingungen primär um soziale und psychische Faktoren handelt, die wiederum räumliche Bezüge aufweisen, dürfte es sinnvoll erscheinen, mit dem Begriff der Kriminalgeographie denjenigen Zweig der kriminologisch-kriminalistischen Forschung zu beschreiben, der kriminelles Verhalten in seiner raumzeitlichen Verteilung erfaßt und durch spezifische raumzeitliche Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster demographischer, wirtschaftlicher, sozialer, psychischer und kultureller Einflußgrößen zu erklären versucht und zwar mit dem Ziel der Verbrechensbekämpfung.
B. Zur Geschichte 1. Frühe Arbeiten a) Wenn man die Kriminalgeographie in dem so definierten Sinne versteht, dann stellen sich viele bisher als „kriminalgeographisch" bezeichnete Arbeiten als Untersuchungen dar, die nur ein Teilgebiet der Kriminalgeographie, nämlich die Kriminalitätsverteilungslehre, umfassen. Denn im Vordergrund zahlreicher Arbeiten steht die nach geographischen Gesichtspunkten differenzierte Kriminalstatistik oder auch eine Kriminalitätskartographie, die sich im wesentlichen darauf beschränkte, die Kriminalstatistik auf Karten sichtbar zu machen. Schließt man diese Versuche (als Vorläufer bzw. Teilgebiete) in die Geschichte der kriminalgeographischen Forschung mit ein, dann reicht die Entwicklung bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Eine der frühesten Untersuchungen stammt von dem Franzosen Andre Michel Guerry (Essai sur la statistique morale de la France, 1833), der als Advokat am „Königlichen Gerichtshof in Paris tätig war und 1833 eine Schrift veröffentlicht hat, in der statistisches Material (über die zwischen 1825 und 1830 in Frankreich verübten Delikte) auf Karten dargestellt wurde. Dabei konnte Guerry feststellen, daß im Norden Frankreichs mehr Eigentumsdelikte registriert wurden als in anderen Regionen und im Süden mehr „Personendelikte" (ζ. B. Tötungsdelikte, Not-
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Kriminalgeographie zucht, Körperverletzung). Den alljährlichen Anstieg der Sexualdelikte und Körperverletzungen während der Sommermonate führte Guerry nicht so sehr auf die Temperatur zurück als auf die im Sommer längeren Tage. Guerry hat sich auch schon mit der These beschäftigt, daß die Kriminalität mit mangelnder Bildung, Armut und Bevölkerungsdichte und insoweit auch mit unterschiedlichen Chancen zu tun hat. Zwei Jahre später (1835) legte Quetelet seine „Physique sociale" vor, in der er nach weiteren Abhängigkeiten zwischen Kriminalitätshäufigkeit und räumlicher Verteilung zu suchen begann; eine solche Beziehung wird nach seiner Vermutung durch die „Moralität" eines Gebietes bestimmt, ferner durch die Versuchung, der ein Mensch ausgesetzt ist, sowie durch die Leichtigkeit, mit der ein Delikt durchgeführt werden kann. b) Die Arbeiten von Quetelet und Guerry haben vor allem in Deutschland - eine ganze Reihe von Folgeuntersuchungen auslösen können. Aber auch diese reichten über (nach regionalen Gesichtspunkten) geordnete Kriminalitätsübersichten und oberflächliche Erklärungsversuche selten hinaus. Soweit kriminalitätsfördernde Faktoren genannt wurden, handelt es sich primär um Rasse, Geschlecht, Religion oder um alkoholische Einflüsse. Kurios erscheint insoweit ζ. B. eine Arbeit von Oehlert (1906), die sich mit der Frage beschäftigt, ob in den deutschen Weinanbaugebieten, den Hochburgen alkoholischen Ausschanks, mehr gefährliche Körperverletzungen vorkommen als in anderen Gebieten. Oehlert verneinte die Frage und meinte, daß der Wein nicht die Rolle spielt, die „wir bei anderen alkoholischen Getränken annehmen müssen". Ein paar Jahre später (1914) hat Hotter ermittelt, daß nicht die biertrinkenden altbayerischen Kreise, „sondern die weintrinkende Pfalz am Rhein mit ihren sonnigen Rebenhügeln die höchste Kriminalität aufweist". Bereits 1868 hat Georg von Mayr die unterschiedliche Kriminalitätsbelastung in den einzelnen Bezirken des Königreichs Bayern kartographisch dargestellt, und zwar für den Zeitraum 1862/63 und 1865/66. Das Zahlenmaterial bezog v. Mayr aus der Verurteiltenstatistik der Schwur- und Bezirksgerichte. Ahnlich wie v. Mayr verstand auch Seuffert (1906) seine „Untersuchungen über die örtliche Verteilung der Verbrechen in Deutschland". Seuffert ordnete die Kriminalstatistik der Jahre 1883 und 1897 entsprechend ihrer Häufigkeitszahl und stellte die am meisten und die am wenigsten belasteten Gebiete zusammen. Dabei ergab sich, daß die höchste Kriminalitätsbelastung bestimmte Regierungsbezirke in Ostpreußen und Oberschlesien aufwiesen, während die geringste Kriminalität in Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, Schleswig und Oldenburg registriert wurde. Der Diebstahl als schon damals häufigste Straftat hatte seine geographischen Schwerpunkte vor allem im Osten des Reiches (Posen, West- und Ostpreußen, Schlesien), während der Westen (Westfalen, Rheinland, Han-
nover, Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau) insoweit am geringsten auffiel. Körperverletzungen wurden am meisten im Osten, Westen und Süden ermittelt, und am wenigsten im Norden und in der Mitte des Reiches. Wassermann (1907/08) führte die hohe Rate an Körperverletzungen im Königreich Sachsen auf rassische Besonderheiten zurück, ein Gedanke, den vor ihm schon Frauenstädt (1903) für beachtenswert hielt. Nach dessen Untersuchungen übertrafen beim Diebstahl Gumbinnen, Marienwerder, Bromberg und Oppeln die übrigen Teile des Reiches. Frauenstädt meinte, daß diese Erscheinung nicht etwa (was nahegelegen hätte) mit der Industrialisierung zu tun habe, sondern damit, daß diese Gebiete slawisch durchsetzt seien. Galle (1909) gelangte zu ähnlichen Resultaten, aber auch zu der Feststellung: „Je größer die Städte, je größer ist ihre Kriminalität". 1921 legte H. Hoffmann eine Dissertation zu dem Thema vor: „Zur Geographie der Kriminalität in Deutschland". Sein Resultat: Vermögensdelikte kommen in primär landwirtschaftlich orientierten Gebieten (ζ. B. in Schlesien) häufiger vor.
2. Shaw und McKay Eine spürbare Fortentwicklung der kriminalgeographischen Forschung ist erst in den Untersuchungen von Clifford R. Shaw festzustellen, der zunächst in Chicago allein (1929) und später zusammen mit H. D. McKay (1942) entsprechende Untersuchungen in weiteren nordamerikanischen Städten durchführte (Philadelphia, Cincinnati, Cleveland und Richmond). In diesen Städten wurden Gebiete ermittelt, die im Vergleich zu anderen Stadtteilen durch besonders hohe Delinquenzraten auffielen. Die gleiche Beobachtung hatten zuvor schon Mayhew (1862) und Burgess (1925) gemacht und vor diesen (auf große Räume bezogen) letztlich bereits schon Guerry. Shaw und McKays Leistung ist jedoch in der empirischen Ursachenforschung (vgl. dazu unten C, 1 b) zu sehen. Sie konnten ermitteln, daß die Gebiete, in denen sich die Kriminalität häufte (sog. delinquency areas) auch sonst auffällig waren: ζ. B. durch hohe Säuglingssterblichkeitsziffern und hohe Zahlen an TBC-Kranken, Übervölkerung, hohe Raten an von staatlicher Unterstützung lebenden Familien, durch mangelnde Angebote zur Freizeitgestaltung, aber auch durch hohe Bevölkerungsfluktuation. Dabei fiel auf, daß die Delinquenzbelastung solcher Stadtteile unbhängig von der ethnischen Zusammensetzung der Bewohner zu sein schien. So hatte sich die Kriminalitätsbelastung auch dann nicht geändert, wenn in einem Gebiet ζ. B. zunächst überwiegend Deutsche, dann Iren und später Polen oder Italiener gewohnt hatten; dadurch konnte der Eindruck entstehen, als ob der Raum selbst „Kriminalität produziert". Dementsprechend wurde von Jonassen (1949) die Meinung geäußert, daß wohl
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Kriminalgeographie
„gewisse Faktoren über Jahrzehnte hinaus am Werke sind, die, unabhängig von der Kultur und Wertvorstellung der jeweiligen Bewohner, Jugendliche immer wieder kriminell infizieren". Eher dürfte jedoch die Vermutung zutreffen, daß bestimmte Gegenden auf Kriminelle Einziehend wirken, weil sie günstige Unterschlupfmöglichkeiten eröffnen. Dafür spricht jedenfalls, daB Shaw und McKay die „delinquency areas" vornehmlich in solchen Gebieten feststellten, die durch baulichen Niedergang (Sanierungsgebiete, Abbruchhäuser) auffielen. Da in solche Stadtteile zugleich oft die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen abgedrängt werden (billige Mieten), sah die Sozialstruktur der delinquency areas meist ungünstig aus. Sie gruppierten sich ringförmig um die City der Städte, eine Beobachtung, die Shaw und McKay auf den Gedanken gebracht hat, die konzentrischen Zonen zu untersuchen, die nach Burgess (1925) das Wachstum der Städte kennzeichnen. Insoweit konnten (ζ. B. in Chicago) folgende fünf Zonen festgestellt werden: die City der Stadt mit den geschäftlichen Zentren (Zone 1), ein Übergangsgebiet (Standort von Zulieferfinnen und Lagern), in das sich die City hinein auszubreiten begann (Zone 2), das Wohngebiet, in dem vornehmlich Arbeiter wohnten (Zone 3), Wohngebiete der gehobenen Sozialschichten (Zone 4) und schließlich die Wohngebiete der Pendler aus den Stadtrandgebieten oder Vorstädten (Zone 5). Die Untersuchung der Delinquenzraten in diesen Gebieten ergaben zunächst folgende Resultate: Je näher ein Gebiet zum Stadtzentrum lag, desto höher fiel die Belastung mit Delinquenz aus (Zonentheorie): die Rückfallquoten verhielten sich umgekehrt proportional zur Distanz vom Stadtzentrum; je höher die Delinquenzrate einer area war, desto mehr nahm die Wahrscheinlichkeit zu, daß ein Jugendlicher rückfällig wurde. Die Ursache für die zuletzt genannte Erscheinung haben sie u. a. darin gesehen, daß der erzieherische Einfluß auf Kinder in den delinquency areas oft teilweise oder vollständig fehlt, so daß sich der Nachwuchs in solchen Gebieten seine Bezugsperson und Vorbilder auf der Straße auswählt. Das entsprechende Milieu wird mit den folgenden Worten umschrieben: „Die Kinder, die den engen Kontakt zur Familie oder anderen Autoritäten, von denen gute Einflüsse ausgehen könnten, verloren haben, empfangen ihre Normen und ihr Bild von Gut und Böse von der Spielgruppe auf der Straße". Als besonders kriminalitätsanfällig werden vor allem solche Gebiete bezeichnet, in denen ein rascher Bevölkerungswechsel stattfindet, was damit zu tun haben könnte, daß sich die einströmenden Menschen zunächst noch wurzellos fühlen (nicht integriert sind). Nach den Beobachtungen von Shaw und McKay stabilisiert sich das soziale Gefüge nach einigen Jahren jedoch dann wieder in Richtung auf sozial angepaßtes Verhalten. Obgleich amerikanische Wissenschaftler solchen Ergebnissen wie überhaupt der kriminalgeographischen Arbeit gegenüber (ζ. B. wegen der Gefahr des ökologischen
Fehlschlusses: vgl. dazu unten C., 2 a) oft kritisch (oder auch ablehnend) eingestellt sind (zum Methodenstreit vgl. die kurze übersichtliche Darstellung bei Albrecht 1974), muß doch registriert werden, daß zahlreiche Arbeiten (auch in den USA) auf Shaw und McKay (mehr oder weniger bewußt) aufbauen. Insoweit können ζ. B. Cohen (1941), Polk (1957/58), C. F. Schmid (1960), Turner (1969), Lee/Egan (1972) und Harries (1971; 1974) genannt werden. Die oft totgesagte kriminalgeographische Forschung wird also nach wie vor durchgeführt. Wichtig erscheint, daß Harries darauf aufmerksam macht, daß sich alle bisher verwendeten Kriminalitätszahlen nur auf das Hellfeld beziehen, also auf die den Strafverfolgungsbehörden bekanntgewordenen Delikte.
3. Deutsche Untersuchungen der dreißiger Jahre Die Untersuchungen von Shaw und McKay sind auch in Deutschland auf Interesse gestoßen. So hat Sieverts schon 1935 in einem Aufsatz über „Kriminologische Forschung als Landschaftsteilaufgabe der deutschen Hochschulen" die Entwicklung der kriminalgeographischen Forschung an den Universitäten gefordert und in diesem Zusammenhang auf das amerikanische Vorbild verwiesen. Gruhle hat drei Jahre später (1938) einen Teil der bis dahin erschienenen kriminalgeographischen Arbeiten in einem Aufsatz kritisch betrachtet und zum Teil recht schlechte Zensuren verteilt („wenig ergiebig"). In diesem Zusammenhang wird auch eine Untersuchung von Walther (1936) erwähnt. Das Ziel dieser an der Ideologie des NS-Staates orientierten Hamburger Arbeit soll nach Meinung ihres Verfassers zur Verbesserung der Stadtplanung beitragen, in deren Vordergrund die „soziale Gesundung" gerückt wird. Diese soll allerdings auch darin bestehen „die nicht Besserungsfähigen unter Kontrolle (zu) nehmen (und) das Erbgut der biologisch hoffnungslos Defekten aus(zu)merzen". Primär unter diesem (recht anrüchigen) Gesichtspunkt vergleicht der Autor ζ. B. die Häufung der Wohnungen von Kriminalitätszahlen in einzelnen Bezirken von Hamburg. Auf einer besonderen Karte wurden dazu auch die „Nester" der Wohnungen der kommunistischen Wähler erfaßt. Insoweit teilt Waither die Meinung von Seibert (1937), „daß sich solche Nester keineswegs immer mit den Elendsquartieren decken". Frei von politischen Einflüssen scheint hingegen eine Arbeit zu sein, die ein Jahr zuvor (1935) von Diesterweg veröffentlicht wurde. Dieser Autor, der übrigens schon die Bedeutung der Dunkelziffer (vgl. unten D., 1) im Rahmen kriminalgeographischer Arbeit anerkannt hat, untersuchte „die Kriminalität in ihrer Beziehung zu einigen wichtigen Lebensverhältnissen in Mecklenburg-Schwerin". Dabei ging er von der vernünftigen Auffassung aus, daß es „bei einer mit so
Kriminalgeographie mannigfaltigen Umständen in ursächlicher Beziehung stehenden Erscheinung wie der Kriminalität niemals gelingen wird, die jedem einzelnen Verursachungsmoment ankommende Bedeutung genau zu bestimmen".
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keine Kriminalitätskonzentration (nur) im Zentrum der Stadt feststellen. Die Ballungsgebiete lagen vielmehr über Belgrad verstreut.
5. Zum Stand der deutschen Forschung nach dem zweiten Weltkrieg 4. Andere europäische Forschungsprojekte a) Nach dem zweiten Weltkrieg hat die kriminalgeographische Forschung nicht nur in den Vereinigten Staaten und Deutschland weitere Anhänger gefunden, sondern auch in anderen Ländern, ζ. B. in England und Jugoslawien. Aus England, das in der Kriminalgeographie ebenfalls Tradition vorweisen kann (vgl. ζ. B. Fletcher 1848/49) können aus neuer Zeit folgende Autoren genannt werden: Morris (1958), McClintock (1963), Wallis/Maliphant (1967) und Lambert (1970). Morris fand in seinen Untersuchungen, die er im Londoner Vorort Croydon durchführte, die Zonentheorie von Shaw und McKay nicht bestätigt, was er damit erklärte, daß sich dieser Marktflecken - historisch gesehen - nicht wie Chicago ringförmig entwickelt habe. Im übrigen untersuchte er nicht nur die Tatortverteilung, sondern ermittelte auch, wo die „Tatverdächtigen" wohnten. Dabei zeigte es sich, daß sich die Kriminalität (vor allem der Diebstahl) primär in den Geschäftsvierteln häufte, die Tatverdächtigen jedoch aus den Slums und „Public Housing Projects" Croydons stammten (Häuser mit Sozialwohnungen). McClintock, der zweite erwähnte englische Autor, hat die Zonentheorie von Shaw und McKay (anders als Morris in Croydon) in London bestätigt gefunden, jedenfalls im Hinblick auf ausgewählte Delikte (Wirtshausschlägereien, Tätlichkeiten unter Nachbarn usw.). Wallis und Maliphant fanden in ihren Untersuchungen, die sie gleichfalls in London durchführten, enge Beziehungen zwischen Kriminalitätshäufigkeit und ζ. B. „persons per room", Anteil an farbigen Einwanderern, Kinderreichtum sowie Arbeitslosigkeit (vor allem unter den männlichen Einwohnern). Lambert stellte in Birmingham fest, daß in den Stadtbezirken die meisten Straftaten vorkommen und am meisten Tatverdächtige wohnen, in denen viele Einwanderer leben; es handelt sich um Gebiete mit höchster Bevölkerungsmobilität und erheblicher Wohnungsnot. b) Schließlich soll noch eine jugoslawische Arbeit erwähnt werden, die von Todorovich stammt (1970). Sie geht von den Wohnsitzen jugendlicher Tatverdächtiger aus, die in Belgrad zu Haus sind. Dabei verglich der Verfasser Stadtbezirke mit hohem Tatverdächtigen-Wohnsitz-Anteil mit Stadtbezirken mit niedrigem Tatverdächtigen-WohnsitzAnteil. Resultat: in den höher belasteten Bezirken wohnten vor allem Einwanderer aus Serbien, Rumänien, Albanien; in den geringer belasteten Bezirken primär ältere Leute (Rentner, Pensionäre). Im übrigen konnte Todorovich (wie schon Morris)
a) In Deutschland erschienen in den fünfziger und sechziger Jahren verschiedene „kriminalgeographische" Arbeiten, die jedoch meist - wie ihre Vorgänger schon - diese Bezeichnung nur selten verdienen. Erwähnt werden kann in diesem Zusammenhang ζ. B. die Arbeit von Heitmann, eine Dissertation, die 1963 veröffentlicht wurde. Ihr Ziel sollte es sein, „die Kriminalität eines Amtsgerichtsbezirks in ihrem Umfang, in ihren Erscheinungsformen und in ihrer sozialen Verknüpfung" zu betrachten. Diesen Anspruch löst der Verfasser aber leider nicht ein. Abgesehen davon, daß er die unbegründete Meinung vertritt, daß „dem Kriminologen im allgemeinen an der genauen Erforschung der Dunkelziffer nicht gelegen" sein kann, gelangt der Autor über die Darstellung der Verteilung der Kriminalitätszahlen kaum hinaus. Die Arbeiten von Shaw und McKay werden überhaupt nicht erwähnt. Richtungweisend wurden hingegen die Untersuchungen von Hellmer (1972), Opp (1968), Herold (1968) und Helldörfer (1974). b) Hellmer hat in der „Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes" (Wiesbaden) einen Band mit dem Titel veröffentlicht: „Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins. Ein Beitrag zur Kriminalgeographie". Das Verdienst dieser Arbeit, die sich mehr mit der Kriminalitätsverteilung als mit der Ursachenforschung befaßt, ist nicht zuletzt darin zu sehen, daß die Kriminalgeographie als Wissenschaft auch in Polizei-Praktiker Kreisen bekannt gemacht wurde. Den Untersuchungen dient die Polizeiliche Kriminalstatistik als Basis, deren Zahlen (Häufigkeitsziffern) in Karten (Bundesländer und Regierungsbezirke) umgesetzt werden. Hellmer weist zu Recht daraufhin, daß die Polizeiliche Kriminalstatistik „Umfang, Struktur, und Bewegung der Kriminalität wirklichkeitsgetreuer anzeigt als die Gerichtsstatistik (Anm.: gemeint ist die Verurteiltenstatistik der Strafrechtspflegestatistik), die nicht so sehr von der Kriminalität als von der Leistungsfähigkeit der Justiz abhängt und eine reine Tätigkeitsstatistik ist". Die Auswahl der Delikte ist unter drei Gesichtspunkten erfolgt: Häufigkeit, Schwere und Funktion. Insoweit wurden berücksichtigt: Diebstahl/Betrug (wegen der Häufigkeit), Mord und Totschlag/Brandstiftung/Raub sowie Notzucht und Unzucht mit Kindern (wegen der Schwere), Körperverletzung als Aggressionsdelikt sowie Amtsdelikte („wegen ihrer funktionalen, vor allem sozialpsychologischen Bedeutung"). Hellmer hat sich auch über die Effektivität der Polizeidichte für die Verbrechensbekämpfung Gedanken gemacht
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und ζ. Β. die Polizeidichte in den Regierungsbezirken errechnet und auf Karten gezeichnet sowie die „Straftaten pro Polizeibeamten 1968 in den Ländern". Allerdings ist es schwierig, aus solcher großflächigen Darstellung irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Der Autor schlägt daher kleinräumigere AnschluBuntersuchungen vor (1974). In bezug aufsog, „kriminogene Faktoren" hebt Hellmer hervor, daß insoweit das Anliegen seiner Arbeit nur darin besteht, „auf einige wichtige Punkte, bei denen Zusammenhänge vorliegen könnten, aufmerksam zu machen, um (auch hier wieder) den Weg für Einzeluntersuchungen zu weisen. Als „soziale Fakten", die danach als „Beziehungsdaten" in Betracht kommen können, werden von Hellmer u. a. bezeichnet: Geschlecht und Alter der Bevölkerung, Wanderungsbewegungen und Ferienverkehr. Kartographisch bzw. graphisch dargestellt werden: die Verteilung der Selbstmordziffer über die Bundesrepublik, die Bevölkerungsveränderung je qkm (Zunahme und Abnahme), das „Bruttosozialprodukt je Kopf der Wirtschaftsbevölkerung in D M " und die Realsteuerkraft je Einwohner. Sicherlich kann man über die Brauchbarkeit dieses Kataloges im Hinblick auf die Ursachenforschung (vgl. dazu C., 1 b) streiten, gleichwohl ist anzuerkennen, daß Hellmer den Versuch gemacht hat, die ätiologische Frage wenigstens mitanzureißen. c) Anders als Hellmer, bei dem der kriminalistische Aspekt im Vordergrund steht, hat Opp (1968) seine Untersuchung, die er als „ökologisch" bezeichnet, mehr den kriminal-soziologischen Fragen gewidmet. Das Ziel seiner Arbeit besteht in der Beschreibung und Erklärung der räumlichen Verteilung der Kinder- und Jugenddelinquenz im Kölner Stadtgebiet in den Jahren 1961 und 1963 (Gegenüberstellung). Zu diesem Zweck wurden alle Fälle erhoben, die in den Akten des Jugendamtes erschienen (Jugendfürsorgeakten und Jugendgerichtskartei). Den Sinn seiner Mühe hat Opp darin gesehen, daß „hohe Delinquenzziffern in einem Stadtbezirk etwa Behörden zum Einsatz besonders vieler Sozialarbeiter in einem solchen Bezirk veranlassen könnten". Opp möchte die Ergebnisse seiner Arbeit also - wie übrigens auch Shaw und McKay in Chicago - in den Dienst der präventiven Verbrechensbekämpfung stellen. Die Zurechnung auf die einzelnen Stadtgebiete von Köln erfolgte nach dem Wohnsitz der Tatverdächtigen; auf die Erhebung der Tatorte wurde verzichtet und zwar deshalb, weil sie sich in vielen Fällen nicht mehr feststellen ließen. Später hat Opp bei der Berechnung von Korrelationskoeffizienten auf Deliktsraten abgestellt und zwar deshalb, „weil in den Deliktsraten eher die Delinquenz zum Ausdruck kommt als in den Täterraten". Die entsprechenden Ergebnisse lauten u. a. wie folgt: die verschiedenen Stadtteile Kölns zeigen ganz unterschiedliche Delinquenzbelastungen auf, die von Jahr zu Jahr wechseln, zusammengezählt aber relativ gleich bleiben; d. h. obwohl die Zahl der delinquen-
ten Kinder und jugendlichen Tatverdächtigen in den einzelnen Stadtteilen stark variierte, hat sich die entsprechende Rate für die gesamte Stadt Köln nur wenig verändert. Zur Erklärung dieser Erscheinung wurden von Opp 38 Faktoren geprüft; als Beispiele seien genannt: Rate der Frauen in den einzelnen Stadtteilen, Rate der alten Leute, Rate der Geschiedenen, Rate der Flüchtlinge aus Mitteldeutschland, Rate der Arbeiter, Rate der Einzelhaushalte, Rate der Behelfshäuser, Wohndichte, Geburtsraten, Rate der Sonderschüler, Rate der SPD- und CDU-Stimmen usw. Die Untersuchung ergab insoweit u. a. das folgende Bild: Hohe Kriminalitätsraten (in bezug auf jugendliche Straftäter) weisen solche Stadtteile auf, in denen die „Rate der Kinder" oder die „Rate der Arbeiter" hoch liegen, in denen es viele Behelfshäuser gibt und in denen überwiegend die SPD gewählt wird. Niedrig ist die Kriminalität hingegen jeweils dort, wo viele Freiberufliche und Gymnasiasten wohnen, wo Einzelhaushalte häufiger vorkommen, wo die Gebäude mehr Badezimmer besitzen usw. und wo öfter die CDU gewählt wird. Zu diesen Ergebnissen schreibt Opp jedoch selbst, es sei zu vermuten, „daß . . . Scheinkorrelationen vorliegen". Jedenfalls sei die Annahme kaum plausibel, „daß Bezirke mit hohem Anteil von SPD-Stimmen .inhärent' delinquent sind und daß Bezirke mit hoher Wahlbeteiligung, hohem Anteil von CDU- und sonstigen Stimmen,inhärent' nicht delinquent sind oder daß von SPD-Wählern ein .schlechter' Einfluß ausgeht". Opp räumt im übrigen ein, „daß die Korrelationen dieser Untersuchung durch die Dunkelziffern verzerrt werden, d. h. dadurch, daß eine Reihe von Delikten in den Akten (die er auswertete) nicht" aufgeführt wurden. d) Das Dunkelfeld hat auch Herold in seiner bekannten Nürnberger kriminalgeographischen Arbeit (1968) nicht berücksichtigen können. Das primäre Ziel seiner Arbeit hat er darin gesehen, den Einsatz der Nürnberger Polizei (deren Präsident er seinerzeit war) effektiver zu machen; die Kriminalgeographie wurde insoweit also für kriminalistische Zwecke eingesetzt. Dementsprechend heißt es bei Helldörfer (1974), der Herolds Arbeit in Nürnberg fortgesetzt hat, die Kriminalgeographie habe den Sinn, „die effektive örtliche und zeitliche Belastung eines Raumes durch raumbezogene Delikte und Tatverdächtigenwohnsitze sowie die Mobilität des Tatverdächtigen zwischen verschiedenen Räumen statistisch zu erfassen und kartographisch darzustellen." C. Aufgaben und Probleme der Kriminalgeographie I.
Aufgaben
a) Entsprechend der oben erwähnten Definition (A.) erfüllt die Kriminalgeographie kriminalistische und kriminologisch orientierte Aufgaben. Die kri-
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Kriminalgeographie minalistische Zielsetzung ist schon bei Herold und Helldörfer deutlich geworden. Beide suchen nach Raumdeskriptoren, also nach der Erklärung „wie die kriminelle Attraktivität eines Raumes, sein krimineller Magnetismus, aus der typischen Raumstruktur und Funktion heraus erklärt werden kann" (Herold 1977). Solche Informationen sollen die „Beurteilung der Lage" erleichtern und die Effektivität des polizeilichen Einsatzes weiter verbessern. Der Kriminalist, der kriminalgeographische Forschung betreibt, ist insoweit zunächst an der Tatortverteilung interessiert. Die künftige kriminalistische Arbeit dürfte sich jedoch (ζ. B. zur Verbesserung der Möglichkeiten der Fahndung) mehr als bisher auch auf die Ermittlung der Tatverdächtigenwohnsitze konzentrieren. b) Die Aufgabe, die der kriminalgeographischen Forschung im Rahmen der Kriminologie naturgemäß zufällt, ist die sog. Ursachenforschung. Ihre Ergebnisse sollen die Steuerung des Einsatzes von Sozialarbeitern in sozialen Krisengebieten erleichtern, bestimmte sozialpolitische Entscheidungen dev Kommunen auslösen und kriminalprognostische Aussagen möglich machen. Die Schwierigkeit solcher Untersuchungen besteht freilich darin, daß „die Erforschung der Ursache des Verbrechens als nicht einlösbarer und deshalb nicht sinnvoller Anspruch zurückgestellt werden" muß (Villmo w/Kaiser 1974). Denn wir wissen noch nicht einmal, weshalb Menschen keine Delikte verüben und nur relativ wenig darüber, weshalb sie es tun. Ähnlich überspitzt hat Kerner die Lage vor einiger Zeit (1976) formuliert. Deshalb wird heute primär nach Indikatoren gesucht, die mit Kriminalität in Zusammenhang stehen (könnten), weil sie zumindest häufig in Verbindung mit Kriminalität zu beobachten sind. Die Indikatoren werden also benutzt, um nicht meßbare Phänomene messen zu können.
2. Probleme a) Die Probleme der kriminalgeographischen Forschung sind vor allem methodischer Art (in bezug auf die Kriminalistik: vgl. Herold 1977; in bezug auf die Kriminologie: vgl. Albrecht 1974; zur Methodik beider Bereiche vgl. Schwind/Ahlborn/Weiß 1978). Soweit mit Indikatoren gearbeitet wird, besteht die Gefahr des „ökologischen Fehlschlusses". Mit diesem bezeichnet man „den irrtümlichen Schluß von Eigenschaften . . . , die bei Gebietseinheiten beobachtet werden, auf das Verhalten von Individuen in diesen Gebietseinheiten" (Scheuch 1973). Zusammenhänge, die festgestellt werden können, sind also stets nur solche auf aggregierter Ebene; sie sagen nichts über den einzelnen in einem bestimmten Stadtgebiet lebenden Menschen aus. Diese Überlegung hat zwar die Logik für sich, wird jedoch gleichwohl nicht immer beachtet.
b) Die besonderen Schwierigkeiten des kriminalgeographischen Forschungsobjektes bestehen schließlich meist darin, daß zahlreiche Vergleichsdaten aus dem sozialen Bereich, aus Wirtschaft, Verkehr, Arbeitsmarkt usw. entweder gar nicht oder nur bruchstückweise zur Verfügung gestellt werden können. Da auch die Informationen über die Tatverdächtigen oft nicht vollständig sind, dürfen alle Resultate nur mit größter Vorsicht interpretiert werden.
D. Ergebnisse der neueren Forschung in Deutschland Praktisch verwertbare Ergebnisse haben in der neueren Zeit - außer Hellmer und Opp - vor allem Herold (1968) und Helldörfer (1974) vorweisen können sowie ein interdisziplinär zusammengesetztes Bochumer Team, das finanziell vom B K A unterstützt worden ist (Schwind/Ahlborn/Weiß 1978). Mit Ausnahme der Untersuchung von Hellmer beziehen sich alle Arbeiten dieser Autore'i auf das Gebiet einer Stadl (Köln-Nürnberg-Bochum) und knüpfen damit an entsprechend kleinräumige Untersuchungen an, wie sie ζ. B. schon Parent-Duchatelet im 19. Jahrhundert (1837) über die Prostitution in Paris vorgelegt hat oder May; lew (1862) über die Kriminalität in sieben Polizeidisi rikten von London.
1. Resultate kriminalistischer
Untersuchungen
Mit Problemen der Kriminalistik beschäftigen sich (auf der Ebene „Stadt") nur Herold, Helldörfer und die Bochumer Gruppe. Diese Untersuchungen betreffen primär folgende Fragen: Verteilung der Tatorte und Verteilung der Tatverdächtigenwohnsitze, Kriminalitätsmobilität und Kriminalitätsangebot. Es handelt sich also insoweit um Probleme der Kriminalitätsverteilungslehre (im weiteren Sinne). Das Dunkelfeld (Summe der Straftaten, die den Strafverfolgungsbehörden nicht bekannt werden) hat erstmalig die Bochumer Untersuchung einzubringen versucht. Schließlich liegen noch Gutachten der Schweizer Firma Night Wegenstein (1971) zur Struktur der Berliner und Hamburger Polizei vor, die ebenfalls (auch) nach kriminalgeographischen Gesichtspunkten erstellt worden sind. a) Ergebnisse zur Verteilung der Kriminalität im Hellfeld: Ähnlich dem Bild der von Shaw und McKay untersuchten amerikanischen Städte hat sich nach Herold (1968) auch in Nürnberg eine deutliche Massierung der Kriminalität in der Stadtmitte gezeigt, während die Außenzonen kaum Belastungen aufwiesen. Die Kriminalitätsdichte der Innenstadt war durchschnittlich 60mal so hoch wie die in den Randgebieten von Nürnberg. Da die bis dahin bestehenden polizeilichen Zuständigkeitsbereiche
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Kriminalgeographie
„das Stadtgebiet jedoch mit einem gleichmäßigen schleierartigen Organisationsmuster" überzogen, wurde deutlich, „daß die Organisation den Kriminalitätsanfall, der vorbeugend bekämpft werden kann, unberücksichtigt" ließ. Die Lage der Polizeireviere erwies sich also (insoweit) als standortfremd, eine Beobachtung, die zu organisatorischen Konsequenzen geführt hat (Herold 1968): Rückkehr zum ausschließlichen Fußstreifendienst in der Kernzone (City), Beibehaltung des kombinierten Fahr- und Fußstreifendienstes in der Mittelzone und Einführung bloßer Fahrstreifen in der kriminell weniger gefährdeten Außenzone der Stadt. Zu organisatorischen Veränderungen aufgrund kriminalgeographischer Untersuchungen haben im polizeilichen Bereich auch die Gutachten der Schweizer Firma Night Wegenstein beitragen können, und zwar (wie erwähnt) in Berlin und Hamburg. In beiden Städten wurden auf der Basis der Vorschläge dieser Firma die Grenzen der Polizeidirektionen neu gezogen; berücksichtigt wurden insoweit vor allem die Ausprägung des tertiären Wirtschaftsbereiches, Wohnzentren, Verkehrsstruktur, Kriminalitätsanfall und Möglichkeiten des polizeilichen Einsatzes (Bauer, in: Schwind et al.). In diesem Zuge wurde auch der sog. Kontaktbereichsbeamte (KOB) mit eingesetzt, der (als Fußstreife) die Aufgaben des alten „Ortspolizisten" zu erledigen hat. Solche Beamte gibt es auch ζ. B. in Nordrhein-Westfalen, sie heißen nur anders (Bezirksbeamte). Ihr Einsatzgebiet, das sich in Nürnberg an den verschiedenen Zonen orientiert, darf sich allerdings naturgemäß nur dann auf das Stadtzentrum konzentrieren, wenn eine Stadt auch dem Zonenmodell in bezug auf die Kriminalitätsbelastung entspricht. Das ist jedoch nicht immer der Fall. So hat sich die Zonentheorie ζ. B. nach den Bochumer kriminalgeographischen Feststellungen nicht bestätigen lassen. Bochum besitzt nämlich mehrere Unterzentren, und zwar grundsätzlich dort, wo sich die Mittelpunkte früherer Kommunen befinden, die eingemeindet worden sind (Mehrkemtheorie) (Schwind 1978). Diese Erklärung ist durchaus plausibel. Denn Chicago und Nürnberg haben sich primär in noch unbebautes Umland vergrößert und konnten deshalb organischer wachsen (Zonentheorie), während Bochum verschiedene Gemeinden eines riesigen, sehr verflochtenen Industriegebietes geschluckt hat, die sich um einige Kohlebergwerke gruppiert haben und bereits feste, ζ. T. noch heute bestehende Mittelpunkte besaßen bzw. besitzen, in denen sich auch die Kriminalität konzentriert. Diese Konzentration ergibt sich nicht nur in bezug auf die absolute Zahl der dort verübten Delikte, sondern auch dann, wenn man die Häufigkeitszahl (Zahl der Straftaten bezogen auf 100 000 Einwohner) oder die Kriminalitätsdichte (Zahl der Straftaten bezogen auf Fläche in ha) berechnet (Schwind, 1978). Die Bochumer Untersuchung hat die Kriminalität (gezählt wurden: Diebstahl, einschließlich Warenhausdiebstahl, Raub und Körperverletzung) im übrigen nicht
über die Planquadrate der Polizei, sondern (ähnlich wie in Köln: Opp) über statistische Zählräume (statistische Stadtteile, Bezirke und Wohnplätze) erfaßt. Das geschah deshalb, weil die Raster der Planquadrate naturgemäß willkürlich sind (ihre Grenzen zerschneiden Straßen und Häuser), sich also nicht an den infrastrukturellen und natürlichen Gegebenheiten der Stadt orientieren und daher die Zuordnung der Tatorte und Tatverdächtigenwohnsitze erheblich erschweren. b) Resultate zur Kriminalitätsmobilität: Die Bochumer Untersuchung hat den bisher in der Literatur benutzten Begriff der „Tätermobilität" durch den Begriff der „Kriminalitätsmobilität" ersetzt und zwar deshalb, weil der Begriff der „Tätermobilität" für das, was er bezeichnen soll, falsch ist. Denn er erfaßt keine „Täter" (rechtskräftig Verurteilte), sondern lediglich „Tatverdächtige" und erscheint als Oberbegriff für „Tatverdächtigenströme", „Deliktsströme" und „Aktivitätenströme" nicht als geeignet. Den Begriff der „Aktivitätenströme" hat die Bochumer Untersuchung ebenfalls neu eingeführt, weil in den Aktivitäten die kriminelle Gefährdung eher zum Ausdruck kommt, als in Tatverdächtigenraten oder Deliktsraten (Schwind, 1978). In dem Beispiel der Übersicht haben drei Täter (Tatverdächtige) durch fünf Aktivitäten vier Delikte verübt. Täter (Totverdächtige) Herr X
u
Ä r
7 ~
3 Tatverdächtige
Aktivitäten —
—
Delikte ^
' • 5 Aktivitäten
1 Delikt (Diebstahl) 1 Delikt (Raub) 1 Delikt ( K ö r p e r verletzung) 1 Delikt (Einbruch) 4 Delikte
("Täter")
Die Entfernung zwischen Aktivitätenausgang (Wohnung des Tatverdächtigen dieser Aktivität) und Tatort ist nach den Resultaten der Bochumer Untersuchung - zumindest beim Diebstahl unter erschwerenden Umständen („Einbruch")-äußerst gering. Der Täter (Tatverdächtige), der einen solchen Diebstahl verübt, bleibt nämlich in 70 % aller Fälle im Nahbereich seiner Wohnung, d. h. er entfernt sich nicht weiter als 2000 Meter. Kfz-Diebstahlsdelikte werden sogar zu 50 % im 1000-Meter-Bereich durchgeführt (Schwind, Schlee, Mösezahl, in: Schwind et al. 1978). Es ist freilich gut möglich, daß die Straftaten, die von weiter entfernt wohnenden Tätern verübt werden, öfter als andere nicht aufgeklärt werden. Denn die erwähnten Zahlen können sich naturgemäß nur auf die aufgeklärten Delikte beziehen. In dieser Beziehung stimmen die Resultate jedenfalls auch mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen (Kaleth 1970; Gerhold 1971) in der Tendenz weitgehend überein. Die relativ geringe Mobilität im Bochumer Raum zeigt sich auch im Verhältnis der Bochumer und auswärtigen Tatver-
Kriminalgeographie dächtigen. 78,6 % aller Tatverdächtigen, denen in Bochum (eines der hier für die Untersuchung erfaßten Delikte, Diebstahl, Raub, Körperverletzung) zur Last gelegt wurde, stammten aus Bochum, der Rest kam von auswärts (15,4 %) oder war ohne festen Wohnsitz (6,0 %). Die entsprechenden Zahlen, die Herold (1968) für Nürnberg (allerdings für alle statistisch gezählten Delikte) festgestellt hat, lauteten hingegen wie folgt: 64,7 % Tatverdächtige aus Nürnberg, 21,3 % auswärtige Tatverdächtige und 14,0 % Täter ohne festen Wohnsitz. Diese Unterschiede können allerdings nicht erklären, weshalb in Nürnberg nach einer Feststellung Herolds (Herold 1968) auswärtige Tatverdächtige, denen ein schwerer Diebstahl zur Last gelegt wurde, ihre Delikte primär an den Ausfallstraßen der Stadt verübt haben sollen, was Herold darauf zurückgeführt hat, daß sie hier die „erste beste Gelegenheit wahrnehmen" würden. Verallgemeinern läßt sich diese Beobachtung für andere Großstädte jedenfalls nicht: Zumindest hat sie sich in Bochum nicht bestätigen lassen (Schiemann, Blum, Schmidt in: Schwind et al. 1978). Denn die „Einbrüche" solcher Täter (Tatverdächtigen) verteilten sich hier ziemlich gleichmäßig über das gesamte Stadtgebiet. Auch für den Diebstahl ohne erschwerende Umstände (einfacher Diebstahl) oder für die Körperverletzung trifft die Vermutung von Herold nicht zu, jedenfalls nicht, soweit das feststellbar ist. Denn es könnte auch so sein, daß sich der auswärtige Täter (Tatverdächtige) dem Zugriff der (Bochumer) Polizei lediglich leichter entzieht. So ist jedenfalls beim einfachen Diebstahl die Diskrepanz der Aufklärungsquoten auffällig: an den Ausfallstraßen verübte Delikte wurden 1975 nur zu 16,0 % aufgeklärt, während die Aufklärungsquote beim einfachen Diebstahl (ohne Warenhausdiebstahl) im übrigen Stadtgebiet Bochums immerhin 56,0 % ausgemacht hat. Insoweit könnte es sich fUr die Fahndung eventuell doch lohnen, das Augenmerk auf die Ausfallstraßen zu richten. Deshalb hat Herold auch recht (1970), wenn er es für notwendig hält, „die Zusammenhänge zwischen der sinkenden Aufklärungsquote und dem steigenden Täterzustrom zu analysieren und Mittel zur Uberwindung zu entwikkeln". Interessant ist, daß der Zustrom in Nürnberg primär aus dem 30 km-Umkreis erfolgte (Bochum: 20 km-Umkreis); in diesem Raum wohnten 81,2 % aller Nürnberger Tatverdächtigen, in der weiteren Zone bis 100 km nur weitere 5,1 %. Den höchsten Dichtewert ermittelte Herold (1968) im Umkreis von 10 km; die Zustromintensität sank sodann von 10 km zu 10 km auf jeweils fast die Hälfte ab. Bemerkenswert ist, daß die 30 km Zäsur mit der Linie übereinstimmt, die von der Raumsoziologie als die äußerste Grenze der wirtschaftlich zusammengehörigen Städteregion Nürnberg - Fürth - Erlangen festgestellt wurde. Die Identität dieser Grenzlinien (die sich für den Bochumer Raum auch in der Bochumer Untersuchung gezeigt hat) läßt die Vermutung aufkommen, daß die wirtschaftliche Orientie-
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rung der Menschen eines bestimmten Gebietes auch die Zonen der kriminellen Tatorte ihrer straffälligen Mitbürger mitbestimmt. Herold, der diese Vermutung als Tatsache nimmt (er spricht von kriminalgeographisch zusammengehöriger Landschaft) (Herold 1970), zog aus ihr die Schlußfolgerung, daß die Grenzen der Stadtpolizei von Nürnberg zu eng gezogen seien. In diesen Zuständigkeitsbereich müßten die Wohnsitze der Täter (Tatverdächtigen) mit eingeschlossen sein, die ihre Delikte in Nürnberg verüben. Nur „eine einheitliche Regionalpolizei, die die Masse des Täterzustroms zuständigkeitshalber erfaßt, wäre in der Lage, die Kriminalität bis zu ihren Ausgangspunkten" zu verfolgen. Die Grenzlinie für den Einsatz dieser Regionalpolizei soll jeweils dort liegen, wo sich Täterzustrom und Täterausstrom neutralisieren, also da, wo der Tätereinstrom ζ. B. aus Nürnberg gering ist und der Täterausstrom ζ. B. nach Würzburg denjenigen nach Nürnberg zu übersteigen beginnt. Es erscheint überzeugend, daß die „Kammlinien" benutzt werden sollen, um, von den historisch gewachsenen polizeilichen Zuständigkeiten abgehend, einen „Stufenbau von (flexiblen) Zuständigkeiten (zu entwickeln), der von der Abgrenzung des Polizeireviers (Schutzbereichs) bis zur Festlegung der Zuständigkeiten der Polizei in Ballungsräumen und in den Ländern reicht" (Herold 1969). In Baden-Württemberg hat man diese Erfordernisse schon frühzeitig erkannt. Die Verwaltungsreform (Gesetz v. 26. 7. 1971) hat hier die Chance geboten, grundlegende Voraussetzungen für einen den kriminalgeographischen Verhältnissen besser angepaßten Polizeieinsatz zu schaffen: Polizei- und Verwaltungsgrenzen wurden nach dem Gesichtspunkt wirtschaftlich zusammengehöriger Räume deckungsgleich neu bestimmt und auf diese Weise verbessert (Bauer, in: Schwind et al. 1978). Im Rahmen solcher organisatorischen Veränderungen, die sich auf die Polizeibereiche beziehen, ist auch zu beachten, daß die Kriminalitätsbelastungszahlen (KBZ) noch nicht sinnvoll berechnet werden (Stüllenberg, Richter, Wittenstein, in: Schwind et al. 1978). Denn wenn bisher in der Statistik immer davon ausgegangen worden ist, daß die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen (bezogen auf 100 000 Einwohner = KBZ) sich aus örtlichen und einreisenden Tatverdächtigen ergibt, so spiegelt diese Berechnung nicht die tatsächliche Belastung der Wohnbevölkerung wider. Jedenfalls gehören einreisende Tatverdächtige nicht zur Wohnbevölkerung und dürfen demnach in der Formel nicht berücksichtigt werden. Anders verhält es sich mit den ausreisenden Tatverdächtigen, die zur Wohnbevölkerung gehören und deshalb mitgezählt werden müssen. In Nordrhein-Westfalen ergeben sich aufgrund dieser neuen Berechnungen einige Verschiebungen in der KBZ, die bei einer Umorganisation der Polizeibereiche Berücksichtigung finden müßten. c) Zur Frage des Kriminalitätsangebotes: Im Rahmen der Frage des Kriminalitätsangebotes in-
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Kriminalgeographie
teressieren primär die Tatorte. Als entsprechende Deskriptoren wurden von Herold (1977) „z. B. Flächennutzung, Arbeitsplatzdichte, Büroflächendichte, Wohndichte, Parkdichte usw." in die Diskussion eingebracht. Schon in seiner Nürnberger Untersuchung (1968) hatte er die City der Stadt auf eine besonders auffällige Kriminalitätsverteilung hin untersucht. Sein City-Begriff, der auf der „Vergleichenden City-Studie" des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (INFAS) Bad Godesberg aufgebaut ist, erfaßt den Raum, der bei größter Bevölkerungsentleerung zugleich eine höchste Konzentration wirtschaftlicher, kultureller und administrativer Funktionen aufweist. Dabei gelangt Herold zu dem Ergebnis, daß die Häufung der Deskriptoren, die den City-Begriff ausmachen, die Stärke der Kriminalitätsdichte bestimmt (Herold 1968). Da die City durch die Stärke des tertiären Sektors erklärt werden kann, hängt nach Herold die kriminelle Attraktivität eines Raumes von dem Maß der dort angebotenen Dienstleistungen ab (Großhandel, Einzelhandel, Kreditinstitute, Versicherungen, Gebietskörperschaften usw.). Diese Hypothese von Herold, nach der der Kriminalitätsanfall in einem Raum mit dem Umfang des dort vorhandenen tertiären Sektors in Zusammenhang steht, ist in bezug auf das Zentrum von Bochum im Rahmen der Bochumer Arbeit überprüft worden. Dabei hat sich die Vermutung von Herold im Ergebnis bestätigt, allerdings nicht auf der Basis der von Herold benutzten Deskriptoren, sondern mit Hilfe der Beschäftigtenzahl, die insoweit - mangels anderer Informationen - als Indikator für den tertiären Sektor verwandt worden ist (Wagenführ, in: Schwind et al. 1978). Die Bochumer Untersuchung hat in bezug auf die Abhängigkeit der Tatorte vom Kriminalitätsangebot weiter ergeben, daß Bevölkerungsdichte und sonstige Flächennutzung Bedeutung besitzen. So hat sich die Hypothese bestätigt, daß sich in intensiv genutzten Gebieten, in denen sich die Aktivitäten besonders vieler Menschen konzentrieren, auch die Tatorte häufen. Die Verteilung der Warenhausdiebstahlsdelikte ist naturgemäß von der Verteilung der Warenhäuser bzw. Ladengeschäfte im Stadtgebiet abhängig: die wichtigsten Geschäftszentren sind daher durch solche Kriminalität am stärksten betroffen. d) Dunkelfeld: Das Dunkelfeld hat bisher nur die Bochumer Untersuchung im Rahmen einer kriminalgeographischen Untersuchung aufzuhellen versucht (Schwind 1978). Seit langem ist in der Wissenschaft die Frage umstritten, ob zwischen Dunkelund Hellfeld der Straftaten ein konstantes Verhältnis besteht oder nicht (Kaiser 1974). Mit anderen Worten: man ist sich uneins darüber, ob dort, wo das Hellfeld groß ist, auch die Dunkelfeldzahlen entsprechend niedriger liegen. Es geht also um die Frage, ob sich Dunkel- und Hellfeld umgekehrt proportional zueinander verhalten oder nicht. Ein konstantes Verhältnis hat schon im 19. Jahrhundert Quetelet (1869) angenommen, der u. a. wörtlich ausge-
führt hat: „Dieses Verhältnis ist notwendig und, ich wiederhole es, wenn es dieses nicht tatsächlich gäbe, wäre alles, was bis heute aufgrund der statistischen Unterlagen über Verbrechen ausgesagt wurde, falsch und absurd". Noch Hellmer (1974) vermutet, daß uns in der Kriminalgeographie das „Dunkelfeld nicht interessiert, weil es überall gleich ist" (anders der Hellmer-Schüler Jäger 1974). Dieser Standpunkt dürfte auch der heutigen Auffassung der (meisten) Polizeibehörden entsprechen. Man geht davon aus, „daß der erfaßte Ausschnitt innerhalb tolerierbarer Grenzen repräsentativ oder doch symptomatisch für Struktur und Bewegung der .Kriminalität' ist" (Heinz 1975). Ein Blick auf die Verteilung des Dunkelfeldes über die statistischen Stadtteile von Bochum zeigt nun zunächst, daß dort, wo das Hellfeld groß ist, auch das Dunkelfeld grundsätzlich groß ist. Diese Feststellung scheint Hellmer zu stützen. Beim genaueren Hinsehen wird allerdings deutlich, daß das Verhältnis von Hell- und Dunkelfeld in den einzelnen Stadtteilen nicht unbeträchtliche Differenzen aufweist. So beträgt die Dunkelfeldrelation (beim Diebstahl) in Bochum-Nordost 1 : 7 und im Süden der Stadt (Weitmar-Süd 1 : 1 ) . Das bedeutet, daß auf ein Delikt, das angezeigt (bzw. den Strafverfolgungsorganen bekannt geworden ist), in Bochum-Nordost sieben weitere kamen (in WeitmarSüd lediglich eins), die nicht angezeigt wurden. Man darf danach die Hypothese von Quetelet und Hellmer (nach der sich Hellfeld und Dunkelfeld konstant zueinander verhalten) dahingehend modifizieren, daß die Vermutung der konstanten Verhältnisse nur insoweit zutrifft, als es so zu sein scheint, daß neben hohen Hellfeldzahlen auch hohe Dunkelfeldzahlen stehen (und neben niedrigen Hellfeldzahlen niedrige Dunkelfeldzahlen), aber in wechselnder Relation (Schwind 1978).
2. Resultate kriminologischer Untersuchungen Soziologie und Psychologie sind in Deutschland im Rahmen der Kriminalgeographie grundsätzlich noch nicht eingesetzt worden; insoweit liegt bisher nur die Kölner Studie von Karl-Dieter Opp vor. Nach der eingangs erwähnten Definition (vgl. oben A.) gehören sie jedoch durchaus zu den Bezugswissenschaften der kriminalgeographisch-kriminologischen Forschung. a) Soziologische Untersuchungen. Die sozialökologischen Theorieansätze führen auf die ChicagoSchule zurück, zu deren maßgeblichen Vertretern Shaw und McKay gehört haben (vgl. dazu ausführlich Albrecht 1974; Körte, in: Schwind et al. 1978). Die Bochumer Untersuchungen, die auf diesen aufzubauen versuchen, zeigten im Ergebnis eine Tendenz, die sich bereits in der Kölner Arbeit von Opp und in den Studien der Amerikaner gezeigt hat: überproportional viele Tatverdächtige wohnen in
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Kriminalgeographie solchen Gebieten, in denen die Sozialstruktur ungünstig ist: Baustruktur, Ausländeranteil, Bevölkerungsdichte und Alter der Einwohner spielen insoweit nur mittelbar eine Rolle. Ein direkter Zusammenhang mit der Häufung von TatverdächtigenWohnsitzen wäre ζ. B. bei der Altersstruktur zu erwarten gewesen. Denn jüngere Menschen werden nach allgemeiner Erfahrung, die sich auch in jeder Kriminalstatistik niederschlägt, häufiger straffällig als ältere Menschen; gefährdet sind besonders die 16- bis 30jährigen. So hätte man annehmen können, daß Gebiete mit einer jüngeren Bevölkerung (ζ. B. billige Neubausiedlungen) einen höheren Anteil an Tatverdächtigen aufweisen, als Gebiete, in denen vornehmlich ältere Menschen zu Hause sind. Ein solches Resultat hat sich jedoch in Bochum nicht eingestellt; es lautet vielmehr wie folgt (Sommerer, in: Schwind et al. 1978): die Tatverdächtigenraten (Anzahl der Tatverdächtigen, die in einem Gebiet leben) sind dort hoch, wo viele ältere Menschen (über 60jährige) wohnen und (zugleich!) die Baustruktur schlecht ist und (zugleich!) viele Menschen zu Hause sind, die zu den Unterschichten gezählt werden. Diese Erscheinung hat wahrscheinlich damit zu tun, daß ältere Menschen wegen ihrer oft geringen Rente gezwungen sind, in Altbaugebiete mit niedrigeren Mieten abzuwandern. In solche Gebiete ziehen nach den Regeln des „Filtering-down"-Prozesses (Wohnwert sinkt ab) im Laufe der Zeit aus den gleichen Gründen auch viele Menschen mit ein, die zu den unteren Schichten gehören. Diese wiederum scheinen in krimineller Beziehung häufiger in Erscheinung zu treten als Menschen gehobener Schichten. Für Vertreter des labeling approach kommt ein solches Ergebnis wahrscheinlich nicht überraschend; ihr Ansatz vermag das Phänomen allein aber sicherlich nicht zu erklären. Es dürfte sich eher um eine Frage handeln, die auf sozial- bzw. kriminalpolitischem Wege gelöst werden muß. Entsprechend der skizzierten Tendenz hat die Untersuchung auch die Vermutung, daß Gebiete, die sich in schlechtem baulichen Zustand befinden, die Quartierbildung von Kriminellen begünstigen würden, in Form einer direkten Verbindung nicht bestätigen können. Vielmehr scheinen die Resultate auch hier wieder in die Richtung zu weisen, daß nicht primär die schlechte Baustruktur als Indikator für soziale Problemgebiete und damit auch für kriminelle Aktivitäten in Betracht kommt, sondern das offenbar die Sozialstruktur den bestimmenden Faktor darstellt. Diese kann dann allerdings über die Baustruktur beeinflußt werden. Das bedeutet, daß die Ursache sozialer Segregation in der Baustruktur liegen kann (Persson, in: Schwind et al. 1978). In diesem Zusammenhang hat die Bochumer Untersuchung weiter ergeben, daß dort, wo guter (teurer) Neubaubestand steht, die Kriminalität niedrig ist (Jany, in: Schwind et al. 1978). Diese Erscheinung dürfte damit zu tun haben, daß die Wohnungen in solchen Gegenden teurer sind als in anderen Gebieten mit
der Folge, daß dort die wohlhabendere Mittel- und Oberschicht wohnt, die in der registrierten Kriminalität (Hellfeld) auch sonst kaum erscheint. In Gebieten mit dem qualitativ schlechtesten und älteren Baubestand erreicht die Tatverdächtigenrate hingegen nur mittlere Werte; die Ursache könnte darin liegen, daß hier häufiger ältere und schon deshalb weniger kriminalitätsanfällige Menschen wohnen. Die meisten Tatverdächtigen stammen aus Gebieten mit mittlerer bzw. durchschnittlicher Bauqualität, also aus solchen Gebieten, in denen weniger wohlhabende und meist weniger ältere Menschen zu Hause sind. Daß nicht die Baustruktur, sondern die mit dieser oft verbundene Sozialstruktur eher Beziehungen zu den Kriminalitätsraten aufweist, zeigt schließlich die Betrachtung eines sozialräumlichen Typisierungsversuches. Danach ist der sozialstrukturelle Typ 1 (Wohngebiet sozial Unterprivilegierter) mit Tatverdächtigen am höchsten belastet und der Typ 5 („gutbürgerliche" Wohngebiete) am geringsten (Persson/Jany, in: Schwind et al. 1978). Dabei wurden unter den Wohngebieten der sozial Unterprivilegierten solche Wohngebiete verstanden, in denen die Anteile von Unterschichtsangehörigen, Gastarbeitern, Sozialhilfeempfängern und von Personen mit niedriger Schulbildung (maximal Volksschulabschluß) jeweils überdurchschnittlich hoch liegen. Interessant ist, daß die Reihenfolge der fünf sozialstrukturellen Wohngebietstypen genau der Reihenfolge der Bevölkerungsdichte entspricht; beide wiederum weisen tendenzielle Beziehungen zu den Raten der Tatverdächtigen auf (Jany, in: Schwind et al. 1978).
2. Psychologische
Untersuchungen
Da kriminalgeographische Forschung auf der Grundlage aggregierter Daten naturgemäß keine Informationen über den einzelnen Bürger erarbeiten kann (vgl. die Problematik des „ökologischen Fehlschlusses"), darf es nicht wundern, daß es in der bisherigen Kriminalgeographie kaum psychologische Fragestellungen gibt. Auf der anderen Seite hat es die Psychologie bisher weitgehend zu vermeiden gewußt, dem Umweltfaktor in ihren Untersuchungen einen gebührenden Platz einzuräumen. Diese „ U m weltvergessenheit" (Kruse 1975) ist zu bedauern. Denn, um es mit den Worten Adornos (1972) zu sagen: „Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewußtsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des lebendigen Subjekts und die über den Objekten waltende und doch von ihnen herrührende Objektivität." Dementsprechend müßte der psychologische Beitrag im Rahmen der Kriminalgeographie darin bestehen, subjektive Umwelteindrücke der Bewohner eines Untersuchungsraumes wissenschaftlich zu erfassen und im Kontext soziologischer Erkenntnisse zu betrachten. So kann man ζ. B. versuchen, den Zusammenhang zwischen Jugenddelin-
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Kriminalgeographie
quenz und Sozialstruktur mit psychologischen Mitteln zu überprüfen. Dieser Zusammenhang wurde bisher auch schon in verschiedenen Arbeiten untersucht. Seltener sind hingegen solche Forschungsberichte zu finden, in denen versucht wird, ökologische mit individuum-zentrierten Überlegungen zu verbinden. Insoweit können aber ζ. B. Reiss (1951), Reckless/Dinitz/Murray (1957) erwähnt werden. Psychologische Fragestellungen sind auch im Rahmen der Dunkelfeldforschung und zwar in Form von Motivanalysen durchgeführt worden (vgl. ζ. B. für Deutschland: Stephan 1976 und Schwind et al. 1978), die sich mit „der Erforschung der Bestimmungsgründe für die Unterlassung von Strafanzeigen" befaßt haben. Der entsprechende Versuch in Bochum (Pudel, in: Schwind et al. 1978), solche Informationen getrennt nach Stadtgebieten zu sammeln, hat allerdings zu keinem Ergebnis geführt, weil die gewählte Stichprobe für die Bekanntgabe vertretbarer Resultate zu klein war (sie konnte aus finanziellen Gründen aber nicht größer gewählt werden). Deshalb bezieht sich auch eine andere psychologische Studie über die „Einstellung der (Bochumer) Bürger zur Polizei" auf das gesamte Stadtgebiet Bochums (Sporn, in: Schwind et al. 1978). Die erwähnten verschiedenen Ansätze dürften immerhin zeigen, daß die Kriminalgeographie auch der Psychologie ein weites Betätigungsfeld zuweisen kann; im Rahmen der (erst am Anfang stehenden) Ursachenforschung ist ihre Beteiligung sogar unverzichtbar.
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STÄDTEPLANUNG UND BAUGESTALTUNG Λ. Verstädterung, Umweltverschmutzung und Kriminalität Verstädterung ist ein Sozialprozeß, der nicht nur Großstädte, sondern auch Mittel- und Kleinstädte und ländliche Gebiete erfaßt hat. Es gibt in den Industriegesellschaften Huropas, Nordamerikas und Asiens nur mehr oder weniger verstädterte Gebiete. Kriminalität entsteht aus der sozialen Nichtanpassung an den Prozeß der Verstädterung. Konflikte ergeben sich aus dem sozialen und kulturellen Pluralismus der Großstadt. Anonymität der Lebensweise, Wohndichte und soziale Isolation verursachen in der Großstadt Probleme, aus denen sich Kriminalität entwickelt. Die Lebensqualität in der modernen Großstadt ist problematisch. Luft und Wasser sind durch Abgase und Abwässer verschmutzt. Lärm quält die Bewohner. Die bauliche Substanz ganzer Stadtviertel wird vernachlässigt und verfällt. Die Inflation der Angst ist noch zerstörerischer und krankhafter als viele Formen der Verschmutzung. Die
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Angst vor Gewalttaten schafft Mißtrauen und führt zu Vermeidungstechniken im Verhalten der Bevölkerung. Man geht Fremden aus dem Weg. Man besucht Freunde, Verwandte und Nachbarn nicht mehr. Das Gefühl der Enge und Einsamkeit ist drükkend. Der Einzelmensch geht in der großstädtischen Masse unter. Sie läßt ihm keinen persönlichen Bereich, schafft für ihn aber auch keine Gemeinschaft. Während langer Zeiträume des Tages und der Nacht bleibt jeder allein mit seinen Ängsten und Nöten. Die Menschen leiden daran, ohne den von ihnen so dringend benötigten warmen, mitmenschlichen Kontakt auskommen zu müssen. Umgeben von allgemeiner Gleichgültigkeit leben sie in Großstädten zusammengedrängt, die Verlassenheit und Trennung begünstigen. Die mittelalterliche Stadt atmete den Geist der Solidarität. Korporationen, Bruderschaften und Gemeinschaften hatten ein Netz gegenseitiger Hilfe über die Stadt gespannt, das ein Uberdauern der langen Nacht, des Winters und unsicherer Zeiten ermöglichte. Die Differenzierung der handwerklichen Aktivitäten war begleitet von einer Spezialisierung in den Stadtgebieten. In vielen großstädtischen Ballungsräumen, in den Trabantenwohn- und -schlafstädten hat man den gemeinschaftlichen Zusammenhalt weitgehend verloren. Die Gleichförmigkeit und Monotonie der städtebaulichen und architektonischen Formen schaffen Einstellungen der Langeweile, der Unausgefülltheit und der Apathie. Man findet sich schwer in der Großstadt zurecht. Zwischen den Betonblocks der Wohnhochhäuser und der Einkaufszentren, meist Supermärkte, klaffen riesige Leerräume, die eine Grundstimmung der Verlassenheit erzeugen. Der moderne Mensch der Großstadt fühlt sich nicht mehr in seiner Familie, in seiner beruflichen Arbeit, in seiner Nachbarschaft, in seiner Religion geborgen. Breite Ausfallstraßen und Stadtautobahnen hauen Schneisen in die städtebauliche Substanz; sie zertrennen Wohnviertel und riegeln sie gegeneinander ab. Viele Siedlungen sind nur noch Schlafstätten, getrennt von den Arbeitsstätten durch riesige Entfernungen, die man eingepfercht in öffentliche Verkehrsmittel oder eingereiht in lange Autoschlangen jeden Werktag zu überwinden hat. Die Auspuffgase der Autoschlangen verpesten die Luft. Die Häuserfassaden sind einander angeglichen. Es fehlt die Buntheit des Lebens und die Personalität. Die Isolierung der Bewohner der großen Gebäude ist zur Gewohnheit geworden. Die Mieter kennen sich nicht mehr. Die Diskretion wird zur Gefühlskälte, zur sozialen Gleichgültigkeit. Die Angst vor Räubern und Einbrechern verriegelt die Türen. Die Menschen ziehen sich hinter vergitterte Fenster zurück. Eine Festungsmentalität greift um sich. Die Bürger sitzen voneinander getrennt in ihren Wohnungen, passiv vor ihren Fernsehschirmen ( —> Massenmedien). Außerhalb ihrer Wohnungen beschränkt das Selbstbedienungssystem in den Supermärkten und Großgeschäften den menschlichen Kontakt auf wenige
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Städteplanung und Baugestaltung
Worte im Augenblick des Bezahlens. In Bus, Schnell- und Untergrundbahn sorgt die Automatisierung dafür, daß menschliche Begegnungen verkümmern. Dasselbe gilt für die Arbeitsplätze in Büros und Fabriken. Der Mitmensch, der auf dem Bahnsteig, im Bus, im Wohnhochhaus ganz nah ist, bleibt ein Unbekannter, ein Fremder. Er bietet Gelegenheit zu gewaltsamem Handeln (Jacques Leaute 1978) und zur Kriminalität. Er ist geradezu geschaffen zum möglichen Verbrechensopfer (-> Viktimologie) und zur menschlichen Fehlbegegnung der Viktimisierung. Er ist vergleichbar der Verlassenheit der Konsumgüter, die in Selbstbedienungsläden zum Ladendiebstahl „einladen". Die Gleichgültigkeit der Städter begünstigt die Entstehung der Kriminalität. Sie zögern, im Falle einer Straftat dem Opfer Hilfe zu leisten. Die Abwesenheit der Polizei, die in Streifenwagen die städtischen Gebiete zu überwachen versucht, das Fehlen des Dienstpersonals in Bus, Schnell- und Untergrundbahn schaffen Beunruhigungen, die die Sozialkontrolle erschweren. Die Großstädter ziehen es vor, physischen Risiken und „unnötigen" Störungen auszuweichen, die mit gegenseitiger Hilfe im Falle der kriminellen Viktimisierung und mit der Unterstützung der Instanzen der Sozialkontrolle, der Polizei, der Gerichte und des Strafvollzugs, verbunden sind. Die Anonymität der Ballungsgebiete, der Trabantenstädte, Wohnblocks und Wohnhochhäuser erleichtert die Flucht der Straftäter. Durch die Auslagen der Schaufenster, durch Plakate an Mauern und Wänden und durch die Uberfülle des Warenangebots in den Geschäften werden die Menschen zum Kaufen verführt. Bedürfnisse werden künstlich durch Werbung geweckt. Die Menschen können vieles, was sie auf diese Weise zu kaufen genötigt werden, gar nicht gebrauchen. Der Besitz der materiellen Güter macht sie nicht glücklicher und nicht zufriedener. Vergnügungsstätten laden zur Entspannung ein. Sie vermögen ihre Versprechungen allerdings nicht einzulösen. Die Menschen fühlen sich gleichwohl gehetzt und sind unzufrieden. Ihre Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt. Die Gemeinschaften und die soziale Kontrolle sind in den Großstädten zerstört. Kriminalität ist ein Phänomen der Umweltverschmutzung, der sinnlosen Vergeudung von Energie und von natürlichen Reserven. Vermassung, Unrat, Lärm, Wasserund Luftverschmutzung, soziale und psychische Verwirrung sind Symptome der sozialen und persönlichen Desintegration in den modernen Großstädten. Die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt modifiziert beide. Geisteskrankheit, Armut, Kriminalität sind Produkte derselben Umwelt, die Verschmutzung und Verschwendung natürlicher Energien hervorruft. Die physischen Kennzeichen einer großstädtischen Umwelt sind Lärm, Verschmutzung und Vermassung. Die sozialen und psychischen Charakteristiken, nämlich Verfremdung, Einsamkeit, Angst und Brutalität, finden in den physischen Kennzeichen ihre Entsprechung. Ein circulus vitio-
sus wird in Bewegung gesetzt, der einerseits durch Kriminalitätsbegehung die Menschen von den Straßen und aus den Parkanlagen vertreibt und der andererseits durch die Nichtbenutzung der Straßen und Parks wiederum die Kriminalität in die Höhe schnellen läßt. Wohnhochhäuser werden gebaut, in denen Flure, Treppenhäuser und Fahrstühle kriminell gefährlich für ihre Benutzer sind, weil sie von außen nicht eingesehen und nicht überwacht werden können. Untergrundbahnen, Häfen und Flughäfen waren schon immer kriminogene Durchgangszonen für den Massenverkehr. Soziale Isolation, Entpersönlichung und der Zusammenbruch der Beziehungen in den sozialen Gruppen, z.B. in Familie, Schule, Berufs· und Freizeitgruppen, machen soziale Desintegration aus, die die Kriminalität verursacht. Freundschaftlicher Kontakt mit einigen Familien der Nachbarschaft und gegenseitige Hilfe können Kriminalität verhüten (—> Vorbeugung des Verbrechens). Sozialer Zusammenhalt ermöglicht Sozialkontrolle. Der einzelne übernimmt von selbst die Verantwortung für den Schutz der anderen. Ein Haus, eine Straße, ein Auto, das von einigen sich verantwortlich fühlenden Nachbarn beobachtet wird, ist ein sicheres Haus, eine sichere Straße und ein sicheres Auto. Bürger, die sich nicht engagieren wollen, verhüten keine Kriminalität. Unter dem Hauptgesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit wurden Großstädte geplant und gebaut. Die Deckung des Wohnbedarfs stand im Vordergrund. Vernachlässigt wurde der soziale und psychische Bedeutungsgehalt des Raumes für den Menschen. Umweltbewußtsein ist erst neuerlich gewachsen. Die bauliche Umwelt wirkt beeinflussend auf Erleben und Verhalten (C.Ray Jeffery 1971). Man entwickelt wieder Sinn für die Erhaltung und Gestaltung intakter Häuserstrukturen in Altbaugebieten. Wenn man alte Bergarbeitersiedlungen abreißt und ihre Bewohner in neue Wohnhochhäuser umsiedelt, so zerstört man nicht nur die alten Gebäude mit ihren — zugegebenermaßen - unzeitgemäßen sanitären Einrichtungen, sondern auch natürlich gewachsene Gemeinschaften, die zur Verbrechenskontrolle unentbehrlich sind. Verhalten bedeutet Auseinandersetzung mit der Umwelt, die Verhalten auslösen, motivieren und verstärken kann. Verhalten ändert Umwelt.
B. Kriminalökologie und -topographie Nach Joachim Hellmer (1972, S. 13) ist Kriminalgeographie „die Wissenschaft von der regionalen Verteilung der Kriminalität und der Kriminalitätsfaktoren und von den regionalen Unterschieden in der Kriminalitätsbekämpfung". Für Horst Herold (1968, S.205) ist es das Ziel der Kriminalgeographie, „die effektive örtliche und zeitliche Belastung eines Raumes durch raumbezogene Delikte und Täterwohnsitze sowie die Mobilität des Täters zwischen
Städteplanung und Baugestaltung verschiedenen Räumen statistisch zu erfassen und kartographisch darzustellen". Geht es der —> Kriminalgeographie (Hans Dieter Schwind, Wilfried Ahlborn, Rüdiger Weiß 1978) um die Erfassung und Erklärung der Verteilung der Kriminalität im Raum, so befaßt sich die Kriminalökologie mit der funktionalen Perspektive der Umwelt des Menschen. Denn sie untersucht die Wechselwirkung zwischen dem Verhalten der einzelnen und der sozialen Gruppen und ihrer physischen, sozialen und kulturellen Umwelt (President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967 a, S.60; Judith A. Wilks 1967 a, S. 138). Es handelt sich mithin um die Erforschung der Entwicklung von Sozialstrukturen und um die Analyse von Sozialprozessen in ihrer Umwelt. Menschliches Verhalten gestaltet Umwelt, die ihrerseits menschliches Verhalten formt. Umwelt und Verhalten sind Teile eines Sozialprozesses. Hierbei wird Umwelt nicht im Sinne der traditionellen deutschen Kriminologie als „Milieu" verstanden, das den Menschen im Gegensatz zur Anlage als Gesamtheit außenweltlicher Faktoren sozial beeinflußt, sondern als Raum, den der Mensch gestaltet oder verunstaltet oder in dessen Funktionen er zu seinem eigenen Nutzen möglichst wenig eingreifen sollte. In diesem Sinne versteht man unter künstlicher Umwelt den Raum, den der Mensch baulich gestaltet, und unter -»natürlicher Umwelt den Raum, der sich auch ohne menschliche Eingriffe aus sich selbst heraus zu entwickeln vermag und den der Mensch bewahren, schützen und pfleglich behandeln sollte. Die natürliche Umwelt umfaßt z.B. Pflanzen- und Tierwelt, Landschaft und Klima. Von der Kriminalökologie unterscheidet sich die Kriminaltopographie, die Tatortstrukturen systematisch zu erforschen versucht. Sie entfernt sich von Raum und Fläche und konzentriert sich auf Punkte, Tatorte (Edwin Kube 1978). Die ersten kriminalökologischen Untersuchungen sind in Chikago durchgeführt worden (Clifford R.Shaw 1929; Clifford R.Shaw, Henry D.McKay 1942). Diese Studien wurden in Honolulu (Andrew W. Lind 1930), in Mexico City (Norman S.Hayner 1946) und in Seattle (Calvin F.Schmid 1968) wiederholt und in Chikago auf den neuesten Stand gebracht (Henry D. McKay 1967 b). Eine britische Untersuchung für Croydon (Terence Morris 1957) kommt zu dem Ergebnis, daß die kriminellen Gebiete im wesentlichen durch die Kultur der Arbeiterschicht, schlechte Wohnverhältnisse und verwandte sozioökonomische Faktoren gekennzeichnet sind. Im nordamerikanischen Gebiets- (area approach) und Umweltgestaltungsansatz (environmental design approach) spielen die konzentrischen Kreise eine große Rolle, durch die die Großstadtgebiete unterteilt werden. Allgemein ist die Tendenz erkennbar, daß die Häufigkeiten der meisten Verbrechen mehr oder weniger proportional zur Entfernung vom Stadtzentrum abnehmen. Das Stadtzentrum ist hierbei nicht nur das Gebiet, in dem der überwiegende
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Teil aller Verbrechen begangen wird, sondern ebenso auch das Gebiet, in dem der größte Teil der Delinquenten wohnt. Das Stadtzentrum setzt sich als „Verbrechensgebiet" aus einem Mosaik verschiedenartigster „gewachsener Gebiete" zusammen, die verhältnismäßig homogen sein, aber auch in einem starken Gegensatz zueinander stehen können (Calvin F. Schmid 1968, S. 134). Das zentrale „City-Gebiet" ist als Hauptgeschäftsviertel ein Raum, der bei größter Bevölkerungsentleerung während der Nächte, an Wochenenden und Feiertagen zugleich eine höchste Konzentration wirtschaftlicher, kultureller und administrativer Funktionen an Werktagen aufweist (—» Kriminalgeographie). Die größeren Gelegenheiten für Verbrechen und die höhere Anonymität im zentralen Großstadtgebiet werden von Kriminellen ausgenutzt (President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967a, S.65). Übergangsgebiete, die sich aus Wohnvierteln in Industriegebiete wandeln, sind gleichfalls mit Kriminalität hoch belastet. Denn wegen des Gebietswandels verlassen Bewohner mit höherem sozioökonomischen Status das Stadtviertel, in das - bei Verfall der Bausubstanz und bei ständig sinkenden Mieten - nur noch Menschen einziehen, die sich in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen befinden, also z.B. Arbeitslose und ungelernte Arbeiter mit ihren Familien. Die neuen Bewohner können sich nicht auf alte Gewohnheiten und Bräuche stützen, um sich an die großstädtischen Bedingungen anzupassen. Der Mangel an stabilen sozialen Institutionen und zwischenmenschlichen Beziehungen macht sie täter- und opferanfällig. In Satellitenzentren für Handel und Industrie in Vorstadtgebieten sind die Häufigkeitszahlen der Kriminalitätsbegehung überdurchschnittlich hoch. Schaubild 1 verdeutlicht die Kriminalitätsverteilung in Grand Rapids, Michigan, USA. Die meiste Kriminalität wird in der City begangen. Das mit Verbrechen am zweithäufigsten belastete Gebiet ist eine Ubergangszone. Die Stadtgebiete, die in der Kriminalitätshäufigkeit an 3. und 4. Stelle stehen, sind Handels- und Industriezonen. Diese Subzentren in der Nähe der Peripherie der Stadt oder in Vorstadtgebieten weisen deshalb eine so hohe Kriminalität auf, weil sie größere Gelegenheiten für die Verbrechensbegehung bieten und weil in ihnen bei hoher Bewohnermobilität die Sozialkontrollen schlecht entwickelt sind. Die Wohngebiete an der Peripherie der Stadt und in den Vorstädten sind am geringsten mit Kriminalität belastet. Guter sozialer Zusammenhalt, hoher Berufsstatus, gute Schulbildung der Bewohner, ihr stark ausgeprägtes Familienleben und eine einwandfrei integrierte Nachbarschaft sind für diese Räume mit niedriger Kriminalitätshäufigkeit charakteristisch. Demgegenüber häufen sich in Verbrechensgebieten die Sozialprobleme: Kindersterblichkeit, Schulschwänzen, Fortlaufen aus dem Elternhaus, Alkoholismus der Eltern, Stadtstreicherei, Tuberkulose und Geisteskrankheit, niedriges Einkommen, niedriger be-
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Städteplanung und Baugestaltung Schaubild l: Kriminalitätsverteilung
•
unter
1 200
in Grand Rapids, Michigan, USA (Bevölkerung:
208 000)
Autobahnen
Quelle: President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice (Hrsg.): Crime and its impact - an assessment. Washington D. C. 1967, S. 62.
ruflicher, familiärer und ökonomischer Status. Die verwahrlosten und zerstörten Wohnungen und Gebäude sind überbelegt. Die Mobilität und der Prozentsatz unverheirateter, arbeitsloser Männer sind hoch. Autodiebstahl und Diebstahl aus Kraftfahrzeugen werden besonders auf Parkgelände in der Nähe von Hotels und Supermärkten begangen (Peter A. Engstad 1975). Der Einbruchsdiebstahl in Toronto ist auf Gebiete konzentriert, die in der Nähe
von Wohnbauten liegen, die mit öffentlichen Mitteln unterstützt worden sind. Diese Gebiete verfügen über einen hohen Anteil alleinstehender und arbeitsloser Männer und über eine große Einkommensungleichheit (Irvin Waller 1976). Hohe Einbruchsraten hängen auch mit schlechtem sozialen Zusammenhalt und damit zusammen, daß die Wohnungen wegen Berufstätigkeit ihrer Bewohner während des Tages weitgehend unbewohnt bleiben (Thomas
Städteplanung und Baugestaltung A. Reppetto 1974, S.52). Die Gebiete, die mit den meisten Gewaltverbrechen belastet sind, haben auch den höchsten Rauschgift- und Alkoholkonsum und die größte Ehescheidungshäufigkeit (Ezzat Abdel Fattah 1972, S. 172). Eine zerstörte Gemeinschaft wird für alle diese Erscheinungen der Sozialpathologie verantwortlich gemacht. Sozial schwache, emotional gestörte und kriminelle Menschen werden durch die Räume mit zerstörten Gemeinschaften besonders angezogen. Diese Anziehungskraft rührt insbesondere aus den niedrigen Mieten her. In den Verbrechensgebieten sind die Möglichkeiten für eine legale Einkommenstätigkeit begrenzt. Die illegalen Gelegenheiten zum Einkommenserwerb sind demgegenüber in diesen Gebieten groß. Die hohen Verbrechensraten in bestimmten Großstadtgebieten stellen Symptome des Zusammenbruchs der Sozialstruktur und -kontrolle dar. Kriminalitätsabwehrende Architektur benutzt die bauliche Gestaltung, um einen Identitätssinn der Bewohner mit ihrer Umwelt zu entwickeln, der sich auf eigenen Besitz und auf die Nachbarn beziehen soll. Die Bewohner sollen zu ihren eigenen Sicherheitskräften werden. Raumverteidigung (Defensible Space) und Zielerschwerung (Target Hardening) sind hierbei die Techniken einer Verbrechensvorbeugung durch Raumgestaltung (Crime Prevention through Environmental Design). Es ist nicht beabsichtigt, in Kochbuchmanier auf gefährliche Stadtteile, Gebäude und Gebäudeteile hinzuweisen und sie zu beschreiben. Vielmehr wird davon ausgegangen, daß eine beständige, vorhersagbare Beziehung zwischen dem Verhalten des Menschen und seiner Umwelt besteht, in deren Rahmen sich dieses Verhalten zuträgt. Die Entwicklung eines Sinns für Gemeinschaft ist zum Zwecke der Verbrechensvorbeugung durch Raumgestaltung eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren informeller sozialer Kontrollen und für ein Höchstmaß an Wirksamkeit der formellen Sozialkontrollen. In der Unpersönlichkeit eines Wohnhochhauses kann sich nur unter großen Schwierigkeiten ein Sinn für Gemeinschaft entfalten. Im Gegensatz zur rational motivierten Kriminalität ist für die Gelegenheitskriminalität das Vorhandensein kriminogener und viktimogener Situationen bestimmend. Der potentielle Täter kann ζ. B. ziemlich sicher sein, keinen Verbrechenszeugen fürchten zu müssen. Das mögliche Verbrechensobjekt kann z.B. schlecht beleuchtet oder sonst unzureichend geschützt sein. Es kann nicht beobachtbar sein. Das potentielle Verbrechensopfer hat keine Chance zur Gegenwehr oder zur Erlangung von Hilfe. Der kriminalitätsabwehrenden Architektur geht es darum, Verhaltensmuster und Interaktionen zu entwickeln, die zu einem Sinn für Besitz, für Verantwortlichkeit, für andere, für Territorialität führt. Ein „Gebietssinn" ist dann vorhanden, wenn die Bewohner ihr Gebiet als ein gemeinsames wahrnehmen, benutzen und sich darum kümmern, was sich in ihrem gemeinsamen Gebiet ereignet. Wirkli-
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che oder symbolische Barrieren werden dazu benutzt, halböffentliche und halbprivate Gebiete zu definieren, die innerhalb und außerhalb von Gebäuden liegen können. Ein halböffentlicher Raum ist innerhalb oder außerhalb eines Gebäudes ein Bereich, der zwar vom öffentlichen Raum, ζ. B. von Straßen und Plätzen, erreichbar ist, den sich aber die Bewohner eines Gebäudes als ihren gemeinsamen Zugangs· und Nutzungsbereich zugeschrieben haben. Ein halbprivater Raum ist innerhalb oder außerhalb eines Gebäudes ein Bereich, der zwar nur vom halböffentlichen oder privaten Bereich zugänglich sein soll, der aber auch von Freunden, Bekannten, Nachbarn und Lieferanten der Bewohner in einer Weise benutzt werden soll, daß man diese Personen von Fremden unterscheiden kann. Eine symbolische Barriere zur Unterscheidung des öffentlichen Raumes vom halböffentlichen Raum ist ζ. B. eine farblich unterschiedliche Pflasterung des Gehwegs der öffentlichen Straße und des Zugangsbereichs zum Wohnblock. Eine reale Barriere ist z.B. der Zaun um eine Großwohnanlage. Die Wohneinheiten einer Großwohnanlage werden so unterteilt, daß der Kontakt zwischen den Bewohnern erhöht und die informelle Sozialkontrolle dadurch gestärkt wird. Der Gebrauch unterbenutzter und deshalb gefährlicher Gebiete wird durch die Anlage von Spielplätzen oder Freizeitparks so gesteigert, daß diese Gebiete vor Kriminalität sicher werden. Parkplätze und Tiefgaragen, Spielplätze, Eingangsflure und Gehwege um die Gebäude herum und zwischen den Gebäuden werden durch ihre Lage und die Benutzung von Türen und Fenstern und durch ihre Beleuchtung so überschaubar gemacht, daß sie nicht von Fremden zu kriminellen Zwecken mißbraucht werden können. Der Raumgestaltungsansatz bei der Verbrechesvorbeugung versucht, dem verbrechensbereiten Menschen durch Raumgestaltung die ihn motivierende Gelegenheit zu entziehen. Der Raum wird auf diese Weise gegen Kriminalität verteidigt, und die Erreichung des kriminellen Zieles wird erschwert (Paul R.A.Stanley 1976).
C. Soziale Desintegration in der GroBstadt Die heutige Massenkriminalität ist vor allem ein Problem der Großstadt. Moderne Dunkelfeldforschungen, die neben der angezeigten, die unentdeckt und verborgen gebliebene Kriminalität ermitteln, haben in den Vereinigten Staaten festgestellt, daß die Vermögenskriminalität doppelt so hoch und die Gewaltkriminalität sogar fünfmal höher in den Großstädten vorkommen als in Mittel- und Kleinstädten und auf dem Land (President's Commission on Law Enforcement and Administration of Justice 1967 c, S. 30). In der Bundesrepublik Deutschland entfällt mehr als die Hälfte der bekanntgewordenen Kriminalität auf Großstädte mit mehr als 100 000 Einwohnern bei einem Bevölkerungsanteil dieser Großstädte von nur 34,8 % an der Gesamtbevölke-
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Städteplanung und Baugestaltung
rung (Bundeskriminalamt 1978, S. 14). Die kriminologische Forschung hat herausgefunden, daß die soziale Desintegration die Hauptursache für die Höhe der Kriminalität in den modernen Großstädten ist: Traditionelle Wertsysteme sind zerfallen. Die Gemeinschaft, ein lebendiger Organismus sozialer Beziehungen, ist zerstört. An ihre Stelle ist die Vereinzelung und Anonymität in einer großstädtischen Massengesellschaft getreten, die nur noch ein mechanisches Kunstprodukt ist. Soziale und emotionale Bindungen zu Familienmitgliedern, zu Nachbarn und Freunden fehlen weitgehend oder sind instabil. Eltern vernachlässigen ihre Kinder zu sehr. Soziale Kontrolle durch Eltern, Nachbarn und Freunde findet nicht in ausreichendem Maße statt. Die Bewohner der Großstadtbezirke kennen und besuchen sich nicht genügend. Nachbarschaften halten nicht mehr zusammen und haben ein schlechtes Selbstbild von sich. Freizeitaktivitäten, Gesang, Tanz, Spiel und Sport, werden kaum noch gemeinsam ausgeübt. An ihre Stelle sind weitgehend großstädtische Veranstaltungen in Hallen und Stadien getreten, bei denen die Massen sich als Zuschauer passiv verhalten. Die Kriminalitätsprobleme, denen sich die Großstadt der Gegenwart und Zukunft gegenübergestellt sieht, können durch eine Vermehrung der Polizei und eine Verbesserung ihrer Ausbildung und Ausrüstung allein nicht mehr gelöst werden. Wirksame Polizeieinsätze zur Überführung von Straftätern sind vielmehr nur in einem Raum möglich, in dem eine sozial gesunde Gemeinschaft die Polizeikräfte aktiv unterstützt. Eine gleichgültige Bürgergemeinschaft begrenzt oft ihre Teilhabe an der Verbrechensbekämpfung auf bittere Kritik an der Polizei. Sie wirft ihr vor, daß sie ihre Arbeit nicht erfolgreich und mit brutalen Mitteln ausführt. Die Aufklärungsarbeit der Kriminalpolizei kann freilich nur erfolgreich getan werden, wenn die Bürger sich in einem Mindestmaß informell gegenseitig kontrollieren und wenn sie die Tatüberführung eines Kriminellen aktiv unterstützen. Es wird niemals möglich sein, eine Großstadtstraße ohne die ständig mögliche Gegenwart der Bürger sicher zu machen. Die gleichgültige Masse, die sich in einer Großstadt ungerührt die Ausführung eines Gewaltverbrechens anschaut, ist indessen fast schon zu einem Klischee geworden, über das sich niemand mehr sonderlich aufregt. Selbst auferlegte Beschränkungen der eigenen Bewegungen in der Großstadt, die Flucht der Mittel- und Oberschichten in festungsähnliche Wohnhochhäuser oder in gut beschützte Isolationsstrukturen der Vorstädte sind durch Verbrechensfurcht verursacht und stellen Rückzüge in die Gleichgültigkeit dar, die das immer explosiver werdende Kriminalitätsproblem nicht lösen (National Advisory Commission on Criminal Justice Standards and Goals 1973, 194/195). Wenn Menschen damit beginnen, sich selbst als Individuen und nicht mehr als Gemeinschaften vor der Kriminalität zu schützen, ist der Kampf gegen das Verbrechen fast schon verloren.
D. Kriminalitätsverursachung durch Städteplanung und Baugestaltung Gelegenheitskriminalität
Während der letzten Jahrzehnte ist die Bevölkerung aus den ländlich-kleinstädtischen Gebieten in die großstädtischen Ballungszentren gezogen, weil sie hier bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen vorzufinden glaubte. Der Anstieg der Grundstückspreise, der durch die Bevölkerungskonzentrationen verursacht worden ist, hat das Bauen in den Innenstädten und in den Kerngebieten der Vorstädte teuer gemacht. Die hohen Grundstückskosten mußten auf möglichst viele Wohneinheiten verteilt werden, so daß die Baudichte wuchs. Der Wettbewerb um Wohnfläche in großstädtischen Ballungsgebieten, die zur Wohnung bevorzugt wurden, trieb die Bodenpreise in der sozialen Marktwirtschaft in die Höhe. Der Druck, die Wohnraumdichte zu erhöhen, wurde durch Bürokratien verstärkt, die Familien mit niedrigem Einkommen in den Großstädten unterbringen mußten. Die turmartigen Wohnhochhäuser mit vielen Stockwerken und Fahrstühlen, in denen Familien mit Kindern und niedrigem Einkommen und Familien vom Lande leben, die die Großstadt noch nicht gut genug kennen, sind in hohem Maße mit Kriminalität belastet. Aus solchen Familien kommen die meisten Täter, aber auch die meisten Verbrechensopfer. Die Kriminalität, die von Menschen mit niedrigem Einkommen begangen wird, ähnelt sehr stark den Berufen, die sie ausüben. Der Kriminelle mit niedrigem Einkommen, der keine angemessene Berufsausbildung besitzt und dessen Verhalten auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist, entwickelt im Gegensatz zum Berufsverbrecher und zum Wirtschaftskriminellen keine besonderen Verbrechenstechniken. Er wendet sich gegen seinen unmittelbaren Nachbarn, stützt sich auf brutale Gewalt und ergreift jede Gelegenheit, die sich ihm bietet. Diese Kriminalität kann indessen die schwerwiegendste und niederdrückendste Form des Verbrechens sein, weil sie eine direkte Bedrohung der Person und ihres Eigentums darstellt. Die meisten Einbrüche werden durch die Unachtsamkeit der Bewohner verursacht, die es den Tätern dadurch leicht machen, daß sie ihnen Gelegenheiten zum Einbruch eröffnen (Harry A.Scarr 1973, S.110). Familien mit Kindern und geringem Einkommen sollten nicht in Wohnhochhäusern mit zahlreichen Stockwerken, sondern in Mehrfamilienhäusern wohnen, die nicht mehr als drei Stockwerke haben. Denn nicht Wohndichte allein, sondern Wohndichte zusammen mit der Höhe und dem Typ des Gebäudes, nämlich mit einem turmartigen Wohnhochhaus, hängt eng mit hoher Kriminalitätsbelastung zusammen. Straßenkriminalität, Raub, Vergewaltigung und Einbrüche, wirken sich am destruktivsten auf die Sicherheit und Stabilität eines Großstadtwohnbezirks aus. Etwa die Hälfte aller Kriminellen begeht
187
Städteplanung und Baugestaltung ihr Verbrechen in demselben Wohnbezirk, in dem sie leben und wohnen. Baugestaltung und Städteplanung können Umwelt entwickeln, die Menschen isoliert, ihre Feindschaft, Befürchtungen und Wahnvorstellungen noch erhöht. Sie haben zwar keine unmittelbaren Wirkungen auf Lebensstile und soziale Beziehungen. Sie können nicht Kriminalität ohne weiteres kontrollieren, aber menschliches Verhalten nachhaltig beeinflussen. Sie können den äußeren Rahmen schaffen, der die Verwirklichung gegenseitiger Sorge und Hilfe erleichtert. Sie können und wollen menschliche Persönlichkeitszüge nicht ändern. Sie erlauben lediglich, Einstellungen gegenüber dem sozialen Nahraum zu entwickeln, die auf soziale Kontrolle gerichtet sind. Architekten und Städteplaner, die ein wenig von Umfang, Art und Entwicklung der Kriminalität verstehen, können Verbrechen dadurch verhindern, daß sie räumliche Planungen entwerfen, die die Verbrechensvorbeugung unterstützen.
2. Gefährliche Gebäude, Gebäudeteile, Parks, Grünanlagen und Straßen Um den Einfluß der Städteplanung und Baugestaltung auf Kriminalität feststellen zu können, ist ein Vergleich von Wohnvierteln erforderlich, in denen die sozialen Merkmale der Bevölkerung möglichst konstant gehalten werden. Seit 1970 hat eine
Forschungsgruppe an der Universität New York Wohnentwicklungen in vielen Großstädten der Vereinigten Staaten kriminologisch erforscht (Oscar Newman 1973 a). Sie hat sich insbesondere den 169 Projekten des öffentlichen Wohnungsbaus der Stadt New York zugewandt, die 150 000 Wohnungseinheiten zählen, in denen 528 000 Menschen wohnen. Die Wohnungsbehörde der Stadt New York unterhält eine eigene Polizei von 1600 Mann, die ausführliche Berichte über alle kriminellen und vandalistischen Handlungen genauso wie einfache Beschwerden aufnimmt. Die kriminologische Forschergruppe war in der Lage, mit Hilfe dieser Daten die gefährlichsten Gebäudekomplexe und Gebäudeteile ausfindig zu machen. Es war femer möglich, die verschiedenen Haustypen und Projektausführungen mit Höhe und Art der Kriminalität zu vergleichen. Da in New York City dicht bewohnte Hochhäuser mitten in Gebieten stehen, die von Einfamilienhäusern beherrscht werden, aber auch Wohnprojekte mit niedriger Wohndichte in zentralen Gebieten Manhattans vorhanden sind, war eine Analyse durchführbar, die nicht allein auf die Bevölkerungsdichte abstellen mußte. Die Wohnprojekte mit hoher Kriminalitätsbelastung sind gewöhnlich sehr groß, und in ihnen wohnen über 1000 Familien. Sie bestehen meist aus turmartigen Wohnhochhäusern mit einer Höhe von über sieben Stockwerken. Die Wohnhochhäuser treten an die Stelle von vier bis sechs getrennten Wohn-
Schaubild 2: Wohnhochhaus. Links Außenansicht, rechts Innenansicht (mit Eingang, Fahrstühlen, Treppenhäusern, Fluren und Wohnungen) Treppenhaus
Fohrstühle
Treppenhaus
Quelle: Oscar Newman: Defensible space. London 1973. Seite 23.
188
Städteplanung und Baugestaltung
blocks, die in einem gigantischen Superblock zusammengefaßt sind, der für den Großstadtstraßenverkehr unzugänglich ist. Die Gebäude sind ziemlich willkürlich auf einem weiträumigen Grundstück verteilt. Die freien Flächen um die Gebäude herum stellen Räume dar, die ungehinderte Bewegungen zwischen den Gebäuden erlauben und für den Personenverkehr aus den das Wohnprojekt umgebenden Straßen offen sind. Nirgends sind Versuche der Differenzierung des Grundstücks und der Zusammenordnung bestimmter Gebäude nach bestimmten Prinzipien gemacht. Die Gebäude stellen gewöhnlich platte und kreuzförmige Türme dar, in denen 150 bis 500 Familien wohnen (Schaubild 2). Sie haben einen Eingang und Flur, der ins Innere der Gebäude führt. Der Flur enthält die Briefkästen und einen Warteraum für zwei bis vier Fahrstühle. Ein typischer Flur besteht aus einem langen zentralen Korridor mit Wohnungen, die sich an beiden Seiten aufreihen. Kein Portier oder Hausmeister bewacht die Gebäude. Die Flure, Treppenhäuser, Aufzüge und Korridore sind offen und zugänglich für jedermann. Die Wohnhochhäuser, in denen siebeneinhalbmal soviel Kriminalität und Vandalismus vorkommen als in Mehrfamilienhäusern, verursachen Verbrechen dadurch, daß sie Einstellungen der Anonymität und Unverantwortlichkeit, ein Gefühl der Isolation und einen Mangel an Identität mit ihrer Umwelt fördern. Die Bewohner, die innerhalb der Appartementtürme leben, sind der Meinung, daß ihre Verantwortlichkeit mit den Grenzen ihrer eigenen Wohnung beginnt und endet. Der öffentliche Raum der Straßen und Plätze geht dadurch fast ununterbrochen und unvermittelt in private Wohneinheiten über, daß Flure, Korridore und Aufzüge nicht als halböffentliche und halbprivate Zugangs- und Durchgangszonen betrachtet werden, die nur für den Zu- und Durchgang der Bewohner, ihrer Freunde, Besucher und Lieferanten bestimmt sind. Dasselbe gilt für die Grünanlagen um die Gebäude herum, die nicht unterteilt und nicht als halböffentlich und halbprivat definiert sind und über die von den Be-
wohnern keine Kontrolle durch häufigen Gebrauch ausgeübt wird. Eine solche Kontrolle ist den Bewohnern von der Stadtplanung und Baugestaltung auch extrem schwer gemacht. Wohnhochhäuser mit Aufzügen erlauben im Gegensatz zu Mehrfamilienhäusern ohne Aufzug keine Unterteilung. Wohnhochhäuser über sieben Stockwerke erfordern darüber hinaus teuere Aufzüge mit hoher Geschwindigkeit, die nur dann ökonomisch genutzt werden können, wenn sie eine große Anzahl von Wohneinheiten pro Gebäude und Stockwerke bedienen. Aus der Kombination von Aufzügen, Treppenhäusern und langen Korridoren, an denen sich eine große Zahl von Wohnungen reiht, ergibt sich eine Menge anonymer öffentlicher Räume mit geringer Uberschaubarkeit innerhalb der Gebäude, in denen die meisten Verbrechen begangen werden. Denn diese Räume, Flure, Gänge und Treppenhäuser sind zwar öffentlich zugänglich, sie müssen aber ohne den Vorteil der beständigen Beobachtung durch vorbeigehende Fußgänger und patrouillierende Polizei auskommen. Die Bewohner, die diese Räume benutzen, können Mitbewohner und deren Freunde, Bekannte und Lieferanten nicht von Eindringlingen unterscheiden, die kriminelle Motive verfolgen. Insbesondere die Wohnhochhäuser mit sieben und mehr Stockwerken sind für Kriminalität hoch anfällig. Mit der Anzahl der Stockwerke der Gebäude wächst die Kriminalität in öffentlichen Innenräumen (Schaubild 3). Man hat den Raub untersucht, der sich im Gebäudeinnern, in öffentlich zugänglichen Räumen, Aufzügen und Treppenhäusern, ereignet. Die Wohnhochhäuser mit sieben und mehr Stockwerken waren viermal höher mit Raubüberfällen belastet als die Gebäude, die sechs und weniger Stockwerke hatten. 31 % aller Raubüberfälle in Gebäuden ereignen sich im Aufzug, und zwar deshalb, weil der Fahrstuhl keine Überwachung und keinen Einblick von außen gewährt (Oscar Newman 1973 a, S. 33). Deshalb ist man in den Vereinigten Staaten dazu übergegangen, Aufzüge mit Fernsehkameras auszustatten, die ständig vom Portier oder
Schaubild 3: Tatorte von Verbrechen in Gebäuden unterschiedlicher Höhe Sechs- und siebenstöckige Ge- Gebäude mit mehr als 13 StockwerDreistöckige Gebäude ken bäude Kriminalität in öffentlichen In- Kriminalität in öffentlichen In- Kriminalität in öffentlichen Innenräumen 54,8 % nenräumen 40,2 % nenräumen 17,2 % Eingangsflure 7,2% Wohnungen
40,4*
Fahrstühle 1 , 3 % Treppenhäuser Dächer 1,3%
Eingangsflure Wohnungen 35,3%
11,1% Wohnungen 21,3%
Gemeinschaftsr.
2,8%
zum 6ebäude gehörende AuDenflächen 42,;%
z u m 6ebäude gehörende Außenflächen 24,5% Gemeinschaftsräume 3 , 2 % -
Flure10,8%
Ein^angsflure Iure B , 9 % lächer 3 , 9 % Trei^enhäuser
Quelle: Oscar Newman: Defensible space. London 1973. S. 33.
z u m Gebäude gehörende Außenflächen 2 3 . 8 %
Treppenhäuser 5,9% Öächer 4 % Eemeinschafts räume 3,4%
189
Städteplanung und Baugestaltung Schaubild 4: Sackgasse
Sackgasse mit Wendekreis
L-Typ
Straßenpläne Biegungstyp
Τ-Typ
Durchgangsstrafte
Μ mmmmm
11
am wenigsten zugänglich
ϊ β ΐ
am meisten zugänglich
Quelle: Julia Nutter, Douglas W.Frisbie, Carol Bevis: Street lyout and residential burglary. Washington D.C.1977.
von den Bewohnern über einen freien Fernsehkanal ihrer Fernsehapparate beobachtet werden. Der Aufzug ist dann kein geheimer Platz mehr. Die Anlagen um die Wohnhochhäuser herum, die die Bewohner ständig benutzen müssen, um aus der „Sicherheit" ihrer Wohnungen in die öffentlichen Räume von Straßen und Plätzen zu gelangen und wieder zurückzukehren, sind dann besonders gefährlich, wenn sie von der beständigen beiläufigen natürlichen Beobachtung und Überwachung abgeschirmt sind und wenn keine Polizeistreife sie betritt. Die Hochhäuser der öffentlichen Wohnbauprojekte in New York City sind in ihrer Anordnung auf den Grundstücken so geplant und ausgeführt worden, als ob jedes Gebäude eine in sich abgeschlossene, abgetrennte und formale Einheit wäre. Der auf die Bewohner bezogene Gebrauch der Grünanlagen um die Gebäude herum und der Zusammenhang der Gebäude mit den Grünanlagen, die sie miteinander teilen, sind von den Architekten und Städteplanern vernachlässigt worden. Die Bewohner benutzen die Räume um die Gebäude herum deshalb nur so selten wie möglich. Wegen des mangelnden Gebrauchs werden die Grünanlagen, insbesondere während der Dunkelheit, so unsicher, daß sich fast niemand mehr aus den Wohnhochhäusern am Abend herauswagt. Es ist fast so, als ob die Architekten die Rolle von Bildhauern
gespielt hätten, die die Grünanlagen um die Wohnkomplexe als nichts anderes als eine Fläche betrachtet hätten, die den Blick auf ihre „Kunstwerke", die Hochhäuser, ermöglichte. Der Einfluß der baulichen Umwelt auf das menschliche Verhalten ist am Beispiel des PruittIgoe Wohnungsentwicklungsprojekts in St. Louis verdeutlicht worden (William Yancey 1971). Dieses Neubauprojekt war auf Grund seiner baulichen Gestaltung so hoch mit Körperverletzungsdelikten, Vergewaltigungen, Raub, Einbruch und Vandalism s belastet, daß es wieder abgerissen werden mußte. Die Bewohner konnten sich keine halböffentlichen und halbprivaten Räume zuschreiben, so daß kein informelles Netz sozialer Kontrolle entstehen konnte. Die Treppenhäuser waren so baulich gestaltet, daß sie für die Bewohner der Gebäude unkontrollierbar wurden. Die Atomisierung der sozialen Interaktion, die Isolation der Fahrstühle, der Treppen und Flure und der Mangel an formellen oder informellen Zugangskontrollen (z.B. Eingangspförtner, Gegensprechanlage) trugen zum völligen Zusammenbruch der informellen Kontrolle bei. Die Bewohner einer Reihe von Straßen in St. Louis beschlossen, selbst ein Programm zu entwickeln, das ihre Gemeinschaft stabilisieren und Kriminalität abschrecken sollte. Sie übernahmen gegen eine Steuer-
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Städteplanung und Baugestaltung
Schaubild 5: Häufigkeit für Experimental- und
von Wohnungseinbrüchen Kontrollwohnblocks
geeignetsten, sondern sie zerstören auch Gemeinschaften und erschweren die informelle soziale Kontrolle. E. Kriminalitätsabwehrende Städteplanung und Baugestaltung
Sackgasse am wenigsten zugänglich
Sackgasse m.Wendekreis
Biegungstyp
Quelle: Julia Nutter, Douglas W . Frisbie, Carol Bevis: Street layout and residential burglary. Washington D. C. 1977.
ermäßigung von Seiten der Stadt die Verantwortung für ihre Straßen, für deren Reinigung und Beleuchtung. Die Straßen wurden an einem Ende geschlossen und für den Durchgangsverkehr gesperrt. In diesen Straßen sank die Kriminalität erheblich. Aus Interviews mit Einbrechern (Hans Joachim Schneider 1977) weiß man, daß sie Tatorte wählen, die für ihren Zugang und ihre Flucht günstig sind. Sie vermeiden Straßen, in denen sie als Fremde leicht erkannt werden können. Die Überwachung der „Privatstraßen" von St. Louis ist intensiver, weil die Anwohner die Straßen als ihre Straßen betrachten und weil sich Gemeinschaft in diesen Straßen zu entwickeln vermag. Verdächtiges Verhalten Fremder wird früher und leichter erkannt. Zwischen Kriminalitätsfurcht und städtebaulicher Gestaltung besteht eine Beziehung. Die Zerteilung eines Wohnbezirks durch Durchgangsstraßen und andere offene und leere Räume ruft Kriminalitätsfurcht hervor. Diese Durchgangsstraßen und sonstigen leeren Räume erlauben es Fremden, ungehindert und unerkannt Nachbarschaften zu durchstreifen, um Gelegenheiten zur Verbrechensbegehung aufzusuchen. Ausfallstraßen zerteilen Wohngemeinschaften. Gewaltsame Straßenkriminalität ist an Ausfallstraßen doppelt so hoch wie in anderen Stadtteilen. In Minneapolis wurde eine empirisch-kriminologische Untersuchung durchgeführt (Julia Nutter, Douglas W. Frisbie, Carol Bevis 1977), aus der sich ergibt, daß in Gebäude und Wohnungen am meisten eingebrochen wird, die an den Straßen liegen, die am meisten zugänglich sind (Schaubild 4), also insbesondere an Durchgangsstraßen. Man untersuchte die verschiedenen Straßentypen in 65 Wohnblocks und stellte fest, daß drei Straßentypen aus den Experimentalblocks (Sackgasse, Sackgasse mit Wendekreis und L - T y p ) signifikant weniger Einbruchdiebstahl als die Durchgangsstraßen aus den Kontrollblocks hatten, die den Experimentalblocks am nächsten lagen (Schaubild 5). Durchgangsstraßen sind nicht nur für den Zugang und die Flucht der Kriminellen am
U m mehr soziale Kontrolle in den Großstädten mit einem Höchstmaß an Freiheit und fast unbegrenzten Wahlmöglichkeiten zu ermöglichen, müssen mehr Chancen für Gemeinschaftsbildung geschaffen werden. Es geht hier nicht um die „Volksgemeinschaft", um das große, übermächtige „ K o l lektiv" der Großstadt, die keine Freiräume für das Individuum mehr erlauben und die Individualität der Persönlichkeit zerstören. Vielmehr sind kleine Gemeinschaften, Familien, Nachbarschaften, Freundschaften, gemeint, die sich freiwillig zur Erreichung einer besseren informellen Sozialkontrolle zusammenfinden, in denen sich die Individualität der Person erst richtig auswirken kann und in denen Eigenschaften und Fähigkeiten von Persönlichkeiten unter voller Wahrung der Freiheit der Person und der Vielfalt der Meinungen wechselseitig nutzbar gemacht werden können. Der Gebiets- und Kontrollanspruch von kleinen Gemeinschaften in der Großstadt läßt eine erfolgreichere Verbrechensvorbeugung möglich werden. Die Rangordnung von benannten privaten, halbprivaten und halböffentlichen Gebieten ist hierbei ein Schlüsselfaktor der Planung, so daß Wohnumgebungen durch Gemeinschaften wieder kontrollierbar werden, die gemeinsame Gebiete miteinander teilen. Nicht Selbsthilfe bei der Verbrechensbekämpfung wird hier gefordert, sondern die Schaffung von Voraussetzungen, unter denen Polizei überhaupt erst wirksam zu arbeiten vermag. Baugestaltung und Städteplanung kennen Wege, um die Fähigkeiten der Bewohner zur Selbstkontrolle ihrer eigenen Umwelt zu stärken. UmSchaubild 6: Hierarchie definierter halböffentlicher und halbprivater Zugangs- und Durchgangssysteme Die Pfeile zeigen die Zugänge an.
öffentlich Quelle: Oscar Newman: Defensible space. London 1973. Seite 9.
191
Städteplanung und Baugestaltung Schaubild 7: Hierarchie halböffentlicher und halbprivater Zugangs- und Durchgangssysteme
öffentlich
Quelle: Oscar Newman: Defensible space. London 1973, S. 10. schriebene waagerechte und senkrechte Zugangsund Durchgangssysteme müssen geschaffen werden. Ein wichtiger Grundsatz der Theorie vom Raum, der gegen Kriminalität verteidigt werden kann (Defensible Space), ist die Planung, die im Wege der Unterteilung und Gliederung der Gebäude und Gebäudeteile allen Bewohnern erlaubt, zwischen Nachbarn und Eindringlingen zu unterscheiden. Ein Krimineller wird kaum ein Verbrechen in einem Gebäude begehen, von dem er weiß, daß er dort leicht erkannt werden kann. Die Bewohner müssen ihre Mitbewohner deshalb kennen und ihre Gebiete bewußt Schaubild 8: Gebäudeanordnung
L — Γ -j-J
benutzen; sie müssen die halböffentlichen und halbprivaten Räume ihres Lebensumfeldes beständig beiläufig überblicken können. Gebäudeeingänge, die von wenigen Familien benutzt werden, müssen mit Pufferzonen versehen werden. Man geht von einem Raum, der öffentlich ist, in dem die Gegenwart einer Person nicht in Frage gestellt wird, durch Hindernisse in halböffentliche und halbpriväte Räume, in denen man seine Gegenwart rechtfertigen muß (Schaubilder 6 und 7). Dort ist die Breite möglichen Verhaltens stark vermindert, während auf öffentlichen Plätzen und Straßen eine große Vielfalt von Verhaltensweisen geduldet wird. Aus halböffentlichen und halbprivaten Räumen, die von den Bewohnern schon informell kontrolliert werden, gelangt man sodann in die privaten Räume, die durch die halbprivaten und halböffentlichen Bereiche geschützt werden. Die Bewohner sind dann die besten Verteidiger ihres Gebietes gegen Kriminalität, wenn man ihnen Möglichkeiten zur Verteidigung durch Baugestaltung einräumt und wenn man sie im Sinne der Verbrechensvorbeugung anleitet. Durch einen Zaun, den man um eine Großwohnanlage herum zieht, wird aus nichtzugeschriebenem öffentlichen Gebiet zugeschriebener halbprivater Raum (Schaubild 8). Die Zäune um Einfamilienhäuser in Vorstädten haben meist Gartenpforten, die nicht verschließbar sind. Sie sind auch oft so niedrig, daß man sie leicht überspringen kann. Die Umzäunungen sind dafür gedacht, die Kinder, die Haustiere und die Bepflanzungen im Garten zu schützen und das Gebiet um das Einfamilienhaus herum als privaten Außenraum der Familie zu definieren. Ein Eindringen in dieses Gebiet wird bemerkt werden. Als Sicherheitsmaßnahme haben solche Umzäunungen symbolischen Charakter. Ihr Sicherheitswert besteht darin, daß sie eine kriminelle Absicht sichtbar ma-
mit zugeschriebenen halbprivaten Gebieten
und nichtzugeschriebenen
nichtzugeschriebenes
zugeschriebenes
ö f f e n t l i c h e s Gebiet
halbprivates
Gebäude EinΪ?,;„«„„„ Ausginge
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Halböffentliche ) Gebiete απ den Eingängen
öffentlichen
Gebiet
1 l
ι Zäune
Ü Ü Ü I Gebäude
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Quelle: U.S.Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973, S. 6.
192
Städteplanung und Baugestaltung
Schaubild 9: Symbolische Barrieren, die Zu- und Durchgangszonen definieren
Quelle: U. S. Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973. S. 10.
chen und daß sie deshalb auf Kriminelle abschrekkend wirken. Kriminalitätsabwehrende Baugestaltung benutzt reale und symbolische Barrieren, um halböffentliche und halbprivate Zu- und Durchgangszonen zu defi-
Schaubild 10: Zugangs- und Durchgangszonen zwischen öffentlicher Straße und dem Gebäudeinnem.
Quelle: U. S. Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973. S.7. nieren. Die Pufferzonen der Eingänge werden symbolisch durch Sträucher, Gebüsch, Hecken, Pfeiler, offene Torwege, kurze Treppen oder real durch Mauern, Zäune, geschlossene Tore und Türen markiert. Die Fenster des Gebäudes erlauben eine be-
Schaubild 11: Gebäude mit halbprivaten Eingängen und Kinderspielplatz (Die Pfeile markieren die Eingänge) Symbolische Barrieren, niedrige Mauern
Halbprivate Eingänge
6rofler Spielplatz
Quelle: U.S.Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D.C.1973. S.8.
Städteplanung und Baugestaltung ständige, beiläufige Ubersicht über den den Bewohnern zugeschriebenen Zugangsraum. Durch die unterschiedliche Pflasterung des Gehwegs der öffentlichen Straße und des gemeinsamen, zugeschriebenen halböffentlichen Zugangs- und Nutzungsbereichs der Gebäudebewohner wird eine symbolische Barriere gesetzt (Schaubild 9). Weitere symbolische Eingangsbarrieren sind Bepflanzungen und niedrige Mauern. Beleuchtete Eingangspfeiler markieren den Zugang vom halböffentlichen Zugangsbereich in den halbprivaten Raum des Vorgartens. Eine kurze Treppe führt aus dem Vorgarten ins Gebäudeinnere. Zugangs- und Durchgangszonen, die Pufferzonen zwischen öffentlicher Straße und dem Gebäudeinnern bilden, werden durch Mauern, Treppen und unterschiedliche Höhenlagen geschaffen (Schaubild 10). Innerhalb der Eingangsbarrieren wird der Gebietsanspruch der Gemeinschaft der Bewohner nicht nur durch beständige beiläufige visuelle Übersicht, sondern durch mannigfaltige individuelle und gemeinsame Handlungen erhoben und durchgesetzt. Kinder spielen am Eingang, Bewohner unterhalten sich miteinander. Der halbprivate Eingangspuffer der Gebäude wird beleuchtet und durch Fenster, die auf ihn blicken, ständig beiläufig beobachtet. Anliegende Straßen und Eingänge kommen unter die Überwachung von den Gebäuden aus. Hauseingänge und Flure werden durch Straßenpassanten und Fahrzeuge, deren Zugang nicht verboten, sondern nur eingeschränkt werden sollte, beobachtet und auf diese natürliche Weise überwacht. Die Gebäude stehen mit den sie umgebenden Anlagen in wechselseitiger Beziehung und bilden eine Einheit. Die Bewohner lassen die von ihren Mitbewohnern und deren Kindern benutzten Fußwege, Eingänge, Spielplätze und Parkbänke innerhalb der GrünanlaSchaubild 12: Spielplatz an der Peripherie eines Wohnprojektes
Quelle: U. S. Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973. S.9.
193
Schaubild 13: Spielplätze, die von Gebäuden umgeben sind
Quelle: U. S. Department of Housing and Urban Developrient (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973. gen nicht aus den Augen, während sie in ihrem Haushalt arbeiten oder auf dem Balk on ihre Freizeit genießen. Mütter sehen nach ihren Kindern beim Spiel außerhalb des Gebäudes, und sie überwachen damit gleichzeitig das Kommen und Gehen von Bewohnern und Fremden. Der Spielplatz für 5- bis 12jährige Kinder sollte im Innern halbprivater Räume liegen (Schaubild 11), um das Spiel der Kinder zu sichern und gleichzeitig die halbprivaten Eingänge informell zu überwachen. Spielplätze für Teenager sollten groß genug sein, Möglichkeiten für Sport, Spiel und Tanz bieten und nicht isoliert an der Peripherie eines Wohnprojekts liegen (Schaubild 12). Solche Spielplätze werden vernachlässigt, zu wenig benutzt und zu Objekten scheinbar sinnloser Zerstörung. Spielplätze sollten vielmehr an drei oder vier Seiten von Wohngebäuden umgrenzt sein (Schaubilder 13 und 14), um ihre soziale Integration in das Wohnprojekt zu ermöglichen. Bänke geben dem Spielplatz sozialen Halt und Stabilität. Erwachsene können das Spiel der Kinder und Jugendliche beobachten. Jugendliche und Erwachsene benutzen den zentral gelegenen und mit Bänken ausgestatteten Spielplatz auch an Abenden für mannigfaltige soziale Aktivitäten. Auf diese Weise dient der Spielplatz der sozialen Integration. Grünanlagen sollten klar vom Spielplatz abgegrenzt sein, um ihre Verwüstung und Zerstörung durch die Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen zu verhindern. Kinder in halböffentlichen und halbprivaten Räumen sind ideale Akteure informeller sozialer Kontrolle, weil sie die Räume durch ihre Gegenwart und durch die Überwachung ihrer Mütter und Väter beständig ausfüllen und sichern (Jane Jacobs 1961).
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Städteplanung und Baugestaltung
Schaubild 14: Spielplatz im Innern eines halbprivaten Gebietes S Τ II A S S Ε Puffer
Puffer STR
ASSE
Quelle: U. S. Department of Housing and Urban Development (Hrsg.): A design guide for improving residential security. Washington D. C. 1973. S. 10. Die Beziehung der Bewohner der Gebäude zu gebietsmäßig abgegrenzten und unterteilten Grünanlagen um die Gebäude herum wird ergänzt durch waagerecht und senkrecht aufgegliederte Übergangselemente, halbprivate Durchgangszonen innerhalb der Gebäude. Flur und Treppenhaus jedes Eingangs wird von den Familien, die sie miteinander teilen, in gemeinsame Verantwortung genommen. Auf jedem Stockwerk jedes Eingangs teilen nur zwei bis vier Familien ein gemeinsames Korridorgebiet. Die Türen zu den Wohneinheiten gruppieren sich um den gemeinsamen Flur herum. Die Bewohner des Stockwerkes verstehen den Korridor als ihr gemeinsames Gebiet. Kleinen Kindern erlaubt man, im gemeinsamen Flur zu spielen. Die Einrichtung von Spielmöglichkeiten für Kinder auf jedem Flur eines Wohngebäudes kann die Familien zusammenbringen und eine Entwicklung fördern, die zu einer begrenzten Freundschaft und zu Hilfe für den Nachbarn führt. Raumunterteilung schafft Verantwortlichkeit, Übersichtlichkeit, Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Bekannten und Fremden. Überwachung hat einen Demonstrationseffekt für eine Verringerung irrationaler Furcht und Ängste der Bewohner. Sie erzeugt sich selbst erfüllende Einstellungen bei ihnen. Das Gefühl, daB das Gebiet gemeinsam beobachtet, intensiv benutzt und deshalb sicher ist, ruft einen häufigeren Gebrauch des Gebietes und dadurch wiederum seine verstärkte Sicherheit hervor.
Es ist allgemeine Praxis von Kriminellen, ihre Opfer in öfter benutzten halbprivaten Räumen der Gebäude anzureden, auf den Fluren und im Fahrstuhl zum Beispiel, um sie dann unter Bedrohung oder mit Gewalt in weniger benutzte Treppenhäuser zu bringen. Sie sind das Gebäudegebiet, in dem sich die meisten Vergewaltigungen und andere Gewalttaten ereignen. Es ist deshalb erforderlich, die Treppenhäuser gut beleuchtet und von der Außenseite der Gebäude her leicht überschaubar zu halten. Die Einsehbarkeit des Korridors durch eine Fensterwand erleichtert eine wirksame Überwachung von außen. Obgleich es eine Tatsache ist, daß die Wohnungen mit vielen großen Fenstern den Zugang für Kriminelle erleichtern, wird in diese Wohnungen doch am wenigsten eingebrochen. Am meisten werden Einbrüche in Wohnungen verübt, die von außen schlecht überschaubar sind. Wohnprojekte mit Gebäuden, die an Straßen (nicht an Durchgangsstraßen) liegen und mit Fluren, die durch Fußgänger von der Straßenseite her gut einsehbar sind, haben entscheidend weniger Kriminalität als Gebäude, die schlechtere Überwachungsmöglichkeiten von außen haben. Großstadtparks sollten so angelegt werden, daß sie eine natürliche Einsicht von den benachbarten Straßen und durch die Anwohner ermöglichen. Wegen der Größe der Parks in Großstädten ist oft die Benutzung ihres schwer überschaubaren inneren Kerns gefährlich (Schaubild 15). Dadurch, daß die öffentlichen, halböffentlichen und halbprivaten Räume durch Architekten und Städteplaner zum Zwecke der Verbrechensvorbeugung einsehbar und überschaubar gemacht werden, geht nichts an Intimsphäre verloren, die auf Privaträume beschränkt bleiben sollte. Durch die Schaffung halböffentlicher und halbprivater Räume und den Einsatz elektronischer Überwachungsanlagen sollten Bahnhöfe, Flugplätze und Untergrundbahnen sicherer gegen Kriminalität gemacht werden. Flugzeuge müssen gegen Entführungen, Flugplätze gegen Sabotageakte und Frachtstücke gegen Diebstähle gesichert werden.
F. VerbrechensvorbeuguDg durch UmwettgestaltuDg Je größer der Prozentsatz von alten Menschen und je höher gleichzeitig der Anteil von Teenagern im selben Wohnprojekt sind, desto höher wächst die Kriminalität. Alte Menschen werden wegen ihrer Passivität und wegen ihrer körperlichen wie seelischen Schwäche sehr leicht zu Verbrechensopfern, und sie leiden unter einer größeren Zahl von Delikten als Mitglieder von Familien mittleren Alters. Sie können durchaus in Wohnhochhäusern leben, wenn diese Gebäude allein für ihre Benutzung bestimmt sind. Es sollte also keinen Familien mit Kindern erlaubt werden, im selben Gebäude zu wohnen. Denn Kinder und Jugendliche lieben die Aktivität um der Aktivität willen, und sie stören die alten Menschen,
Städteplanung und Baugestaltung die für einen Teil von ihnen zu leichten Verbrechensopfern werden. Im Gegensatz zu „idealen" Vorstellungen mancher Städteplaner, die ein buntes Bevölkerungsgemisch erstreben, ziehen es die alten Menschen, die nicht in den Familien ihrer Kinder leben, vor, abseits von Kinderlärm und von körperlicher Aktivität junger Menschen unter sich zu bleiben. Weil sie nicht mehr berufstätig sind und deshalb viel freie Zeit haben, treffen sie sich verhältnismäßig oft. Die soziale Integration und Kontrolle in Gebäuden, die alten Menschen zur Wohnung vorbehalten bleiben, sind zufriedenstellend. Ältere Menschen (über 60 Jahre alt) sind am geringsten mit Kriminalität belastet (Landeskriminalamt 1978, S. 38). Was man bis zum Alter von 60 Jahren an Lebenserfolg nicht erreicht hat, versucht man im Alter über 60 Jahren kaum noch mit kriminellen Mitteln zu erlangen. Familien mit Kindern benutzen ihre Umwelt als „Operationsbasis". Weil sie ihre Umwelt mit Aktivität durchdringen, bilden sie ihre eigenen Sicherheitskräfte. Ähnlich, wenn auch ein wenig anders, ist es bei den älteren Menschen. Sie verbringen
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ein Gutteil ihrer Zeit außerhalb ihrer Wohnungen in halböffentlichen und halbprivaten Bereichen. Sie sitzen z.B. am Gebäudeeingang oder in Fluren und sprechen miteinander. Sie überwachen beständig und beiläufig die Korridore, Treppenhäuser und Fahrstühle. Sie sind ihre eigene „Sicherheitsstreitmacht". Sie sitzen auf Bänken in den Grünanlagen. Sie gehen früh zu Bett, und das Gebäude kann um 23 Uhr geschlossen werden. Ganz anders ist es bei alleinstehenden Ehepaaren oder bei Junggesellen. Sie benutzen ihre Wohnung wie ein Hotelzimmer. Sie sind während des Tages berufstätig, und sie verbringen ihre Nächte oder große Teile ihrer Nächte außerhalb ihrer Wohnung, um ihren Vergnügungen nachzugehen. Sie verursachen viel Unruhe und stellen ein Sicherheitsrisiko dar. Ein vernünftiger Weg, die Wohndichte in Großstädten zu erhöhen, besteht darin, ein paar Wohnhochhäuser für alte Menschen mit dreistöckigen Mehrfamilienhäusern für Familien mit Kindern zu kombinieren. Familien mit hohem Einkommen, die sich Portiers und Hausmeister leisten, mannigfaltige elektronische Sicherheits- und
Schaubild 15: Douglas Park, Chikago, USA
QueHe: Oscar Newman: Architectural design for crime prevention. Washington D.C. 1973, S.85.
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Städteplanung und Baugestaltung
Überwachungsanlagen installieren lassen und so ihre Verantwortlichkeit für die Kontrolle halböffentlicher und halbprivater Räume abwälzen können, sind in der Lage, in Gebäuden mit fast jeder Wohndichte zu leben. Eine kritische Grenze liegt - selbst im Falle guter Überwachung durch Portiers, Wachmänner und Sicherheitsanlagen - bei einem Gebäude mit einer Wohndichte von zweihundert Familien. Das Einstreuen einer Bevölkerung mit niedrigem Einkommen in Mittelschichtsgemeinschaften bringt einige Schwierigkeiten für die Mittelschichtsbewohner mit sich. Es löst indessen im Vergleich dazu sehr viel mehr Sicherheitsprobleme von Familien mit Kindern und niedrigem Einkommen, die allerdings möglichst nicht in Wohnhochhäusern mit zahlreichen Stockwerken wohnen sollten. Supermärkte können durch ihre bauliche Gestaltung und ihre innenarchitektonische Einrichtung beim Verkaufspersonal einen Sinn für Verantwortlichkeit zur Verhütung des Ladendiebstahls erzeugen. Durch Fernsehkameras und andere elektronische Sicherheits- und Überwachungsanlagen (z.B. Gegensprechanlage) können Wohnkomplexe, aber auch Gebäudeteile sicherer gemacht werden (Oscar Newman 1973 b, S. 140ff.). Durch eine gute Be- und Ausleuchtung kriminell gefährdeter Räume kann viel zur Verbrechensverhütung beigetragen werden. Städteplaner und Architekten müssen in Zukunft größere Sorgfalt auf die Umweltgestaltung zum Zwecke der Verbrechens Vorbeugung legen. Sicherheitsrichtlinien sind zu entwickeln. Neben den Bauauflagen zum Feuerschutz sind Bauauflagen zum Schutz vor Verbrechen denk- und wünschbar. Dem Konzept der Stadtplanung zum Zwecke der Vorbeugung gegen Verbrechen wird vorgeworfen, es treibe die Kriminalität nur aus einem Gebiet in das andere. Hierauf ist zu entgegnen: Sehr viel Kriminalität hängt vom Vorhandensein von Gelegenheiten ab und ist vorher nicht geplant. Diese Kriminalität verschwindet, wenn man die Gelegenheiten beseitigt oder entscheidend verringert. Selbst wenn aber Kriminalität aus bestimmten Stadtteilen in andere verlagert werden sollte, so ist diese Grundvorstellung immerhin noch nicht unbrauchbar. Denn eine über alle Stadtgebiete gleichermaßen verteilte Kriminalität ist nicht wünschenswert. Die Wohnviertel der Großstädte müssen vor allem gegen Kriminalität sicher gemacht werden. Wenn sogar die Wohnung und ihre Umgebung nicht mehr als sicher gelten, dann ist die gesamte Gesellschaftsstruktur bedroht. Die Großstädter akzeptieren, daß bestimmte Stadtviertel, ζ. B. Vergnügungsviertel, als unsicher gelten. Sie versuchen, ihre Risiken niedrig zu halten, indem sie diese Stadtteile meiden oder wenig besuchen. Man kann auch einen besonderen Polizeischutz auf diese Stadtviertel konzentrieren. Die Bewohner der Großstädte empfinden es aufgrund von Umfragen aber als untragbar, wenn ihre eigenen Wohnbezirke mit Kriminalität hoch belastet sind. Wir alle flüchten uns aus der Härte des tagtäglichen Lebenskampfes in
unsere Familien und Wohnungen. Dort wollen wir unsere Freizeit sicher und unbehelligt genießen. Zukünftige Generationen werden dort aufgezogen. Die für Kriminalität empfindlichsten Mitglieder der Gesellschaft, Kinder, gebrechliche, kranke und alte Menschen, leben dort. Aus diesen Gründen müssen die Wohnbezirke der Großstädte sicher gemacht werden, selbst wenn man den Preis zahlen muß, daß Industrie- und Handelszentren der Großstädte unsicherer werden sollten. Denn sie sind leichter durch die Polizei und durch elektronische Sicherheits- und Überwachungsanlagen zu schützen als die Wohnviertel, in denen sich keine „Festungsmentalität" entwickeln darf.
M o n o g r a p h i e n und
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SCHNEIDER
Unterschlagung Α. Einleitung Die Unterschlagung, die mit 6.442 Verurteilungen nach § 246 StGB im Jahre 1973 gegenüber anderen Vermögensdelikten und insb. dem Diebstahl erheblich zurücktritt, hat mit jetzt nur noch 1 % aller Verurteilungen dennoch eine gewisse praktische Bedeutung; diese ist, was wirtschaftskriminelle Praktiken anlangt, sogar noch größer als die der Diebstähle.
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Unterschlagung 1. Die gesetzliche Regelung
Die Unterschlagung wird strafrechtlich zusammen mit dem Diebstahl im 19. Abschnitt des StGB geregelt. Neben dem Grundtatbestand enthält § 246 StGB den qualifizierten Straftatbestand der Veruntreuung dem Täter „anvertrauter" Sachen. Überdies enthält das Gesetz vor allem strafprozessual für den Strafantrag bedeutsame Sonderregelungen in § 248 a StGB für die Unterschlagung geringwertiger Sachen und in § 247 StGB für von Angehörigen, Vormündern und Hausgenossen begangene Unterschlagungen; im erstgenannten Falle entfällt das Antragserfordernis jedoch, wenn die Strafverfolgungsbehörde ein Einschreiten wegen besonderen öffentlichen Interesses für geboten hält. Der Unrechtsgehalt der Unterschlagungstatbestände entspricht dem des Diebstahls insoweit, als wir es hier sowohl mit einem Eigentumsdelikt als auch mit einem Aneignungsdelikt zu tun haben; denn es macht nichts aus, daß die letztere Komponente beim Diebstahl nur in Form einer Erfolgsabsicht erkennbar wird. Die Unterschlagung unterscheidet sich vom Diebstahl jedoch dadurch, daß die hier vorausgesetzte, tatsächlich erfolgte Aneignung nicht durch eine Wegnahme, d. h. unter Gewahrsamsbruch, erfolgen darf. Juristisch ist allerdings umstritten, inwieweit dem deshalb bei einer Unterschlagung vorauszusetzenden Alleingewahrsam des Täters an der Beute konstitutive oder - wie wir meinen - nur eine abgrenzende Bedeutung zukommt. Der für die erstgenannte Ansicht wesentliche besondere Vertrauensbruch ist u. E. aber erst nur für den Fall der Veruntreuung ausschlaggebend. Während die fremde bewegliche Sache als Tatobjekt völlig der des Diebstahls entspricht, ist bei der Unterschlagung vorauszusetzen, daß diese Sache sich im Alleingewahrsam des Täters befindet. Teilweise, ζ. B. vom oben zuletzt genannten abweichenden Standpunkt aus, verlangt man, daß dieser Gewahrsam bereits vor Beginn der Tatausführung gegeben sein muß, und spricht deshalb pointiert von einer „berichtigenden Auslegung des § 246 StGB"; demgegenüber meinen wir, daß Gewahrsamserlangung und Tathandlung zeitlich zusammenfallen können; die Streitfrage ist übrigens nur für Fälle der sog. Fundunterschlagung und dort lediglich insoweit relevant, als nicht - wie üblich - weitere Zueignungshandlungen folgen. Tathandlung ist die Zueignung einer fremden beweglichen Sache ohne Bruch fremden (Mit-)Gewahrsams. Obgleich man hier vom Enteignungs- den Aneignungseffekt unterscheiden könnte, kommt es für die vollendete Zueignung letztlich darauf an, daß sich der Täter als Nichteigentümer eine eigentümerähnliche Position anmaßt, er sich mithin so verhält, wie es nur ein Eigentümer tun darf. Dies aber ist stets zu bejahen, wenn dem wirklichen Eigentümer seine Sache dadurch erkennbar auf Dauer entzogen wird bzw. werden soll, daß der Täter sie veräußert, verbraucht,
zerstört, wegwirft oder derlei zu tun bzw. die Sache selbst zu behalten gedenkt. Ist die Tat jedoch nicht auf Dauer angelegt, was auf eine nur vorübergehende Enteignung hinauslaufen könnte, so ist darauf abzustellen, ob nicht dennoch tatsächlich für das Opfer der Effekt einer Enteignung eintritt. Bloßer Rückgabewille des Täters schließt daher eine Aneignung nicht aus, weil diese außer durch Abnutzung (teilweise Enteignung) schon durch das Verstreichen einer gewissen Zeitspanne eintreten kann, wobei der Zeitfaktor im Hinblick auf den Gebrauchswert der Sache für den Eigentümer differenzierend zu bewerten ist. Da sich die Fremdheit der Sache ebenso wie die Befugnisse des Täters bei der Unterschlagung primär nach Kriterien des Zivilrechts richten, erheben sich auch bei der Rechtswidrigkeit kaum jemals Zweifel; man kann ζ. B. bei einem Vorbehaltsverkauf nur ausnahmsweise mit einer Einwilligung des Verletzten operieren, wenn dieser darum weiß, daß der Käufer die fragliche Sache alsbald zu verschenken gedenkt. Eher führt die zuweilen schwer überschaubare Rechtslage bei der subjektiven Verantwortlichkeit zu Problemen, weil beispielsweise der Vorbehaltskäufer oder Sicherungsgeber sich als Laie nach entsprechenden Leistungen wirtschaftlich bereits für zu solchen Handlungen befugt halten mag. Während bei den Antragsregelungen eher als der Personenkreis des § 247 StGB die Geringwertigkeit der Sache in § 248 a StGB, die man gewöhnlich recht zurückhaltend beurteilt, Zweifel bereiten dürfte, ergeben sich bei der Veruntreuung (§ 246 StGB) Schwierigkeiten durch das in der Praxis oft weitherzig ausgelegte Merkmal des Anvertrautseins. Wir meinen jedoch, daß nicht jegliche Ubergabe der Sache in irgendeinem Verhältnis, sondern nur eine solche, die ein besonderes Vertrauen in den Empfänger zum Ausdruck bringt, dafür ausreicht; kann man das beispielsweise bei einer Sicherungsübereignung wohl durchweg bejahen, so dürfte das bei einem Vorbehaltsverkauf in der Regel zu verneinen sein, weil sich gerade der mißtrauische, jedoch auf sein Geschäft bedachte Verkäufer auf diese Weise vor allem zu sichern sucht. Die mitunter nicht leicht vom Betrug (§ 263 StGB) und von der Untreue (§ 266 StGB) abzugrenzende Unterschlagung fungiert im übrigen gegenüber Diebstahl und anderen Vermögensdelikten häufig als eine nach den Grundsätzen der Gesetzeskonkurrenz nicht mehr selbständig strafbare Nachtat (Konsumtion).
2. Die historische
Entwicklung
Die Unterschlagung ist ein alter Deliktstyp, dessen Wurzeln sich allerdings im Dunkel der Geschichte verlieren. Noch im Mittelalter waren in Deutschland die sozialen Verhältnisse so, daß sich
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Unterschlagung nur begrenzt Möglichkeiten zu einer Aneignung fremder Sachen ohne Gewahrsamsbruch ergaben. Immerhin finden sich zu dieser Zeit in Volksrechten, Rechtsbüchern und vor allem Stadtrechten Fälle, die man als solche der Unterschlagung werten kann; und jedenfalls seit dem 14. Jahrhundert sind Termini wie „underslän" zu belegen. Alle diese Fälle haben jedoch gewöhnlich speziellen Zuschnitt, betreffen ζ. B. den Gemeindehirten, der sich ihm anvertrautes Vieh aneignet, oder Schiffer und Fuhrleute, die sich an ihnen anvertrauten Transportgütern bereichern. Ferner ist von ungetreuen Dienstboten oder vom Behalten geliehener Sachen die Rede. Neben der Eigentumsverletzung spielt mithin trotz regional und zeitlich divergierender Beurteilung der Bruch einer besonderen Treu- und Obhutspflicht eine Rolle; die Grenze zum Diebstahl ist oft fließend. Während manchenorts auch die Rechtsfolgen selbständig geregelt werden, bezieht man sich anderweitig insoweit auf den Diebstahl; das tat man besonders häufig in Fällen, die man später als Amtsunterschlagung gewertet hätte. In den Quellen finden sich im Zusammenhang mit dem Behalten von zugelaufenen oder zugeflogenen Tieren oder von Strandgut auch Fälle, die man heute der Fundunterschlagung zuordnen würde. Mit der gegen Ende des Mittelalters beginnenden Rezeption des römischen Rechts aus den Händen der damaligen italienischen Juristen erreichte die Rechtsentwicklung eine neue Stufe. Während man im alten Rom die Unterschlagungsfälle dem Diebstahl (furtum ipsius rei) als „delictum privatum" zugeordnet hatte, soweit es sich nicht um Götter- oder Staatseigentum handelte, unterschied man später bei Privatgut von der einfachen Sachaneignung zu eigenem Vorteil oder fremdem Schaden einige entweder durch die Person des Opfers oder durch die Art des Objekts gekennzeichnete Fälle. Dies alles gilt im Grunde ebenso für das mittelalterliche italienische Recht, welches übrigens neben der Unterschlagung anvertrauten Gutes häufiger Fälle der Fundunterschlagung erwähnte. Außer auf den „dolus malus" wurde besonderer Wert auf den „animus lucri faciendi" gelegt. Die deutschen Rezeptionsrechte des 16. Jahrhunderts muß man sowohl auf dem Hintergrund gewandelter wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse als auch im Zusammenhang mit den sich ändernden politischen Gegebenheiten, insb. der Erstarkung der Territorialherren, sehen. Trotz der in Gesetzgebung, Doktrin und Gerichtspraxis zu verzeichnenden Unterschiede behaupteten sich die alten deutschrechtlichen Vorstellungen doch relativ gut gegenüber dem für Unterschlagungen vagen furtum-Begriff. So grenzte beispielsweise die Constitutio Criminalis Carolina, obwohl sie in ihrem Art. 170 die Diebstahlsstrafe eintreten ließ, diesen Deliktstyp doch recht klar vom Diebstahl ab, indem sie den Vertrauensbruch zu seinem Charakteristikum machte. In diesen Bahnen verlief dann auch die weitere Entwicklung in der Legislative, wenngleich man manche Unter-
schlagungsfälle zuweilen dem Falsch (falsum) zuordnete. Während die Doktrin dem römischen Recht folgend die Unterschlagung mehr im Zusammenhang mit dem Diebstahl sah, unterschieden die Gerichte der deutschrechtlichen Tradition gemäß deutlicher zwischen „diebischem Nehmen" und „diebischem Behalten". Insgesamt aber wurden die Grenzen von Unterschlagung und Diebstahl in dieser Zeit etwas unsicherer. Erst in der späten Epoche des gemeinen Rechts wurde die Unterschlagung wieder klarer vom Diebstahl geschieden und mehr und mehr verselbständigt. Dies dürfte nicht zuletzt mit der Bauernbefreiung und der sich ankündigenden Industrialisierung zusammenhängen, welche die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse völlig veränderte. Bei zunehmender Industrialisierung wurden die Unterschiede von Arm und Reich immer größer, was sich gerade auf die Vermögensdelikte ungünstig auswirken mußte. Obwohl sich noch im 18. Jahrhundert manche Regelungen am Diebstahl orientierten, gewann doch in den Partikulargesetzbüchern des 19. Jahrhunderts die differenzierende Ansicht eindeutig die Oberhand. Allerdings zeigten sich auch dabei divergierende Standpunkte. Während manche Gesetzgeber sich auf das Zueignen anvertrauten Gutes zu beschränken scheinen, werteten andere jegliche Aneignung von fremden Sachen, die sich im Gewahrsam des Täters befinden, als Unterschlagung. Trotz gewisser Unklarheiten, die gerade durch Vorschriften für die Fundunterschlagung sichtbar werden, spricht für den weitergehenden Standpunkt vor allem die Tatsache, daß man schließlich die Veruntreuung anvertrauten Gutes in § 246 StGB als einen erschwerten Fall der Unterschlagung gewertet hat.
B. Kriminologie Die Kriminologie der Unterschlagung ist vergleichsweise selten eingehender untersucht worden, obwohl dieses kriminelle Verhalten mannigfache und interessante, dabei praktisch nicht unbedeutende Probleme mit sich bringt.
1. Entwicklung und praktische
Bedeutung
Die Entwicklung seit 1882 zeigt folgendes von dem des Diebstahls bemerkenswert abweichendes Bild. Mit einer zunehmenden Zahl von Verurteilungen steigt die Kriminalitätsziffer von 46 (pro 100.000 Strafmündige) im Jahre 1882 bis zum 1. Weltkrieg recht beständig und erreicht 1913 die Ziffer 64. Von 76 im Inflationsjahr 1923 sinkt die Kriminalitätsziffer etwas, um sodann wieder stetig auf 80 Verurteilungen je 100.000 Strafmündige im Jahre 1930 zu steigen. Etwas anders ist die Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg verlaufen. Zwar steigt die Kriminalitätsziffer von 31,6 im Jahre 1950 be-
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Unterschlagung
reits 1952 auf 52,2, um dann jedoch - anders als die der Diebstähle - stetig abzunehmen. Bereits 1963 hatte sie sich mit 23,6 in etwa halbiert; im Jahre 1973 ist sie auf 13,2 gesunken. Diese Tendenz wird durch die Polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt, deren Häufigkeitsziffer für die Unterschlagung von 144 im Jahre 1953 bereits 1963 auf 81 gesunken war; 1975 machten die hier registrierten 33.169 Fälle von Unterschlagung nur noch 1,1 % der bekannt gewordenen Straftaten aus. Allerdings muß man bei diesen statistischen Angaben bedenken, daß die Zahlen durch verschiedene Unsicherheitsfaktoren verzerrt werden. Mehr als die statistische Technik, die ζ. B. ein Strafverfahren nur nach dem schwersten Delikt zu erfassen pflegt, stören hier andere Dinge. So liegt schon die Freispruchs- und Einstellungsquote der wegen Unterschlagung Angeklagten etwas über dem Durchschnitt. Selbst wenn in einem Prozeß oft mehrere Straftaten zusammengefaßt werden, läßt ein Vergleich der Zahlen ermittelter und abgeurteilter Täter vermuten, daß nur 30—40 % der von der Kriminalpolizei als überführt erachteten Täter auch strafgerichtlich wegen Unterschlagung belangt werden. Günstiger als im Durchschnitt sieht es lediglich bei der Aufklärungsquote der Unterschlagung aus; denn in den Jahren nach 1953 werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik durchweg nahezu 90 % der bekannt gewordenen Fälle als aufgeklärt gewertet. Die das Verhältnis statistisch erfaßter und wirklicher Kriminalität einschätzende Dunkelziffer dürfte jedoch bei der Unterschlagung verhältnismäßig hoch sein. Denn selbst in Fällen, in denen der Betroffene die Tat entdeckt, wird er wegen der befürchteten Mühe und des oft persönlichen Verhältnisses zum Täter häufiger keine Strafanzeige erstatten. Dies gilt selbst für Unterschlagungen im wirtschaftlichen Bereich; denn man meint nicht nur, auf diese Weise den Schaden u. U. leichter ersetzt zu bekommen, sondern man vermeidet zugleich, durch eine Anzeige das eigene Renommee zu ramponieren. Selbst wenn man von der vergleichsweise hohen Zahl der bekannt gewordenen Taten ausgeht, dürften Schätzungen auf Werte von 1 : 6 nicht unrealistisch sein. Mit diesen Vorbehalten erscheint dennoch ein Vergleich der Entwicklung bei Unterschlagung, einfachem Diebstahl und Gesamtkriminalität als aufschlußreich. So zeigen beispielsweise die Gesamtkriminalität und der für sie wichtige einfache Diebstahl in den Notjahren nach den Weltkriegen eine ungleich stärker steigende Tendenz als die Unterschlagung, die dagegen bei Normalisierung der Verhältnisse eher zuzunehmen pflegt. Die Unterschlagung scheint mithin für wirtschaftliche Krisenzeiten weniger anfällig zu sein, zumal da dann die Sorge des Bürgers um seine Sachwerte größer sein dürfte; sie erscheint als ein für normale Zeiten typisches Vermögensdelikt, was die teilweise bestehenden Zusammenhänge mit der Wirtschaftskriminalität unterstreicht. Mit zunehmendem Güterverkehr und Wettbewerb läßt dann die Vorsicht nach, wenn man
seine Güter durch fremde Hände gehen läßt. Daß die kriminelle Belastung mit Unterschlagungen in den letzten 20 Jahren trotz überwiegend wirtschaftlich stabiler Verhältnisse abgenommen hat, hängt u. a. wohl mit ihrem Charakter als Erwachsenendelikt zusammen; denn insoweit wird die wahre Entwicklung der Gesamtkriminalität durch eine starke Zunahme der Jugendkriminalität verdeckt und verzerrt.
2. Erscheinungsformen
(Kriminalphänomenologie)
Verglichen mit dem Diebstahl sind die Erscheinungsformen der Unterschlagung weniger zahlreich und ungleich homogener, wenngleich deren praktische Bedeutung regional und zeitlich schwanken kann. Der Tatort der Unterschlagung ist, was die Siedlungsformen anlangt, durch Überbelastung der Großstädte gekennzeichnet, was u. a. mit ihrem Charakter als Wirtschaftsdelikt i. w. S. zusammenhängen mag. Die Tatzeit ist naturgemäß nicht signifikant. Tatobjekte sind in normalen Zeiten in etwa der Hälfte Geld oder Geldwerte. Neben Verbrauchsgegenständen, die aber vor allem in Notzeiten unterschlagen werden, handelt es sich im übrigen durchweg um Gebrauchsgegenstände wie Kraftwagen, Kleidungsstücke, Koffer, Taschen sowie Fernseh- und Rundfunkgeräte, Fotoapparate, Uhren, Schreibmaschinen und Möbelstücke. Obwohl es spektakuläre Fälle mit großem Schaden gibt, hält dieser sich doch überwiegend in Grenzen; in einer Frankfurter Untersuchung wurden in 28,6 % der Fälle Schäden unter 100 DM, in weiteren 23,6 % Schäden zwischen 100 und 200 DM festgestellt, während Schäden über 1.000 DM nur 20,6 % des Materials ausmachten. Ganz überwiegend werden Unterschlagungen im Rahmen eines zwischen Täter und Opfer bestehenden Verhältnisses rechtlicher oder tatsächlicher Art begangen. Die in der Strafrechtsdogmatik vieldiskutierte Fundunterschlagung, bei welcher das anders ist, pflegt in der Praxis kaum jemals über Anteile von 5 - 7 % hinauszukommen, spielt also eine ziemlich unbedeutende Rolle. Deshalb erscheint es kriminalphänomenologisch angezeigt, sich bei den Erscheinungsformen der Unterschlagung an eben diesem Täter-Opfer-Verhältnis zu orientieren, weil es für die jeweiligen Konfliktssituationen typisch ist. a) Unterschlagung von Vorbehalts- und Sicherungseigentum ist relativ häufig; sie kam schon in den 30er Jahren auf rund ein Viertel aller Fälle, wobei natürlich das Vorbehaltseigentum bei weitem überwog. Die Dinge haben sich seither nicht erheblich gewandelt, weshalb der Anteil dieser Fälle im „Zeitalter der Ratenzahlung" eher noch etwas größer geworden sein dürfte, wenngleich auch bei anderen Formen ein Zuwachs zu verzeichnen ist. Bei etwa vier Fünftel der Unterschlagungen von Vorbehaltseigentum handelt es sich um Menschen, die eine Sache auf Raten gekauft, dabei aber ihre Verhältnisse
Unterschlagung falsch eingeschätzt haben, weshalb es dann zu Unterschlagungspraktiken kommt. Größere kriminelle Intensität weist das restliche Fünftel auf, bei welchem schneller Verkauf oder Verbrauch vermuten läßt, daß der Ratenkauf von vornherein nur eine Masche des Täters war. Die Unterschlagung von Sicherungseigentum, die heute zu der von Vorbehaltseigentum im Verhältnis von 1 : 4 zu stehen pflegt, hat infolge neuer Finanzierungstechniken an Bedeutung gewonnen. Aber gerade deshalb sollte man auch hier den Anteil von Praktiken wirklich krimineller Intensität nicht überschätzen. Immerhin hat diese Erscheinungsform ersichtlich ζ. T. wirtschaftskriminellen Charakter, wenn nämlich die Unterschlagung von Wirtschaftssubjekten und in Formen des Wirtschaftslebens begangen wird. b) Eine andere praktisch nicht unbedeutende Erscheinungsform stellen von Provisionsvertretern und Auslieferern begangene Unterschlagungen dar. Hierzu zählen also alle Täter, die entweder in eigenem oder fremdem Namen für eine Firma tätig sind wie Kommissions-, Reise-, Platz- und Versicherungsvertreter, u. U. sogar Hausierer sowie jedenfalls die als Auslieferer tätigen Fahrer bzw. Beifahrer von Lieferwagen. Auf sie entfallen 10-15 % aller Unterschlagungen. Die Taten dieser von einem anderen Menschen mehr oder weniger abhängigen Vertreter schädigen die betreffende Firma, weil sie entweder den Kaufpreis oder die Anzahlung kassieren und diese eingenommenen Gelder nicht sogleich abliefern oder Muster bzw. ganze Musterkollektionen auf eigene Rechnung verkaufen. Doch sollte man gerade bei dieser Erscheinungsform nicht außer Acht lassen, daB für diese Taten mitunter ein gespanntes Verhältnis des Täters zum Opfer ausschlaggebend sein kann. Denn die nicht selten sozial angeschlagenen Vertreter werden von unseriösen Unternehmen zuweilen durch Knebelungsverträge und dergl. ausgebeutet und so in eine Zwangslage gebracht. c) Unterschlagungen in Dienst- und Arbeitsverhältnissen sind eher noch häufiger; denn darunter ist ein Arbeitsverhältnis zu verstehen, in welchem der Täter von seinem Dienstherrn bzw. Arbeitgeber abhängig ist, was u. a. auch für den öffentlichen Dienst zutrifft. Man ist hier daher auf Anteile von 25 bis über 33 % aller Unterschlagungen gekommen. Wichtig ist ferner, daß die Tat im Rahmen der mit dem Verhältnis übernommenen Obliegenheiten also nicht nur gelegentlich einer solchen Tätigkeit begangen wird. Der Täterkreis reicht vom Bankkassierer über Buchhalter, sonstige Angestellte und Verkäufer bis hin zu Lehrlingen und Hausangestellten, welche Sachen oder kleinere Geldbeträge unterschlagen. Bei Arbeitsweisen von mithin unterschiedlicher krimineller Intensität spielen ähnlich wie bei Vertretern die zuweilen gespannten Beziehungen zwischen Täter und Opfer eine Rolle, was außer oberflächlich gehandhabter Kontrolle u. a. die be-
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sondere Belastung der Taxi- und Mietwagenfahrer erklären mag. Hierher gehören - wie angedeutet auch die Fälle der Amtsunterschlagung, die jedoch infolge der Entwicklung seltener geworden sind, da es wegen neuer Organisationsformen nur noch begrenzt Alleingewahrsam öffentlich Bediensteter und somit die Möglichkeit zu einer Unterschlagung gibt. Insgesamt scheinen kleinere Betriebe oder Dienststellen ungleich mehr als große durch Unterschlagung gefährdet zu sein, was wohl auf die hier bessere Kontrolle und darauf zurückzuführen ist, daß seltener Alleingewahrsam des Bediensteten anzunehmen sein dürfte. Bei diesen Unterschlagungen handelt es sich nicht nur des öfteren um Betriebskriminalität zum Nachteil des Arbeitgebers, sondern sie können, sofern sie zum Nachteil Dritter erfolgen, auch wirtschaftskriminellen Charakter haben. d) Von Unterschlagungen im Rahmen von Auftragsverhältnissen sprechen wir bei Taten, die regelmäßig mehr den Charakter von Gefälligkeit als den der Erfüllung von Pflichten im Rahmen von Rechtsverhältnissen haben, wenngleich die Abgrenzung schwierig sein kann, sofern beispielsweise einem Lehrling außerhalb seiner Lehrtätigkeit liegende Besorgungen aufgetragen werden. Zudem sind zu dieser Form ζ. B. selbständig arbeitende Handwerker zu rechnen, die ihnen vom Kunden anvertrautes Material unterschlagen. Der Anteil dieser Fälle schwankt zwischen 10 und 20 %. e) Den letztgenannten Fällen ähneln Unterschlagungen bei Verwahrung und Aufbewahrung, weil hier mehr an Gefälligkeits- als an Rechtsverhältnisse zu denken ist. Der Anteil dieser Erscheinungsform pflegt immer deutlich unter 10 % aller Unterschlagungsfälle zu liegen. Die durchweg engen persönlichen Verhältnisse veranlassen das Opfer beispielsweise bei durch Krankheit oder Reise bedingter Ortsabwesenheit wertvolle Sachen oder Sparkassenbücher dem Täter anzuvertrauen, ohne diesen zur Benutzung zu berechtigen. Manchmal zwingt eine Notlage das Opfer aber auch zu unüberlegt und leichtsinnig wirkendem Verhalten. f) Ähnlich ist die Bedeutung derjenigen Unterschlagungen, die im Rahmen von Miete und Leihe begangen werden, also in einem rein tatsächlich der Verwahrung vergleichbaren, jedoch rechtlich bindendem Verhältnis. Die meisten dieser Fälle betreffen gegenwärtig anscheinend Mietwagen, die nicht vereinbarungsgemäß an den Vermieter zurückgegeben werden. Daneben werden Bücher aus „Leihbibliotheken", Gegenstände aus möbliert vermieteten Wohnungen oder Zimmern sowie Campingausrüstungsstücke und dergl. unterschlagen. g) An einem somit für alle bisher behandelten Erscheinungsformen charakteristischen Täter-Opfer-Verhältnis fehlt es bei der sog. Fundunterschlagung. Obwohl deren praktische Bedeutung natürlich davon abhängt, wie man die oben erwähnte strittige Rechtsfrage beantwortet, ist man doch in den meisten Untersuchungen - wie gesagt - nicht über An-
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Unterschlagung
teile von 5 - 7 % aller Unterschlagungen herausgekommen. Zudem handelt es sich durchweg um Fälle von geringer krimineller Intensität, weil der Täter lediglich die gesetzlichen Pflichten eines Finders gegenüber einem anonymen Verlierer verletzt; mitunter scheut er auch die Mühe des Weges zum Fundbüro oder tröstet sich mit der Hoffnung, der Verlierer würde sich nicht mehr um seine Sache kümmern.
3. Die Ursachen
(Kriminalätiologie)
Betrachtet man die Ursachen an Hand der sog. kriminogenen Faktoren, welche von den bloß tatauslösenden Faktoren zu unterscheiden sind, so ergeben sich bemerkenswerte Unterschiede gerade vom Diebstahl und gewisse Ähnlichkeiten mit dem Betrug. Wie dort Leichtsinn und Geldgier des Opfers dem Täter das Handwerk erleichtern, sind es bei der Unterschlagung Sorglosigkeit oder Leichtgläubigkeit des Eigentümers. Doch häufiger als in der Person des Opfers sind tatauslösende Umstände in der Persönlichkeit des Täters oder in seinem Bereich zu suchen, um von der günstigen Gelegenheit als solcher noch abzusehen. a) Im Hinblick auf das Geschlecht ist die kriminelle Belastung der Frau, die gegenwärtig im Durchschnitt bei etwa 10-15 % liegt, hier mit rund 20 % überdurchschnittlich. Dies dürfte sich u. a. daraus erklären, daß Frauen nicht nur häufiger als früher einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, welche Möglichkeiten zu Unterschlagungen (Dienst- und Arbeitsverhältnisse) bietet, sondern auch daran, daß im Rahmen der Versorgung der Familie ihr Anteil an Abzahlungsgeschäften merklich größer als früher sein dürfte. b) Was das Alter anlangt, werden Unterschlagungen anders als Diebstähle nur selten von Jugendlichen oder gar Kindern begangen. Vielmehr ist die Unterschlagung ähnlich wie der Betrug überwiegend ein ausgesprochenes Erwachsenendelikt, wobei Personen zwischen 21 und 40 Jahren als besonders belastet erscheinen. Eine Unterschlagung kann anscheinend nur derjenige begehen, der mit einem gewissen Lebensalter eine Vertrauen erweckende Position bzw. einen entsprechenden Habitus erlangt hat und über einigen Überblick verfügt. c) Intelligenz und Erziehung der Unterschlagungstäter scheinen noch weniger als beim Diebstahl vom Bevölkerungsdurchschnitt abzuweichen, entsprechen also zumindest in etwa der Situation beim Betrug, den man - relativ gesprochen - sogar als ein Intelligenzdelikt ansehen kann. d) Bei der sozialen Lage sollte nach allem nicht verwundern, daß die meisten dieser Täter verheiratet sind, weil es sich durchweg um Erwachsene handelt. Aufschlußreicher dürfte die berufliche Position der Unterschlagungstäter sein, bei welchen die Berufsgruppe Handel und Verkehr deutlich überrepräsentiert ist, während der Anteil der in Industrie
und Handwerk Beschäftigten in etwa der ohnehin großen Bedeutung dieser Gruppe entspricht. Interessant wäre das Verhältnis von Selbständigen und Unselbständigen, für welches es bisher leider kaum Aufschluß gibt. Wenn ältere Untersuchungen mit weit über 50 % aller Fälle schlechte wirtschaftliche Verhältnisse festgestellt haben, so dürfte das für die Gegenwart kaum noch zutreffen, weil die Verhältnisse sich geändert haben und man zudem den Begriff der Not oft recht weitherzig interpretiert. Schon der vor einigen Jahren in einer Frankfurter Untersuchung ermittelte Anteil von 41 % dürfte relativ hoch liegen. Denn insgesamt ist die Unterschlagung doch wohl mehr ein Wohlstands- als ein Notdelikt. e) Sehr unsicher ist das soziale Verhalten der Unterschlagungstäter zu beurteilen. Der im Vergleich zum Durchschnitt der Verurteilten etwas höhere Anteil Vorbestrafter sollte, zumal da er für Vermögensdelikte typisch ist, nicht zu falschen Schlüssen verführen. Wichtiger dürfte es sein, ob es sich dabei um kriminologisch einschlägige Vortaten handelt, was außer bei Unterschlagungen vor allem für Betrug, Untreue und Urkundenfälschung sowie ζ. T. für Diebstahl und Hehlerei zu bejahen sein dürfte, die sämtlich in den Straflisten der Unterschlagungstäter relativ häufig vorkommen. f) Im Rahmen der Motivation wird man bei einer Reihe von Unterschlagungen sicherlich von wirtschaftlicher Not sprechen können, wenngleich hier genannte Anteile von rund 30 % recht hoch liegen dürften; insgesamt aber überwiegen zusammen mit der typischeren Gewinnsucht wirtschaftliche Motive sicher deutlich. Bemerkenswerter als ich- oder gar fremdbezogene Motive nichtwirtschaftlicher Art, wie sie etwa in Form philanthropischer Motive und vor allem von Geltungsdrang vorkommen, scheint der Leichtsinn der Täter zu sein (Bauer: 9 %), der manche Menschen in die Situation einer Unterschlagung gewissermaßen hereinschliddern läßt. Nur sehr vereinzelt gibt es rational nicht ohne weiteres verständliche Motive.
4. Täterpersönlichkeiten
(Tätertypologie)
Alles dies ergibt, daß wir es bei der Unterschlagung in der Mehrzahl der Fälle mit Täterpersönlichkeiten zu tun haben, die sich vom Durchschnitt der straffrei lebenden Bevölkerung nicht nennenswert unterscheiden und deren Taten als verhältnismäßig wenig kriminell intensiv anzusprechen sind. a) Lediglich bei schätzungsweise 25-33 % aller Unterschlagungen wird man von Rückfallstätern und damit von kriminogen geprägten Persönlichkeiten sprechen können, die ein konstanteres soziales Abnormverhalten aufweisen. Denn selbstverständlich nutzen auch antisoziale, d. h. gesellschaftsfeindlich eingestellte, willensstarke Rückfallstäter ζ. T. die sich ihnen mit Abzahlungsgeschäften und dgl. bie-
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Unterschlagung tenden Möglichkeiten ebenso raffiniert wie konsequent für ihre gesetzwidrigen Ziele aus. Ihr Anteil ist bei der Unterschlagung merklich größer als derjenige der mehr gemeinschaftsuntauglichen, aber auffälligen asozialen Rückfallstäter, denen nicht so leicht etwas anvertraut wird. Doch gibt es zuweilen auch hier sozial hilflose Rückfallstäter, die mit ihrer besonderen Lebenssituation - im Gegensatz zu den meisten anderen - auf andere Weise nicht zurechtzukommen meinen. b) Da angesichts der geschilderten Altersgruppierung die Entwicklungstäter bei der Unterschlagung relativ selten sind (10-15 %) und man kaum jemals von Konfliktstätern sprechen kann, überwiegen insgesamt jedoch bei weitem die eigentlichen Durchschnittstäter, deren Gesetzesverstöße weniger persönlichkeitssymptomatisch sind und eher zufällig wirken.
C. Kriminalistik Kriminalistisch bietet die Unterschlagung zwar weniger Probleme als in der Kriminologie; aber dennoch soll kurz auf einige solche Erkenntnisse eingegangen werden, weil sie für Rechtsanwendung und kriminologische Daten bedeutsam sind.
1. Verbrechenstechnik Was die Tatausführung anlangt überwiegen bei der Unterschlagung ganz eindeutig die Alleintäter. Sorgfältiger geplant ist überhaupt nur ein kleinerer Teil der Unterschlagungen, der zwischen 12 und 25 % dieser Taten liegen dürfte. Hier wie sonst wird die Unterschlagung häufiger zusammen mit anderen Delikten wie Betrug, Urkundenfälschung usw. begangen, welche diese Tat entweder ermöglichen oder aber verdecken sollen. Auch für die Verbrechenstechnik ist es ebenso wie für die Kriminalphänomenologie aufschlußreicher, sich an dem durchweg zwischen Täter und Opfer bestehenden Verhältnis zu orientieren, weil dieses zugleich ausschlaggebend für die Art und Weise des Vorgehens ist. Obgleich es geschickt geplante und serienmäßig begangene Unterschlagungen von Vorbehaltseigentum gibt, werden doch die viel selteneren Fälle der Unterschlagung von Sicherungseigentum, schon wegen der Vorsicht des Sicherungsnehmers, eher einmal raffinierter ausgeführt, wenngleich hier ebenfalls recht plumpe Praktiken zu beobachten sind. Sehr unterschiedlich gestaltet sich die Tatausführung, da sie sich nach der Position des Täters richtet, bei Unterschlagungen in Dienst- und Arbeitsverhältnissen. Arbeiten hier ζ. B. Filialleiter, Kassierer oder Buchhalter u. U. mit erheblichen Manipulationen, so kann das Vorgehen von Verkäufern oder Lehrlingen relativ simpel geartet sein.
Ausgesprochen primitiv ist die Verbrechenstechnik durchweg bei der Fundunterschlagung, da der Täter lediglich die gefundene Sache behält, indem er sich nicht um den Verlierer oder das Fundbüro kümmert. Vermerkt sei abschließend noch, daß eine Unterschlagung nicht gar so selten den Hintergrund für eine Deliktsvortäuschung (§ 145d StGB) abgibt, der Täter also über das Setzen lediglich irreführender Spuren hinausgeht, indem er fälschlich behauptet, Opfer eines Diebstahls oder gar Raubes geworden zu sein. Vereinzelt hat man die Tat sogar durch eine Brandstiftung zu verschleiern versucht.
2. Kriminaltechnik Insgesamt betrachtet sind die Möglichkeiten der Kriminaltechnik in Unterschlagungsfällen recht begrenzt. Präventiv bleibt neben sicherer Kennzeichnung der Sache, die man aus seinen Händen gibt, nur der wohlgemeinte, aber selten beherzigte Rat, bei der Auswahl seines Partners vorsichtig zu sein. Bei den Ermittlungen kommt es nur selten auf die Beute als solche an, weil sie in aller Regel durch die Aussage des Eigentümers oder Dritter zu identifizieren ist. Die Tatausführung selbst - die Zueignung - erfolgt, da sich die Beute bereits in der Hand des Täters befindet, üblicherweise gewalt- und somit spurenlos. Nur ausnahmsweise kann insoweit ein Sachbeweis dienlich sein, wenn es um Verbrauch, Umgestaltung oder den Nachweis des Aufbewahrungsortes der Beute geht; denn solche Manipulationen, die ungestörten Eigenbesitz ermöglichen oder aber eine Überführung verhindern sollen, hinterlassen des öfteren brauchbare Spuren. Eher ist mithin der Einsatz kriminaltechnischer Mittel bei begleitenden Handlungen angezeigt, welche die Unterschlagung verdecken oder ermöglichen sollen. Dies gilt beispielsweise für Schriftstücke oder andere Gegenstände, welche für die konkrete Tatausführung charakteristisch sein können. Außer an die Methoden der Schriftvergleichung ist bei Schriftstücken ferner an die Urkundenuntersuchung (Schriftträger, Schreibmittel) zu denken; denn hier entspricht die Lage der bei Urkundenfälschungen.
3. Kriminaltaktik Die kriminaltaktische Situation erinnert bei der Unterschlagung insgesamt gewöhnlich mehr an Betrugsfälle als an den Diebstahl. Hier genügt es daher, auf einige Besonderheiten hinzuweisen, bei denen es außer auf Aussagen - wie geschildert (vgl. 2) - dann und wann auch einmal auf einen Sachbeweis, d. h. auf kriminaltechnische Untersuchungen, ankommen kann. Obwohl es wegen des Täter-Opfer-Verhältnisses ganz überwiegend bekannt sein dürfte, wer als Tatverdächtiger in Betracht kommt, sobald über-
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Unterschlagung
haupt eine Anzeige erstattet worden ist, sind daher bei Verdacht einer Unterschlagung in aller Regel Vernehmungen ausschlaggebend, wenngleich die neben dem Opfer und ggf. dessen Angehörigen bzw. Bediensteten u. U. wichtigen Zeugen nicht immer einfach zu ermitteln sind. So geht es beispielsweise bei Vorbehaltskauf oder Sicherungsübereignung kaum jemals um das Rechtsverhältnis als solches, sondern vor allem um den Nachweis einer Pflichtverletzung durch Verbrauch oder Absatz an Dritte. Bei Unterschlagungen von Provisionsvertretern und Auslieferern, die in der Praxis einen gewissen Zeitvorsprung zu haben pflegen, können außer durch Vernehmungen von Beschuldigten und Verletzten sowie deren Angestellten oder etwaiger Kunden, wobei sich allerdings strittige Rechtsfragen ergeben können, zuweilen vom Täter ausgestellte Quittungen, Lieferscheine oder dgl. einen Sachbeweis ermöglichen. Bei Unterschlagungen in Dienst- und Arbeitsverhältnissen ist außer an Vernehmungen schon eher an Sachbeweise für Manipulationen zu denken, welche die Tat erleichtern oder verschleiern sollen. In Auftragsverhältnissen und ebenso bei Verwahrung oder Aufbewahrung ist das Täter-Opfer-Verhältnis dagegen überlicherweise so gestaltet, daß sich kaum Ansätze für einen Sachbeweis ergeben, weshalb man hier auf geschickt durchgeführte Vernehmungen angewiesen ist. Nicht viel anders liegen die Dinge gewöhnlich bei Miete und Leihe. Im Falle einer Fundunterschlagung jedoch kann, da es an einem Rechtsverhältnis fehlt, die kriminaltechnische Untersuchung wichtig werden, wenn die Beute oder ihr Verbleib nicht anders - ζ. B. durch Aussage des Opfers - zu identifizieren bzw. zu beweisen ist. Im übrigen aber ist die Beschuldigtenvernehmung hier im allgemeinen wichtiger als die des verletzten Eigentümers. Ungeachtet der gemachten Vorbehalte und der sich daraus ergebenden Unsicherheiten dürfte doch dargetan worden sein, daß die von Kriminologen und Kriminalisten in Sachen Unterschlagung geübte Abstinenz nicht gerechtfertigt ist. Denn diese Formen kriminellen Verhaltens sind nicht nur für Phänomene wie Wirtschafts- und Betriebskriminalität wichtig, sondern weisen auch ansonsten Probleme und Zusammenhänge auf, denen nicht nur für Kriminologie und Kriminalistik Gewicht zukommt, sondern deren Kenntnis und Verstehen kriminalpolitisch ebenso für Strafjuristen und insb. für die Rechtsanwendung hilfreich sein dürfen. Monographien B. B a u e r : Die Unterschlagung. Zur historischen, kriminologischen und strafrechtlichen Problematik der §§ 235 bis 248 a, 350, 351 und 3 7 0 Abs. 1 Ziff. 5 S t G B - mit einem rechtsvergleichenden Überblick. Jur. Diss. Frankfurt/M. Frankfurt/M. 1970. J . B a u m a n n : Der strafrechtliche Schutz bei den Sicherungsrechten des modernen Wirtschaftsverkehrs. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Abhängigkeit des Strafrechts vom Zivilrecht. Münsterische Beiträge zur Rechts- u. Staatswissenschaft 4. Berlin 1956.
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Urkundendelikte O. G r o e t s c h e l : Die Problematik des § 350 StGB. NJW 1954. S. 1108 f. Kl. L ο u ν e η : Fällt der mittelbare Besitz unter die Begriffe „Besitz oder Gewahrsam" in § 246 StGB? MDR 1960. S. 268 ff. D. M e y e r : Die Nichtbenachrichtung des Sicherungs-( Vorbehalts-Jeigentümers von einer bei dem Besitzer durchgeführten Pfändung der Sache - Betrug oder Unterschlagung? MDR 1974, S. 809 ff. P. N o l l : Die Sachentziehung im System der Vermögensdelikte. SchwZStr. 84 (1968) S. 337 ff. R . K a u t e n b e r g / H . H o w o r k a : Unterschlagung von Filz- und Faserschreibern. Kriminalistik und forensische Wissenschaften 1971. S. 251 ff. C1. R ο χ i η: Geld als Objekt von Eigentums- und Vermögensdelikten. Mayer-Festschrift. Berlin 1966. S. 467 ff. F. S c h a f f s t e i n : Der Begriff der Zueignung bei Diebstahl und Unterschlagung. GS 103 (1933) S. 292 ff. W. S c h n e i d e r : Zur Strafbarkeit der Fundunterschlagung. MDR 1956. S. 337 f. B . S c h ü n e m a n n : Die Stellung der Unterechlagungstatbestände im System der Vermögensdelikte (BGHSt. 14, 38). JuS 1968. S. 114 ff. K l . T i e d e m a n n : Die mutmaßliche Einwilligung, insbes. bei Unterschlagung amtlicher Gelder - OLG Köln. NJW 1968. S. 2438; JuS 1970. S. 108 ff. Materialien Die amtliche Kriminalstatistik, herausgegeben bis 1936 vom Statistischen Reichsamt in Berlin und seit 1950 vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden; die Polizeiliche Kriminalstatistik, seit 1953 herausgegeben vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden. FRIEDRICH GEERDS
URKUNDENDELIKTE I. EINLEITUNG Urkundendelikte sind alle Straftaten, die sich in dieser oder jener Form auf Urkunden als Beweismittel beziehen. Diese Deliktstypen werfen nicht nur als solche mancherlei rechtliche und tatsächliche Probleme auf, sondern fungieren nicht selten - wie ζ. B. die Urkundenfälschung im Verhältnis zum Betrug (§ 263 StGB) - als Begleittaten, weshalb ihnen u. U. sowohl kriminologisch als vor allem kriminalistisch eine Schlüsselrolle zukommen kann. A. Die gesetzliche Regelung Die Urkundendelikte sind im wesentlichen im 23. Abschnitt des Strafgesetzbuchs in den §§ 267 ff. StGB geregelt. Daneben ist vor allem noch die in § 348 StGB unter Strafe gestellte Falschbeurkundung im Amt wichtig. - Außer Betracht bleiben im folgenden diese Straftatbestände ergänzende Vorschriften wie die über technische Aufzeichnungen (§ 268 StGB) oder in der Praxis mit ihnen zuweilen zusammentreffende Deliktstypen wie Verwahrungsund Siegelbruch (§§ 133, 136 StGB). Ausgeklammert werden ferner, obwohl es sich hier um Spezialfälle der Urkundenfälschung handelt, die kriminologisch und kriminalistisch jedoch anders gearteten Falschgelddelikte (§§ 146 ff. StGB).
Die Überschrift „Urkundenfälschung" für den fraglichen 23. Abschnitt ist schon deshalb falsch, weil pars pro toto lediglich die in der Praxis wichtigste Form der Urkundendelikte genannt wird. Auch die Eingliederung unter die Vermögensdelikte ist verfehlt; zwar treffen die Urkundendelikte im konkreten Fall häufig mit diesen Straftaten zusammen, jedoch ist ihr Unrechtsgehalt ein ganz anderer. Es handelt sich hier um spezielle Beweisdelikte, welche die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweises mit Urkunden schützen, so daß ihr gegenwärtiger Standort sich vor allem aus der historischen Zuordnung zum Betrug erklären läßt.
1. Grundtypen der Urkundendelikte Regelung und Unrechtsgehalt der einzelnen Urkundendelikte sind am besten zu erfassen, wenn man vier Grundtypen unterscheidet, von denen wir uns im folgenden allerdings nur mit dreien genauer befassen wollen. Bei der Urkundenfälschung als Grundtyp haben wir es mit unechten Urkunden zu tun, d. h. strafbaren Verhaltensweisen, welche sich lediglich auf die Urheberschaft beziehen, über die so oder so getäuscht wird; mit dem sonstigen Inhalt der Urkunde hat dies nichts zu tun. Dagegen ist bei der Falschbeurkundung gerade auf den Inhalt der Urkunde abzustellen, spielt also die Urheberschaft keine Rolle. Im Gegensatz zu unechten Urkunden sollte man daher konsequenterweise von unwahren oder unrichtigen Urkunden sprechen. Dies ist wichtiger als die später zu behandelnde gesetzliche Unterscheidung der unmittelbaren Falschbeurkundung (im Amt) und der diese ergänzenden mittelbaren Falschbeurkundung, bei welcher ein gutgläubiger Urkundsbeamter mißbraucht wird, um eine unwahre Beurkundung zu bewirken. Der dritte Grundtyp der Urkundendelikte setzt ein Beeinträchtigen des Beweiswertes von Urkunden voraus. Typische Fälle dieser Art sind die in § 274 StGB enthaltenen Tatbestände der Urkundenunterdrückung und der Grenzverrückung. Schließlich gibt es noch einen, für die Praxis nicht sonderlich bedeutsamen Grundtyp; das ist der in § 281 StGB mit Strafe bedrohte Mißbrauch von Ausweispapieren, ein Mißbrauch ordnungsmäßiger Urkunden zum Beweise, d. h. zur Täuschung im Rechtsverkehr. Da dieser Deliktstyp ungeachtet relativ geringer Verurteiltenzahlen (1973: 213) überdies kriminologisch und kriminalistisch bisher nicht eingehender behandelt worden ist, muß er im folgenden außer Betracht bleiben. Alle anderen Strafvorschriften lassen sich unschwer diesen vier Grundtypen zuordnen, welche nunmehr anhand der jeweiligen Grundtatbestände etwas genauer erläutert werden sollen.
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Urkundendelikte 2. Die einzelnen DeUktstypen
a) Der Grundtatbestand und praktisch wichtigste Fall aller Urkundendelikte ist die in § 267 StGB geregelte Urkundenfälschung. Ihr entsprechen in etwa die §§ 277, 279 StGB sowie die nunmehr in § 148 StGB - nicht sehr überzeugend bei den Falschgelddelikten - enthaltene Wertzeichenfalschung. Die Urkundenfälschung ist ein spezielles Beweisdelikt, weil sie sich auf Urkunden als Beweismittel bezieht; da es um den Schutz der Allgemeinheit geht, genügt eine entsprechende Gefährdung, braucht die Täuschung also keinen Erfolg zu haben. Diese Täuschung als Handlungskomponente besteht darin, daB eine Urkunde fälschlich als echt ausgegeben wird. Das geschieht nicht erst bei Gebrauch einer unechten Urkunde als echt, sondern bereits mit dem Herstellen einer hierzu geeigneten Urkunde zu eben diesem Zweck; denn die unechte Urkunde ist als Tatmittel das entscheidende Element der Täuschung. Wenn § 267 StGB daher drei bzw. vier Begehungsweisen nennt, kommt es für die Tathandlung im Grunde doch nur auf zwei Formen - die Produktion des täuschenden Tatmittels und seinen Gebrauch im Rechtsverkehr - an, die gleichermaßen als strafwürdig erscheinen. Das Verfälschen einer echten Urkunde ist im Ergebnis lediglich ein Unterfall des Herstellens einer unechten Urkunde, weil damit klargestellt ist, daß außer der Totalfälschung auch die Teilfälschung durch Verwenden einer zuvor echten Urkunde erfaßt wird; diese fungiert hier lediglich als Tatobjekt, während das Produkt dasselbe wie beim Herstellen ist. Beim Gebrauch einer so oder so hergestellten unechten Urkunde ist rechtlich um-, stritten, ob dafür jegliches Benutzen des Falsifikats als Tatmittel ausreicht oder dies in einer Weise verwendet werden muß, die zur Täuschung im Rechtsverkehr geeignet ist; wird jedoch bei der Produktion bereits eine entsprechende Erfolgsabsicht vorausgesetzt, so erscheint uns der letztgenannte Standpunkt als richtig, weil hierdurch das kriminelle Vorhaben verwirklicht wird. Der für alle Urkundendelikte wichtige Begriff der Urkunde kann in diesem Rahmen trotz mancher juristischer Streitpunkte nur dahin skizziert werden, daß eine Urkunde eine verkörperte Gedankenerklärung voraussetzt, welche zum Beweise geeignet sowie bestimmt ist und überdies den Aussteller erkennen läßt. Bei der Urkundenfälschung geht es weniger um die fixierte Gedankenerklärung und die Beweisfunktion der Urkunde, vielmehr wird über den angeblichen Aussteller - die Urheberschaft - getäuscht. Dabei ist gleich, ob das durch eine Totalfälschung geschieht oder durch eine Verfälschung, die sich entweder auf den Inhalt oder auf den Aussteller der „frisierten" Urkundenvorlage beziehen kann. Entscheidend ist in allen Fällen, daß die Urkunde in dieser Form nicht vom angeblichen Aussteller herrührt. Ebenso wie bei einem Pseudonym braucht die
Unterschrift eines unter falschem Namen lebenden Menschen keine Täuschung zu sein, während eine an sich richtige Unterschrift bei irreführenden Begleitumständen täuschend wirken kann. Es kommt ferner nicht mehr auf Eigenhändigkeit der Unterschrift an, sofern sich der erkennbare Aussteller nur vorher einverstanden erklärt und damit zur Urkunde bekannt hat; daß manche hier bei Formerfordernissen auf die zivilrechtliche Wirksamkeit abstellen wollen, vermag strafrechtlich nicht zu überzeugen. - Auf Sonderformen wie Gesamturkunden und zusammengesetzte Urkunden kann hier ebensowenig wie auf die Probleme von Abschrift, Durchschrift und Fotokopie eingegangen werden, welche erst durch Beglaubigungsvermerk oder dergleichen Urkundencharakter erhalten, sofern sie nicht durch besondere Unterschrift oder auf ähnliche Weise selbst zu Urkunden werden. Da sich bei dieser Straftat gegen das Gemeinschaftsleben kaum Probleme der Rechtswidrigkeit ergeben, sei zur subjektiven Verantwortlichkeit nur gesagt, daß Strafbarkeit neben vorsätzlichem Handeln in Fällen der Produktion die Absicht des Täters voraussetzt, die unechte Urkunde im Rechtsverkehr zu Beweiszwecken zu gebrauchen. b) Will man den Grundtyp der Falschbeurkundung richtig verstehen, so geht man zweckmäßig von der als Amtsdelikt in § 348 StGB mit Strafe bedrohten unmittelbaren Falschbeurkundung aus. Diese ist ein sich lediglich auf öffentliche Urkunden beziehendes Beweisdelikt, bei welchem über die inhaltliche Wahrheit dessen getäuscht wird, was ein Urkundsbeamter unter Mißbrauch seiner besonderen Pflichtenstellung beurkundet hat. Entscheidend ist also eine öffentliche Beurkundung, welche inhaltlich unrichtig ist. Wann dies der Fall ist, hängt nicht zuletzt davon ab, was beurkundet wird (§§ 415 ff. ZPO); denn häufig wird nicht der Inhalt des dem Beamten Erklärten zu öffentlichem Glauben beurkundet, sondern lediglich die Abgabe einer solchen Erklärung. Wichtig ist bei allem, daß der betreffende Beamte vorsätzlich handeln, d. h. „bösgläubig" sein muß. - Diesem Typ der Falschbeurkundung entsprechen die Vorschriften der §§ 278, 279 StGB über unrichtige Gesundheitszeugnisse. Da die unmittelbare Falschbeurkundung ein echtes Amtsdelikt ist, also nur der Urkundsbeamte selbst und eigenhändig gegen § 348 StGB verstoßen kann, sind für die der fremdhändigen Begehung in mittelbarer Täterschaft entsprechenden Fälle des Mißbrauchs eines „gutgläubigen" Urkundsbeamten zur unwahren Beurkundung in den §§ 271 ff. StGB ergänzenden Vorschriften für die sog. mittelbare Falschbeurkundung vorgesehen. Die recht umständlich gefaßte Regelung, die außer einem solchen Bewirken einer Falschbeurkundung (§ 271 StGB) ferner in § 273 StGB das Verwenden einer unwahren öffentlichen Urkunde erfaßt und in den §§ 272, 273 StGB überdies schwerere Strafe für Handeln in Vorteils- oder Schädigungsabsicht androht, entspricht in
Urkundendelikte der Sache im wesentlichen § 348 StGB. Die Besonderheit ist die, daß ein Dritter einen gutgläubigen, d. h. nicht als Täter im Sinne von § 348 StGB zu belangenden Urkundsbeamten so oder so zu einer Falschbeurkundung veranlaßt. Dabei muß der Hintermann sowohl bezüglich der Falschbeurkundung als auch der Gutgläubigkeit des Beamten vorsätzlich handeln. c) Zum Grundtyp des Beeinträchtigens des Beweiswertes von Urkunden gehören insb. Urkundenunterdrückung und Grenzverrückung. Sinn und Zweck der in § 274 - Abs. I - Ziff. 1 StGB enthaltenen Vorschrift gegen Urkundenunterdrückung ist es, dem an diesem Beweis Interessierten die Möglichkeit des Urkundenbeweises dadurch zu gewährleisten, daß man Praktiken verbietet, die auf ein Beseitigen oder Vorenthalten der Urkunde bzw. auf Vermindern ihres Beweiswertes hinauslaufen. Die Urkunde, für welche es auf das Beweisinteresse und nicht das zivilrechtliche Eigentum ankommt, fungiert hier mithin als Tatobjekt. Die Tathandlung ist in mehreren Formen möglich. Hierbei entsprechen Vernichten und Beschädigen in etwa den Begehungsweisen der Sachbeschädigung, weshalb es auf Beseitigen oder Vermindern der Brauchbarkeit für den Beweiszweck ankommt. Demgegenüber stellt das Unterdrücken Verhaltensweisen unter Strafe, die darauf abzielen, einem Beweisinteressenten eine Urkunde vorzuenthalten oder gar gegen seinen Willen zu entziehen. Subjektiv ist neben vorsätzlichem Handeln eine Erfolgsabsicht nötig, die zwar - unglücklich formuliert - auf Zufügen von Nachteilen abstellt, für welche es jedoch genügt, daß der - wie üblich - zum eigenen Vorteil handelnde Täter einen Nachteil für den Verletzten in Kauf nimmt. Die Grenzverrückung i. S. von § 274 - Abs. I Ziff. 2 StGB ist zwar das älteste Urkundendelikt, hat heute aber nur noch geringe praktische Bedeutung. Das Handeln des Täters bezieht sich auf Grenzsteine, andere Grenz- oder Wasserstandszeichen. Deren Beweiswert wird dadurch beseitigt oder vermindert, daß diese Zeichen vernichtet, unkenntlich gemacht, weggenommen, verrückt oder falsch gesetzt werden. Neben Vorsatz erfordert Strafbarkeit auch hier wiederum die soeben erwähnte Nachteilsabsicht. B. Die historische Entwicklung Die Urkundendelikte haben erst im Laufe der Zeiten ihre gegenwärtige Bedeutung erlangt. Bei den Germanen war bis etwa zum Beginn des Mittelalters wegen der damals herrschenden Naturalwirtschaft und vor allem deshalb kaum mit Urkunden zu rechnen, weil die Schrift ihnen weithin unbekannt war. Erst die im Zuge der Völkerwanderung erfolgende engere Berührung mit den Römern machte die Germanen außer mit anderen Lebensgewohnheiten und Verwaltungspraktiken nach und nach mit der Schrift bekannt. So kam es, daß sich in den
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Volksrechten des 5.-8. Jahrhunderts neben dem Verrücken von Grenzsteinen erstmalig auch andere Urkundendelikte (de falsariis scripturarum) fanden. Obwohl dabei nicht zwischen unechten und unwahren Urkunden unterschieden wurde, dürften damals solche Fälle, die wir heute der Falschbeurkundung zuordnen, gewichtiger gewesen sein; deshalb wurden beispielsweise Manipulationen in bezug auf sog. Königsurkunden, denen besonderes politisches und rechtliches Gewicht zukam, für sehr schwerwiegend gehalten. Auch das Fälschen einer „Freilassungsurkunde" wurde bereits damals peinlich gestraft. Die sich fortsetzende und mit Erstarken der Staatsgewalt und Ausbau der Administration zusammenhängende Entwicklung schlug sich in den Rechtsbüchern und Stadtrechten des frühen Mittelalters nieder, obwohl die Zahl der Schreibkundigen zunächst immer noch sehr begrenzt war. Als Täter wurden daher neben Lateinschreibern vor allem pfäffliche Schreiber genannt. Doch unterschied man auch in diesen Jahrhunderten nicht zwischen unwahren und unechten Urkunden, wenngleich Fälle der erstgenannten Art - ζ. B. falsche Eintragungen in Pfand- oder Gerichtsbücher — überwogen. Im Zuge der Rezeption des römischen Rechts, die insb. vom 16. Jahrhundert an die Entwicklung prägte, wurde das Bild der Urkundendelikte eher unsicherer als klarer. Schon im alten Rom hatten Urkunden wegen der anders gearteten Lebensverhältnisse große Bedeutung, was u. a. die von Sulla in den Jahren 82-80 v. Chr. erlassene „lex Cornelia de falsis" beweist, die insb. Fälschungen von Testamenten und im Zahlungsverkehr betraf. Bezeichnenderweise wurden diese Rechtsbrüche schon damals als „crimina publica" gewertet. Der sich ausdehnende Rechts- und Geschäftsverkehr führte in der Kaiserzeit zu weiteren Urkundendelikten. - Nach Wiederentdeckung der Digesten im Jahr 1.050 bemühten sich die mittelalterlichen italienischen Juristen, einen übergeordneten Aspekt für die Vielzahl dieser sog. „falsa" zu finden. Da das jedoch nicht gelang, stellte man außer auf den „dolus malus" auf das „praeiudicium alterius" ab, die Schädigung eines Dritten. Dieser vage und abstrakte falsum-Begriff stellte das gemeine Recht angesichts der kasuistisch gestalteten deutschrechtlichen Tradition vor erhebliche Schwierigkeiten und bewirkte große Unsicherheit. Während die Doktrin auf den von den Italienern beschrittenen Wegen voranzukommen suchte, hielt die Gerichtspraxis mehr am Überkommenen fest. Ebenso wie die Constitutio Criminalis Bambergensis (1502) entzog sich auch die Constitutio Criminalis Carolina (1532) einigermaßen dem Sog der Rezeption und behandelte unter dem „falsum" (Falsch) die betreffenden Delikte relativ selbständig. In dem für Urkundendelikte maßgebenden Art. 112 wurden außer „Siegel, brieff, instrument, urbar und register" jetzt ausdrücklich „renth oder zinsbücher" genannt. Doch wird das Bild schon in den folgenden Kodifikationen der Länder wieder schwankender.
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Urkundendelikte
In der späten Epoche des gemeinen Rechts rückte die Doktrin von dem zunächst für das „falsum" als wesentlich erachteten Element der Täuschung ab, um mehr auf den Erfolg schauend unterschiedliche Gesichtspunkte in den Vordergrund zu stellen. War dies ζ. B. bei den Falschgelddelikten das fürstliche Münzregal, so versuchte man es bei den Urkunden mit dem Begriff der „publica fides". Erst der französische Code P6nal (1810) führte über die Partikulargesetzbücher des ^.Jahrhunderts zu einem grundlegenden Wandel, der u. a. das „falsum" auflöste. Obgleich manche Gesetze noch nicht (oder nur zwischen öffentlichen und privaten Urkunden) unterschieden, setzte sich in der Mitte dieses Jahrhunderts mit der Abgrenzung vom Betrug dann die Unterscheidung zwischen Urkundenfälschung und Falschbeurkundung durch, wobei letztere jedoch primär als Amtsdelikt angesehen wurde. Auf dieser Grundlage basiert die geltende Regelung vom Jahre 1871, welche insb. für die Urkundenfälschung (§267 StGB) 1943 umgestaltet wurde. Durch diese Novelle wurde auch die Strafvorschrift gegen den Mißbrauch von Ausweispapieren (§ 281 StGB) eingeführt. Daß dennoch im Grundsätzlichen vieles unklar war und blieb, beweist außer der Tatsache, daß der Komplex der Falschbeurkundung aufgesplittert und sein wichtigster Fall bei den Amtsdelikten (§ 348 StGB) geregelt blieb, das vom Unrechtsgehalt her unverständliche, nur aus der geschichtlichen Entwicklung zu erklärende Belassen der anderen Urkundendelikte im Zusammenhang der Vermögensdelikte. Alles in allem zeigt die Geschichte der Urkundendelikte gut einen engen Zusammenhang mit den staatlichen und sozialen Verhältnissen und damit das Gewicht, das diesen Straftaten in einem geordneten, rechtsstaatlichen Gemeinwesen zukommt.
Π. URKUNDENFÄLSCHUNG Die Urkundenfälschung als der für die Praxis wichtigste Fall der Urkundendelikte weist nicht nur für den Kriminologen mancherlei Probleme auf, sondern ist auch kriminalistisch sehr reizvoll und ohne die Erkenntnisse der Kriminalisten kaum wirklich zu verstehen.
A. Kriminologie Urkundenfälschungen werden in der Praxis häufig im Zusammenhang mit einem Betrug (§ 263 StGB) begangen, der auf diese Weise entweder ermöglicht oder aber verschleiert werden soll. Wie für den Betrug in Form der Wirtschaftsbetrügereien ist daher für zahlreiche Fälle dieser Art ein Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben charakteristisch, weshalb die Urkundenfälschung als ein Wirtschaftsdelikt i. w. S. anzusehen ist. Dies wird ferner durch das
häufige Zusammentreffen mit Unterschlagung, Untreue oder mit echten Wirtschaftsdelikten wie ζ. B. Insolvenz- und Steuerdelikten bestätigt.
1. Entwicklung und praktische Bedeutung Das Bild, welches die Kriminalstatistik vermittelt, kann gerade bei der Urkundenfälschung täuschen. Denn nach einer stetigen Zunahme in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg (Kriminalitätsziffern - 1882: 9,5; 1913: 17,1) und einer entsprechenden Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen (Kriminalitätsziffern - 1924: 22,8; 1932: 24,0) liegen die Verurteiltenzahlen in den letzten Jahrzehnten zunächst anscheinend und mit sinkender Tendenz viel tiefer (Kriminalitätsziffern - 1953: 10,6; 1963: 8,9; 1965: 8,0), wenngleich sie nach 1965 wieder etwas und seit 1970 (Kriminalitätsziffer: 11,2) stärker steigen. Für das Jahr 1973 beträgt bei 9.079 Verurteilungen die Kriminalitätsziffer bereits wieder 18,6. Die sich zunächst andeutende Tendenz ist also keineswegs sicher. Zudem wird das Bild der Zahlen durch Unsicherheitsfaktoren verzerrt. Insbesondere die Streichung des § 268 StGB a. F. und die Umgestaltung des § 263 StGB im Jahre 1943 haben bewirkt, daß Strafsachen, die früher unter der Urkundenfälschung als schwerstem Delikt erfaßt wurden, seither beim Betrug registriert werden. Das bestätigt die noch heute ungleich größere Zahl von Urkundenfälschungen in der anders angelegten Polizeilichen Kriminalstatistik, die beispielsweise für 1973 allein 22.934 bekannt gewordene Urkundenfälschungen verzeichnet. - Während das Verhältnis von Aburteilungen und Verurteilungen mit einem Schwund von rund 10 % in etwa dem Durchschnitt entspricht, sieht schon infolgedessen die Relation ermittelter und abgeurteilter Täter bei der Urkundenfälschung sehr viel ungünstiger aus, wenngleich rein rechnerisch ermittelte Quoten von 40-50 % aus dem genannten Grunde zu tief sein dürften. Dagegen erscheint die Aufklärungsquote der Polizeilichen Kriminalstatistik mit durchweg mehr als 95 % sehr günstig, was mit den Möglichkeiten des Sachbeweises zusammenhängen dürfte; vielleicht aber wirken sich die Beweisschwierigkeiten erst bei der Abgabe an die Staatsanwaltschaft stärker aus. Schätzungen des Dunkelfeldes sind sehr schwierig, weil die Lage bei den einzelnen Erscheinungsformen stark divergiert; doch dürften zusammenfassende Schätzungen, nach denen auf einen bekannt gewordenen Fall nur ein oder zwei unbekannt gebliebene Urkundenfälschungen kommen sollen, zu optimistisch sein. Insgesamt wird man einstweilen mit einem Verhältnis von 1 : 4 oder 5 rechnen müssen. Kennzeichnend für die Entwicklung ist mithin die Abhängigkeit der Urkundenfälschung von der Wirtschaftssituation, was den engen Zusammenhang mit Wirtschaftsdelikten und Vermögensdelikten wie Betrug oder Unter-
Urkundendelikte schlagung bestätigt. Eine Zunahme in Notzeiten erklärt sich aus anderen Gründen, ζ. B. Maßnahmen der Bewirtschaftung, welche zugleich die Gewichte der Erscheinungsformen verändern.
2. Erscheinungsformen
(Kriminalphänomenologie)
Für die Erscheinungsformen der Urkundenfälschung sind die strafrechtlichen Begehungsweisen wenig aufschlußreich. Als Tatort ist, was bei dem wirtschaftlichen Hintergrund nicht überraschen kann, die Großstadt überdurchschnittlich belastet, obwohl sich die Verhältnisse in Mittel- und Kleinstädten jetzt anzugleichen scheinen. Bei weithin zufällig wirkender Tatzeit sind die durch das Zusammentreffen mit anderen Delikten üblichen Vermögensschäden in der Mehrzahl der Fälle nicht sonderlich hoch. So hielt sich der Schaden in einer Frankfurter Untersuchung in 41,3 % der Fälle unter DM 500, lag dabei in 22,5 % sogar unter DM 100. Nach allem dürfte es sich empfehlen, sich bei den besonderen Erscheinungsformen der Urkundenfälschung an der unterschiedlichen Art der Urkunden zu orientieren, weil so die typische Funktion der einzelnen Fallgruppen am besten beleuchtet wird. a) Relativ häufig sind mit Anteilen von 20-30 % Paß- und Ausweisfälschungen, wobei Führerscheine die weitaus größte Gruppe bilden. Häufiger als Totalfälschungen, die bei diesen besonders gesicherten Spezialurkunden Schwierigkeiten bereiten, welche am ehesten von Geheimdiensten oder Verbrecherorganisationen gemeistert werden, sind Verfälschungen der schriftlichen Angaben oder der Austausch von Lichtbildern. b) Bei den Fälschungen anderer öffentlicher Urkunden handelt es sich außer um Zustellungsurkunden in Notzeiten um Bezugsscheine und Lebensmittelkarten. In normalen Zeiten frisieren Fälscher im Zusammenhang mit Diebstahl und dergleichen von Kraftfahrzeugen sowie deren Absatz u. a. die entsprechenden Papiere (Frankfurt a. M.: 10,6 %). Schließlich werden dann und wann Zeugnisse oder Diplome gefälscht (Frankfurt a. M.: 4,9 %), die keine Aus weispapiere darstellen. Insgesamt schwanken die Anteile dieser Erscheinungsform zwischen 15 und 20 %. c) Außerordentlich selten sind in der Praxis die jetzt rechtlich den Falschgelddelikten zugeschlagenen Wertzeichenfälschungen (Frankfurt a. M.: 0,4 %). Denn philatelistische Fälschungen gehören, da nicht mehr gültig, in einen anderen Zusammenhang (h). Abgesehen von technischen Schwierigkeiten der Produktion macht bei den durchweg kleinen Werten vor allem der Absatz Kopfzerbrechen. Man kann eben als Rechtsbrecher kaum mit Totalfälschungen von gültigen Briefmarken zu einem nennenswerten Nebenverdienst gelangen. Hier wie bei Gebühren- und Versicherungsmarken kommt es daher eher einmal vor, daß man bereits entwertete Zei-
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chen - ggf. nach entsprechenden Manipulationen — wiederverwendet, um geringfügige Ausgaben zu sparen. d) Daß sich die Wertpapierfälschungen zahlenmäßig in Grenzen halten (10-15 %), ist vor allem auf die hier üblichen Sicherungsvorkehrungen zurückzuführen. Doch kann der Schaden im Einzelfalle beträchtlich sein. Wechselfälschungen werden überwiegend als Akzeptfälschungen oder Fälschungen der Ausstellerunterschrift begangen. Sehr viel häufiger sind Scheckfälschungen (1 : 10), obwohl die Laufzeit hier kürzer ist. Typischerweise fälscht der Täter, der sich echte Formulare durch Diebstahl oder auf andere Weise zu beschaffen sucht, Text und Unterschrift; seltener wird eine Schecksumme verfälscht. Einen Sonderfall bilden Reiseschecks, obwohl auch hier Totalfälschungen selten sind. Dann und wann werden aber auch andere Wertpapiere gefälscht. e) Verhältnismäßig klein ist mit Anteilen um 5 % die Fälschung von Sparkassenbüchern und Uberweisungen, die wie Wertpapiere gesichert zu sein pflegen. Die kriminelle Aktion erfordert daher gewöhnlich weitere Hardlungen wie das Einrichten eines Kontos unter falschem Namen. f) Häufiger sind Fälschungen anderer schriftlicher Privaturkunden. Diese Erscheinungsform, die mit sicher großer Dunkelziffer auf Anteile von 33—40 % zu kommen pflegt, betrifft außer Αι ftrags- und Bestellscheinquittungen, die ζ. B. der betrügerische Vertreter fälscht, auch andere Quittungen, die man im Rahmen von Betrug, Unterschlagung und Steuerdelikten fälscht; dasselbe gilt für Verträge und Vertragsofferten. Natürlich werden auch andersartige Privaturkunden gefälscht, die jedoch zahlenmäßig zurücktreten. Außer an die insbesondere von der Drogenszene her bekannten Rezeptfälschungen ist an das Fälschen oder Verfälschen von Briefen und anderen Dokumenten zu denken, die dies oder jenes beweisen sollen; hierher gehören schließlich Schuldscheine und Bürgschaftserklärungen, während die früher vieldiskutierten Testamentsfälschungen selten geworden sind. Das Bild ändert sich nicht sehr, wenn man hierzu als „Verkehrsmarken" schließlich noch ge- oder verfälschte Fahr- und Eintrittskarten rechnet. g) Präge- und Stempelfälschungen, wie sie gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit dem Kraftfahrzeugverkehr - man denke an Fahrgestell- und Motornummern - begangen werden, sind relativ häufig, zumal da sie auch bei Ausweisfalschungen und anderen Erscheinungsformen oft eine ergänzende Funktion haben. Vereinzelt manipulieren Fälscher an Verschlußplomben. Es kann sich in allen diesen Fällen also außer um öffentliche auch um private Urkunden handeln. h) Die Kunst- und Antiquitätenßlschungen sind ein schwer zu überblickender Bereich, der sich wegen des Kunsthandels zudem besser bei Warenfälschung oder Betrug darstellen läßt; denn außer den
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Urkundendelikte
von Kunstwerken nicht immer klar zu unterscheidenden Antiquitäten gehören hierher alle Raritäten und Sammelobjekte, mit denen man handelt. Daß die Reichweite der Urkundenfälschung hier begrenzt ist, wird klar, wenn man nach der Art der in Betracht kommenden Gegenstände differenziert. Bei Gemälden, Zeichnungen und dergleichen kommt eine strafbare Urkundenfälschung vor allem im Hinblick auf die Signatur in Betracht. Denn durch den Namen eines bekannten Meisters kann ein Falsifikat oder das Produkt eines „Namenlosen" als wertvoller erscheinen. So brachte beispielsweise ein um 1880 von dem Münchener Maler Hans Blum angefertigtes Gemälde, das im Jahre 1924 in Berlin für RM 800 verkauft worden war, einige Jahre später einen Preis von RM 110.000, nachdem man das Signum des Malers durch das von „W. Leibi" ersetzt hatte. Ebenso wie bei Gemälden fehlt es noch öfter bei Plastiken an einer Signatur, weshalb es allein auf den Stil des Künstlers ankommt. Den hier häufigeren serienmäßigen Fälschungen kann man daher kaum mit der Strafe wegen Urkundenfälschung entgegenwirken, die lediglich bei falschen Expertisen zum Zug kommen kann. Ähnlich ist die Situation im weiten Bereich der Antiquitäten, zu denen ζ. B. alte Möbel und Musikinstrumente zählen; diese Machenschaften dürften daher in der Regel nur hinsichtlich gebastelter Expertisen als Urkundenfälschung zu erfassen sein. Dasselbe gilt für philatelistische Fälschungen und ähnliche Sammlerobjekte. Neben Totalfälschungen kommt das Verfälschen sog. Reparatur — vor.
3. Ursachen
(Kriminalätiologie)
Die Ursachen der Urkundenfälschung sind, soweit sich das überblicken läßt, dieselben wie bei Betrug, Unterschlagung und vielen Wirtschaftsdelikten i. e. S. Was die tatauslösenden Faktoren anbetrifft, scheinen wichtiger als Unaufmerksamkeit und Sorglosigkeit des Getäuschten Dinge in der Sphäre des Täters sowie die für ihn sonst günstige Tatsituation zu sein. a) Dem Alter nach überwiegen bei der Urkundenfälschung mit Anteilen um 80 % Erwachsene, sie ist also ein typisches Erwachsenendelikt. Auf Heranwachsende stößt man vor allem bei Fälschungen im Zusammenhang mit dem Kraftfahrzeugverkehr. b) Die kriminelle Belastung der Geschlechter weicht nur wenig vom Durchschnitt ab. Sieht man von Notzeiten ab, so liegt der Anteil verurteilter Frauen nur wenig über 12-15 %. Ausschlaggebend dafür dürfte die soziale Position der meisten Frauen sein, welche - die Versorgung der Familie ausgenommen - kaum Gelegenheit zu solchen Machenschaften bietet. c) Intelligenz und Erziehung der Urkundenfälscher sind bisher kaum exakt zu beurteilen. Im Vergleich zum Durchschnitt der Straffälligen aber scheinen die Dinge hier günstiger zu liegen, was u. a. dar-
auf zurückzuführen ist, daß der Täter oft gewisse Fähigkeiten aufweisen muß, um in für Urkundenfälschungen besonders geeignete Positionen zu gelangen. d) Die soziale Lage ist, was den Ehestand anlangt, bei einem Erwachsenendelikt wenig aufschlußreich. Während die dennoch relativ hohe Belastung Lediger darauf beruhen mag, daß gerade junge Erwachsene mit gewichtigen Erscheinungsformen belastet sind, erklärt sich der hohe Anteil verheirateter Frauen zwanglos aus deren Rolle bei der Versorgung der Familie. Die wirtschaftliche Lage ist bei den Urkundenfälschern nicht sonderlich auffällig. Ihre finanziellen Verhältnisse sind überwiegend normal, ζ. T. sogar überdurchschnittlich; in Frankfurt a. M. hat man nur in 38,0 % der Fälle dürftige Verhältnisse festgestellt, weshalb diese Gesetzesverstöße weithin zu den Wohlstandsdelikten gezählt werden können. e) Das soziale Verhalten zeigt insoweit eine an den Betrug erinnernde Besonderheit, als die Belastung mit Vorstrafen den Durchschnitt deutlich übersteigt (Frankfurt a. Μ.: 59,2 %). Selbst wenn bei den Vortaten der Anteil der Urkundenfälschung relativ klein ist (11,4 %), sind des öfteren doch Betrug (26,9 %) und Unterschlagung (14,9 %) hier einschlägige Delikte. f) Zur Motivation läßt sich festhalten, daß bei Urkundenfälschungen in etwa der Hälfte der Fälle wirtschaftliche Motive dominieren oder mitwirken, wobei Gewinnsucht und dergleichen weit häufiger als wirtschaftliche Not zu sein pflegen (Frankfurt a. M.: 33,9 % : 14,7 %). Wichtiger als die wirtschaftliche ist die subjektive Not, wie sie ζ. B. bei Angst vor Strafe vorkommt (Frankfurt a. M.: 31,7 %), während Geltungsdrang oder fremdbezogene - misanthropische bzw. philanthropische - Motive noch hinter Leichtsinn und dergleichen zurückbleiben.
4. Täterpersönlichkeiten
(Tätertypologie)
Das zu den Ursachen Ausgeführte läßt bereits erkennen, daß bei einem nicht unbedeutenden Kem kriminogen defekter Persönlichkeiten die meisten Urkundenfälscher doch den Durchschnittstätern zuzurechnen sind. a) Trotz der hohen Zahl Vorbestrafter wird man nur etwa ein Drittel der wegen Urkundenfälschung Verurteilten als Rückfallstäter bezeichnen können. Hierbei aber handelt es sich überwiegend um kriminell besonders intensive antisoziale Rückfallstäter, bei denen die Urkundenfälschung nur ein Aspekt ihres sozialen Abnormverhaltens und ihrer gesellschaftsfeindlichen Einstellung ist. Noch geringer als der Anteil sozial hilfloser ist derjenige der asozialen Rückfallstäter; beim verbleibenden Drittel der Rückfallstäter wird man vermutlich von einem Verhältnis 5 : 1 ausgehen können, was bei dem Habitus der Asozialen nicht verwundern sollte.
Urkundendelikte b) Die Durchschnittstäter, auf die mithin zwei Drittel bis drei Viertel aller Verurteilungen entfallen, weisen durchweg keine konstantere Verhaltensabnormität auf. Neben den eigentlichen Durchschnittstätern haben nur noch die Konfliktstäter eine gewisse Bedeutung; man hat ihren Anteil auf 12-15 % aller Urkundenfälscher geschätzt. Entwicklungstäter sind mit Anteilen unter 10 % verhältnismäßig selten.
C. Kriminalistik Der bereits beim geschichtlichen Uberblick sichtbar gewordene Zusammenhang mit Handel und Wandel trifft gerade auch für die Urkundenfälschungen zu. Da diese - wie gesagt - des öfteren mit Betrug und anderen Vermögens- oder echten Wirtschaftsdelikten begangen werden, die durchweg als solche nur geringe Ansatzpunkte für einen Sachbeweis bieten, kommt kriminalistisch der Urkundenfälschung insoweit oft eine Schlüsselrolle zu, weil die Dinge hier ganz anders liegen. Kann man die Unechtheit einer Urkunde nachweisen, so sind damit gewöhnlich zugleich das Täuschungsmanöver und der betrügerische Vorsatz bewiesen.
1. Verbrechenstechnik In der kriminalistischen Verbrechenstechnik kommt es weniger auf den Unterschied von Totalund Teilfälschung (Verfälschen), sondern mehr auf die einzelnen Fälschermethoden an, welche sich zu fünf großen Gruppen zusammenfassen lassen. a) Die als Totalfälschung oder Verfälschung vorkommende Fälschung durch Handschrift erfolgt, sofern man das Verstellen der eigenen Handschrift als Sonderfall wertet, vor allem durch Nachahmen, Pausfälschung und freivollzogene Fälschung. Eine wirklich täuschende Nachahmung setzt voraus, daß der Täter die Originalschrift entweder kennt oder eine Vorlage von ihr besitzt. Diese fremde Handschrift versucht er sich einzuüben oder auf Anhieb nachzuahmen; Üben hat den Vorteil, daß man verkrampfte oder gehemmte Bewegungsabläufe vermeidet. Der Vorteil der Pausfälschung besteht darin, daß ohne Üben ein recht genaues Abbild der Originalschrift erzielt werden kann. Allerdings muß- der Täter beim Nachziehen die Originalspur genau treffen, um die Paustechnik zu verdecken; infolgedessen schreibt er oft langsam und stockend. Bei der freivollzogenen Fälschung nimmt der Fälscher keine Rücksicht auf die Originalschrift. Zu dieser Verbrechenstechnik muß er greifen, wenn er die Originalschrift nicht kennt, andere Fälschungsmethoden nicht beherrscht oder er im Beisein Dritter schreiben muß.
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Als Sonderfall der Handschriftenfälschung ist noch das Verstellen der eigenen Schrift, insbesondere der Unterschrift, zu erwähnen, womit Täter zuweilen einer Bindung zu entgehen suchen. b) Immer häufiger werden in unserer Zeit Fälschungen durch Schreibmaschine begangen. Der Erfolg einer solchen Manipulation setzt im allgemeinen voraus, daß der Täter eine für das erstrebte Original in Betracht kommende Maschine oder doch eine gleicher Art besitzt. Muß er jedoch eine andere als die Tatmaschine benutzen, so können bereits durch Abnutzung oder Bedienungsfehler entstandene Defekte verräterisch werden. Verfügt der Täter über die Original- oder eine geeignete Tatmaschine, so muß er bei der Fälschung ferner an die individuelle Schreibweise eines möglichen Schreibers denken. Besonders kompliziert ist das Verfälschen mit einer Schreibmaschine hergestellter Urkunden, weil neben den dann gewöhnlich notwendigen Radierungen das Einpassen der Schrift weitere Schwierigkeiten bereitet. c) Die Zahl der Druckfälschungen ist zwar viel geringer, doch sind Schaden und kriminelle Intensität hier oft besonders groß. Wichtig hierfür sind die Druckverfahren, mit denen Originalschriftstücke üblicherweise hergestellt werden. Der Fälscher muß also mit Verfahren wie Hoch-, Tief- oder Flachdruck beruflich oder auf andere Weise einigermaßen vertraut sein. Er sollte sich ferner darüber klar sein, ob das zu fälschende Druckerzeugnis im Hand- oder Maschinensatz angefertigt wird. Vorbehaltlich dieser Kenntnisse und Fähigkeiten, die insbesondere für kombinierte Druckverfahren wichtig sind, muß der Fälscher auf dem Original möglichst ähnliche Drucktypen achten. Neben dieser mehr drucktechnischen Seite spielt bei der kriminellen Aktion auch das Material eine beträchtliche Rolle. Ebenso wie um dem Original entsprechende Druckfarben muß sich der Fälscher um geeignetes Material für den Schriftträger bemühen. Dies ist besonders für Spezialurkunden wie Ausweispapiere, Wertpapiere usw., die man insoweit zu sichern pflegt, schwierig, weshalb sich die Fälscher das Material ζ. T. durch Diebstahl zu beschaffen suchen. d) Ähnlich kompliziert sind im allgemeinen Stempel- und Prägefäbchungen. Außer an Gummistempel und dergleichen ist hier an Metall und anderes Material zu denken. Bei Schriftstücken kann eine Prägefälschung entweder mittels eines nachgemachten Stempels oder aber durch Ubertragen eines echten Stempelabdrucks auf das Falsifikat begangen werden. Soll Metall als Schriftträger fungieren, so bedarf der Fälscher einer Stempelnachahmung, die nur bei einigen Vorkenntnissen gelingen wird. Gewöhnlich muß - etwa bei Motor- und Fahrgestellnummern - an der zu prägenden Stelle zunächst die alte Prägung beseitigt werden, was üblicherweise durch Abfeilen, Abmeißeln, Abschleifen oder Hämmern geschieht, sofern nicht überhaupt ein neues Metallstück eingesetzt wird. Erst dann wird
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Urkundendelikte
mit dem nachgemachten Schlagstempel erneut geprägt. e) Das Fälschen durch Radierung ist bei Teil- bzw. Verfälschung - wie angedeutet - oft eine vorbereitende Technik. Die Rasur dient aber nicht nur dazu, Buchstaben oder Zeichen zu entfernen, sondern kann sie auch schon als solche verändern. Im einzelnen lassen sich zwei Methoden der Rasur unterscheiden. Bei der mechanischen Rasur, die häufig keine allzu großen Vorbereitungen erfordert, wird je nach Art des Schreibmittels ein Radiergummi, ein Messer oder eine Rasierklinge benutzt, um bestimmte Schriftzeichen oder Teile derselben zu entfernen. Für eine chemische Rasur benutzt der Täter üblicherweise Oxydations- oder Reduktionsmittel in saurer oder alkalischer Lösung, ζ. B. Bleichmittel, aber auch Tintentod oder dergleichen. Werden mit Hilfe dieser Chemikalien Schriftzeichen ganz oder teilweise ausgewaschen, so gibt es im Schriftträger chemische Veränderungen, die der Täter begrenzt zu halten oder später zu verdecken sucht.
2. Kriminaltechnik Das zur Verbrechenstechnik Gesagte dürfte verständlich werden lassen, warum Urkundenfälschungen für den Kriminaltechniker vergleichsweise gute Ansatzpunkte bieten. Aus der Vielzahl der im Einzelfalle möglichen Untersuchungsmethoden können in diesem Rahmen nur diejenigen herausgegriffen werden, die speziell Urkunden betreffen, weshalb andere Methoden wie die der Daktyloskopie, der Biologie, insbesondere Mikrobiologie und der mit besonderen Strahlen arbeitenden Physik hier unberücksichtigt bleiben müssen. Außer dem weiten Feld der Urkundenuntersuchung, die sich auf das Material von Schriftträgern und Schreibmitteln konzentriert, was u. U. auch für Prägefälschungen wichtig ist, sollen daher nur die Methoden der Handschrift-, Maschinenschrift- und Druckschriftvergleichung behandelt werden. a) Im Gebiet der Urkundenuntersuchung gibt es so zahlreiche chemische, physikalische und gemischte Methoden, daß hier nur ein großer Überblick geboten werden kann. Bei der Materialuntersuchung des Schriftträgers handelt es sich ungeachtet der verschiedenen Arten der Beschriftung nahezu immer um Papier. Dessen Materialbeschaffenheit läßt sich, was Dicke, Gewicht, Glätte, Glanz, Farbe und Zerreißfestigkeit anlangt, physikalisch oder spezifischer mit Hilfe chemischer Methoden ermitteln. Diese sind insbesondere dann wichtig, wenn man durch Rasuren bewirkte Veränderungen feststellen möchte. Besondere Schwierigkeiten bereiten durch mechanische Wirkung, Wasser oder Hitze beschädigte Schriftstücke, die man aber dennoch weitgehend rekonstruieren und so beweismäßig nutzen kann.
Die kriminaltechnische Untersuchung von Schreibmitteln betrifft nicht nur das für Handschrift gebräuchliche Material, sondern erstreckt sich auf das von Maschinen- und Druckschrift. Denn wie die verschiedenen Tinten und Kugelschreiberpasten kann man Druck- und Stempelfarben chemisch schon in kleinen Mengen sehr genau - etwa mit Hilfe der Chromatographie - analysieren. Auf diese Weise kann man u. U. ihre Herkunft und vergleichend die Identität feststellen. Mit den bei Fälschungen häufigen Rasuren, die man ζ. T. auf diese Weise gut erkennen kann, hängt das Sonderproblem zusammen, inwieweit man beseitigte Schriftzeichen oder gar Prägezeichen wieder sichtbar machen kann, was je nach Schreibmittel und Schriftträger zwar verschieden, aber in erheblichem Umfange möglich ist. Die Kriminaltechnik kann Fälschungen u. U. auch auf andere Weise - ζ. B. mit Hilfe durchgedrückter, auf Löschpapier oder dergleichen übertragener Schriften — aufklären. b) Die Handschriftenuntersuchung ist einerseits ein besonderer Bereich der Urkundenuntersuchung, andererseits ein Teilgebiet der Psychologie. Wesentlicher Gegenstand der Schriftvergleichung ist die Handschrift als die von einer Person hinterlassene Bewegungsspur, die normalerweise relativ konstant und mehr oder minder unverwechselbar ist. Sie ist von der Graphologie zu unterscheiden, die aus der Schrift sogar etwas über den Charakter des Schreibers entnehmen zu können meint. Der Wert des Schriftvergleichs hängt einmal von der Menge und der Qualität des Schriftmaterials ab. Zu den inkriminierten Schriftstücken muß Vergleichsmaterial treten, das man sich zu diesem Zweck herstellen läßt oder - besser - auf andere Weise vom möglichen Schreiber beschafft. Zum anderen kommt es darauf an, daß die graphischen Befunde sicher und objektiv erhoben werden. Aufgabe der Schriftvergleichung ist es, durch Vergleich dieses Schriftmaterials den Schreiber zu identifizieren oder eine Urheberschaft eines Verdächtigen auszuschließen. Dabei ist zwischen der Schriftverstellung, bei welcher eine einzelne Übereinstimmung wenig besagt, und der Schriftnachahmung zu unterscheiden, die schwieriger festzustellen ist. Zuweilen kann die Identifizierung durch Sammlungen der Produkte schreibender Rechtsbrecher erleichtert werden. c) Die Untersuchung von Schreibmaschinenschriften hat in den vergangenen Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen. Abgesehen von den erwähnten chemisch-physikalischen Analysen hat man besondere Methoden für die Schreibmaschinensystembestimmung und Erfahrungssätze für die Identifizierung des individuellen Schreibers erarbeitet. Die Schreibmaschinensystembestimmung verfolgt das Ziel, aus der Schrift eines kriminaltechnisch relevanten Dokuments auf das System der benutzten Maschine (Fabrikat, Modell, Serie) zurückzuschließen. Man hat für diese Zwecke im Bundeskriminalamt
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Urkundendelikte ein Gerät entwickelt, das an Schriftart, -große und Formen der Zeichen anknüpfend diese Arbeit übernimmt. Die Identifizierung der so oder so ermittelten Tatmaschine hängt dagegen von weitergehenden spezifischen Charakteristika ab, die bis in den Mikrobereich gehen können, wenngleich sie durch Abnutzung oder anderweitig entstandene Defekte einer Schreibmaschine zuweilen relativ leicht auszumachen sind (Austausch von Typen, Zeilen- und Seitenabstand, Walzenjustierung, Typenverschmutzung). Bei Ermittlung des konkreten Maschinenschreibers sind neben typischen Schreib- und Zeichenfehlern vor allem Besonderheiten der Schreibweise (Raumausnutzung, Textgliederung, Korrekturgewohnheiten) wichtig, die viel charakteristischer sind, als man gemeinhin anzunehmen pflegt.
Erwähnt sei abschließend nur noch, daß alle diese Erkenntnisse sich zugleich präventiv nutzen lassen, um Urkundenfälschungen vorzubeugen oder doch dem Fälscher sein Handwerk zu erschweren. Sowohl beim Schriftträger als auch beim Schreibmittel lassen sich produktionstechnische Sicherungen einbauen, wie sie außer von Ausweisen und Wertpapieren vor allem von den Banknoten her bekannt sind. Auch die Form — ζ. Β. die Fixierung von Lichtbildern oder die Beschriftung — kann sicherer gestaltet werden. Dies alles ist für Kriminalprävention wichtiger als ferner selbstverständlich mögliche Vorkehrungen organisatorischer Art gegen solche Fälscherpraktiken.
d) Die Untersuchung von Druckschriften und sonstigen Druckerzeugnissen nutzt neben den Methoden der allgemeinen Urkundenuntersuchung vor allem Erkenntnisse der Drucktechnik, wobei sich drei Komplexe unterscheiden lassen. Der Sachverständige stellt zunächst einmal das Druckverfahren bzw. die Kombination mehrerer solcher fest. Sodann befaßt er sich mit dem benutzten Drucksatz (ζ. B. Hand- oder Maschinensatz), um schließlich sein Augenmerk auf den verwendeten Schrifttyp zu richten, der mit Besonderheiten und Defekten u. U. bereits auf eine bestimmte Druckereianlage hinweisen kann.
ΙΠ. FALSCHBEURKUNDUNG
3. Kriminaltaktik Kriminaltaktisch sind Urkundenfälschungen vor allem deshalb interessant, weil die Fälschung in aller Regel nicht Endzweck ist, sondern sie als Mittel zu einem anderen kriminellen Zweck dient. Da es bei Verdacht einer Urkundenfälschung vor allem um Sachbeweise geht, ist die Fahndung nach verdächtigen Urkunden wichtig, sofern man nicht - wie häufig - bei anderen Strafsachen auf sie stößt. Der Verdacht einer Fälschung kann außer durch den Inhalt auch durch den Zustand des Schriftstücks (Schriftträger, Schreibmittel und insbesondere die Schrift selbst) erweckt werden. Das Falsifikat kann mit Hilfe kriminaltechnischer Untersuchungen ggf. Anhaltspunkte für den Tatverdächtigen oder einen insoweit in Betracht kommenden Personenkreis bieten, also für die Personenfahndung von Nutzen sein. Diese ist ζ. T. deshalb nötig, weil sich nur so das für genauere kriminaltechnische Untersuchungen wichtige Vergleichsmaterial beschaffen läßt. Neben Sachbeweisen und Sachverständigen sind bei Verdacht derartiger Urkundendelikte aber auch die Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten wichtig, die allerdings durch Sachbeweise, die man zum Vorhalt nutzen kann, erheblich erleichtert werden. Alles in allem reicht die kriminaltaktische Bedeutung oft weit über den Bereich der eigentlichen Urkundenfälschung hinaus.
Im Rahmen der Falschbeurkundung sind - wie angedeutet — weniger aus rechtlichen, sondern mehr wegen der tatsächlich unterschiedlichen Strukturen von der unmittelbaren Falschbeurkundung im Amt die Fälle der mittelbaren Falschbeurkundung zu unterscheiden. Die vom zuständigen Urkundsbeamten begangene, unmittelbare Falschbeurkundung weist sowohl kriminologisch als auch kriminalistisch eine ganze Reihe von Besonderheiten auf, die jedoch sicher noch nicht hinreichend erforscht sind.
A. Kriminologie der unmittelbaren Falschbeurkundung Gerade die Kriminologie macht deutlich, daß die Falschbeurkundungen ganz anders als die Urkundenfälschungen strukturiert sind. Obwohl manches für unmittelbare wie für mittelbare Falschbeurkundungen gilt, soll die letztgenannte Form kriminellen Verhaltens hier doch gesondert behandelt werden.
1. Entwicklung und praktische Bedeutung Die zahlenmäßig gegenüber Urkundenfälschungen zurücktretenden unmittelbaren Falschbeurkundungen zeigen von 1900 an eine ständige und erhebliche Zunahme bis 1932 (Kriminalitätsziffern — 1902: 0,15; 1932: 0,65), eine bei kleinen Ausgangswerten nahezu vervierfachte kriminelle Belastung. Dagegen liegen die Zahlen nach dem 2. Weltkrieg nicht nur tiefer, sondern nehmen überdies beständig ab (Kriminalitätsziffern - 1950: 0,23; 1970: 0,06); allerdings ist nach 1970 auch hier ein Stagnieren bzw. eine gewisse Zunahme zu beobachten. Den 45 Verurteilungen des Jahres 1973 (mit Urkundenfälschung im Amt) entspricht eine Kriminalitätsziffer 0,095. Die Verurteilungsquote ist etwas günstiger als bei der Gesamtkriminalität, wenngleich auch hier sehr viel weniger Täter angeklagt werden als die Po-
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Urkundendelikte
lizei für ermittelt hält; doch ist die Divergenz nicht ganz so groß wie bei der Urkundenfälschung. Da sich über die Aufklärungsquote, die bei allen Urkundendelikten aus denselben Gründen hoch liegt, nichts Genaueres sagen läßt, bleibt nur noch die Schätzung der Dunkelziffer problematisch; sie dürfte höher als bei anderen Amtsdelikten liegen, für welche man insgesamt ein Verhältnis von 1 : 2 oder 3 annimmt. Vermutlich werden die Dinge insoweit ähnlich wie bei der Urkundenfälschung ( 1 : 4 oder 5) liegen. Während sich die Zunahme der unmittelbaren Falschbeurkundungen bis zum 2. Weltkrieg unschwer aus wachsendem Wirtschaftsverkehr und erhöhter staatlicher Aktivität ergeben dürfte, überrascht der danach zu verzeichnende Rückgang. Dieser kann einstweilen nur so erklärt werden, daB eine besser funktionierende Verwaltung sich durch genauere Vorschriften und Kontrollen bremsend auswirkt, was die Urkundsbeamten der Bundesrepublik aber zugleich auch für sich buchen können.
(
fahren zu denken, durch welche der Beamte eigene Versäumnisse oder Fehler zu verdecken sucht. e) Aus denselben Gründen sind auch Falschbeurkundungen bei Post und Bahn recht häufig. Außer Zustellungen kommt ζ. B. bei der Post der Zahlungsverkehr in Betracht, bei welchem man auf diese Weise Nachlässigkeiten oder Unterschleife zu verschleiern versuchte. f) Falschbeurkunden bei Finanz- und Zollbehörden sind dagegen seltener, was trotz sich bietender Anreize auf intensivere Kontrollen zurückzuführen sein dürfte. g) Dafür sprechen u. a. die mit etwa 15 % etwas häufigeren Falschbeurkundungen im Lebensmittelund Veterinärwesen, wie sie ζ. B. von Tierärzten und Fleischbeschauern begangen werden. h) Schließlich gibt es zuweilen Falschbeurkundungen in der allgemeinen und in der Gemeindeverwaltung. Hier scheinen kleinere Dienststellen und insbesondere Bürgermeister kleiner Gemeinden, welche Beurkundungen durchzuführen haben, besonders gefährdet zu sein.
2. Erscheinungsformen Kriminalphänomenologie) 3. Ursachen
Die Situation der unmittelbaren Falschbeurkundung wird schon deshalb - allgemein betrachtet den anderen Urkundendelikten entsprechen, weil öffentliche Beurkundungen sich nach der staatlichen Verwaltung richten, weshalb Städte und insbesondere GroBstädte überbelastet sind. Tatort und Tatmittel sind kaum interessant, die finanziellen Schäden überwiegend gering. Bei den besonderen Erscheinungsformen kann man sich nach dem bisher vorliegenden dürftigen Material nur an der Art der öffentlichen Urkunde orientieren, um den Hintergrund dieser Taten aufzuhellen. a) Falschbeurkundungen im Personenstandswesen spielen schon beim Amtsdelikt eine nicht unerhebliche Rolle. Neben den Geburts- sind die Heiratsregister gefährdet, zu welchen auch das Aufgebotsverfahren zu rechnen ist. b) Im Zusammenhang damit stehen die Falschbeurkundungen im Ausweis- und Meldewesen, bei welchen es gleichfalls um eine unrichtige Identität geht. Das Gewicht dieser Form wird verständlich, wenn man an Legitimationspapiere wie Führungszeugnisse und Gewerbescheine denkt; das unwahre Dokument soll zu einer verbesserten Lebensposition oder zu erhöhter sozialer Anerkennung verhelfen. c) Relativ häufig sind femer Falschbeurkundungen im Zusammenhang mit dem privaten Verkehrswesen, wobei es vor allem - aber nicht nur - um Kfz-Führerscheine geht. d) Der größte Anteil mit etwa 25-33 % aber dürfte auf Falschbeurkundungen im Justiz- und Notariatsbereich entfallen. Außer an falsche Angaben in Protokollen und Gefangenenbüchern ist bei Verstößen gegen § 348 StGB an Zustellungsurkunden in Gerichts- und insbesondere Vollstreckungsver-
(Kriminalätiologie)
Selbst wenn der vermögensdeliktische Hintergrund nicht ganz so ausgeprägt ist wie bei der Urkundenfälschung, so ist doch auch die unmittelbare Falschbeurkundung als ein Delikt des sozialen und wirtschaftlichen Verkehrs anzusehen, bei welchem allerdings die staatlich-administrative Komponente stärker hervortritt. Trotz der in den letzten Jahrzehnten günstigen Entwicklung wird sich zeigen, daß nicht selten Nachlässigkeit der Urkundsbeamten oder ihrer Vorgesetzten dabei eine wichtige Rolle spielt. Mangelnde Kontrollen der oft selbständig arbeitenden Urkundsbeamten sind als günstige Tatsituationen zugleich der wichtigste tatauslösende Faktor. a) Die kriminelle Belastung des weiblichen Geschlechts hat sich zwar nach dem 2. Weltkrieg verdoppelt, liegt aber immer noch erheblich unter dem Durchschnitt; allerdings bleibt fraglich, ob sich der Anteil der Frauen speziell bei den Urkundsbeamten ebenso wie sonst im öffentlichen Dienst vermehrt hat. b) Dem Alter nach sind die Erwachsenen und vor allem die älteren von ihnen besonders belastet, was daraus resultieren dürfte, daß man erst verhältnismäßig spät in die Position eines Urkundsbeamten zu gelangen pflegt. c) Hinsichtlich Intelligenz und Erziehung kann man bei diesem Amtsdelikt infolge der vorausgesetzten Qualifikation sicher durchschnittliche bzw. günstige Verhältnisse erwarten. Ähnlich ist es mit der sozialen Lage bei den Tätern, die zu 90 % im Staatsdienst tätig sind. Schon deshalb zeigt das soziale Verhalten viel seltener als sonst bei Straftätern Auffälligkeiten.
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Urkundendelikte d) Für die Motivation sind bei der Falschbeurkundung im Amt nicht selten wirtschaftliche Motive vor allem Gewinnsucht (man schätzt 33,3 %) - ausschlaggebend. Während Geltungsdrang und subjektive Not nur eine untergeordnete Rolle spielen, kommen häufiger fremdbezogene Motive - vor allem philanthropischer Art - vor. Überraschend ist der hohe Anteil von Motivationen, die sich mit Nachlässigkeit, Bequemlichkeit und dergleichen letztlich auf Leichtsinn zurückführen lassen (Lorenz: 36,5 %); selbst wenn das Material hier etwas verzerrend gewirkt haben mag, läßt sich die Bedeutung dieser Motivgruppe angesichts der wesentlichen Erscheinungsformen doch nicht von der Hand weisen.
nicht nur die Hintergründe komplizierter, sondern ist oft die Arbeitsweise eine etwas andere. Im übrigen ist für das Vorgehen des Urkundsbeamten ausschlaggebend, in welcher Funktion und zu welchem Zweck er etwas beurkundet, d. h. um welche Art von öffentlicher Urkunde es sich handelt. Der allein handelnde Urkundsbeamte verdeckt nicht selten mit den unrichtigen Angaben eigene Fehler und Versäumnisse, was vor allem dann erkannt wird, wenn ein Dritter dadurch Nachteile erleidet. Bei Kooperation mit Außenstehenden wird die Falschbeurkundung oft nicht entdeckt, weil davon dieser Komplize und nicht selten der Beamte selbst profitieren.
2. Kriminaltechnik 4. Täterpersönlichkeiten (Tätertypologie) Die Tätertypologie kann bei der Falschbeurkundung im Amt naturgemäß nicht das übliche kontrastreiche Bild bieten. a) Immerhin kommt man, wenn man auf kriminologisch einschlägigen Rückfall abstellt, doch auf Anteile von 25-30 % von Rückfallstätern; und hierbei handelt es sich durchweg um Antisoziale, die sich durch wiederholte Falschbeurkundung eine ständige Einnahmequelle schaffen. Sozial hilflose Rückfallstäter sind selten, Asoziale gibt es kaum, da sie regelmäßig keine Chance haben, im öffentlichen Dienst eingestellt zu werden. b) Bei den Durchschnittstätern gibt es, da aus Altersgründen kaum jemals Entwicklungstäter zu verzeichnen sind, neben der großen Zahl derjenigen, die sich in ihrer Lebensweise überhaupt nicht vom Durchschnitt unterscheiden, dann und wann Konfliktstäter. Ist somit die tätertypologische Situation sehr viel einfacher als bei anderen Straftaten, muB man doch die vergleichsweise hohe Zahl antisozialer Rückfallstäter im Auge behalten, mit denen hier mancher nicht gerechnet haben dürfte.
B. Kriminalistik Kriminalistisch ist in Fällen der unmittelbaren Falschbeurkundung ausschlaggebend, daß der vorsätzlich handelnde Urkundsbeamte „bösgläubig" die Unwahrheit beurkundet.
1. Verbrechenstechnik Bei der demzufolge gleichförmigen Verbrechenstechnik hängt die Tatausführung zunächst einmal davon ab, ob der Urkundsbeamte allein oder zusammen mit anderen handelt, für welche die Falschbeurkundung dann gewöhnlich einen Vorteil erbringen soll. Denn bei einer solchen Kooperation sind
Die Möglichkeit kriminaltechnischer Untersuchungen ist in diesen Fällen recht begrenzt. Denn auf einen Sachbeweis kommt es in solchen Ermittlungsverfahren nur an, wenn damit die inhaltliche Unrichtigkeit des Beurkundeten dargetan werden kann. Dazu ist aber nur selten ein Sachverständiger erforderlich; welcher Experte dann in Betracht kommt, richtet sich vor allem nach dem Inhalt des Beurkundeten.
3. Kriminaltaktik Gerade wegen der insgesamt wenig signifikanten Verbrechenstechnik und der beschränkten Möglichkeiten der Kriminaltechnik bietet die Kriminaltaktik bei den unmittelbaren Falschbeurkundungen die meisten Probleme für den Kriminalisten. Da der Urkundsbeamte nicht zu Fälschungspraktiken zu greifen braucht, sondern es auf die inhaltliche Unrichtigkeit der öffentlichen Urkunde ankommt, sind bei diesen Verfahren Personalbeweise wichtiger als Sachbeweise, mit denen ggf., sofern das einmal strittig sein sollte, dargetan werden könnte, daß der betreffende Beamte wirklich diese Urkunde hergestellt hat. Im übrigen aber kommt es darauf an, durch Vernehmungen herauszufinden, ob der Urkundsbeamte als Alleintäter oder als bösgläubiger Komplize eines Dritten gehandelt hat; denn in diesen Fällen müssen seine Kontakte, die auch für die hier möglicherweise anders liegenden Motive wichtig sind, ermittelt werden. Besondere Schwierigkeiten bereitet es u. U., dem Urkundsbeamten vorsätzliches Handeln, insbesondere das Wissen um die Unrichtigkeit des zu öffentlichem Glauben Beurkundeten zu beweisen. Dies aber ist gerade für die Strafbarkeit wegen unmittelbarer Falschbeurkundung wichtig. In Fällen der mittelbaren Falschbeurkundung ist die Situation bei gewissen Gemeinsamkeiten für Kriminologen und vor allem für Kriminalisten doch eine etwas andere als beim entsprechenden Amtsdelikt.
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Urkundendelikte C. Kriminologie der mittelbaren Falschbeurkundung
Dies zeigt bereits die Kriminologie der mittelbaren Falschbeurkundung, die in einigen Punkten bemerkenswert von der vom Urkundsbeamten begangenen Tat abweicht.
I. Entwicklung und praktische Bedeutung Die deutlich höher liegenden Verurteiltenzahlen der Nichtbeamten wegen mittelbarer Falschbeurkundung zeigen bis zum 2. Weltkrieg zwar ebenfalls eine, jedoch nicht so regelmäßige und starke Zunahme (Kriminalitätsziffern - 1902: 1,29; 1925: 2,65; 1932: 1,14). Doch danach ist hier gleichfalls eine stetige und viel stärkere Abnahme als beim Amtsdelikt festzustellen (Kriminalitätsziffern — 1950: 1,55; 1970: 0,13), wenngleich diese Tendenz nach 1970 wieder schwindet; im Jahre 1973 entspricht 87 Verurteilungen eine Kriminalitätsziffer 0,18. Bezüglich der Unsicherheitsfaktoren ist hier das oben Gesagte nur insoweit zu ergänzen, als die Freispruchs- und Einstellungsquote etwas größer ist, was wegen der Beweisschwierigkeiten einleuchten sollte. Die Dunkelziffer dürfte ebenfalls etwas höher als bei der unmittelbaren Falschbeurkundung sein ( 1 : 5 oder 6), da der Beamte nichts bemerkt und der Täter schweigen wird, zumal er begünstigt wird bzw. Strafe befürchten muß; derartige Taten werden am ehesten ruchbar, wenn dadurch Dritte benachteiligt werden, die sich zudem zur Wehr setzen müßten.
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2. Erscheinungsformen Kriminalphänomenologie)
Kriminalphänomenologisch ist zwar das Bild dasselbe wie bei der Falschbeurkundung im Amt, verschieben sich aber die Gewichte der Erscheinungsformen etwas, weil hier die Interessen des Dritten ausschlaggebend sind. a) Daher dürften die Falschbeurkundungen im Personenstandswesen mehr an Gewicht gewinnen, weil unrichtige Angaben gewöhnlich mehr im Interesse des Erklärenden - ζ. Β. der unehelichen Mutter oder des „falschen" Vaters - liegen. b) Ähnlich verhalten sich die Dinge bei der mittelbaren Falschbeurkundung im Ausweis- und Meldewesen; denn auch hier werden unrichtige Angaben auf vorgelegten Dokumenten oft leichtgläubig beurkundet. c) Dasselbe gilt schließlich für Falschbeurkundungen im Zusammenhang mit dem privaten Verkehrswesen, weil die Unrichtigkeit der Angaben regelmäßig den Interessen des Bürgers zugute kommt. d) Die für die unmittelbare Falschbeurkundung wichtige Form der Falschbeurkundungen im Justiz-
und Notariatsbereich wird dagegen bei den Verstößen gegen die §§ 271 ff. StGB etwas zurücktreten, weil Eigeninteressen des Beamten hier keine Rolle spielen; allerdings wirken sich diese Taten mitunter doch ebenfalls zum Nachteil Dritter aus. e) Ähnlich ist dies bei der Falschbeurkundung bei Post und Bahn, wo es eben nicht selten um das Verdecken von Mängeln der Zustellung ging. f) Dagegen dürfte der Anteil mittelbarer Falschbeurkundungen bei Finanz- und Zollbehörden hier eher größer sein; denn der Steuerschuldner ist regelmäßig daran interessiert, den Beamten zu überfahren. g) Inwieweit das für Falschbeurkundungen im Lebensrnittel· und Veterinärwesen zutrifft, läßt sich bisher nicht sagen, zumal da es hier mehr auf Kontrolle durch Beamte als auf Angaben des Bürgers ankommt. h) Eher schon könnten die bei § 348 StGB nicht häufigen Falschbeurkundungen in der allgemeinen und in der Gemeindeverwaltung bei mittelbarer Begehung bedeutsamer sein.
3. Ursachen
(Kriminalätiologie)
Auch die Ursachen der mittelbaren Falschbeurkundung weichen etwas von denen der Falschbeurkundung im Amt ab. a) Das weibliche Geschlecht ist mit diesen Taten mehr und sogar im Verhältnis zur Gesamtkriminalität überbelastet, weil sich angesichts der sozialen Bedeutung öffentlicher Urkunden die geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht sonderlich auswirken. b) Im Alter weichen diese Delikte, wenn man einmal von jungen Tätern absieht, nur wenig vom Durchschnitt der Gesamtkriminalität ab, wenngleich ältere Jahrgänge etwas mehr belastet zu sein scheinen. c) Intelligenz und Erziehung sowie soziale Lage entsprechen anders als oben mehr dem Bevölkerungsdurchschnitt. Das soziale Verhalten läßt bei einem hier hohen Anteil Vorbestrafter vermuten, daß ein nicht geringer Anteil dieser Kriminalität auf das Konto kriminogener Täter geht. d) Überraschen mag, daß für die Motivation nach dem bisher vorliegenden Material wirtschaftliche Gründe in Form von Gewinnsucht hier eine noch geringere Rolle spielen (Lorenz: 29,2 %), man dafür aber eher auf wirtschaftliche Not trifft. Im Gegensatz zum Amtsdelikt kommt ichbezogenen Motiven wie subjektiver Not oder Geltungsdrang das stärkste Gewicht zu (Lorenz: 43,8 %), was zwar überraschen, aber angesichts der wichtigen Erscheinungsformen nicht verwundern kann. Während der Urkundsbeamte relativ häufig aus Mitleid handelt, spielt dies ebenso wie die oben wichtigste Motivgruppe des Leichtsinns bei Verstößen gegen die §§ 271 ff. StGB kaum eine Rolle.
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Urkundendelikte Insgesamt zeigt die Kriminalätiologie also, daß man ungeachtet der beiden Deliktstypen gemeinsamen Falschbeurkundungen doch differenzieren muB.
daß diese unecht oder unwahr sind, ist nicht nur für die Unrichtigkeit der so manipulierten öffentlichen Urkunde, sondern zugleich für den Vorsatz des Täters wichtig.
4. Täterpersönlichkeiten (Tätertypologie)
3. Kriminaltaktik
Dies bestätigt sich in der Tätertypologie. a) Der Anteil der Rückfallstäter dürfte hier merklich größer sein (Lorenz: 30-40 %), wobei wir es allerdings weniger mit Antisozialen zu tun haben (wohl zu tief Lorenz: 5 %). Bedeutsamer als der Anteil asozialer dürfte der sozial hilfloser Rückfallstäter sein. b) Da Entwicklungstäter hier ebenfalls kaum in Betracht kommen, dürften bei den verbleibenden 60-70 % der Durchschnittstäter die Konfliktstäter beträchtliches Gewicht haben; ihr Verhältnis zu den eigentlichen Durchschnittstätern könnte etwa 3 : 4 oder 5 entsprechen.
Entsteht durch Kontrollen oder durch die Aussage eines Benachteiligten der Verdacht einer mittelbaren Falschbeurkundung, so muß zunächst eine Mitwisserschaft des Urkundsbeamten einwandfrei ausgeschlossen werden, weil sonst § 348 StGB anzuwenden wäre. Ist der Beamte aber gutgläubig gewesen, so kann man bei ihm regelmäßig mit Kooperation rechnen, weshalb seine Aussage ggf. zum Hintermann und Täter zu führen vermag. Das Verfahren hängt mithin insoweit von Vernehmungen ab, bei denen man ggf. die Ergebnisse kriminaltechnischer Untersuchungen zum Vorhalt nutzen kann. Zunächst aber muß durch Zeugenvernehmung des Beamten geklärt werden, aufweiche Weise er getäuscht und so zu einer Falschbeurkundung gebracht worden ist. Nur oder erst sobald ein Tatverdächtiger verfügbar ist, können neben seiner Aussage auch Sachbeweise zur Rekonstruktion des Tathergangs beitragen.
D. Kriminalistik der mittelbaren Falschbeurkundung Eher noch unübersichtlicher als die unmittelbare ist kriminalistisch die mittelbare Falschbeurkundung, bei welcher ein Außenstehender einen (bösgläubigen) Urkundsbeamten mißbraucht, um eine unwahre öffentliche Urkunde zu bewirken.
1. Verbrechenstechnik Im Rahmen der Verbrechenstechnik wird man unterscheiden müssen, ob der Dritte, der den Beamten zur unwahren Beurkundung veranlaßt, nur mit unrichtigen Angaben operiert oder ob er zu diesem Zweck unechte bzw. unwahre Urkunden täuschend verwendet. Lediglich unrichtige Angaben findet man des öfteren in Strafsachen oder im Strafvollzug, weil man hier wegen der für den Betreffenden zu erwartenden Nachteile eine genaue Prüfung unterläßt. Häufiger jedoch arbeitet der Dritte als Täter der Falschbeurkundung zugleich mit unechten Urkunden; deshalb ist hier der Gesichtspunkt der Urkundenfälschung zu beachten. Wichtig ist dies außer für Beurkundungen des Personenstands für öffentliche Urkunden im Zusammenhang mit einer Bewirtschaftung.
2. Kriminaltechnik Eher als beim Verdacht unmittelbarer Falschbeurkundung kommt es daher bei mittelbarer Falschbeurkundung zu kriminaltechnischen Untersuchungen, welche vor allem vom Täter verwendete Dokumente und Urkunden betreffen. Denn der Beweis,
IV. BEEINTRÄCHTIGEN DES BEWEISWERTES VON URKUNDEN Abschließend ist kurz auf diejenigen Urkundenstraftaten einzugehen, die darauf abzielen, den Beweiswert von Urkunden zum Nachteil von Beweisinteressenten zu beeinträchtigen. Denn die hier vor allem wesentlichen Deliktstypen der Urkundenunterdrückung und Grenzverrückung weisen, obwohl sie zahlenmäßig und gewöhnlich auch an Gewicht gegenüber Urkundenfälschung und Falschbeurkundung zurücktreten, doch einige kriminologisch und kriminalistisch interessante Aspekte auf, wenngleich alles noch wenig erforscht ist. Da sich die Praktiken der Urkundenunterdrükkung auf echte und wahre Urkunden beziehen, sind sie naturgemäß ganz anders geartet als bei den bisher behandelten Urkundendelikten.
A. Kriminologie der Urkundenunterdrückung Die Tatsache, daß die kriminologische Forschung diesen Deliktstyp bisher ignoriert hat, bewirkt, daß mehr Probleme aufzuzeigen als Erkenntnisse vorzuweisen sind. Deshalb müssen wir uns hier auf Kriminalstatistik und Kriminalphänomenologie beschränken; denn über die Ursachen dieser Kriminalität und die Delinquenten läßt sich bisher nichts Fundiertes sagen.
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Urkundendelikte I. Zur praktischen Bedeutung
Da die Kriminalstatistik alle Verurteilungen nach § 274 StGB - die häufigeren Urkundenunterdrükkungen mit der Grenzverrückung - zusammenfaßt, läßt sich nur die vergleichsweise geringe praktische Bedeutung dieser Gesetzesverstöße dartun, weil sich über Entwicklung und Tendenzen nichts Konkretes sagen läßt. Wurden ζ. B. im Bundesgebiet 1963 insgesamt 151 Personen nach dieser Vorschrift verurteilt, so waren es 1973 nur 122, was jedoch der Abnahme bei allen Urkundendelikten entsprechen könnte. Allerdings wird die wirkliche Zahl derartiger Straftaten größer sein, da sie nicht nur häufig im Zusammenhang mit anderen, schwereren Straftaten begangen, sondern vermutlich oft überhaupt nicht entdeckt werden.
2. Erscheinungsformen ( Kriminalphänomenologie) Kriminalphänomenologisch dürfte der Zweck dieser Taten aufschlußreicher als die Art der betroffenen Urkunden sein, aus welcher man keineswegs immer darauf schließen kann. Sicherlich kann dann und wann die im Gesetz genannte Nachteilsabsicht ausschlaggebend sein, doch wird es in aller Regel darauf ankommen, welche Vorteile sich der Rechtsbrecher von seiner Tat verspricht. Beweisvereitelung und -erschwerung können sich einmal im Rahmen schwebender Verfahren oder sonst - man denke an Testamentsbeseitigung - zu seinem finanziellen Vorteil auswirken. Zum anderen kann er durch Vernichten oder Beschädigen für ihn ungünstiger Beweise bzw. andere Praktiken soziale Nachteile vermeiden, die ihm etwa in einem Ehescheidungs- oder gar einem Strafverfahren drohen. Obwohl es sich durchweg nicht um kriminell intensive Verhaltensweisen handeln dürfte, wäre es nach allem doch zu begrüßen, wenn man diesen Bereich genauer untersuchen würde.
B. Kriminalistik der Urkundenunterdrückung Die relativ alten Praktiken der Urkundenunterdrückung ähneln in mancher Hinsicht anderen Formen kriminellen Verhaltens, was kriminalistisch zu beachten ist.
I. Verbrechenstechnik Die Verbrechenstechniken der Urkundenunterdrückung lassen sich, obwohl das Material dürftig ist, zumindest zu zwei großen Gruppen zusammenfassen; bei beiden ist mit Tatspuren zu rechnen.
Zerstören und Beschädigen bedeuten Gewalt gegen die Urkunde als Sache, weshalb das Verhalten dieser Täter dem bei einer Sachbeschädigung ähnelt. Dagegen ist die Situation beim Unterdrücken teilweise ähnlich wie bei einer Wegnahme, d. h. beim Diebstahl, während das bloße Vorenthalten weniger Spuren bewirken dürfte, wenngleich es ζ. T. Praktiken der Hehlerei entspricht. 2. Kriminaltechnik Insgesamt aber sind die Möglichkeiten der Kriminaltechnik in Fällen der Urkundenunterdrückung demnach recht günstig. Kommt es beim Zerstören oder Beschädigen auf ähnliche Methoden wie beim Verdacht einer Sachbeschädigung an, so ist zu beachten, daß es selbst nach einer „Zerstörung" keineswegs nur um Identifizieren der Rückstände geht; vielmehr kann man unter günstigen Umständen selbst auf verkohltem Papier Schriftzüge wie auch beseitigte Prägezeichen wieder sichtbar machen oder zerrissene Urkunden rekonstruieren. Noch besseren Erfolg versprechen die Methoden der. Urkundenuntersuchung, wenn es lediglich zu einer Beschädigung gekommen ist. Erfolgt das Unterdrücken einer Urkunde durch Wegnahme, so ist an die bei Diebstählen möglichen Untersuchungen zu denken, die insbesondere bei Einbruch oder anderen schweren Diebstählen Rückschlüsse auf die Tatausführung zulassen; im übrigen ist man in diesen Fällen auf die Urkunde oder ihre Uberreste angewiesen.
3. Kriminaltaktik Diese kriminaltechnischen Möglichkeiten bestimmen zugleich das kriminaltaktische Vorgehen, sobald sich der Verdacht einer Urkundenunterdrükkung erhebt. Die Ausgangslage ist oft unsicher, weil andere etwas von der Existenz der Urkunde wissen müssen. Bei der Fahndung kommt es vor allem auf die fragliche Urkunde, ihren Verbleib und Anhaltspunkte für die Tatausführung an, wobei die Ermittlungen natürlich durch Aussagen desjenigen erleichtert werden können, der am betreffenden Beweis interessiert ist. Die dergestalt zu erzielenden Sachbeweise bewirken eine gute Position für Vernehmungen. Im übrigen ist es wichtig, den Tatverdächtigen zu ermitteln und durch seine Aussagen oder die Vernehmgung weiterer Zeugen zu überführen. Die Grenzverrückung, das wohl älteste Urkundendelikt, spielt in der gegenwärtigen Praxis - wie wir bei der Urkundenunterdrückung gesehen haben - nur noch eine ganz untergeordnete Rolle, weil andere Methoden die Grenze sicherer als diese Zeichen beweisen. Dennoch sind sowohl kriminologisch als gerade auch kriminalistisch einige Hinweise angezeigt.
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Urkundendelikte C. Kriminologie der Grenzverrückung Kriminologisch ist die Situation allerdings noch unbefriedigender als bei der Urkundenunterdrükkung, zumal da nur der kleinere Teil der dort genannten Verurteilungen auf diesen Deliktstyp entfällt. Aber gerade da sich infolgedessen kriminalpolitisch die Frage aufdrängt, ob eine solche Strafvorschrift in unserer Zeit überhaupt noch erforderlich ist, sollte diese Materie kriminologisch genauer erforscht werden. Denn für eine gesicherte Antwort muß man wissen, aus welchen Gründen und in welcher Form es gegenwärtig noch zu solchen Gesetzesverstößen kommt. Manches spricht dafür, daß es sich um relativ simple Praktiken und um entsprechende Täterpersönlichkeiten handelt, weshalb man u. U. auf eine solche Kriminalisierung verzichten sollte. D. Kriminalistik der Grenzverrückung Ungeachtet dieser kriminalpolitischen Problematik mag überraschen, daß so uralte Verbrechenstechniken wie die der Grenzverrückung gerade mit den Mitteln der modernen Kriminaltechnik relativ leicht aufzuklären sind. 1. Verbrechenstechnik Bei der Tatausführung lassen sich von den der Sachbeschädigung ähnlichen Verbrechenstechniken des Vernichtens oder Unkenntlichmachens eines Grenzsteins oder ähnlicher Grenzzeichen einmal die Wegnahme und zum anderen das Verrücken bzw. fälschliche Setzen unterscheiden, welche noch am ehesten als eine fälschende bzw. täuschende Manipulation zu verstehen sind.
2. Kriminaltechnik Das strafbare Verrücken von Grenzsteinen und ähnliche Taten kann man kriminaltechnisch einmal durch die Manipulationen am betreffenden Objekt und zum anderen dadurch beweisen, daß man Veränderungen am Tatort nachweist, um vom Beweis eines unrichtigen Standorts durch vermessungstechnische Methoden ganz abzusehen; denn dies versteht sich in zweifelhaften Fällen von selbst. Besteht der Verdacht des Vernichtens oder Beschädigens, so sind ähnliche Untersuchungsmethoden wie bei der Sachbeschädigung indiziert, während bei Wegnahme die Möglichkeiten der Tatortuntersuchung ähnlich wie bei Einbruchsdiebstahl oder Gewalttaten sind. 3. Kriminaltaktik Die in der Praxis seltenen Fälle der Grenzverrükkung lassen sich, sofern überhaupt ein solcher Ver-
dacht entstanden ist, daher relativ leicht mit Hilfe kriminaltechnischer Methoden klären. Vernehmungen haben mehr ergänzenden Charakter und sind vor allem für den mitunter problematischen Nachweis vorsätzlichen Handelns wichtig. Blickt man auf die Geschichte zurück, so haben sich die Gewichte der Urkundendelikte völlig verschoben. Denn heute kommt es außer auf die Urkundenfälschungen vor allem auf die Falschbeurkundungen an, deren Bedeutung für den Wohlfahrts- und Verwaltungsstaat man nicht unterschätzen sollte. Allerdings ist hier deutlicher als üblich zwischen unmittelbarer und mittelbarer Falschbeurkundung zu unterscheiden. Uberhaupt zeigen die Urkundendelikte nicht nur gut, wie Kriminologie und Kriminalistik einander ergänzen, sondern wird zugleich augenscheinlich, wie wichtig diese Disziplinen für eine überzeugende Anwendung und Entwicklung unseres Strafrechts sind.
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Urkundendelikte
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GEERDS
WILDEREI I. STRAFRECHTLICHE FRAGEN A. Die gesetzliche Regelung Die Tatbestandsmerkmale der Wilderei sind weder in der Jägerschaft noch in der Bevölkerung vollständig bekannt. Allgemein geht man zutreffend davon aus, daß das unbefugte Erlegen und Mitnehmen von Wild aus einem Jagdrevier den Tatbestand erfüllt. Es gibt aber weitere Verhaltensweisen, die als Wilderei mit Strafe bedroht werden. Wilderer ist (§ 292 StGB), wer unter Verletzung fremden Jagdrechts dem Wild nachstellt, es fängt, erlegt oder sich zueignet, oder eine Sache, die dem Jagdrecht unterliegt, sich zueignet, beschädigt oder zerstört. Die Strafandrohung ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe. Für besonders schwere Fälle, insbesondere wenn die Tat zur Nachtzeit, in der Schonzeit, unter Anwendung von Schlingen oder in anderer nicht waidmännischer Weise oder von mehreren mit Schußwaffen ausgerüsteten Tätern gemeinsam begangen wird, droht das Gesetz Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren an. Die gleiche Strafandrohung gilt für die gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Wilderei. In besonders schweren Fällen der gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wilderei wird die Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren angedroht. § 292 StGB schützt fremdes Jagd- und Jagdausübungsrecht. Das Jagdrecht (§ 3 BJG) beinhaltet die ausschließliche Befugnis, auf einem bestimmten Gebiet wildlebende Tiere zu hegen, auf sie die Jagd auszuüben und sie sich als Jagdbeute anzueignen. Dieses Recht ist untrennbar mit dem Eigentum am Grund und Boden verbunden. Auf Flächen, an denen kein Eigentum begründet ist, steht es den Ländern zu. Die Ausübung des Jagdrechts darf nur in Jagdbezirken erfolgen. Er gibt Eigenjagdbezirke und gemeinschaftliche Jagdbezirke. Auf Grundflächen, die zu keinem Jagdbezirk gehören, und in befriedeten Bezirken ruht die Jagd. Gegenstände der Wilderei sind vor allem wildlebende, jagdbare Tiere. Die dem Jagdrecht unterliegenden Tierarten sind in § 2 (1) BJG und den im Rahmen des § 2 (2) BJG erlassenen landesrechtlichen Vorschriften bestimmt.
Die Tiere müssen wild und herrenlos sein. Ein gezähmtes Tier wird wieder herrenlos, wenn es die Gewohnheit, zu Menschen zurückzukehren, aufgibt. Wilde Tiere in Tiergärten sind nicht herrenlos. Erlangt ein gefangenes wildes Tier die Freiheit wieder, so wird es herrenlos, wenn es nicht der Eigentümer unverzüglich verfolgt oder wenn er die Verfolgung aufgibt (§ 960 BGB). Die Herrenlosigkeit eines Stückes Wild endet, wenn der Jagdberechtigte das Tier in Aneignungsabsicht in Besitz nimmt. Nach Inbesitznahme kann das Wild nicht mehr Gegenstand einer Wilderei sondern nur eines Diebstahls sein. Auch wer dem Wild in Wildereiabsicht nachstellt, erfüllt den Tatbestand der Wilderei. Unter „Nachstellen" ist zum Beispiel das Pirschen oder Ansitzen mit fertiger oder leicht fertigzumachender Schußwaffe, das Schlingenstellen sowie das Auslegen vergifteter Köder zu verstehen. Allein die Ausübung dieser dem Wilde nachstellenden Tätigkeit stellt ohne Rücksicht auf den Erfolg vollendete Wilderei dar. Fangen heißt, sich des lebenden Tieres bemächtigen. Erlegen bedeutet, es auf irgendeine Art zu töten. Die Zueignungsabsicht ist weder beim Nachstellen noch beim Fangen oder Erlegen erforderlich. Aber auch das unbefugte Zueignen von Wild, das Gewahrsamsbegründung und Zueignungswillen erfordert, stellt Wilderei dar. Darunter fällt zum Beispiel die Mitnahme von verendetem oder angefahrenem Wild. Die ausschließliche Aneignungsbefugnis steht dem Jagdausübungsberechtigten (Eigenjagdbesitzer oder Jagdpächter) zu, das durch § 292 StGB geschützt wird und Inhalt des Jagdrechts ist. Auch Sachen, die dem Jagdrecht unterliegen, können Gegenstände der Wilderei sein, so zum Beispiel Fallwild, Abwurfstangen und Eier des jagdbaren Federwildes. Tatbestandsmäßig handelt nicht nur, wer diese Sachen in Zueignungsabsicht mitnimmt, sondern auch, wer sie beschädigt oder zerstört. Ort der Tat muß fremdes Jagdgebiet sein. Maßgebend ist der Standort des Wildes, nicht der des Schützen. Schießt ein Jagdberechtigter von fremdem Jagdgebiet auf Wild, das in seinem eigenen Gebiet steht, begeht er keine Wilderei. Eignet er sich Wild an, das im eigenen Jagdgebiet angeschossen, jedoch in fremdem Gebiet verendet ist, begeht er Wilderei. Wird die Jagderlaubnis von einem Jagdgast überschritten, kann Wilderei vorliegen. Die einfache Wilderei (§ 292 Abs. 1 StGB) wird gemäß § 294 StGB nur auf Antrag des Verletzten verfolgt, wenn sie von einem Angehörigen oder an einem Ort begangen worden ist, an dem der Täter die Jagd in beschränktem Maße ausüben durfte. Hierunter fallen zum Beispiel Jagdgäste, die mehr oder anderes schießen, als erlaubt. Die Rücknahme des Strafantrages ist zulässig. Die schwere sowie die gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Wilderei sind Offizialdelikte.
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Wilderei Jagdgeräte, Hunde und andere Tiere, die der Täter oder Teilnehmer bei der Tat mit sich geführt oder verwendet hat, können unter bestimmten Umständen auch dann eingezogen werden, wenn sie dem Täter oder Teilnehmer nicht gehören. Dazu gehören auch Kraftfahrzeuge, mit denen das Wild gehetzt, geblendet, überfahren oder transportiert worden ist. In Literatur und Praxis wird die Wilderei oft als Wilddieberei bezeichnet. Dieser Terminus technicus entspricht nicht der Rechtswirklichkeit. Diebstahl ist die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache aus dem Gewahrsam eines anderen in der Absicht der rechtswidrigen Zueignung. Im Falle der Wilderei handelt es sich weder um fremde Sachen, noch liegt Gewahrsamsbruch vor, noch ist Zueignungsabsicht erforderlich. Der Wilderer verletzt fremdes Jagdrecht, nicht fremdes Eigentum. B. Die historische Entwicklung Der Tatbestand der Wilderei, schon im Preußischen Strafgesetzbuch vom 14.4.1851 enthalten, wurde vom Deutschen Reich über das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes, das im wesentlichen eine Neubearbeitung des Preußischen Strafgesetzbuches darstellte, in das Strafgesetzbuch vom 15.5.1871 übernommen. Damals waren die heute mit unwesentlichen inhaltlichen Änderungen in den 3 Absätzen des § 292 StGB zusammengefaßten Tatbestände getrennt wie folgt erfaßt: § 292 StGB: Einfacher Jagdfrevel Strafandrohung: Geldstrafe bis zu 100 Talern, später, ab 1872, bis zu 300 Mark oder Gefängnis bis zu drei Monaten § 293 StGB: Schwerer Jagdfrevel Strafandrohung: Geldstrafe bis zu 200 Talern, ab 1872, bis 600 Mark oder Gefängnis bis zu sechs Monaten § 294 StGB: Gewerbsmäßiger Jagdfrevel Strafandrohung: nicht unter drei Monaten Gefängnis Im letzten Falle konnte auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden. Die Verfolgung des einfachen Jagdfrevels erfolgte nur auf Antrag. Wie heute konnten auch damals Gewehre, Jagdgeräte und Hunde, welche der Täter bei unberechtigtem Jagen mit sich geführt hatte, sowie Schlingen, Netze, Fallen und andere zur Tat benutzte Vorrichtungen ohne Unterschied, ob sie dem Verurteilten gehörten oder nicht, eingezogen werden. Im Jahre 1876 wurde der einfache Jagdfrevel Offizialdelikt. Die Verfolgung trat nur dann auf Antrag ein, wenn der Täter ein Angehöriger des Jagdberechtigten war. Die gewohnheitsmäßige Wilderei war noch nicht unter Strafe gestellt. Später, im Jahre 1928, wurde die Strafandrohung für den einfachen Jagdfrevel geändert. Er wurde mit Geldstrafe schlechthin anstatt einer Geldstrafe bis 300 Mark bedroht.
Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28.6.1935 wurden die drei den Jagdfrevel betreffenden §§ 292 bis 294 StGB in § 292 StGB zusammengefaßt und erstmalig als Wilderei, schwere Wilderei und gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Wilderei bezeichnet. Der Gesetzestext entsprach bis auf die Strafandrohung der heutigen Fassung. Damit wurde erstmalig auch die gewohnheitsmäßige Wilderei unter Strafe gestellt. Neueingeführt wurde der Tatbestand der gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Wilderei in besonders schweren Fällen. Die Strafandrohung war Zuchthaus bis zu fünf Jahren. Die letzte Änderung des § 292 StGB erfolgte durch das Gesetz betr. der Abänderung von Bestimmungen des StGB und die Ergänzung desselben vom 26.2.1976. Sie betraf lediglich die Strafandrohung, die unter I.A. dargelegt ist. Bis 1970 waren durch die §§ 117 und 118 StGB gewisse Personen bei der Ausübung des Jagd-, Forst- und Fischereischutzes gegen den Widerstand von Jagd-, Forst- und Fischereifrevlern besonders geschützt. Diese Tatbestände wurden durch das dritte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 20.5.1970 abgeschafft. Für die weitere Beibehaltung wurde keine Notwendigkeit mehr gesehen, weil die Jagdausübungsberechtigten, die öffentlich bestätigten Jagdaufseher, selbstverständlich auch die im Jagdschutz eingesetzten Personen, lämlich solche, die die Rechte und Pflichten von Pol zeibeamten haben oder Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, ohne Amtsträger zu sein, in bezug auf Widerstand strafrechtlich Vollstreckungsbeamten gleichgestellt wurden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß sich die Tatbestandsmerkmale der Wilderei seit 1871 nur unwesentlich geändert haben. Die damals als strafwürdig bezeichneten Handlungen werden heute wie im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im 3. Reich als strafwürdig erachtet. Geändert wurde lediglich der Strafrahmen, der im wesentlichen dem eines Vergehens entsprach. Π. KRIMINOLOGIE A. Betrachtungsweisen der Jagd und des Delikts Die Jagd und die Wilderei werden - je nach Interesse und Sachkenntnis - von Jägern, Wilderern und der Bevölkerung unterschiedlich beurteilt. Die Jägerschaft ist an einer intensiven Bekämpfung der Wilderei stark interessiert. Ihre Rechtssphäre wird, soweit es um das Jagdausübungsrecht geht, unmittelbar verletzt. Allgemein beklagen sich die Jäger über zu geringe Bestrafung der ermittelten. Täter durch die Gerichte. Die kritische Beurteilung der Justiz durch die Betroffenen ergibt sich aus psychologischen Gründen. Dabei spielt eine Rolle, daß der tatsächliche Umfang der Wilderei sich nicht exakt feststellen läßt und für Vermutungen viel freier Raum
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Wilderei
bleibt. Dazu kommt, daB die Jagdausübung erhebliche Kosten verursacht. Der gesamte mit der Jagd verbundene finanzielle Aufwand übersteigt in der Regel den Verkaufswert des erlegten Wildes erheblich. Nicht nur hohe Pachtbeträge, sondern auch die Kosten für Ausrüstung, Jagdaufseher, jagdliche Einrichtungen, Wildschäden, Fütterung, Kraftfahrzeuge, Hundehaltung, gesellschaftliche Verpflichtungen und Steuern schlagen zu Buche. Dazu kommt, daß die verhängten Strafen manchmal in einem MiBverhältnis zum Ermittlungsaufwand stehen, der jedoch nicht als MaBstab für die Bestrafung gelten kann. Objektiv ist festzustellen, daß alle Begehungsarten der Wilderei als Vergehen eingestuft sind. Das gilt auch für die gewerbs- und gewohnheitsmäßige Wilderei in besonders schweren Fällen, die zwar mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht wird, aber gemäß § 12 III StGB Vergehen bleibt. Die Wilderer betrachten ihre Verstöße in der Regel als nicht schwerwiegend. Dabei spielt die Tatsache eine Rolle, daß das Wild herrenlos ist. Aus der Herrenlosigkeit wilder Tiere folgern sie zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens, daß das Wild allen gehört bzw. daß sich jedermann herrenlose Sachen aneignen darf. Viele Wilderer haben nicht das Gefühl, jemandem etwas wegzunehmen. Allerdings ist das Bewußtsein, etwas Verbotenes und Strafbares zu tun, ausgeprägt. Dazu haben Presse, Literatur, Rundfunk, Film und Fernsehen beigetragen. Durch die Art der Darstellung der Wilderer in den Medien ist eine gewisse Heroisierung eingetreten. Im Bewußtsein dieser Verherrlichung und der dem Wilderer zugeordneten Gefährlichkeit vertrauen die Täter bei ihrer unerlaubten Jagdausübung auf durch Angst oder Sympathie bedingte Zurückhaltung in der Bevölkerung im Falle der Entdeckung und wiegen sich besonders in Privatjagden vor den Jagdausübungsberechtigten in Sicherheit, weil viele Jagdpächter sich nur sporadisch in ihren Revieren aufhalten können. Das intensive Erfolgserlebnis der Täter dürfte in dem Gefühl des jagdlichen Erfolges, in dem Bewußtsein, den Jäger überlistet zu haben, und teilweise in der Bereicherung begründet sein. Nicht nur bei den Wilderern, sondern auch in den Augen der Bevölkerung werden die Jäger oft als Privilegierte, Kapitalisten oder Angehörige der Oberschicht angesehen. Dazu hat der Umstand beigetragen, daß bei öffentlichen Jagdverpachtungen horrende Summen geboten und gezahlt werden. Unvorsichtiges Handhaben der Waffen bei Treibjagden, Jagdunfälle, von denen Unbeteiligte betroffen werden, und auch Neid bedingen Konflikte mit der Bevölkerung. Andererseits wird den Jägern eine gewisse Ordnungsfunktion zugeordnet. Die in der Jägerschaft geübte Traditionspflege wird vom Durchschnittsbürger teils belächelt, teils mit Interesse aber teils auch mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen.
B. Die wirtschaftliche Bedeutung der Jagd Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine Gesamtfläche von 24,86 Mio. Hektar. 23,73 Mio. Hektar, das sind 95,4 %, werden jagdlich genutzt. Davon entfallen 73,5 % auf privatverpachtete gemeinschaftliche Jagdbezirke, 17 % auf Privatjagden,9 % auf Staatsjagden der Länder und 0,5 %auf Staatsjagden des Bundes. Die Einnahmen aus Jagdpachten betrugen in den Jahren 1975 bis 1977 bei einem durchschnittlichen Pachtpreis von 10,- DM je Hektar knapp 175 Mio. DM jährlich. 10 % davon, also rund 17,5 Mio. DM, wurden als Jagdsteuern aufgebracht. Die Gesamtkosten der Jagd und des Jagdschutzes betrugen für Jagdscheine, Jagdpacht, Jagdsteuern, Jagdhaftpflichtversicherung, Jagdausrüstung, Jagdeinrichtungen, Waffen und Munition, Wildschadenersatz, Hundehaltung, Hege, Fütterung und Schrifttum gut 460 Mio. DM jährlich. Die Zahl der Inhaber von Jagdscheinen zeigt ab 1959 eine ständige Aufwärtsentwicklung. 1977 wurden von den Behörden rund 250 000 JahresJagdscheine ausgestellt. In den letzten 17 Jahren betrug die durchschnittliche Zunahme rund 3 %. Eine berufliche Aufgliederung der Jagdscheininhaber ergibt, daß ca. 17 % Landwirte, ca. 13 % Handwerker, ca. 16 % Angestellte, ca. 15 % Beamte und 11 % Arbeiter sind. Der Rest verteilt sich in der Reihenfolge auf freie Berufe, Rentner sowie Schüler und Studenten. Der Anteil der Frauen beträgt 2 %. Die berufliche Struktur der Revierinhaber stellt sich etwas anders dar. Die Landwirte sind mit etwa 30 % am stärksten vertreten. Es folgen Kaufleute mit 27 %, freie Berufe mit 11 % und Handwerker mit 10 %. Der Rest verteilt sich auf Angestellte, Rentner und Arbeiter. Der Anteil der Frauen beträgt 2 %. Der Gesamtwert der Jahresstrecke betrug im Bundesgebiet im Jagdjahr 1976/77 rund 135 Mio. DM. Die Hauptanteile bildeten das Rehwild mit ca. 45 % (Wert: 62 Mio. DM), die Hasen mit ca. 12 % (Wert: 16,4 Mio. DM), das Rotwild mit ca. 10 % (Wert: 14 Mio. DM), das Schwarzwild mit ca. 10 % (Wert: 12,5 Mio. DM) und die Fasanen mit ca. 5 % (Wert: ca. 6,6 Mio. DM). Die Stückzahlen 1976/77: Rehwild 673 380 Schwarzwild 39 239 Hasen 1 096 367 Rotwild 31487 Fasanen 820 675 C. Kriminalphänomenologie (Erscheinungsformen) Die Ausführungen zu C. 1. bis 3. und 4.a) bis f) beziehen sich ausschließlich auf die Jagdwilderei. Die Fischwilderei (§ 293 StGB) bleibt außer Betracht. Zur allgemeinen Information ist lediglich zu erwäh-
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Wilderei nen, daß die Zahl der Fälle von Fischwilderei sich etwa in derselben Größenordnung bewegt wie die der Jagdwilderei. Die folgende Auswertung bezieht sich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die statistischen Angaben stützen sich auf die Statistik des Bundeskriminalamtes.
1. Häufigkeit
Der prozentuale Anteil der Jagdwilderei an der Gesamtkriminalität hat sich in den letzten 7 Jahren nicht verändert. Er beträgt 0,1 %. Jahr
Gesamtzahl Zahl der % Anteil der Straftaten Fälle von der Wilderei Jagdwilderei anderGesamtkriminalität
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
2 441 413 2 572 530 2 559 924 2 741 728 2 919 390 3 063 271 3 287 642
2512 2484 2309 2444 2470 2664 2228
0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,07
Die Größenordnung des Anteils der Wilderei an der Gesamtkriminalität von 0,1 % entspricht der Arbeitsbelastung der Ermittlungsbehörden und der Gerichte. Die Zahl der erfaßten Wildereifälle muß allerdings kritisch gesehen werden. Es stellt sich die Frage nach der Größe des Dunkelfeldes. Es ist davon auszugehen, daß der Polizei nur 10 % der tatsächlich begangenen Fälle bekannt werden. Der Grundsatz „Wo viel Wild ist, wird auch viel gewildert" ist im Gegensatz zur Prognose von Vorreyer (1954) auch heute noch gültig.
2.
3.
Aufklärungsquote
Die Aufklärungquote der Jagdwilderei lag in den letzten 7 Jahren im Durchschnitt fast 3 % über der allgemeinen Aufklärungsquote. Gesamtaufklärung 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
46,8 46,5 46,9 45,6 44,8 45,9 44,8
% % % % % % %
Die hohe Aufklärungsquote bedarf der Interpretation, weil der Eindruck entsteht, die Ermittlungsarbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft sei erfolgreicher als im Durchschnitt aller Delikte. Zweifel sind begründet, wenn man weiß, daß die Aufklärung von Wildereidelikten wegen des durch die Natur begünstigten Tatortes, die schlechten Entdeckungsund Beobachtungsmöglichkeiten durch das Verhalten von Zeugen sowie durch Beweisschwierigkeiten erschwert ist. Wie die Praxis gezeigt hat, ist zu berücksichtigen, daß die Jagdausübungsberechtigten vielfach erst dann Anzeige erstatten, wenn sie einen bestimmten Tatverdacht äußern können, wenn sie den Täter auf frischer Tat betroffen haben oder wenn sie bedroht worden sind. In der Kriminalstatistik fehlen somit die Fälle, die entweder überhaupt nicht bemerkt worden sind, oder, die zwar von den Geschädigten oder Zeugen festgestellt, aber von unbekannten Tätern begangen wurden. Werden Anzeigen erstattet, können die Anzeigenden in einem großen Teil der Fälle Anhaltspunkte für Ermittlungen wie Hinweise auf zur Tat benutzte Fahrzeuge, auf mitgeführte Waffen oder Geräte, Personenbeschreibungen, auf Fluchtrichtung oder personengebundene Eigenheiten geben. Dies sind gute Anhaltspunkte für die Aufklärung. Aus dem Trend zur Anzeigenerstattung nur bei konkretem Verdacht und Unterlassen von Anzeigen bei fehlenden Verdachtsmomenten sowie der Tatsache, daß viele Fälle überhaupt nicht festgestellt werden, ergibt sich in der Kriminalstatistik eine Verschiebung zugunsten der Aufklärungsquote. Die Problematik wird bei einem Vergleich mit dem Diebstahl unter erschwerten Umständen völlig klar: Anzeigenquote in diesem Bereich fast 100 %, weil die Betroffenen die Tat grundsätzlich bemerken, sie unmittelbar geschädigt sind und sie grundsätzlich nicht nur aus Verärgerung, sondern vielfach auch aus versicherungstechnischen Gründen Anzeige erstatten. Die Aufklärungsquote beträgt rund 20 %, ist also nur halb so groß wie die der Jagdwilderei!
Jagdwilderei 47,4 57,5 49,0 46,6 45,5 47,8 51,2
% % % % % % %
Dunkelfeld
Das Dunkelfeld, darunter sind die Straftaten zu verstehen, die zwar begangen worden sind, aber nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen, dürfte bei der Wilderei extrem groß sein. Exakte Zählungen sind nicht möglich. Die Dunkelziffer liegt schätzungsweise bei 90 %. Dieser Annahme liegen folgende Fakten zugrunde: Vielen Jägern und den als Zeugen in Frage kommenden Personen sind die Tatbestandsmerkmale der Wilderei nicht bekannt. Sie wissen nicht, daß ζ. B. auch das Schießen auf Raubzeug oder Raubwild, die Aneignung von Abwurfstangen, das Schießen auf Wildtauben oder Wildkaninchen, die Mitnahme von angefahrenem Wild und das erfolglose Pirschen auf jagdbares Wild den Tatbestand der
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Wilderei erfüllen. Einige Begehungsarten, besonders die dem Wilde in Wildereiabsicht nachstellende Tätigkeit, sind überhaupt nicht feststellbar, besonders dann nicht, wenn kein Erfolg eingetreten, der Täter von niemandem beobachtet worden ist oder das Fehlen des erlegten Wildes nicht bemerkt wird. Femer gibt es für den Wilderer gute Tarn- und Dekkungsmöglichkeiten. Er kann sich wie der Jäger verstecken. Wenn er auf das Wild wartet, kann er den herannahenden Jäger oder Zeugen leicht ausmachen. Er verhält sich ruhig. Die Tat wird nicht bemerkt. Weiter ist dem als harmloser Fußgänger oder Pilzsammler getarnten Wilderer nicht anzusehen, daß er wildert und ob er eine Waffe oder Schlinge versteckt bei sich trägt. Bei Begegnung ist ohne konkrete Anhaltspunkte ein Tatverdacht kaum zu begründen. Eingriffsmaßnahmen müssen unterbleiben, ein Grund zur Anzeige ist nicht gegeben. Trotzdem wurde gewildert. Schließlich scheuen viele Jagdausübungsberechtigte den Weg zur Polizei, weil sie den Unannehmlichkeiten eines Ermittlungsverfahrens aus dem Weg gehen wollen. Auch die Zeugenrolle in der Hauptverhandlung kann problematisch sein, wenn der Angeklagte ein Nachbar oder sonstiger Bekannter ist. Einige Betroffene sind gleichgültig, andere vertreten die Ansicht, eine Anzeige führe ohne konkrete Anhaltspunkte zu keinem Erfolg und sei deshalb zwecklos. Die Summe dieser Umstände führt berechtigterweise zur Vermutung eines extrem großen Dunkelfeldes.
4. Begehungsweisen a) Wilderei mit Schußwaffen. Rund 50 % der gemeldeten Fälle von Jagdwilderei werden unter Verwendung von Schußwaffen begangen. Bei der allgemeinen Kriminalität ist dagegen die Mitführung oder Verwendung von Schußwaffen nur in durchschnittlich 0,6 % der Fälle festgestellt worden. Die zahlenmäßige Entwicklung der Verwendung von Schußwaffen bei der allgemeinen Kriminalität und der Jagdwilderei ergibt für einen Beobachtungszeitraum von 7 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland folgende Werte:
Verwendung oder Mitführung von Schußwaffen Allgemeine JagdKriminalität wilderei 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
0,5 0,5 0,6 0,8 0,8 0,5 0,2
% % % % % % %
41,2 51,4 52,1 58,5 58,3 41,2 40,1
% % % % % % %
Die Auswertung ergibt nicht nur, daß jeder zweite Fall von Jagdwilderei von Tätern begangen wird, die mit Schußwaffen ausgerüstet sind, sondern es ist auch festzustellen, daß von den verschiedenen Begehungsweisen der Jagdwilderei die Tatausführung mit der Schußwaffe am häufigsten vorkommt. Im Lande Nordrhein-Westfalen wurden im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Fällen der Jagdwilderei von der Polizei sichergestellt:
1975 1976 1977 Gesamt- Prozent zahl Jagdwaffen Kleinkaliber/ Flobert Luftbüchsen Revolver/ Pistolen
-
17 14 -
4
1
5
5,5
17 4
12 19
46 37
51,1 41,1
2
2,2
2
-
Im gleichen Zeitraum wurden folgende Waffen bei Wildereifällen in Nordrhein-Westfalen zur Tatausführung benutzt:
1975 1976 1977 Gesamt- Prozent zahl Jagdwaffen Kleinkaliber/ Flobert Luftbüchsen Revolver/ Pistolen sonstige Waffen
57
46
43
146
22,1
101 26
78 10
76 30
255 66
38,6 10,0
2
1
3
0,4
83
51
190
28,8
-
56
Art und Zahl der von der Polizei im Zusammenhang mit der Jagdwilderei sichergestellten und der bei Tatausführung benutzten Schußwaffen ergeben übereinstimmende Erkenntnisse im Hinblick auf die Häufigkeit der verwendeten Waffen. Das Kleinkaliber ist sowohl bei den sichergestellten als auch bei den verwendeten Schußwaffen mit 51 % bzw. 38 % vertreten. Es ist die am häufigsten zur Jagdwilderei benutzte Schußwaffe. Sie wird von jedem zweiten mit Schußwaffen ausgerüsteten Wilderer geführt. Die in früheren Zeiten vorwiegend durch Wilderer benutzte Schrotflinte tritt heute mehr und mehr in den Hintergrund, weil die Verwendung von Büchsen wegen der größeren Tragweite erfolgversprechender ist. Kleinkaliber (5,6 mm) zeichnen sich durch niedriges Gewicht, hohe Tragweite, gute Treffsicherheit, akzeptable Auftreffenergie und leisen Knall aus. In Verbindung mit Schalldämpfern eignen sie sich besonders gut für den Wildschützen. Eine große Rolle spielen auch die
Wilderei sogenannten typischen Wildererwaffen, deren Verwendung in ca. 29 % der Fälle festgestellt worden ist. Dabei handelt es sich um Schußwaffen, die zum Zusammenklappen, Zusammenschieben, Verkürzen oder schnellen Zerlegen über den für Jagd- und Sportzwecke allgemein üblichen Umfang hinaus besonders eingerichtet sind. Schußwaffen, die in Röhren, Schirmen oder Stöcken verborgen sind, gehören ebenso dazu wie solche, die mit Schalldämpfern oder Scheinwerfern versehen sind. Die Manipulationen dienen dazu, die Waffen versteckbarer zu machen oder ihre Verwendung in der Dunkelheit zu ermöglichen. Als Verstecke dienen die Kleidung, Rucksäkke, Taschen oder andere Behältnisse. Es kommt auch vor, daß Wilderer ihre Waffen im Jagdrevier verstecken. In den USA werden Schußwaffen hergestellt, bei denen es möglich ist, abhakbare oder abschraubbare Teile wie zum Beispiel Läufe und Magazine im hohlen, zu deren Aufnahme bestimmten Schaft unterzubringen. Die Tarnung der Waffen kann für den Wilderer zum Problem werden. Will er zum Beispiel Rehwild, Rotwild oder Schwarzwild erlegen, dann braucht er eine entsprechend wirksame Waffe. Wirksamkeit und Tragweite hängen aber vom Kaliber, der dem Geschoß vermittelten Energie und der Geschoßkonstruktion ab. Die Verkürzung von Waffen reduziert deren Wirksamkeit. Die Jagdmunition, es gibt Kugel- und Schrotpatronen, ist unter Berücksichtigung waidmännischer Gesichtspunkte so konstruiert, daß das Wild, nachdem ihm der Schuß angetragen wurde, sofort und ohne Qualen getötet wird. Dieser Effekt wird bei Büchsenmunition im Prinzip dadurch erreicht, daß das Geschoß mit einer Hohlspitze, einer Kupferoder Bleispitze oder mit anderen Laborierungen versehen wird, die bedingen, daß es sich nach dem Auftreffen auf den Wildkörper sofort zerlegt und dadurch den sofortigen Tod herbeiführt. Bei der Verwendung von Schrotpatronen tritt dagegen der Tod des Wildes nicht durch die zugefügten Verletzungen, sondern durch Schockwirkung ein. Um diese zu erreichen, sind eine Mindestzahl von Auftreffschroten und eine ausreichende Auftreffwucht erforderlich. Die meisten Wildererwaffen entsprechen, bedingt durch Eigen- oder Umbau, in ihrer Schußleistung nicht den Grundsätzen der Waidgerechtigkeit. Das gilt auch für das Kleinkalibergeschoß, das zwar aus Blei besteht und sich deshalb leicht verformt, das aber zu wenig Masse besitzt. Der Eigenbau von Wildererwaffen erfolgt weitgehend dadurch, daß Teile des Laufes oder des Schaftes von Büchsen und Flinten abgesägt werden und so eine Verkürzung erreicht wird. Die Läufe und Schäfte werden behelfsmäßig durch Schrauben zusammengehalten, auch Schraubverschlüsse kommen vor. Das verwendete Material ist in den meisten Fällen zur Herstellung von Schußwaffen ungeeignet und bedingt Gefahren für Leib und Leben des Schützen, die durch primitive Anfertigung noch erhöht wer-
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den. Unfälle werden allerdings selten bekannt. Das Phänomen erklärt sich vermutlich dadurch, daß man Grund zur Verheimlichung hat. Kurzwaffen oder Faustfeuerwaffen werden oft mit Anschlagkolben versehen, die ein besseres Zielen ermöglichen. Derartige Anschlaghilfen werden oft als Drahtbügel konstruiert, die in die Waffen eingeschoben werden. Auch Schälldämpfer können bei einigem handwerklichen Geschick selbst hergestellt werden. Als Material wird in der Regel Blech verwendet, das entsprechend zugeschnitten, gebogen und verlötet wird. Der Behälter wird als Durchlaß für das Geschoß an der Vorder- und Rückwand etwas größer als das Kaliber durchbohrt. Der Schall fängt sich im Hohlraum und wird dadurch gedämpft. Die Schalldämpfer sind so konstruiert, daß sie auf den Lauf gesteckt werden können oder fest angelötet werden. Der Besitz von Wildererwaffen war unter bestimmten Voraussetzungen durch § 296 StGB als Vergehen unter Strafe gestellt. Diese Bestimmung ist aber durch Artikel 1 Nr. 86 des 1. StrRG seit dem 25.6.1969 aufgehoben und im Strafgesetzbuch ersatzlos gestrichen. Allerdings werden durch § 37 WG vom 8.3.1976 das Herstellen, die Bearbeitung, das Instandsetzen, der Erwerb, der Vertrieb und jegliches Uberlassen von Schußwaffen, die über den zu Jagd- und Sportzwecken allgemein üblichen Umfang hinaus zusammengeklappt, zusammengeschoben oder schnell zerlegt werden können, sowie zerlegbare Waffen, deren längster Waffenteil kürzer als 60 cm ist und die zum Verschießen von Randfeuerpatronen bestimmt sind, verboten. Unter das Verbot fallen auch Schußwaffen, die nicht die herkömmlichen Formen haben sowie Zubehör, das zum Anleuchten oder Anstrahlen des Zieles oder der Beleuchtung der Zieleinrichtung dient, sowie Nahzielgeräte. Verstöße werden mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe bedroht. Ausgenommen von dem Verbot sind die Bundeswehr, der Bundesgrenzschutz, der Zoll und die Polizei. Bemerkenswert ist, daß Wilderer auch Jagdwaffen zur Tatausführung benutzen und zwar in einer Größenordnung von 22 % der bewaffneten Täter. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, daß auch ehemalige Jagdscheininhaber, die legal im Besitz von Jagdwaffen sind, und auch einzelne Jäger als Wilderer in Erscheinung treten. Gelegenheit, Gewohnheit, Jagdleidenschaft oder Jagdeifer bilden in diesen Fällen den psychologischen Hintergrund der Tat. Die Verwendung von Luftdruckwaffen und der Anteil der sichergestellten Luftbüchsen sind ebenfalls beachtlich. Die wider Erwarten hohe Zahl der Sicherstellungen erklärt sich wahrscheinlich aus der Unerfahrenheit jugendlicher Täter. Die Eignung von Luftdruckwaffen für die Wilderei steht außer Zweifel. Allerdings bedingen mangelnde Durchschlagkraft und mangelnde Tragweite minimale Erfolgsaussichten. Vom Gesichtspunkt der Waidgerechtigkeit ist das Luftgewehr auf jeden Fall abzulehnen, denn die
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Wilderei
dem Wilde zugefügten Verletzungen führen nicht unmittelbar zum Tode und können erhebliche Qualen bereiten. Besteht die Tat im Nachstellen, so stellt das Mitführen von Luftgewehren ohne Zweifel eine Ausrüstung mit Schußwaffen im Sinne des § 292 (2) StGB dar. Pistolen und Revolver haben als Wildererwaffen keine große Bedeutung. Aus der Tatsache, daß jeder zweite Wilderer bewaffnet ist, erbgibt sich seine im Verhältnis zum „Durchschnittstäter" größere Gefährlichkeit. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß die Bereitschaft, von der mitgeführten Waffe Gebrauch zu machen, gegeben ist. Die Schußwaffe ist notwendigerweise Tatwerkzeug. Die Möglichkeit, aber auch die Versuchung, die mitgeführte Waffe im Bedarfsfall auch gegen die im Jagdschutz tätigen Personen oder gegen „lästige Zeugen" einzusetzen, sind offenkundig. Die Tat wird in der Regel im einsamen Wald, in unübersichtlichem Gelände, in der einsamen Natur begangen. Zeugen sind selten vorhanden. Umweltverhältnisse und Einsamkeit begünstigen den Entschluß zur Anwendung der Schußwaffe bei der Begegnung mit jagdschutzberechtigten Personen oder anderen Zeugen der Tat. Werden Wilderer auf frischer Tat betroffen, so ist für sie durch die genannten Faktoren die Chance des Nichterkanntwerdens und des Entkommens groß. Voraussetzung ist jedoch, sich des Zeugen zu entledigen oder aber sich ihn „vom Leib zu halten". Trotz dieser Erkenntnisse kann aber heute davon ausgegangen werden, daß die Anwendung von Schußwaffen zum Zwecke der Tötung des Jägers, des Jagdschutzberechtigten oder des Zeugen selten geworden ist. Die von Busdorf (1954) beschriebenen Förstermorde, die sich in den Jahren 1889 bis 1937 ereignet haben, sind nicht mehr an der Tagesordnung. Tötungen können nicht ausgeschlossen, müssen aber als Einzelfälle angesehen werden. Sie erklären sich meistens aus der Tatsituation. Dagegen sind in den letzten Jahren wiederholt Fälle bekanntgeworden, in denen Jagdausübungsberechtigte mit körperlicher Gewalt, aber auch mit Schußwaffen bedroht worden sind. Zu Tötungen oder schweren Verletzungen durch Waffenanwendung ist es jedoch in diesen Fällen nicht gekommen. b) Wilderei mit Schlingen. Zu den verwerflichsten Begehungsarten gehört das Wildern mit Schlingen. Diese werden so aufgestellt, daß sich das Wild möglichst mit dem Hals bzw. Träger darin verfängt. Durch die Befreiungsversuche soll sich die Schlinge zuziehen und das Wild erdrosselt werden. Es kommt aber immer wieder vor, daß die Tiere nicht mit dem Hals, sondern mit dem Körper, mit Teilen des Kopfes, mit dem Gehörn, dem Geweih, mit den Läufen oder anderen Körperteilen in die Schlingen geraten. Die Folge ist, daß die Drähte sich bei dem Hin- und Herzerren immer fester zuziehen und daß sie Verletzungen hervorrufen, die den Tod nicht unmittelbar, sondern mittelbar dadurch herbeiführen, daß die
Wunden sich entzünden, eitern, von Insekten befallen werden und Infektionen verursachen. Sind die Verletzungen nicht so ernster Natur oder hat sich die Schlinge nur um das Gehörn oder Geweih gelegt, führt das unweigerlich zum Verhungern oder Verdursten des Wildes, wenn die Schlingen nicht mehr kontrolliert werden. Ein grausamer Todeskampf bis zum Erlahmen der Kräfte geht voran. Allerdings kommt es verhältnismäßig selten zu diesen Erscheinungen. Der Schlingensteller hat es in der Regel auf das Wildbret abgesehen. Will er dieses verwerten, muß es frisch sein. Deshalb ist es erforderlich, die gestellten Schlingen des öfteren zu kontrollieren. Bei dieser Gelegenheit wird das gefangene Wild früher oder später gefunden und von den Qualen befreit. Manchmal, besonders wenn die Kontrollen über einen längeren Zeitraum negativ verlaufen sind, werden die Kontrollgänge eingestellt, die Schlingen geraten in Vergessenheit und schließlich verfängt sich doch noch ein Stück Wild darin. Dann beginnt der geschilderte qualvolle Todeskampf, dem ggf. die frisch gesetzten Nachkömmlinge, die ebenfalls dem Tode ausgeliefert sind, zusehen. Über diese Tragödie gibt dann der Fundort, der mit starken Scharrund Kratzspuren, mit abgeschabten Haaren und mit Schweiß versehen ist, Auskunft. Selbst in den Fällen, in denen sich das Wild am Hals in der Schlinge gefangen hat, tritt der Tod nicht sofort und schmerzlos ein. Auch hier werden am Tatort regelmäßig deutlich Spuren des Todeskampfes, besonders bei Schalenwild, gefunden. Es kommt auch vor, daß es den Tieren gelingt, die Schlingen abzudrehen oder abzureißen. Auch in diesen Fällen bedingen die eingetretenen Verletzungen ein qualvolles Dahinvegetieren oder Verenden. Die Befreiung von Drahtresten ist oft nicht möglich. Ist der Kümmerer einmal erlegt, findet man schmerzhafte Verletzungen oder die tief in das Fleisch eingewachsenen Schlingen vor. Die Skrupellosigkeit der Schlingensteller kommt auch darin zum Ausdruck, daß es ihnen weitgehend gleichgültig ist, ob es sich um männliches oder weibliches, um tragendes oder nicht tragendes, um führendes oder nicht führendes Wild handelt. Auf Schonzeiten wird ebensowenig Rücksicht genommen wie auf unselbständige Jungtiere, die noch auf das Muttertier angewiesen sind. Die Erfolgsaussichten des Schlingenstellers sind gegenüber dem Wilderer mit der Schußwaffe insofern größer, als er die Jagd, solange die Schlinge fängisch gestellt ist, permanent bei Tag und Nacht, bei jedem Wetter, an beliebig vielen Stellen gleichzeitig, zeitlich unbegrenzt und ohne seine persönliche Anwesenheit ausübt. Sein Erscheinen am Tatort ist nur bei der Kontrolle und beim Abholen des Wildes erforderlich. Dies geschieht in der Regel im Schutze der Dunkelheit oder unter Tarnung als Pilz-, Holzoder Beerensammler, als Wanderer oder Spaziergänger. Die größte Aussicht auf Erfolg bietet das Aufstellen von Schlingen auf Wildwechseln. Wie vom geschulten Jäger werden diese auch vom erfah-
Wilderei renen Wilderer erkannt. Durch das Aufstellen von Hindernissen werden sogenannte Zwangswechsel angelegt. Dadurch wird das Wild in eine bestimmte Richtung gelenkt und zu einer bestimmten Körperhaltung veranlaBt. Die Schlingen können an den geeignetsten Stellen, das sind solche, die natürliche Deckung bieten und die nicht am Ausgang des Wechsels, sondern im Bestand liegen, aufgestellt werden. Dort kann unauffällig kontrolliert, das Wild unbeobachtet herausgeholt, verpackt und abtransportiert werden. Die Nähe von Futterstellen wird ebenfalls bevorzugt. Auch Draht- oder Holzzäune eignen sich zum Aufstellen von Schlingen. Entweder werden vorhandene Durchlässe ausgenutzt oder es werden absichtlich solche geschaffen. Schlingen, sei es, daß sie im Bestand, in der Dickung oder in Feldern angebracht sind, werden je nach Wildart, auf die es der Täter abgesehen hat, jeweils in Kopfhöhe aufgestellt. Die Befestigung erfolgt ein- oder zweiseitig an Bäumen, Pfählen oder Pflöcken. Sogar Getreidehalme sind dazu geeignet. Beiderseitige Verankerung an Bäumen ist besonders bei Schlingen auf Schalenwild festgestellt worden. Auch herabgebogene junge Bäume oder starke Aste werden zur Befestigung benutzt. Hat sich Wild in der Schlinge verfangen, schnellt der Baum oder der Ast aus der künstlich geschaffenen Halterung hoch und zieht die Schlinge zu (Schnellbäume). Derselbe Effekt wird durch Schlingen mit Federzug erreicht. Schlingen auf Federwild, besonders Fasanen und Rebhühner, werden in Kartoffelfurchen oder Rübenreihen gestellt. Das Wild wird behutsam getrieben, läuft die Furchen und Reihen entlang und gerät so in die von oben herabhängenden Schlingen. Die Befestigung erfolgt an einer Latte, die quer über Ackerfurchen gelegt wird. Fasanen werden, wenn sie in der Dämmerung aufbäumen, auch mit Schlingen gefangen, die an langen Stangen, wie sie beim Pflücken von Obst verwendet werden, hängen. Als Material für Schlingen werden Drähte verschiedener Stärken, bei Rebhuhnschlingen auch Roßhaar oder Garne, verwendet. Die Stärke des Drahtes richtet sich nach der Wildart, auf die der Täter es abgesehen hat. Um das Material biegsamer zu machen, wird es geglüht. Dadurch wird ihm gleichzeitig der Glanz genommen. Zur besseren Tarnung werden die Drähte mit geruchlosem Klebstoff bestrichen und durch Grassamen, Spreu, Baumrinde oder Moos gezogen. Auch ein- und mehraderiger Stahldraht wird verwendet. c) Wilderei mit Fallen. Im Mittelalter war die Jagd mit Fallen durchaus üblich. Die Fangvorrichtungen sind im Laufe der Jahre zwar technisch verbessert worden, die physikalischen Grundlagen blieben aber bis heute gleich. Der Fang von Tieren als Jagdbeute diente damals der Nahrungs- und der Fellbeschaffung für Bekleidungszwecke. Heute haben sich die jagdlichen Bräuche geändert. Die Fallenjagd auf Schalenwild gilt als unwaidmännisch. Nach den jetzt geltenden Grundsät-
229
zen der Waidgerechtigkeit soll dem Wild eine Chance zum Entkommen und Überleben bleiben. Unnötige Schmerzen und Qualen sollen vermieden werden. Deshalb ist durch das Bundesjagdgesetz die Jagd mit automatischen Waffen sowie die Verwendung von Fallen teilweise verboten worden. Erlaubt sind Kastenfallen, Abzugseisen, Prügelfallen, Schlagfallen und Spannetze. Fang- und Fallgruben dürfen nur mit Genehmigung der zuständigen Behörde angelegt werden. Fanggeräte, die nicht unversehrt lebend fangen oder nicht sofort töten, dürfen nicht verwendet werden. Die Fallenjagd wird heute hauptsächlich auf Haarraub wild und Raubzeug ausgeübt, weil dieses wegen der vorwiegend nächtlichen Lebensweise auf andere Weise kaum zu bejagen ist. Die Reduzierung des Bestandes ist aber zum Schutze des Nutzwildes erforderlich. Die Erträge aus dem Fellverkauf sind kaum attraktiv. Was für den Jäger verboten ist, kümmert den Wilderer wenig. Er setzt Fallen ohne Rücksicht darauf ein, ob sie als waidgerecht angesehen werden oder nicht. Für ihn ist der Erfolg ausschlaggebend. Er nimmt in Kauf, daß sich das Wild quält, daß ihm Läufe abgeschlagen und schwere Verletzungen zugefügt werden. Die zum Wildern benutzten Fallen entsprechen im wesentlichen den erlaubten und nicht erlaubten Fanggeräten. Auch Fallgruben kommen vor. Die am häufigsten von Wilderern benutzten Fallen sind Kastenfallen, Fangeisen und Schlagfallen. Auch mit Netzen wird gewildert. Fallgruben werden so tief und eng angelegt, daß das Wild, ist es einmal hineingefallen, sich nicht mehr daraus befreien kann. Zur Tarnung wird die Öffnung mit geeignetem, der Umgebung angepaßtem Material abgedeckt und je nach Wildart, auf die man es abgesehen hat, mit Ködern oder Futter versehen. Der Fang von Schalenwild, wie Rotwild, Rehwild und Schwarzwild, ist auf diese Weise möglich. Kastenfallen bestehen vorwiegend aus Holz. Auch Eternit oder Drahtgeflecht werden verwendet. Diese Fallen können in jeder beliebigen Größe hergestellt werden, haben aber für den Wilderer den großen Nachteil, daß sie sperrig sind und beim Transport schlecht verborgen werden können. Sind sie einmal in das Revier gebracht, können sie dort versteckt werden. Für das Aufstellen eignen sich künstliche Begrenzungen, wie Zäune oder Mauern und auch Grabenränder in Verbindung mit Zwangspässen oder Zwangswechseln. Die Auslösung der Kastenfalle erfolgt dadurch, daß das Wild auf ein innen angebrachtes bewegliches Brett oder eine Wippe tritt. Dadurch wird das Herabfallen von Klappen oder Falltüren ausgelöst. Ein Entweichen ist nicht mehr möglich. Die Anwendung erfolgt vorwiegend auf Hasen, Wildkaninchen und Haarraubwild. Dazu zählen: Fuchs, Dachs, Marder, Iltis, Nerz, Frettchen, Wiesel, Fischotter, Wildkatze, Waschbär, Marderhund und Seehund. Die Tiere
230
Wilderei
werden, sofern die Mitnahme wegen der Felle beabsichtigt ist, nach dem Fang getötet. Das erfolgt mit Schußwaffen sowie durch Erschlagen mit Knüppeln oder anderen geeigneten Schlagwerkzeugen. Schlagfallen sollen das Wild nicht lebend fangen, sondern töten. Es sind im wesentlichen Schlageisen oder Holzkonstruktionen. Man unterscheidet zwei Schlageisensysteme, nämlich Abtritt- und Abzugeisen. Bei den Abtritteisen erfolgt die Auslösung durch das Betreten eines Tellers. Man nennt sie deshalb auch Tellereisen. Wegen der Unfallgefahr und weil die Auslösung nicht immer zur Tötung führt, sondern auch schwere Verletzungen des Wildes, besonders Laufverletzungen verursachen kann, ist die Verwendung von Abtritteisen offiziell verboten. Die Auslösung des Abzugeisens erfolgt durch Zug, der dadurch ausgelöst wird, daß das Wild an einem Köder zieht, der am Abzug angebracht ist. Die Schlageisen bestehen in der Regel aus zwei Eisenbügeln, die in gespanntem Zustand auseinandergeklappt flach auf den Boden gelegt werden. Bei Auslösung schlägt der Bügel durch Federzug zu. Gerät Schalenwild in die Falle, kommt es immer wieder vor, daß ihm Läufe abgeschlagen werden oder die Flucht mit der zugeschlagenen Falle gelingt. Die Tiere sind dann qualvollen Leiden ausgesetzt, bis sie einmal erlegt werden oder verenden. Um eine Flucht zu verhindern, werden Schlageisen im Boden verankert sowie mit Drähten oder Ketten an Bäumen befestigt. Im Handel werden Schlageisen unter der Bezeichnung Eierfallen (Marder, Iltis, Wiesel), Abzugeisen für Dachs, Fuchs und Marder, Schwanenhals (Fuchs, Dachs, Marder, Iltis, Katzen), Kleinraubzeugfallen (Bisamratten, Wildkaninchen) sowie Kaninchenfallen oder Bisamrattenfallen angeboten. Der Ankauf von Pelztieren oder Fellen wird durch Inserate propagiert. Die aus Holz konstruierten Schlagfallen sind darauf angelegt, das Wild durch herabfallende aus Knüppeln bestehende Dächer zu erschlagen. Sie werden als Knüppelfallen oder Schlagbäume bezeichnet. Knüppelfallen bestehen aus einem schräg auf dem Boden befindlichen an einer Seite abgestützten Dach, das zur besseren Wirkung noch mit Ballast beschwert werden kann. Bei Auslösung fällt es herunter und tötet das darunter befindliche Wild. Schlagbäume sind auf Ständern errichtete Knüppelfallen. Sie bieten unter dem Dach mehr Kopffreiheit, so daß auch Schalenwild erbeutet werden kann. Die Auslösung erfolgt durch Zug oder Tritt. Die Errichtung von wirksamen Schlagfallen aus Holz muß an Ort und Stelle erfolgen. Sie ist zeitaufwendig. Die Tarnung ist problematisch. Neben den beschriebenen Fangvorrichtungen gibt es Wippenfallen, Quetsch- oder Scherenfallen sowie Waffen- und Reusenfallen. Möglichkeiten der Täterergreifung bieten sich nach Observation beim Abholen des Wildes.
Netzfallen wirken dadurch, daß das Wild entweder in Netzwände hineingetrieben wird oder Netze über das Wild gezogen bzw. geworfen werden. Haben sich die Tiere einmal verfangen, verstricken sie sich durch die Befreiungsversuche mehr und mehr darin. Netze werden zum Fang von Flugwild, Wildgänsen, Wildenten und Rebhühnern verwendet. Die Netzjagd auf Seehunde ist offiziell verboten. d) Wilderei mit Tieren. Eine beliebte Art der Wilderei ist die Jagd auf Wildkaninchen mit Frettchen. Nachdem die Ausgänge des Kaninchenbaues mit Netzen abgedeckt sind, wird ein Frettchen, eine Iltisart, hineingeschickt. Der Bau wird „gesprengt". Vor dem Frettchen ergreifen die Wildkaninchen die Flucht. An den Ausgängen geraten sie in die Netze, dann werden sie mit Stöcken erschlagen. Auf diese Weise kann sehr erfolgreich gewildert werden. Gelegentlich werden zum Sprengen auch Erdhunde oder Zwergdackel benutzt. Größere Hunde werden ebenfalls für Wildereizwecke eingesetzt. Sie begleiten den „harmlosen Spaziergänger" oder werden in das Revier geschickt, um Hasen, Wildkaninchen und Fasanen zu greifen oder Rehwild zu reißen. Die Jagdausübungsberechtigten dürfen wildernde Hunde und Katzen abschießen. Greifvögel spielen bei der Wilderei keine große Rolle. Die Ablichtung von Greifvögeln zur Jagd ist zwar möglich, aber schwierig. Es sind Spezialkenntnisse erforderlich. Geeignet sind Falken, Habichte, Adler und Sperber. Diese Vögel schlagen das Wild, und zwar Flugwild, Hasen, Wildkaninchen, Füchse und Raubzeug. e) Sonstige Begehungsweisen. Um den Gefahren der Entdeckung zu entgehen, werden von Wilderern oft Tricks angewendet, die auf persönlichen Kenntnissen, Fertigkeiten oder Erfahrungen beruhen. Hier spielen Gesichtspunkte der Perseveranz eine bedeutende Rolle. Hasen, die in ihren Sassen liegen, oder Wildkaninchen, die sich drücken, werden mit Mistgabeln oder lanzenartigen Gegenständen aufgespießt. Sie werden auch mit Schaufeln, Knüppeln oder anderen Geräten totgeschlagen. Fasanen, die nachts aufgebäumt sind, werden mit Taschenlampen angeleuchtet und mit langen Stangen herabgestoßen oder aufgespießt. Auch in Verbindung mit Schußwaffen spielen Blendeinrichtungen eine große Rolle. Stablampen werden in primitiver Weise mit Bindfäden oder mit Halterungen aus Metall an der Waffe befestigt. Das Wild kann gleichzeitig angeleuchtet und beschossen werden. Sind mehrere Täter beteiligt, erfolgen das Anblenden und Schießen arbeitsteilig. Diese Art zu wildern wird nicht nur auf Fasanen, sondern auch auf Hasen, Rehwild und Rotwild angewendet. Die Betäubung von Fasanen durch mit Alkohol getränktem Körnerfutter in Verbindung mit vorsichtigem Treiben in Zwangspässe wird ebenfalls praktiziert. An Schlingen auf Wildenten werden Mauersteine befestigt, die das Tier unter Wasser ziehen. Von Ress be-
231
Wilderei richtet über mit Leuchtanzeige versehene Hasenschlingen. Die angewendeten Tricks verfolgen generell das Ziel, das Wild lautlos oder während der Dunkelheit zu erbeuten, um nicht entdeckt zu werden. f) Die Rolle des Kraftfahrzeuges. Das Kraftfahrzeug ist bei der Wilderei immer mehr in den Vordergrund getreten. Es wird vom Wilderer mit der Schußwaffe ebenso benutzt wie vom Schlingensteller, Fallensteller oder Frettierer. Jagdwilderei in Nordrhein-Westfalen unter Benutzung von Kfz Benutzung von Kfz
Jahr
Fälle gesamt
%
1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
311 327 333 345 344 413 461 409 476 345 220 280 388 236 331 452 522 368 474 410 549 447
24 44 34 78 117 176 268 240 207 184 175 226 251 202 182 198 272 194 147 165 84 100
7,7 13,4 10,2 22,6 34,0 42,6 58,1 68,6 43,4 53,3 79,5 80,7 64,6 85,5 54,9 43,8 52,1 52,7 31,0 40,2 15,3 22,3
8441
3568
42,2
hat beobachtet, wie Wilderer auf einem Sportplatz versuchten, Wildkaninchen durch Überfahren zu erbeuten. In den meisten Fällen wird das Kraftfahrzeug als fahrbare Kanzel verwendet. Dazu eignet es sich sehr gut. Eigenartigerweise bleibt das Wild, sowohl Nieder- als auch Hochwild, beim Herannahen von Kraftfahrzeugen vertraut. Es kann gut beobachtet und in der günstigsten Position und Entfernung beschossen werden. Bei Dunkelheit dienen die Autoscheinwerfer, in deren Strahlen die Lichter des Wildes aufleuchten, als Suchgeräte. Bei Fahrten durch das Jagdrevier werden Felder und Waldränder durch Wendemanöver abgeleuchtet. Das Absuchen erfolgt auch mit starken Handscheinwerfern aus dem Fahrzeug heraus. Aus dem Wagen kann in aller Ruhe geschossen werden. Durch die Mobilität können weite Bereiche bejagt werden. Auch zum Transport und Verstecken der Waffen oder sonstiger Jagdgeräte ist das Kraftfahrzeug besonders geeignet. Schließlich ist es eine vorzügliche Hilfe für die plötzlich notwendig werdende Flucht. In kurzer Zeit können große Entfernungen zurückgelegt werden. Die örtliche Fahndung kann nicht mehr zur Festnahme führen. Aus den gleichen Gründen spielt das Kraftfahrzeug auch beim Absatz der gewilderten Tiere eine wesentliche Rolle. Hehler können schnell und weiträumig versorgt werden. Nach den einschlägigen Bestimmungen des StGB können Gegenstände, die zur Wilderei benutzt wurden, ohne Rücksicht darauf, ob sie dem Täter gehören, eingezogen werden. Dazu gehören auch Kraftfahrzeuge.
D. Die Täter 1. Beteiligung der Geschlechter Allgemein kann davon ausgegangen werden, daß die Jagdwilderei hauptsächlich von Männern begangen wird. Aber auch Frauen treten in der Bundesrepublik Deutschland in Erscheinung. Prozentanteil der Frauen
Die Entwicklung in den letzten 20 Jahren zeigt, daß durchschnittlich in jedem 2. bekanntgewordenen Fall von Jagdwilderei ein Kraftfahrzeug verwendet worden ist. Es sei darauf hingewiesen, daß nur Fälle gezählt werden können, bei denen die Beteiligung als erwiesen gilt. Eine echte Zählung ist nur bei den aufgeklärten Fällen möglich. In vielen nicht aufgeklärten Fällen, ζ. B. wenn verendetes oder von Wildererhand angeschossenes Wild, wenn Schlingen oder Fallen gefunden werden, ist die Verwendung von Fahrzeugen nicht mehr nachzuweisen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß Kraftfahrzeuge weit häufiger benutzt werden, als in der Kriminalstatistik erfaßt sind. In den letzten Jahren ist der Begriff Autowilderei gebräuchlich geworden. Damit ist die Tatbegehung unter Benutzung von Kraftfahrzeugen gemeint. Man
Jahr
an der Gesamtkriminalität
an der Jagdwilderei
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
18,7 17,5 17,6 17,5 17,5 17,0 18,7
3,8 1,5 1,6 2,9 2,7 2,0 3,4
Der Anteil der Frauen an der Jagdwilderei ist erwartungsgemäß bedeutend niedriger als der an der Gesamtkriminalität. Er beträgt durchschnittlich nur 2 %.
232
Wilderei Bemerkenswert ist, daß nicht nur Kinder, sondern auch Personen, die älter als 60 Jahre sind, regelmäßig als Jagdwilderer in Erscheinung treten. Das Delikt zählt nicht zu den typischen Jugenddelikten.
2. Altersgruppen Die Altersgruppe der 21-30jährigen tritt am häufigsten wegen Jagdwilderei in Erscheinung. Allerdings wildern auch Kinder, Jugendliche und Heranwachsende.
Alter und Zahl der wegen Jagdwilderei in Erscheinung getretenen Personen in der Bundesrepublik Deutschland: Jahr
bis 14
14-16
16-18
18-21
21-25
25-30
30-40
40-50
50-60
über 60
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
28 22 24 17 29 30 28
36 55 44 50 44 39 33
59 59 57 72 66 59 54
209 212 183 160 181 165 170
265 279 195 191 207 189 147
209 231 186 170 180 182
354 405 313 344 296 349
147 177 190 210 186 222
74 64 69 63 76 102
66 64 66 66 76 77 48
Anteil der 14—21jährigen an der-allgemeinen Kriminalität und der Jagdwilderei in der Bundesrepublik Deutschland in Prozenten: Jahr
allgemeine Kriminalität
Jagdwilderei
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
40,7 41,4 41,8 39,4 39,6 39,2 35,1
39,0 38,0 36,0 35,2 37,1 31,9 20,7
v
431
331
Der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden an der Jagdwilderei liegt sogar etwas unter dem Durchschnitt der Beteiligung an der Gesamt-Kriminalität.
3. Täterwohnsitz Die Jagdwilderei wird häufiger als der Durchschnitt aller Straftaten außerhalb der Wohngemeinde des Täters begangen. Die Tatorte verlagern sich in die nähere und weitere Umgebung des Wohnsitzes. Trotzdem wird jeder zweite Fall von Tätern begangen, die in der Tatortgemeinde wohnen.
Täterwohnsitz bei der allgemeinen Kriminalität und der Jagdwilderei in der Bundesrepublik Deutschland in Prozenten:
Jahr 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
wohnhaft in der Tatortgemeinde: allg. Kriminalität Jagdwilderei 66,2 61,3 61,9 63,0 64,8 62,2 66,7
57,1 43,9 47,7 48,4 49,6 57.1 52.2
wohnhaft im Bundesland des Tatortes: allg. Kriminalität Jagdwilderei 13.4 15,0 14.5 14,0 13.6 13,4 13,4
15,0 21,5 18.3 19,2 16,5 14,9 17.4
4. Berufliche Zusammensetzung der Tatverdächtigen Der Aktionsradius der Wilderer ist durch die Verwendung von Kraftfahrzeugen wie bei vielen anderen Straftaten größer geworden. Die festgestellte Verlagerung der Tatorte dürfte aber auch mit der Eigenart, besonders den örtlichen Voraussetzungen des Delikts zu begründen sein.
In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden die Berufe der Tatverdächtigen nicht erfaßt. Es liegen jedoch Teilauswertungen des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen vor. Danach traten als Tatverdächtige in Erscheinung:
233
Wilderei
Arbeiter/ Berufslose Bauberufe Metallbearbeitende Berufe Handwerker Kraftfahrer Landwirte/Gärtner Mechaniker Kaufleute Bergleute Metzger/Köche Studenten/Schüler
1972 Angestellte 91 Ingenieure/ 47 Techniker Elektriker Maler 35 19 Förster/ 15 Jagdaufseher Beamte 15 14 Steuerberater 13 Zahntechniker 11 Musiker 11 Schriftsetzer Realschullehrer 11
7 7 6 5 4 2 1 1 1 1 1
Anteil der Alleintäter in der Bundesrepublik Deutschland in Prozenten: Jahr
Allg. Kriminalität
Jagdwilderei
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
68,6 66,8 67,8 68,1 68,1 68,6 68,1
51.5 46.0 46.1 47,8 47.6 51,5 52.2
6. Beteiligung von Ausländern 1974 Arbeiter 166 Kaufleute Schüler/Studenten 23 Beamte Handwerker 21 Rentner Angestellte 21 Hausfrauen freie Berufe 14
Ausländer sind an der Jagdwilderei nicht wesentlich häufiger beteiligt als an anderen Straftaten. Tatverdächtige Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland in Prozenten: Jahr
Bevölkerungsanteil
Durchschnitt aller Delikte
Jagdwilderei
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
5.5 5,7 6,2 6,7 6.6 6,4 6,4
10.3 12.4 12,3 12,6 12,3 12,0 12,1
15.3 14.4 13.0
Die Ausweitungen lassen zwar Schwerpunkte erkennen, ergeben aber auch, dafi die Tatverdächtigen allen Schichten der Gesellschaft angehören.
5. Zusammenwirken mit anderen Der Anteil der Alleintäter ist bei der Jagdwilderei um 30 % niedriger als im Durchschnitt aller Delikte. Jeder zweite Fall von Jagdwilderei wird von mehreren Tätern begangen. Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß jeder zweite Wilderer auch bewaffnet ist, resultiert die Gefährlichkeit.
11.1 12,8
9,7 6,4
Die Italiener sind am häufigsten in Erscheinung getreten. Es folgen die Jugoslawen und die Amerikaner.
Die nach Staatsangehörigkeit und Zahl am häufigsten wegen Jagdwilderei in der Bundesrepublik Deutschland in Erscheinung getretenen Ausländer: Jahr 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
Italien Italien Italien Italien Italien Italien Italien
(80) (75) (62) (48) (45) (31) (25)
Türkei Jugoslawien Spanien Türkei Jugoslawien Jugoslawien Türkei
Die meisten der Verdächtigen halten sich legal als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland auf.
(41) (38) (22) (16) (15) (20) ( 9)
Jugoslawien USA USA USA Türkei USA Griechenland
(38) (31) (17) (15) (15) (12) ( 9)
234
Wilderei
Grund des Aufenthaltes der wegen Jagdwilderei in Erscheinung getretenen Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland in Zahlen: Jahr
Ausländer gesamt
Arbeitnehmer
Stationierungsstreitkräfte
Schüler/ Studenten
tour. Durchreisende
Gewerbetreibende
illegal und sonstige
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
244 225 177 150 132 111 79
176 153 126 109 95 73 55
51 41 30 24 10 15 6
3 4 1 4 4 7 3
3 12 5 1 7 4 2
3 7 4 2 2 1 4
8 8 11 10 14 11 9
7. Zeitliche
Verteilung
Interessant ist die Feststellung, daß sich der Hauptteil der Wilderer nicht aus den Stationierungsstreitkräften rekrutiert. Diese stehen hinter den Gastarbeitern an zweiter Stelle. Beide Gruppen zusammen stellen einen Anteil von rund 85 % der Wilderer mit ausländischer Staatsangehörigkeit dar.
Die Mehrzahl der Fälle von Jagdwilderei wird am Tage, nicht in der Nacht, begangen. Von 324 Fällen, in denen sich die Tatzeit feststellen ließ, lag diese im Jahre 1969 in Bayern in 62 % der Fälle bei Tage und 38 % der Fälle bei Nacht.
Festgestellte Tatbegehung in Nordrhein· Westfalen Jahr
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
davon bei Tag
Prozent
185 203 154 193 200 119 88
138 148 106 114 107 72 37
74,6 72,9 68,8 59,1 53,5 60,5 42,0
47 55 48 79 93 47 51
25,4 27,1 31,2 40,9 46,5 39,5 58,0
1142
722
63,2
420
36,8
Fälle
Die Werte in Nordrhein-Westfalen stimmen mit denen in Bayern fast überein. Gründe für die Bevorzugung der Tageszeit dürften das Tageslicht für den Wilderer mit der Schußwaffe, die bessere Möglichkeit der Beobachtung der Umgebung, aber auch die beruflich bedingte Abwesenheit der Mehrzahl der Jagdausübungsberechtigten zur Tageszeit sein. Die Tatstunden konzentrieren sich auf die Zeit zwischen 15.00 Uhr und 21.00 Uhr. In 612 Fällen verteilte sich die Tatzeit im Jahr 1969 in Bayern prozentual wie folgt:
davon bei Nacht
Tatstunden 00.00 03.00 06.00 09.00 12.00 15.00 18.00 21.00
bis bis bis bis bis bis bis bis
03.00 06.00 09.00 12.00 15.00 18.00 21.00 24.00
Prozent
Prozent der Fälle Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
2,8 3,6 3,8 5,2 5,2 9,8 10,3 6,4
235
Wilderei Die Tatsache, daß die Zeit von 18.00 bis 21.00 Uhr bevorzugt wird, dürfte darauf zurückzuführen sein, daB besonders das Rehwild in der Dämmerung austritt und in dieser Zeit am besten bejagt werden kann, daB es sich um die Zeit handelt, in der außerhalb der normalen Arbeitszeit noch Büchsenlicht herrscht und daß es sich um den Zeitraum handelt, der nach getaner Arbeit allgemein für die Freizeitbeschäftigung genutzt wird. Zu bedenken ist allerdings, daß auch die Jäger, wenn sie ansitzen, sich in diesen Stunden am häufigsten im Revier aufhalten. Diese Tatsache könnte eine erhöhte Feststellbarkeit der Tatbegehung und somit auch der Tatzeit bedingen. Die Berechtigung dieser Vermutung wird durch den allgemeinen von Wilderern in Vernehmungen immer wieder bestätigten Trend, das Revier möglichst zu einer Zeit aufzusuchen, in der der Jagdausübungsberechtigte nicht anwesend ist, erhärtet. Gleiche Betrachtungen drängen sich auf, wenn man die Wochentage in bezug auf die Tatbegehung statistisch untersucht.
Tatbegehung 1969 Wochentag
Sonntag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag
Bayern Prozent der Fälle
NordrheinWestfalen Prozent der Fälle
17,9 16,8 12,1 11,3 10,8 11,8 19,3
13,0 35,2 6,5 3,7 12,0 8,3 21,3
Es ergibt sich hinsichtlich der Tatbegehung in bezug auf Wochentage, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge der Tage, eine übereinstimmende Schlußfolgerung: Jagdwilderei wird schwerpunktmäßig an Wochenenden begangen. Die Tatverteilung in bezug auf die Monate läßt ebenfalls Schwerpunkte erkennen:
Die 3 am häufigsten durch Jagdwilderei belasteten Monate des Jahres in der Bundesrepublik Deutschland: Jahr
Monat
Fälle
Monat
Fälle
Monat
Fälle
1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977
Sept. Mai Mai Mai Mai April Mai
381 274 256 262 258 251 254
Okt. Jan. Juni Juni Juni Mai Jan.
290 221 203 206 240 229 205
Mai Juni Jan. Juli u. Nov. August August August
246 204 201 194 201 225 186
Die am meisten bevorzugten Monate sind somit der Mai und der Juni. Bei dieser Feststellung ist zu bedenken, daß die Bockjagd am 16. Mai beginnt und sich die Jäger deshalb oft im Revier aufhalten. Zusammenfassend muß gesagt werden, daß bei der Größe des Dunkelfeldes im Deliktsbereich der Jagdwilderei und der Problematik der Feststellbarkeit der Fälle hinsichtlich der zeitlichen Schwerpunkte Zweifel daran berechtigt sind, ob die statistisch erkennbaren Schwerpunkte realistisch sind.
ΠΙ. KRIMINALISTIK A. Anzeigen und verdächtige Sachverhalte Strafanzeigen sind Mitteilungen über strafbare Handlungen oder deren Verdacht an die Strafverfolgungsbehörden. Strafanträge haben dagegen eine andere rechtliche Bedeutung. Sie sind zu stellen, wenn strafbare Handlungen, expressiv verbis, nur auf Antrag verfolgt werden und gelten als Verfolgungsvoraussetzung. Im Bereich der Wildereidelikte ist als Antragsdelikt nur die einfache Wilderei deklariert, wenn sie entweder von Angehörigen oder an einem
Ort begangen worden ist, wo der Täter die Jagd in beschränktem Umfange ausüben durfte. Das Anzeigeverhalten von Jagdausübungsberechtigten sowie von Jägern und Zivilpersonen weist charakteristische deliktsspezifische Merkmale auf. Bei den Ausführungen zum Dunkelfeld, Β 3 c, das durch diese Merkmale wesentlich beeinflußt wird, sind bereits einige Phänomene, die sich schwerpunktmäßig mit den Schwierigkeiten der Feststellbarkeit des Delikts befassen, aufgezeigt worden. Es gibt aber weitere Gründe, die das Anzeigeverhalten beeinflussen. Zunächst einige Ausführungen zu dem Mißverhältnis zwischen Anzeigen und tatsächlich begangenen Wildereidelikten anhand eines konkreten Falles: Ein Tatverdächtiger war geständig, teils alleine, teils im Zusammenwirken mit anderen, in drei Zeitabschnitten von je einem halben Jahr insgesamt 600 Stück Rehwild und IS Stück Rotwild erlegt zu haben. Das Geständnis wurde durch buchmäßige Uberprüfung des Ankaufs von Wildbret bei den Erwerbern bestätigt. Die Tatorte lagen in 3 Bundesländern, konzentrierten sich aber dort auf bestimmte wildreiche Gegenden. In einem Bereich der Größe eines Regierungsbezirkes, in dem 210 Stück Reh-
236
Wilderei
wild erlegt worden waren, lagen lediglich 2 Anzeigen wegen Verdachts der Wilderei vor. In bezug auf alle 615 Fälle lag lediglich eine weitere Anzeige vor, in der ein Teil des Kennzeichens des vom Tatverdächtigen gefahrenen Kfz abgelesen worden war. Eine auf Veranlassung der Kriminalpolizei durchgeführte Fragebogenaktion bei den betroffenen Revierinhabern im Hinblick auf Wildverluste und Erkenntnisse über Wilderei ergab, daß in einigen Revieren zwar Wilderei vermutet wurde, aber keine konkreten Anhaltspunkte genannt werden konnten. Feststellungen bei den in Frage kommenden Landeskriminalämtern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen führten erwartungsgemäß ebenfalls zu negativen Ergebnissen. Das bedeutet, daB der Haupttäter mit seinen Komplizen in über 600 Fällen unter Benutzung von SchuBwaffen und Kfz gewerbsmäßig wilderte, ohne im wesentlichen bei den Straftaten aufzufallen und ohne, daB das Fehlen von Wild bemerkt oder angezeigt wurde. Aber selbst bei erkannten Fällen der Jagdwilderei werden nicht immer Anzeigen erstattet. Untersucht man die Gründe, so ist zunächst auf die Tatsache hinzuweisen, daB allgemein durch Wilderer verursachte Wildverluste nicht versicherungsfähig sind. Daraus resultiert, daB eine Meldung an die Polizei als Formerfordernis für die Schadensregulierung entfällt. Dazu kommt, daB der Schaden wegen der Herrenlosigkeit des Wildes nicht so unmittelbar wie bei anderen Delikten empfunden wird, und, daß bei verschiedenen Begehungsarten, z.B. dem erfolglosen Nachstellen, ein materieller Schaden überhaupt nicht eintritt. Die Verletzung des Jagdrechts als ideeller Schaden wird leichter hingenommen als unmittelbare Vermögensschäden. Auch die Angst vor Repressalien spielt eine größere Rolle. Das gilt besonders für die Fälle, in denen ein bestimmter Tatverdacht vorliegt. 30 % der Revierinhaber sind Landwirte, 27 % Kaufleute. Die Furcht vor Brandstiftung, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen oder anderen Repressalien, wie ζ. B. das Vergrämen von Wild, ist nicht unbegründet. Peinlich kann eine Anzeige sich darstellen, wenn als Tatverdächtige Nachbarn, Bekannte, Mitjäger oder sogar jagdschutzberechtigte Personen in Frage kommen. Mitteilungen an die Strafverfolgungsbehörden unterbleiben aber auch deshalb, weil die Betroffenen fälschlicherweise die Meinung vertreten, Anzeigen gegen „Unbekannt" seien zwecklos. Auf die Tendenz Anzeigen eher dann zu erstatten, wenn konkrete Verdachtsmomente gegen bestimmte Personen vorliegen, ist unter den Betrachtungen zur Aufklärungsquote unter I.C.2. hingewiesen worden. Es kommt auch vor, daß Jäger ohne Einschaltung der Polizei eigene Ermittlungen durchführen. In einem Falle wurden 2 Täter nach Observation von Jägern auf frischer Tat ertappt. Die Wilderer wurden vor die Versammlung der Jagdgenossenschaft geladen und verpflichteten sich auf „freiwilliger Basis", eine „Buße" zum Ankauf von neuen Kir-
chenglocken im Heimatdorf zu zahlen. Die Polizei erhielt keine Kenntnis. Diese Art der „Privatjustiz" liegt nicht im Sinne einer effektiven Bekämpfung der Wilderei, weil weder die der Polizei zur Verfügung stehenden kriminaltechnischen Möglichkeiten noch deren taktische Erfahrungen zum Nachweis weiterer Straftaten ausgeschöpft worden sind. Zweifel können berechtigterweise darüber bestehen, was als Jagdwilderei oder Verdacht der Wilderei angezeigt werden soll. Liegen konkrete Feststellungen vor, wie z.B. die Beobachtung von Wilderern, das Antreffen von Wilderern auf frischer Tat, das Auffinden von durch Wildererhand getötetem oder gefangenem Wild oder die Entdeckung fängisch gestellter Schlingen, bestehen keine Probleme. Es gibt aber Grenzfälle, in denen zweifelhaft ist, ob Wilderei vorliegt oder ein Verdacht gerechtfertigt ist. Dazu gehören ζ. B. verdächtige Schüsse. Zweifel, ob im eigenen oder Nachbarrevier, ob auf Wild, auf Ubungsscheiben oder andere Ziele geschossen worden ist, lassen sich manchmal nicht ausräumen. Dann besteht im allgemeinen die Tendenz, Anzeigen zu unterlassen. Ähnlich verhält es sich, wenn Aufbruch im Revier gefunden wird. Hier ist der Verdacht der Wilderei schon naheliegender, weil es nicht üblich ist, Wild in einem fremden Revier aufzubrechen oder Aufbruch in ein fremdes Revier zu verbringen. Wird verendetes Wild gefunden, ist die Feststellung der Todesursache oft schwierig. In vielen Fällen ist sie, bedingt durch den Verwesungszustand, nicht mehr möglich. Dann muß zwar der Verdacht der Wilderei erlaubt sein, aber Zweifel sind berechtigt. Ähnliche Probleme bestehen bei der Beobachtung von Kfz im Revier. In Jägerkreisen ist aus Erfahrung bekannt, daß Liebespaare, Wanderer und Naturfreunde die Einsamkeit der Natur bevorzugen und daB nicht alle auf Waldwegen abgestellten Kfz Wilderern gehören. Trotzdem ist Mißtrauen angebracht. Die Anzeigenerstattung bleibt aber problematisch. Auch wenn festgestellt wird, daß sich der Wildbestand allgemein reduziert oder wenn bestimmte Stücke plötzlich fehlen, sind Zweifel berechtigt. Der Fachmann weiß, daß das Wild je nach Revierbeschaffenheit oder Wildart grenzunabhängig lebt, daß es berechtigterweise in anderen Revieren erlegt werden kann, daB es verenden oder an Krankheiten und Seuchen eingehen kann. Der konkrete Wildereiverdacht wird sich nur verantworten lassen, wenn begründete Anhaltspunkte das rechtfertigen. Die Beobachtung verdächtiger Personen kann ebenfalls nicht in allen Fällen zu einer Anzeige führen. Gerade die dem Wilde nachstellende Tätigkeit wird in der Regel getarnt durchgeführt. Es mag verdächtig erscheinen, wenn Personen sich außerhalb der zum allgemeinen Gebrauch bestimmten Wege im Wald aufhalten. Ohne konkretisierbare Verdachtsmomente wird sich ein Tatverdacht gegen den „harmlosen" Spaziergänger oder Wanderer nicht
Wilderei begründen lassen. Damit entfällt selbst für die jagdschutzberechtigten Personen eine Eingriffsmöglichkeit. Auch der Fund von Patronen oder Hülsen läßt oft einen Verdacht aufkommen. Zunächst sollte geprüft werden, ob die Munition aus den eigenen oder den Beständen der Jagdgäste stammt. Ist das nicht der Fall, ist der Verdacht der Wilderei naheliegend. Auch ein Verstoß gegen das Waffengesetz wäre nicht abzuschließen. Erfahrene Jäger sind in der Lage, den Anschuß, die Stelle, an der ein Stück Schalenwild den Schuß erhalten hat, am dort befindlichen Schnitthaar festzustellen. Ein Wildereiverdacht ist in diesem Falle gerechtfertigt. Kriminaltaktisch ist es für jeden Jagdausübungsberechtigten empfehlenswert, sich über die Fälle, in denen er eine Anzeige nicht verantworten zu können glaubt, Aufzeichnungen über Zeit, Ort und besondere Umstände der Feststellungen zu machen, um bei späterer Konkretisierung eines Verdachtes in der Lage zu sein, genauere Angaben über zurückliegende Ereignisse machen zu können. Diese Hinweise sind geeignet, zur Aufklärung von Wildereifällen beizutragen, wenn einmal ein konkreter Tatverdacht besteht. Unkenntnis und Unsicherheit bestehen oft darüber, wo und wie Anzeigen zu erstatten sind. § 158 StPO regelt: „Anzeigen strafbarer Handlungen oder Anträge auf Strafverfolgung können bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden. Die mündliche Anzeige ist zu beurkunden. Bei strafbaren Handlungen, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, muß der Antrag bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer anderen Behörde schriftlich angebracht werden." Grundsätzlich ist es rechtlich gleichgültig, bei welcher der in Frage kommenden Stellen und ob mündlich oder schriftlich angezeigt wird. Wesentlich ist, daß die Mitteilung den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gebracht wird. Eine bestimmte Form ist nicht vorgeschrieben. In Fällen, die alsbaldige Maßnahmen erfordern, ist die Anzeige bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft zu empfehlen. In aller Regel werden die erforderlichen Maßnahmen von der Polizei durchgeführt. Je schneller und umfassender diese benachrichtigt wird, je besser sind die Erfolgsaussichten. Unabhängig von der jeweiligen Organisationsform der Polizei in den einzelnen Bundesländern können Mitteilungen an jede Polizeidienststelle oder jeden Polizeibeamten gemacht werden. Der Charakter des Offizialdeliktes verpflichtet jeden Polizeibeamten, das Notwendige zu veranlassen. Kriminaltaktisch am günstigsten ist die Anzeige bei der örtlich und sachlich zuständigen Polizeidienststelle. Unzuständige Dienststellen leiten die Anzeigen an die zu-
237
ständigen weiter. Andere Behörden als solche mit polizeilichen Befugnissen sind nicht verpflichtet, Anzeigen zu verfolgen. Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß Jagdbehörden in der Regel im Interesse eines wirkungsvollen Jagdschutzes die Polizei benachrichtigen werden. In einigen Bundesländern besteht für sie eine Verpflichtung zur Weiterleitung von Meldungen aufgrund von Dienstvorschriften oder Erlassen. Die mündliche oder fernmündliche Anzeige bei der Polizei ist die Regel. Sie ist nicht zeitaufwendig und ermöglicht gegenseitige Absprachen sowie notwendige Sofortmaßnahmen. Zu den letzten gehören u. U. eine Tatortbesichtigung oder die Auslösung von Fahndungsmaßnahmen nach Personen oder Sachen. Aber auch Fälle, in denen keine Täterhinweise gegeben werden können, besitzen einen kriminalistischen Wert. Der modus operandi ermöglicht das Erkennen von Tatzusammenhängen. Wichtige Vergleichsdaten ergeben sich aber nicht nur aus der speziellen Arbeitsweise, sondern auch aus der Lage der Tatorte, den Tatzeiten, eventuell benutzter Kraftfahrzeuge und der Verwertung der Jagdbeute, örtliche und zeitliche Schwerpunkte sowie der Aktionsradius des unbekannten Täters lassen sich erkennen, taktische Maßnahmen sind möglich. Hier ist in erster Linie an Observation, Kontrollen oder die Überprüfung bereits in Erscheinung getretener Personen zu denken. Sind konkrete Anhaltspunkte auf einen bestimmten Täter gegeben und bestehen Bedenken, als Anzeigender oder Mitteiler in Erscheinung zu treten, gibt es die Möglichkeit, die Anzeige vertraulich zu erstatten. Die Zusicherung der Vertraulichkeit hat zur Folge, daß der Name des Anzeigenden oder des sonstigen Mitteilers weder in den Akten erscheint, noch in der Hauptverhandlung preisgegeben wird. Die Zulässigkeit der Zusicherung der Vertraulichkeit durch die Polizei ist durch BGH-Entscheidung bestätigt: „Es wäre im höchsten Grade seltsam, wollte man der Polizei vorschreiben, die Entgegennahme von Anzeigen, die unter der Bedingung der Geheimhaltung des Anzeigeerstatters angeboten werden, mit dem Hinweis abzulehnen, seine Geheimhaltung könne nicht zugesichert werden." (BGH 10.7.1952, 3.StR 796/61) Die zugesicherte Vertraulichkeit kann allerdings nicht eingehalten werden, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Angezeigte bewußt wahrheitswidrig oder leichtfertig belastet worden, oder wenn die Preisgabe des Namens zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter geboten ist. Bewußt falsche oder leichtfertig falsche Anschuldigungen kommen bei Wildereidelikten selten vor. Das hängt mit dem allgemeinen Anzeigeverhalten zusammen. Der als Zeuge in der Hauptverhandlung vernommene sachbearbeitende Beamte oder der Polizeibeamte, der die Mitteilung entgegengenommen hat, kann sich auf Fragen des Verteidigers nach dem Namen des Informanten auf die oben zitierte
238
Wilderei
BGH-Entscheidung und darauf berufen, daß sich seine durch den Dienstvorgesetzten erteilte Aussagegenehmigung nicht auf innerdienstliche Ermittlungsmethoden erstreckt. Über die Möglichkeiten vertraulicher Mitteilungen in Fällen der Jagdwilderei bestehen Informationsmängel. Nach entsprechender Aufklärung wird verhältnismäßig oft davon Gebrauch gemacht. Grunde sind die Angst vor Repressalien oder die Peinlichkeit, als Zeuge gegen Bekannte aufzutreten, vielleicht auch das Bestreben, allen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Die Beweislage wird schwierig, wenn der geäußerte Verdacht nicht durch objektive Beweise erhärtet und die Straftat nicht durch andere Beweismittel nachgewiesen werden kann. Ist dem einzigen Zeugen Vertraulichkeit zugesichert, bleibt die Möglichkeit, mit ihm ein Gespräch zu führen, um ihn unter Aufgabe der Vertraulichkeit als Zeugen in das Verfahren einzuführen. Die Preisgabe seines Namens unter Bruch der einmal gegebenen Zusicherung würde die polizeiliche Ermittlungsarbeit auf die Dauer schwer schädigen und das Vertrauen in die Polizei erschüttern.
B. Ortliche und sachliche Zuständigkeit Die örtliche Zuständigkeit der Polizei ergibt sich aus den Polizeigesetzen der Länder, die sachliche Zuständigkeit aus der Strafprozeßordnung und den Polizeigesetzen. Zwar ist die Polizei in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich organisiert, aber es kann überall grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß die Polizeidienststelle für die Sachbearbeitung zustandig ist, in deren Bereich der Tatort liegt. Bei Serienstraftaten erfolgt innerorganisatorische Regelung. Mit der gesetzlichen und organisatorischen Festlegung der Zuständigkeiten ist aber die Frage der Qualifikation der Sachbearbeiter nicht gelöst. Leichtere Fälle der Jagdwilderei werden oft von der Schutzpolizei, besonders in ländlichen Gebieten, bearbeitet. Bei schwieriger gelagerten Fällen übernimmt die Kriminalpolizei die Ermittlungen. In fast allen Polizeibehörden gibt es heute Beamte, und zwar sowohl bei der Schutz- als auch bei der Kriminalpolizei, die Jäger und Inhaber eines Jahres jagdscheines sind. Außer Zweifel steht bei allen Fachleuten, daß spezielle jagdkriminalistische Kenntnisse fur eine optimale Sachbearbeitung erforderlich sind. Es empfliehlt sich, als Sachbearbeiter Beamte einzusetzen, die auch Weideviehdiebstähle oder Verstöße gegen das Waffengesetz bearbeiten.
C. Spezialsachbearbeiter für die Bekämpfung der Wilderei In einigen Bundesländern, ζ. B. in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Hol-
stein gibt es sogenannte Spezialsachbearbeiter für die Bekämpfung der Wilderei. Es handelt sich um Kriminalbeamte, die neben ihrer kriminalistischen auch eine jagdkriminalistische Ausbildung erhalten haben. Hier die Regelung in Nordrhein-Westfalen, die analog auf andere Länder bezogen werden kann: Bei einer Gesamtpersonalstärke der Kriminalpolizei von rund 6000 Beamten werden bis zu 20 Spezialsachbearbeiter eingesetzt. Sie sind nach Deliktsschwerpunkten auf einzelne Kreispolizeibehörden verteilt und können in geeigneten Fällen von den örtlich zuständigen Kreispolizeibehorden angefordert werden. Geeignet sind Fälle, die schwierig zu bearbeiten sind und deshalb Spezialkenntnisse erfordern. Dazu zählen auch umfangreiche Tatkomplexe und solche, die von überörtlichen Tätern begangen worden sind. Alle Fälle der besonders schweren Wilderei sowie der gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wilderei werden dazu gehören. Die Spezialsachbearbeiter sind zwar nicht ausschließlich mit der Bearbeitung von Wildereifällen betraut, stehen aber, und das ist der taktische Hintergrund, bei Bedarf zur Verfügung. Alle Spezialsachbearbeiter haben die Jägerprüfung abgelegt und sind im Besitz eines Jahresjagdscheines. Sie sind dienstlich mit Jagdwaffen und Jagdbekleidung ausgerüstet. Ihnen werden jagdliche Fachzeitschriften zur Verfügung gestellt. Die jagdkriminalistische Spezialausbildung erfolgt durch einen Lehrgang, in dem neben jagdkriminalistischen Übungen z.B. -
die Erscheinungsformen der Wilderei Spurensuche und Spurensicherung die Durchführung von Observationen Festnahmen und Durchsuchungen das Verhalten des Wildes Schußzeichen Wildfütterung das Jagdhundewesen Jagdsignale Bruchzeichen Fährtenlesen jagdrechtliche Fragen die Bearbeitung von Jagdunfällen kriminalistische Möglichkeiten der Beweisführung - die Befugnisse der jagdschutzberechtigten Personen und - die Zusammenarbeit mit den Jagdausübungsberechtigten behandelt werden. Schließlich erfolgen Unterweisungen in der Handhabung von Jagdwaffen und ein jagdliches Schießen. Die Spezialsachbearbeiter werden alle 2 Jahre in Arbeitstagungen, die mit aktuellen Sonderproblemen der Wilderei und sowohl mit einem Erfahrungsaustausch als auch einem jagdlichen Übungsschießen verbunden sind, fortgebildet. Der Einsatz der Spezialisten hat zu guten Kontakten mit den Jagd- und Forstbehörden sowie mit den
Wilderei Jagdausübungsberechtigten geführt. Die Aufhellung des Dunkelfeldes kann dadurch wesentlich begünstigt werden. Die Anforderung von Spezialsachbearbeitern sollte, soweit solche vorhanden sind, in geeigneten Fällen von den Geschädigten angeregt und angestrebt werden. Für fachkundige Beratung, die Erörterung verdächtiger Sachverhalte oder Auskünfte stehen die Spezialisten ebenfalls zur Verfügung. Ob und wo Spezialsachbearbeiter Dienst versehen, ist bei allen Kriminaldienststellen zu erfahren.
D. Meldedienst Sollen die bei den Strafverfolgungsorganen erstatteten Anzeigen eine kriminaltaktische Auswertung ermöglichen, ist es erforderlich, sie zu erfassen und auszuwerten. Durch einen modus-operandi-Vergleich ist es nicht nur möglich, Tatzusammenhänge festzustellen, sondern auch Rückschlüsse auf einen bisher unbekannten Täter zu ziehen. Aus diesem Grunde werden alle Fälle der Jagdwilderei, die auf Grund ihrer Ausführung offensichtlich über eine einmalige Gelegenheitstat hinausgehen, sowie diejenigen, die durch ihre Häufigkeit auf einen gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Täter hindeuten, in Sonderkarteien erfaßt. Gleichzeitig werden alle ermittelten Wilderer nach denselben Kriterien registriert. Vergleiche in bezug auf die Arbeitsweise, eventuelle Personenbeschreibungen oder beobachtete Kfz sind möglich. Je nach dem Aktionsradius des Täters, erfolgt die Erfassung und Auswertung der Mitteilungen auf örtlicher Ebene im engeren oder weiteren Tatortbereich, oder wenn zu vermuten ist, daß der Täter überörtlich tätig geworden ist, auf Landes- oder Bundesebene. In die Täterkartei werden Personen aufgenommen, die wegen Wilderei vorbestraft sind oder im Verdacht der Wilderei gestanden haben. Alle bekannten überörtlichen Täter werden erkennungsdienstlich behandelt, das heißt es werden u.a. Lichtbilder angefertigt und Fingerabdrücke genommen.
E. Die Bedeutung des Tatorts In der Kriminalistik werden der juristische und der kriminalistische Tatort unterschieden. In juristischem Sinne ist eine Tat an jedem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte (§ 9 StGB). Begriffe wie Tätigkeitstatort, Erfolgstatort und Distanzverbrechen sind gebräuchlich.
239
Der kriminalistische Tatortbegriff ist weitergehend. Darunter werden alle Orte verstanden, an denen der Täter vor, während und nach der Tat Veränderungen vorgenommen und Spuren hinterlassen hat. In diesem Tatortbegriff sind Vorbereitungshandlungen, Durchführung und Tätigkeiten nach der Tat einbezogen. Allgemein ist die Bedeutung des Tatortes je nach Delikt unterschiedlich. Bei der Jagdwilderei ist er wichtig, weil er eine ganze Reihe von Feststellungen ermöglicht. Die Feststellung des Tatortes ist bei einigen Begehungsarten der Wilderei unproblematisch, ζ. B. bei der Anwendung von Schlingen oder Fallen. Wird verendetes Wild aufgefunden, das Schußverletzungen aufweist oder sich aus Fallen oder Schlingen befreit hat, ist der Tatort meistens nicht mehr feststellbar. Das Wild ist trotz Verletzungen in der Lage, noch weite Strecken zurückzulegen. Werden jagdbare Tiere mit Schußverletzungen aufgefunden, können aus dem Vorhandensein, der Lage und der Form von Schweiß- (Blut-)spuren, dem Schnitthaar und der Art der Verletzungen Rückschlüsse darauf gezogen werden, ob der Fundort auch der Anschußort ist, aus welcher Richtung geschossen und welche Waffenart benutzt wurde. Zu bedenken ist, daß auch der Standort des Schützen als Tatort von Bedeutung ist. Dort können wichtige Spuren gefunden werden, die Hinweise auf die verwendete Waffe, die Munition, die Bekleidung und mitgeführte Gegenstände geben. Ein- und Ausschuß sind am Wildkörper verhältnismäßig gut feststellbar. Wie in allen anderen Fällen kommt es darauf an, den Tatort vor Veränderungen zu schützen, um der Polizei die Möglichkeit der Spurensuche und Spurensicherung zu geben. Die Vernichtung von Beweismitteln muß verhindert werden. Absperrmaßnahmen spielen wegen der Lage der Tatorte keine wesentliche Rolle. Aus dem Zustand des gefundenen Wildes oder des Tatortes lassen sich auch Rückschlüsse auf die Tatzeit ziehen. Eine Rekonstruktion des Tatherganges ist problematisch. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß das Wild im Feuer zusammenbricht. Die Lage, in der es verendet, ist kaum nachvollziehbar. Eine Möglichkeit, den Standort des Schützen zu bestimmen, ergibt sich eher aus den Umgebungsverhältnissen. Es muß aber davon ausgegangen werden, daß der Täter das Wild, das er im Anschuß streckt, mitnimmt. Dann bleiben allenfalls Schweißspuren, Veränderungen des Untergrundes, Fuß- und Reifenspuren sowie Hülsen, Geschosse, Filzpfropfen und zurückgelassene oder verlorene Gegenstände von Bedeutung. Die mit Jagdwilderei im Zusammenhang stehenden Tatorte liegen weitestgehend im Freien. Deshalb sind sie der Gefahr von Veränderungen durch Witterung und Tierfraß besonders ausgesetzt. Verendetes Wild wird von Raubzeug und Raubwild gern angenommen. Feststellungen in bezug auf den modus operandi sind in vielen Fällen möglich.
240
Wilderei
F. Beweisführung, Sparen - kriminaM ethnische und naturwissenschaftliche Möglichkeiten Bei Wildereiverdacht stößt die Beweisführung oft auf Schwierigkeiten. Das gilt sowohl für den Personalbeweis als auch für den Sachbeweis. Ist ein Beschuldigter geständig, ist das Geständnis dem Personalbeweis zuzuordnen. Um dem späteren Widerruf eines Geständnisses vorzubeugen, ist eine Geständnisuntermauerung angezeigt. Einzelheiten, die der Täter über die Vorbereitung, die Tatausführung und die Verwertung der Beute macht, müssen in jedem Falle überprüft werden. Benutzte Waffen und Werkzeuge sind sicherzustellen und einer kriminaltechnischen Untersuchung zuzuführen. Taktisches Ziel ist, die Beweisführung nicht allein auf das Geständnis aufzubauen. Auch die Schilderung des Tatherganges kann der Beweisführung dienen, wenn sich ergibt, daß die am Tatort getroffenen Feststellungen sich mit den Angaben decken, insbesondere, wenn der Tatverdächtige Umstände schildert, die nur dem Täter bekannt sein können. Auch Angaben über Waffenverstecke, Stellen, an denen Aufbruch, Decken und Knochen vergraben worden sind sowie die Benennung von Abnehmern des Wildbrets sind gute Beweiskriterien, wenn diese Umstände erst durch das Geständnis bekannt werden und sich bestätigen. Der Personalbeweis kann auch durch Zeu-
gen geführt werden. Die Bereitschaft, sich als Zeuge in Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Jagdwilderei zur Verfügung zu stellen, ist allgemein nicht groß. Die Furcht vor Repressalien spielt eine Rolle. Personen, die vertrauliche Mitteilungen machen, können in der Hauptverhandlung nicht als Beweispersonen vernommen werden. Aus diesem Grunde muß der Verdacht durch die Ermittlungen der Strafverfolgungsorgane durch die Herbeischaffung anderer Beweismittel bestätigt werden. Als Beweispersonen kommen alle in Frage, die etwas Sachdienliches bezeugen können. Auch der Sachverständige ist wie der Zeuge ein persönliches Beweismittel. Während der Zeuge persönliche Wahrnehmungen bekundet, zeigt der Sachverständige die für bestimmte Beweisfragen benötigten Erfahrungsgrundsätze, die zu seinem Sachgebiet gehören, auf und wendet sie auf den zu begutachtenden Sachverhalt an. Er kann auch aufgrund seiner Sachkunde oder technischen Möglichkeiten entscheidungserhebliche Tatsachen feststellen. Bei der Jagdwilderei müssen Zeugenaussagen besonders sorgfältig und kritisch beurteilt werden. Nicht alle Zeugen besitzen die erforderliche Sachkunde. Wenn es sich um Aussagen in bezug auf Waffen öder Schußentfernungen handelt, ist selbst bei Jägern Vorsicht angezeigt. Die Problematik wird durch das Ergebnis einiger von mir vorgenommener Tests bestätigt.
Test 1 16 Berufsjägerlehrlinge, alle Jagdscheininhaber, hatten die Aufgabe, 13 Schüsse aus 5 Waffen in Entfernung zwischen SO m und 600 m zu beurteilen.
Beurteilungen und Schätzungen Waffe
Flinte Pistole 08 Pistole 7,65 Büchse Büchse Hornet Büchse Hornet Flinte Büchse Pistole 7,65 Pistole 08 K K mit Schalldämpfer
Entfernung in m
Waffe richtig
Entf. + / - 50 m richtig
100 500 200 500 200 400 150 350 300 600 150 600
14 3 8 13 6 5 4 8 8 6 14 7
7 3 10 4 8 6 7 3 6 5 10 3
6 1 1 5 2 10 3
150
12
13
10
Waffe u. Entf. richtig 5 8 2 3 -
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Wilderei Test 2 25 Berufsjägerlehrlinge, alle Jagdscheininhaber, hatten die Aufgabe, 10 Schüsse aus 5 Waffen in Entfernungen zwischen 100 m und 720 m zu beurteilen. Beurteilungen und Schätzungen Waffe
Entfernung in m
Waffe richtig
Entf. + / - 50 m richtig
Waffe und Entf. richtig
KK Büchse Hornet Flinte Pistole Flinte Pistole KK Büchse Hornet
240 480 510 480 510 720 630 180 720 630
20
18 6 6 6 5 5 11 22 1 2
13
-
2 8 13 10 12 21 2 9
—
2 4 3 2 3 12 —
Test 3 15 Spezialsachbearbeiter für die Bekämpfung der Wilderei, alle Jagdscheininhaber, hatten die Aufgabe, 15 Schüsse aus 4 verschiedenen Waffen in Entfernungen zwischen 160 m und 800 m zu beurteilen. Beurteilungen und Schätzungen Waffe
Entfernung in m
Waffe richtig
Entf. + / - 50 m richtig
Waffe u. Entf. richtig
Flinte Hornet Flinte Flinte Büchse Flinte Hornet Hornet Flinte Flinte Flinte KK Flinte Büchse Flinte
200 200 600 600 600 600 160 160 800 800 450 450 450 400 400
5 3 8 8 5 4 9 5 4 13 8
5 3
5 3
-
-
-
-
3 3 2 2 1 1 3 3 3 2 3
3 3 2 2 1 1 3
-
12 14
-
2 3
Ergebnisse: 1. Die Waffe wird eher richtig beurteilt als die Entfernung des Schusses. 2. Je näher der Schuß abgegeben wird, um so leichter sind Waffe und Entfernung zu beurteilen.
3. Bei Angaben über verwendete Waffen und Schußentfernungen waren beide Kriterien gleichzeitig im Durchschnitt nur in 17 % der Fälle richtig angegeben.
242
Wilderei
Die allgemeine Problematik von Zeugenaussagen in bezug auf Wahrnehmungsfähigkeit, Merkfähigkeit und Wiedergabefähigkeit trifft auch für den Bereich der Jagdwilderei zu. Der Sachbeweis wird durch Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sind, geführt. Diese Gegenstände können, wenn sie nicht freiwillig herausgegeben werden; aufgrund des § 94 StPO beschlagnahmt werden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie sich im Besitz des Beschuldigten oder anderer Personen befinden. Auch Spuren und die beweiserheblichen wahrnehmbaren Sachgegebenheiten und Vorgänge sind Beweismittel. Sie werden durch Augenschein zur Kenntnis genommen. Es gibt Verbindungen zwischen Personalund Sachbeweis, z.B. wenn ein Zeuge etwas beobachtet oder wahrgenommen hat, was durch einen Sachverständigen bewertet wird. In Wildereifällen spielen viele Spuren, die sogenannten stummen Zeugen der Tat, eine Rolle. Sorgfältige Spurensuche, Spurensicherung und Spurenauswertung sind erforderlich. Hier die häufigsten Spuren, die bei der Jagdwilderei vorkommen:
1. Fußspuren Es ist zwischen Eindrücken und Abdrücken zu unterscheiden. Fußabdrücke entstehen auf hartem, Fußeindrücke auf weichem Untergrund. Obwohl die Schuhfabriken heute zum großen Teil serienmäßig und in großer Zahl die gleichen Sohlen, besonders Profilsohlen, verwenden, kann von einer Gleichheit eigentlich nur gesprochen werden, wenn diese absolut neu sind. Bei Gebrauch entstehen individuelle Veränderungen durch Abnutzungserscheinungen, Beschädigungen, Erneuerungen und Reparaturen, die als charakteristische Merkmale von Bedeutung sind. Wilderer tragen, bedingt durch die Notwendigkeit, ihre Tätigkeit außerhalb der befestigten Wege, teilweise in feuchtem Gelände, auszuüben, oft Gummistiefel, Arbeitsschuhe, Schuhe mit groben Profilsohlen. Wegen der großen Beanspruchung dieses Schuhwerks ist mit großer Wahrscheinlichkeit mit individuellen charakteristischen Merkmalen zu rechnen. Die Sicherung von Fußeindrücken erfolgt durch ein Abformverfahren mit Gips, die von Fußabdrükken durch Fotografie und, soweit möglich, Abnahme mit Folie. Fußspuren im Sand oder Staub bedürfen vor dem Ausgießen mit Gips der Verfestigung durch Einsprühen mit Leichtölgemisch oder einer Schellacklösung. Bei Fußspuren im Schnee kann Gips zunächst eingestreut und dann vorsichtig mit kaltem Wasser besprüht werden. Die Jagdwilderei ist eines der wenigen Delikte, bei denen es möglich ist, auch das Gangbild des Täters festzustellen und daraus Rückschlüsse auf besondere Eigenarten des Ganges oder auf Körperschäden zu ziehen.
2. Fahrzeugspuren kommen bei der. Jagdwilderei verhältnismäßig oft vor, weil die Verwendung von Kraftfahrzeugen zugenommen hat und die befestigten Straßen und Wege zur Tatbegehung meistens verlassen werden. Das Reifenprofil, die Spurbreite und u. U. der Radabstand lassen sich/dann gut feststellen. Es sind Rückschlüsse auf den Fahrzeugtyp, aber auch der Beweis, daß die Spuren durch ein bestimmtes Kraftfahrzeug verursacht worden sind, möglich. Die Spurensicherung und -auswertung erfolgt auf dieselbe Weise wie bei Fußspuren.
3. Finger- und Handflächenspuren können an Tatwerkzeugen und an allen Gegenständen mit glatten Oberflächen, aber auch in formbaren weichen Materialien entstehen. Sie stellen die Wiedergabe des Papillarleistenbildes dar und werden durch Schweißabsonderung, Übertragung fremder Substanzen wie ö l , Fett, Staub, Blut sowie anderer Flüssigkeiten oder durch Eindruck verursacht. Bei der Jagdwilderei kommen daktyloskopische Spuren an Waffen, Fallen, Metallteilen, Kunststoffen, Glasscheiben (Hochsitze), Tatwerkzeugen und zurückgelassenen Gegenständen vor. Sie sind meist latent und müssen, das ist ein Problem der Spurensuche, intensiv gesucht und vor der Sicherung sichtbar gemacht werden. Die Sicherung erfolgt im wesentlichen durch ein Einstaubverfahren mit Rußpulver, Argentorat, Mangandioxyd, Caput-mortuum oder Metallspänen in Verbindung mit einer Magnetbürste (magna brush). Die Abnahme vom Spurenträger erfolgt in der Regel mit Folie. Daktyloskopische Spuren am Wildkörper kommen kaum vor. Finger- und Handflächenspuren ermöglichen mit Sicherheit den Beweis, daß eine bestimmte Person am Tatort war oder einen bestimmten Gegenstand angefaßt hat. Voraussetzung ist, daß die Spuren auswertbar und mindestens 12 anatomische Merkmale im Papillarlinienbild feststellbar sind. Der Nachweis beruht auf folgenden 2 Grundtatsachen: - Jeder Mensch hat andere, individuelle Hautleistenbilder, die nicht vererblich sind. - Die Hautleistenbilder eines Menschen bleiben von Geburt bis zum Tode von Natur aus unveränderlich.
4. Erdspuren spielen bei Wildereidelikten häufiger als bei anderen Delikten eine Rolle, weil die Tatorte im Freien liegen. Staub, Schmutz und Erde ermöglichen den Nachweis, daß der Tatverdächtige sich am Tatort aufgehalten hat. Bei den Ermittlungen ist nicht nur
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Wilderei auf Anhaftungen am Schuhwerk, sondern auch darauf zu achten, daß sich Erdspuren auch an der Bekleidung, besonders im Bereich der Ellenbogen, der Knie und am Körper, vornehmlich an den Händen, unter den Fingernägeln und in Hautfalten befinden können. Dazu kommen Erdspuren, die an Verpakkungs-, Transportgegenständen und Transportmitteln gefunden werden können. Dazu zählen Rucksäcke, Decken, Tücher, Säcke, Tragetaschen aller Art und auch Kraftfahrzeuge. Um beweiskräftige Ergebnisse durch eine kriminaltechnische oder naturwissenschaftliche Untersuchung zu erzielen, ist es am zweckmäßigsten, den Spurenträger als Ganzes sicherzustellen. Das Ablösen der Spuren von dem mit Erdspuren behafteten Gegenstand birgt die Gefahr der Vermischung mit anderen Substanzen. Die Kleidungsstücke müssen zweckmäßigerweise einzeln verpackt werden. Zur Erstellung eines Gutachtens ist die Entnahme von Vergleichsproben von mehreren Stellen des Tatortes oder Fluchtweges in Mengen von je 100 g von der Kontaktoberfläche erforderlich. Die Verpackung erfolgt am besten in Plastikbeuteln. Für einen mikroskopischen Vergleich sind auch noch Milligramm-Mengen geeignet.
5. Pflanzenspuren eignen sich durch biologische Untersuchungen in gleicher Weise für die Beweisführung. Zur Spurensuche, Spurensicherung und -auswertung gelten teilweise die Ausführungen zu den Erdspuren analog. Kraftfahrzeuge, Verpackungsmaterial, Hosenaufschläge und Hosentaschen sollten als Fundstellen von Pflanzenteilen in Betracht gezogen werden.
6. Tierhaare und Federn spielen bei Wildereidelikten eine große Rolle. Tierhaare können an der Bekleidung, in Rucksäkken, in Kraftfahrzeugen, in den Wohn- und Kellerräumen des Verdächtigen, am Wildbret und an Tatwerkzeugen gefunden werden. Es ist nicht nur möglich, Tierhaare von Menschenhaaren zu unterscheiden, sondern auch die Tiergattung zu bestimmen, der die Haare zuzuordnen sind. Der Nachweis, daß ein bestimmtes Haar von einem bestimmten Stück Wild stammt, ist nur in Einzelfällen möglich, wenn individuelle Merkmale, z.B. Krankheiten, Anhaftungen oder Beschädigungen vorhanden sind. Die Haare von Nieder- und Hochwild lösen sich sehr leicht. An der Bekleidung, an Transportmitteln und Verpackungsmaterial, die mit behaarten Teilen des Wildes in Berührung kommen, sind in der Regel Haare zu finden. Die Sicherung erfolgt durch Auflesen der einzelnen Haare oder durch Abnahme mit einer transparenten Adhäsionsfolie. Die gleichen Grundsätze gelten für Federn.
Viele Pflanzenfasern sehen bei oberflächlicher Betrachtung Haaren ähnlich; für den Sachverständigen bereitet die Unterscheidung allerdings keine Schwierigkeit. Feststellungen, ob es sich um abgestoßene, abgequetschte, ausgerissene oder abgeschnittene Haare handelt, sind möglich. In Einzelfällen kann sogar bestimmt werden, von welchem Körperteil das Haar stammt. Gegen postmortale Zerstörung sind Haare sehr widerstandsfähig, so daß z.B. bei vergrabenen Wildabfällen noch nach langer Zeit eine Beweisführung auf Grund der Haare möglich ist.
7. Knochen dazu gehören auch Gehörne, Geweihe und Zähne, spielen bei der Jagdwilderei eine wichtige Rolle. Läufe, Decken und das Gescheide sind für eine Nutzung nicht geeignet. Diese Abfälle werden meistens vergraben oder in Flußläufe geworfen. An der Abnutzung der Zähne läßt sich das Alter des Stückes verhältnismäßig sicher beurteilen. Gleiche Schlüsse erlaubt das Gehörn, das eventuell beim Verdächtigen gefunden wird. Die Unterscheidung von Menschen- und Tierknochen ist möglich. Die Sicherung von Knochen, Gehörnen und Geweihen zum Zwecke der Begutachtung ist problemlos.
8. Werkzeugspuren spielen bei der Anfertigung von Fallen und Schlingen sowie bei der Herstellung, Bearbeitung und Veränderung von Waffen eine Rolle. Je nach Entstehung handelt es sich um Abdrücke, Eindrücke, Gleit- oder Schürfspuren. Die Berührung des Werkzeuges mit dem Spurenträger kann gleitend, spanabhebend, schneidend, rotierend oder durch Druck erfolgen. In jedem Falle entstehen Spuren, die für die Beweisführung geeignet sind. Der Nachweis, daß ein bestimmtes Werkzeug benutzt worden ist, basiert auf der Tatsache, daß Werkzeuge Bearbeitungsspuren und individuelle Beschädigungen aufweisen, die sich auf den Spurenträger übertragen. Als Beweismittel kommen im Bereich der Jagdwilderei z.B. in Frage: Zangen, Hämmer, Sägen, Äxte, Beile, Stanzeisen, Bohrer, Messer pp. Falls der Spurenträger nicht sichergestellt werden kann, werden Werkzeugspuren durch Fotografie und durch Abformmasse gesichert. Der Nachweis ist durch mikroskopischen Vergleich möglich. Mit dem inkriminierten Werkzeug werden Vergleichsspuren gelegt, die unter dem Vergleichsmikroskop auf gleiche Art und Lage der vom Werkzeug hinterlassenen Spuren untersucht werden. Auch Werkzeugsysteme sind bestimmbar. Die Wiedersichtbarmachung von Prägezeichen, ausgefeilten und ausgeschlagenen Nummern ist durch chemotechnische Untersuchung möglich.
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Wilderei 9. Spuren an und von Schußwaffen
Der Wilderer mit der Schußwaffe verursacht notwendigerweise eine ganze Reihe von Spuren, die für die Beweisführung gut geeignet sind. Es entstehen Spuren am Schützen, an der Waffe, am Geschoß, an der Hülse, an der Einschlagstelle. Am Schützen können Verletzungen an der Schießhand, im Gesicht, im Augenbereich oder im Schulterbereich entstehen. An Händen und der Bekleidung können Ol- oder Fettrückstände der Waffe anhaften. Beim aufgesetzten Schuß können Blutpartikel auf den Schützen übertragen werden. An der Waffe können daktyloskopische Spuren, besonders an den glatten Teilen, entstehen. Im Laufinneren sind Pulverreste, Pulverschmauch, manchmal auch Teile des Wildbrets, Schweiß, Stoffasern oder Wildhaare feststellbar. Dadurch sind Rückschlüsse auf die Schußentfernung möglich. Die Waffe ist ferner Träger von Bearbeitungs- und Systemmerkmalen. Im Lauf, am Schlagbolzen, am Auszieher und Auswerfer befinden sich herstellungsbedingte Werkzeugspuren und Unebenheiten. Auf das Waffensystem läßt sich durch die Anzahl und Breite der Felder, den Drallwinkel und die Drallrichtung in Verbindung mit der Anordnung des Schlagbolzens, des Ausziehers, der Auszieherkralle und des Auswerfers schließen. Am Geschoß läßt sich neben den erwähnten Systemmerkmalen das Kaliber feststellen. Auch eine Materialanalyse kann von Bedeutung sein. Die Hülse ermöglicht neben der Feststellung des Kalibers und der Munitionsart den Verfeuerungsnachweis durch Untersuchung der durch Schlagbolzen, Auszieherkralle und Auswerfer verursachten Stanzmarken oder Schürfstellen. Am Wildkörper sind Ein- und Ausschuß, evtl. der Schußkanal, feststellbar. Daraus können Rückschlüsse auf die Schußrichtung und Schußentfernung gezogen werden. Kontusionsring, Abstreifring, Pulverschmauch, Stanzmarke und Flammeneinwirkung deuten auf Nahschüsse hin. Da ein großer Teil der Wilderer Kleinkaliberwaffen benutzt, ist wegen des geringen Geschoßgewichtes nicht in allen Fällen ein Ausschuß feststellbar. Der Einschuß ist manchmal schwer zu finden. Es empfiehlt sich, besonders bei Haarwild, die Tiere abzubalgen oder aus der Decke zu schlagen und an der Innenseite nach Einschüssen zu suchen, die dort gut zu erkennen sind. Oft kann auf diese Weise sogar das Kaliber festgestellt werden. Im Wildkörper sollte, falls kein Ausschuß gefunden wird, auf jeden Fall nach dem Geschoß, das Träger wichtiger Merkmale ist, gesucht werden. Dazu muß das Wild aufgebrochen und vorsichtig zerlegt werden. Wird ein Geschoß gefunden, ist bei der Sicherstellung und Verpackung, wie auch bei der Sicherung von Hülsen, darauf zu achten, daß keine neuen Spuren gelegt werden. Sie können entstehen, wenn die Munitionsteile mit harten Gegenständen in Berührung kommen. Vergleiche müssen dann zu falschen Ergebnissen führen.
Die Identifizierung von Geschossen, die aus nicht gezogenen Läufen verfeuert wurden, stößt auf Schwierigkeiten, ist aber möglich, wenn das Laufinnere Beschädigungen aufweist. Schrotschüsse sind so gut wie nicht identifizierbar. Ein Rückschluß auf das Kaliber der Flinte ist theoretisch durch Messung der Krümmung der Randschrote möglich. Randschrote im Wildkörper zu finden und festzustellen ist aber so schwierig, daß die Untersuchung fast aussichtslos ist. Eine Schußaltersbestimmung ist nur an der Waffe möglich. Grundlagen für die Begutachtung sind Schmauch-, ö l - und Pulverreste. Zur Untersuchung von Waffen, Hülsen oder Geschossen wird bei den kriminaltechnischen Untersuchungsstellen ein Vergleichsbeschuß in einem Beschußkasten durchgeführt. Neben der Möglichkeit, Individualidentifizierungen durchzuführen, können aufgrund verwendeter Waffen und Munitionsteile auch Tatzusammenhänge festgestellt werden. Zu diesem Zwecke hat das Bundeskriminalamt einen Schußwaffenerkennungsdienst eingerichtet und unterhält zentrale Waffen- und Munitionssammlungen. Diese sind Hilfsmittel des Schuß Waffenerkennungsdienstes. Nicht nur alle mit einer Straftat in Verbindung stehenden Waffen, Hülsen, Geschosse und Patronen, sondern auch alle anderen durch behördliche Maßnahmen sichergestellten Schußwaffen werden erkennungsdienstlich ausgewertet. Tatzusammenhänge werden durch mikroskopischen Vergleich der mit sichergestellten Tat- und sonstigen Schußwaffen verfeuerten Vergleichshülsen und -geschossen mit den sichergestellten Munitionsteilen sowie den Tatmunitionsteilen untereinander festgestellt. Die zentrale Waffensammlung enthält alle Waffenmodelle und deren Abarten in mindestens einem funktionsfähigen Exemplar. Das Bundeskriminalamt erfaßt die Daten all dieser Waffen, fertigt Lichtbilder an und überläßt den sachbearbeitenden Dienststellen in den Ländern auf Anforderung Lichtbilder oder Waffen für Fahndungszwecke, ζ. B. zur Vorlage bei Zeugen. 10. Blutspuren Bei der Bearbeitung von Wildereidelikten spielen oft Blutspuren eine Rolle. Blut wird in der Jägersprache, soweit jagdbares Wild betroffen ist, Schweiß genannt. Blut- oder Schweißspuren sind ' schwer zu erkennen, wenn sie eingetrocknet sind. Rote, braune, braungraue, grünliche, dunkelbraune und schwarze Farbtöne kommen vor. Als Grundsatz kann gelten: Je dunkler die Farbe, um so älter ist die Spur. Bestehen Zweifel, ob es sich bei der Substanz um Blut handelt oder nicht, können Reaktionstests mit Benzidin, Leukomalachit-Grün oder anderen Mitteln zur Vorausscheidung durchgeführt werden, sofern genügend Substanz vorhanden ist. Der si-
Wilderei chere Nachweis erfolgt auf chemischem, mikroskopischem oder mikrospektographischem Wege. Blutund Schweißspuren werden nicht nur am Tatort, an der Bekleidung und in Transportmitteln, sondern auch in der Wohnung des Tatverdächtigen gefunden. Die Spurensuche muß sich auch auf alle Gegenstände erstrecken, die für das Aufbrechen und Zerlegen des Wildes sowie die Säuberung und Aufbewahrung des Wildbrets und auch der Abfälle benutzt worden sein können. Während Blut in der allgemeinen Kriminalistik, besonders bei Tötungsdelikten, oft als Formspur (Tropfen, Spritzer, Wischer, Abrinnspuren) eine Rolle spielt, ist diese Spurenart mit den Möglichkeiten der Deutung auf Fallhöhe, Richtungs- und Bewegungsverlauf bei Wildereidelikten nicht von so wesentlicher Bedeutung. Allerdings ist die Feststellung des Anschusses aufgrund vorgefundenen Schweißes möglich. Eine größere Rolle spielt das Blut als Substanz. Dabei ist oft durch Gerichtsmediziner oder Biologen die Frage zu klären, ob es sich um Menschen- oder Tierblut handelt. Diese Unterscheidung ist grundsätzlich möglich. Auch eine Blutaltersbestimmung kann vorgenommen werden. Dazu sind allerdings sehr sorgfältige Spurensicherungsmaßnahmen erforderlich. Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die zur Veränderung einer Blutspur führen können, z.B. Überlagerung mit anderen Substanzen, Licht- und Temperatureinwirkungen, Feuchtigkeit, unsachgemäße Verpackung, Beeinträchtigung durch den Spurenträger. Für die Spurensuche empfiehlt sich die Verwendung von UV-Licht. Dieses kann auch die Auffindung von Schweißflecken in gewaschenen Bekleidungsstücken ermöglichen. Die Sicherung von Blutspuren sollte zunächst photographisch, auf jeden Fall durch Farbaufnahme, und anschließend möglichst mit dem Spurenträger erfolgen. Das stößt bei Waffen, Werkzeugen, Rucksäcken, Kofferraummatten, Verpackungsmaterial pp. auf keine Schwierigkeiten. Gutachten sollten wegen der Veränderungsmöglichkeiten des Blutes so schnell wie möglich beantragt werden. 11. Andere Spuren Selbstverständlich können bei Wildereidelikten auch alle anderen Spurenarten von Bedeutung sein. Hier soll nur noch auf Mikrospuren hingewiesen werden, die, weil sie mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind, auch vom auf Spurenbeseitigung bedachten Täter, nicht bemerkt werden. Die Sicherung solcher Mikrospuren kann durch Sicherstellung des Spurenträgers, z.B. Bekleidung, durch Aufsaugen mit einem Staubsauger, ζ. B. vom Autositz, oder mit Klebefolie, z.B. vom Fußboden, erfolgen.
245 G. Verhalten bei Antreffen von Wilderem
Spricht man in Jägerkreisen über das Verhalten bei Antreffen von Wilderern, wird sofort die Frage gestellt, ob geschossen werden darf. Es ist nicht möglich, darauf mit einem klaren Ja oder Nein zu antworten. Es kommt auf den Fall an. Grundsätzlich muß gesagt werden, daß dem Jäger dieselben Rechte zustehen wie jedem anderen Bürger. Das bedeutet, daß der Gebrauch von Schußwaffen gegen Wilderer allgemein nur unter den strengen rechtlichen Voraussetzungen der Notwehr oder Nothilfe erlaubt ist. Es gibt jedoch auch andere Verhaltensweisen, die geeignet sind, die Ermittlungen, die Festnahme und die Beweisführung zu ermöglichen. Will man sich in kritischen Situationen taktisch richtig verhalten, ist wegen der differenzierten Rechtslage in bezug auf den Jagdschutz zunächst eine Darlegung der rechtlichen Möglichkeiten erforderlich. Der Jäger ist in der Regel eine Privatperson, die im Besitz eines Jagdscheines ist. Voraussetzung für den Erhalt eines Jagdscheines ist das Bestehen einer Jägerprüfung. Diesem Personenkreis stehen bei Antreffen von Wilderern die Jedermannrechte zu. Dazu gehören u. a. das Festnahmerecht, das Notwehrrecht und die Selbsthilferechte aus dem BGB. Nach § 127 StPO ist jedermann befugt, jemanden ohne richterliche Anordnung festzunehmen, wenn dieser auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wird und er entweder der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann. Der spezielle Jagdschutz wird von sogenannten jagdschutzberechtigten Personen wahrgenommen. Dazu zählen: - Polizeibeamte, - Forstbeamte, die im Bereich ihrer Forstverwaltung zu Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft erklärt worden sind, - Jagdausübungsberechtigte, das sind Eigenjagdbesitzer und Jagdpächter, sofern sie Inhaber eines Jagdscheines sind, - bestätigte Jagdaufseher, die nicht Berufsjäger oder forstlich ausgebildet sind, - bestätigte Jagdaufseher, die Berufsjäger oder forstlich ausgebildet und Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind. Die diesem Personenkreis zustehenden Rechte sind unterschiedlich. Die Jagdausübungsberechtigten und die bestätigten Jagdaufseher, die nicht Berufsjäger sind, dürfen aufgrund der Landesjagdgesetze Personen, die unbefugt jagen oder sonstige Zuwiderhandlungen gegen jagdrechtliche Vorschriften begehen oder außerhalb der zum allgemeinen Gebrauch bestimmten Wege zur Jagd ausgerüstet angetroffen werden, - anhalten, - ihre Person feststellen, - ihnen gefangenes oder erlegtes Wild, - Schuß- oder sonstige Waffen, - Jagd- und Fanggeräte,
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Wilderei
- Hunde und Frettchen abnehmen, - wildernde Hunde und Katzen abschießen. Die bestätigten Jagdaufseher, die Berufsjäger oder forstlich ausgebildet und Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, dürfen darüber hinaus innerhalb ihres Dienstbezirkes in Angelegenheiten des Jagdschutzes u.a. Durchsuchungen, Beschlagnahmen und körperliche Untersuchungen anordnen und durchführen. Selbstverständlich stehen sowohl den Jagdausübungsberechtigten als auch den bestätigten Jagdaufsehern die Jedermannrechte zu. Soweit die Rechtslage. Problematisch ist im Jagdschutz oft die taktische und praktische Durchführung rechtlich erlaubter Maßnahmen. Es gibt Fälle, in denen die Begegnung mit dem Wilderer unverhofft erfolgt. Befindet sich der Jäger auf einem Pirschgang oder auf dem Wege zum Hochsitz, wird er in der Regel bewaffnet sein. Dadurch sind für die Durchführung von Maßnahmen, z.B. die Wegnahme von Waffen und Jagdgeräten oder die vorläufige Festnahme, bessere Voraussetzungen gegeben, als wenn ein unbewaffneter Jäger den Wilderer stellt. Aber selbst wenn der Berechtigte eine Waffe führt, bestehen Probleme. Gegründet auf kriminologische Erfahrungen besteht immer die Gefahr, daß der Verdächtige nicht allein handelt. Während der Jagdschutzberechtigte sich mit einem Täter befaßt, der sich möglicherweise bereitwillig entwaffnen läßt, wird er vom Mittäter aus dem Hinterhalt angegriffen. Unterschiede in Alter, Körperbau, Gewandtheit und Energie spielen ebenfalls eine Rolle. Grundsätzlich muß man davon ausgehen, daß von der Schußwaffe nur bei einem gegenwärtigen Angriff auf Leib und Leben Gebrauch gemacht werden kann. Dieser Angriff braucht nicht unbedingt mit einer Schußwaffe zu erfolgen. Greift der körperlich überlegene Wilderer den Jagdschutzberechtigten mit einem schweren Knüppel an, kann die Berechtigung zum Schießen gegeben sein. Um den flüchtenden Wilderer anzuhalten, wäre ein Schußwaffengebrauch nur für einen bestimmten Personenkreis, z.B. Polizeibeamte oder öffentlich bestätigte Jagdaufseher, die die Rechte und Pflichten von Polizeibeamten haben, nach den in den Bundesländern geltenden Gesetzen über die Ausübung unmittelbaren Zwanges möglich. Allgemeine Voraussetzung wäre, daß der Verdächtige einen Verbrechenstatbestand erfüllt oder eine Schußwaffe führt. Schußwaffengebrauch, um dem Wilderer erlegtes Wild abzunehmen, ist aus Gründen der Rechtsgüterabwägung problematisch. Ist Waffenoder Gewaltanwendung an Ort und Stelle aus taktischen Gründen nicht möglich, gibt es andere Verhaltensweisen, die zu einer späteren Ermittlung des Täters führen können. In erster Linie gilt der Grundsatz: Augen auf eine Personenbeschreibung kann die späteren Ermittlungen wesentlich erleichtem. Besonderheiten der Sprache, Kennzeichen, Fabrikat, Baujahr und
Farbe mitgeführter Kraftfahrzeuge, besondere körperliche Merkmale, mitgeführte Waffen und Geräte, Fluchtrichtung, zurückgelassene Gegenstände pp. sind als wichtige Fahndungshinweise zu werten. Andere kriminaltaktische Grundsätze gelten für die Festnahme von Wilderern, die, nachdem z.B. Schlingen oder Fallen entdeckt worden sind, durchgeführt werden sollen. Die beste Methode ist, die Schlingen oder Fallen zu observieren. Dabei kommt es darauf an, selbst nicht bemerkt zu werden und die Kräfte richtig einzusetzen. Ein zu früher Zugriff kann zum Scheitern der Aktion führen. Mit der Festnahme muß gewartet werden, bis der Verdächtige die Schlinge wieder fängisch gestellt hat. Wird vorher zugegriffen, bestehen Beweisschwierigkeiten, wenn der Verdächtige sich dahingehend einläßt, das Wild zufällig entdeckt und die Absicht zu haben, es dem Berechtigten gerade bringen zu wollen. Wird die Schlinge nicht wieder fängisch gestellt, könnten andere Maßnahmen, z.B. Bewegungsobservation, mehr Erfolg versprechen. Ein Zugriff sollte unterbleiben, wenn der Verdächtige von Person bekannt ist. Falls von ihm nach spätestens 2-3 Tagen keine Mitteilung an den Berechtigten erfolgt ist, hat eine Durchsuchung gute Aussicht auf Erfolg. Darüber hinaus stehen Zeugen zur Verfügung, die an der Observation teilgenommen haben, so daß der Personalbeweis geführt werden kann. Bei vorläufigen Festnahmen darf die Eigensicherung nicht vernachlässigt werden. Die aufgrund der Landesjagdgesetze für jagdschutzberechtigte Personen möglichen Maßnahmen, z.B. das Anhalten von Personen, di6 außerhalb der zum allgemeinen Gebrauch bestimmten Wege zur Jagd ausgerüstet angetroffen werden und die Feststellung der Person, sind nicht immer ohne Probleme praktizierbar. Schwierigkeiten treten auf, wenn der Betroffene nicht einverstanden ist oder sich widersetzt. Generell kann gesagt werden, daß die Berechtigung zum Anhalten, zur Personalienfeststellung, zur Abnahme von erlegtem Wild, Waffen, Jagd- und Fanggeräten im Weigerungsfalle auch Gewaltanwendung in erforderlichem Maße einschließt. Darunter ist in erster Linie körperliche Gewalt zu verstehen. Die Anwendung von Schußwaffen, hier ist an den Schuß auf den Verdächtigen gedacht, wird unter Berücksichtigung der bereits erörterten Probleme der Verhältnismäßigkeit, Erforderlichkeit und Rechtsgüterabwägung, nicht in Frage kommen. Das schließt aber nicht aus, daß der Berechtigte seine Waffe, schon allein aus dem Gesichtspunkt der Eigensicherung, im Anschlag hält. Auch ein Warnschuß wäre vertretbar. Die Abgabe von Warnschüssen für den Personenkreis mit Rechten und Pflichten von Polizeibeamten richtet sich nach den Bestimmungen der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges. Verweigert ein Verdächtiger die Personalienangabe, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer vorläufigen Festnahme gegeben sind. Für die Ge-
Wilderei waltanwendung zum Zwecke der Festnahme gilt das bereits Gesagte. Falls Verdächtige festgenommen, Schußwaffen, erlegtes Wild oder Fanggeräte abgenommen werden, müssen diese unverzüglich der Polizei übergeben werden, die alles weitere veranlaßt. Durchsuchungen dürfen nur von Personen angeordnet werden, die Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind. Die Jagdausübungsberechtigten und die öffentlich bestätigten Jagdaufseher, die nicht Berufsjäger oder forstlich ausgebildet sind, dürfen somit keine Durchsuchungen anordnen und, falls sie bei der Begegnung mit einem Verdächtigen auf sich allein gestellt sind, auch keine durchführen. Ist ein Anordnungsberechtigter zugegen, kann der zuvor genannte Personenkreis selbstverständlich an der Durchsuchung teilnehmen. Die Wegnahme von Waffen durch jagdschutzberechtigte Personen, die nicht Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, kann nur erfolgen, wenn die Waffen z.B. am Körper, in der Bekleidung oder in mitgefühlten Taschen gesehen werden. Eine Durchsuchung nach vermuteten Waffen darf von diesem Personenkreis nicht angeordnet oder verlangt werden.
H. Möglichkeiten der Intensivierung der Wildererbekämpfung In meinen Ausführungen zu den Ursachen, Erscheinungsformen und Bekämpfungsmethoden der Jagdwilderei habe ich auf Besonderheiten und spezielle Probleme dieses Deliktes hingewiesen. Die Aufklärungsquote von durchschnittlich 50 % darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Dunkelziffer extrem hoch, die Anzeigefreudigkeit weniger groß und die Aufklärung schwierig ist. Gedanken über die Intensivierung der Bekämpfung der Jagdwilderei und der Aufhellung des Dunkelfeldes sind daher angezeigt. Hier einige Möglichkeiten, die geeignet sind, zu besseren Ergebnissen zu gelangen: Die innere Einstellung der Bevölkerung zum Delikt kann durch Publikationen in positivem Sinne beeinflußt werden. Es kommt darauf an, die Angst vor Repressalien zu mildern, die Bereitwilligkeit, sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen, zu wecken und zu erreichen, daß die im Jagdschutz tätigen Dienststellen und Personen Hinweise erhalten. Die Bewertung des Delikts durch den Gesetzgeber sollte denen, die mit den Sanktionen nicht einverstanden sind, nahegebracht werden. Dies kann durch realistische Darstellung der jagdlichen Belange, der Bedeutung der Jagd und der Täterpersönlichkeit erfolgen. Eine Glorifizierung des Wilderers ist weder angezeigt noch real. Kriminelles Unrecht sollte nicht verherrlicht werden. Der Zeuge oder Mitteiler sollte sich nicht als Denunziant fühlen. Das Anzeigeverhalten bedarf einer Veränderung. Das gilt auch für die Jäger. Bei ihnen ist darüber hinaus Aufklärung über die Tatbestandsmerkmale der
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Jagdwilderei, über Zuständigkeitsfrägen, Aufklärungsmöglichkeiten, kriminaltaktische Grundsätze bei Maßnahmen, das Verhalten am Tatort, Spurensicherung, Beweismöglichkeiten, die Zusammenarbeit mit der Polizei und die in Ausübung des Jagdschutzes zustehenden Rechte notwendig. Maßnahmen der Jäger in Richtung Eigenjustiz sind fehl am Platze. Der Jägerschaft muß nahegebracht werden, daß es notwendig ist, jeden Fall anzuzeigen, weil die taktische Auswertung der Meldungen wichtige Erkenntnisse in bezug auf den Täter erbringen. Anzeigen sollten ohne Rücksicht darauf, ob der Täter bekannt ist oder nicht, erstattet werden. Die Mitteilungen sollten so schnell wie eben möglich erfolgen. In Fällen, in denen Wilderei zweifelhaft ist, sollten schriftliche Aufzeichnungen gemacht werden. Die Aufbewahrung kann bei den jagdlichen Unterlagen, die jeder Jäger besitzt, erfolgen. Bei Reviergängen sollte stets auf Umstände geachtet werden, die den yerdacht der Wilderei erwecken. Unbekannte Personen und Kraftfahrzeuge sollte man kritisch sehen, sich die Uhrzeit, Beschreibung und Kennzeichen merken. Auch der Wildbestand sollte aufmerksam beobachtet werden, um eine auffällige Reduzierung feststellen zu können. Versteckte Schlingen und Fallen sollten gefunden werden. Waidgerechtes Verhalten und die Vermeidung von Jagdunfällen tragen dazu bei, das Ansehen der Jäger in der Bevölkerung zu heben. Die Möglichkeit, der Jägerschaft die vorstehend geschilderten Anliegen näherzubringen, besteht durch persönliche Gespräche, Vorträge in Hegeringen, in Jahreshauptversammlungen der Kreisverbände des Deutschen Jagdschutzverbandes (DJV) und durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. Auch im Bereich der Polizei können intensivierende Maßnahmen ergriffen werden. Sind einmal Anzeigen erstattet, sollte die Bearbeitimg unverzüglich in Angriff genommen werden. Notwendige Tatortbesichtigungen, Fahndungsmaßnahmen oder Ermittlungen dulden keinen Aufschub. Schleppende Sachbearbeitung erzeugt den Eindruck von Desinteresse, stößt bei den Betroffenen auf Verwunderung und bedingt Verärgerung. Soweit Spezialsachbearbeiter vorhanden sind, sollten diese in jedem geeigneten Fall hinzugezogen werden. Die erforderlichen Meldungen, die eine Auswertung ermöglichen, sollten wie vorgesehen erstattet werden. Dabei ist auf die Erfassung des modus operandi besonderer Wert zu legen. Spezialisten sind auch bei schwierigen Fällen in der Lage, diese richtig zu erkennen. Beobachtungen, die in Ausübung des allgemeinen Dienstes gemacht werden und die möglicherweise mit Jagdwilderei in Verbindung zu bringen sind, sollten in Form eines Beobachtungsberichtes zur Auswertung an die zuständige Dienststelle geleitet werden. Allein die Anwesenheit von Personen oder Kraftfahrzeugen in bestimmten Gebieten oder zu bestimmten Zeiten kann wichtige Hinweise ergeben.
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Fahndung
An die Jäger können Merkblätter herausgegeben werden, die über Maßnahmen und Rechte informieren. Letztlich muß auf die Notwendigkeit hingewiesen werden, eine gute Zusammenarbeit zwischen Jägerschaft und Polizei anzustreben. Diese ist nicht nur erforderlich, weil persönliche Kontakte förderlich sind, sondern auch, weil die Jagdausübenden das Revier, Wildwechsel, Bewohner und Besonderheiten in ihrem Revier kennen und deshalb wichtige Hinweise für die Aufklärung geben können. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß eine Steigerung der Verfolgungsintensität möglich ist.
Monographien O. B u s d o r f : Wilddieberei und Föratennorde. 1954. R. Μ a l l y : Kriminalistische Spurenkunde I u. II. Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden. 1958. H. S c h i r r m a c h e r : Der Jagdschutz. Wilderei und ihre Bekämpfung. 1974. H. F r a n k : Das Fallenbuch. 7. 1975. M. W i e s e : DJV Handbuch. 1977.
nach gestohlenen bzw. auf andere Weise abhanden gekommenen Sachen, und — die Überprüfung verdächtiger Personen oder verdächtiger Gegenstände daraufhin, ob sie mit einem strafbaren Sachverhalt in Verbindung zu bringen sind oder ob präventive Maßnahmen ergriffen werden müssen. Im ersten Falle ist eine Straftat jeweils angezeigt oder auf andere Weise bekannt geworden. Der Sachverhalt steht fest, die Maßnahmen erstrecken sich darauf, den bekannten - aber bisher flüchtigen - Täter zu ergreifen bzw. den noch unbekannten Täter zu ermitteln. Im zweiten Falle steht überhaupt noch nicht fest, mit welchem konkreten Sachverhalt verdächtige Personen in Verbindung zu bringen sind. Anlaß und Ausgangspunkt kriminalpolizeilichen Handelns sind in diesem Falle jedoch Umstände und Verhaltensweisen, die nach allgemeiner kriminalpolizeilicher Erfahrung Anlaß zu einem Verdacht geben müssen. Die im Einzelfall zu treffenden Maßnahmen richten sich nach dem Grade und der Stärke des Verdachts. In diesem Falle spricht man von „erkennender Fahndung".
Arbeitsmaterialien Polizeiliche Kriminalstatistik. Bundeskriminalamt 1971 bis 1977. Polizeiliche Kriminalstatistik Nordrhein-Westfalen 1971-1977. GÜNTER
KIERSTEIN
FAHNDUNG 1. Begriff der Fahndung Die weitestgehende Definition sieht das gesamte Aufgabengebiet der Kriminalpolizei als Fahndung an. Eine andere Begriffsbestimmung bezeichnet mit „Fahndung im weiteren Sinne" die Gesamtheit aller Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, zu einer bestimmten Tat den Täter festzustellen und der Strafverfolgung oder sonstigen Behandlung zuzuführen; als „Fahndung im engeren Sinne" wird die Gesamtheit der Maßnahmen zur Ermittlung und gegebenenfalls Ergreifung eines der Persönlichkeit nach bekannten Menschen für die Zwecke des Strafverfahrens umrissen. In der Polizeidienstvorschrift 384,1 wird die Fahndung- zu eng—als Summe der Maßnahmen und Einrichtungen, die zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der planmäßigen Suche nach Personen und Sachen dienen, bezeichnet. Damit ist zwar die Suche nach Vermieten, die Identifizierung unbekannter Toter sowie unbekannter hilfloser Personen Inbegriffen, doch ist auch damit nur ein Teilgebiet der Fahndung genannt. Zu unterscheiden sind nämlich zwei Aufgabenrichtungen der Fahndung: - Die planmäßige Forschung nach Personen oder
2. Wandel der Fahndungsmaßnahmen Seit den späten sechziger Jahren hat sich das kriminalpolizeiliche Fahndungswesen grundsätzlich geändert, die unter dem Stichwort Kriminaltaktik erläuterten Fahndungsmaßnahmen werden daher im wesentlichen nicht mehr praktiziert. Die Zunahme der Straftaten, die Mobilität der Rechtsbrecher, neue und gefährlichere Arbeitsweisen der Täter, Umgehen von gesetzlichen Bestimmungen, die überhaupt eine Fahndung ermöglichen und das vermehrte Auftreten von bandenmäßigen Zusammenschlüssen und Terrorakten ^at zur Ausschöpfung aller modernen technischen Hilfsmittel geführt und eine Verbreiterung der kriminalpolizeilichen Fahndungstätigkeit durch die Schutzpolizei und die vermehrte Inanspruchnahme der Öffentlichkeit mit sich gebracht. Die Fahndung ist offensiver, aktiver geworden und mit der früheren polizeilichen Fahndungstätigkeit nicht mehr zu vergleichen. Andererseits haben sich Schwierigkeiten ergeben durch die Liberalisierungsmaßnahmen auf vielen Rechtsgebieten, die Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen erschwerten. Zudem wurden bestehende Bestimmungen - etwa die Meldegesetze - nur sehr lasch befolgt und kaum ihre Einhaltung überwacht. Auch diesen Erschwernissen mußte die Fahndung Rechnung tragen. Ihr „Stellenwert" ist daher deutlich höher zu veranschlagen als in den Jahrzehnten vorher. Mit der Zunahme der Möglichkeiten des Rechtsbrechers, sich der Strafverfolgung zu entziehen, mußte auch die Bedeutung der Fahndung wachsen, mußten ihre Aufgaben intensiver wahrgenommen werden, sollte nicht das System der Strafverfolgung überhaupt sinnlos werden.
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Fahndung 3. Voraussetzungen der Fahndung Die Voraussetzungen einer Suche nach Personen oder Sachen ergeben sich aus den strafprozessualen Vorschriften sowie den polizeirechtlichen Gesetzen, Verordnungen und Dienstvorschriften. Der Fahndungserfolg ist also zunächst abhängig von der Gesetzgebung des jeweiligen Staatswesens. Eine „Suche" ist nur möglich, wenn Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen generell möglich sind. Grundlagen der Fahndung bilden also die Bestimmungen über den Besitz von Personalausweisen, die Meldebestimmungen (An-, Ab- und Ummeldung bei Wohnsitzverlegungen und -begründungen), Vorschriften über die Registrierung von Kraftfahrzeugen, die Führung von Kraftfahrzeugen, die Kennzeichnung von Kraftfahrzeugen, Bestimmungen über die Anmeldung und Überwachung gewerblicher Tätigkeiten, Bestimmungen über die Möglichkeit polizeilicher Identifizierungsmaßnahmen (Fingerabdrucknahme, Lichtbildaufnahmen, Sistierungen, Razzien und ähnliche Kontrollen). Allein diese Aufzählung macht deutlich, daß hierdurch Rechte und Freiheiten des Bürgers tangiert werden und daß Kompromisse geschlossen werden müssen zwischen der Forderung nach einer Garantie weitgehender persönlicher Sicherheit vor gefährlichen Rechtsbrechern und dem Freiheitsbedürfnis des Staatsbürgers. Fahndungsmaßnahmen ohne ein Mindestmaß an Vorschriften auf den erwähnten Gebieten sind unmöglich. Die in Zeiten starker Kriminalität oder aufsehenerregender Vorfälle immer wieder erhobene Forderung nach verstärkter polizeilicher Fahndung („jetzt ist die Stunde der Exekutive") ist illusorisch, wenn man der Polizei nicht die erforderlichen Instrumente zur Verfügung stellte. Dabei ist ohnehin zu berücksichtigen, daß angesichts der großen Mobilität etwa im grenzüberschreitenden Verkehr und der Unmöglichkeit, während der großen Reisezeiten (drei-bis viermal im Jahr) Kontrollen an den Grenzen durchzuführen, erhebliche Fahndungslücken in Kauf genommen werden müssen. Auch hier erhebt sich wieder die Frage, ob nicht der Verzicht auf den Hotelmeldeschein ein Fehler war und seine Wiedereinführung - die offenbar bevorsteht - zwingende Notwendigkeit ist. Das gleiche gilt für Zweitwohnungen, Urlaubsquartiere, Ferienwohnungen: Sie bieten heute mannigfache Unterschlupfmöglichkeiten mangels jeder ordnungsbehördlichen Kontrolle. Selbst die bestehenden Meldebestimmungen (Anmeldung bei Begründung eines neuen Wohnsitzes) werden (von Rechtsbrechern offensichtlich in jedem Falle) nicht mehr eingehalten. Daß aber auch zehntausende derartiger Wohnsitzbegründungen auch von „normalen" Staatsbürgern nicht mehr meldeamtlich erfaßt sind und offenbar auf diesem Gebiete keinerlei Überwachung mehr stattfindet, macht das gesamte Fahndungswesen nahezu illusorisch (Erfahrungen aus der Terroristenfahndung des Jahres 1977). Der Rechtsbrecher, der die Gefahr jeder der
hier genannten „Formvorschriften" genau kennt, ist daher bemüht, diese Vorschriften zu umgehen. Die Vermeidung polizeilicher Anmeldung wurde schon erwähnt, die Anmietung von Wohnungen in den großen Wohnblocks der Millionenstädte als Versteckort ist als taktische Maßnahme des Verbergens weithin bekanntgeworden. Auch ein Untertauchen auf dem Lande ist beliebt: Einsame Gebäude werden angemietet, hier kann man ohne Kontrolle miteinander verkehren oder Diebesgut unterbringen, hier lassen sich Manipulationen — etwa an gestohlenen Fahrzeugen — gefahrlos vornehmen. Besondere Bedeutung kommt auch der Totalfälschung von Personalausweisen oder Pässen zu bzw. der Verwendung totalgefälschter Pässe, die mit den Angaben tatsächlich existierender Personen versehen sind: ein Hilfsmittel, mit dem die Postzugräuber von Cheddington schon sich der Fahndung entzogen hatten, und das in der Terroristenszene häufig zur erfolgreichen Tarnung diente. Gleiches gilt für die Benutzung entwendeter Fahrzeuge, die als "Doublette" laufen und bei oberflächlicher Kontrolle kaum auffallen dürften. Sowohl bei der Sicherung der Ausweise gegen Fälschungen wie bei der fälschungssicheren Kennzeichnung von Kraftfahrzeugen sind technische Gegenmaßnahmen möglich. Leider hat man erst im Laufe des Jahres 1977 anläßlich der Terrormorde die entsprechenden Maßnahmen hierfür in die Wege geleitet. Schließlich muß daraufhingewiesen werden, daß die sichere Aufbewahrung von Dienstsiegeln und Blankoformularen eine weitere wesentliche Maßnahme ist, um die Anstrengung des Verbrechertums, sich der polizeilichen Fahndung zu entziehen, zu verhindern. Auf diese Notwendigkeit ist seitens der Aufsichtsbehörden immer wieder hingewiesen worden. Leider sind jedoch Einbruchdiebstähle, bei denen Siegel und Blankoformulare, die nur unzureichend gesichert waren, immer wieder zu verzeichnen.
4. Die personellen Grundlagen Die Bedeutung, die — wie dargelegt - heute der Fahndung zukommt,' muß auch in der personellen Stärke sichtbar werden. Es ist notwendig, die für eine aktive Fahndung benötigten Beamten abzustellen und hierbei hohe Anforderungen an die Qualität der betreffenden Kräfte zu stellen. Diese müssen zwar voll ausgebildet sein und über ein gewisses Maß an Berufserfahrung verfügen, dürfen aber andererseits nicht bereits verbraucht oder pflastermüde sein. Kommt es doch wesentlich auf ihren Einsatz an, wenn es sich um die Ergreifung von Rechtsbrechern auf frischer Tat, auf die Ermittlung und Dingfestmachung gesuchter Personen oder die Beobachtung gefährlicher Bandentätigkeit handelt. Man kann davon ausgehen, daß 15% der Ermittlungsbeamten für ständige Fahndungsaufgaben zur Verfügung stehen müssen, wenn die bei einer Behörde anfallenden
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Fahndung
Fahndungsaufgaben erfüllt werden sollen. Die „Fahndung" muß organisatorisch von den Ermittlungskommissariaten getrennt sein und einer eigenen Dienststelle zugeordnet werden, andere Aufgaben - etwa das Bearbeiten von Ermittlungsvorgängen - dürfen ihr nicht übertragen werden. Ihre Aufgabe ist einzig und allein die Wahrnehmung der Fahndungstätigkeit. Ihr Revier ist nicht das Büro, sondern die Außenwelt, ihre Aufgabe liegt im Beobachten, Sehen, Feststellen, Suchen. Im Falle einer Festnahme obliegt den Fahndungsbeamten lediglich die Durchführung der ersten Sofortmaßnahmen, wie etwa der notwendigen Durchsuchungen, Folgefestnahmen, Beweissicherung. Alles andere ist dann Aufgabe der eigentlichen Ermittlungskommissariate. Selbstverständlich gehört in den meisten Fällen auch die erste Vernehmung des Festgenommenen dazu, denn aus ihr ergeben sich in der Regel Sofortmaßnahmen, um Verdunkelungen durch Mittäter usw. zu verhindern. Die Fahndungsbeamten werden in der Regel „rund um die Uhr" eingesetzt: Die Nacht ist der Zeitpunkt der meisten Eigentumsverbrechen, und in dieser Zeit muß die Fahndung tätig werden. Sie muß sich dort aufhalten, wo auch der Rechtsbrecher tätig ist oder zusammenkommt, nur dann kann sie ihre Aufgaben erfüllen. Aber auch während der Tageszeit ergeben sich mannigfaltige Aufgaben: Festnahmen gesuchter Personen, Ermittlungsmaßnahmen, um den Aufenthalt dieser Personen festzustellen, Befragungen über Rechtsbrecher bei Zeugen und Auskunftspersonen sind auch am Tage möglich, so daß je nach der speziellen Aufgabe die Fahndungsbeamten zu allen Tages- und Nachtzeiten tätig werden können. Daraus ergibt sich eine Diensteinteilung in Schichten, so daß zu jeder Zeit Fahndungskader einsatzfähig sind. Hierbei richtet man sich nach den örtlichen Verhältnissen, sodaß sich allgemeingültige Regeln nicht festlegen lassen. Grundsatz ist lediglich der, daß die Fahndung dann im Dienst sein muß, wenn auch der Rechtsbrecher aktiv wird. Die knappe Personaldecke der Kriminalpolizei brachte es mit sich, daß zu den Fahndungsdiensten der Kriminalpolizei auch Beamte der Schutzpolizei hinzugezogen wurden. Diese verrichten ihren Dienst naturgemäß in Zivil und können die Fahndungsarbeit der Kripo wesentlich unterstützen - vor allem dann, wenn sie für längere Zeit hindurch in diesem Einsatz bleiben und sich so durch die Praxis auch mit den speziellen Aufgaben dieser neuen Tätigkeit vertraut machen können. Eine Fahndungsdienststelle der hier geschilderten Art kann auch auf den Einsatz technischer Geräte nicht verzichten. Neben den für die eigentliche Fahndungsarbeit notwendigen Geräten (Funk-, Sprachverschleierungs- und Tonbandgeräten, Nachtgläsern usw.) müssen daher auch Einrichtungen für die sofortige erkennungsdienstliche Behandlung, Fotogeräte usw. bereitstehen. Mit anderen Worten: Auch der kriminaltechnische Apparat der Kriminalpolizei muß in den Stunden außerhalb der Büro-Dienstzeit
verfügbar und einsatzbereit sein. Fahndungsdienststellen der hier bezeichneten Art finden sich in allen Großstadtbehörden. Bei den ländlichen Polizeibehörden muß man sich auf die Einrichtung von Fahndungstrupps beschränken, die von Fall zu Fall eingesetzt werden. Eine Dauer-Fahndungsdienststelle rund um die Uhr Iäßt sich hier nicht einrichten, ist angesichts der anderen Verhältnisse in Klein- und Mittelstädten auch nicht im gleichem Umfang erforderlich. Dennoch wird auch hier meist an dem Grundsatz, für die Fahndungsaufgaben speziell hierfür zuständige Beamte einzusetzen, festgehalten. Die Fahndungsdienststelle kann in Sonderfällen auch für andere Aufgaben eingesetzt werden: So kann sie beispielsweise als Verstärkung der Mordkommission dienen, wenn diese bei Vorliegen eines Kapitalverbrechens schlagartig verstärkt werden muß, um die meist zahlreich anfallenden „Spuren" (Hinweise auf verdächtige Personen) zu bearbeiten. Das gilt auch für sonstige Sofortmaßnahmen. Sie ist also gleichzeitig die „Feuerwehr" der Behörde.
5. Kriminalgeographische
Grundlagen
Fahndung - d.h. Beobachtung der Verbrechen und der Verbrecher, um diese zu ermitteln und festzunehmen — setzt genaue Kenntnis der örtlichen Verhältnisse voraus. Es genügt also nicht, Zahl und Art der Straftaten zu registrieren, wie das die herkömmlichen Statistiken tun. Es ist vielmehr erforderlich, präzise und sorgfältig den geographischen Ort jeder Straftat im eigenen Zuständigkeitsbereich anzumerken und die näheren Verhältnisse der Umgebung dieser Straftat zu erkunden. So hat im gleichen Augenblick, in dem die Notwendigkeit intensiver Fahndungsmaßnahmen erkannt wurde, auch das Bemühen um die Erkundung der räumlichen Verhältnisse eingesetzt, wobei natürlich auch eine Beantwortung der Frage nach der Anziehungskraft bestimmter Objekte, Stadtbezirke und Straßen gesucht wurde. Jede zur Anzeige kommende Straftat, die zur sogenannten Straßenkriminalität gerechnet wird (damit bezeichnet man solche Taten, die vor, bei oder nach der Tatbegehung den öffentlichen Verkehrsraum tangieren, vornehmlich also Delikte des Diebstahls, des Raubes, der Körperverletzung und Sachbeschädigung), wird daher auf einem Stadtplan festgehalten. Es entsteht so ein Tagesdiagramm, daß Ort und Art der Straftaten der letzten 24 Stunden ersichtlich macht. Das An- und Abschwellen der Kriminalität bestimmter Stadtbezirke läßt sich so über Wochen und Monate hin verfolgen und mit den vorausgegangenen Zeitabläufen vergleichen. Diese Unterlagen - ergänzt durch Aufzeichnungen einer Datenanlage oder manuell erstellter Übersichten - erlauben den sinnvollen Einsatz der Fahndungskräfte: Diese können so eingesetzt werden, daß sie den mutmaßlichen Schauplatz der nächsten Straftaten beobachten können und je nach der einzuschlagen-
Fahndung den Taktik auch eingreifen können, um die Täter auf frischer Tat oder auf dem Wege vom Tatort zum Wohn- oder Verbergungsort festnehmen zu können. Für die einzelnen Stadtteile (Schutzbereiche) — Untergliederungen der jeweiligen Polizeibehörde - existieren außerdem Handakten, in denen Objektbeschreibungen, Kartenausschnitte und Skizzen polizeilich interessierender Gebäude enthalten sind. Absperrmaßnahmen, Durchsuchungen und ähnliche Einsätze können so rechtzeitig geplant und vorbereitet werden. Etwaige Fluchtwege, Zu- und Abgänge, Unterschlupfmöglichkeiten werden dabei berücksichtigt. Derartige Unterlagen müssen naturgemäß auch Angaben über die technischen Anlagen enthalten, die der Unterhaltung städtischer Einrichtungen oder der Versorgung der Bevölkerung dienen. Kanäle, Abwässereinrichtungen, Mülldeponien, UBahnanlagen, Industriegelände - all dies eignet sich vorzüglich zum Verborgenhalten vor der Polizei und kann als Versteck genutzt werden. Erinnert sei hier an Verstecke wie etwa Sprengkammern unter Autobahnbrücken, verlassene Kriegsbunker, Einrichtungen wie den Stachus in München: Sie wurden als Verbergungsort entführter Personen oder als Fluchtwege genutzt, um sich schnell der Verfolgung der Polizei zu entziehen. Die Polizeibehörden müssen daher über Pläne und Erläuterungslisten derartiger Anlagen verfügen, um bei Fahndungen auch diese Fluchtwege kontrollieren zu können. Ähnliches gilt für verlassene Bergwerksanlagen oder Betriebe, gilt für Kleingärtneranlagen und Erholungsgelände mit etwaigen Zweitwohnungen und Campingplätze. Zumindest eingehende Kartenunterlagen sind hierfür zu beschaffen - und die normale Fahndungstätigkeit sollte sich auch auf diese Anlagen erstrecken. Teils ist das aus der Natur der Sache notwendig, teils vermittelt eine solche Streifentätigkeit aber auch die notwendige Ortskenntnis, auf die es im Einsatzfalle ankommt. Bewährt hat sich die Einrichtung des sogenannten Bezirksbeamten der Schutzpolizei (auch Kontaktbeamter genannt): Er ist ständig in dem ihm zugewiesenen Bezirk tätig, kennt die örtlichkeiten und auch die Bevölkerung und wird in Fahndungsfällen als Auskunftsperson mit herangezogen. Er hat überdies die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die eben erwähnten Unterlagen seines Bezirkes ständig auf dem laufenden gehalten und ergänzt werden. In diesen Unterlagen der jeweiligen Polizeibezirke (Schutzbereiche) sind auch die in diesen Bezirken ansässigen Straftäter verzeichnet, soweit sie noch aktiv tätig sind. Vergleiche zwischen neu gemeldeten Tatorten und den Wohnorten der im gleichen Bezirk wohnhaften Täter haben oft zu überraschenden Erkenntnissen geführt. 6. Fahndungsbereiche und -richtungen a) Personenfahndung. Ziel der Personenfahndung ist die Festnahme oder Ermittlung des Aufenthalts
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solcher Personen, die sich der Strafverfolgung, Strafvollstreckung oder dem Vollzuge anderer freiheitsentziehender Anordnungen von Justiz- oder Verwaltungsbehörden entziehen, ferner die Ermittlung von Zeugen oder Auskunftspersonen, die Ermittlung Vermißter, die Überwachung im Rahmen des Informationsaustausches zur Bekämpfung überregionaler gefährlicher Intensivtäter und der „Beobachtenden Fahndung". Endlich die Erkennung solcher Personen, die durch mißbräuchliche Benutzung amtlicher Ausweispapiere ihre Identifizierung zu verhindern suchen. b) Sachfahndung. Die Sachfahndung befaßt sich mit der Ermittlung von Sachen, die zur Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung benutzt oder durch sie hervorgebracht wurden oder in anderer Weise für ein Strafverfahren, insbesondere für die Täterfeststellung, von Bedeutung sind. Auch die Wiederbeschaffung von Sachen, die dem Besitzer durch eine Straftat oder auf andere Weise abhanden gekommen sind, die Erkennung von Sachen, die eine polizeiliche Ermittlungshilfe darstellen und die Suche nach Sachen im Rahmen der Beobachtenden Fahndung gehören zu den Aufgabengebieten der Sachfahndung. Gegenstände, die nach ihrer Sicherstellung unanbringbar sind, und Kraftfahrzeuge, deren Insassen festgestellt werden sollen oder deren Kennzeichen zu entstempeln sind, gehören ebenfalls zum Bereich der Sachfahndung. c) Inlandsfahndung. Wir unterscheiden hier die örtliche von der überörtlichen Inlandsfahndung. Die örtliche Fahndung erstreckt sich auf den Zuständigkeitsbereich der örtlich zuständigen Polizeibehörde. Die überörtliche Fahndung wird durch die Benachrichtigung anderer Polizeibehörden ausgelöst bzw. durch solche Maßnahmen, die über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinauswirken. Eine überörtliche Fahndung wird dann eingeleitet, wenn die gesuchte Person aller Wahrscheinlichkeit nach den örtlichen Bereich verlassen hat, ausreichende Fahndungshinweise über sie vorliegen und der Anlaß eine überörtliche Fahndung auch rechtfertigt. d) Grenzfahndung. Damit ist die Fahndung an den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland gemeint. Sie kann Personen- oder Sachfahndung sein. Eine Grenzfahndung wird dann eingeleitet, wenn ausreichende Anhaltspunkte zum Erkennen der Person, der Sache und des benutzten Fluchtmittels sowie Hinweise auf die beabsichtigte Flucht oder Verbringung ins Ausland oder in die D D R vorliegen. e) Auslandsfahndung. Auslandsfahndung ist die Fahndung im Inland nach Personen oder Sachen auf Ersuchen einer ausländischen Polizei- oder Justizbehörde bzw. die Fahndung im Ausland auf Ersuchen einer inländischen Polizei- oder Justizbehörde. Die Auslandsfahndung kann erfolgen zur Festnahme einer Person zwecks Ein- oder Auslieferung, zur Aufenthaltsermittlung, zur Ermittlung vermißter Personen, Überwachung internationaler Rechtsbrecher sowie zur Nachforschung nach Sachen.
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Fahndung
f) Alarmfahndung. Sie ist eine nach Plänen oder Ablaufkalendern vorbereitete, aus akutem Anlaß schlagartig durchgeführte Fahndung und kann örtlich oder überörtlich durchgeführt werden. Die Alarmfahndung erfolgt bei schwerwiegenden Delikten, die die Allgemeinheit beunruhigen oder die öffentliche Sicherheit besonders beeinträchtigen. Darunter fallen insbesondere Fälle besonderer Gewaltkriminalität, Attentate oder Sabotageakte, besonders bedeutungsvolle Staatsschutzdelikte, Entführungen oder Geiselnahmen, Raubüberfälle auf Geldinstitute, Geschäfte, Kassenboten, Flucht nach schweren Verkehrsunfällen, Entweichen gefährlicher Rechtsbrecher, Massenflucht von Gefangenen, Fahndung nach Sachen, die wegen ihres großen Wertes oder wegen ihrer Gefährlichkeit für die Allgemeinheit besonders bedeutsam sind. Je nach Ausdehnung dieser Alarmfahndung unterscheidet man: Ringalarmfahndung - Fahndung in einem bestimmten, kilometermäßig festgelegten Umkreis um den Tatort - , Grenzalarmfahndung - Fahndung an den Grenzübergangsstellen sowie im Bereich entlang der Grenzen, eingeschlossen die Flug- und Seehäfen - , Bundes-(Landes-)Alarmfahndung: Fahndung im Bundes-(Landes-)Bereich. Großfahndungen sind Fahndungen unter Einsatz starker Fahndungskräfte, die planmäßig vorbereitet sind. Sie können örtlicher oder überörtlicher Natur sein und werden nach schweren oder die Bevölkerung erheblich beunruhigenden Straftaten, bei Entweichen gefährlicher Rechtsbrecher oder bei Massenflucht von Gefangenen, Vermißtenmeldungen von Kindern oder hilflosen Personen oder in sonstigen dringenden Fällen durchgeführt. Bei Großfahndungen erfolgen Personen- oder Fahndungskontrollen, Überprüfungen von örtlichkeiten, die von polizeilichem Interesse sind, Überwachungsmaßnahmen hinsichtlich der Verkehrswege und Verkehrsmittel, Durchsuchungen von Personenen oder Objekten sowie die Auswertung von Karteien und Unterlagen polizeilicher oder auch nichtpolizeilicher Natur. h) Vorrangfahndung. Damit werden intensive Fahndungsmaßnahmen nach einem besonders ausgesuchten Kreis von Straftätern bezeichnet. Sie erfolgt bei Straftaten, die die Öffentlichkeit besonders beunruhigen und die innere Sicherheit gefährden. Die Entscheidung über die Vorrangfahndung wird vom Bundeskriminalamt aufgrund von Anträgen der Landeskriminalämter getroffen. i) Öffentlichkeitsfahndung. Sie wendet sich an einen bestimmten oder unbestimmten Teil der Bevölkerung, dient repressiven oder präventiven Zwecken und kann Inlands- wie Auslandsfahndung sein. Dabei können auch Publikationsmittel mit Breitenwirkung (Rundfunk, Presse, Fernsehen) in Anspruch genommen werden. Die Abgrenzung der einzelnen Begriffe bereitet dem Nicht-Kriminalisten mitunter Schwierigkeiten. Die Alarmfahndung stellt auf jeden Fall sicher, daß zu jeder Tages- und Nachtzeit für bestimmte akut
notwendig werdende Aufgaben eine genügende Zahl von Fahndungskräften zur Verfügung steht, um an vorher genau festgelegten Plätzen Kontrollen durchzuführen. Hierbei erfolgen je nach Sachlage die gleichen Kontrollen wie bei einer Großfahndung: also Fahrzeug- und Personenkontrollen, Durchsuchungen usw., je nach Anlaß des Einsatzes. Dabei können auch starke Fahndungskräfte eingesetzt werden. Von Großfahndung spricht man dann, wenn es sich um planmäßig vorbereitete Aktionen handelt, bei denen rechtzeitig starke Kräfte herangezogen werden, sodaß eine Konzentration polizeilicher Tätigkeit für bestimmte Stunden oder Tage auf eine solche Fahndungsaktion stattfindet. Bei der Vorrangfahndung richtet sich die Fahndung auf einen bestimmten, meist sehr kleinen Kreis von Straftätern, der möglichst rasch gefaßt werden muß. Im Hinblick auf diesen Personenkreis werden die Fahndungsmaßnahmen konzentriert. Öffentlichkeitsfahndung kann gemeinsam mit einer Alarm- oder Groß- sowie Vorrangfahndung, mit jeder anderen Fahndungsmaßnahme ebenfalls, einhergehen. Es ist eine Frage der taktischen Zweckmäßigkeit, von welchem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit über die polizeiliche Fahdungsmaßnahme informiert wird, um ihrerseits Beobachtungen und Feststellungen der Polizei melden zu können. Mitunter ist es zweckmäßig, keine Öffentlichkeitsfahndung zu veranlassen: Dann nämlich, wenn der Kreis der gesuchten Rechtsbrecher über die Fahndungen der Polizei nicht informiert werden soll, um das Überraschungsmoment auszunützen, oder dann, wenn durch eine Öffentlichkeitsfahndung das Leben von Menschen gefährdet würde (etwa bei Entführungen). In diesen Fällen die richtige Entscheidung zu treffen, ist sehr schwierig, da ja bei einer Öffentlichkeitsfahndung immer mit einem reichen Nachrichtenfluß zu rechnen ist und damit die Fahndungsmaßnahmen erleichtert und verbessert werden können. 7. Polizeiinterne
Fahndungshilfsmittel
a) örtliche Hilfsmittel. Die Suche nach dem Straftäter oder einer abhanden gekommenen Sache beginnt in der Regel im eigenen Zuständigkeitsbereich und erfolgt durch Bekanntgabe der Namen der gesuchten Person pp. bei den Dienststellen und Streifenbeamten der eigenen Behörde, örtlichen Fernschreiben und Mitteilungen an die Streifenwagen der Polizei. In der örtlichen Fahndungskartei wird eine Suchkarte angelegt. Jedem Fahndungsbeamten wird eine bestimmte Zahl solcher örtlicher Fahndungsersuchen zugeteilt. Er muß sie erledigen und hat sich zu diesem Zwecke mit den Verhältnissen der gesuchten Person, ihrem Bekannten- und Verkehrskreis zu befassen, die bevorzugten Verkehrslokale festzustellen und so lange nach dieser Person zu suchen, bis er sie ermittelt hat oder Anhaltspunkte über ihren Ver-
Fahndung bleib (Aufenthalt in anderen Städten, flüchtig usw.) gewonnen hat. Durch dieses System ist gewährleistet, daß kein Gesuchter „untertauchen" kann, d. h. sich auf Dauer der Fahndung entziehen kann oder vergessen wird. Seine Suchkarte erinnert den Fahndungsmann immer wieder an ihn. Dabei kann der Fahndungsbeamte in seinen Ermittlungen auch Nachforschungen in den Nachbarbezirken vornehmen, da er ja vornehmlich die Suche nach einer bestimmten Person vornehmen soll und nicht etwa nur turnusmäßig seinen Bezirk abstreifen soll: Wohnt ein Bekannter oder Auskunftgeber des Gesuchten in der Nachbarbehörde, wird die eigentliche Suchbehörde auch dort vorsprechen (unter Verständigung der örtlich zuständigen Behörde). Bei größeren Entfernungen wird man von Fall zu Fall entscheiden, wer die Kontakte aufzunehmen hat. Dort, wo eine solche an eine bestimmte Person gebundene Fahndung erfolgt, hat man entsprechende Erfolge erzielt. Diese Methode hat den Vorteil, daß jedes bestehende Fahndungsersuchen auch nach Monaten oder Jahren noch regelmäßig überprüft wird und regelmäßig Maßnahmen durchgeführt werden. Der Bekanntgabe örtlicher Fahndungen dienen auch die örtlichen Nachrichtenblätter (Tagesberichte usw.) der einzelnen Behörden. Diese Veröffentlichungen erfolgen täglich und gehen an jede Polizeidienststelle des Bezirkes, sodaß die täglichen Fahndungsersuchen allen Beamten auch wirklich bekannt werden (Dienstbesprechungen). Man kann diese Einrichtung auch dazu benützen, Sonder- oder Vorrangfahndungen auszuschreiben, d.h. alle Beamten des Bezirkes dazu auffordern, in einem bestimmten Zeitraum ihr besonderes Augenmerk auf eine bestimmte gesuchte Person zu richten, deren Lichtbild und Personenbeschreibung mitgeteilt werden. Alle kriminalpolizeilichen Karteien und Sammlungen werden zudem mit Suchkarten über solche Personen versehen, die festzunehmen sind. Es kann so sichergestellt werden, daß bei Einlaufen irgendeiner Mitteilung oder Nachricht über den Gesuchten oder bei Auftauchen seines Namens im polizeilichen Bereich die Fahndungsdienststelle sofort hiervon Mitteilung erhält. Hierfür kommen die Karteien des kriminalpolizeilichen Meldedienstes, die Lichtbildkartei, Spitznamenkartei, Merkmalskartei, Karteien der Rauschgiftkommissariate, Vermißtenkarteien sowie Sachfahndungskarteien in Betracht. b) Überörtliche Fahndungsmittel. Zugleich mit der örtlichen Fahndung erfolgt in den allermeisten Fällen auch die überörtliche Fahndung. Hier hat sich in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel vollzogen. An die Stelle des Deutschen Fahndungsbuches und der Fahndungskarteien ist die elektronische Datenverarbeitung getreten. Fahndungskarteien werden - entsprechend den Weisungen in den Ländern - vereinzelt geführt, wie auch das Deutsche Fahndungsbuch lediglich noch eine Aushilfsfunktion besitzt, falls die Datenanlage einmal durch technische Störungen ausfällt. Grundsätzlich gilt, daß jeder
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Streifenwagen der Schutzpolizei und jeder Einsatzwagen der Kriminalpolizei über Funk oder durch ein mobiles Datenterminal die im Computer gespeicherten Daten des INPOL-Systems abfragt. Damit ist ein stets aktueller Stand der gespeicherten Fahndungsdaten gewährleistet. Das INPOL-System (Informations- und Auskunftssystem der Polizei) umfaßt u. a. auch das Personenfahndungssystem. Die in der Datenverarbeitungsanlage des Bundeskriminalamtes gespeicherten Notizen über gesuchte Straftäter können von allen an die jeweiligen Landesrechner der Landeskriminalämter angeschlossenen Datenstationen ( = Eingabe- und Abfragestationen der einzelnen Polizeibehörden der unteren Ebene) abgefragt werden. Damit kann jeder Polizeibeamte sofort Mitteilung erhalten, ob die von ihm angehaltene Person gesucht wird oder nicht. Voraussetzung einer Anfrage ist die Kenntnis des Namens und des Geburtsdatums. Jedoch können auch Alias-Namen und Namen mit abweichender Schreibweise (das sind Namen, die nicht bewußt falsch angegeben werden, sondern die sich aus abweichender Schreibweise, Fehlern pp. ergeben) zur Anfrage eingegeben werden. Die Datenstation erhält daraufhin Mitteilung, ob die betreffende Person in der Datei enthalten ist oder nicht. Bei einer Positivauskunft werden Anlaß der Ausschreibung, Ausschreibungsbehörde, Aktenzeichen, sachbearbeitende Dienststelle, Ausschreibungsdatum usw. mitgeteilt sowie solche Hinweise gegeben, die für die festnehmende Dienststelle von erheblicher Bedeutung sein können. So ist es wesentlich, zu erfahren, ob der Gesuchte in der Regel bewaffnet ist, ob er als gewalttätig anzusehen ist, ob es sich um einen Geisteskranken oder Geistesschwachen, Entmündigten oder mit einer Anstekkungskrankheit Behafteten handelt. Auch Angaben, ob Selbstmordgefahr besteht (etwa bei vermißten und nun aufgegriffenen Personen), sind wesentliche Hilfen für die aufgreifende Dienststelle. Weitere Hinweise über die angehaltene Person enthält der Zentrale Personenindex, der auf Länderebene in jeweils unterschiedlicher Form über alle Einzelheiten Auskunft gibt, die über den Angefragten bei der Polizei notiert sind. Während also die Personenfahndungsdatei alle in der Bundesrepublik Deutschland gesuchten Personen enthält und täglich vom Bundeskriminalamt aktualisiert wird, enthalten die Personenauskunftsdateien (in NRW: Zentrale Auskunftsdatei) Unterlagen über alle durch Straftaten bei der Polizei bekanntgewordenen Personen. So können die im Personenfahndungssystem enthaltenen Auskünfte über gesuchte Personen durch die ZAD-Auskunft ergänzt werden. Ergibt andererseits die im Personenfahndungssystem erteilte Auskunft, daß die angehaltene Person nicht gesucht wird, so kann über die ZAD ermittelt werden, ob die angehaltene Person in irgendeiner Weise strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Damit wird für die Straftatenaufklärung unter Umständen ein entscheidender Hinweis gegeben, denn es gibt zu denken, wenn
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sich an Orten und zu Zeiten, die für Einbruchdiebstähle günstig sind, vorbestrafte Einbrecher aufhalten oder dort, wo raub- oder sexualstraftatgünstige Verhältnisse herrschen, gerade entsprechend tätig gewordene Rechtsbrecher angetroffen werden. Dateien nach dem Muster der Z A D können auch dann Auskunft geben, wenn die angefragten Namen nur phonetisch bekannt sind oder wenn die Personalien nicht vollständig vorliegen: Sie dient ja ganz allgemein Ermittlungszwecken und erlaubt daher auch die Ausgabe mehrerer in Betracht kommender Personenangaben, um der anfragenden Behörde die Möglichkeit zu geben, den „richtigen" Namen durch ergänzende Ermittlungen herauszufinden. Die ZAD ist ja keine Festnahmedatei, sondern eine Einrichtung, die präsentes Wissen über erfaßte Rechtsbrecher speichert. In einem dritten Auskunftsystem werden gestohlene Gegenstände erfaßt (Sachfahndungssystem). Nach Gegenständen kann allerdings nur dann gefahndet werden, wenn sie durch individuelle Merkmale kenntlich gemacht sind. Das gilt also für Kunstwerke, wertvollen Schmuck und einige andere Stücke, gilt aber nicht für die Massse der technischen Hilfsmittel, die wir heute alle besitzen und die auch als Diebesbeute bei der heutigen Massenkriminalität begehrt sind. Fehlen, wie meistens, bei Fahrrädern die Rahmennummern, so ist allenfalls ein Wiedererkennen auf örtlicher Ebene durch den Eigentümer möglich. Eine Ausschreibung in irgendwelchen Sachfahndungsunterlagen ist ausgeschlossen. Das trifft für fast alle technischen Gegenstände mittlerer Preislagen zu. Hier entfällt jede Fahndungsmöglichkeit, es sei denn, der rechtsmäßige Besitzer kennzeichnete sein Eigentum durch individuelle Merkmale und Kennzeichen. Ringe mit Gravur, Symbole und individuelle Kennzeichen an technischen Geräten erlauben eine Speicherung im Sachfahndungssystem; Gegenstände jedoch, die lediglich eine Typenbezeichnung tragen und keinerlei individuelle Kennzeichen aufweisen, können nicht in dieses System aufgenommen werden. Häufig werden bei Durchsuchungen Gegenstände sichergestellt, die mit Sicherheit aus strafbaren Handlungen herrühren. Sie sind in der Regel, soweit sie fabrikmäßig hergestellt wurden, auch mit Zahlen- und Buchstabenbezeichnungen versehen. Meist handelt es sich hier jedoch um die Serienbezeichnung und nicht um die Angabe der individuellen Stücknummer. Die Zuordnung zu einer bestimmten Straftat ist daher nicht möglich. So ist auch die Möglichkeit, Gegenstände, die aus Kapitalverbrechen herrühren oder dazu verwendet wurden, in die Sachfahndung einzuspeichern, begrenzt: Nur wenn individuelle Merkmale vorliegen, kann dies geschehen, um so bei der Sicherstellung eines derartigen Gegenstandes auf die Spur des Täters zu kommen. Sachfahndungskarteien - das früher übliche Hilfsmittel für die Sachfahndung - werden nicht mehr geführt (höchstens örtlich), sodaß die Einspei-
cherung in das Datenverarbeitungssystem die einzige - allerdings auch aktuellste und wertvollste Form - der Sachfahndung bildet. Sie ermöglicht auch den schnellen Zugriff, wenn eine entsprechende Anfrage erfolgt. Besondere Bedeutung hat das Sachfahndungssystem bei der Kraftfahrzeugfahndung erlangt. Es ist gewährleistet, daß gestohlene Fahrzeuge unmittelbar nach der Anzeigeerstattung eingespeichert werden und damit schon kurze Zeit später ermittelt werden können. Gerade auf diesem Gebiet hat sich der Wert einer aktuellen Fahndung gezeigt. Mit der Einführung der Datenverarbeitungssysteme bei der Kfz.-Fahndung konnte auch die Suche nach Fahrzeugen, die von Straftätern zu strafbaren Handlungen benutzt wurden oder zur Flucht benötigt wurden, intensiviert werden. Jeder Streifenwagen der Schutzpolizei gibt während der Streifenfahrt die Kennzeichen solcher Fahrzeuge an die Datenstation ein, bei denen die Möglichkeit des Diebstahls besteht oder bei denen andere verdächtige Umstände zu beobachten sind. Hierbei geht man von den Automarken aus, die im Zuständigkeitsbereich entwendet wurden bzw. den Marken, die bevorzugt entwendet werden, um sie im Ausland zu verkaufen. Innerhalb ganz kurzer Frist ist der Streifenwagen im Besitz der entsprechenden Datenmitteilung und kann, falls erforderlich, einschreiten, da er das überprüfte Fahrzeug noch im Blickfeld hat. Darüber hinaus werden von Fall zu Fall alle vorkommenden Fahrzeuge derart überprüft (etwa bei Verkehrskontrollen), so daß hier eine nahezu lückenlose Fahndungstätigkeit erfolgt. Entsprechend sind auch die Erfolge sehr befriedigend. Von hohem Nutzen für Fahndungszwecke - etwa die richtige Personenidentifizierung - ist die Uberprüfung einer festgenommenen Person aufgrund der von ihr genommenen Fingerabdrücke. Zum Zwecke der Personenidentifizierung ist das Zehnfingerabdruckblatt eingeführt worden, bei dem vom Verdächtigen die Fingerabdrücke beider Hände auf einem Kartonblatt aufgenommen werden. Ein Exemplar dieses Formblattes wird der Zehnfingerabdrucksammlung des Bundeskriminalamtes einverleibt. Zugleich verbleiben dort die Ergebnisse des sogenannten Personenfeststellungsverfahrens, bei dem durch Blutsverwandte und Urkunden die Richtigkeit der Personalangaben verbürgt sind. Dieses Zehnfingerabdruckblatt kann nun heute durch das Telebildnetz der Polizeidienststellen innerhalb einer halben Stunde dem BKA überspielt werden, sodaß dort umgehend ein Vergleich mit den dort einliegenden Abdruckbogen erfolgen kann. Damit ist gewährleistet, daß eine einmal erkennungsdienstlich behandelte Person bei einer erneuten Behandlung mit einem Versuch, falsche Personalien anzugeben, scheitern würde - gerade bei den vielfälltigen Versuchen, illegal aus dem Ausland einzureisen oder sich unter falschem Namen hier verborgen zu halten, ein wesentlicher Fortschritt.
Fahndung Während früher der Vergleich der beiden Fingerabdruckbögen manuell auf Grund vorliegender Formeln erfolgte, wird künftig auch diese Aufgabe die Datenverarbeitung übernehmen.Die 2 Millionen beim BKA liegenden Fingerabdruckbögen - mit insgesamt also 20 Millionen Fingerabdrücken —werden einzeln geformelt und dem Rechner eingespeichert. Hierbei verwendet man allerdings ein neu entwickeltes Klassifizierungssystem. Die neue Formel ist allerdings so umfangreich, daß sie ohne den Rechner vom Menschen nicht erfaßt und verarbeitet werden könnte. Damit werden die Wartefristen verkürzt und die Identifizierung in kürzester Zeit ermöglicht. Die Umstellung der Zehnfingerabdrucksammlung auf die Datenverarbeitung bringt aber weiterhin die Möglichkeit mit sich, bei Vorliegen auch nur des Abdruckes eines Fingers in der BKA-Sammlung feststellen zu lassen, ob dieser Einzelfingerabdruck bereits einmal registriert wurde. Damit kann bei Auffinden einer Tatortfingerspur - etwa am Ort eines Einbruchdiebstahls - in der Zentralsammlung des Bundeskriminalamtes derjenige Täter namentlich ermittelt werden, der diese Spur hinterlassen hat (natürlich nur, wenn er bereits einmal irgendwann erkennungsdienstlich behandelt wurde). Diese Möglichkeit bestand bisher nicht, weil das Zehnfingerabdrucksystem lediglich der Personenfeststellung diente, das Einzelfingerabdrucksystem aber lediglich den Vergleich der Tatortfingerspuren mit den örtlich bekannten Einbrechern zuließ. Künftig kann hier also mit außerordentlich vermehrten Ermittlungsmöglichkeiten auf diesem Gebiet gerechnet werden. Mit den bereits erwähnten Telebildsendern lassen sich auch die Fotos festgenommener Personen an jede Polizeidienststelle überspielen, die über ein entsprechendes Aufnahmegerät verfügt. So können Lichtbilder verdächtiger Personen umgehend jederzeit - ohne Rücksicht auf Bürozeiten, Postabgänge oder Fahrzeiten bei Kurierüberbringung — übertragen werden, um den Tatverdacht zu erhärten oder zu entkräften. Die gleiche Sendemöglichkeit besteht hinsichtlich aufgefundener Gegenstände, gestohlener Sachen oder etwa vorhandener gesicherter Spuren, sofern aus dem Lichtbild Bemerkenswertes zu entnehmen ist. Während die Eingabe der Personalien in das INPOL-System sowie - soweit noch gedruckt - in Karteien und das Fahndungsbuch die Uberprüfung ermöglicht, ob eine angetroffene und kontrollierte Person gesucht wird und daher festgenommen oder untergebracht werden soll, ermöglichen die überörtliche Fahndung per Fernschreiben, sonstige Hinweise oder die Ausschreibung in den polizeilichen Nachrichtenblättern eine speziell auf die betreffende Person gerichtete Fahndung. Sofern derartige Fernschreibersuchen ungezielt - d.h. an einen großen Empfängerkreis - gerichtet werden, sind sie allerdings wirkungslos und dienen lediglich als eine gewisse Ergänzung des bestehenden Fahndungssystems. Eine gezielte Suche nach bestimmten Perso-
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nen ist nur dann möglich, wenn derartige Ersuchen sich auf Einzelfälle beschränken, eine bestimmte Region umfassen, also örtlich sich begrenzen lassen, und bestimmte Charakteristika der gesuchten Person ihre Erkennung im Fahndungs- und Streifendienst ermöglichen. Mehr ist nicht möglich. So können in aufsehenerregenden Fällen - etwa bei der Terroristenfahndung - daher Bilder der gesuchten Personen, ihre Beschreibungen und ihre bekannten Verhaltensweisen hinsichtlich Unterschlupfsuche usw. ausgegeben werden, um eine gezielte Fahndung aller Polizeidienstkräfte auf diesen Personenkreis zu ermöglichen. In einem solche Falle sind solche Einzelheiten bekannt, daß die Aufmerksamkeit der Polizeibeamten darauf gelenkt werden kann, so daß aufgrund eines solchen Ersuchens gezielt bestimmte Personengruppen überprüft werden können. In anderen Fällen kann sich eine solche Fahndung auf eine oder mehrere Personen in einem bestimmten Umkreis, auf den Bereich einer bestimmten Behörde erstrecken. Auch dann ist ein entsprechender Fahndungserfolg möglich. Es wäre aber sinnlos, etwa bei einer Vcrmißtenmeldung oder der Suche nach einem Einbrecher nun alle Polizeidienststellen anzuschreiben, um diese zur Suche nach dieser Person zu aktivieren. Hier fehlen jegliche Anhaltspunkte zu einer gezielten Fahndung. Derartige Ersuchen - sollten sie abgesetzt werdei - dienen lediglich dazu, örtliche FS-Sammlungen a lzulegen, damit bei Überprüfungen genereller Art im normalen Streifendienst nachgesehen werden kann, ob ein Festnahmeersuchen pp. vorliegt. Doch hat sich meist heute durch die Einführung des INPOL-Systems auch diese Funktion eines Fernschreibens erledigt, da ja ebenso schnell eine Eingabe in den Fahndungsrechner erfolgen kann. Auch die polizeilichen Nachrichtenblätter - Bundeskriminalblatt sowie die Landeskriminalblätter enthalten Mitteilungen über internationale Fahndungen, entwichene Straf- und Untersuchungsgefangene, Aufenthaltsermittlungen und vermißte Personen. Doch dienen diese Mitteilungen mehr und mehr der Bekanntgabe der kriminellen Arbeitsweise gesuchter Personen, ihres Gefährlichkeitsgrades, ihres anzunehmenden weiteren Auftretens, um die Empfänger der Nachrichtenblätter auf besondere Straftaten und Begehungsweisen hinzuweisen. Sie sollen aufmerksam machen auf gefährliche Rechtsbrecher, um bei Vorliegen ähnlicher Taten auf das Treiben dieser Täter - die zwar bekannt, aber noch nicht festgenommen sind - hinzuweisen. Auch die Meldungen über vermißte Personen in diesen Blättern beschränken sich auf Sonderfälle. Ob es angesichts der Datenverarbeitungssysteme, der demnächst anlaufenden Straftaten/Straftäterdatei und anderer Informationsvorhaben noch sinnvoll ist, Landeskriminalblätter auszugeben, ist nicht eindeutig zu sagen. Das Land NRW hat jedenfalls seit geraumer Zeit auf die Herausgabe solcher Blätter
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Fahndung
verzichtet, um in einem anders gestalteten Mitteilungsblatt in ausführlicher Form auf besondere Entwicklungen hinzuweisen. Man glaubt hier, mit dem Bundeskriminalblatt auszukommen, in das ja auch Nachrichten aus dem Lande NRW aufgenommen werden können, wenn die Täter darüber hinaus wirken. Und das ist ja zunehmend der Fall.
8. Fahndungshilfen durch andere Behörden und die Wirtschaft Neben den internen Hilfsmitteln der Polizei werden für die Fahndung auf jeden Fall benötigt die Unterstützung der Meldeämter (soweit sie nicht ohnehin Bestandteil der Polizeibehörden sind), der Straßenverkehrsämter (Zulassungsstellen) sowie der Ausländerämter. Darüber hinaus kommen in Betracht für Spezialaufgaben und -fälle der Zollfahndungsdienst, die Haupt- und Zollämter der Finanzverwaltung, die Bezirkszollkommissariate für den Grenzschutzdienst, die Steuerfahndung, der Bundesgrenzschutz (Einzeldienst), der Fahndungsdienst der Bundesbahn, der Postfahndungsdienst, die Gerichte, Staatsanwaltschaften, Justizvollzugsanstalten, die Feldjäger der Bundeswehr, die Dienststellen der fremden Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, die Standesämter, Arbeitsämter, Sozialämter, Jugendämter, Gesundheitsämter, Paßstellen. Aus dem Versicherungswesen kann die Zusammenarbeit mit den Pflicht- und Ersatzkassen, Lebensversicherungsanstalten, Rentenbehörden, Krankenhäusern, Kliniken, Heil- und Pflegeanstalten, Sanatorien, Genesungsheimen, Kuranstalten, Sachversicherungen, Unfallversicherungen und Kfz.-Versicherungen notwendig und nützlich sein. Auskünfte bei den privaten Sicherheitseinrichtungen sind heute ebenfalls nützlich, da weite Bereiche der privaten Gefahrenabwehr durch diese Stellen abgedeckt werden. Es sind dies Wach- und Schließgesellschaften, Werkschutzorganisationen, Personal von Bewachungs- und Parkplätzen, Privatdetektive. Sehr viele gewerbliche Betriebe können durch ihre beruflich bedingten Kenntnisse und Unterlagen wertvolle Fahndungshilfen geben. Es sind dies alle Unternehmen, die in die Lage kommen können, rechtswidrig erlangte Gegenstände anzukaufen, zu reparieren, zu nutzen oder die mit Personen zusammenkommen können, die strafbare Handlungen begangen haben oder begehen wollen (etwa Autoverleiher, Reparaturwerkstätten, Buchdruckereien, Leihanstalten, Photogeschäfte — um nur eine ganz kleine Auswahl zu geben). Schließlich ist auch die Zusammenarbeit mit jenen Unternehmen nötig, die der Erholung und Unterhaltung sowie dem Amüsement dienen: Auch der Rechtsbrecher sucht den Zeitvertreib, will sich entspannen und verbringt einen Teil seiner Freizeit in Hotels, Gastwirtschaften jeder Art und jeden Ranges, in Bars, Kabaretts, Glücksspielunternehmen und auf Sportplätzen.
9. Die
Öffentlichkeitsfahndung
Die Möglichkeiten des Rechtsbrechers, sich polizeilichen Nachforschungen zu entziehen, sind in der modernen, mobilen, technisierten und liberalisierten Welt unvergleichlich größer, als in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Wie erwähnt, bestehen mannigfache Möglichkeiten, polizeiliche Kontrollen zu unterlaufen (falsche Ausweise), zu umgehen (Untertauchen in der Anonymität der Großstädte und im Ausland) oder unbemerkt zu bleiben infolge der Unmöglichkeit, alle Straftaten bzw. alle Täter wirksam zu verfolgen. Als wesentliche Hilfe bei der Fahndungsarbeit erwies sich hier jedoch die Öffentlichkeitsfahndung. Sie hat schon immer eine Rolle gespielt, wenn es galt, Kapitalverbrechen oder solche Straftaten, die besonderes Aufsehen erregten, aufzuklären: Der Aushang von Mordplakaten gehört mit zu den ältesten Maßnahmen der Öffentlichkeitsfahndung überhaupt, in der Nähe und Umgebung von Tatorten sind seit jeher Handzettel verteilt oder Postwurfsendungen in die Briefkästen gegeben worden, wenn es galt, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf bestimmte Straftäter zu lenken und Mitteilungen über verdächtige Umstände zu machen. Auch der Kinosteckbrief (Fahndungsaufruf in den Lichtspieltheatern) ist seit Aufkommen des Filmtheaters angewandt worden. Schließlich sind Veröffentlichungen in der Tagespresse seit eh und je üblich gewesen. Mit dem Aufkommen der Massenillustrierten, der aktuellen Tagessendungen des Rundfunks und vor allem mit dem Ausbau des Fernsehens — besonders auch mit seinen Regionalprogrammen - boten sich nun weitere wirksame Fahndungsmöglichkeiten, die einen breiten Kreis der Gesellschaft erreichen mußten. Nachrichten über Verbrechen und deren Verursacher konnten auf diese Weise in ganz kurzer Zeit im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verbreitet werden und wurden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch von allen Haushalten aufgenommen. Eine so wirksame Fahndungsmöglichkeit wie hier stand der Polizei noch nie zur Verfügung - sie mußte genützt werden, denn hier bot sich die Möglichkeit, die Nachteile bei der Fahndung, die eben erwähnt wurden, abzugleichen. Der Rechtsbrecher mußte im Augenblick der Fernsehsendung damit rechnen, daß jeder Fernsehteilnehmer die Personen und Ereignisse in seinem persönlichen Lebensbereich mit den Fragen der Kriminalpolizei verglich und alsbald per Telefon seine Beobachtungen - noch am Sendeabend - der Polizei mitteilen würde. Nach anfänglich zögernder Durchgabe von Fahndungsmeldungen über das gesamte Sendegebiet kam es durch die Landesstudios des Fernsehens bald auch dazu, daß hier regelmäßig über besondere Straftaten der jeweiligen Region berichtet wurde und hierbei der Stand der Ermittlungen und die Fragen der Strafverfolgungsbehörden der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden - eine reine journalistische Aufgabe im Grunde,
Fahndung die sich jedoch auch für die Tataufklärung günstig auswirkte. Mit der dann eigens zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung veranstalteten Sendereihe „Aktenzeichen XY ungelöst" kam es dann zu regelmäßig wiederholten Sendungen, in denen ungeklärte Fälle der Kriminalpolizei dem Publikum vorgestellt wurden, um Hinweise zu erhalten, und flüchtige Verbrecher im Lichtbild dargestellt wurden, um den Zuschauern die Möglichkeit zu geben, ihre Beobachtungen darüber der Polizei mitzuteilen. Gewiß mögen derartige Veranstaltungen auch ihre Gefahren aufweisen, und Eduard Zimmermann ist des öfteren wegen seiner Sendung angegriffen worden. Andererseits kann auf eine solche Fernsehfahndung nicht verzichtet werden. Ohne sie würde die heutige Verbrechensbekämpfung nicht mehr die gleichen Erfolge aufweisen. Uber Gestaltung und Form einer solchen Sendung allerdings mag man füglich streiten. Doch ist zu berücksichtigen, daß sie so angelegt sein muß, daß ein breiter Zuschauerkreis sich angesprochen fühlt und daß die Sendung dazu motiviert, eigene Überlegungen anzustellen, um seine Beobachtungen der Polizei zu melden. Da auch rechtliche Überlegungen anzustellen waren, ist durch Erlasse geregelt, in welchen Fällen die Massenmedien generell für die Fahndung einzusetzen sind. Die allgemeinen Grundsätze hierüber sind in den Richtlinien v. 12.3.1973 (Bundesanzeiger Nr. 52 v. 15.3.73) und in der PDV 384.1 niedergelegt worden. Hier heißt es sinngemäß: Die Öffentlichkeitsfahndung wendet sich an einen bestimmten oder unbestimmten Bevölkerungskreis im Inland oder im Ausland und dient repressiven wie präventiven Zwecken. Dabei darf die Polizei alle gesetzlich zulässigen Maßnahmen treffen, die zur Aufklärung von Straftaten beitragen. Insbesondere können Presse, Rundfunk und Fernsehen einbezogen werden. Publikationsorgane sollen jedoch erst dann in Anspruch genommen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos bleiben oder voraussichtlich nicht oder nicht rechtzeitig zum Erfolg führen werden. Das wird bei Straftaten unbekannter Täter immer der Fall sein — ohne eine Pressenotiz wird man bei Raubüberfällen oder Straftaten, bei denen ein Täter gesehen wurde, nicht auskommen. Doch ist hierbei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Zwischen dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und den schutzwürdigen Interessen des Gesuchten oder sonstiger Betroffener ist daher abzuwägen. Folgende Gesichtspunkte müssen dabei berücksichtigt werden: - der generalpräventive Effekt einer schnellen Tataufklärung, - die Gefahr weiterer Straftaten bei nicht genügend intensiver Fahndung, - die Gefahr der Warnung von Tätern oder Teilnehmern, - die Nachahmungsgefahr, - die Gefahr einer Rufschädigung der Betroffenen,
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- die mögliche Beeinträchtigung der Resozialisierung des Täters. Bei der Berücksichtigung dieser Fragen ist das Verbreitungsgebiet des jeweiligen Mediums zu berücksichtigen. Man wird also überlegen müssen, ob man eine Öffentlichkeitsfahndung im Fernsehen, in einer Massen-Illustrierten oder lediglich in einer örtlich erscheinenden Tageszeitung für zweckmäßiger hält. Eine allzu häufige Inanspruchnahme der Massenmedien kann zwar das Interesse oder die Bereitschaft der Öffentlichkeit, an der Fahndung mitzuwirken, beeinträchtigen. Das darf jedoch nicht dazu führen, notwendig werdende Fahndungsmaßnahmen allein aus dieser Befürchtung heraus zu unterlassen. Bei allen Strafverfolgungsangelegenheiten entscheidet über die Inanspruchnahme der Massenmedien die Staatsanwaltschaft, die in jedem Fall die Kriminalpolizei vorher hören wird. Soll die Öffentlichkeitsfahndung unmittelbar durch die Polizei erfolgen, so hat diese vorher die Zustimmung der Staatsanwaltschaft herbeizuführen. Allerdings gibt es hier in der Praxis generelle Regelungen. In der örtlichen Presse berichtet die Polizei regelmäßig über die Fälle der kleinen und mittleren Kriminalität, weil dies am praktikabelsten ist. Bei Einschaltung des Fernsehens oder der Massenillustrierten wird man auch hier die Staatsanwaltschaft konsultieren. In den Fällen der schweren Kriminalität (Kapitalverbrechen) entscheidet die Staatsanwaltschaft auch über die örtliche Information der Öffentlichkeit, lediglich bei Gefahr im Verzuge wird die Polizei hier selbständig tätig. Bei unbekannten Tatverdächtigen nimmt die Polizei bis zur Vorlage der Akten an die StA. selbständig die Hilfe der Publikationsorgane in Anspruch, soweit die StA. nicht widerspricht. Bei flüchtigen Verurteilten kann nur die Vollstreckungsbehörde über die Einschaltung der Medien entscheiden, es sei denn, daß ein Verurteilter aus einer Vollzugsanstalt entflieht und Gefahr im Verzuge vorliegt. Dann entscheidet die Polizei. Fahndungen nach Vermieten, gemeingefährlichen Geisteskranken, Personen mit ansteckenden Krankheiten sind ausschließlich Angelegenheit der Polizei. Die Namen oder Lichtbilder gesuchter Personen dürfen in den Massenmedien nur dann veröffentlicht werden, wenn - bei Beschuldigten ein Haft- oder Unterbringungsbefehl wegen einer nach Art und Umfang schweren Straftat erlassen wurde oder Gefahr im Verzuge vorliegt und die Voraussetzungen eines solchen Haftbefehls vorhegen, - Verurteilte sich der Strafverfolgung entziehen und noch mindestens 1 Jahr Freiheitsstrafe zu verbüßen haben oder wenn die Ergreifung aus anderen schwerwiegenden Gründen (Fortsetzung der Taten) im öffentlichen Interesse liegt, - eine gerichtliche Unterbringung angeordnet ist, - bei Vermißten das Einverständnis der Eltern vorliegt, oder Gefahr für Leib und Leben besteht,
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Fahndung
- Zeugen ermittelt werden müssen zu einer Straftat, die schwerwiegend ist, sofern dringende Gründe hierfür vorliegen. Die Namen von Geschädigten dürfen nur mit deren Einverständnis und bei zwingendem Gebot des Ermittlungsinteresses veröffentlicht werden. Falls der Fahndungszweck sonst gefährdet würde, dürfen diese Namen auch ohne Einverständnis der Betroffenen veröffentlicht werden. Diese Regelung hat sich seit ihrer Einführung bewährt und wird allen Erfordernissen gerecht. Darüber hinaus wird nach wie vor die Öffentlichkeit durch Plakataushang, Handzettel, Lautsprecherdurchsagen der Polizei in bestimmten Ortsteilen und durch regelmäßige Veröffentlichungen in der örtlichen Presse informiert. Auch hier wird inzwischen eine Form gewählt, die durch Aufmachung und Gestaltung aufmerksam macht und das Interesse des Angesprochenen weckt. Die Erfolge mit der Öffentlichkeitsfahndung zeigten, daB auf sie nicht verzichtet werden kann und daß sie in jedem Falle, der nicht in absehbarer Zeit zu klären ist, als wertvolles Mittel veranlaßt werden sollte.
10. Durchführung von
Fahndungsmaßnahmen
a) Wichtigste Voraussetzung durchgreifender Fahndungsmaßnahmen ist eine ausreichende Personalstärke. Nur wenn für Fahndungszwecke genügend Beamte der Schutz- und Kriminalpolizei zur Verfügung stehen, ist eine wirksame Fahndung möglich. Technische Hilfsmittel allein genügen nicht. b) Sofern dies gewährleistet ist, können im Zuständigkeitsbereich jeder Polizeibehörde an den Schwerpunkten der Kriminalität Streifen, Kontrollen und gezielte Fahndungsmaßnahmen stattfinden, um auf frischer Tat Rechtsbrecher zu fassen. Hierbei werden verdeckte Maßnahmen (Observationen) mit offenen Streifen und Eingreifkommandos verbunden. c) Derartige örtliche Maßnahmen haben dann Erfolge, wenn sie aufgrund einer Analyse der kriminalgeographischen Verhältnisse, der Arbeitsweise (modus operandi) der jeweils tätigen Rechtsbrecher und einer Erkundung über die möglichen Opfer und deren Gefährdungssituationen erfolgen. d) Die Suche nach flüchtigen oder sich der Ermittlung und Aufklärung sonst entziehenden Rechtsbrechern erfolgt zunächst am Orte ihres letzten oder gewöhnlichen Aufenthaltes. Hierbei werden für die jeweils gesuchten Personen bestimmte Fahndungsbeamte eingeteilt, die sich mit den persönlichen Verhältnissen des Gesuchten vertraut machen und ihn so lange suchen, bis sie ihn ermittelt und gefunden haben. Dabei können auch die örtlichen Zuständigkeitsgrenzen in gewissem Umfang überschritten werden. e) Eine ständige auf Fahndungszwecke gerichtete Streifentätigkeit der Schutz- wie der Kriminalpolizei
überprüft verdächtige Personen, Orte und Situationen im örtlichen Bereich. Hierdurch wird die Festnahme solcher Personen ermöglicht, die sich vorübergehend - auf der Flucht, zum Zwecke des Verbergens - im Zuständigkeitsbereich der Ortsbehörde aufhalten. Die Überprüfung erfolgt anhand von Auskunftsersuchen, die über die örtliche Datenstation an das Datenverarbeitungssystem Personenfahndung gerichtet werden. Hier wird - im Gegensatz zu Ziffer 2 - nicht der im örtlichen Bereich tätige oder gesuchte Rechtsbrecher ermittelt, sondern der auf der Durchreise befindliche, von anderen, auswärtigen Behörden gesuchte Täter. f) Bei besonderen Anlässen und aufsehenerregenden Verbrechen erfolgt eine überörtliche Fahndung, bei der entweder im Umkreis des begangenen Verbrechens im Rahmen einer Alarmfahndung Absperrungsmaßnahmen erfolgen, bei denen jeder Zuund Abgang überprüft wird. Ebenso kann - bei ähnlichen Anlässen, aber auch noch nach Tagen und auch an Orten, die räumlich entfernt liegen - im Rahmen von Groß- oder Alarmfahndungen eine zentral gesteuerte Kontrolle des Personen- oder Autoverkehrs (bzw. Zugverkehrs) auf bestimmten Straßen und Verkehrswegen erfolgen, um durch ein nach bestimmten Gesichtspunkten gespanntes Netz gesuchte Rechtsbrecher festzunehmen. g) Schließlich kann - zeitlich bedingt durch taktische Überlegungen - mit Hilfe des Fernsehens oder den sonstigen Massenmedien eine konzentrierte Öffentlichkeitsfahndung erfolgen, um Hinweise über Reisewege, Aufenthaltsorte oder Schlupfwinkel gesuchter Täter zu erhalten. Angesichts der zahlreich eingehenden Hinweise sind für diese Fälle entsprechend starke Kräfte bereitzuhalten, die diese Hinweise überprüfen. h) Die schnelle Übermittlung von Nachrichten und Hinweisen sowie die ständige Aktualisierung des Fahndungsdatenbestandes sind Voraussetzungen für Fahndungsmaßnahmen, die schnell und sofort eingeleitet werden müssen. Hier bieten die Möglichkeiten der Datenverarbeitung große Hilfen, ohne die angesichts der guten Fluchtmöglichkeiten die Fahndung erschwert wäre. Ihr weiterer Ausbau und die ebenso schnellen Zugriffsmöglichkeiten auf sonstige Karteien und Unterlagen (Meldeämter, Kfz.-Zulassungsstellen usw.) sind daher erforderlich. i) Personal, Datenverarbeitung und taktisch kluges Handeln bleiben jedoch erfolglos, wenn die Gesetzgebung nicht dafür sorgt, daß die rechtlichen Grundlagen für Kontrollen und Überprüfungen so verbessert werden, daß Fahndungen in der technisierten mobilen Welt überhaupt noch möglich sind. Monographien G. B a u e r : Auf den Spuren des Verbrechens. Möglichkeiten und Grenzen der Kriminalistik. Lübeck 1973. G. B a u e r : Moderne Verbrechensbekämpfung. Fahndung. Band 3. Lübeck 1977.
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Fehlurteil Z e i t s c h r i f t e n und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e B. W e h l l e r : Fahndung. Pol. 1964, S.294. H. L a b r e n z : Landesfahndungskommando. Pol. 1967, S. 1. G. B e r t l i n g : Polizeiliche Einsatzplanung mit Hilfe der EDV. Pol. 1967, S. 193. W. H u b a t k a : Personenkontrollkarte als Fahndungs- und Aufklärungsmittel. Krim. 1970, S. 1. H. S c h ä f e r (Hrsg.): Fahndung und Observation. Grundlagen der Kriminalistik. Band 5. Hamburg 1970. G. B a u e r : Fährten und Fluchtwege des Täten. Pol. Beilage Krim. 1970, S. 133. W. Ρ f i s t e r : Nutzbarmachung typischer Einsatzformen für die Fahndung. Pol. 1973, S. 193. F. S a I e w s k i : Koordinierung der Fahndungstätigkeit der Kriminalpolizei und der uniformierten Polizei. Pol. 1973, S. 409. J. S c h w a g e r ) : Fahndungshilfe durch Massenmedien. Pol. 1974, S. 409. G . B a u e r : Die Bekämpfung des Rauschgiftdealers. Der Kriminalist. 1975, S. 138.
Arbeitsmaterialien Zusammenwirken der uniformierten Polizei und der Kriminalpolizei bei der Fahndung. Arbeitstagung an der Polizeiführungsakademie Hiltrup 1970. Tagungsbericht 1970. Fahndung 1975. Arbeitstagung an der Polizeiführungsakademie Hiltrup 1975. Tagungsbericht 1975. GÜNTHERBAUER
FEHLURTEIL I. ALLGEMEINE GRUNDLAGEN A. Begriff des Fehlarteile Ein Fehlurteil ist ein Urteil, das auf einer unrichtigen Sachverhaltsfeststellung beruht, die im Schuldoder Rechtsfolgenausspruch zu einem sachlich falschen Ergebnis führt. Im Sinne dieser Umschreibung ist nicht jedes fehlerhafte Urteil ein Fehlurteil. So umfaßt der Begriff nicht das auf einem Rechtsirrtum beruhende Urteil. Eine Beschränkung auf Fehler der Sachverhaltsfeststellung ist dadurch gerechtfertigt, daß es sich dabei um eine besondere Gruppe von Fehlern handelt, die einer speziellen Untersuchung bedürfen. Dem Fehlurteil liegen keine typischen Rechtsprobleme, sondern allgemein menschliche und gesellschaftliche Probleme zugrunde. Die unrichtige Sachverhaltsfeststellung beruht entweder darauf, daß bereits einzelne Tatfeststellungen unrichtig ermittelt worden sind oder daß wichtige Feststellungen unterblieben sind oder daß zwar die Sachverhaltsfeststellungen umfassend sind, sie jedoch im einzelnen oder insgesamt falsch gewürdigt worden sind. Das Fehlurteil kann sowohl auf einem Ermittlungsfehler als auch auf einem Beurteilungsfehler, d.h. einer fehlerhaften Beweiswürdigung, beruhen. Das Fehlurteil ist objektiv falsch, subjektiv beruht es auf einer zu Unrecht gewonnenen Gewißheit des Beurteilenden.
Fehlurteile kommen in allen Prozeßarten vor. Besondere Beachtung haben sie im Strafprozeß gefunden. Hier ergehen sie sowohl zuungunsten als auch zugunsten eines Beschuldigten. Freilich darf nicht jeder Freispruch, auch wenn er einen tatsächlich Schuldigen trifft, nicht als Fehlurteil angesehen werden. Der Grundsatz der Unschuldvermutung (Art. 6 II MRK) und der persönlichen Freiheit (Art. 2 GG) begrenzen eine Verurteilung auf diejenigen Fälle, in denen der Angeklagte überführt ist. Reichen die Beweise nicht aus, so ist der Freispruch die gebotene Entscheidung. Der Freispruch bei mangelnden Beweisen entspricht der gesetzlichen Lage. Er kann daher kein Fehlurteil sein. Der Zweifel des Richters kommt dem Angeklagten zugute. Erst dort, wo dieser Zweifel auf bewußt verfälschten Beweisen beruht, kann von einem Fehlurteil zugunsten des Angeklagten die Rede sein. Die gelegentlich zu hörende Äußerung, daß mehr Schuldige infolge staatsanwaltschaftlicher Verfahrenseinstellungen oder richterlicher Freisprüche und Einstellungen dem Schuldspruch entzogen als Beschuldigte zu Unrecht verurteilt würden, beruht auf einer falschen Grundauffassung unseres Strafprozesses und ist geeignet, das Problem des Fehlurteils zu verharmlosen.
B. Das Schrifttum zum Fehlurteil Zum Fehlurteil gibt es ein umfassendes Schrifttum. Von wissenschaftlichen und religiösen Darstellungen über prozessuale Erlebnisschilderungen bis zu Verarbeitungen in der Kunst und in der Publizistik breitet sich ein weiter Bogen aus. Einzeldarstellungen hegen schon aus dem Altertum vor. Systematische Sammlungen sind seit dem vorigen Jahrhundert bekannt. Das Werk von Gayot de Pitaval über bemerkenswerte Strafverfahren hat im weiteren zeitlichen Verlauf auch zur Zusammenstellung von fragwürdigen Urteilen geführt. Der Ursprung dieses Schrifttums liegt in Frankreich. Im deutschsprachigen Raum haben sich bereits im ersten Viertel dieses Jahrhunderts Sello (1911), Alsberg (1913) und Hellwig (1914) mit derartigen Sammlungen und der damit zusammenhängenden Interpretation befaßt. Bemerkenswert ist, daß Alsberg und Sello Rechtsanwälte, Hellwig Richter waren. Aus staatsanwaltschaftlichen Erfahrungen habe ich 1939 das Buch „Zeugenlüge und Prozeßausgang" veröffentlicht. Diesem Buch lag die Fragestellung zugrunde: „Wie laufen Verfahren aus, in denen es zu Beweisverfälschungen gekommen ist?" Insgesamt sind in 18 Strafverfahren und 24 Zivilverfahren mehr als 110 sicher festgestellte falsche Aussagen, ganz überwiegend Meineide, begangen von 23 Personen, untersucht worden. Die in diesen Verfahren ergangenen Strafurteile waren trotz der Beweisverfälschungen zur Hälfte richtig ausgelaufen, während bei den Zivilurteilen die unrichtigen Urteile nicht unerheb-
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Fehlurteil
lieh überwogen. Diese Untersuchungen bemühten sich um eine Auswertung eines zuverlässig gewonnenen Gerichtsmaterials mit dem Bemühen um möglichst objektive Deutung. Das Interesse an den Fragen des Fehlurteils spiegelt sich in einem kurvenartigen Verlauf der Gegenstandsbehandlung wider. Nach der Periode von 1911/1917 ruhte das Problem, sofern man von der eben angeführten Behandlung im Jahre 1939 absieht, bis 1960. In diesem Jahr erschien das grundlegende Werk von Max Hirschberg, Das Fehlurteil im Strafprozeß. In diesem Buch ging der Verfasser, ein damals in den USA lebender aus Deutschland stammender Rechtsanwalt, an Hand zahlreicher selbst erlebter und aus dem Schrifttum entnommener Vorgänge aus zahlreichen Ländern den Ursachen der Fehlurteile nach. Die Arbeit von Hirschberg hat außerordentlich anregend gewirkt. Ihr folgten im deutschsprachigen Raum weitere Sammeldarstellungen, von denen hier nur die Bücher von Judex, Irrtümer der Strafjustiz (1963) und Sutermeister, Summa iniuria, Ein Pitaval der Justizirrtümer (1976) genannt werden sollen. Daß das Thema des Justizirrtums in der Zeit nach 1967 im Fernsehen, im Radio und in den Zeitschriften immer wieder behandelt worden ist, lag sowohl an den sich damals entwickelnden Zeitströmungen als auch an einer Reihe von spektakulären Strafprozessen, wie den Fällen Maria Rohrbach, Vera Brühne und Derz. Das Buch von Hirschberg hat darüber hinaus den weiteren wissenschaftlichen Gang in entscheidender Weise beeinflußt. Es gab dem Bundestagsabgeordneten Dr. Arndt Anlaß zu einer Anfrage, inwieweit das Bundesjustizministerium bereit sei, der Frage des Fehlurteils in der Bundesrepublik Deutschland näher nachzugehen. Das Bundesjustizministerium entschloß sich im Einvernehmen mit den Landesjustizministern und Justizsenatoren, eine Untersuchung über in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren durch ein wissenschaftliches Institut zu veranlassen. Diese Untersuchungen sind in der Forschungsstelle für Strafprozeß und Strafvollzug der Universität Tübingen in den Jahren 1962-1970 durchgeführt worden. Bei der Auftragserteilung wurde ausdrücklich erklärt, daß die Untersuchungen ohne Rücksicht auf irgendwelche Prestigefragen durchgeführt werden sollten. Das alleinige Ziel sollte die Feststellung der tatsächlichen Sachlage sein. Dem Institut wurden auf Veranlassung der Justizminister und Justizsenatoren die in dem Zeitraum 1951-1961 durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren bekanntgegeben und die entsprechenden Akten zur Verfügung gestellt. Gegenstand der Untersuchung war die allgemeine Kriminalität, ausgeschlossen waren die Staatsschutzsachen. Der Zweck der Untersuchung war, den Verlauf der allgemeinen Strafverfahren zu untersuchen, in denen es zum Wiederaufnahmeverfahren gekommen war. Unter Beifügung einiger älterer und einiger späterer Strafverfahren sind in der Forschungsstelle 1140 durchgeführte Wiederaufnah-
meverfahren aktenmäßig auf die in Betracht kommenden Fehlerquellen untersucht worden. Von den 1140 Wiederaufnahmeverfahren wurden 1053 zugunsten eines Verurteilten durchgeführt. Die Wiederaufnahmeverfahren verteilten sich auf: Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge 51 Fälle Sittlichkeitsdelikte 142 Fälle Brandstiftung 25 Fälle Raub und Erpressung 30 Fälle Diebstahl, Hehlerei 272 Fälle Betrug 133 Fälle Unterschlagung, Untreue, Beamtendelikte 50 Fälle Aussagedelikte 53 Fälle Verkehrsdelikte 135 Fälle Sonstige Delikte 249 Fälle Todesstrafe wurde in 10 Fällen, lebenslange Freiheitsstrafe in 19 Fällen und Freiheitsstrafe von 10 Jahren bis 15 Jahren in weiteren 19 Fällen verhängt. Das Material reicht von der Schwerkriminalität bis zur leichten Kriminalität und bloßer Asoziaütät. Allerdings ist anzunehmen, daß die Wiederaufnahmeverfahren bei der leichten Kriminalität um das 2-3fache höher liegen als es nach dem vorgelegten Material der Fall war. Das ergibt sich einmal daraus, daß einzelne Bundesländer Einzelrichtersachen nicht mitübersandt haben. Zudem gibt es keine besonderen Wiederaufnahmeregister. Die schwere Kriminalität dürfte jedoch, wie sich aus einem Vergleich mit in der Wissenschaft und in der Presse erörterten Fällen ergibt, im wesentlichen vollständig mitgeteilt worden sein. Die Frage des Anteils der Wiederaufnahmeverfahren an rechtskräftig gewordenen Urteilen kann nicht beantwortet werden. Sie ist überdies im Schrifttum sehr umstritten. In bezug auf die Gesamtverurteilungen dürfte sie sehr niedrig liegen (etwa bei 0,023 %; bei den vorsätzlichen Tötungsdelikten dürfte sie nach meiner Schätzung auf 2-3 % ansteigen). Die Wiederaufnahmeverfahren ergeben nur ein unvollkommenes Bild, da sie voraussetzen, daß neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden. Eine falsche Beweiswürdigung kann dagegen nach deutschem Recht allein nicht zu einem Wiederaufnahmeverfahren führen. Aber auch hier sind unrichtige Urteile in Betracht zu ziehen. Zur Erkenntnis der Fehlerquellen im Strafprozeß trägt auch das Schrifttum über gescheiterte Wiederaufnahmeverfahren bei. Zwar fehlt es in diesen Fällen an der gerichtlichen Bestätigung der Notwendigkeit einer Neuüberprüfung der Sache. Die Schwierigkeit, mit der die Durchsetzung eines Wiederaufnahmeverfahrens verbunden ist, legt die Vermutung nahe, daß auch unter den gescheiterten Wiederaufnahmeanträgen sich hier zu beachtende Verfahren verbergen. Infolgedessen können gescheiterte Wiederaufnahmeverfahren nicht von vornherein unberücksichtigt bleiben. Eine genaue Analyse solcher Fälle läßt in einer durchaus nicht unbeträchtlichen
Fehlurteil Zahl den Schluß zu, daß das Urteil auf ungenügenden Grundlagen, fehlerhaften Feststellungen und fragwürdiger Beweiswürdigung beruht. Wenn daher im1 Wiederaufnahmeschrifttum (Alsberg, Hirschberg, Sello, Sutermeister) auch Verfahren behandelt werden, in denen es nicht zur Wiederaufnahme des Verfahrens gekommen ist, kann das Mitgeteilte durchaus für die hier behandelte Themenstellung von Wert sein. Erfahrungen bestätigen das. Aktenuntersuchungen, die man aufgrund von Mitteilungen von Verteidigern und Betroffenen durchgeführt hat, haben zu der Überzeugung geführt, daß die „Dunkelziffer" hinsichtlich begründeter, aber gescheiterter Wiederaufnahmeverfahren durchaus Berücksichtigung verdient. Das wird näher darzulegen sein. Fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen und darauf aufbauende Urteile werden zuweilen noch vor der Rechtskraft im Rechtsmittelweg beseitigt. Das kann im Berufungsverfahren oder aber aufgrund einer neuen Hauptverhandlung nach Aufhebung des tatrichterlichen Urteils in der Revisionsinstanz geschehen. Einen methodisch bemerkenswerten Weg zeigt Wilhelm Haddenhorst, Die Einwirkung der Verfahrensrüge auf die tatsächlichen Feststellungen im Strafverfahren (1971) auf. Haddenhorst hat anhand der Rechtsprechung des BGH aus einem Jahr alle diejenigen Akten untersucht, in denen der BGH Strafkammer- und Schwurgerichtsurteile aus Verfahrensmängeln aufgehoben hat. Das zufällige Vorhandensein eines Verfahrensfehlers und die Begründung der Revision mit diesem Verfahrensverstoß führte zu einer neuen Sach verhandlung, die auffallend häufig andere Feststellungen und anstatt Verurteilungen Freisprüche und Einstellungen erbrachten. Auch Strafzumessungsänderungen sind nicht selten.
C. Das Fehlurteil als überzeitliches und übernationales Problem Wenn sich in neuerer Zeit gerade das deutschsprachige Schrifttum mit dem Fehlurteil befaßt hat, so bedeutet das nicht, daß es sich um ein spezifisches Problem des deutschsprachigen Raums handelt. Fehlurteile kommen zu allen Zeiten und bei allen Völkern vor. Es handelt sich um die Auswirkungen allgemein menschlichen Verhaltens. Sowohl der Angriff auf die Rechtspflege von außen als auch der Irrtum und die Unaufmerksamkeit der mit der Strafrechtspflege beteiligten Personen ist an keine Zeit und an keine örtlichkeit gebunden. Die Problematik wird deutlich an zwei Zitaten, die 1500 Jahre auseinanderliegen. Aurelius Augustinus schrieb an einen römischen Richter: „Wir Menschen alle oder fast alle lieben es, unsere Vermutungen Gewißheit zu nennen oder, wenn wir einige Wahrscheinlichkeitsgründe dafür haben, für sicher zu halten, und doch sind manche wahrscheinliche Dinge unwahr, wie manche unwahrscheinliche wahr." Ludwig Lebrecht
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stellt 1972 seinem Buch, Betrachtungen zum technischen Sachverständigenwesen, das Leitwort voran: „Es ist die Frage, wie sich verhindern läßt, daß eine Vermutung subjektive Gewißheit wird, ohne daß objektiv etwas bewiesen ist." Damit wird nur eine der vielen Fehlermöglichkeiten als eine alle Menschen berührende Frage angedeutet. Vielerlei menschliche Unzulänglichkeiten bis hin zu bewußten Prozeßverfälschungen begleiten den Weg der Strafrechtspflege in aller Welt. Einen Einblick in die derzeitige Rechts- und Sachlage gibt das umfangreiche Werk von Jescheck, Meyer (Hrsg.), Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens im deutschen und ausländischen Recht (1974). Empirische Daten werden nur aus einzelnen Ländern mitgeteilt. Derartige eingehende Untersuchungen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt worden sind, fehlen. Infolgedessen ist ein internationaler Vergleich zur Zeit nicht möglich. D. Die Beurteüung sich widersprechender Urteile Wenn in den verschiedenen Verfahrensabschnitten (Grundverfahren-Wiederaufnahmeverfahren, erstinstanzliche Verfahren-Berufungsverfahren, Verfahren vor und nach dem Revisionsurteil) aufgrund verschiedener Sachverhaltsfeststellung und Überzeugungsbildung Urteile ergehen, kann nur eines dieser Urteile mit dem wirklichen Sachverhalt übereinstimmen. Der Mangel kann sowohl bei dem ersten als auch bei dem späteren Urteil liegen. Eine Vermutung nach der einen oder anderen Seite läßt sich nicht aufstellen. Daß das spätere Urteil wegen des Zeitablaufs eine geringere Chance für seine Richtigkeit hat, läßt sich nicht behaupten. Der Zeitablauf kann sich ebensogut zuungunsten des Angeklagten oder Verurteilten auswirken, wie er unter Umständen die Überführungsmöglichkeiten erschwert. Vor- und Nachteile des Zeitablaufs heben sich auf. Im übrigen kann der Zeitablauf sich als Überführungshindernis nur auswirken, wenn die früheren Ermittlungen ungenau oder oberflächlich durchgeführt worden sind. Schon der Umstand, daß zwei Gerichte denselben Vorgang verschieden feststellen und würdigen, ist für die Beurteilung der Zuverlässigkeit der Wahrheitsfindung bemerkenswert. Aber bei dieser Feststellung wird man es nicht belassen. Vielmehr kann auch hier nur eine sorgfältige Analyse der beiden Urteile aufgrund des vorhandenen Aktenmaterials Klärung hinsichtlich des Wertes der beiden in Frage stehenden Urteile ergeben. Eine solche Beurteilung enthält selbstverständlich subjektive Momente. Aber dennoch kann sie objektiv durch Anwendung kriminalistischer Regeln sowie durch das rein Subjektive begrenzende Erfahrungen gestützt werden. Der Grad der anzunehmenden Richtigkeit oder Unrichtigkeit des zweiten Urteils kann durchaus verschieden sein. Dem Verhältnis vom späteren zum früheren Urteil läßt sich folgende Skala zugrunde legen.
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a) Das Grundurteil ist zweifellos unrichtig (Hauptbeispiele: ein anderer wird eindeutig als Täter ermittelt, das angeblich getötete Opfer lebt, zweifellos echte Urkunden erweisen die Unrichtigkeit des Urteils. Beweisverfälschungen zuungunsten des Verurteilten werden eindeutig erwiesen). b) Das Grundurteil ist wahrscheinlich unrichtig. Wenn auch nicht mit völliger Sicherheit die Unrichtigkeit festgestellt werden kann, sprechen doch überwiegende Gründe für die Wahrscheinlichkeit der Unrichtigkeit. c) Das Grundurteil ist möglicherweise richtig. Keinem der beiden Urteile kann der Vorzug gegeben werden oder aber die für die Richtigkeit des ersten Urteils sprechenden Umstände überwiegen eher. d) Das Grundurteil ist vermutlich richtig. Nur die Urteile, die unter Kategorie a), b) und c) fallen, können als Fehlurteile angesehen werden. E. Die Auswirkungen der Nichtbeachtung von Fehlerquellen Die Notwendigkeit, daß die Strafverfolgungsorgane (Polizei, Staatsanwalt, Richter) sich mit den Möglichkeiten und Auswirkungen mangelnder Aufklärung und ungenügend gesicherter Bewertungen befassen, ergibt sich sowohl im Hinblick auf die Folgen für die Strafrechtspflege als auch im Hinblick auf den Betroffenen. Ungenügende Ermittlungen führen zu ungerechten Freisprüchen und zu ungerechtfertigten Anklagen und Urteilen. Beides bedeutet eine Einbuße an Autorität der Rechtspflege. Das Fehlurteil zuungunsten des Verurteilten bringt menschliches Leid sowohl für den unmittelbar Betroffenen als auch für seine Familie mit sich. Es führt unter Umständen zum Berufsverlust, zum Verlust seines Ansehens und zuweilen zu langem, möglicherweise lebenslangem Freiheitsverlust. Die Folgen des Fehlurteils lassen es nicht angebracht erscheinen, dem Fragenkreis statistisch nachzugehen. Wenn auch ein häufig vorkommender Fehler besondere Beachtung verdient, so kommt es doch darauf an, daß auch ein seltener vorkommender Fehler vom Einzelfall her eine außerordentliche Bedeutung haben kann. Entscheidend ist, daß Fehler dieser oder jener Art überhaupt vorkommen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Lehre von den Fehlerquellen im Strafprozeß zu entwickeln.
F. Historische Bemühungen um die Wahrheitsfindung Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung sind sehr unterschiedliche Methoden der Wahrheitsfindung angewandt worden. Wir heutigen sind geneigt, ihnen mit überlegener Kritik zu begegnen, obwohl nicht einmal feststeht, daß wir die endgültige Lösung gefunden haben.
Im germanischen Rechtsgang entschied über den Prozeßausgang der Eid des Beweispflichtigen, das Gottesurteil und der damit eng zusammenhängende Zweikampf. Ein solches System beruhte auf der Einsicht, daß es dem menschlichen Richter versagt sei, den wirklichen Sachverhalt zu erforschen. Die Wahrheitsfindung wurde in den Anruf und die Mitwirkung des allwissenden Gottes verlegt. Die sakrale Grundlage des Prozesses setzte die Gläubigkeit der Menschen voraus. Auch in der anschließenden Zeit der merowingischen und fränkischen Könige spielte der Eid als Reinigungseid des Beklagten und als Überführungseid des Klägers eine erhebliche Rolle. Diese Eide wurden gestützt durch die Eideshelfer. Sie beschworen nicht als Zeugen eine Wahrnehmung des Geschehens, sondern bekräftigten mit ihrem Eid die Glaubwürdigkeit des schwörenden Beklagten oder Klägers. Auch hierin kommt ein wichtiger, heute allerdings nicht mehr hinreichend erkannter Gedanke zum Ausdruck. Der Wert einer Aussage wurde in Abhängigkeit gesetzt zu der Zuverlässigkeit des Aussagenden. Der Bedeutung der Einwandfreiheit der Aussageperson entspricht die Idee des „klassischen Zeugen". Um etwaigen Irrtümern zu begegnen, bedurfte es mehr als eines Zeugen. So verlangt die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. zwei oder drei einwandfreie Tatzeugen. Das bedeutete, daß auf die charakterlichen Eigenschaften der Aussageperson abgestellt wurde. Wo in dieser Weise ein Beweis nicht zu erbringen war, konnte die Schuld nur aufgrund des Geständnisses des Beschuldigten erwiesen werden. Die maßgebliche Bedeutung des Geständnisses lag darin, daß man von der Vorstellung ausging, der Beschuldigte wisse am besten selbst, war er getan habe und er würde sich aus seinem eigenen Interesse davor hüten, sich selbst zu Unrecht zu belasten. Die Gefahr einer unrichtigen Selbstbelastung wurde noch nicht gesehen. Diese Gefahr war umso größer, als bei Vorlage gewisser Indizien die Folter zur Herbeiführung der „wahrheitsgemäßen" Aussage angewandt wurde. Die Aufklärungszeit führte zur Beseitigung der Folter. Damit verschob sich die Wahrheitsfindung im wesentlichen auf den Zeugenbeweis. Je mehr es auf den Zeugenbeweis ankam, umso mehr wurde versucht, den Unsicherheiten, die diese Beweisart mit sich bringt, durch gesetzliche Beweisregeln zu begegnen. Es blieb bei dem Grundsatz des Erfordernisses zweier klassischer Zeugen. Die Zeugen wurden in Gruppen eingeteilt. Je nach ihrer Eingruppierung kam dem Zeugen eine volle, eine halbe oder gar keine Beweiskraft zu. Das Gesetz band den Richter in positiver und negativer Beziehung. Das System der gesetzlichen Beweisregeln hielt sich bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war bemüht, den Zeugenbeweis zu formalisieren, um seinen Gefahren vorzubeugen. Die Regeln waren nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruhten auf allgemeinen Erfahrungen. Ihr Mangel lag freilich darin, daß das, was üblicherweise anzunehmen war, im Einzelfall durch-
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Fehlurteil aus anders liegen konnte. Die Unzulänglichkeit dieses Systems zeigte sich vor allem bei den positiven Beweisregeln, d. h. bei den Regeln, die den Richter zur Bejahung der Schuld zwangen. Immerhin zeigt das System der gesetzlichen Beweisregeln die Skepsis des Gesetzgebers gegen eine ungebundene Beweisführung. Dazu hatten vor allem die Entwicklung des Inquisitionsprozesses, insbesondere die Hexenprozesse, Anlaß gegeben. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das System der gesetzlichen Beweisregeln durch das System der freien Beweiswürdigung ersetzt. Dieses wurde in Deutschland im Zusammenhang mit den Schwurgerichten eingeführt. Auch dieser Umstand verdient Beachtung. Für die Geschworenen als Laienrichter wäre die komplizierte gesetzliche Beweisregelung nicht anwendbar gewesen. Die Begrenzung des Laienrichters wäre auch nicht mit dem Gedanken der Volkssouveränität in Einklang zu bringen gewesen. Dazu kam aber vor allem die Vorstellung, daß die Wahrheitsfindung Sache des Einzelfalles sei, nicht an feste Regeln gebunden werden könne und aufgrund des Eindrucks der inzwischen eingeführten mündlichen, unmittelbaren Hauptverhandlung allein vor sich gehen müsse. Das System der freien Beweiswürdigung bedeutet sicherlich eine bedeutsame Stufe in der Entwicklung des Beweisrechts. R. von Hippel (1941, S.386) bezeichnet seine Einführung als einen großen Kulturfortschritt. Gollwitzer (1977) sieht in dem Grundsatz einen tragenden Eckpfeiler des Beweisrechts. Aber dennoch regen sich Zweifel und Bedenken. Bereits R. von Hippel hat (1941) auf die Gefahren der freien Beweiswürdigung hingewiesen. Sie werden durch die empirischen Untersuchungen über die Fehlerquellen im Strafprozeß erhärtet. Überlegungen der Begrenzung der freien Beweiswürdigung werden neuerdings vermehrt angestellt. Die Erkenntnis, daß die Beweiswürdigung ohne subjektive Elemente nicht möglich ist, ist ein bleibender Gewinn der Strafprozeßgestaltung des vorigen Jahrhunderts. Die Frage ist nur, ob die subjektive Wertung auf einer objektiven Grundlage aufbauen muß. Seit der Einführung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in der deutschen StPO von 1877 hat sich die Kriminalistik als Wissenschaft entwickelt. Sie gewährt Erkenntnisse über die Beweisführung, über Sicherheit von Beweisen und über die Notwendigkeit einer vorsichtigen Beweisaufnahme und Beweiswürdigung. Von hier aus lassen sich objektive Fundamente für die Beweiswürdigung gewinnen. Die Zurückdrängung des Laienrichtertums, namentlich die Beseitigung der alten Schwurgerichte, in denen die Geschworenen über die Schuldfrage allein entschieden, gibt dem berufsrichterlichen Element das Übergewicht. Der Berufsrichter als „gelehrter Richter" ist - oder sollte es wenigstens sein - in der Lage, sich mit den kriminalistischen Grundlagen und Erfordernissen der Beweisführung und Beweiswürdigung zu befassen, sie zur Kenntnis zu nehmen und seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Schließlich darf auch die verfassungsrechtliche Weiterentwicklung nicht außer acht gelassen werden. Der Grundsatz der Stichhaltigkeit sowie der Unschuldsvermutung (Art. 6 MRK) ist auch in Art. 2 GG (persönlicher Freiheitsraum) enthalten. Dies ergibt sich aus dem Rechtsstaatprinzip. Auch die in ihm liegende Tendenz, den Betroffenen dem richterlichen Subjektivismus zu entziehen, ist zu beachten. Die persönliche Freiheit ist nur geschützt, wenn der Schuldspruch rechtlich abgesichert ist. Das erfordert eine gewisse Objektivierung der Beweiswürdigung. Dem heutigen Verfassungsrecht zugleich aber auch den Anforderungen der Kriminalistik entspricht eine subjektive Überzeugungsbildung auf objektiver Grundlage. Dem heutigen Zeitabschnitt der freien Beweisführung muß der Zeitabschnitt der objektiven subjektiven Überzeugungsbildung folgen. Die hier aufgezeigte Linie entspricht durchaus der Rechtsentwicldung bei anderen Fragen. Als Parallele sei die Wandlung des freien Ermessens zum gebundenen Ermessen in der Verwaltungslehre angeführt. Hingewiesen sei auch auf die Entwicklung der Strafzumessungslehre. Schon näher beim Beweisrecht liegt der Weg von der frei gestalteten Beweisaufnahme zu den Bindungen im Beweisantragsrecht und Beweispräsentationsrecht (§§ 244, 245 StPO). Beweisregelnde Vorschriften kennt auch der Zivilprozeß zur Frage der Parteivernehmung (§ 448 ZPO) und des Urkundenbeweises (§ 440 II ZPO). Einen wichtigen Beitrag zur Lehre vom Beweisrecht stellt die Behandlung der Fehlerquellen im Strafprozeß dar.
II. DIE FEHLERQUELLEN IM STRAFPROZESS Will man über die zahlreichen Fehlerquellen einen Überblick gewinnen, so empfiehlt es sich, sie nach folgenden Gesichtspunkten aufzuteilen: die Fehlerquellen hinsichtlich der Beweismittel, die sich in der Durchführung des Beweisverfahrens ergebenden Fehlermöglichkeiten, wobei die jeweiligen Verfahrensabschnitte gesondert in Betracht zu ziehen sind, und schließlich die sich aus den Fähigkeiten, der Einstellung und dem Verhalten der beweiserhebenden und an der Beweiserhebung beteiligten Personen, vor allem der Polizeibeamten und Staatsanwälte und Richter, zu behandeln.
A. Die Beweismittel 1. Der Personalbeweis a) Der Beschuldigte. Dieser kann durch seine Einlassung und sein Verhalten dem Beweisverfahren eine falsche Richtung geben. Es liegt nahe anzunehmen, daß er, um sich der Strafe zu entziehen, wahrheitswidrig seine Schuld leugnet oder beschönigt.
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Aus dieser Annahme heraus bringt der Vernehmende, namentlich wenn Indizien gegen den Beschuldigten sprechen, ihm Mißtrauen entgegen. Sein Verteidigungsvorbringen wird als „Schutzbehauptung" beiseite geschoben. Verhält sich der Beschuldigte unsicher, verwickelt er sich in Widersprüche oder wird er auf Lügen ertappt, so verschlechtert sich seine Prozeßsituation. Ungeschicktes, erst recht aggressives Verhalten gegen Zeugen, Sachverständige oder das Gericht mindern seine Chancen, für glaubwürdig gehalten zu werden. Mögen die bezeichneten Verhaltensweisen auch in anderer Weise erklärbar sein, so wird die mögliche Erklärung von dem Beurteilenden entweder nicht gesehen oder von vornherein verworfen. Auch ein Unschuldiger kann im Prozeß die Unwahrheit sagen, so, wenn er hofft, auf diesem Weg möglichst schnell aus dem Verfahren herauszukommen, oder, weil er tatsächlich etwas zu verbergen hat, was zwar nicht strafbar, aber unangenehm genug ist, wenn es an das Licht kommt. Die Unwahrheit kann er auch deswegen gesagt haben, weil er einen anderen schützen wollte. Wie auch immer der Beschuldigte sich verhält, wird das Gericht nicht von der Verpflichtung entbunden, den Sachverhalt objektiv zu prüfen und anhand der Beweise zu bewerten. Nicht nur rechtlich unzulässig, sondern auch kriminalistisch verfehlt ist es, aus dem bloßen Schweigen des Beschuldigten den Schluß auf seine Schuld zu ziehen. So angenehm und für den Richter seelisch entlastend auch ein Geständnis sein kann, so bedarf es doch stets der Uberprüfung der Richtigkeit des Geständnisses aufgrund der vorliegenden B e weise. Unrichtige Geständnisse sind keineswegs selten. Das falsche Geständnis ist nicht eine Erfindung von Romanschriftstellern. Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt bis in die neueste Zeit das Phänomen des falschen Geständnisses. In den Tübinger Untersuchungen spielte das falsche Geständnis in 7 % der Wiederaufnahmefälle eine Rolle. Nur in wenigen Fällen sprach mehr für die Richtigkeit als für die Unrichtigkeit. Die Gründe für die Abgabe eines falschen Geständnisses liegen gelegentlich offen und sind auch nachvollziehbar, so bei rational abgegebenen Geständnissen, um eine andere Person zu schützen. Zuweilen liegen die Gründe in der Persönlichkeit des Gestehenden. Es scheint, daß alte Männer, junge Menschen und Frauen sowie Schwachsinnige und Psychopathen mehr gefährdet sind, ein falsches Geständnis abzugeben, als andere Beschuldigte. Die Ursache dafür liegt vor allem darin, daß sie dem Verfahrensdruck, auch wenn das Verfahren nicht in unzulässiger Weise durchgeführt wird, nicht gewachsen sind. Es ist sogar nicht auszuschließen, daß ein freundliches, entgegenkommendes Verhalten des Vernehmungsbeamten die Bereitschaft zum Geständnis, auch zu einem falschen, fördert. Unrichtige Geständnisse können auch abgegeben werden, wenn der Beschuldigte trotz seiner Unschuld die Verfahrenslage für hoffnungslos ansieht. In jeder Verfahrensart, selbst bei schwersten Delikten, wie
Mord, Brandstiftung, kommen unrichtige Geständnise vor. Die Entstehung eines falschen Geständnisses ist nicht selten die Folge einer falschen V e m e h mungsmethode. Es kann die Antwort auf die vom Vernommenen erfaßte Erwartung des Vernehmenden sein. Langandauernde Vernehmungen fördern die Gefahr falscher Geständnisse. Der Vernehmende muß in der Lage sein, die psychische Situation auch eines Unschuldigen richtig zu erkennen. Das Geständnis - und vor allem auch die ihm vorangegangene Vernehmungssituation - sollte in Rede und Gegenrede möglichst auf Tonband festgelegt werden. B e i schriftlichen Protokollen sollen die Angaben in den Worten des Vernommenen wiedergegeben werden. Nachprüfbare Einzelheiten müssen aufgezeichnet werden. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß ein Geständnis dadurch an Gewicht erhält, daß der Beschuldigte Tatangaben macht, die nur ihm bekannt sein können. Das ist sicher richtig. Nur darf der Vernehmende nicht einer Selbsttäuschung anheimfallen. Das Wissen des B e schuldigten um Einzelheiten des Tatorts und des Tatvorgangs kann aus den bereits erfolgten Vernehmungen und Gesprächen mit Vernehmungsbeamten herstammen. Auch solche Fälle sind im Wiederaufnahmematerial festzustellen. Erfolgt der Widerruf eines Geständnisses, so bedarf es einer eingehenden Prüfung, unter welchen Umständen das Geständnis abgegeben worden ist und der Widerruf erfolgte, wie sehr auf das Geständnis gedrungen worden ist, um was für eine Persönlichkeit es sich bei dem Beschuldigten handelt, unter welchem psychischen Druck er stand, welches Ruhebedürfnis er hatte, was er sich von dem Geständnis versprach, inwieweit angegebene Einzelheiten einer Nachprüfung nicht standhalten. Zeichen einer psychisch schwankenden Einstellung kann es sein, wenn Geständnis und Widerruf sich in kurzer Zeit mehrfach wiederholen. Das Geständnis befreit nicht von der Verpflichtung, es durch sonstige Beweisumstände (sachliche Spuren, Personalbeweis) abzusichern. Ob sich eine Verurteilung auf ein dreimaliges Geständnis mit dreimaligem kurz hinterher erfolgenden Widerruf ohne Vorhandensein sonstiger Beweismittel, wie es in einem bekannten Doppelmordfall geschehen ist, rechtsstaatlich hinreichend abgesichert ist, erscheint durchaus fragwürdig, namentlich dann, wenn nachprüfbare Einzelheiten des Geständnisses unrichtig sind und der Beschuldigte in einer schwierigen psychischen Lage war. Die Gefahr, daß das Geständnis vom sicheren Port des Beurteilenden aus falsch gewertet wird, ist jedenfalls nicht gering anzuschlagen. b) Skepsis ist auch belastenden Aussagen von Mitbeschuldigten entgegenzubringen, sei es, daß sie mit dem Betroffenen zusammen in einem Beschuldigtenverhältnis stehen, sei es, daß sie in der Rolle des Zeugen auftreten, Racheakte, Selbstentlastung und Entlastung anderer können durchaus das Motiv für Falschbelastungen sein. Die Gründe, weswegen
Fehlurteil der eine Beschuldigte einen anderen mit in das Verfahren hereinreißt, können in verwickelten psychischen, vor allem emotionalen Vorgängen liegen. Auch bei Belastungen durch einen Mitbeschuldigten bedarf es der Auffindung von Spuren und sonstigen Beweisumständen und Beweismitteln. c) Bei aller Erkenntnis, daß der Zeugenbeweis ein unsicherer Beweis ist, spielt diese Beweisart auch heute noch eine maßgebliche Rolle. Dabei ergibt sich eine ganz grundsätzliche, im Grunde nicht überwindbare Schwierigkeit. Die Aussage ist eine Persönlichkeitsleistung, die hohe Anforderungen an die Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Wiedergabefähigkeit stellt und zugleich auch den Willen zur Wahrheit erfordert. Um eine Aussage eines Zeugen beurteilen zu können, bedürfte es der Kenntnis seiner Fähigkeiten und der Bereitschaft zur wahrheitsgemäßen Aussage. Diese Bereitschaft ist eine sittliche Entscheidung. Sie hängt von charakterlichen und ethischen Grundauffassungen und Grundhaltungen ab. Das kommt in den früheren Beweisregeln von den klassischen Zeugen richtig zum Ausdruck. Heute wird diesem Umstand bedauerlicherweise kaum Bedeutung beigemessen. Hält' man diesen Ausgangspunkt für richtig, so folgt daraus, daß die Gewähr der Wahrheit der Aussage in der allgemeinen Glaubwürdigkeit liegt. Die spezielle Glaubwürdigkeit einer Aussage kann jedenfalls dann nicht festgestellt werden, wenn sie sich nicht aus weiteren von der Aussage losgelösten bewiesenen Umständen ergibt. Die persönlichen Fähigkeiten und die charakterlichen und sittlichen Grundhaltungen und Einstellungen sind in aller Regel dem Richter nicht bekannt. SieTcönnen auch meist nicht erforscht werden. Das Strafverfahren kann nicht zu einem Zeugenerforschungsverfahren werden. Das bedeutet aber, daß die Gerichte es beim Zeugenbeweis mit wesentlichen Unbekannten zu tun haben. Wie eine solche Gleichung aufgehen können soll, ist die beunruhigende Frage. Sicherlich mögen einzelne organische Fähigkeiten, wie Gehör, Seh- oder Geruchsfähigkeit, Gedächtnis, verhältnismäßig einfach überprüfbar sein (auch solche Überprüfungen werden oft genug unterlassen!), auch gewisse Eigenschaften, wie die Lust zum Drauflosreden, die mangelnde Selbstkontrolle im Laufe des Verfahrens und auch der Hauptverhandlung mögen erkennbar sein. Die eigentliche Persönlichkeit mit ihren verfahrenserheblichen Eigenschaften bleibt dem Gericht weithin verschlossen. Es ist eine Selbstberuhigung und Täuschung, wenn behauptet wird, daß es darauf nicht ankäme. Der Glaube, der Richter könne sich auf den Eindruck, den die Aussageperson auf ihn macht, verlassen, täuscht häufig. Der Eindruck ist ein durchaus subjektiver Vorgang. Dieselbe Person macht auf verschiedene Beurteiler nicht selten einen verschieden beurteilten Eindruck. Täuschenden gelingt es nicht selten, beim Gegenüber den Glauben der Zuverlässigkeit zu erwecken. Gerade dadurch schaffen sie es, einen Betrug oder eine falsche Aus-
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sage erfolgreich in die Tat umzusetzen. Kommt es später in einem Strafverfahren gegen die Aussageperson zu Persönlichkeitsermittlungen, so ergibt sich anhand der festgestellten Tatsachen, daß das Gericht seinen Eindruck dem wirklichen Persönlichkeitsbild zuwider gewonnen hat. Den Schwierigkeiten läßt sich auch nicht dadurch ausweichen, daß man erklärt, es komme auf die allgemeine Glaubwürdigkeit nicht an. Sicherlich kann auch der charakterlich oder geistig herabgesetzte Zeuge die Wahrheit sagen. Aber dieser Einwand zieht nicht; denn es geht nicht darum, ob er die Wahrheit sagen kann, sondern ob mit der rechtsstaatlich gebotenen Gewißheit die Richtigkeit der Aussage festgestellt werden kann. Das ist eben nicht der Fall, sofern die Aussage nicht hinreichend durch andere Beweise gestützt wird. Selbstverständlich muß die Aussage auch als solche geprüft werden. Es muß ihre Entstehung, ihre Entwicklung, der mögliche Realitätsgehalt und ihre Widersprüchlichkeit beurteilt werden. Aber das ist erst der zweite Schritt. Auch eine unauffällige Aussage kann, so einwandfrei sie in ihrem Verlauf und in ihrem Vorgetragenwerden zu sein scheint, falsch sein. Schwierigkeiten bereitet in der Praxis auch die widerspruchsvolle, lückenhafte und in gewissen Punkten nachweisbar falsche Aussage. Sicherlich kann auch eine solche Aussage im Kern richtig sein. Nur ist die Frage, ob die Gerichte und manche Sachverständige sich nicht allzu leicht mit dem Satz zufriedengeben, daß es auf das Randgeschehen nicht ankäme, sondern nur auf das Kerngeschehen. Auch hier geht es rechtlich zunächst einmal um die rechtsstaatlich abgesicherte Gewißheit der Richtigkeit der Kernaussage. Sie ist nur dann gewährleistet, wenn vorweg eindeutig feststeht, was zum Randgeschehen und was zum Kerngeschehen gehört. Auch hier finden unzulässige Verschiebungen statt. Sodann ist zu prüfen, wieso es zu den unrichtigen Angaben im Rahmengeschehen gekommen ist. Handelt es sich um allgemein und aus der Person des Aussagenden um „harmlos" zu deutende Irrtümer? Die Bedeutung des Randgeschehens zeigt sich in Verfahren wegen Meineids und falscher Aussage. An unrichtige Aussagen kommen die Strafverfolgungsorgane in aller Regel vom unrichtig dargestellten Randgeschehen heran. Die vielfach vorgenommene Trennung von Randgeschehen und Kerngeschehen übersieht, daß die Aussage eine Einheit darstellt. Zudem ist es leichter, das Kerngeschehen zu verfälschen und an dieser Verfälschung konsequent festzuhalten, weil es sich dabei nur um einen verhältnismäßig eng begrenzten Sachverhalt handelt, der zudem einfach zu erfinden und zu behalten ist. Den Rahmen für den Kern zu geben und die Rahmenbehauptungen mit ihrer Vielzahl von Einzelheiten unverändert beizubehalten, ist eine durchaus nicht einfache Leistung. Die unter Umständen weniger durchdachten Rahmeneinzelheiten, nach denen die Aussageperson
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Fehlurteil
möglicherweise erst in der Hauptverhandlung gefragt wird, lassen sich überdies leichter kontrollieren als das Kerngeschehen. Es muß vor allem Widerspruch erregen, wenn falsche Angaben im Rahmengeschehen bei der Beurteilung heruntergespielt und sie, obwohl eine bewußte Verfälschung vorliegt, nur als irrige Angaben bezeichnet werden. Liegt der Verdacht vor, daß es sich bei Angaben zum Rahmengeschehen um bewußt falsche Mitteilungen handelt, so kann der gesamten Aussage kein zum Schuldspruch ausreichender Wert zugemessen werden. Planmäßige Verfälschungen beim Zeugenbeweis werden häufig nach Zeugenabsprachen begangen. So kommt es zu Gruppenaussagen, sei es zugunsten, sei es zuungunsten eines Angeklagten. Gruppenaussagen können, namentlich bei Kindern und Jugendlichen, aus einer gegenseitigen Suggestion heraus erfolgen. Sie können aber vor allem bei Erwachsenen überlegt und bewußt falsch aufeinander abgestimmt werden. Solche Gruppenaussagen stellen eine Einheit dar. Erweist sich die Unrichtigkeit einer Einzelaussage, die in der gemeinsamen Richtung liegt, so wird dadurch die Zuverlässigkeit auch der anderen Aussagen in Frage gestellt. Bedauerlicherweise findet in der Praxis das Problem der Gruppenaussage ungenügende Beachtung. So kommt es zu Fehlurteilen, weil trotz Wegfalls eines oder mehrerer Gruppenzeugen die übrig bleibende Aussage isoliert betrachtet wird. Ebensosehr werden Fehlurteile durch Alleinaussagen unzuverlässiger, beteiligter oder interessierter Zeugen herbeigeführt. Es ist eigentlich erstaunlich, wie sehr jahrhundertalte Erfahrungen in den Wind geschlagen werden. Typische Fälle dieser Art sind Verurteilungen wegen Notzucht aufgrund der Aussage einer beteiligten Frau, die sich bewußt in die Tatsituation begeben und keinerlei erkennbaren Widerstand geleistet hat, überdies in sexueller Hinsicht nicht unbeschrieben ist. Diese Situation war die Grundlage einer Anzahl der in Tübingen durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren. Eine andere Art von Fällen stellen Vermögensdelikte betreffende Verfahren dar, in denen die Aussage des angeblich Geschädigten durch keinerlei objektive Beweise (Verträge, Quittungen) gestützt werden. In solchen Fällen führt der angeblich Geschädigte nicht erst einen Zivilprozeß durch, da er in diesem beweisfällig bleiben würde, vielmehr erstattet er eine Strafanzeige mit der Folge, daß er im Strafverfahren in der Zeugenrolle auftritt. Ihm gelingt es im Strafprozeß, eine Verurteilung herbeizuführen, auf die er sich dann im anschließenden Zivilprozeß zu stützen versucht. Auch derartige Fälle kommen vor. Es muß angenommen werden, daß vor den Strafgerichten sehr viel mehr bewußt falsche Aussagen gemacht werden, als allgemein angenommen wird. Zahlreiche Wiederaufnahmeverfahren lassen erkennen, daß das auch zuungunsten eines Angeklagten geschieht. Sicherlich kommt es in einem Straf-
verfahren nicht darauf an, daß die bewußte falsche Aussage urteilsmäßig festgestellt wird. Für das Verfahren genügt es, daß die zweifelhafte Aussage für eine Verurteilung nicht verwertet wird. Wie die Aussagepersönlichkeit meist im Dunkeln hegt, gelingt es den Gerichten oftmals nicht, die der oder den Aussagen zugrundeliegenden Umstände (Verbindung der Zeugen zueinander, Motive für die Aussagegestaltung, suggestive Einflüsse) zu erkennen. So bleibt nicht nur die objektive Unrichtigkeit der Aussage unentdeckt, sondern auch die subjektive Einstellung der Aussageperson (Vorsatz, fahrlässiger Irrtum, entschuldbarer Irrtum) ungeklärt. Der Versuch, die Richtigkeit von Aussagen unzuverlässiger, tatbeteiligter oder interessierter Zeugen durch einen psychologischen Sachverständigen positiv klären zu lassen, hat nur begrenzt Aussicht auf Erfolg. Auch insoweit ist vor einer Überschätzung der Gutachtermöglichkeiten zu warnen. Der psychologische oder psychiatrische Sachverständige kann nicht mehr aussagen, als daß von seinem Fachgebiet aus sich keine Anhaltspunkte für die Unglaubwürdigkeit der Aussageperson oder die Unglaubhaftigkeit der Aussage ergeben. Eine positive Aussage, daß der Zeuge glaubwürdig oder die Aussage glaubhaft sei, kann dagegen der Sachverständige nur abgeben, wenn der Realitätsgehalt einer Aussage eindeutig festgestellt werden kann. Das ist aber ein seltener Fall. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit der Aussage hat nicht der Sachverständige, sondern das Gericht unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses der Hauptverhandlung zu beurteilen. Es entspricht den Anforderungen des Rechtsstaats, daß dabei die Erfahrungen und Erkenntnisse der Kriminalistik, der Strafrechtsgeschichte und der aus ihr gewonnenen Beweishinweise zum mindesten als Vorsichtsregeln beachtet werden. Aussagen können nur dann zum Nachteil eines Angeklagten verwertet werden, wenn sie kritisch beurteilt werden, wenn die sich jeweils ergebenden Gefahrenmomente gesehen und abgeschätzt werden. Voreingenommenheiten aufgrund der Aktenlage sind ebenso gefährlich wie Vorurteile allgemeiner Art. Ein Beispiel eines allgemeinen Vorurteils ist die Annahme, daß das Kind ein klassischer Zeuge sei (Schnetz 1960). Ob jemand ein klassischer Zeuge ist, ergibt sich nicht aus seiner Persönlichkeit. Die Eigenschaft des „klassischen Zeugen" muß im Einzelfall festgestellt werden. Ist die Aussage eine Persönlichkeitsleistung, so wird sie bestimmt durch die jeweiligen persönlichen Umstände des Zeugen. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Notwendigkeit, Berechtigung und Ergiebigkeit, bestimmte biologische, charakterologische und soziologische Aussagegruppen herauszuarbeiten. Die Aussageproblematik mit ihren Gefahrenquellen liegt bei den einzelnen Gruppen verschieden. Diese in der älteren Literatur vorgenommenen Einteilun-
Fehlurteil gen haben auch heute noch ihr Gewicht. In biologischer Hinsicht spielen die Altersgruppen (Kinder und Jugendliche, Erwachsene, alte Menschen) und die Geschlechtsgruppen (Männer, Frauen) eine Rolle. In diesem Zusammenhang ist auch das Problem der abnormen Zeugen, insbesondere Schwachsinniger und Debiler zu beachten, die gerade in schwer erkennbaren Fällen Aussagegefahren mit sich bringen können. Wiederum vor besondere Fragen stellen Neurotiker, Psychopathen und Geisteskranke. Auch hier sind die seelischen Vorgänge oftmals nicht deutlich. Bei der Einteilung der Zeugen nach charakterlichen Typen geht es vor allem darum, den Grad des Verantwortungsbewußtseins, der sittlichen Grundhaltung (Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Bereitschaft, eigene Fehler und Mängel einzugestehen) zu erkennen. Selbstverständlich gibt auch der „einwandfreie Zeuge" keine absolute Sicherheit für die Richtigkeit der konkreten Aussage, immerhin bringt er jedoch Voraussetzungen mit sich, die für eine zuverlässige Aussage Grundbedingung sind. Unter den charakterlichen Typen werden aufgezählt: die befangene, die ängstliche, die suggestible, die geltungsbedürftige, die machtsüchtige, die phantasievolle, die eigensinnige, die selbstunkritische und die gleichgültige Aussageperson. Bei solchen Kennzeichnungen darf nicht übersehen werden, daß sie in der Gesamtperson ruhen. Äußeres Kennzeichen während der Verhandlung kann die Art und Weise des Redens (Drauflosreden, Redefluß, Weitschweifigkeit) und das Verhalten (Gestikulieren) sein. Freilich muß bei Ausdruckserscheinungen immer wieder bedacht werden, daß sie mehrdeutig sind und daß die Deutung von der Persönlichkeit des Aussageempfängers abhängt. Die soziologischen Typen werden bestimmt durch die Berufszugehörigkeit (Jurist, Polizeibeamter, Arzt, Lehrer, Geistliche, usw.) sowie durch die Beziehungsverhältnisse (Angehörige, Freund - Feind, Nachbarschaft, Berufsgemeinschaft). Aussageprobleme verschiedener Art bringen auch die Prozeßstellung (Beschuldigter, Zeuge: Belastungszeuge, Entlastungszeuge, Leumundszeuge, anonymer Zeuge), die Prozeßart (Zivilprozeß und Strafprozeß) sowie der Prozeßgegenstand (Mord-, Brandstiftungs-, Raub- und Sittlichkeits-, Vermögens-, Beleidigungs-, Straßenverkehrs-Bagatellsachen) mit sich. Die Aufteilung nach dem Prozeßgegenstand beruht auf bestimmten Aussageaufgaben, wie etwa genaue Vorgangsbeobachtung, Schätzungen, Wiedererkennen, mit den jeweiligen Aussagethemen. Wer Zeugenaussagen bewerten will, sieht sich vor eine weitausgreifende Aufgabe gestellt. Die einzelnen Einteilungsgesichtspunkte kombinieren sich im Einzelfall. Die Beurteilung der Aufgabe erfordert von dem Aussageempfänger umfassende fachliche Kenntnisse und persönliche Erfahrungen. Die mit dem Zeugenbeweis verbundene Unsicherheit erfordert ein stetes Bemühen der Strafverfolgungsorgane, ihn durch Indizien vom Sachbeweis her zu ergänzen.
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d) Der Sachverständigenbeweis ist infolge fehlerhafter Begutachtung in einigen spektakulären Strafprozessen der sechziger Jahre neuerdings im wissenschaftlichen und im publizistischen Bereich in erhöhtem Umfang erörtert worden. Auch die Tübinger Untersuchungen zu den Fehlerquellen zeigen zahlreiche Fälle unrichtiger und fragwürdiger Gutachten von Sachverständigen auf. Sie liegen auf allen Gebieten der Gutachtertätigkeit. Gerichtsmediziner, Psychiater, Gynäkologen, Psychologen, Graphologen, Kriminologen, Naturwissenschaftler und Techniker sind beteiligt. Jede Art von Gutachten unterliegt der Gefahr der Fehlerhaftigkeit. Zahlenmäßig stehen die Fälle der Begutachtung der Schuldfähigkeit an der Spitze. Zu beachten sind auch die Glaubwürdigkeitsbegutachtungen, auch soweit sie Kinder und Jugendliche betreffen. Die Expertisen zur Persönlichkeit und zu persönlichem Verhalten unterliegen in besonderem Maß der subjektiven Bewertung des Gutachters. Es ist jedoch zu betonen, daß jedes Gutachten, auch das technische und rein naturwissenschaftliche, durch das persönliche Urteil des Gutachters bestimmt wird. Zu den auffallendsten, weil am wenigsten zu erwartenden Fehlgutachten gehören die Expertisen im Fall Nr. 693 Bd. I der Tübinger Untersuchungen, in dem es um die Feststellung der Identität von Draht ging. Die Gutachten angesehener Institute gingen im Grund- und Wiederaufnahmeverfahren völlig auseinander. Die Ergebnisse lauteten: mit Sicherheit identisch - Identität zweifelhaft - mit Sicherheit nicht identisch. Die zuletzt befragte Herstellerfirma bestätigte die Nichtindentität. Jede Deliktsart (Mord, Brandstiftung, Raub, Sittlichkeitsdelikte, Beleidigung, Vermögensdelikte bis hin zur Bagatellkriminalität) ist bei der Fehlgutachtung vertreten. Die Ursachen sind vielfältig. Vom Gutachter am wenigsten zu vertreten ist der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis. Das ist z.B. der Fall, wenn eine organische Krankheit von den Gutachtern verneint wird und erst später infolge der wissenschaftlichen Weiterentwicklung ein bis dahin unbekanntes Krankheitsbild aufgedeckt wird. Jedes Gutachten steht unter Zeitgebundenheit des Erkenntnis- und Erfahrungsstandes. Für den Betroffenen bedeutet das freilich einen schwachen Trost. Wandeln kann sich auch die Zuverlässigkeit der Untersuchungsmethoden. Im Laufe der Fortentwicklung können Sachverhalte überhaupt erst oder doch mit größerer Bestimmtheit erkennbar werden. So haben sich die Erkenntnisse für die kriminalistisch erhebliche Frage der Todesstarre, etwa die Zeit ihrer Auflösung, weiterentwickelt. Bedeutende Entwicklungen i hat die wissenschaftliche Kriminalistik durchgemacht. Voraussetzung eines zutreffenden Gutachtens ist die Fähigkeit des Gutachters. Sie hängt von seiner Persönlichkeit, seiner fachlichen Ausbildung, der angewandten Methode, des Überblicks über GeI genmeinungen und nicht zuletzt von der Arbeits-
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Fehlurteil
weise und der Abgewogenheit der Schlußfolgerungen ab. Die wissenschaftliche Entwicklung erfordert in immer höheren Maß ein Spezialwissen. Daraus ergeben sich die Bedenken gegen Sachverständige, von denen ein weitausgebreitetes und sich weit verzweigendes Wissen verlangt wird, wie es zuweilen beim Amtsarzt der Fall ist. Einer der Hauptfehlerquellen der Begutachtung liegt darin, daß der Gutachter und der Gutachterempfänger (Richter) sich nicht der Grenzen des sicher Aussagbaren bewußt sind. Der Gutachter sagt mehr aus, als er von seinem Fach her vertreten kann. Der Aussageempfänger legt mehr in das Gutachten hinein, als es der Wirklichkeit entspricht. Grundsätzliche Auseinandersetzungen ergeben sich in dieser Hinsicht vor allem auf den Gebieten der Schuldfähigkeit, der Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit, der Schriftvergleichung. Darüber, was die Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbegutachtung überhaupt aussagen kann, was ihr Prüfungsgegenstand ist, welche Grundregeln zu gelten haben und wer der berufene Sachverständige ist (Psychologe, Psychiater, Pädagoge oder mehrere Berufszugehörige?), gehen die Ansichten auseinander. Umstritten ist, ob es wesentlich mehr auf die Begutachtung der Persönlichkeit mitankommt oder ob die Aussage isoliert von ihr beurteilt werden kann. So gut wie gar nicht behandelt wird das Problem der Paralleluntersuchung hinsichtlich desjenigen, dessen Aussage der der untersuchten Person entgegensteht. Bei der Glaubwürdigkeitsprüfung geht es um zwei Personen und zwei Aussagen. Untersucht wird aber in aller Regel nur eine Person und deren Aussage (der Zeuge, meist ein kindlicher oder jugendlicher Zeuge), nicht aber der Belastete, der ohnehin als jemand gilt, der nur leugnet und Schutzbehauptungen aufstellt. Unbestreitbar gibt es Fälle, in denen von vornherein nicht gesagt werden kann, daß für den objektiven Betrachter der Beschuldigte weniger glaubwürdig und seine Aussage weniger glaubhaft ist. Eine solche Kontrolluntersuchung ist dort erforderlich, wo Aussage gegen Aussage steht und die belastende Aussage keine selbständige weitere Unterstützung in der Beweisaufnahme findet. Der Streit, welche Berufsgruppe für die Abgabe eines Glaubwürdigkeitsgutachtens in erster Linie berufen ist, hängt davon ab, ob es sich um einen Fall normaler Aussagenabweichungen handelt oder ob die Aussage mit medizinischen Störungen zusammenhängt. Freilich ist das häufig - jedenfalls von vornherein - nicht erkennbar. Der Gutachter bedarf eines hinreichenden Untersuchungsmaterials. Auch hier ergeben sich keineswegs einfache Fragen. Was der Richter dem Gutachter an Material vorlegen soll, kann durchaus zweifelhaft sein. So ist es umstritten, ob der Gutachter nur bestimmte Fragen unter Übermittlung bestimmter Untersuchungsergebnisse oder in Betracht zu ziehender Umstände oder ob der Richter dem Gutachter die gesamten Akten vorlegen soll. Geschieht das,
so besteht die Gefahr der Beeinträchtigung der Unvoreingenommenheit; geschieht es nicht, so entsteht die Gefahr, daß dem Gutachter notwendige Beurteilungsgrundlagen entzogen werden. Der Richter wird vielfach nicht beurteilen können, wessen der Gutachter bedarf. Die Frage der Akteneinsicht und Aktenkenntnis läßt sich nur vom Einzelfall her lösen. Nur muß das Problem gesehen werden. Das vom Gericht dem Gutachter vorgelegte Material reicht häufig nicht zur Begutachtung aus. Daraus ergibt sich das Problem der Nachbeschaffung von Beurteilungsgrundlagen. Die von dem Gutachter selbständig erforschten Tatsachen müssen in einer prozeßgemäßen Weise in das Verfahren eingeführt werden. Auf die schwierigen hier sich ergebenden Rechtsfragen, wie die Beachtung von Beweisverboten und Aussageverweigerungsrechten, kann nicht näher eingegangen werden. Je nach der Art der neuen Tatsachen (Anknüpfungstatsachen, Befundtatsachen) ergibt sich die Notwendigkeit einer Vernehmung des Sachverständigen auch als Zeugen. Grundvoraussetzung jeder Gutachtertätigkeit sind Objektivität und Unvoreingenommenheit. Spontaneität kann zwar Grundlage einer Untersuchungsausrichtung sein, reicht aber zu der Abgabe eines einwandfreien Gutachtens nicht aus. Objektivität setzt die Bereitschaft voraus, die eigene Aufgabe zu erkennen. Der Sachverständige ist Beweismittel. Diese Grundtatsache wird durch die Betonung des Gedankens des Richtergehilfen verdunkelt. Der Sachverständige ist ebensowenig und ebensosehr Richtergehilfe, wie es der Zeuge ist. Er hat nicht die Aufgabe eines Strafverfolgungsorgans. Soweit Strafverfolgungsorgane, insbesondere die Polizei, bei ihren Ermittlungen der Behörde zugehörige Sachverständige einsetzen, sind diese Teile der Strafverfolgung, denen die Überführungsaufgabe obliegt. Der gerichtliche Gutachter hat nur die Aufgabe, sein Fachwissen aufgrund des ihm vorgelegten Materials dem Gericht zu vermitteln. Die Vermittlung des Fachwissens muß vollständig und in verständlicher Form erfolgen. Dazu gehört es, das Gericht und die Verteidigung über die Grenzen des Aussagbaren, über Gegenauffassungen, über die angewandte Methode und ihre Sicherheit, zuweilen auch über das einschlägige Schrifttum zu unterrichten. Den Beteiligten muß eine Nachprüfung ermöglicht werden. Daraus ergibt sich, daß in aller Regel rechtzeitig ein schriftliches Gutachten vorgelegt werden muß. Der Richter kann das Gutachten nicht unbesehen und ungeprüft übernehmen. Der Berufsrichter muß sich daher mit der Materie befassen. Bleiben ihm Zweifel, so kann er mangels fehlender Gewißheit den Angeklagten nicht verurteilen. Auch der Verteidiger kann angemessene Fragen oder Beweisanträge nur stellen oder sachbezogene Zeugen und weitere Sachverständige nur präsentieren, wenn er sich mit Methoden und Inhalt des Gutachtens auseinandergesetzt hat.
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Fehlurteil Um die sich aus fehlerhaften Gutachten ergebenden Fragen herauszustellen, wäre es geboten, anhand der durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren sowie anhand von Akten mit widersprechenden Urteilen zu prüfen, wieso es zu den unrichtigen Gutachten oder doch den umstrittenen Aussagen gekommen ist. Es wäre auch von Interesse festzustellen, inwieweit die Meinungsverschiedenheiten auf Schulstreitigkeiten beruhen. Auf dem angezeigten Weg könnten die Ursachen für Mängel der Gutachter weitgehend aufgedeckt werden. Derartige Untersuchungen lassen sich schwer in einem Sammelwerk durchführen. In einem solchen kann zwar dargelegt werden, daß sich Gutachten als fehlerhaft oder umstritten erwiesen haben, daß sich diese oder jene Mängel ergeben haben. Darüber hinaus ist aber eine wissenschaftliche Untersuchung der in Betracht kommenden Vorgänge von einem Fachvertreter erforderlich. So erscheint demnächst eine eingehende Untersuchung des Psychiaters Gerhard Rudolf Heinz über die in Wiederaufnahmeverfahren ergangenen psychiatrischen Gutachten. Ähnliche Untersuchungen für andere Fachgebiete wären erwünscht. Lebrecht hat die Sammlung und Beurteilung technischer Gutachten im Strafverfahren durch ein wissenschaftliches Institut vorgeschlagen. Solche Unternehmen sind nicht nur von Bedeutung, um Fehler und umstrittene gutachterliche Beurteilungen festzustellen, sondern auch um Hinweise für den Juristen zur richtigen Bewertung von Gutachten zu geben. Ein solcher Beitrag der Wissenschaft könnte auch für die Auswahl des richtigen Sachverständigen von Bedeutung sein. 2. Der Sachbeweis Dieser ist in seiner Bedeutung bereits hervorgehoben. Die Entwicklung der Kriminalstatistik läßt seine Auswirkung wachsen. Fehlt es an objektiven Beweisen, obwohl sie nach Lage der Sache zu erwarten wären, so sollte das für den Beurteilenden eine ernste Warnung sein. Aber auch der Sachbeweis hat seine Tücken. E r führt zu unrichtigen Ergebnissen, wenn die Spuren und sich bietende sachliche Indizien nur unvollständig ermitttelt oder bewertet werden. Die aufgefundenen objektiven Sachbeweise können falsch beurteilt werden. Es können aber auch Sachbeweisverfälschungen vorgenommen sein, die auf die unrichtige Spur führen. Hier ist an die künstliche Anfertigung falscher Beweise (Urkunden, Spuren) oder an die Vernichtung vorhandener Beweise, ζ. B. an die Verwischung vorhandener Spuren, zu denken. Auch hier gibt es in der Geschichte der Fehlurteile bedauerliche Beispiele. Infolgedessen bedarf auch der Sachbeweis eindeutiger Kontrolle. Herkunft und Ursprung der als Sachbeweis dienenden Umstände und Gegenstände müssen sorgfältig geprüft werden. Die Aussagekraft muß eindeutig feststehen. Das zur Beweisführung dienende Material muß vollständig sein. Ein scheinbar
überzeugender Einzelumstand kann sich als zur Überführung ungeeignet erweisen, wenn andere Umstände ermittelt werden. Ein Ubersehen des Vorhandenseins anderer Umstände kann sich verhängnisvoll auswirken. Der Sachbeweis wird in den umfangreicheren und wichtigeren Strafverfahren meist mit dem Personalbeweis kombiniert. So wird er häufig erst in seiner Bedeutung durch einen Sachverständigen dem Richter vermittelt. Damit kommt es neben der Einwandfreiheit und der Vollständigkeit des Materials auf die Zuverlässigkeit des Sachverständigen an. Für das Auffinden der Sachbeweisumstände und Sachbeweisgegenstände bedarf es oftmals des Zeugenbeweises. Widersprüche zwischen Sachbeweis und Zeugenbeweis werden zwar in aller Regel zugunsten des Sachbeweises zu entscheiden sein. Jedoch können sie in Einzelfällen durchaus Zweifel an den sich aus dem Sachverhalt ergebenden Indizien wachrufen. Der Bedeutung des Sachbeweises entspricht es, nach ihn tragenden Umständen und Geschehen zu forschen. Das wiederum setzt die Kenntnis der Strafverfolgungsorgane über die Möglichkeiten und Grenzen dieser Beweisart voraus.
B. Die Verfahrensfehler I.
Ermittlungsverfahren
Fehler des Ermittlungsverfahrens wirken sich in aller Regel bis zum rechtskräftigen Urteil aus. Einseitige Ermittlungen bestimmen die Richtung der Aufklärung. Sie führen zur Unterlassung hinreichender Gegenprüfungen. Sie erwecken unter Umständen den Eindruck eines abgesicherten Verfahrens und wirken dadurch auf den späteren Urteiler suggestiv. Das ist umso mehr der Fall, wenn die Ermittlungen ein überzeugendes Ergebnis zu haben scheinen. Es ist außerordentlich schwer, in der Hauptverhandlung Unterlassungen und Lücken im Beweisverfahren abzugleichen. Vielfach werden sie vom Richter, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger nicht einmal bemerkt. Werden sie erkannt, bedarf es in der Hauptverhandlung mühseliger nachträglich bestimmter Beweisaufnahmen. Der Verteidiger muß unter Umständen umfassende Beweis- und Beweisermittlungsanträge stellen oder er muß selbst Beweismittel präsentieren. Sieht das Gericht die vom Verteidiger angenommenen Mängel nicht, so sind unerfreuliche Auseinandersetzungen, Verärgerungen und nur formal ausgerichtete Ablehnungsbeschlüsse die Folge. Verteidiger und Angeklagter geraten so in den Verdacht der Störung und der Prozeßverschleppung. Stimmt das Gericht mit den Bedenken der Verteidigung überein, so kommt es zu einem sich lang hinziehenden Verfahren. Eine völlige Umstellung der Beweisaufnahme ist unter Umständen nicht möglich. Zweifel an der Richtigkeit
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Fehlurteil
des Ermittlungsverfahrens werden im weiteren Verfahren unter Umständen deswegen nicht wachgerufen, weil den späteren Beurteilern der Umfang der gesamten Ermittlungen verschlossen bleibt. Das geschieht dann, wenn die dem Gericht vorgelegten Akten nicht die gesamten Vorgänge umfassen. Das ist der Fall, wenn die gesondert geführten Spurenakten dem Gericht nicht mitgeteilt werden. Für das Gericht wichtige Erkenntnisumstände können auch zu den Handakten der Staatsanwaltschaft genommen worden sein. Nicht ausgeschöpfte Beweismöglichkeiten, insbesondere solche zur Entlastung (Alibinachforschungen) werden zudem durch den Zeitablauf unsicherer und unklarer. Der Zeitablauf kann sich dabei auch durchaus zuungunsten des Beschuldigten auswirken. Typische Ermittlungsfehler sind nicht überprüfte Geständnisse, falsche Vernehmungsmethoden und zu frühzeitiger Abschluß der Ermittlungen.
2. Staatsanwaltschaftliche
Kontrolle
Ungenügende staatsanwaltschaftliche Kontrolle während der Ermittlungen oder bei deren Abschluß führen ebenfalls zu mangelhaften Hauptverfahren. Eine zu frühe Anklage oder eine nicht hinreichend begründete Anklage kann trotz ihrer Mängel zu (ungerechtfertigten) Verurteilungen führen. Verhängnisvoll kann sich die weit verbreitete Ansicht auswirken, daß infolge des Genügens eines hinreichenden Verdachts die Staatsanwaltschaft sich der Verantwortlichkeit dadurch entziehen kann, daß das Gericht schon die richtige Lösung finden wird. Eine solche Auffassung übersieht die Möglichkeiten der Hauptverhandlung und unterschätzt die Auswirkungen einer Anklage.
3.
Hauptverhandlung
Auch die Hauptverhandlung eröffnet zahlreiche Fehlerquellen. So sind aufzuzählen: der ungenügende Umfang der Beweisaufnahme, unrichtige Vernehmungsmethoden, mangelnde kriminalistische Kenntnisse und Erfahrungen, Voreingenommenheiten, voreilige Schlüsse, Nichterkennen von Scheinbeweisen, Anwendung von Trugschlüssen, Verzicht auf eine hinreichende Grundlage der Uberzeugungsbildung (Gleichsetzen von Vermutungen und Meinungen mit der Überzeugung, Uberzeugungsbildung auf rein subjektiver Grundlage ohne Auseinandersetzung mit dem notwendigen objektiven Fundament, Nichtberücksichtigung der sich aus der Kriminalistik und der Rechtsgeschichte ergebenden Vorsichtsregeln). Die Ursachen fehlerhafter Urteile können sowohl in der ungenügenden Beweisaufnahme als auch in dem Beweiswürdigungsvorgang liegen.
4. Urteil Die in dem erstinstanzlichen Urteil liegenden Fehler können zwar im Rechtsmittelverfahren (Berufung, Revision) und im Rechtsbehelfsverfahren (Wiederaufnahme des Verfahrens) behoben werden. Jedoch ergibt sich aus den Wiederaufnahmeuntersuchungen und sonstigen Untersuchungen, daß das fehlerhafte Urteil sich weiterhin fortsetzt. Die Revision ermöglicht zwar namentlich durch die Aufklärungsrüge, die Rüge zu Unrecht abgelehnter Beweis- und Beweisermittlungsanträge und durch die Rüge der Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit der Urteilsgründe Sachverhaltsfehler erfolgreich geltend zu machen. Das Hauptproblem der rechtsstaatlich nicht genügenden Überzeugungsbildung bestimmt zunehmend die wissenschaftliche Erörterung. Sie war auch Gegenstand der Erörterungen auf dem 52. Deutschen Juristentag in Wiesbaden. Noch schwieriger als ein erfolgreiches Revisionsverfahren durchzuführen ist die Beseitigung von Fehlurteilen im Wiederaufnahmeverfahren. Die Wiederaufnahmegründe sind begrenzt. Die Wiederaufnahmeneigung des Gerichts ist nach wie vor äußerst gering. Die Meinung von Karlheinz Meyer in dem führenden Kommentar zur StPO (Löwe-Rosenberg 1978, Rn.63) „Von einer einseitigen .Abwehrhaltung' der Gerichte kann ernsthaft nicht mehr gesprochen werden", läßt sich schwer mit den Erfahrungen vereinbaren, die derjenige machen muß, der sich mit erst nach langen Bemühungen durchgesetzten oder gescheiterten durchaus ernsthaften Wiederaufnahmeanträgen, häufig schon im Zulassungsverfahren abgelehnt, beschäftigt.
III. D I E V E R M E I D U N G V O N F E H L U R T E I L E N Niemand wird die Behauptung aufstellen können, daß Fehlurteile völlig vermeidbar sind. Dennoch läßt sich die Tatsache nicht bestreiten, daß die ergangenen Fehlurteile in beträchtlichem Umfang vermeidbar gewesen wären. Zunächst ist erforderlich, daß die mit der Strafverfolgung befaßten Organe, vor allem die Strafrichter, sich der zahlreichen Fehlerquellen bewußt sind. Der Satz „Irren ist menschlich" entlastet, namentlich den Richter, nicht von der Verantwortlichkeit für ungenügende Beweisaufnahme und voreilige Beweiswürdigung. Es geht zunächst einmal um die persönliche Haltung gegenüber eigenem Verhalten und eigener Einstellung. Voraussetzung für eine kriminalistisch und rechtsstaatlich gesicherte Urteilsfindung sind eine hinreichende Ausbildung in der Beweislehre und in der Lehre der Entscheidungsvorgänge. Beides liegt im argen. Es fehlt bei den Strafjuristen an einer hinreichenden Ausbildung in der objektiven Untersuchungskunde (Kriminalistik und Rechtsmedizin), in der Aussagepsychologie und in der Lehre von der gesunden, anormalen und kranken Persönlichkeit.
Fehlurteil Sicherlich soll der Jurist den Kriminalisten, den Psychiater, Psychologen und Soziologen nicht ersetzen. Er muß aber über die den Strafprozeß betreffenden Grundfragen Bescheid wissen, um einen Sachverhalt richtig und mit der gebotenen Vorsicht beurteilen zu können. Auf die geschichtliche Bedeutung der Beweislehre ist schon hingewiesen worden. Sowohl der Universitätsunterricht als auch die Referendarausbildung entsprechen den an den Juristen im Strafprozeß zu stellenden Erfordernissen nicht im geringsten. Anzuerkennen ist sicherlich, daß die Justizverwaltungen in Kursen für Richter und Staatsanwälte bemüht sind, die Problematik des Beweises und der Überzeugungsbildung zu bringen. Jedoch müssen die Grundlagen vorher an den Juristen herangeführt werden. Wesentliches läßt sich später nicht mehr nachholen. Vor dem Nachholen liegt bereits eine auf ungenügender Vorbereitung durchgeführte Praxis. Notwendig ist es auch, daß den Strafjuristen die wesentliche kriminalistische Literatur (Hauptwerke, Zeitschriften, wie das Archiv für Kriminologie und Kriminalistik) in den Gerichtsbüchereien zugänglich sind. In rechtlicher Beziehung reichen die geltenden Bestimmungen zur Durchführung der gebotenen Ermittlungen und Untersuchungen aus. Sie müssen nur richtig angewandt werden. Tendenzen, die zur vermeintlichen Beschleunigung des Strafverfahrens sichtbar werden und darauf abzielen, das Beweisrecht zu verändern, ist zu widersprechen. Die Überzeugungsbildung sollte auch in der rechtlichen Formulierung den Zusammenhang von objektiven Grundlagen und subjektiver Bewertung in der gesetzlichen Formulierung des § 261 StPO ihren Niederschlag finden. Vorgeschlagen wird eine Vorschrift folgenden Wortlauts: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner aufgrund kriminalistischer Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Inbegriff der Verhandlung gewonnenen Uberzeugung." Die nähere Begründung dafür ergibt sich aus dem Gutachten zur Rechtsmittelreform (Peters 1978) für den 52. Deutschen Juristentag (Wiesbaden). Diese Vorschrift würde sich auch auf das Revisionsrecht auswirken. Zur Beseitigung von Fehlurteilen dient das Wiederaufnahmerecht, dessen Reform nach wie vor in der Diskussion steht, dessen Anwendung freilich wesentlich von der Gerichtspraxis abhängt. M o n o g r a p h i e n und S a m m e l w e r k e M. A l s b e r g : Justizirrtum und Wiederaufnahme. Berlin 1913. F. A r n t z e n : Psychologie der Zeugenaussage. Einführung in die forensische Aussagepsychologie. Göttingen 1970. Α. Β a h rs : Die Vulgärlüge zu der gerichtlichen Praxis. Berlin 1977. G. B a u e r : Moderne Verbrechensbekämpfung. Band 1-3. Lübeck 1970/1977. L. B e n d ix : Zur Psychologie der Urteilsfindung des Berufsrichteis. Berlin 1968. G . B o h n e : Zur Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung. Köln 1948.
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Fehlurteil
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Kommentare
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Kriminalprognose
KRIMINALPROGNOSE I. EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK Kriminalprognose bedeutet Wahrscheinlichkeitsvorhersage von zukünftigen kriminellen Abläufen aufgrund gegenwärtigen oder vergangenen Verhaltens oder von Wirkungen strafrechtlicher Gesetzgebungsarbeiten oder von Maßnahmen der Organe der Strafrechtspflege auf die Bevölkerung. Unter kriminellen Abläufen versteht man individuelles Verhalten, das der Täter begeht oder unterläßt oder von dem das Verbrechensopfer betroffen wird, oder kollektives Verhalten, das sich auf eine Region oder auf die Gesellschaft in einem Land bezieht (zur kollektiven Kriminalprognose: J. Jepsen, L. Pal 1969; P. Törnudd 1969; G. Picca, P. Robert 1970; Council of Europe 1974). Unter Kriminalprognose faßt man schließlich die Vorhersage von Erfolg oder Mißerfolg der formellen Sozialkontrolle der Kriminalität, der Polizei, der Gerichte, des Strafvollzugs (Ruth J. Levy 1967). Kriminalprognosen werden in dei Praxis gestellt, damit sie sich nicht erfüllen, sondern damit ihre Voraussagen verhütet werden und damit ihnen vorgebeugt wird. Die Kriminalprognose ist erfolgreich, wenn sie sich selbst durchkreuzt. Die Abbildung 1 veranschaulicht verschiedene Arten der Kriminalprognose. Die Fragestellung der viktimologischen Prognose lautet: Welche Personengruppe mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen neigt unter welchen Bedingungen (Einflüssen des sozialen Nahraums) dazu, ζ. B. Opfer von Verkehrsunfällen, von Tötungsdelikten (Lebensmüde), von Sexualdelikten (sexuell gefährdete Mädchen), von Betrügereien (gutgläubige Hausfrauen, alleinstehende Frauen), von Diebstählen (unvorsichtige Autobesitzer) zu werden? Es geht der viktimologischen Prognose darum, potentielle Opfer möglichst frühzeitig zu erkennen (Α. V. Huffman 1964). Dieser kriminologische Prognoseansatz, der insbesondere für Versicherungsgesellschaften (Versicherung gegen Verbrechen!) bedeutsam sein kann, ist bisher kriminologisch unterentwickelt (—> Viktimologie). Eine ganz andere Art der Kriminalprognose ist die kriminologische Kollektivprognose, die eine Personengesamtheit (Masse, Gruppe) kriminalprognostisch zu erfassen sucht. Bei neuen strafrechtlichen Gesetzgebungsmaßnahmen muß der Gesetzgeber die Wirkungen auf die Bevölkerung abzuschätzen suchen (z.B. durch repräsentative Meinungsbefragungen). Das ist ein Grundgebot vernünftiger —> Kriminalpolitik. Auch die verschiedenen Organe der Strafrechtspflege können im demokratischen Rechtsstaat keine praktischen Entscheidungen fällen, ohne auch die Eindrücke und die Nachwirkungen auf die öffentliche Meinung zu bedenken. Das will nicht heißen, daß sie stets der öffentlichen Meinung folgen und keine sogenannten „unbequemen" Entscheidungen treffen sollen. Zur Kollektivpro-
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gnose gehört die kriminologische Forschungsprognose, die von der Kriminalprognoseforschung zur Entwicklung von Prognoseverfahren zu unterscheiden ist, die auf den Einzelfall angewandt werden sollen. Zweck der kriminologischen Forschungsprognose kann z.B. die Vorhersage des wahrscheinlichen Ausmaßes der Kriminalität in einem bestimmten Landes- oder Stadtbezirk (L. T. Wilkins 1964 a, S.212, D. S. Cartwright 1973) oder die Ermittlung der Wirksamkeit verschiedener kriminologischer Behandlungsmethoden durch Einsatz von Prognoseinstrumenten (N. Walker 1965, S. 113) sein. Die Kriminalprognose im Einzelfall beansprucht nicht, eine Prognose mit Bestimmtheit zu treffen, sondern die Prognosen werden immer mit einem mehr oder weniger hohen Wahrscheinlichkeitsgrad ausgesprochen. Um Mißverständnissen entgegenzutreten, hat man eine Klärung der Terminologie insoweit versucht, als man die statistischen Instrumente der Kriminalprognose nicht Prognose- oder Voraussagetafeln, sondern Erfahrungs-, Erwartungs- und Wahrscheinlichkeitsskalen genannt hat. Diese Terminologie hat sich jedoch bislang nicht durchgesetzt. Deshalb wird von Voraussagetafeln mit der Einschränkung gesprochen, daß sie nur Wahrscheinlichkeitsaussagen anstreben. Von der individuellen Kriminalprognose wird bisweilen die Kriminaldiagnose unterschieden, dii kriminelle Persönlichkeitszüge in der Gegenwart festzustellen sucht. Dem nichtkriminellen „normalen" Menschen stellt sie den kriminellen gegenüber. Sie versucht, Testteile, -profile oder -batterien zu benutzen, um zwischen Delinquenten und Nichtdelinquenten differenzieren zu können. Die Ergebnisse dieser Forschung sind bisher nicht ermutigend gewesen (vgl. z.B. R. M. Jurjevich 1963; F. P. McKegney 1965; R. J. Rankin 1964; Albert W. Silver 1963; F. B. Stone 1963). Es scheint sich indessen - im Gegensatz zu früheren Forschungsergebnissen (K. F. Schuessler, D.R. Cressey 1950) herauszustellen, daß es eine kriminelle Persönlichkeit gibt (G. P. Waldo, S.Dinitz 1967). Kriminaldiagnose und -prognose lassen sich nicht streng voneinander trennen. Kriminaldiagnostische Erwägungen bilden nämlich einen großen Teil der Grundlagen für die individuelle Kriminalprognose. In jeder diagnostischen Feststellung liegt ein Element der Prognose (M. Groen 1963). Darüber hinaus erklärt jede kriminologische Theorie nicht nur Sachverhalte der Vergangenheit, sondern es gehört auch zu ihrem Wesen, daß sie kriminelle Phänomene im Einzelfall vorherzusagen beansprucht (—» Theorien des Verbrechens und der sozialen Abweichung). Kriminaldiagnose und -prognose wurzeln meist in kriminalätiologischen Längs- oder Querschnittsuntersuchungen .(Vergleich einer delinquenten Experimentalgruppe nach Zeitablauf mit sich selbst oder ohne Zeitablauf mit einer nichtdelinquenten Kontrollgruppe). Solche kriminalätiologischen Studien zum Zwecke der Konstruktion von Prognosetafeln gehen von der
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Kriminalprognose g
frS
Hypothese aus: Was als Ursache in der Vergangenheit gewirkt hat, wird auch in Zukunft als Ursache wirksam bleiben. Gleichwohl sind kriminalätiologische Forschungsarbeiten zur Konstruktion von Prognosetafeln nicht unbedingt erforderlich (M. R. van Gils 1964 a und b). Auch aus Testteilen, -profilen oder -batterien können Reizkonfigurationen zur Ermittlung krimineller Neigung und Gefährdung zusammengestellt werden. Prognosetafeln wollen nicht Kriminalität in ihrer Kausalität erklären und verstehbar machen (explanation theory), sondern sie wollen Entscheidungen und Handlungen erleichtem (decision theory) (L. Τ. Wilkins 1962 b und c).