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German Pages 527 [528] Year 1966
HANDWÖRTERBUCH DER KRIMINOLOGIE Begrü ndet von A L E X A N D E R E L S T E R und H E I N R I C H
LINGEMANN
in völlig neu bearbeiteter zweiter Auflage herausgegeben von
Professor Dr. iur. R U D O L F S I E V E R T S Landgeriditsdirelctor, Direktor des Seminars für Strafredit und Kriminalpolitilc und des Seminars für jugendredit und jugendliilfe der Universität Hamburg
Aberglaube — Kriminalbiologie
Berlin 1966 W A L T E R DE G R U Y T E R & C O . vormols G . ]. Gösdien'sche Verlagsh and lung · ]. Guttentog, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.
Archiv-Nr. 24 23 660/1 Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co.» Berlin 30 Alle Hechte, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten
VORWORT Die 1. Auflage des Handwörterbuchs der Kriminologie, besorgt von Alexander Elster und Heinrich Lingemann, begann im Jahre 1932 zu erscheinen und war 1937 abgeschlossen. Es war der erste Versuch einer lexikonartigen Sammlung des damaligen kriminologischen Wissens (auf rund 2150 Seiten) in der Welt überhaupt — eine Leistung, die im In- und Ausland damals entsprechend gewürdigt worden ist. Nach wenigen Jahren war die Auflage vergriffen. Aber die Wirrnisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegs jähre verhinderten zunächst eine neue Auflage. Die ersten Anfragen, ob und wann mit einer solchen zu rechnen sei, kamen nach dem Kriege zuerst aus dem Ausland, bald aber auch aus den Kreisen der deutschen gerichtlichen, polizeilichen und fürsorgerischen Kriminalpraxis. Ein Vierteljahrhundert ist heute in der Wissenschaft angesichts ihrer sich immer mehr beschleunigenden Entwicklung und ihrer sich immer weiter ausfächemden Entfaltung ein langer Zeitraum. Die Kriminologie ist die Anwendung der Erkenntnisse aller Wissenschaften, die vom Menschen handeln, speziell auf Personen, die Kriminalgesetze übertreten. Wieviel ist aber seit 1937 an methodischen Einsichten und an Forschungsergebnissen in all diesen Wissenschaften neu gewonnen worden — mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Sondergebiet der Kriminologie! Auch die Struktur der Kriminalität selbst ist in diesem Zeitraum von den gesellschaftlichen Veränderungen in unserer Welt nicht unberührt geblieben und zeigt neue, früher unbekannte Phänomene. So wird verständlich, daß die Prüfung, wieviel von den Beiträgen der 1. Auflage in die 2. übernommen werden könnte, ergeben hat, daß alle Artikel neu bearbeitet und verfaßt werden mußten; aber auch der Aufbau des Werkes mußte revidiert werden. Vielleicht kann man die Situation so kennzeichnen: Die erste Auflage war noch der Ausdruck, aber auch der Abschluß der „Pionierperiode" der Kriminologie, die gleich nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf breiterer Grundlage ihren Anfang nahm. Inzwischen ist dieses Wissenschaftsgebiet über diese Phase weit hinausgewachsen. Die 2. Auflage dieses Handbuches kann sich ζ. B. die methodische Naivität der Pionierzeit auf vielen Gebieten der Kriminologie nicht mehr leisten. Die Erfassung der Phänomene und der ihnen zugrunde liegenden Faktoren hat sich als viel komplizierter und reicher an Facetten herausgestellt als anfangs angenommen. Infolgedessen haben auch viele wissenschaftliche Begriffe entsprechend umgeformt oder als nicht mehr brauchbar ausgeschieden und durch neue ersetzt werden müssen. Diese neuen Einsichten haben bisher eine Abwendung von der großen Tradition jener Pioniere nicht notwendig gemacht, wie sie für Deutschland bahnbrechend in der Kriminologie und insbesondere in der Kriminalpolitik von Professor Dr. Franz v. Liszt und seiner Schule in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begründet worden ist. Diese neuen Einsichten entwickeln viel mehr diese wissenschaftliche und pragmatische Bewegung ganz im Sinne dieser Pioniere unseres Fachs weiter, die selbst vor doktrinärer Erstarrung ihres Programms gewarnt haben und sich davon freihielten. Auch der Herausgeber dieser 2. Auflage steht wie die Herausgeber der 1. Auflage sehr überzeugt und bewußt in dieser Tradition, die ihm von den v. Liszt-Schülern Moritz Liepmann, Ernst Delaquis, Eberhard Schmidt als Lehrer und Gustav Aschaffenburg, Alexander Graf zu Dohna, Franz Exner, Eduard Kohlrausch, Wolfgang Mittermaier, Gustav Radbruch und Ottokar Tesar in naher persönlicher Begegnung vermittelt worden ist. Entgegen zweifelnden Stimmen, die diese Tradition für den Ausdruck geistesgeschichtlich über-
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Vorwort
holter Ideologien erklären, hält er ihre Fruchtbarkeit f ü r noch nicht im geringsten erschöpft, sofern der überzeitlich gültige Kern dieser Tradition nur recht erfaßt und, immer zeitnah und empirisch kontrolliert, weitergedacht und betätigt wird. Die für diese Tradition bezeichnende umfassende, am Maß der Menschen und der jeweiligen sozialen Wirklichkeit orientierte sozialkonstruktive Betrachtungsweise der realen kriminologischen Phänomene in all ihren Aspekten (auch des ethischen und des rechtstaatlichen) ist unverändert ein theoretisch und pragmatisch gleich produktives Prinzip, das epochale Veränderungen laufend zu erfassen und kriminalpolitisch auszuwerten erlaubt. Das wird der Inhalt dieser 2. Auflage bezeugen, für manche Zweifler vielleicht in überraschendem Ausmaß. Der Dienst, den die 1. Auflage dieses Handwörterbuches der Praxis und der Wissenschaft leisten wollte, ist auch die Aufgabe der neuen Auflage. Durch eine um wissenschaftliche Zuverlässigkeit bemühte Darstellung unseres heutigen Wissensstandes auf dem Gebiete der Kriminologie möchte sie die Praxis der Rechtspflege einschließlich des Vollzuges von Strafen und vorbeugenden Maßregeln, der Polizei, der forensischen Begutachtung und der sozialen Arbeit an kriminell Gefährdeten, aber auch der Kriminalgesetzgebung und den Regierungen helfen, ihre Arbeit auf diesem Sektor im Rahmen des sittlich Vertretbaren und des Rechtsstaates so sachgerecht zu tun wie möglich. Zugleich soll aber die Zusammenfassung unseres Wissens die noch offenen Probleme sichtbar machen und dadurch die weitere Forschung anregen, aber auch die Praxis vor einer Scheinsicherheit in diesen Fragen bewahren. Viele Fragen sind in der Kriminologie noch ungeklärt und viele als bisher gesichert geltende Erkenntnisse sind gerade in den letzten Jahren wieder fraglich geworden. Ihre „klassische Phase" im Sinne eines ausgewogenen Systems gesicherter Erkenntnisse hat die Kriminologie noch lange nicht erreicht. Wie kann aber in dieser Situation eine zweite, völlig neu bearbeitete Auflage des Handwörterbuches schon wieder gewagt werden ? Die Antwort ist: Die Zahl der wissenschaftlichen kriminologischen Forschungen ist seit 1937 sowohl im Inland, aber noch sehr viel mehr im Ausland derart angestiegen und für den einzelnen Forscher kaum noch übersehbar, zumal sie sehr verstreut publiziert sind. Aber auch von der Praxis sind mit der Anwendung neuer kriminalrechtlicher Gesetze, mit neuen Institutionen, mit neuen ambulanten oder stationären, pädagogischen und therapeutischen Methoden der Behandlung von kriminell gewordenen und anfälligen Personen, mit neuen Wegen in der Verbrechensaufklärung usw. sehr viele neue Erfahrungen gesammelt worden. Eine Sichtung und Straffung dieses Erkenntnisgutes ist daher wieder einmal sehr notwendig, um seine Überblickbarkeit, vor allem auch der inneren Zusammenhänge dieser einzelnen Einsichten und Erfahrungen, wenigstens für etwa das nächste Jahrzehnt wiederherzustellen und dadurch dieses Material für die Wissenschaft und Praxis voll verwertbar zu machen. Da kann und muß in Kauf genommen werden, daß dieses Wissen in manchen Gebieten der Kriminologie immer noch sehr bruchstückhaft und kontrovers ist und daß sich dieser Zustand infolgedessen auch in den Artikeln einer neuen Auflage unvermeidlich widerspiegeln wird, vielleicht sogar mehr als in der ersten Edition. Angesichts dieser Lage in der heutigen Kriminologie erscheint es sachdienlicher, an Stelle der Vielzahl von meist kleinen Einzelartikeln in der 1. Auflage mehr die Form einer geschlossenen Darstellung der wesentlichen Sachgebiete — auch mit von verschiedenen Verfassern bearbeiteten Unterabschnitten — treten zu lassen. Die 2. Auflage folgt damit einer Tendenz, die heute vielfach mit gutem Grund in der lexikalisch-enzyklopädischen Handwörterbuch-Literatur befolgt wird. Die Folge ist allerdings, daß der Leser, der einer Einzelfrage nachgehen will, das Stichwort, oft nicht mehr unmittelbar im Text nachschlagen kann, sondern mit Hilfe des Index feststellen muß, in welchen Sachzusammenhängen es im Text auftaucht oder berührt wird. Das kompliziert zwar in solchen Fällen die Benutzung des Werkes etwas, hat aber den Vorteil, daß der Leser sich besser und schneller über die kriminologisch bedeutsamen Sachgebiete einen Gesamtüberblick verschaffen und die ihn interessierende Einzelfrage nunmehr, weil im Gesamtzusammenhang, sachgerechter studieren kann. Der Umfang des Titclbegriffs „Kriminologie" ist heute nicht mehr auf die Erforschung der Verbreitung, der Erscheinungsformen und der Faktoren der Kriminalität als Massen- und als individuelle Erscheinung beschränkt, sondern bezieht auch das Gesamtgebiet der Kriminal-
Vorwort
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politik ein, d. h. der staatlichen und gesellschaftlichen Gegenwirkungen auf diese Phänomene. Dazu gehören die Methoden der Verbrechensaufklärung u n d der Generalprävention. Sehr vel ausführlicher, als es in der 1. Auflage bei dem damaligen Erkenntnisstand möglich war, werdien die Art und Weisen der individual-präventiven (ambulanten oder stationären) Behandlung des einzelnen Delinquenten behandelt. Bei solcher, dem heute überwiegenden internationalen Sprachgebrauch folgenden Weite des Begriffes „Kriminologie" erübrigt sich der Zusatz im Titel der 1. Auflage: „und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften". Dieser Terminus wird auch dem Eigengewicht, das die Wissenschaft dieser Disziplinen gegenüber der S t r a f r e c h t s w i s s e n s c h a f t inzwischen gewonnen hat, nicht mehr gerecht. Zwei Einschränkungen sind geblieben: F ü r die Gebiete der rein naturwissenschaftlichen Kriminalistik muß aus Raumgründen auch die 2. Auflage sich auf Artikel beschränken, die auf diesem Gebiete nur eine erste Einführung geben; die neue Auflage konnte nicht auch noch die Aufgaben des „Handwörterbuchs der gerichtlichen Medizin und naturwissenschaftlichen Kriminalistik" übernehmen, das im Verlag Julius Springer, Berlin, 1940,969 S, erschien und ebenfalls seit langem vergriffen ist, aber hoffentlich auch wieder neu herausgegeben wird, um eine weitere empfindliche Lücke in der kriminologischen Literatur deutscher Sprache zu schließen. Ferner sind auch in die 2. Auflage eingehende Erörterungen rein juristisch-dogmatischer Natur nicht aufgenommen worden, da hierüber die strafrechtlichen Kommentare u n d Lehrbücher gründliche Auskunft leicht zugänglich geben. Übrigens wird die 1. Auflage durch die neue inhaltlich nur zum Teil entwertet werden. Sowohl als wissenschaftshistorisches Dokument der Kriminologie ihrer Zeit als auch als Sammlung von älterem insbesondere kriminalstatistischem Tatsachenmaterial, das aus Raumgründen nur zum T.eil in die 2. Auflage mit übernommen werden konnte, behält sie ihren Wert. Wie bei der 1. Auflage ist es gelungen, erfahrene Vertreter der Wissenschaft und Praxis als Mitarbeiter zu gewinnen. Die meisten Autoren gehören dem deutschen Sprachgebiet Europas an, aber auch namhafte Experten anderer Muttersprache, deren Beiträge im Auftrage der Redaktion ins Deutsche übersetzt worden sind, haben sich dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. So hat die 2. Auflage nach Inhalt und Mitarbeitern mehr internationalen Charakter als die erste. Das ist eine Folge der erfreulichen Tatsache, daß nach dem letzten Kriege die internationale Zusammenarbeit in der kriminologischen Wissenschaft und Praxis sehr ausgebaut worden ist und wohl wieder das Ausmaß und die mitmenschliche Intensität wie vor dem 1. Weltkrieg erreicht hat. Da die deutschen Fachvertreter seit etwa einem Jahrzehnt wieder vollberechtigte Mitglieder dieser internationalen Familie der Kriminologen sind, haben sie den Kontakt zu der internationalen Entwicklung wiedergewinnen können, von dem sie in den Jahren des 2. Weltkrieges und der Zeit danach abgeschnitten waren. Im Vergleich zu den in dieser Zeit im Ausland entstandenen kriminologischen Forschungseinrichtungen und den f ü r kriminologische Forschung dort zur Verfügung stehenden Geldmitteln, besonders in den USA, ist Deutschland auf dem Gebiet der Kriminologie noch ein „unterentwickeltes" L a n d . Hoffentlich trägt die neue Auflage dieses Handbuches auch dazu bei, der Forschung u n d ihrer Finanzierung bei uns einen großen Auftrieb zu geben. Die neue Auflage des Handwörterbuchs der Kriminologie wird ungefähr den gleichen U m f a n g haben wie die erste. Sie soll in etwa 21 Lieferungen erscheinen, die in kurzen Abständen veröffentlicht werden. Um der Handlichkeit willen sind gegenüber den beiden Bänden der ersten Auflage nunmehr drei Bände vorgesehen, die in der gleichen Ausstattung wie das ebenfalls im Verlage Walter de Gruyter & Co. herausgegebene „Wörterbuch des Völkerrechts" erscheinen werden. Zum Schluß noch zwei mehr t e c h n i s c h e H i n w e i s e : Die A b k ü r z u n g e n wichtiger und häufig zitierter Zeitschriften werden in einem besonderen Verzeichnis erläutert, das mit der Schlußlieferung des Werkes ausgegeben wird; im übrigen werden weitgehend die im Schrifttum geläufigen Abkürzungen verwandt. Gelegentliche Abweichungen von dieser Zitierweise sind aus den Literaturübersichten am Ende der einzelnen Artikel leicht zu ersehen.
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Vorwort
Bei den L i t e r a t u r ü b e r s i c h t e n mußte in vielen Fällen von der an sich wünschenswerten Vollständigkeit des einschlägigen Schrifttums aus dem einfachen Grunde abgesehen werden, daß sonst der Umfang des Gesamtwerkes in einer für den Verleger und die Käufer unzumutbaren Weise gesprengt worden wäre. Die Beschränkung sinnvoll zu erreichen wird dadurch versucht, daß von der älteren Literatur nur Standardwerke und -abhandlungen in die neue Auflage aufgenommen werden, im übrigen aber für diese ältere Literatur auf die Angaben in der 1. Auflage grundsätzlich verwiesen wird. Es ließ sich ferner nicht umgehen, daß Vollständigkeit der Literaturangaben nur für die deutschsprachigen Bücher und Abhandlungen angestrebt worden ist und von der ausländischen Literatur nur eine möglichst repräsentative Auswahl angegeben wird. Für die weitere ausländische Literatur muß von dem Benutzer dieses Handbuches folgender Zusatz am Ende jedes Literaturverzeichnisses gelesen werden: „Weitere ausländische Literatur ist in der laufenden Dokumentation der , E x c e r p t a c r i m i n o l o g i c a ' im Verlag der ,Excerpta Criminologica Foundation, Leiden/Amsterdam' unter dem einschlägigen Stichwort zu finden, sowie in der laufenden Bibliographie der Zeitschrift der Vereinten Nationen . I n t e r n a t i o n a l R e v i e w of C r i m i n a l P o l i c y . ' " Wenn auch der Unterzeichnete allein als Herausgeber der 2. Auflage figuriert, so hat er sich selbstverständlich bei ihrer Planung des kollegialen Rates von Experten im In- und Ausland bedient. Dafür möchte er auch an dieser Stelle herzlich danken. Besonderen Dank verdienen sein Redaktionsassistent, Assessor Dr. iur. H e r b e r t J ä g e r , Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Strafrecht und Kriminalpolitik der Universität Hamburg, und der Verlag W a l t e r de G r u y t e r in Berlin, die die Hauptlast der schwierigen technischen Bewältigung eines so umfangreichen wissenschaftlichen Unternehmens tragen. Die erste Lieferung dieses Handbuchs erschien im Anfang des Jahres 1965. Hamburg, im Juni 1966
Rudolf
Sieverts
INHALTSVERZEICHNIS Seite A Aberglaube. Von Dr. Elsa Hennings Abtreibung. Von Prof. Dr. Günther Dotzauer Alkoholismus. Von Prof. Dr. Walther Jahrreiss Alterskriminalität. Von Dr. Herbert Lewrenz Amtsdelikte. Von Prof. Dr. Hellmuth v. Weber Asozialität. Von Prof. Dr. Friedrich Stumpfl
1 6 30 42 56 62
Β Beleidigung und falsche Anschuldigung. Von Prof. Dr. Hüde Kaufmann Betrug. Von Kriminalrat Dr. Walter Zirpins Brandstiftung. Von Prof. Dr. Roland Grassberger
75 81 95
C Chemische Untersuchungsniethoden. Von Prof. Dr. Walter Specht
106
D Diebstahl. Von Dr. Günter Suttinger
117 Ε
Ehe und Familie. Von Dr. Hans Joachim Schneider Erpressung. Von Prof. Dr. Friedrich Geerds Ethnische Minderheiten. Von Dr. Siegmund A. Wolf Ethnologische Forschungen. Von Dr. Rüdinger Schott
147 179 188 191
F Forensische Psychologie. Von Prof. Dr. Udo Undeutsch Freiheitsdelikte. Von Bundesrichterin Dr. Else Koffka Fürsorge. Von Ltd. Reg. Dir. W. Kobus
205 231 236
G Gaunersprache. Von Dr. Siegmund A. Wolf Geldfälschung. Von Ob.-Reg.-Kriminalrat Hans-Heinrich Huelke Genocidium. Von Gen. Staatsanwalt Dr. Fritz Bauer Gerichtliche Medizin. Von Prof. Dr. Berthold Mueller Gerichtsverfassung. Von Prof. Dr. Werner Hardwig Geschichte der Strafrechtspflege. Von Prof. Dr. h. c. Eberhard Schmidt Gift und Vergiftung. Von Prof. Dr. Emil Weinig Glücks- und Falschspiel. Von Reg.-Kriminalrat E.-J. Eschenbach Gnadenerweis. Von Ministerialrat Alfons Wahl
249 254 268 274 307 317 333 350 364
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Inhaltsverzeichnis Η
Handschrift. Von Minna Becker Hehlerei und Begünstigung. Von Krim.-Oberkommissar Herbert Rehberg Heilbehandlung. Von Chefarzt Dr. Georg K. Stürup Heilpädagogik. Von Prof. Dr. Hans Asperger
368 373 383 391
J Jugendkriminalität. Von Dr. Günter Suttinger Jugendschutz. Von Ltd. Reg.-Dir. Dr. Walter Becker Jugendstralrecht. Von Prof. Dr. Karl Peters
401 436 466
Ε Körperverletzung. Von Prof. Dr. Hans Klein Krankheit. Von Prof. Dr. Hans-Joachim Bochnik Kriminalbiologie. Von Prof. Dr. Friedrich Stumpfl
472 482 496
A ABERGLAUBE Der Versuch einer Begriffsbestimmung für Aberglauben stößt auf Schwierigkeiten. Aberglaube wird gemeinhin als „törichter, schlechter, irregeleiteter, abweichender, unsinniger" Glaube angesehen. Das sind anstelle einer Definition leicht umkehrbare Werturteile: Ein Vermächtnis zugunsten von Seelenmessen für den Erblasser fällt in England unter „Gebrauch zu abergläubischen Zwecken", „superstitious uses (law)" und macht es ungültig; im katholischen Irland ist es gültig, sofern die Seelenmessen öffentlich abgehalten werden. Witwenverbrennungen waren im Hinduismus Indiens Pflicht; ihr 1829 erfolgtes Verbot durch die britische Kolonialmacht wandelte sie zum Delikt des Mordes aus abergläubischen Motiven. Von der vergleichenden Religionswissenschaft werden die Sakramente als magische Mittel und die Sakramentalien wie: Skapuliere, Medaillen, Agnus Dei, Reliquien, Weihwasser, Salbungen, Segnungen u. a. unter der Kategorie magischer Amulette, Talismane, Fetische usw. abgehandelt. Als erläuterndes Beispiel diene das sog. JanuariusWunder Neapels, eine Erscheinung, die sich an dem als Reliquie dort aufgehobenen Blut des heiligen Januarius abspielt. Dieses Blut wird von Zeit zu Zeit unter Vollziehung besonderer Zeremonien flüssig; bleiben sie dabei wirkungslos, so bedeutet ihr Versagen Unglück für die Bevölkerung. Als Napoleon in Neapel war, blieb das Wunder aus, und es bereitete sich ein Volksaufstand vor. Napoleon ließ sich die höheren Priester kommen und drohte ihnen mit standrechtlicher Erschießung, falls sie das Blut nicht bis zum nächsten Tag zum Fließen bringen würden. Darauf verflüssigte sich das Blut binnen vierundzwanzig Stunden. Alle Werturteile über Aberglauben ändern nichts daran, daß er Glauben zum Inhalt hat, jeder Glaube aber nur ein Fürwahrhalten von etwas naturgesetzlich nicht Beweisbarem ist; er kann deshalb in keiner seiner vielgestaltigen Äußerungen eine objektiv gesicherte Geltung beanspruchen. Kant hat in seiner Vernunftkritik gezeigt, daß von transzendenten, außer- und übernatürlichen 1
HdK, 2. Aufl., Bd. I
Dingen kein Wissen möglich sei. Die Erklärung: „Aberglaube ist der Glaube an die Wirkung und Wahrnehmung naturgesetzlich unerklärter Kräfte, soweit diese nicht in der Religionslehre selber begründet s i n d . . . .Religion' zu fassen, als gläubige Hingabe des Menschen an eine alliebende, seine Geschicke leitende Macht, nicht als bestimmtes kirchliches System der Gottesverehrung und des Gottesdienstes . . . " (Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch), würde allerdings auf die dem Osten eigenen Religionen ohne Gott, ohne „alliebende Macht", ζ. B. den Buddhismus und andere MoralLehren kaum passen und auch die Tatsache verleugnen, daß der Aberglaube trotz aller Volkstümlichkeit und nationalen Färbung international in des Wortes weitester Bedeutung ist. Er umspannt nicht nur alle Völker des Erdballs, sondern reicht zeitlich in vorgeschichtliche Fernen zurück; und wenn sich an moderne Gegenstände (man denke an Automaskotten, Fliegeramulette u.a.) oder an moderne Gebräuche abergläubische Meinungen und Gewohnheiten knüpfen, so sind das nur Analogien zu älteren Auffassungen, nicht jedoch neuer Aberglaube. Anschauungen gleich welcher Prägung sind stets dem Wandel, sei es einem natürlichen oder erzwungenen, unterworfen, nur nicht dergestalt, daß dabei alles an herkömmlichen Gepflogenheiten auf einmal getilgt wird. Die Reste einstigen Glaubens, alter Volksweistümer, eingefahrener Gewohnheiten usw. machten sich jetzt als störende Fremdkörper bemerkbar; sie halfen den Grundstock des Aberglaubens erweitern, der, wie ausgedehnt er in der Gegenwart auch sein mag, seinen wesentlichen Gehalt doch aus der Vergangenheit empfängt. So hat zum Beispiel die systematisierte Theologie der Griechen die alten Titanen erniedrigt, nachdem die Olympischen Götter zur Herrschaft gekommen waren. Ähnlich ging es bei der Einführung anderer Glaubenslehren einschließlich des Christentums zu. Die alten Götter wurden zu Teufeln und bösen Geistern herabgewürdigt, und was noch vom überholten Glauben nachwirkte, wurde regelmäßig von den verschiedenen Hierarchien zum Aberglauben erklärt, bis der nun „wahre Glaube" eines Tages dem gleichen Schick-
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Aberglaube
sal wie seine Vorgänger verfiel. Im Kirchenlexikon finden wir: „Aberglaube ist der umfassendste Name für einen großen Teil sittlicher Verirrungen der Menschheit, welche einen spezifischen Gegensatz gegen die wahre Gottesordnung darstellt". Aber „die Kirche hat im Verlauf ihrer Geschichte jeder außerchristlichen oder sonderchristlichen Gläubigkeit, die sich in ihrer Andersartigkeit zu behaupten wagte, durch die Kennzeichnung als Aberglauben den Stempel der Ungesetzlichkeit und Unsittlichkeit aufgedrückt; Heidentum und Ketzerei sind die beiden Generalnenner, auf welche die Kirche bis zum heutigen Tage jede andersartige Glaubensäußerung bringt" (Ziegler). Aberglaube ist allgemein menschlich und daher selbst in seinen harmlos anmutenden Formen solange unausrottbar, als sich die Menschheit unter der Wucht der ständig andrängenden wissenschaftlichen Entdeckungen neuer und neuester Zeit nicht einer radikal sich verändernden Geisteslage angeglichen hat. Zwar ist das gesamte Bildungsund Erziehungswesen schon immer dem wissenschaftlichen Fortschritt nachgehinkt, doch hat sich mittlerweile eine so gewaltige Kluft zwischen beiden aufgetan, daß die neue Welle des Aberglaubens, deren Zeugen wir sind, nicht mehr überraschen kann. Zu ähnlichen Strömungen während der Aufklärungszeit haben sich jedoch in der Gegenwart abergläubisch gefärbte Erscheinungen wie Rassenhaß, Völkerverhetzung und Gesinnungsverfolgung gesellt, bei denen man den Aberglauben kaum noch vom Massenwahn unterscheiden kann. Unwissenheit und vorgefaßte Meinung, die sich bis zum Aberglauben steigern, können bei entsprechender Propaganda zu Verbrechen führen, so beispielsweise die Protestantenjagd zur Bartholomäusnacht oder der Antikommunismus zur völkerrechtswidrigen „Liquidierung" russischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter oder der Antisemitismus zum Massenmord an den Juden. Wer hingegen heute Umschreibungen gebraucht wie: Aberglaube ist der Glaube an übernatürliche Folgen natürlicher Dinge oder an übernatürliche Ursachen natürlicher Ereignisse, wird von der Vernunft zuerst mit der Frage konfrontiert, was „natürlich" und was „übernatürlich" sei, um dann die Antwort zu erhalten, daß die Erkenntnis der Universalität und Unabänderlichkeit der Naturgesetze den Ausdruck „übernatürlich" als ein leeres Wort enthüllt. Vorauszusetzen ist freilich, daß überhaupt etwas geglaubt oder nicht geglaubt wird; denn wo man nicht glaubt, sondern weiß, kann es auch keinen Aberglauben geben, und das ist vor allem bei den exakten Wissenschaften der Fall. Zuvörderst ist unter den exakten Wissenschaften die Mathematik zu nennen. Ihr nahe steht die Physik, deren mathematische Beweise jedoch der Ergänzung durch das Experiment bedürfen; sofern es mißglückt, handelte es sich lediglich um einen
fehlgeschlagenen Versuch, nicht um einen unrichtigen Glauben. Der Physik verwandt ist die Mechanik. In ihr spukte zwar lange der Glaube an das Perpetuum mobile, indes hat ihn die Physik für irdische Verhältnisse bereits als Aberglauben entlarvt. Die Astronomie ist ebenfalls auf der Mathematik aufgebaut; aber sie arbeitet daneben auch mit Beobachtungen, und bei ihnen kann man sich täuschen. Noch fehlt zum Beispiel der Beweis für die aus Beobachtungen hergeleitete Annahme, daß es auf dem Mars Lebewesen gebe; der Glaube daran kann richtig oder falsch sein. Sobald man aber aus den Gestirnen Menschenschicksale herauslesen will, bewegt man sich auf dem Gebiet des Aberglaubens, der uralten Astrologie. Obwohl die Chemie zu den exakten Wissenschaften zählt, hat es darin viel Aberglauben gegeben, der sich besonders an die Praktiken der Alchemisten heftete. Heute wird die Chemie vielfach bewußt zu betrügerischen Zwecken benutzt; durch leicht im Laboratorium herzustellende Mittel will man vor Unwissenden Zauberkünste und Wunder produzieren. Da die Medizin zum größten Teil auf Beobachtung beruht, kann sie nicht zu den exakten Wissenschaften gerechnet werden. Daher ein häufig von der Medizin ausgehender Aberglaube, der selbst dann fortwirkt, wenn von der Wissenschaft die Unrichtigkeit einer Beobachtung längst erkannt wurde. Ein Hinweis gilt der Pastoral-Medizin, in deren von Medizinern unter ausdrücklicher Approbation durch kirchliche Vorgesetzte verfaßten Büchern noch immer von Besessenheit und Exorzismus, d. h. der Austreibung des Teufels gesprochen wird. An einer rechtlichen Regelung abergläubischen Verhaltens besteht ein staatliches Interesse nur insofern, als dadurch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet erscheint. Das Ausweichen vor einer schwarzen Katze oder die Furcht vor der Zahl dreizehn u. ä. bedeuten keine Bedrohung der Allgemeinheit; wohl aber gibt es Fälle, wo ein Aberglaube zur Verhütung von Betrug und anderen Delikten, zur Aufdeckung von Motiven usw., insbesondere aber bei Straftaten in Rechnung gestellt werden muß. Der Aberglaube hat von jeher die engsten Beziehungen zur Welt des Unrechts gehabt. Zunächst einmal steht der verbrecherische Mensch dem primitiven Menschen näher, namentlich auch seinem Aberglauben. Das Leben außerhalb der Rechtsordnung bringt es mit sich, daß Außerordentliches, Ungewöhnliches, Ungeheures geglaubt, geübt, gehofft und gefürchtet wird. Die Unsicherheit des Unredlichen, das Wagnis des Verbrechens und das Glücksspiel des Unentdecktbleibens sind überreicher Anlaß zu abergläubischen Meinungen und Handlungen. Auf der anderen Seite hat der im Volk bis in seine gebildeten Schichten lebende Aberglaube sehr oft zum Träger Leute, „welche die seelischen und körperlichen Nöte und Bedrängnisse der Menschen für ihre
Aberglaube Zwecke ausnutzen, die durch Täuschungen, Drohungen und Versprechungen von der Ausbeutung Leichtgläubiger und vom Mangel an Kritikvermögen leben und die ein persönliches oder machtpolitisches Interesse haben an der Verängstigung, Willensschwächung und Dummerhaltung irregeführter Blindgläubiger" (Ziegler) — kurz gesagt, Leute, die, selbst vielleicht frei von Aberglauben, den Abergläubischen ausnutzen, indem sie ihn in seiner Meinung bestärken und dabei beschwindeln. Indes kann sich derjenige, welcher ein Verbrechen verfolgt, gegen den unbekannten oder bekannten Täter gleichfalls abergläubischer Mittel bedienen, sei es aus eigenem Aberglauben, sei es in Ausnutzung des verbrecherischen Aberglaubens. So sehen wir schließlich im Ringen von Recht und Unrecht den Aberglauben als Kampfmittel auf beiden Seiten. Aberglaube fördert das Verbrechen und schützt den Verbrecher; es besteht aber auch die Möglichkeit, daß er verhindert, entlarvt und den Täter zu Fall bringt. Krimineller und antikrimineller Aberglaube stehen sich gegenüber, wenn sie auch oft die gleichen Mittel anwenden und einander getreulich widerspiegeln. Einen in Rechtsformen gekleideten Aberglauben wird es heute nur noch dort geben, wo etwa ein der Staatsreligion nicht entsprechender Glaube verfolgt oder rechtlich evident wird. Wie sich Aberglaube sonst noch mit Rechtsvorgängen verknüpfen kann, zeigen die abergläubischen Vorstellungen der bei einer Hinrichtung gebrauchten Gegenstände wie Handschuhe des Scharfrichters u. a. Unter den kriminogenen Arten des Aberglaubens ragen am meisten seine unter dem Sammelnamen „Okkultismus" (Geheimlehre, Geheimwissenschaft) vereinigten Formen hervor. E r umfaßt im wesentlichen 1. den Spiritismus, bei dem es sich theoretisch um den Glauben handelt, daß die Verstorbenen weiterleben und ein Verkehr mit ihnen, wie auch mit den Geistern entfernt Lebender möglich sei, und praktisch um die Herbeiführung eines solchen Verkehrs, besonders zu dem Zweck, Kundmachungen aus der „anderen Welt" zu erhalten, ζ. B. durch Klopftöne, die ohne erkennbare Ursache in der Umgebung medial veranlagter Personen unwillkürlich auftreten und Klopfgeister zu Urhebern haben sollen (Telekinese); 2. die Levitation, ein angeblich freies Schweben von Körpern, das durch Aufhebung der Schwerkraft mittels geistiger Beeinflussung zustande komme (ähnlich auch das Tischrücken); 3. die Materialisation, d. h. das in den Geheimlehren behauptete Erscheinen von Körpern und Körperteilen, die das Medium (Person, durch die sich die Erscheinung bemerkbar macht) aus seinem sogenannten Teleplasma erzeugen und (meist durch Mund und Nase) zum Vorschein bringen soll. So weit man bis jetzt Gelegenheit hatte, ein Teleplasma zu untersuchen, bestand es aus Gaze oder anderen Schleierstoffen; 4. die Telepathie 1*
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oder Fernfühlung, die, wie es heißt, aus der Fähigkeit erwächst, Gedanken und Gefühle ohne Benutzung der Sinnesorgane auf andere zu übertragen oder um sie zu wissen; 5. das Hellsehen — es gilt als Wahrnehmung von Vorgängen und Gegenständen ohne Benutzung der Sinnesorgane, wobei räumliches Hellsehen (ζ. B . Lesen von Briefen in undurchsichtigem Umschlag) von zeitlichem (vergangener oder zukünftiger Vorgänge und Gegenstände) zu unterscheiden ist. Die Heranziehung von Hellsehern zur Aufklärung von Verbrechen wurde 1929 in Preußen und anderen Ländern verboten. Alle diese, sowie viele andere Zweige des Okkultismus wie ζ. B . 6. die Astrologie oder Sterndeutung, deren Hauptaufgabe es ist, aus der Konstellation der Gestirne im Zeitpunkt der Geburt eines Menschen Horoskope mit angeblich verbindlicher Aussage über Charakter und Schicksal zu stellen; ferner der Mesmerismus („tierischer Magnetismus"), die Theosophie, die Nekromantie, die bereits erwähnte Alchemie usw., von denen ein Teil in der Paraphysik und Parapsychologie ein wissenschaftliches Forum gefunden hat, — sie alle haben in nicht einem einzigen der zahlreichen, mehr oder minder sachgerecht kontrollierten E x perimente ein exaktes Beweismaterial für den übersinnlichen oder übernatürlichen Gehalt der Erscheinungen erbringen können. Fest steht bis jetzt nur, daß eine erfolgreiche Vorführung okkulter Phänomene neben rein handwerklichem Können Scharfblick, hohe psychologische Begabung und ein außerordentliches Kombinationsvermögen voraussetzen; für das Gelingen sorgt dann schon der große Prozentsatz suggestiv anfälliger Teilnehmer. Interessant ist, daß magische VarietöKunst, obwohl sie in ihrer Vollkommenheit den okkulten Spielarten fast immer überlegen ist, keinerlei mystische Vorstellungen auslöst. Eine populäre Form kriminogenen Aberglaubens ist die vielfach gewerbsmäßig betriebene Wahrsagerei; sie bedarf zu ihrer Ausübung keines besonderen Aufwandes und ist ebenso unauffällig wie einfach zu handhaben. Ihre starke Verbreitung verdankt sie mit verwandten Zweigen einem dem Menschen eigenen Verlangen, in die Zukunft zu sehen, auf der andern Seite jedoch dem Bestreben, sich zur Geltung zu bringen oder sich durch diesen Umstand mühelos zu bereichern. Zum Unterschied von der Weissagung, einer Kundgabe göttlicher Offenbarung, ist die Wahrsagerei eine durch künstliche Mittel (Karten, Lose, Würfel u. a.) angestrebte Entschleierung der Zukunft. Eine ebenso bedenkliche wie häufie vorkommende Form des Aberglaubens ist die Gesundbeterei, die bei Praktizierung an Kianken mit einem Organleiden oder anderen KÖJ perschaden geradezu gemeingefährlich ist; der durch Suggestion anfangs vielleicht erzielte Erfolg (Lourdesl), der nur selten eine Dauerheilung darstellt, ver-
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Aberglaube
hindert das rechtzeitige Aufsuchen eines Arztes, so daß sich hierdurch ein Leiden bis zur Unheilbarkeit verschlimmern kann. Einen bedeutenden Anteil des Aberglaubens nimmt der vorwiegend unter der Landbevölkerung herrschende Hexenaberglaube ein. Wenn sich für Schäden an Menschen, Vieh und Acker keine Erklärung finden lassen will, richtet sich der Verdacht schließlich auf Hexerei, denn gar zu gern ist man geneigt, eigenes Verschulden anderen Faktoren zuzuschieben. So gibt es kaum ein Dorf, in dem nicht der Volksmund mindestens einer Person den günstig, mehr aber noch ungünstig angewandten Besitz von Zauberkräften nachsagt. Als Initiator und Aneiferer steht in fast allen Fällen ein gut verdienender „Hexenbanner" oder „Enthexer" im Hintergrund. Er ist jedoch bei Strafverfahren mit Hexenaberglauben als Tatmotiv nur schwer zu überführen, weil der Hexengläubige immer bemüht ist, einem Einblick in seine Überzeugung aus dem Wege zu gehen. Die Angriffe gegen Hexen und Hexer reichen von der leichten bis zur schweren Kriminalität, Mord eingeschlossen. Nach v. Künßberg, dem wir im Nachstehenden folgen, hat es die Kriminologie vornehmlich mit drei Arten von Aberglauben zu tun: a) Am häufigsten sind die Fälle, bei denen der Aberglaube anderer in verbrecherischer Weise ausgenutzt wird; Tegelmäßig dürfte dabei Betrug vorliegen, also das, was die ältere Rechtssprache Gaukelei nannte (heute nur noch in einigen landesrechtlichen Bestimmungen), und was zu allen Zeiten blühte. Man schwatzt den Leuten Amulette, Talismane und Wundermittel zu hohen Preisen auf; es werden ihnen geheimnisvolle Künste vorgespiegelt, verzauberte Schätze versprochen und durch allerlei Hokuspokus den Leichtgläubigen Werte abgeschwindelt. Bekanntlich werden die Dummen nicht alle, und es ist zu fragen, bis zu welchem Grade sie in ihrem Aberglauben rechtlich gegen Ausbeutung geschützt zu werden verdienen. Gefährdungen von Leben und Gesundheit sowie schwerere Betrügereien können jedenfalls nicht ungeahndet bleiben. Die Grenzen zum harmlosen Wahrsagen, Handlesen u. dgl. sind klar abzustecken und dabei in Betracht zu ziehen, daß die dem Abergläubischen gebotenen „Künste" durch falsch gelenkten Verdacht gefährlich werden können. b) Bei der zweiten Gruppe geht es um den kriminellen Aberglauben in engerem Sinn. Sie umfaßt die abergläubischen Motive und die abergläubischen Mittel von Verbrechern. Beide Unterarten können auch in einem Verbrechen zusammentreffen, aufeinanderfolgen und einander bedingen. Mancher Diebstahl, insbesondere kleiner Sachen von geringem Wert wird unter der abergläubischen Vorstellung begangen, daß „gestohlene Dinge Glück bringen". Schlimmer ist der Aberglaube, daß verschleppte Geschlechtskrankheiten durch
die Berührung mit einem unschuldigen weiblichen Wesen, vornehmlich einem Kinde, geheilt werden können; als Ergebnis sind Notzucht, Körperverletzung und Mord zu verzeichnen. Zwar hat sich seit Einführung der Heilbehandlung durch antibiotische Mittel das Auftreten dieser Krankheiten nach Zahl und Schwere der Fälle erheblich verringert; doch der Aberglaube ist geblieben und kann weiterhin seine Opfer fordern, insbesondere weil er kindliche Reinheit auch mit dem Gelingen dunkler Taten verbindet. Die Beschaffung abergläubischer, dem Gelingen einer Schandtat förderlicher Mittel führt gelegentlich zu Leichenschändung, Hostienschändung u. ä. Zu abergläubischen Mitteln der Verbrecher gehören neben spezifischen Tätowierungen die verschiedensten Arten von Talismanen, die vor Entdeckung bei der Tat, vor Verfolgung oder vor Verurteilung schützen sollen, wenn man sie bei sich trägt. Im allgemeinen sind es die gleichen Talismane, mit denen man sich zur Erlangung von Glück, Reichtum, Liebe, Macht und sonstigen irdischen Gütern versieht (Alraunmännchen, Hostien, Menschenfett, Leichenwachs und dgl.). Zauberformeln zum Gebrauch als Diebssegen, Gerichtssegen und Freibrief dienen, falls man sie geschrieben oder gedruckt bei sich führt oder im entscheidenden Augenblick murmelt, dem Verbrecher ebenfalls zum Schutz. Das Gegenstück zu den mitgeführten Dingen bilden die absichtlich am Tatort zurückgelassenen Gegenstände. Allerdings rufen sie für den Täter anstelle des vermeintlichen Schutzes eher eine erhöhte Gefahr hervor, indem sie die Entlarvung erleichtern, sei es durch einen Stock, einen Schuh, die Fußspur, oder aber durch zurückgelassenen Kot (grumus merdae). Damit scheint auch eine Befreiung vom abergläubischen Zwang zur Rückkehr an den Schauplatz des Verbrechens beabsichtigt zu sein. Anzuführen sind noch die verschiedenen Formen des „Scheineides", d. h. die Eidesleistung unter kleinen, unauffälligen Nebengebärden. Sie haben den Zweck, das nach außen gültig scheinende Gelöbnis insgeheim mit einer Art Formfehler zu belasten, um auf diese Weise eine Bindung an den Eid aufzuheben oder unwirksam zu machen. Am bekanntesten ist der sogenannte „Blitzableiter", als welcher auch der sog. „Mau-Mau-Eid" während der Unruhen in Kenya gedient haben soll. Bei dem Eid zeigt die nach unten gehaltene linke Hand die gleiche Fingerhaltung wie die Schwurhand und leitet dadurch den Meineid unschädlich in die Erde. c) Die Verwendung des Zauberglaubens gegen das Verbrechen ist so alt wie der Zauberglaube selbst. Schimpfen oder fluchen wir heute hinter einem flüchtigen oder unbekannten Missetäter her und wünschen ihm Böses, dann haben wir uns unbewußt in der magischen Bannkunst versucht. Aber wir haben nur noch die kraftlosen Reste des gewaltigen alten Zauberbanns zur Verfügung.
Aberglaube — Abtreibung Manch einer wird freilich beim Versagen der üblichen Mittel zur Entdeckung und Ergreifung des Täters insgeheim zur zauberischen Selbsthilfe greifen und mit Diebsbann, Fußspurzauber, Siebdrehen, Bildzauber, Totbeten usf. den Verbrecher zur Strecke bringen wollen. Man mag auch in ohnmächtiger Rachsucht unter Mitwirkung unterirdischer Mächte danach trachten, den unbekannten oder nicht erreichbaren Gegner durch verschiedene Zauberhandlungen wie Schattenmessen, Nestelknüpfen u. a. zu schädigen oder zu vernichten. Soweit der Verbrecher dadurch in Furcht versetzt, zum Geständnis oder zum Wiedergutmachen veranlaßt wird, oder durch die Furcht vor zauberischer Verfolgung sich Verbrechen verhüten lassen, ist unter gewissen Kautelen die Nützlichkeit des Aberglaubens trotz aller irrationalen Beigaben nicht von der Hand zu weisen, v. K t t n ß b e r g : Rechtsgeschichte and Volkskunde. Jb. f. hist. Volkskunde 1 (1925). A. W u t t k e : Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. 4. Aufl. 1925. J . v . N e g e l e i n : Weltgeschichte des Aberglaubens.1931,1935. F. M o s e r : Der Okkultismus. 1935. H. F i s c h e r : Aberglaube oder Volksweisheit. 1936. H. B e n d e r : Psychische Automatismen. 1936. M. Z i e g l e r : Aberglaube. 1940. H. B ä c h t o l d - S t ä u b l i : Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (bisher 10 Bände). 1 9 2 7 - 1 9 4 2 . K. Z u c k e r : Psychologie des Aberglaubens. 1948. C. d u F r e i (neu hsgg. v. H. Fritsche): Das Bätsei des Menschen. 1950. J. K r u s e : Hexen unter uns? 1951. K. Z i n n e r : Sternglaube und Sternforschung. 1953. Graf K l i n c k o w s t r o e m : Die Zauberkunst. 1954. Ε. O. v. L i p p m a n n : Entstehung und Ausbreitung der Alchemie. (3 Bände). 1919 — 1954. H. S c h ä f e r : Hexenmacht und Hexenjagd, o. J. D e r s . : Der Okkulttäter. 1959. ß . A m a d o u : Das Zwischenreich. Vom Okkultismus zur Parapsychologie. 1957. K . S e U g m a n n : Das Weltreich der Magie. 1958. ELSA HENNINGS
ABTREIBUNG Das keimende Leben wird durch das Strafrecht geschützt. Die Fruchtabtreibung wird in den verschiedenen Staaten entweder als Tötungsdelikt, Körperverletzung oder als Verbrechen gegen Familienordnung und Sittlichkeit behandelt. Das geltende deutsche Recht enthält eine Strafvorschrift im Abschnitt über die Verbrechen und Vergehen wider das Leben (§ 218 StGB), nach der die Eigenabtreibung im Regelfall mit Gefängnis, die Fremdabtreibung mit Zuchthaus bestraft wird. Im künftigen Strafrecht ist für die Abtötung der Leibesfrucht grundsätzlich die Gefängnisstrafe und für die Eigenabtreibung alternativ Gefängnisstrafe oder Strafhaft vorgesehen (§ 140 Ε StGB 1960). Lediglich besonders qualifizierte Fälle, ζ. B. die gewerbsmäßige Abtreibung, sollen mit Zuchthausstrafe bedroht werden (§ 141 Ε StGB 1960). Gegenstand einer Abtreibung ist die Leibesfrucht in all ihren Entwicklungsstufen. Die Frucht muß
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zum Zeitpunkt der Abtreibungshandlung gelebt haben; nicht erforderlich ist, daß die Schwangere während der Abtreibung noch lebt. Ohne Belang ist, ob die Frucht nach Verlassen des mütterlichen Körpers lebensfähig geblieben wäre. Abtreibungshandlungen können zu Früh- oder Totgeburt führen, sie können, bei Uberleben der Frucht, Schäden am Neugeborenen zur Folge haben. Rechtsunerheblich ist, ob die Frucht im Mutterleib abstirbt oder erst während bzw. nach der Passage der mütterlichen Geburtswege. Selbst wenn ein Eingriff nicht in erster Linie auf das Leben der Frucht, sondern auf das der Schwangeren gerichtet ist, ζ. B. bei Suicid, ist der Tatbestand der Abtreibung erfüllt. Sobald irgendein Teil des Kindskörpers den Mutterleib verläßt, liegt Kindstötung vor. Über die Historie der kriminellen Abtreibung liegt eine Vielzahl von Arbeiten vor (Brouardel, Dürwald, Fritsch, Lewin, Liepmann, Niedermeyer, Vollmann etc.). Forschen wir zuerst nach den Gesetzen der Erscheinung. Wenn diese erkannt sind, darf der Geist die größere Forschung nach den Gründen der Erscheinung beginnen (Virchow). Voraussetzung für die Erkenntnis der inneren Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung wäre eine exakte Materialauswertung. Gerade bei diesem Betrachtungsgut ist die Dunkelziffer nicht abzuschätzen. Jede Stellungnahme muß Fehler in sich tragen. Erst durch vielfältige Aufarbeitungen bekannt gewordener Fälle wird man die Erscheinung fassen können. Bekannt werden aber nur die angezeigten Fälle. Der Kreis der Wissenden ist im Einzelfall klein, die Neigung zur Anzeigeerstattung gering, die Verfolgungstendenz von Polizei und Staatsanwaltschaft variiert. Selbst wenn es — ζ. B. gegen einen Arzt — zu einer Anzeige gekommen ist, wird dessen Einwand, ein Eingriff sei lediglich zur Beseitigung von Menstruationsbeschwerden vorgenommen worden, selten zu widerlegen sein. Weder die Frau noch der Fremdabtreiber sind bereit zu bekennen. 1. Häufigkeit Nur ein Bruchteil künstlich provozierter Aborte wird polizei-, noch viel weniger gerichtsbekannt. Auf einen der dem Gericht bekannt gewordenen Fälle von krimineller Abtreibung kommen 100 (K. Meyer) bzw. 200 (Sauer, Kleinschmidt) effektive Fälle. Middendorff übernahm diese Verhältnisse. Heindl schätzt sie auf 1:1000. Die Spannweite verdeutlicht die Größe der Dunkelziffer. Von Kepp wird die Zahl der jährlichen Abtreibungen in der Bundesrepublik auf 700000 geschätzt, v. Rhoden stellte eine vergleichende Statistik der kriminellen Aborte in den Kulturländern von 1880—1960 auf. Das Verhältnis des Aborts zur Geburtenzahl findet Berücksichtigung.
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Abtreibung
Zum Thema der ethischen Indikation der legalen Schwangerschaftsunterbrechung sind jüngst eine Reihe von Beiträgen in den „Ärztlichen Mitteilungen" publiziert worden. Über das Gesamtproblem der legalisierten Unterbrechung liegen ausgezeichnete Referate von Mehlan bzw. v. Rohden vor. Hinsichtlich der in den verschiedenen Ländern geübten Verfahren fehlt nicht der Hinweis, daß einer der Leitgedanken der legalisierten Schwangerschaftsunterbrechung der Kampf gegen die kriminelle Abtreibung war. Als Fazit der großzügigen Behandlung der Indikationsstellungen ergab sich aber, daß die kriminellen Aborte keinesfalls zurückgingen. Verschiedene Gründe wurden vorgetragen. Auch Mehlan vertrat zunächst diese Ansicht, änderte aber 1960 seine Meinung und spricht seither von einer merklichen Reduzierung der kriminellen Aborte als Folge des in der DDR geübten Verfahrens bei den Schwangerschaftsunterbrechungen. — Wie will man überhaupt zu diesem Problem Stellung nehmen ? Über die legalisierten Schwangerschaftsunterbrechungen können Häufigkeitsziffern vorgelegt werden, das Zahlenmaterial liefern Gutachterkommissionen und Kliniken. Über die Frequenz der kriminellen Abtreibungen wissen wir bitter wenig, es werden nur Mutmaßungen geäußert. Die Dunkelziffer ist unbekannt groß. Welche Quellen stehen zur Verfügung? 1. Befragung eines Querschnitts der weiblichen Bevölkerung wie ζ. B. im Kinsey-Report. Wird aber die Mitteleuropäerin über ihre intimsten Dinge etwas aussagen, das — in Fragebögen erfaßt — tatsächlich als unbedingt wahr und ihrer innersten Überzeugung bzw. ihren tiefsten Gefühlen entsprechend beurteilt und bearbeitet werden kann ?! 2. Verwertung klinischer Statistiken über die Zahl der Aufnahmen febriler bzw. afebriler Aborte, wobei Fehlgeburten aus I + II kaum erfaßt werden. Wie hoch ist der Anteil der Frauen, die bei der Anamnese die artefizielle Herbeiführung offenbaren? Wenn ein Großteil der Kliniker annimmt, daß der etwa 10% übersteigende Anteil der Abortaufnahmen den artefiziellen zuzuschreiben wäre, so ist auch dies eine Schätzung. Wie groß ist jener Part, der ambulant „behandelt" wird, der nicht wegen schwerer Folgen wie Blutungen, Fieber usw. ins Krankenhaus eingewiesen wird? Um ein Ergebnis vorweg zu nehmen: In den nach dem Krieg in Hamburg anhängig gewordenen Gerichtsverfahren wurde nur jede 3. Frau nach einer kriminellen Abtreibung einer Klinikbehandlung zugeführt. 3. Welche Aussagen sind einer Polizeistatistik zu entnehmen ? Die Größe dieser Zahlen steht in direkter Abhängigkeit von der kriminellen Reizbarkeit der Bevölkerung bzw. von der Schwere der Zwischenfälle.
4. Als letzte Einheit wären die durch die Staatsanwaltschaft bzw. die durch die Gerichte erfaßten Fälle zu nennen. Ich erinnere mich der rethorischen Frage eines Staatsanwaltes, ob man in einem Fall Anklage erheben solle oder nicht, denn „welche Frau hat noch nicht in ihrem Leben einmal abgetrieben oder abtreiben lassen". Die Strafverfolgungsintensität variiert. Weiter steht die Zahl der artefiziellen Aborte zu folgenden Größen in Beziehung: I. Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter II. Zahl der bestehenden Ehen III. Zahl der neugeschlossenen Ehen IV. Zahl der Geburten V. Zahl der Fehlgeburten VI. Zahl der fieberhaften Fehlgeburten VII. Zahl der nach Fehlgeburten verstorbenen Frauen. Bezogen auf das Jahr 1950 = 1 stellen sich die Kurvenbündel dieser Positionen während eines Dezenniums am Beispiel Hamburg wie folgt dar: Ein Gesetz läßt sich nicht ableiten, interessant ist der nahezu parallele Verlauf der Positionen III und IV. Hirszfeld schrieb einmal: 19,9°/o der jährlichen Befruchtungen sterben eines natürlichen, 34,8% durch einen künstlichen Abortus. Nur 45,3% der jährlichen Befruchtungen bleiben am Leben. Exakte Häufigkeitsziffern artefizieller Aborte — bezogen auf 10000 Frauen im gebärfähigen Alter — sind wegen der Dunkelziffer nicht vorzulegen.
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Relation zwischen Konfession und legaler
Abb. 2 Nicht nur in Deutschland sind seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die Fehlgeburten seuchenartig angestiegen. Nach Nürnberg sind 60°/o. nach Montgomery 65%, n a c h Sigelbauer, Brandstrup und Westmann 90%, nach Liepmann 99% der Fehlgeburten auf unerlaubte Eingriffe zurückzuführen. Die erheblichen Differenzen erklären sich durch Registrierung der „Aborte aus unbekannter Ursache" als kriminelle Aborte. K. Mayer rechnet den 8—10% übersteigenden Anteil der Fehlgeburten den kriminellen Aborten zu. Auf Hamburg bezogen, würde dies bedeuten, daß von den 42244 in den staatlichen Krankenhäusern stationär behandelten Fehlgeburten der Jahre 1949—60 etwa 38000 auf kriminelle Aborte zurückzuführen wären. Diese Zahl ist viel zu klein. Die artefiziellen Aborte stehen in Abhängigkeit zu g e s e l l s c h a f t l i c h e n , w i r t s c h a f t l i c h e n , g e s e t z g e b e r i s c h e n u n d p o l i t i s c h e n Konstellationen: Anstieg der Fehlgeburten und Abtreibungen in Kriegszeiten, bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und bei hohen Beschäftigungsziffern der Frauen in Industrie und Handel etc. Das von Seelig gebrachte Beispiel aus der österreichischen Krimmalstatistik über die kriegsbedingte Beeinflussung der Abtreibungszahl, belegt durch Angaben über die Zeit vor dem, während des und nach dem 1. Weltkrieg, ist in seiner Aussage eindeutig. Solche Abhängigkeiten lassen sich ähnlich auch für die Jahre der wirtschaftlichen Depression Ende der Zwanziger Jahre
oder während des nationalsozialistischen Regimes, den zweiten Weltkrieg und die Jahre vor und nach der Währungsreform ableiten. Zwei Beispiele zur g e s e t z g e b e r i s c h e n Kons t e l l a t i o n : Die staatlichen Maßnahmen gegen die „Abtreibungsseuche" im nationalsozialistischen Staat reduzierten die Abtreibungszahlen zunächst auf ein Fünftel, und zwar nur solange, wie der Kinderreichtum Vorteile erbrachte (Kepp). Als die soziale Indikation zur leg. Schwangerschaftsunterbrechung in der DDR 1951 abgeschafft wurde, stieg zunächst die Zahl krimineller Aborte (Bergander-Dresden). Auch der Einfluß der K o n f e s s i o n ist nicht gleichbleibend. Welche Bedeutung der Religiosität, der Bindung einer Frau an Gebote und Verbote ihrer Kirche beizumessen ist, bezeugt eine Gegenüberstellung des Anteils der kathol. Bevölkerung der deutschen Bundesländer mit der Häufigkeitsziffer legalisierter Schwangerschaftsunterbrechungen (v. Rhoden). Wenn es einmal geheißen hatte, daß die Fruchtabtreibung wohl eine „Sünde vor Gott", nicht aber ein „Verbrechen vor den Menschen" darstelle, wenn man früher darauf hingewiesen hatte, daß bei der katholischen Bevölkerung Abtreibungen seltener als bei der protestantischen vorkämen, so sei eine Notiz der „Neuen Zeitung" aus einer Debatte des Österreichischen Parlaments vom 10.1. 64 erwähnt. Danach soll das katholische Wien die höchsten Abtreibungsziffern von allen Großstädten der Welt haben.
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Aussage und Gegenaussage sind leicht zu erstellen. —• Die Abortmentalität hat sich gewandelt: In der Abtreibung während der ersten Schwangerschaftsmonate sieht die Bevölkerung nichts Strafbares (Mehlan). Dies mag sich ebenfalls auf die Bereitschaft des Arztes, einem ihm gestellten Ansinnen zu folgen, ausgewirkt haben. Sicher hat für große Anteile unserer Gesellschaft auch die uneheliche Schwangerschaft ihren Makel verloren. Zudem könnten manche Frauen durch staatlich geförderte und gesteuerte Präventivmaßnahmen oder durch die Möglichkeit einer „legalen" Schwangerschaftsunterbrechung gar nicht mehr vor das Problem gestellt werden, sich abtreiben zu lassen. Vielfalt und Ausmaß zugestandener Indikationen einer legalisierten Schwangerschaftsunterbrechung nehmen Einfluß auf die Zahl krimineller Aborte (Bergander). Da die Strafandrohung in ihrer früheren Form und in ihrem Umfang bei der Bekämpfung der kriminellen Aborte versagt hatte, wurden in einigen Staaten die Indikationsstellungen zur legalen Schwangerschaftsunterbrechung erweitert. — Der Schwerpunkt solcher „Reformen" liegt in dem Bemühen, die Zahl illegaler Abtreibungen zu verringern (Simson). Ob dies jedoch gelingen wird, ist eine andere Frage. So wurde das Abtreibungsproblem in der UdSSR nach 1917 keinesfalls bedeutungslos, und Sjövall (Schweden) kommt sogar zu einer Simson entgegengesetzten Meinung. Er erwägt, ob derzeitig nicht die Zahl der Frauen, die sich der Möglichkeit einer legalen Schwangerschaftsunterbrechung bedienen, größer ist als der Kreis jener, die unter den alten Rechtsverhältnissen abgetrieben hätten. Innerhalb eines Jahrhunderts kommt es in Europa zur Industrialisierung, zu entscheidenden Fortschritten der Hygiene, verbunden mit dem Rückgang der Sterblichkeit und dem Anstieg der B e v ö l k e r u n g s z a h l e n . In anderen Ländern läuft dieser Prozeß in zeitlich gedrängterer Form ab. Um die Konsumnorm nicht der ungehemmten Proliferation zu opfern (Mackenroth), stehen verschiedene Wege offen. Man versucht, das generative Verhalten der Völker durch Präventivmaßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung und durch großzügige Behandlung sowie Erweiterung der Indikationsstellung zur legalen Schwangerschaftsunterbrechung zu rationalisieren. Kriminologisch sind diese Formen vom Abtreibungsproblem nicht zu lösen. 2.
Präventivmaßnahmen
Die katholische Sittenlehre untersagt sowohl die Anwendung von direkten Präventivmaßnahmen als auch eine legalisierte Unterbrechung aus medizinischer oder anderer Indikation (Papst Pius X I : Encyclica „Casti connubii" und Papst Pius XII in seiner Ansprache vor italienischen Hebammen am 29.12.1951). Die katholische Kirche
erlaubt lediglich die Einhaltung der Methode Knaus-Ogino. Zusammenfassend haben Harmsen und Fromm kürzlich über die aktuellen Methoden zur zeitweiligen Beschränkung d e r E m p f ä n g n i s f ä h i g k e i t berichtet. Zu den älteren Schwangerschaftsverhütungsmaßnahmen sind neue getreten. Die Fragen des Erfolges und auch der Nebenwirkungen hormoneller Antikonzeptionsmittel, besonders bei einem Gebrauch über Jahre, sind erst in den letzten Jahren (Pinkus u. v. a.) diskutiert worden. Doch scheint es bei allen Methoden zweifelhaft, ob eine geplante, an den Willen und die Intelligenz der Beteiligten nicht unerhebliche Anforderungen stellende Verhütungstechnik die Zahl der Schwängerungen eindämmen kann. Die Partner sind zumeist weder willens noch fähig, sich der Mittel zu bedienen (Ekblad). Die Kosten für den Jahresverbrauch an Antikonzeptionsmitteln seien höher als die für ein bis zwei Unterbrechungen, nehmen japanische Frauen an. Die Reduzierung der Geburtenzahl geht nach Mehlan in Höhe von 1,12 Millionen in den letzten 10 Jahren nur zu 25°/o zu Lasten einer Empfängniskontrolle durch mechanische oder chemische Mittel. 3. Legale
Schwangerschaftsunterbrechung
Diese Bezeichnung wird trotz ihrer sprachlichen Unrichtigkeit (Köstler) gebraucht, denn der Begriff Unterbrechung schließt eine „Fortsetzung" ein, was hier gerade ausgeschlossen werden soll. Unter Schwangerschaftsunterbrechung werden unter Einwilligung der Frau Eingriffe nach den Regeln ärztlicher Kunst verstanden, die zum Fruchttod führen. Die Indikationsstellungen werden kurz angedeutet: a) I n d i c a t i o sine i n d i c a t i o n e . Nach der Oktoberrevolution 1917 bis zum Ärztekongreß 1936 war es der russischen Frau unter der Doktrin des Rechts auf den eigenen Körper erlaubt, eine Schwangerschaft durch Ärzte unterbrechen zu lassen. In den ersten 6 y2 Jahren nach Freigabe der Interruption wurden in Rußland ca 1,5 Mill, legale Schwangerschaftsunterbrechungen durchgeführt (Klyanowski). b) Medizinische I n d i k a t i o n . Schwangerschaft oder Geburt würden das mütterliche Leben ernstlich gefährden oder einen dauernden schweren Schaden setzen. Diese Folgen sind durch eine Schwangerschaftsunterbrechung abwendbar. Die Gefährdung muß zum Zeitpunkt des Eingriffs noch vorliegen. Bei der absoluten Indikation aus vitaler Indikation kann das Leben der Mutter allein durch eine Schwangerschaftsunterbrechung gerettet werden. Bei der relativen Indikation — die in weitaus der Mehrzahl der Fälle vorliegt — spricht man von einer prophylaktischen Indikation. Es besteht bei letzterer keine anerkannt sichere Gefahr für Leben und Gesundheit der Frau.
Abtreibung Die katholische Sittenlehre lehnt beide Formen ab. Das Leben eines unschuldigen Menschen ist unantastbar. Papst Pius XII. forderte Ehrfurcht vor dem Leben des Menschen von der E m p f ä n g nis bis zum Tode (19. X. 1953). Nach der Entscheidung des Hl. Officium vom 4. 5.1898 sind lediglich indirekte Abtreibungen aus schwerwiegenden Gründen sowie die Einleitung einer Frühgeburt, bei der das Kind schon lebensfähig, aber sehr gefährdet ist, erlaubt. — Keine spezielle Gesetzgebung zur Schwangerschaftsunterbrechung liegt in Spanien, Belgien, Holland vor. In der Mehrzahl der Staaten, so auch in der Bundesrepublik, wird nur die Schwangerschaftsunterbrechung aus medizinischer Indikation anerkannt. Die Rechtsverhältnisse der Bundesrepublik wurden von Eb. Schmidt, die österreichischen von Malaniuk dargelegt. Nach Eb. Schmidt gibt es keine gemischten medizinisch-sozialen Indikationsstellungen: „Stellt der Arzt unter Einbeziehung ungünstiger, den Krankheitszustand und -verlauf erheblich beeinträchtigender sozialer Verhältnisse fest, daß dieser Patient in dieser Lage in Hinblick auf diese bestimmte Krankheit an Leben und Gesundheit durch die Schwangerschaft als solche gefährdet sei", so liegt eine medizinische Indikation vor, weil der medizinische Gesichtspunkt die Prognose entscheidend bestimmt. c) Die e u g e n i s c h e I n d i k a t i o n zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses wird vielfach mit der medizinischen Indikation verbunden. Indikationsbereich: Schwere Mißbildungen, schwere Erbkrankheiten, schwere Strahlenschäden der Frucht. — Schwierigkeit der Erkennung und der Prognose. — Das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" vom 27.9.1950, Gesetzblatt DDR 1950, 1037ff. läßt außer dem medizinischen als zweiten Rechtfertigungsgrund nur noch den eugenischen zu. d) Die Nachkriegszeit konfrontierte uns mit der e t h i s c h e n Indikation. Es muß nachgewiesen werden, daß die Frau wider ihren Willen durch eine strafbare Handlung (Notzucht, aber auch Blutschande) geschwängert worden war, selbst eine gerichtliche Untersuchung wird gefordert. Naujoks bejaht diese Indikation aus ärztlicher Sicht in Einzelfällen. Die Schändungshandlung müßte allerdings durch das Ergebnis kriminalpolizeilicher Ermittlungen abgesichert sein. In den jüngsten Diskussionen über das Problem der Austragungspflicht des keimenden Lebens und den Stellungnahmen zum § 160 Ε StGB wurden eine Reihe wichtiger Fragen angeschnitten: Personalität des Embryo, Recht des werdenden Menschenlebens, Beginn der Rechtsfähigkeit, das Recht der Frau, eine ihr aufgezwungene Schwangerschaft nicht austragen zu wollen. In den Kreis der Überlegungen wurde ferner einbezogen, daß sich ein großer Anteil der Notzüchter aus Schwachsinnigen,
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Epileptikern, Schizophrenen, Hirngeschädigten und Psychopathen zusammensetzen soll. Auch diese Indikationsstellung kann mit der medizinischen gekoppelt sein: reaktive Depression, unmittelbare Selbstmordgefahr. Naujoks streift die negative Einstellung von Seiten der Juristen zu diesem Problem. e) Wirtschaftliche Notzeiten, verlorene Kriege lassen die soziale Indikation aufleben. Unterschieden wird die absolute Indikation bei Vorliegen von schweren Notständen.—Schwierigkeit, diesen Zustand zu bemessen. Auf die gemischten sozial-medizinischen Indikationen wurde hingewiesen. In Ländern mit rechtlich erlaubter sozialer Indikation sind die Interruptionsziffern aus dieser Begründung erstaunlich hoch. So wurdenin Japan zwei Jahre nach der Einführung der sozialen Indikation von 8 000 speziell lizensierten Ärzten vorgenommen: 1949 243 448 Unterbrechungen 1950 489110 1952 805 524 „ (Robin) 1956 1159 000 „ (Schinz) 1958 1 228 000 „ (Mehlan) 1959 1098 000 Das Material ist nicht vollständig, da auch Ärzte ohne Lizenz gegen Honorar tätig sind. Die wirklichen Abortzahlen werden auf 2—2 y2 Millionen pro Jahr geschätzt. 83% der obengenannten Interruptionen erfolgten aus ökonomischen Gründen. In einer Frauenklinik in Tokio sogar etwa zu 95% im Jahre 1957 (Miramatsu, zit. bei Mehlan). Unterbrechungen sind in Japan bis zum 8. (!!) Schwangerschaftsmonat erlaubt. 1956 wurde die Schwangerschaftsunterbrechung in U n g a r n legalisiert. Die Gravidität darf nicht älter als 3 Monate sein. 42% der Unterbrechungen waren 1956 in der sozialen Indikation begründet. 1957 waren es bereits 94,4°/o· In Debreczen entfielen 1957 70,5°/o aller Unterbrechungen auf die soziale Indikation. Bei einer Bevölkerung von etwa 10 Millionen rechnet man etwa mit 150000 künstlichen Aborten. Mehlan spricht, die Entwicklung in Japan und Ungarn vergleichend, von einer Abortepidemie; der Begriff der „Abortsucht" wurde gebildet. Wegen der veränderten Abortmentalität der Frauen, wegen des negativen Einflusses auf den Lebenswandel, fordern einzelne Ärzte eine Rückkehr zu verschärften Abortgesetzen. Auch in Ungarn wurde ein merklicher Rückgang der kriminellen Aborte trotz Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung nicht verzeichnet (Mehlan). Es soll sich vorwiegend um Frauen handeln, die ihre Schwangerschaft unter allen Umständen zu verheimlichen suchen. — In den Jahren 1946—50 wurde die soziale Indikation in der DDR eingeführt. Je großzügiger die Kommissionen entschieden, um so stärker wurden die Abortwünsche der Frauen, gleichzeitig stiegen
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Abtreibung
aber auch die Zahlen der kriminellen Aborte (Mehlan). Ein weiteres Beispiel gibt Schweden: Wie kurzfristig die Hilfe ist, die die Frauen durch eine legale Unterbrechung erfahren, berichten Ekblad, Hernett und Golljantzki. Ekblad hielt Verbindung mit einer Anzahl von Frauen nach vollzogener legaler Unterbrechung. Ein hoher Prozentsatz war innerhalb von 22 Monaten erneut schwanger, 40% der Verheirateten. — Von den Frauen, die ζ. Z. der Unterbrechung mit ihrem Partner gebrochen hatten, wurden 25% innerhalb von 22 Monaten von einem andern Mann — gegen ihren Willen — erneut schwanger. 10% wurden willentlich schwanger. — Von 85 Frauen, die im gleichen Zeitraum ungewollt von dem gleichen Mann geschwängert worden waren, brachten 50% ein Kind zur Welt. 10% hatten einen spontanen Abort. 40% stellten einen erneuten Unterbrechungsantrag, 18% mit Wunsch auf gleichzeitige Sterilisation. Bei Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung steigt also nicht nur die Zahl der Untersuchungen, die gleichen Frauen stellen auch wiederholt Anträge. Der Zweck der Präventivmaßnahmen wird nicht erreicht. Für das Jahr 1925 liegt eine r u s s i s c h e Statistik über w i e d e r h o l t e Aborte bei gleichen Frauen vor (Hernett). Bei einem Auswahlmaterial von 3000 Aborten entfielen auf 100 verheiratete Frauen: erstmaliger Abort zweiter „ dritter „ vierter „ fünf Aborte und mehr
48,5% 27,3% 12,9% 6,0% 6,3%
Bei einer Frau wurden 16 wiederholte Aborte, bei einer anderen 19 gezählt. Bei einer Frau waren in einem Jahr 4 Aborte provoziert worden (Golljantzki). In Japan nahm man bei einer Frau 7 mal eine Unterbrechung vor. Da eine nicht kleine Zahl der E h e s c h l i e ß u n g e n durch die Tatsache einer eingetretenen Gravidität veranlaßt wird, könnte die legale Schwangerschaftsunterbrechung auch Einfluß auf die Eheschließungen nehmen. Im wesentlichen sind dreierlei Gründe für die Einstellung zur Schwangerschaftsunterbrechung zu unterscheiden: Doktrinäre Gründe — übrigens mit verschiedenen Vorzeichen — oder Versuch der Dezimierung illegaler Aborte oder bevölkerungspolitische Gründe. Japan hat die Schwangerschaftsunterbrechung ganz in den Dienst der Geburtenregelung gestellt. Aus den Untersuchungen in der UdSSR muß gefolgert werden, daß die großzügige Behandlung der Schwangerschaftsunterbrechung ein unzuläng-
liches Mittel im Kampf gegen die Abtreibung darstellt, v. Rhoden resümiert: Jede Lockerung oder Erweiterung der Indikationsstellung erweist sich als Anreiz zur gesteigerten kriminellen Abtreibung, selbst die Legalisierung jeglichen Abortes stellt keine Lösung dar. Mehlan unterscheidet 4 Gruppen von gesetzgeberischen Maßnahmen zur Bekämpfung des artefiziellen Aborts: Gruppe 1: Jeder provozierte Abort ist mit Strafe bedroht. Keine Anerkennung einer medizinischen, sondern nur einer vitalen Indikation (Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Spanien). Gruppe 2: Strenge med. Indikation (Albanien, Deutschland, Norwegen, Österreich, USA). Gruppe 3: Erweiterte medizinische und sozialmedizinische Indikation (Dänemark, Finnland, Indien, Japan, Schweden, Schweiz). Gruppe 4: Legalisierung der Schwangerschaftsunterbrechung (Bulgarien, CSR, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Ungarn, UdSSR). Sicher ist es zweckdienlich, nicht mit Zahlen, sondern mit Häufigkeitsziffern durchgeführter Schwangerschaftsunterbrechungen vergleichend zu arbeiten. Diese auf 10000 Einwohner bezogene Unterbrechungsziffer (Mehlan) sollte man vielleicht dadurch korrigieren, daß nicht auf Einwohner, sondern auf Frauen im gebärfähigen Alter Bezug genommen wird. 4. Abtreibung in Deutschland
Zwei Wege öffnen sich, um den Jahresgang der A b t r e i b u n g in Deutschland zu erkennen: Die Häufigkeitsziffer neugemeldeter Fälle auf 100 000 der Bevölkerung sowie die Zahl der Verurteilungen. In Deutschland wurden verurteilt: 1882 1900 1911/14 1920/29 1934/36 1937 1938 1939
191 Personen 411 1405 im Jahresdurchschnitt 5388 3615 5737 6983 4943
Greifen wir einen einzelnen Landgerichtsbezirk heraus: In Hamburg wurden im Zeitraum 1926/36 abgeurteilt bzw. verurteilt:
Abtreibung
Jahr 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936
Abgeurteilte davon insgesamt: Verurteilte 140 125 87 78 92 52 37 27 80 150 192
110 106 74 70 65 49 28 24 69 120 176
darunter weiblich 87 88 57 53 55 39 19 20 56 100 134
Der Anstieg 1935/38 ist Ausdruck der schärferen Verfolgungsintensität im Dritten Reich. Diese macht sich auch in den Prozentsätzen der Vorbestraften innerhalb der Gesamtzahl der Verurteilten bemerkbar, ferner in dem Prozentsatz der — laut Kriminalstatistik — mehr als viermal Vorbestraften innerhalb der Zahl der Vorbestraften: Von den Verurteilten sind v o r b e s t r a f t : 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 20,1 | 21,5 22,6 37,0
24,4
20,0
H ä u f i g k e i t s z i f f e r / 1 0 0 000 der B e v ö l k e r u n g BRD 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
Bei den neugemeldeten Abtreibungsfällen in der Bundesrepublik wurden die Häufigkeitsziffern für die verschiedenen Orte der Anzeigeerstattung festgelegt: H ä u f i g k e i t s z i f f e r n / 1 0 0 0 0 0 der Wohnbevölkerung
von den Vorbestraften sind mehr als v i e r m a l vorbestraft:
16,0 I 16,4 | 17,0 I 18,5 | 18,6 | 15,5 | 15,3 115,0 Für die Zeit des 2. Weltkrieges liegen keine exakten Angaben vor. Auch während der ersten Nachkriegsjahre wurden infolge der Bevölkerungsbewegung und des Zusammenbruches des Staatsgefüges Delikte wie die Abtreibung kaum exakt erfaßt. Die Verfolgungsintensität war äußerst schwach. Andererseits kann die Zunahme legaler Unterbrechungen die Zahl illegaler Abtreibungen gerade in dieser Zeitspanne, bis zur Konsolidierung der staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, verringert haben. Der Nachkriegszustand, besonders aber der des letzten Jahrzehnts, kann anhand der Bundeskriminalstatistik sowie aus den Ermittlungs- bzw. Prozeßakten beurteilt werden. Zusätzlich sind Ausführungen der Kliniker, besonders von Naujoks, zu werten. Die Polizeiliche Kriminalstatistik der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d führt die Häufigkeitsziffern der Abtreibungen seit 1953 auf.
12,80 10,96 11,44 10,23 8,89 8,81 8,24 7,55 6,84 5,0
Man besitzt in diesen Zahlen einen gewissen Anhaltspunkt, die rückläufige Entwicklung hinsichtlich des Tatbestandes des § 218 summarisch zu erfassen. Ob das Absinken der Häufigkeitsziffern echt ist, muß sehr bezweifelt werden. Im Zustand des Wohlstands finden sich andere Wege, eine unerwünschte Schwangerschaft zu beseitigen. Es wird an die Erhebungen des Kinsey-Reports erinnert.
18,4 21,0
1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939
11
1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
Großstadt
Mittelstadt
Kleinstadt
Landgebiet
15,15 12,44 13,54 11,98 10,08 10,05 8,36 8,72 9,25 6,4
14,34 12,95 12,26 13,32 12,43 12,43 10,84 9,80 8,90 6,1
10,70 8,82 10,32 9,05 8,76 7,85 11,02 8,68 6,16 4,5
11,07 9,75 9,70 7,81 6,32 5,41 5,69 4,83 3,83 3,3
Kleinstädte und Landgebiete treten zurück. Da aber der Ort der Meldung nicht mit dem Tatort übereinzustimmen braucht, da bezüglich der Täterschaft und Teilnahme nicht differenziert worden ist, hat die Tabelle nur einen beschränkten Aussagewert. Unbestritten bleibt die Feststellung, daß die Großstadt schwangere Frauen, die abtreiben wollen, aus der Kleinstadt und den Landgebieten anzieht. Die Möglichkeit, Adressen von Abtreibern zu erfahren, und die Anonymität sind größer. Während 1957 ca. 70% der in der Bundesrepublik n e u g e m e l d e t e n Abtreibungsfälle a u f g e k l ä r t wurden, stieg der Anteil 1958/62 auf über 90%.
12
Abtreibung
Die Strafakten des Landgerichts Hamburg aus der Nachkriegszeit demonstrieren den Rückgang der Verfahren: Jahr
Abgeurteilte Davon insgesamt Verurteilte
1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959
Darunter weiblich
35 46 33 46 28 25 23 20 26 10
50 59 52 55 41 38 32 40 46 20
23 38 22 36 23 20 17 12 15 6
1950
Vergleichen wir den Jahresbefall an Abtreibungshandlungen mit dem der leg. Schwangerschaftsunterbrechungen !
Heranwachsend« u- Jugendliche
46
49
50
51
52
53
54
55
56
57
SB
59
60
61
G
Absolute Zahlen der von der Kriminalpolizei Hamburg verfolgten Falle in den Jahren 1946 — 196z
Abb. 3
52
S3
54
55
56
— Abb. 4 —
Im deutschen Schrifttum fehlen eingehende kriminologische Auswertungen des Materials dieser Jahre. Brodmeyer konnte im LG-Bezirk Hamburg Verfahrensakten gegen 461 Frauen mit 546 Handlungen gemäß § 218, I StGB, sowie gegen 172 Fremdabtreiber (§ 218, I I I StGB) in der Zeitspanne 1945—1959 auswerten. Zu entnehmen sind der Hamburger Kriminalstatistik ferner Unterlagen über 2231 Fälle aus der gleichen Referenzperiode — ohne Differenzierung in Täterschaft oder Teilnahme.
1946 47
51
A b s o l u t e Z a h l der A b g e u r t e i l t e n
1950
51
52
53
54
55
56
-
—
57
58
Froue-i und weibl. Hero η wad; seide
A b s o l u t e Z a h l der V e r u r t e i l t e n
— A b b . 'ia — In der Referenzperiode weichen die Angaben des Bundes nicht von der Hamburger Kriminalstatistik ab. Der Tiefstand 1946/47 ist unecht. Maxima heben sich für die Jahre 1950,1953,1957 ab. In den letzten Jahren sinkt die Frequenz. Die Aufgliederung der 2231 wegen Abtreibungshandlungen verfolgten Fälle in 69% Frauen, 25,7% Männer sowie 5,3% Heranwachsende und Jugendliche zeigt ähnliche Größenverhältnisse wie in der Bundesstatistik. Werden die kriminalpolizeilich aufgeklärten Fälle in der Bundesrepublik nach Tätern differenziert, so sind rund 30% Männer und 70% Frauen (1953—1962). Die Verhältniszahlen haben sich in dieser Periode nur insofern geändert, als z u n e h m e n d H e r a n w a c h s e n d e und J u g e n d l i c h e von der Kripo erfaßt wurden. Der J a h r e s g a n g der A b g e u r t e i l t e n und V e r u r t e i l t e n zeigt in Hamburg Maxima 1951 und 1953. Nach einem zwischenzeitlichen Absinken ist die Zahl der Verurteilungen 1958 wieder angestiegen. Nach Jugendstrafrecht (§ 105 JGG) wurde in der Referenzperiode keiner der Heranwachsenden bestraft. Die Darstellungen sagen relativ wenig aus, da der Tatbestand des § 218 StGB summarisch behandelt wurde. Außerdem gibt der Jahresgang der Verurteilungen nicht den der Taten wieder. Denn nur in 35,7% begingen die Frauen die Abtreibungshandlungen im Anklagejahr, in 25°/0 im Vorjahr usw. Die Ermittlungs- und Prozeßakten dagegen legen den Z e i t p u n k t der H a n d l u n g e n fest. Es werden die Abtreibungshandlungen den Anträgen zur legalen Schwangerschaftsunterbrechung gegenübergestellt.
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Abtreibung
A b t r e i b u n g s h a n d l u n g e n nach den P r o l e ß -
70 90 90 40 30 ao
10 1949 49 47 49 4» 50 31 92 03 94 99 99 97 99 90 — Abb. 5 —
kleinen Zahlen nicht für die verminderte Frequenz, sondern für eine geringe kriminelle Reizbarkeit der Bevölkerung und für die von sozial ethischen Wertungen beeinflußte Ernstlichkeit des Willens zur Strafverfolgung (Malaniuk) auswerten. Die letztere wird durch 2 Relationen zu belegen sein: Die Belastungsziffern einer Population (100000 Einwohner) mit den der Polizei bekannt gewordenen Straftaten und mit Verurteilten (100000 strafmündige Personen). Seit Jahren liegt die Kriminalitätsbelastungsziffer Hamburgs mit an der Spitze der Bundesländer, mit der Verurteilungsziffer steht Hamburg weitaus am niedrigsten. Man könnte erwägen, ob nicht etwa der Anteil krimineller Abtreibungen durch eine weitherzige Behandlung der Anträge zur legalen Schwangerschaftsunterbrechung verringert würde. Man macht in Hamburg die gleichen Erfahrungen wie in anderen Ländern. Die großzügige Auslegung und Behandlung legaler Schwangerschaftsunterbrechungen nimmt keinen Einfluß auf die Zahl der kriminellen Aborte. 5. Kriminologische
— Abb. 6 — Sowohl die Anträge zur legalen Unterbrechung als auch die Abortaufnahmen der staatlichen Krankenhäuser und die bekannt gewordenen Abtreibungshandlungen sind in den letzten Jahren zurückgegangen. Spiegelt sich eine echte Entwicklung wider ? Sind die für Hamburg geltenden Ergebnisse ohne Vorbehalt auf die Bundesrepublik zu übertragen ? Nach der Darstellung kriminalpolizeilicher Neumeldungen von Abtreibungen zu urteilen, scheint es zu sein. Dagegen sprechen die sehr kritischen Äußerungen von Schubert bzw. v. Rhoden. Für die Jahre 1954 und 1955 liegen die absoluten Zahlen der in den einzelnen L ä n d e r n der B u n d e s r e p u b l i k wegen Abtreibung v e r u r t e i l t e n Personen vor (Statistik der B R D . , Band 172, Nr. 11. Aus Heft Nr. 3 des gleichen Bandes ist die strafmündige Bevölkerung der einzelnen Bundesländer zu entnehmen, so daß Verhältniszahlen gebildet werden konnten). Es wurden die Häufigkeitsziffern auf 100 000 strafmündiger Personen des jeweiligen Bundeslandes berechnet. Die Darstellungen beweisen nicht, daß im Bundesland Hamburg weniger abgetrieben wird als anderenorts, sondern spricht eher für eine geringere Verfolgungsintensität. Wenn in einem dichter besiedelten Bezirk der Stadt mit überwiegender Arbeiterbevölkerung in der Nachkriegszeit bis 1959 nur 22 Frauen wegen Abtreibung verurteilt wurden, lassen sich die
Einzelfaklen
Was ist dem Inhalt der Prozeßunterlagen zu entnehmen? Es hieße eine simplification terrible vornehmen, wenn nur die folgenden Punkte herausgestellt würden: nicht verheiratet, zu viele Kinder, zu jung, zu alt. Die weitaus meisten Abtreibungen werden im 3. S c h w a n g e r s c h a f t s m o n a t vorgenommen. Dies trifft sowohl für Hamburg als auch für Paris (Sutter) zu. Für die Abortaufnahmen der Kliniken wird im allgemeinen gleiches festgestellt (Küstner, Bayer und Zangemeister sowie Kern). Wenn Kliniker darauf hingewiesen haben, daß in den letzten Jahren kriminelle Aborte selbst in höherem Schwangerschaftsalter vorgenommen werden würden, da dann der instrumenteile Eingriff leichter und die Komplikationen geringer wären, so können wir aus den Prozeßunterlagen keine Bestätigung ableiten. Interessanterweise waren im Material der Kölner Univ.-Frauenklinik die Graviditäten der fieberhaften Fehlgeburten im Durchschnitt um einen Monat älter als die afebrilen. Kern meint, daß mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft immer energischere — vielleicht auch fortgesetzte — Maßnahmen ergriffen werden. Diese Frauen sind zumeist auch an Jahren älter. Auch der Kalendermonat der Abtreibungshandlungen wurde ermittelt. Zum Vergleich wird die Polizeiliche Kriminalstatistik, die den Zeitpunkt der Meldung, nicht den der Handlung registriert, herangezogen. Beide Darstellungen zeigen Maxima im Monat März und einen Tiefpunkt am Jahresende. Man könnte folgern, daß Schwängerungen, die später zu Abtreibungshandlungen führen, bevorzugt zum Jahreswechsel
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Abtreibung
•S
ζ
3
ε
Verkehrsdelikte). E. Forensisch-psychiatrische Fragen Vom medizinischen Standpunkt aus ist dei Alkoholrausch, allgemein gesprochen, eine psychiatrische Störung mit den Symptomen einer Bewußtseinstrübung. Somit wären an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Berauschten zumindest begründete Zweifel zu äußern. Praktisch freilich ist es so, daß die psychiatrische Beurteilung fast immer nachträglich kommt und daß damit die ohnehin nicht leichte Diagnose des Grades und Umfanges der Bewußtseinstrübung im Rausch kaum je mit genügender Sicherheit festzustellen ist. Zudem besteht im gewöhnlichen Rausch häufig ein größeres Maß von „Selbstkontrolle" als in Bewußtseinsstörungen anderer Art und anderer Genese. Wenn sich ein schwerer oder gar „sinnloser" Rausch nachweisen läßt, wird der psychiatrische Sachverständige kaum daran zweifeln, daß die Voraussetzungen für die verminderte Zurechnungsfähigkeit (§ 61, Abs. 2 StGB) gegeben sind. Der p a t h o l o g i s c h e R a u s c h als abnorme Reaktion von Individuen auf geringe Mengen von Alkohol erfüllt die Voraussetzungen der strafrechtlichen Unzurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 1 StGB) nach Meinung wohl aller Psychiater. Dies gilt auch für die Alkoholpsychosen. Die Bestimmung des §330a StGB über die „Rauschtaten" lindern vielleicht das innere Unbehagen des Psychiaters, für den der Rausch ein Syndrom gestörten Bewußtseins ist und der dennoch den Berauschten für mehr oder minder zurechnungsfähig erklärt. Gleichzeitig aber spiegelt dieser Paragraph die allgemeine moralische Überzeugung wider, nach der Delikte im Rausch nicht straflos bleiben sollen, da die Trunkenheit, auch wenn sie eine Bewußtseinstrübung ist, eben doch gewissermaßen selbst erzeugt wurde. Nicht das Delikt im Rausch, sondern der Rausch als Delikt wird bestraft. Der psychiatrische Gutachter hat damit die zwiefache Aufgabe zu erfüllen, 1) nachzuweisen, daß die
Alkoholismus
jeweilige Tat „in einem, die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch" ( § 5 1 Abs. 1) geschah; 2) daß der Angeklagte „sich vorsätzlich oder fahrlässig durch den Genuß geistiger Getränke" in diesen Rausch versetzt hatte. Die Annahme der Fahrlässigkeit trifft im allgemeinen für diejenigen zu, die aus eigener, wiederholter Erfahrung wissen, daß sie alkoholintolerant sind oder daß sie schwer aufhören können zu trinken, wenn sie einmal begonnen haben. Bei chronischen Alkoholikern dagegen, bei denen das Trinken zur körperlich bedingten Sucht geworden ist, wird der Psychiater das Hineingleiten in den Rausch nicht als fahrlässig bewerten können. Monographien E. P o l i s c h : Soziale und persönliche Bedingungen des chronischen Alkoholismus. 1933. N. A. D a y t o n : New Facts on Mental Disorders. 1940. Ο. B e n e d e t t i : Die Alkoholhalluzinosen. 1952. F. L i c k i n t : Medikamentöse Therapie dee Alkoholismus. 1953. A l c o h o l i c s A n o n y m u s . The Story of how many Thousands of Men and Women have recovered from Alcoholism. 1955. —: Twelve Steps and twelve Traditions of Alcoholics Anonymus. 1952. Ο. D i e t h e l m : Etiology of Chronic Alcoholism. 1955. E.M. J e l l i n e k : Das Problem des Alkoholismus. Schrif tenr. aus d. Gebiet öffentl. Oesundheitsw. Ν. 3, 1956. Η. E l b e l u. F. S c h l e y e r : Blutalkohol. 1956. G. Ν. T h o m p s o n (Ed.): Alcoholism. 1956. Α. H a b e r n o l l : Das Problem des Alkoholismus. 195Θ. H. J. C l i n e b e l l : Understanding and Counseling the Alcoholic through Religion and Psychology. 1956. R. J. W i l l i a m s : Nutrition and Alcoholism. 1957. B. S. W a l l e r s t e l n : Hospital Treatment of Alcoholism. London 1957. J. O e r c h o w und Β. W i t t l i c h : Experimentelle Untersuchungen zum Kachweis alkoholbedingter Persönlichkeitsveränderungen. (Ein Schrlft&nderungstest). I. Mitteilung, 1957. I I . Mitt. 1960. Schriften Bund f. Alkoholfreien Verkehr. Hamburg. Ch. R. S n y d e r : Alcohol and the Jews. 1958. A. Z. P f e f f e r : Alcoholism. 1958. D. J. P i t t m a n and C. W . G o r d o n : Revolving Door. A Study of the Chronic Police Case Inebriates. 1958. Η. E. U n g e r l e i d e r (Ed.): Life Insurance and Medicine. 1958. R. B i l z : Trinker. 1958. Ο. E i n b e r g , G. I n g h e , Τ. L i n d b e r g : Erimlnalitet og alkoholmißbruck, Stockholm. 1957. Η. v. K e y s e r l i n g k : Der Alkoholismus als soziales Problem. 1959. V. W a a b e n , H. S c h u l t e , J. L 6 a n t £ , G. S i m e o n , E . S e r i n i : Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht (dogmatisch, kriminologisch, rechtsvergleichend). Schriftenreihe der Ges. f. Rechtsvergleichung Heft 8. I960. N. C h r i s t i e , Tvangsarbeid og alkoholbruk. Oslo 1960. W. B a u m e i s t e r : Taschenbuch der Suchtkrankenfürsorge, 2. Aufl. I960 (mit ausführl. Lit. Verz. und Angabe der deutschsprachigen Fachzeitschriften). F. L a u b e n t h a l (Hrsg.), Sucht und Mißbrauch. Ein kurzgefaßtes Handbuch für Ärzte, Juristen, Pädagogen. 1964. (Eine reiche Quelle für eine weitere Information über alle wesentlichen Probleme des Alkoholismus.) Zeitschriftenaufsätze W . L . V o e g t l e i n : Treatment of Alcoholism by Establishing Conditioned Reflex. Am. J. M. Sc. Bd. 199 (1940) S. 802.
R. R. B a l e s : Cultural Differences in Rates of Alcoholism. Quart. J. Stud. Alcohol. Bd. 6 (1946) S. 480.
41
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Alkoholismus — Alterskriminalität
Aueländische Zeitschriften Englisch: „British Journal of Addiction to Alcohol and other Drugs" (seit 1947). „British Journal of Inebriety" (seit 1903). Kanada: „Alcoholism; Research, Education and Treatment" (seit 1954). Französisch: „Revue de l'Alcoolisme" (seit 1954). „Question de rAlcool", Lausanne (seit 1947).
U. 8. Α.: „Quarterly Journal of Studies on Alcoholism" (seit 1940). „National Committee on Alcoholism" (seit 1944). „Alcohol Hygiene" (seit 1954). International: „The International Journal of Alcohol and Alcoholism" (Blackwell Scientific Publications, Oxford, England) (seit 1955). WALTER JAHRREISS
ALTERSKRIMINALITÄT Zu den Alterskriminellen zählt ein besonderer kleiner Täterkreis aus der größeren Delinquentengruppe der Spätkriminellen. Während die Begriffe Frühkriminalität und Spätkriminalität in erster Linie den zeitlichen Beginn krimineller Handlungen innerhalb eines Lebensabschnittes bis 30 Jahre einerseits und jenseits 30 Jahre andererseits trennen sollen, kennzeichnen die Begriffe Alterskriminalität und Jugendkriminalität Tätergruppen, deren Taten im Zusammenhang mit dem besonderen an die Lebensphase gebundenen biologisch-psychologischen Bedingungen gesehen werden müssen. Auf dieses Bedingungsverhältnis hat für den alternden und greisen Täter wohl als erster Friedreich in seinem „System der gerichtlichen Psychologie" 1842 hingewiesen. Aber erst um die Jahrhundertwende setzte eine systematische intensive Behandlung der Probleme im Zusammenhang mit der Alterskriminalität ein. Kirn, Zingerle, Leppmann, Aschaffenburg, Hübner, Bresler u. a. haben das Wesen der Alterskriminalität für ihre Zeit und Gesellschaftsordnung schlechthin erschöpfend dargestellt. Schon damals wurde klar gesehen, daß eine erste Straftat im höheren Lebensalter bereits vor Eintritt schwereren geistigen Verfalls (senile Demenz) die altersbedingte Wesenswandlung anzeigen kann. Die Untersuchungen richteten sich ganz überwiegend auf den alternden oder greisen Sittlichkeitsverbrecher. Erst v. Hentig wies 1927 in einer Studie über die Inveterationserscheinungen bei europäischen Bevölkerungsgruppen und ihre kriminologische Bedeutung darauf hin, daß die Schwankungen im Bevölkerungsaufbau einzelner Länder einen wesentlichen Anteil am kriminalpolitischen Profil in der Folgezeit gewinnen würden. Er gründete seine Voraussage 1. auf die biologische Sonderstellung und ihre sozialen Auswirkungen bei den älteren, zahlenmäßig wachsenden Bevölke-
rungsanteilen und 2. auf eine sich wandelnde seelische Reaktivität der älteren Menschen. Wenig später fand v. Hentig selbst schon eine gewisse Bestätigung seiner Voraussage in der englischen Kriminalstatistik von 1930, die eine Zunahme der Gesamtkriminalität in den Altersklassen 50 bis 60 Jahre und über 60 Jahre von 7 bzw. 6% auswies. Eine derartige Steigerung hatte es bis dahin weder in der englischen noch in der Kriminalstatistik des Deutschen Reiches gegeben. Als Olbermann jedoch im Jahre 1936 das Problem wieder aufgriff und den zahlenmäßigen Anteil der präsenilen und senilen Delinquenten unter den Kriminellen festzustellen suchte, zeigte sich nun allerdings ein Rückgang der Altersverhältnisziffer in den untersuchten Vergleichsjahren 1910 und 1933. Uberblickt man heute die Statistik der Alterskriminalität, so ergibt sich eine Belastung älterer Bevölkerungsanteile mit Kriminellen von 0,5%. Diese Belastung beträgt bei jüngeren Jahrgängen 1 bis 2%. Im übrigen zeigt die Entwicklungslinie der Alterskriminalität seit Einführung der Kriminalstatistik des Deutschen Reiches im Jahre 1882 eine erstaunliche Konstanz der Verhältnisziffern für die Altersgruppe über 60 Jahre. Berücksichtigt man, daß die Straftatenliste seit Einführung dieser Kriminalstatistik wesentlich erweitert wurde, so kann nur auf einen Rückgang der kriminellen Aktivität in den höheren Altersklassen geschlossen werden. Auch leichte Schwankungen im Trend dieser Altersgruppe dürften viel eher durch veränderte Strafverfolgungsintensität bei einzelnen Deliktsformen bedingt gewesen und nicht so sehr prägnanter Ausdruck einer wechselnden kriminellen Aktivität wie in anderen Altersklassen sein. Aber es darf nicht übersehen werden, daß sich die Verhältnisse in einzelnen Deliktsgruppen auch bei den Alterskriminellen erheblich ändern können. Immerhin wird man aus der Übersicht schließen dürfen, daß im kriminalpolitischen Profil der über 60 jährigen „Konjunkturschwankungen", die durch gesellschaftliche Umlagerungsprozesse bedingt sind, in der Regel nicht so stark zum Ausdruck kommen wie bei jüngeren Menschen. Daß mit zunehmender Überalterung einer Bevölkerung auch die absolute Straftatenzahl im Bereich der Alterskriminalität zunimmt, wird man erwarten dürfen. Eine Untersuchung für Schweizer Verhältnisse ergab in den Vergleichsjahren 1934 und 1950 einen Zuwachs krimineller Handlungen der über 60jährigen Bevölkerungsanteile von 527 auf 877, d. h. die Alterskriminalität stieg hier um 60% gegenüber einem Zuwachs in der Gesamtkriminalität von 8% in den gleichen Jahren. . Aufschlußreicher als die Betrachtung der Gesamtkriminalität ist eine Untersuchung des statistischen Profils für alternde Kriminelle in einzelnen Straftatengruppen. Nach der Kriminal-
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AJterskriminalität Diebstahl in Verhältnisziffern
bis 21 21—40 40-60 üb. 60
J J J J
Gesamt
1900—1910 1910-1913
1882—1890
1890—1900
305 289 229 64
327 239 135 43
262 246 125 39
887
744
672
28—32
34—36
60—53
63—57
283 223 79 23
251 200 45 15
202 157 34 13
385 272 105 20
350 169 57 12
608
511
406
782
588
Betrug in Verhältnisziffern (1882—1957)
bis 21 21—40 40—60 üb. 60
J. J. . . J. . . J
Gesamt
1882-1890
1890-1900
1900-1910
1910-1913
28—32
44 63 34 9
49 93 44 12
44 96 44 12
39 106 46 11
150
198
196
202
34—36
54—67
48 172 51 14
33 106 42 13
57 157 72 10
285
194
295
1957
Betrug in Verhältnisziffern (1950—1957)
bis 21 21-40 40—60 üb. 60 Gesamt
J. J. J. J.
1950
1951
1952
1953
1954
1955
1956
52 86 34 6
50 122 58 9
49 155 79 11
53 181 100 13
43 212 128 14
54 157 60 10
62 168 64 9
178
239
294
347
397
281
303
statistik ist der einfache Diebstahl insgesamt und besonders im höheren Lebensalter nach der Jahrhundertwende seltener geworden. Der Entwicklungsgegensatz zwischen über 60 und unter 21 Jahre alten Tätern ist besonders deutlich, und man kann im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation verschiedener Bevölkerungsgruppen bei uns sagen, daß der Diebstahl in jenen Altersklassen am häufigsten vorkommt, die von wirtschaftlicher Not am wenigsten betroffen sind, ja denen es wirtschaftlich so gut ergeht wie zu keiner Zeit vorher. Bei dem Betrug ist in der Kriminalstatistik im allgemeinen die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Konjunkturschwankungen offensichtlich. Sie wirkt sich auch auf die Straftatenzahl in den über 60jährigen Bevölkerungsanteilen aus, insofern als besonders schwierige wirtschaftliche Situationen eine Straftatenzunahme bedingen, so ζ. B. in den Jahren um 1930 und in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts, d. h. nach der Währungsumstellung 1948 und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen. Untersucht man nämlich die Einzeljahrgänge der Kriminalstatistik von 1950 bis 1957, so ergibt sich aus den Verhältnisziffern bis zum Jahre 1954 für alle über 21 Jahre alten Täter — also ein-
85 179 58 10 332
schließlich der Altersdelinquenten — eine sehr deutliche Zunahme der Verurteiltenzahl. In allen diesen Altersklassen liegen in den folgenden drei Jahren die Verhältnisziffern niedriger. Lediglich die Jugendlichen unter 21 zeigen nun einen deutlichen Anstieg, während bei den Verurteilten über 60 Jahre die Verhältnisziffern praktisch gleichbleiben. Es scheint, daß mit zunehmendem Alter die von einer wirtschaftlichen Konjunkturblüte ausgehenden Verlockungen und Antriebe zum Erlangen von Lebensfülle und Daseinsgenuß stetig abnehmen und sich jenseits des 60. Lebensjahres auf das kriminalpolitische Profil nicht mehr auswirken. Dementsprechend sind auch die Unter-' schiede zwischen den Tatmotiven alternder Täter einerseits und jugendlicher Delinquenten andererseits deutlich, und zwar insofern, als es den jüngeren Betrügern zu einem großen Teil auf schnellen Erfolg und schnellen Gewinn eines möglichst hohen Lebensstandards ankommt, während der ältere Delinquent entweder auf höherem wirtschaftlichem Niveau nicht mehr in der Lage ist, den einmal gewonnenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, weil es ihm an Leistungskraft mangelt oder weil ihm Kriegsereignisse, gesellschaftliche und wirtschaftliche Umschichtungen überhaupt
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Altcrskriminalität
eine schon einmal besessene solide Lebensgrundlage entzogen haben und er nun nicht mehr die Kraft besitzt, sie sich nach den gegenwärtig gültigen Wettbewerbsbedingungen neu zu schaffen. Die Betrüger „um des Zweckes willen" bilden, vom Tätertyp her gesehen, heute jedenfalls keine „farblose Gruppe". Besonders der alternde Delinquent in dieser Straftatengruppe hebt sich ganz wesentlich vom Tätertyp der Betrugsrückfälligen Stumpfls ab. Im forensisch-psychiatrischen Beurteilungsbereich ist zudem auffällig, daß sich unter den alternden Tätern — speziell den erstmalig straffälligen — fast niemals jene unter jüngeren Jahrgängen doch häufig anzutreffenden geltungssüchtigen, pseudologistischen oder hyperthymen Persönlichkeiten finden. Eine Reihe der Täter machen sich im höheren Lebensalter strafbar, weil es ihnen an Planungsfähigkeit, an Übersicht und Vorausschau mangelt. Beim Zwang zum Handeln, zum Erhalt oder Wiederaufbau einer Existenz in absteigender Lebenslinie werden die Verhältnisse dann unüberschaubar und unbeherrschbar. Eine weitere Gruppe alternder Betrugs-, Untreue- und auch Unterschlagungstäter wird von jenem Personenkreis gebildet, bei dem nicht so sehr die Bedrohung der Existenz tragendes Motiv ist, sondern der Anspruch auf ungeschmälerten Lebensgenuß. Häufig ist auch die Gelegenheitsdelinquenz der Versicherungs- und Handelsvertreter mit IncassoVollmacht. Auch die seit Jahrzehnten bisher zuverlässigen Kassenverwalter und Buchhalter gehören hierher. Sie verbrauchen u. U. mit einer zum Teil überraschenden Hemmungslosigkeit in kurzer Zeit hohe Beträge zur Verwirklichung lang gehegter Wünsche oder auch zur Befriedigung einfacher Genußbedürfnisse. Die Tatabläufe entsprechen oft denen der geltungssüchtig Haltschwachen im jüngeren Lebensalter, indem für kurze Zeit ein Wohlleben auf großem Fuß geführt wird. Nur handelt es sich bei diesen Tätern um das 60. Lebensjahr wohl nur ausnahmsweise um primär haltschwache oder geltungssttchtige Menschen. In der Regel sind sie zuvor straffrei geblieben und besitzen im allgemeinen nur gute berufliche Leumundszeugnisse. Unvollständige und nicht selten falsche Beurteilungen des Täters ergeben sich vor allem daraus, daß die lebensphasischen Motive oft einen Bezug zur Tat abgeben und daß die Tat insofern psychologisch auflösbar zu sein scheint. Das gilt auch für die Hemmungslosigkeit des Vorgehens; denn auch sie ist nicht ausschließlich als Ausdruck eines krankhaft oder durch Alter erheblich veränderten Persönlichkeitshintergrundes anzusehen. Sie kann aber charakteristischer Ausdruck einer endogenen fatalistisch-depressiven Grundstimmungsveränderung sein, die sich als selbständiger altersbedingter Verstimmungszustand abgrenzen läßt oder ein vital-emotionales Syndrom für einen tiefer greifen-
den hirnorganischen Prozeß darstellt. Es bleibt also in jedem Fall die Bedeutung der Auflösbarkeit eines sog. verständlichen Motivzusammenhanges sorgfältig abzuwägen, sobald nämlich der Eintritt lebensphasischer oder krankhafter vital-emotionaler Veränderungen zu berücksichtigen ist. Die individualpsychologisch verständliche Auflösung einer Tat dient dann nicht selten dem Verständnis eines Dritten oder dem Selbstverständnis des Täters, ohne aber etwas über den Einfluß überindividueller Faktoren als Handlungsursache auszusagen bzw. diesen Einfluß als nicht gegeben zu beweisen. Sofern also ein Mensch im höheren Lebensalter zum ersten Male straffällig wird, sollte auch bei einer scheinbar gegebenen Geschlossenheit des Zusammenhanges mit der Daseinsführung, dem Lebensstand und dem Persönlichkeitsbild des Täters der Motivzusammenhang besonders sorgfältig überprüft werden. Sofern Veränderungen des Vitalstatus entweder durch einen allgemeineren involutiven Leistungsrückgang oder durch schwere Kreislaufschäden, geschädigte Hirnfunktion und Verstimmungszustände nachweisbar sind, wird man selbst einwandfreien Motivzusammenhängen bei einem Menschen im höheren Lebensalter nicht mehr ohne weiteres trauen können. Auch der Umstand, daß ein Täter den sachlichen Anforderungen seines Berufes praktisch bis zur Aufdeckung einer Straftat gewachsen war, beweist nicht die Unversehrtheit seiner geistigen Leistungsfähigkeit. Es wird oft übersehen, daß gerade die hirnorganischen Syndrome sich langsam vollziehender Abbauzustände schon für den psychopathologisch geschulten Arzt im Beginn schwer diagnostizierbar sind. Auffälliger werden im allgemeinen nur Störungen der formal-intellektuellen Funktionen. Sie stehen aber nicht am Anfang eines Abbauprozesses im höheren Lebensalter. Am deutlichsten wird dieses bei den oft vorkommenden senilen Psychosen und Wahnbildungen. Denn sie setzen zumeist ein relatives Erhaltensein intellektueller Leistungen voraus. Das Berufsleben läßt mit seinen tradierten und festgefügten Schemen eine Veränderung typischer individueller Züge, wenn überhaupt, erst sehr spät erkennbar werden. Der Abbau emotionaler Dauerhaltungen, Vergröberungen der Affektivität, Änderungen des Stimmungsverhaltens zeigen sich eher im Kreise des Familienverbandes. Gerade für die berufliche Tätigkeit ist noch zu berücksichtigen, daß von der gewohnten, eigenständig durchformulierten Umwelt eine konstitutive Kraft für die Leistungsfähigkeit ausgeht. Hierin liegt auch ein wesentlicher Grund dafür, daß unter wechselnden Situationseinflüssen Verhaltenswidersprüche entstehen können, die bei rein intellektualistischer Interpretation nicht miteinander vereinbar erscheinen, aber doch im psychologischen oder richtiger psychopathologischen Bereich ihren Ort haben.
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Alterskriminalität Die größere Zahl der Eigentumsdelikte fällt im Gegensatz zu den Sittlichkeitsdelikten alternder Täter in eine präsenile Lebensphase. Das bedeutet trotz aller Abhängigkeit der Altersstraftaten von biologischen Umschichtungsprozessen durch die Nähe zum Erlebnisfeld jüngerer Menschen auch einen anderen Bezug zu sozialpsychischen und erlebnisreaktiven Motivbildungen, und zwar derart, daß sie vergleichbar bleiben mit den Motiven gleicher strafbarer Handlungen im jüngeren Lebensalter. Aber schon 1944 hat BürgerPrinz neben den in ihrer Sonderstellung zweifelsfrei charakterisierten Sexualdelinquenten im Rahmen der Eigentumsdelikte auf eine Gruppe alternder Krimineller hingewiesen, die 1. vorher niemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren; 2. alle völlig unauffällige Lebensläufe aufwiesen, so daß von jedem gesagt werden konnte, daß er auf seinem Platz sozial tadellos eingeordnet war; 3. überwiegend Eigentumsdelikte mit einer gewissen Hemmungslosigkeit begingen; 4. alle noch oder wieder berufstätig waren und denen von ihren Vorgesetzten bescheinigt wurde, daß es sich um körperlich wie geistig rüstige Menschen handelte, die ihre Arbeit unauffällig und voll zufriedenstellend leisteten; 5. sich aber alle bei der psychiatrischen Untersuchung als erheblich veränderte Menschen herausstellten. Bei allen waren zweifelsfrei die hirnorganischen Abbauvorgänge des höheren Lebensalters trotz aller sonst noch möglichen verständlichen Motivzusammenhänge für das Abgleiten in kriminelle Handlungsweisen ursächlich. Erst jenseits dieser altersbedingten Entwicklungsphase trifft man schließlich noch auf jenen greisen Tätertyp, dessen Schuldunfähigkeit meist schon im Ermittlungsverfahren offenbar wird. Bei ihm sind auch alle intellektuellen Steuerungssysteme so weit abgebaut, daß seine Interessen zumeist auf die Befriedigung einfacher Vitalbedürfnisse eingeschränkt sind. Er ist jeder inneren und auch von außen kommenden situativen Anregung „reizschutzlos" ausgeliefert. Besonders auffällig ist bei diesen Tätern häufig, mit welcher Hartnäckigkeit sie auch eine offensichtlich begangene und nachgewiesene Straftat dennoch leugnen. Vom Leugnen wird sehr leicht auf die Schuldfähigkeit des Täters geschlossen. Die Vielzahl und Fadenscheinigkeit immer neuer Schuldentlastungsmomente werden als Indiz für die erhaltene intellektuelle Steuerung angesehen und das Abstreiten der Tat als ein indirekter Beweis für die Einsicht in das Unerlaubte der Handlung. Dabei ist es doch psychologisch angemessener, anzunehmen, daß es für einen Menschen, der ein straffreies Leben hinter sich hat, besonders schwer sein muß, eine Schuld und ein Unrecht einzugestehen, das seine Daseinsbedingungen zerstört. Ein solches Eingeständnis ist nämlich ein hoch rational gesteuerter Akt, der keineswegs Reue be-
kunden muß, aber doch eine intakte, zumindest einsichtsfähige Persönlichkeit voraussetzt. Schon Pick deutete an, daß besonders das hartnäckige Leugnen greiser Täter einen hirnorganischen Hintergrund hat. E r versuchte sogar darzulegen, daß sich von hieraus Übergänge zur Merkschwäche des Senil-Dementen finden müßten. Im ganzen überwiegt diese Tätergruppe unter den alternden Eigentumsdelinquenten nicht, sondern sehr viel häufiger hat man es mit den ungleich schwieriger zu beurteilenden präsenilen Tätern zu tun. Die genaue Kenntnis der Handlungsimpulse bei diesen Menschen ist schon deswegen besonders wichtig, weil Eigentumsdelikte — wie Diebstahl und Betrug — heute wie seit Jahrzehnten auch im Alter zahlenmäßig an der Spitze aller Straftaten stehen. Die häufigsten Delikte im höheren Lebensalter als Anteil (in % ) an der gesamten Alterskriminalität. 1889/90 Diebstahl Betrug Körperverletzung Unzucht
1900/10 1928/32
1950/57
21,6 3,1
14,6 3,9
6,4 6,4
7,8 4,8
7,0 1,5
11,9 2,7
3,4 2,8
3,6 3,7
(ohne fahrlässige Verletzungsdelikte im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall) Wenngleich es alterstypische Ablaufsformen und vor allem Motive in dieser Deliktsgruppe gibt, so kann sie doch nicht wie andere Straftaten als spezifisch oder besonders typisch für alternde Menschen angesehen werden. Der Anteil alternder Täter besonders an den Verurteilungen wegen Diebstahl und Betrug i s t seit der Jahrhundertwende immer geringer gewesen als der Anteil alternder Täter an der Gesamtkriminalität. D . h . mit zunehmendem Alter nimmt die kriminelle Aktivität auf dem Gebiet der Eigentumsdelikte schneller ab als auf anderen Gebieten. Am eindeutigsten gilt dieses für den schweren Diebstahl, der bei über 60 jährigen Menschen praktisch keine Rolle mehr spielt; denn weniger als 0 , 5 % der Täter sind über 60 Jahre alt. Am ungünstigsten ist das Verhältnis immer in der Gruppe der Verurteilungen wegen Hehlerei gewesen. Die Beteiligung alter Menschen an dieser Straftat ist etwa so hoch wie die Beteiligung alter Menschen an der Gesamtkriminalität. Etwa 60 bis 8 0 % der über 60 Jahre alten Täter ist wegen dieses Deliktes nicht vorbestraft. Dagegen dürfte aber die Belastung dieser Erstdelinquenten mit Vorstrafen anderer Art relativ hoch sein. Wenngleich also auch die Gründe für die besonderen Verhältnisse in dieser Straftatengruppe beim Altersdelinquenten aus den kriminalstatistischen Unterlagen nicht ablesbar sind und auch eine hinreichend beweiskräftige
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Alterskriminalität
Beteiligung der über 60-jährigen Verurteilten in %
a n Verbrechen u. V e r g e h e n überhaupt
der Verhältnisziffern
a n Körperverletzung im Z u s a m m e n h a n g mit einem Verkehrsunfall a n fahrlässiger Tötung im Z u s a m m e n h a n g mit einem VerkehrsunfatI
ST?
Μ
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i
I s
&5
1954
1995
•κ
ρ km ;ίί:·ί
1957
— Abb. 1 — kasuistische Einzelforschung fehlt, so wird man doch vermuten dürfen, daß sich in diesem Täterkreis zu einem hohen Prozentsatz Menschen wiederfinden, deren Neigung, den Grenzbereich rechtstaatlicher Ordnungen zu überschreiten, zeitlebens groß war. Man hat hier also im Gegensatz zu anderen Straftaten nicht so häufig Erstdelinquenten im höheren Lebensalter vor sich, so daß eine Problematik im Sinne der eigentlichen Alterskriminalität nur selten auftritt. Charakteristisch für diese Tätergruppe dürfte wohl nur sein, daß die passive Haltung im Tatablauf dem altersbedingten Aktivitätsverlust besser entspricht als bei Straftaten, die einen stärkeren Vitalantrieb voraussetzen. Die Kapitalverbrechen Mord und Totschlag werden nur selten von alternden Tätern begangen, denen der forensisch-psychiatrische Sachverständige volle geistige Gesundheit attestieren kann. In der Regel handelt es sich dabei nicht um Zustände, die noch einer sog. physiologischen Veränderung in involutiver Lebensphase zuzurechnen sind, sondern um eindeutige Krankheitserscheinungen. Die Voraussetzungen strafmildernder oder auch strafausschließender gesetzlicher Bestimmungen sind im allgemeinen zweifelsfrei gegeben. Nur gelegentlich stößt man wohl auf ein Tatmotiv, das nicht an sich schon aus dem Rahmen üblicher Motivbildungen herausfällt oder doch als ungewöhnlich übersteigert und verzerrt angesehen werden muß. Eifersüchte-, Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn wie unbeherrschte Reizbarkeit bei vergröberter Affektivität im
krankhaften Altersabbau spielen eine wesentliche Rolle. Die Tat eines alternden, sehr gut beleumdeten 74jährigen Kaufmannes, der in unverschuldeter schwieriger wirtschaftlicher Situation 1952 einen Raubmordversuch in einem Berliner U-Bahn-Zug unternahm, nachdem seine Ehefrau schwer krank geworden war und dringend ärztlicher Behandlung bedurfte, gehört zu den Seltenheiten der Kriminalgeschichte. Die Beurteilung der f a h r l ä s s i g e n T ö t u n g und f a h r l ä s s i g e n K ö r p e r v e r l e t z u n g bei einem alternden oder greisen Täter kann je nach den Umständen sehr viel schwieriger werden. Im Zusammenhang mit der fahrlässigen Brandstiftung oder gefährlichen anderen strafbaren Unterlassungshandlungen schließt die senile Demenz mit ihren schweren Störungen der Denk- und Merkfunktionen in der Regel die Schuldfähigkeit des Täters aus. Besondere Beachtung verdient aber stets die fahrlässige Tötung und Körperverletzung im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall. Was hierzu in der Unfallursachenstatistik als mangelhafte Aufmerksamkeit, Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit aufgeführt wird, ist besonders beim alternden Kraftfahrer sehr häufig Ausdruck eines altersbedingten Leistungsrückganges. Das Führen eines Kraftfahrzeuges verlangt unter den gegenwärtigen Verkehrsbedingungen ganz spezielle Leistungsvoraussetzungen. Ihr Vorliegen kann keineswegs aus dem allgemeinen Eindruck oder der Leistungsfähigkeit eines Menschen im gewohnten Beruf erschlossen werden. Auf diese Weise
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Alterskriminalität
1 9 8 0
1 8 5 6 F35331
1 7 1 3
492 •
Fahrlässige Körperverletzung im Z u s a m m e n h a n g mit einem Verkehrsunfali
4 4 8
420
i n Verhältnisziffern
300 IIJl
4 4
1 9 5 4
allgemein
5 5
5 6
5 7
1 9 5 4
5 5
5 6
18 bis 21 Jahre
5 7
1 9 5 4
60
64
5 5
5 6
69
5 7
60 Jahre u. mehr
— Abb. 2 — werden allenfalls die im höheren Lebensalter gehäuft vorkommenden und altersspezifischen Erkrankungen erkennbar, so die Krankheiten des Gefäßsystems, Beeinträchtigungen der Gehirnfunktionen durch Appoplexie oder Hirnerweichung und ihre groben Auswirkungen auf die sensorischen Leistungen. Auch die Psychosen des höheren
Lebensalters wie die senile Manie und die senile Depression werden selten übersehen. Schwieriger wird schon die Erfassung des senilen Beeinträchtigungswahnes. Sehr wenig bekannt sind noch jene biologisch begründeten Unfallursachen, die nicht dem enger umschriebenen Bereich einer Krankheitsgruppe zugerechnet werden können,
48
Alterskriminalität
bei denen es sich vielmehr um Umbauten der psychophysischen Konstitution, spezieller um den Abbau sensomotorischer Funktionen im Altersprozeß handelt. Daß altersbedingte Abbauerscheinungen einen Straßenverkehrsunfall verschulden können, ist vielfach nachgewiesen worden. Neben eindeutig krankhaften psychophysischen Veränderungen ist es vor allem eine Abnahme der Prägnanz in der Stellenwertverteilung der Bewußtseinsinhalte, die die Leistungsfähigkeit herabsetzt. Die allgemeine Unterstellung, der alternde Mensch kompensiere seine altersbedingten Leistungsschwächen durch Erfahrung und Besonnenheit, ist nach zahlreichen Untersuchungen nicht vertretbar, so daß nach einem fahrlässigen Verletzungsdelikt durch einen alternden Kraftfahrer auch bei der strafrechtlichen Beurteilung nicht von dieser Prämisse ausgegangen werden darf. Der Ausgleich funktionspsychologischer Schwächen setzt voraus, daß sich die Persönlichkeit nicht mit ihren Leistungswünschen schlechthin identifiziert, sondern sich des Abstandes zwischen diesen Leistungswünschen und den altersgemäßen Möglichkeiten ihrer Realisierung bewußt ist. Die Gefahren des alternden Menschen unter den modernen gesellschaftlichen Verhältnissen gehen nun nach der Richtung, daß seine Ansprüche und Wünsche bleiben oder sich sogar steigern. So ζ. B. wenn sich ein Alternder ein Kraftfahrzeug kauft oder auch ein größeres Kraftfahrzeug beschafft, „weil er endlich so weit ist", d. h. also, wenn er in einer Situation, in der er sich bescheiden sollte, langgehegte Wünsche verwirklicht, weil er nur die materiellen Realisierungsmöglichkeiten im Auge hat und dabei vergißt, daß dieser Wunsch zu einem jüngeren Menschen gehört.
Schwächen des Alters in der Regel nicht mehr geleistet. Diese Art von Wesensänderung in involutiver Lebensphase kann die Fähigkeit zu ständig neuer aktiv und produktiv gestaltender Eingliederung in das Ordnungsgefüge des motorisierten Straßenverkehrs so schwächen, daß schließlich Unfähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeuges besteht. So kann es also auch ohne sensomotorische oder präzise umschreibbare hirnorganische Ausfälle lediglich aus dem lebensphasisch bedingten Persönlichkeitswandel zur Kraftfahruntauglichkeit kommen, ohne daß dem betreffenden Menschen zuzumuten wäre, selbstkritisch und einsichtsvoll dieser Entwicklung gegenüberzustehen und auf das Führen eines Kraftfahrzeuges zu verzichten, weil die mit dem Abbauprozeß einhergehenden gesamtpersönlichen Veränderungen auch die Voraussetzungen hierzu zerstören. Im ganzen ist die kriminalpolitische Bedeutung der fahrlässigen Verletzungs- und Tötungsdelikte im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall durch über 60jährige Täter nicht erheblich. Der Anteil der verurteilten alternden Verkehrsteilnehmer an diesen Straftaten war auch in Jahren mit besonders hoher Verkehrsunfallziffer, wie die statistische Übersicht zeigt, immer recht klein. Die Beteiligung am fahrlässigen Tötungsdelikt im Verkehr überstieg niemals die 3-%-Grenze,und für das fahrlässige Verletzungsdelikt wurde 1958 erstmals nahezu die 4-%-Grenze erreicht. Demgegenüber wurden seit 1954 regelmäßig mehr als 50% aller fahrlässigen Tötungs- und Verletzungsdelikte im Straßenverkehr von Verkehrsteilnehmern zwischen dem 18. und 25. Lebensja.hr begangen. Hieraus kann man ziemlich sicher schließen, daß sich gesamtpersönliche dispositionelle Voraussetzungen im jugendlichen Alter in diesen Deliktsbereichen kriminologisch wesentlich nachhaltiger durchsetzen als im höheren Lebensalter, dessen lebensphasische Besonderheiten erst in der kasuistischen Einzelforschung und nicht schon in der Statistik sichtbar werden. In dieser Hinsicht
Hat erst einmal bei einem alternden Menschen eine Wesensänderung eingesetzt, insbesondere in Form des Rückzuges auf einen immer kleineren Lebensraum, der innerseelischen Erstarrung und der Verhaltensausrichtung auf die Befriedigung eines kleinen Kreises von Eigenbedürfnissen, so wird der Ausgleich funktionspsychologischer
Fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr in Verhältnisziffem (Anteil der Altersgruppe am Delikt in %) IS 54
IS 55
% bis 18 Jahre 18—21 Jahre 21—25 Jahre 25—30 Jahre 30—40 Jahre 40—60 Jahre über 60 Jahre gesamt
51,5 300,0 351,1 250,7 178,5 143,1 43,8
3,9 22,8 26,8 19,1 13,5 10,0 3,3
1956
56,5 420,0 445,0 309,2 241,8 180,0 60,1
1318,7 100,3 1712,6
3,3 24,2 25,9 18,0 14,1 10,5 3,5
19 57 0/ /o
/o 64,2 448,0 487,5 342,3 256,0 193,6 64,2
3,5 24,1 26,1 18,5 14,0 10,4 3,4
1958 0/ /o
/o 70,7 492,0 514,0 361,1 263,5 209,9 69,1
99,5 1855,8 100,0 1980,3
3,6 24,8 25,9 18,2 13,3 10,6 3,5
61,5 457,5 475,0 321,5 244,9 174,2 57,2
3,43 25,22 26,50 17,91 13,68 9,72 3,92
99,9 1791,3 100,38
Alterskriminalität
49
Die Änderung der Verhältnisziffern für das fahrlässige Verletzungsdelikt im Straßenverkehr betrug für die Jahre von 1954—55 1318,7—1712,6 = +393,9(4-29,8%) 14—18 18—21 21—25 25—30 30—40 40—60 über 60
1955—56
1956—57
1712,6—1855,8 =+143,2(+8,4%)
1865,8—1980,3 =+124,5(+6,7%)
1980,3—1791,3 =—189,0(—9,4%)
die Änderung betrug in den Altersklassen von: 13,6% 10,1% 9,8% 6,7% 9,5% δ,4% 10,7% 5,5% 6,2% 2,9% 7,5% 8,4% 6,8% 7,6%
Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
-13,0% - 7,1% - 8,2% -11,0% - 7,1% -17,8% -17,2%
9,7% 40,0% 26,8% 22,7% 35,4% 25,7% 38,0%
können allenfalls die Änderungsraten einen Hinweis geben. So stieg die Verhältnisziffer für fahrlässige Verletzungsdelikte im Verkehr bei über 60 jährigen Tätern nach jenem Jahr, als die innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben wurde, um 38% an und erreichte damit zu dieser Zeit etwa die Zuwachsrate jugendlicher Delinquenten von 40%. (Ein Vergleich zwischen den Jahren 1953 und 1954 ist nicht möglich, da die amtliche Strafverfolgungsstatistik erst vom Jahre 1954 ab die fahrlässigen Verletzungs- und Tötungsdelikte im Straßenverkehr von sonstigen fahrlässigen Verletzungs- und Tötungsdelikten getrennt ausweist.) Mit der Wiedereinführung der innerörtlichen Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/std. sank noch im gleichen Jahr (1958) die Kriminalitätsziffer in allen Altersklassen ab, doch bei den älteren Delinquenten, schon beginnend mit dem 40. Lebensjahr, am meisten. Anteil über 60 jähriger Täter an der Gesamtkriminalität leichte Körperverletzung 1882—1890 1891—1900 1901—1910 1928—1932 1934—1936 1950 1951—1959
1957—58
3,7% 4,0% 3,5% 1,6% 1,3% 2,1%
1.5%
gefährl. Körperverletzung 7,8% 11,0% 11,9% 3,4% 3,9% 2,6% 1,7%
Nach der Kriminalstatistik ist der Anteil jener alternden Täter, die eine v o r s ä t z l i c h e Körperverletzung begangen haben, an der Gesamtkriminalität über 60jähriger Täter offensichtlich schon in der Zeit zwischen den beiden Kriegen deutlich zurückgegangen. Das gilt auch für die Grundzahlen der Verurteilungen. Untersuchungen, die über diese Erscheinung verbindlichen Aufschluß geben, sind nicht vorhanden. Man darf •t H d K , 2. Aufl., B d . I
lediglich vermuten, daß allgemein wirtschaftliche Verhältnisse, vor allem aber soziologische Umschichtungen und gegenüber früher veränderte sozialpsychische Einstellungen eine Bolle spielen, wie ζ. B. der Autoritätsverlust des älteren Familienmitgliedes und die sehr weitgehende Auflösung der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen den alten und jungen Familienmitgliedern. So leben nach soziographischen Untersuchungen unter großstädtischen Verhältnissen kaum mehr als 2 0 % der über 65 Jahre alten Menschen mit ihren Kindern zusammen in einem mehrschichtigen Familienverband, und sowohl von alten wie von jungen Menschen wird die Voraussetzung zu einem Zusammenleben darin gesehen, daß man das Neben- und Miteinander des alltäglichen Lebens entsprechend seinen Neigungen und Bedürfnissen selbst einteilen und gestalten kann. D.h. aber, Beziehungs- und Bindungsverhältnisse als Voraussetzung zur Entwicklung von Konfliktstoffen werden von vornherein gemieden, womit auch eine große Motivgruppe zum Körperverletzungsdelikt entfallen dürfte. Darüber hinaus mögen aber auch noch andere weniger leicht auf deckbare soziale und wirtschaftliche Einflüsse eine Rolle spielen. Über 60 jährige verurteilte Sexualdeliktstäter im Jahresdurchschnitt Zeit 1. 2. 3. 4.
1890—1900 1928—1932 1950—1954 1955—1958
1907 . . . . 1955 (n. BRD) Zuwachs in% . . . .
Verurteilte 201 424 601 477
Zuwachs in % Ziff.: 1—2 = 109 1—3 = 200 1 - 4 = 176
strafmündige Bevölk. insges.
Bevölkerung üb. 60 J . alt
44 918 069 39 873 500
4 899 008 7 261200
—11,3
+48,5
50
Alterskriminalität
Eine besondere Aufmerksamkeit galt seit je der Sexualkriminalität alter Menschen. Straftaten dieser Art haben sich nach der Jahrhundertwende unzweifelhaft vermehrt. Vergleicht man heute die Verurteiltenzahlen in dieser Deliktgruppe mit den Verhältnissen um 1900, so wird deutlich, daß es sich um eine echte Zunahme der Straftaten handelt, die nicht allein auf eine Verschiebung der Bevölkerungszahlen in der Altersgruppe der über 60-Jährigen zurückzuführen ist. Besonders die alarmierenden Verurteiltenzahlen in den Jahren 1950 bis 1954 veranlaßten Nass, die Unzucht mit Kindern als das „Sexualdelikt unserer Zeit" zu bezeichnen. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts ist die Entwicklung dann aber doch eindeutig rückläufig gewesen, und 1958 lag die Verurteiltenziffer mit 379 bereits deutlich unter dem Jahresmittel von 1928 bis 1932, ohne sich hiervon jedoch schon statistisch signifikant zu unterscheiden. Auch wenn man die Jahre 1907, 1955 und 1958 als Vergleichs]ahre untersuchte, bestand sicher ein Grund, noch um die Mitte des Jahrzehnts über die steigenden absoluten und relativen Deliktszahlen beunruhigt zu sein. Vergleich der Jahre 1907,1955 und 1958 für über 60 jährige Sexualdelinquenten
GZ Anteil an der Gesamtkriminalität der Altersgruppe in % . . . VZ
1907
1955
1958
315
594
379
3,0 6,9
3,7 8,2
2,4 4,2
Heute kann man aber wohl schon sagen, daß sich nach dem sehr starken Anstieg der Verurteiltenzahlen um die Jahrhundertwende keine gewissermaßen epochal bedingte neue Zunahme der Unzucht im höheren Lebensalter andeutet. Immerhin könnten aber die Zunahme in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und die Veränderungen der Zahlenverhältnisse vor als auch nach dem Kriege zu einer Deutung Veranlassung geben. Die Verknüpfung sexueller Straftaten in der präsenilen und senilen Lebensphase mit biologischen Umschichtungsprozessen wurde schon von älteren Untersuchern als erwiesen angesehen, auch deswegen, weil die Erstdelinquenz in dieser Deliktsgruppe mit steigendem Lebensalter — insbesondere jenseits des 60. Lebensjahres — gegenüber der Zuwachsrate der Erstdelinquenz in der Gesamtkriminalität erheblich höher lag. Auch hieran hat sich bis heute prinzipiell nichts geändert. Die Zuwachsrate der Erstdelinquenz steigt nach Überschreiten der 60-Jahres-Grenze sprunghaft an.
Zuwachs der Erstdelinquenz Gesamtkriminalität 21/25 25/30 30/40 40/50 50/60 60/70 70/u. m.
-28% + + + + +
7% 6% 4% 4% 6% 4%
Unzucht -27% -17% + 7% + 1% + 4% +15% +10%
Es ist weiter seit Jahrzehnten bekannt, daß die Alterskriminellen aus der Gruppe der Sexualdelikte sich in einem hohen Prozentsatz vor dem Delikt jahrelang nicht legitim erotisch-sexuell betätigten. Es gibt hiervon Ausnahmen. Im allgemeinen wird man aber bei der Untersuchung einer größeren Täterzahl diese Feststellung bestätigt finden. Vor allem mit zunehmendem Alter der Täter erfährt man immer häufiger von einem Potenz- und Libidoverlust lange vor der Tat. Aber auch bei solchen Tätern, bei denen selbst von einem Potenzverlust nichts berichtet wird, ist die biologische Bedingtheit einer Unzuchtstat nicht von vornherein auszuschließen. Es ist zu bedenken, daß schon ein Rückgang der sexuellen Triebstärke zur Lockerung des hetero-sexuellen PartnerVerhältnisses, zur Protrahierung libidinöser Vorstadien mit übersteigertem sexuellen Phantasiespiel, Frustration und sexuellen Ersatzhandlungen führen kann. In diesem Kreise von Möglichkeiten hat dann auch die Unzucht an Jugendlichen ihren Platz. In einer solchen triebdynamisch nicht mehr stabilisierten, aufgelockerten erotisch-sexuellen Erlebnissphäre wirken sich dann „Provokationen", die nicht selten vom jugendlichen Opfer ausgehen, ganz besonders anregend aus. Wir sehen darum auch keine Veranlassung, als treibenden Faktor für das Sexualdelikt im höheren Lebensalter ein Wiederaufleben der Trieb dynamik anzunehmen. Sicher ist heute, daß die Überlegungen über die Entstehungsursache von Unzuchtdelikten nicht zu einseitig verlaufen dürfen. So geht die Ansicht überwiegend dahin, daß die schwindende Triebkraft in ein Spannungsverhältnis zur noch erhaltenen Libido gerät, wogegen sich bei näherer Betrachtung aber feststellen läßt, daß auch die Libido oft schon lange brüchig geworden sein kann. Schulte wies auf eine Tätergruppe hin, bei der die sexuelle Betätigung nur noch im Dienste männlicher Selbstbehauptung steht; es deutet sich bei ihnen eine Beziehung zu jenen Männern an, die vor allem die sexuelle Sphäre als die Ebene männlicher Selbstbetätigung auch schon in jüngeren Jahren erlebt hatten. Aber auch für diese Täterkategorie ist beachtlich, daß sie eine altersspezifische Persönlichkeitsveränderung
Alterskriminalität durchmachen, und zwar nach dem Schema der Vergröberung primärcharakterlicher Wesenszüge. D. h. es gibt Täter, deren erotisch-sexuelle Primärinteressen sich im Erlebnisbereich mit zunehmendem Alter immer mehr ausweiten, immer mehr abnorme Züge gewinnen und auf diesem Wege zu einer Entdifferenzierung der Partnerbeziehungen führen. In dem einen Falle handelt es sich um einen Wandel der erotisch-sexuellen Erlebnissphäre als Ausdruck einer altersbedingten Wesensänderung und wesentliches Resultat desVitalitätsschwundes, im anderen Falle könnte man von einer alterstypischen pathologischen Veränderung im Emotionalbereich durch Involutivabbau sprechen. Jene Gruppe von Fällen, bei denen das sog. „Wiedererwachen" des sexuellen Interesses besonders deutlich wird, stellen ganz überwiegend Täter mit Symptomen deutlichen dementiven Abbaus dar. Dieses ist die eigentliche Gruppe der greisen Sexualdelinquenten, bei denen schon von jeher das Mißverhältnis zwischen sexueller „Aktivität" und körperlicher Gebrechlichkeit als auffällig beschrieben wurde. Man sah ihnen an, daß sie erst im Lebensrest straffällig wurden, und schon Aschaffenburg machte darauf aufmerksam, daß zu seiner Zeit ein erheblicher Anteil dieser Täter eine Zweijahresfrist nach dem Delikt nicht überlebte. Ein Deutungsansatz für die Sexualdelinquenz im höheren Lebensalter geht dahin, eine steigende Affinität des alternden Mannes zu immer jüngeren weiblichen Partnern anzunehmen. Ein Beweis hierfür wurde auch in der früher oft beobachteten Heirat älterer Männer mit sehr jungen Frauen gesehen. Bresler fand für die Jahre nach der Jahrhundertwende sogar, daß Männer jenseits des 60. Lebensjahres auffällig oft Frauen heirateten, die das 20. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, und daß vom 60. bis zum 75. Lebensjahr der Männer die Eheschließungen mit derart großen Altersunterschieden zunahmen. Diese Partnerwahlen spielen heute allerdings eine geringere Rolle. Aber auch in einer solchen Erscheinung zeigen sich die gleichen, auf der Grenze vom Psychologischen zum Psychopathologischen liegenden besonderen Umformungserscheinungen im erotisch-sexuellen Erlebnisfeld, die für die eine oder andere Sexualdelinquenz im höheren Lebensalter Voraussetzung sind. Die alte Erklärung, daß eine mangelnde sexuelle Triebabfuhr beim alternden Mann in der Ehe mit einer älter werdenden Frau das Unzuchtsdelikt häufig begründe, ist schwer aufrechtzuerhalten; auch der Ansatz, daß der alternde Täter beim Kinde den Ort des geringsten Risikos einer sexuellen Blamage sucht, scheint nur für einen kleinen Teil der Täter richtig gesehen. So hat sich im wesentlichen die Auffassung durchgesetzt, daß ein individueller Entwicklungsprozeß im Grunde 4*
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die Neigung zur Sexualdelinquenz im höheren Lebensalter beim Manne mit sich bringt. Dem widerspricht nicht, daß eine sehr eindringliche Persönlichkeitsanalyse zumindest im individuellen Erlebnisfeld des einzelnen Altersdelinquenten auch für jüngere Lebensjahre Ansätze und Bereitschaften zu normabweichenden sexuellen Verhaltensweisen aufdecken kann. Hierzu ist nämlich einzuwenden, daß sich natürlich bei eingehender Untersuchung in jedem Lebensalter beim Menschen die unterschiedlichsten Verhaltensdispositionen entsprechend der prinzipiell für den Menschen freigestellten Verhaltensentscheidung aufdecken lassen. Wesentlich ist nur, daß sich geheime Wünsche, Bedürfnisse und Triebregungen nicht als verhaltensbestimmende Dispositionen gegen die Ordnungsprinzipien der Gesellschaft durchsetzen. Man muß beachten, daß ein Mensch nicht nur ein für e i n e und speziell u n s e r e Sozial- und Rechtsordnung angelegtes Wesen ist und darum auch u.U. nachweisbare Möglichkeit zur Entwicklung anderer menschlicher Lebens- und Verhaltensformen in sich birgt. Eine Persönlichkeitswandlung unter bestimmten lebensphasischen Einflüssen ist darum auch nicht mit dem Hinweis zu relativieren, daß gewisse abnorme Verhaltensmomente schon immer „bereit"lagen. Dabei muß in diesem Zusammenhang noch angemerkt werden, daß gerade die zur Triebverfassung in Beziehung stehende Erlebnissphäre im Zuge biologischer Umwandlungsprozesse außerordentlichen Veränderungen unterliegen kann. Wenn es also für jeden Menschen ein individuell bestimmtes und ein institutionell getragenes sexuelles Verhalten gibt, wobei ein Abweichen von der Norm jederzeit möglich ist, dann ist auch die Möglichkeit zu normalpsychologischer Interpretation äußerst vielseitig, ja fast unbegrenzt, und gerade aus diesem Grunde kann aus einer einmaligen Entgleisung nicht auf die primärcharakterliche Verfassung eines Menschen geschlossen werden. Die Eigenschilderungen älterer Männer zur Entwicklung ihrer Vita sexualis und besonders die Darstellungen älterer Sexualdelinquenten zeigen die biologisch gesteuerten Umlagerungsprozesse in manchen Erlebnisbereichen noch deutlicher So kann man von Unzuchtstätern, sofern es sich nicht um die Gruppe der ausgesprochenen greisenhaften Täter handelt, hören, daß sich ihnen jenseits des 40., häufiger aber noch jenseits des 50. Lebensjahres eine Anziehungskraft, die vom Kind ausgeht, mit durchaus erotischer Färbung aufdrängt. Dabei ist meist nicht ein bestimmtes Kind gemeint. Es wird vielmehr gesprochen von der Frische des kindlichen Körpers, der Gelöstheit und Harmonie des Bewegungsspiels usw. Solche Schilderungen werden auch gerade von jenen Unzuchttätern gemacht, die sich früher weder durch eine besondere sexuelle Anregbarkeit noch
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Alterskriminalität
durch eine besondere Triebstärke oder allgemein hohe Vitalität auszeichneten. Keineswegs müssen derartigeÄnderungen der Erlebnisweisen zwischenmenschlicher Beziehungen das Sexualdelikt zwingend zur Folge haben. Die primärpersönliche Verfassung dürfte außerhalb des erotisch-sexuellen Bereiches vor allem im Hinblick auf Differenzierungsgrad, Disziplinierung, Selbstbeherrschung und Distanzierungsvermögen von eigenen inneren Bedürfnissen und Antrieben von Bedeutung sein. Es ist bekannt, daß man nicht sehr häufig zu Eingeständnissen seitens alternder Sexualdelinquenten kommt, die geeignet sind, den Motivhintergrund seiner Tat zu erhellen. Das Prinzip der miteinander verflochtenen wirksamen Kräfte wird jedoch schon aus wenigen guten Eigenschilderungen deutlich und läßt vor allem auch immer wieder erkennen, wie mit dem Absinken der allgemeinen Vitalität, dem Schwund der sexuellen Triebdynamik auch ihre stabilisierende Kraft nachläßt und im erotisch-sexuellen Erlebnisfeld die Phantasie für sexuelle Ersatzhandlungen freigestellt wird. Dem Problem der Sexualdelinquenz im höheren Lebensalter sind neben den individuellen, biologischen, psychologischen Erörterungen noch einige wesentliche sozialpsychologische Gesichtspunkte anzufügen. Zunächst wird man aus den umfassenden Darstellungen sog. abnormer sexueller Verhaltensweisen (Perversionen) die Einsicht übernehmen können, daß dem Menschen grundsätzlich die Art seiner sexuellen Vollzugsmöglichkeiten freigestellt ist. Sie erfahren jedoch eine wesentliche Steuerung und Lenkung durch die Gesellschaft und ihre Konventionen. Schelsky spricht von einer „sozialen Kanalisierung" auf nur wenige Handlungsmöglichkeiten, die sich zu allen Zeiten als hervorragendes soziales Führungsmittel erwies. Die institutionsgebundene Askese, besonders die geschlechtliche, schafft dem Menschen eine der Trieberfüllung entgegengerichtete Antriebsstruktur, deren Bestand als Grundlage aller höheren sozialen und kulturellen Organisation angesehen werden muß. Aus triebdynamischen Mechanismen und sozial-ordnendem institutionellen Überbau wurde also ein eigenes Funktionssystem, das allerdings auch von den verschiedensten Seiten her störbar ist. So ζ. B., a) indem der Prozeß des Verzichts nicht oder nicht mehr geleistet wird; b) durch konstitutionsbedingte psychische Minderwertigkeiten aller Art; c) durch bestimmte Umschichtungen der Vitalstruktur, Erkrankungsformen mit Rückwirkungen auf die Hirnfunktionen oder d) im überindividuellen Bereich durch Abbau institutioneller Verhältnisse wie epochal bedingten Institutionsabbau oder aktuell wirksam werdende institutionszerstörende Prozesse. Schon hiernach sieht man, daß alle Erklärungsversuche der Unzuchtsdelinquenz im höheren
Lebensalter mit latenter Homosexualität oder latenter Perversion zumindest als unvollständig angesehen werden müssen, wenn eine Lockerung der einmal eingenommenen Verhaltensformen sich auch immer dann ergibt, sobald entweder die stabilisierende Kraft der Triebdynamik bei schwindender Vitalität fortfällt oder die Gesellschaft selbst ihre Normen abbaut. Beachtet man weiter, daß, nach einem von Gehlen prägnant formulierten Satz, der Mensch seine Antriebe mit allen denkbaren qualitativen und inhaltlichen Varianten von innen und prinzipiell als unabhängig vom Verhalten, also in der Form verhaltensvariabler Drangzustände erlebt, so ergibt sich, daß auch die menschliche Sexualität nicht die Steuerungssicherheit eines tierischen Instinktes hat und daß überhaupt der auf den Menschen angewandte Instinktbegriff nicht abgrenzbare fließende Übergänge zum Begriff des Triebes zeigt, wie dieser wieder nur unscharf von dem des Bedürfnisses und sogar des Interesses zu trennen ist. Bei dieser weitgehenden Freistellung des Menschen und Variabilität seiner inneren Drangzustände wird gut verständlich, daß nicht der Trieb die Konsumtion fordern muß, sondern umgekehrt auch die Konsumtion den Trieb fordern oder aber eine Ersatzkonsumtion ohne den Triebimpuls stattfinden kann. Sofern nun eine trieb dynamische Steuerung nachläßt und die gesellschaftliche Entwicklung eine Verhaltensprägung des Menschen nicht fördert, sondern im Gegenteil den Genuß und die Konsumtion auf allen Lebensgebieten intensiviert, wird man auch erwarten können, daß die leibnahen, leicht zugänglichen Genußbefriedigungsmöglichkeiten in ihrer Variabilität häufiger gesucht werden. Hiernach zeigt sich aber auch, wie schwer es möglich wird, die individuelle Entwicklung herausgelöst aus der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu betrachten. Die allgemeine Entwicklung sexueller Verhaltensweisen in den vergangenen Jahrzehnten zeigt deutlich genug, wie eng die Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Entwicklung, gesellschaftlichem Status und Sexualbetätigung sind. Der Kinseyreport und seine Nachfolger klärten überdies auf, wieviel abhängiger, vor allem reagibler die männliche Sexualität für soziale Faktoren ist als die der Frau. Beachtet man all diese Zusammenhänge bei der Untersuchung sexueller Straftaten einer bestimmten Altersgruppe, so erkennt man, daß deren biologisch begründete individuelle Entwicklungslinie zum Trend einer soziologischen Entwicklung in Beziehung geraten zu sein scheint, die sich durch ein besonders hohes Maß von Versachlichung, Abbau ehemals institutionalisierter erotisch-sexueller Verhaltensweisen auszeichnet und schon damit die Freistellung sexueller Vollzugsformen von sich aus
Alterskriminalität ermöglicht. D. h., es läuft ein gesellschaftlicher Prozeß korrespondierend mit bestimmten individuellen Entwicklungslinien ab und induziert so eine Vervielfachung ohnehin bereitliegender individueller Verhaltensweisen. Verschiedene kriminologische Untersuchungen stimmen heute darin überein, daß in allen Hauptdeliktsgruppen unter den Verurteilten nicht verelendete oder vereinsamte Menschen überwiegen, bei denen eindeutig die Voraussetzungen zu einer Art Notdelinquenz festzustellen waren. So fand man selbst unter über 65 jährigen Tätern noch einen überraschend hohen Anteil von Personen, die ihr tragendes Einkommen aus eigener Berufstätigkeit bezogen. Zur Zeit der Tat verheiratete alte Männer und Frauen überwiegen die ledigen, verwitweten und geschiedenen Täter. Auch die Ehe kann also den Mann über 60 Jahre weniger vor Straffälligkeit schützen wie im jüngeren Alter. Denn zwischen 25 und 60 Jahren werden erheblich mehr Ledige als Verheiratete verurteilt, aber zwischen 60 und 70 Jahren ist das Verhältnis nahezu 1:1, obwohl in diesem Lebensabschnitt viele Personen schon verwitwet sind oder aus anderen Gründen allein leben. Es scheint, daß sich besonders in jenen Menschengruppen im höheren Lebensalter Straffälligkeit häuft, die noch sehr eng mit der Gesellschaft verbunden und in ihr scheinbar sicher eingebettet sind, damit aber auch allen ihren Wandlungsprozessen und Einflüssen besonders ausgeliefert werden. Demgegenüber kommen Menschen, die in der abgeschiedeneren Ruhe eines Altersheimes leben können, seltener unter den Delinquenten vor. Als sozialpädagogische Maßnahme wird darum auch die lockere Beaufsichtigung im Rahmen einer Heimunterbringung zu empfehlen sein. Überblickt man eine größere Zahl von Altersdelinquenten, bei denen im Zuge eines Strafverfahrens Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit begründet erschienen, so ergibt sich für die psy chop athologis che D i a g n o s t i k eine recht übersichtliche Gliederung dieser Täter in 3 Gruppen: 1. handelt es sich um diagnostisch eindeutig umschreibbare hirnorganische Syndrome, wie senile oder arteriosclerotische Demenzzustände und frühdementive Abbauzustände; 2. kommen involutive oder senile Wesensänderung, seltener senile Psychosen vor; 3. erwachsen die Straftaten auf dem Boden eines involutiven Vitalitätsschwundes und seiner sozialpsychischen Folgen, so daß man von einer l e b e n s p h a s i schen D i s p o s i t i o n s s c h u l d sprechen kann. Ist eine Straftat auf eindeutige, im allgemeinen hirnorganische Defekterscheinungen zurückzuführen, so wird man an der Auffassung festhalten müssen, daß der Nachweis von einem hirnorganischen Ausfall, sei es auf formal-intellektuellem Gebiet als Demenz oder auch nur im emotional-affektiven Bereich, in der Regel jede
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Schuldfähigkeit ausschließt, denn im allgemeinen sind bei diesen Tätern Einschätzung des eigenen Leistungsvermögens, Realitätsnähe des Bewußtseins, Realitätsurteil, ihre emotionalen Dauerhaltungen, Orientierungen an sozialen Wertnormen durch den einmal in Gang gekommenen Abbauprozeß weit schwerer geschädigt, als es sich selbst mit den üblichen klinischen Untersuchungsverfahren bei Vorbereitung einer forensischen Begutachtung nachweisen läßt. Jene Täterschaft, bei der man von einer lebensphasischen Dispositionsschuld sprechen müßte, stützt die Forderung nach Einführung eines Altersstrafrechts, dessen Befürworter auf diese besonderen biologischen Dispositionsverhältnisse und auf das bereits geschaffene Gegenstück des besonderen Jugendstrafrechts hinweisen. Die Ablehnung wird damit begründet, daß die Notwendigkeit eines eigenen Altersstrafrechts sachlich nicht zu erkennen sei, da schwere Störungen der Geistestätigkeit über die Bestimmungen für die Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit des StGB erfaßt werden und leichtere Veränderungen im Wege der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. Auch sei das Problem der Alterskriminalität angesichts der geringen kriminalpolitischen Bedeutung, die den Straftaten alternder Täter im allgemeinen zuzumessen sei, nicht bedeutsam genug. Es bleibt abzuwarten, ob diese Argumentation gegen ein eigenes Altersstrafrecht nicht doch zu eng ist und letzten Endes an der Vielschichtigkeit der Fragen, die hier auftauchen, vorbeigeht. In Deutschland hat sich die Altersfrage überhaupt erst in jüngerer Zeit zu einem gesellschaftlichen Problem entwickelt; denn bislang trat sie fast ausschließlich negativ in Erscheinung, entweder als Individualfurcht vor dem Alter mit der ständig drohenden Gefahr der Verelendung und Vereinsamung oder als Kollektivfurcht vor der Überalterung der Bevölkerungsgesamtheit und den damit immer schwerer werdenden Soziallasten. Die Beschäftigung mit der Alterskriminalität drängt über diesen engeren Fragenbereich hinaus und vermittelt Einblicke in die Struktur der alternden Bevölkerungsgruppen, die nicht zu ersetzen sind durch die individualpsychologische oder psychopathologische Forschung an weise gewordenen Greisen einerseits oder senilen Abbauzuständen andererseits. Zwangsläufig drängt sich für den Kenner der Materie die Frage auf, ob es überhaupt tragbar ist, in unserer Zeit an einen alternden oder greisen Menschen die gleichen rechtlich-normativen Forderungen zu stellen wie an ein jüngeres Mitglied unserer Gesellschaft, das sich im Zustande ungeschmälerter Vitalität befindet. Diesem Zweifel wird meist entgegengehalten, daß Altern scliließlich keineswegs geistige oder körperliche Gebrechlichkeit bedeuten muß, doch sieht man mit diesem
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Alterskriminalität
Argument die Frage mehr unter dem Aspekt individueller Ausnahmeentwicklungen. Sie weisen Möglichkeiten der Daseinsführung im höheren Lebensalter auf, zeigen jedoch nicht den Gesamtumfang der Realität im Bereich der alternden und greisen Bevölkerungsanteile. Bei Beschäftigung mit der Alterskriminalität kann es aber kein vordringliches Anliegen sein zu untersuchen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit der Mensch bis zum Lebensende hin seine Daseinsführung auf einer mehr noetischen Ebene neu organisieren kann. In diesem Zusammenhang hat Bürger-Prinz darauf hingewiesen, daß Altern und Altern etwas sehr Unterschiedliches sein kann, j e nach den Bedingungen, unter denen das Leben geführt wurde; denn keineswegs bestimmt das Bild des produktiven Wissenschaftlers, des Künstlers oder Politikers das Gesicht dessen, was unter einem „normalen Greis" verstanden wird. Die Untersuchungen Charlotte Bühlers über den „Lebenslauf als psychologisches Problem" bestätigen diese Auffassung und führen zu der Einsicht, daß ζ. B . der reinen Vitalität ohne geistigschöpferischen Überbau als Lebensbasis nicht die Kraft innewohnt, den Kulminationspunkt einer Lebenslaufkurve in Richtung auf das Ende zu verschieben, wogegen andererseits, ein ungestörter Lebenslauf vorausgesetzt, der geistigen Produktivität eine der Regression ausgesprochen entgegengesetzte Tendenz innewohnt, zumal wenn sie von dem Faktor der Bestimmung für etwas getragen wird. Auch wenn man absieht von allen biologischen Voraussetzungen, wird man die konstitutive Kraft, die im Aufbau der Persönlichkeit und ihres Lebensablaufes vom Verhältnis von Bedürfnis zu Bestimmung ausgeht, anerkennen müssen. Festzuhalten ist schließlich noch, daß solche Ausnahmeentwicklungen, auf die gewissermaßen als Beispiele „vorbildlichen" Alterns hingewiesen wird, in Verkemiung ihrer letzten Endes doch biologischen Fundiertheit in einem Streubereich liegen mit dem Gegenstück der ebenfalls allgemein bekannten vorzeitigen Vergreisung. Wesentlich erscheint, wie im Alter durch eine Verschlingung endogener, exogener und reaktiver Faktoren seelische Funktionssysteme sichtbar werden, die zu einer sonst niemals derart eindrücklich ausgeprägten menschlichen Schichtentrennung führen können und u. U. das Lebensalter als Bezugssystem für menschliche Lebensmöglichkeiten bedeutungslos werden lassen. Daß die kriminologische Erforschung eines Lebensstandes nicht nur auf Randerscheinungen abgestellt werden kann, leuchtet ein; denn auch das Recht hat sich nicht nur mit solchen Ausnahmeerscheinungen zu befassen, sondern kann sich einen hinlänglichen Realitätsbezug nur sichern, wenn es abgestellt wird auf die Ordnung der Verhaltensformen, die sich aus den E n t -
wicklungsgesetzen der großen Mittelschichten einer Gesellschaft ergeben. Mag eine Zunahme der Alterskriminalität, wie sie v. Hentig vor 30 Jahren als möglich ansah, durch besondere Einwirkungen ausgeblieben sein, so bleibt doch festzustellen, daß die E n t wicklung zur modernen Gesellschaft, die aus ihr folgende erhebliche Verlängerung des Individuallebens mit dem Zwang zur Protrahierung des Daseinsgenusses, das Einzelleben mit zunehmendem Alter in ein immer schärferes Spannungsverhältnis zwischen dem Normativen und der Realität führen muß, und zwar derart, daß der vom Normativen ausgehende Sozialdruck schließlich nicht mehr beherrschbar bleibt. Unter diesen Umständen könnte sich ein Wandel der Anschauung für die Beurteilung des Unwertes einer Tat, begangen von einem alternden Menschen, eines Tages doch Geltung verschaffen. Die Zubilligung der Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit bei einer „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" oder die Beurteilung einer Tat nach den Bestimmungen für die Verminderte Schuldfähigkeit bei einer leichten Veränderung hat gewiß ihre Berechtigung. Andererseits ist dieses Verfahren bei der forensisch-psychiatrischen Beurteilung der Straftat eines alternden Menschen in mancher Hinsicht auch prinzipiell angreifbar. So ist es zwar üblich, aber doch dem Sachverhalt unangemessen, die Beurteilung eines Störungsgrades vor allem je nach dem Erhalt des intellektuellen Raisonnements vorzunehmen. Dabei werden allzuoft die Veränderungen im Bereich affektiver Dauerhaltung übersehen, und doch handelt es sich gerade bei ihnen um schwerwiegende Störungen der seelischen Grundfesten eines Menschen, denn sie bedingen eine Umwandlung seiner Sozialhaltung, seiner Gesinnung, seiner Wünsche, Bedürfnisse sowie aller mitmenschlichen Bezüge, und zwar nach voraufgegangener jahrzehntelanger Durchformung. Eine solche Veränderung ist, gemessen sowohl an schweren Abbauzuständen als auch an leichten psychotischen Veränderungen in jüngeren Lebensjahren, mit anderen Maßstäben zu werten, und unter diesem Aspekt ist es u. U. unzureichend, einen alternden Rechtsbrecher lediglich nach den Bestimmungen der ausgeschlossenen und verminderten Schuldfähigkeit zu beurteilen oder im Wege der Strafzumessung die altersspezifisch geminderte Schuld zu berücksichtigen. L i t e r a t u r bis 1 9 2 0 I. B. F r i e d r e i c h : System der gerichtlichen Psychiatrie. 2. Aufl. 1842. L. K i r n : Über die klinische Bedeutung des perversen Sexualtriebes. AllgZPsychiatr. 39 (1883) S. 216. — : Über geminderte Zurechnungefähigkeit. VjschGerMed. 15 (1898). F. L e p p m a n n : Die Sittlichkeitsverbrecher. VjschrGer Med. 29 (1905) S. 277.
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55
Entgleisungen und krimineller Handlungen. ZPsychotherapie. 4 (1954) S. 122. J . W y r s c h : Zur forensischen Psychiatrie der Alterspsychosen. Schweiz ArchNeurol. 73 (1954) S. 430. F. B a r y l l a : Sexuelle Impotenz als Kommunikationsstörung. MschrPsychiatr. 132 (1956) S. 240. H. B ü r g e r - P r i n z : Psychopathologie der Sexualität, in Die Sexualität des Menschen. Hb. d. med. Sexualf. hssgg. v. Giese (1955). R. K o c h : Ein ungewöhnlicher Fall von Blutschande; ArchKrim. 115 (1955) S. 140. F. G. v. S t o c k e r t : Kindheit, Pubertät, Reife, Alter; in: Die Sexualität des Menschen. Hb. d. med. Sexualf. hsgg. v. Giese. (1955). E. S t r a n s k y : Die Begutachtung psychischer Veränderungen bei alternden und alten Menschen. WienMedWschr. 105 (1955) S. 833. J . Z u t t : Sexualität, Sinnlichkeit und Prägung. Beitr. Sexualf. 6 (1955), S. 1. W. S c h u l t e u. H. H a r l f i n g e r : Seelisches Altern als Lebensproblem. Fortscnr. Neurol. 24 (1956) S. 341. H. Giese: Das Altersbild sexueller Perversionen. Nervenarzt 28 (1957) S. 553. A. G l a n s : Kriminalität im Alter. ZPrävMed. 2 (1957) S. 303. R. G r a s s b e r g e r : Die Persönlichkeit des Sexualverbrechers. Krim. 11 (1957). K. I s h i i : Psychiatrisch-kriminologische Studien über Sexualverbrecher. Psychiatr. u. Neurolog. jap. 59 (1957) S. 1091. N. P e t r i l o w i t s c h : Der Ganzheitsaspekt in der Altersforschung. ArchPsychiatr. u. ZNeurol. 196 (1957) S. 337. N. W o l f : Sexualdelikte von Greisen. MünchMedWschr. 99 (1957) S. 256. H. B ü r g e r - P r i n z : Senile Psychopathien. ZblNeurol. 144 (1958) S. 11. C. F ü r s t : Kriminalität und Geisteskrankheit im Alter unter besonderer Berücksichtigung der degenerativen Altersveränderungen. MschrPsychiatr. 135 (1958) S. 107. J . H i r s c h m a n n : Die biologisch bedingten Triebabweichungen und ihre forensischen Auswirkungen. Z. menschl. Vererb, u. Konstitutionslehre. 34 (1958) S. 417. J . I n g a m a t a und H. K a m i d a : Kriminalbiologische Studien über die Kriminalität bei alternden Menschen. Psychiatr. Neurolog. jap. 60 (1958) S. 1419. Ε. M e z g e r : Die biologisch bedingten Triebabweichungen und ihre strafrechtliche Beurteilung. Z. mensch. Vererbu. Konstitutionslehre. 34 (1958) S. 437. W. S c h u l t e : Möglichkeiten der Entfaltung und Gestaltung im Altern. Nervenarzt. 29 (1958) S. 97. F. J . M. W i n z e n r i e d und W. R a s c h : Homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen als Symptom einer Persönlichkeit sveränderung. MschrKrim. 41 (1958) S. 195. E. S t r a n s k y : Über die Frage der psychiatrischen Vertretbarkeit eines Altersstrafrechts. Mitt. des Oester. Justizärztevereines 1 (1957/58) S. 74. Ch. B ü h l e r : Der menschliche Lebenelauf als psychologisches Problem. 2. Aufl. 1959. H. E h r h a r d t : Die biologisch-psychologische Erforschung der Verbrechensursachen und ihre kriminalpolitische Bedeutung; in: Krimlnalpolit. Gegenwartsfragen (1959) S. 41. O. K a h n e r t : Die Sexualkriminalität der männlichen Rückbildungsjahre. JbAkadStaatsmed. (1959) S. 131. G. N y l r ö : Das Senium und die Zurechnungefähigkelt. ZAltersfsch. 13 (1959) S. 131. W. S c h u l t e : Beweggründe für Sexualdelikte im Senium. Praxis d. Psychother. 4 (1959) S. 37. —: Greise als Täter unzüchtiger Handlungen an Kindern. MschrKrim. 5/6 (1959) S. 538. S. Y o s h l m a s u : Über die kriminellen Lebenskurven — ihre Bedeutung und Anwendbarkeit für die kriminalbiologische Forschung und Praxis im Strafvollzug. ArchPsychiatr. u. ZNeurol. 199 (1959) S. 103. HERBERT LEWRENZ
56
Amtsdelikte
AMTSDELIKTE
bestände auch die Amtserschleichung und die Amtsanmaßung einbeziehen; auch wollte er den Beamtenbegriff auf alle Amtsträger erweitern. Im Gegensatz dazu will der Entwurf von 1962 den besonderen 28. Abschnitt der Amtsdelikte auflösen. Dabei sollen die unechten Amtsdelikte Erschwerungstatbestände oder Regelbeispiele für besonders schwere Fälle der Grunddelikte werden; die echten Amtsdelikte sollen unter Berücksichtigung der angegriffenen Rechtsgüter auf mehrere Titel verteilt werden. Eine gesonderte statistische Erfassung der Amtsdelikte würde dadurch unmöglich.
1. Wesen der Amtsdelikte Unter Amtsdelikten versteht man die im 28. Abschnitt des StGB unter dem Titel: „Verbrechen und Vergehen im Amt" aufgeführten Tatbestände. Die frühere Reichskriminalstatistik und auch die „Strafverfolgungsstatistik der B R D " , die in ihnen eine besondere „Hauptdeliktsgruppe" sehen, gehen von dieser Einteilung aus: jene bezog auch Bestechungsdelikte aus Nebengesetzen (G. ü. d. Branntweinmonopol v. 8. 4.1922, Schriftleiter G. v. 4.10.1933) ein. Die gleiche Grundlage hat die polizeiliche Kximinalstatistik. Der Entwurf eines Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches von 1927 wollte unter der Überschrift „Verletzung der Amtspflicht" neben mannigfachen Umgestaltungen der einzelnen Tat-
In der Tat ist die systematische Ordnung des geltenden Rechts unbefriedigend und der Begriff des Amtsdeliktes deswegen wenig klar. Der 28. Abschnitt des StGB enthält auch Sonderdelikte
Tabe lie 1
Grundzahl Verurteiltenziffer
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
2249 4,6
1919 4,0
173B 3,6
1718 3,4
1889 3,8
1906 3,79
1686 3,35
1654 3,21
1649 3,17
Grundzahl Davon weiblich
1937
1938
1939
1940
1941
1942
1/2 1943
1580 61
1551 70
1431 51
1273 50
1795 370
2269 639
1078 395
340
346
348
350/1
66
21
52 2
17 1 21
Tabelle 2 §§ 1950 insgesamt weiblich 1951 insgesamt weiblich 1952 insgesamt weiblich 1953 insgesamt weiblich
5§
331 332 333
331
332
333
24 1 22 1 25 1 36 1
108 8 87 5 65 1 64 3
212 50 147 33 136 27 163 31
340/ 342
343
346 3471
—
— —
347 34« II
350 352 351 353
79 6 79 8 108 6 94 8
—
—
—
13
—
—
353 b
334 336 354 355 356 357 344 345
überhaupt
866 71 786 65 778 58 749 37 Verhältnisziffer
1954 insgesamt weiblich
27 1
43 1
124 21
56 1
7
17 1
24 1
81 10
762 51
5
2
28 7
2
61 22
5 1
1 244 117
3,2
1955 Insgesamt weiblich
15 1
35 3
99 11
56 3
2
17
26 1
63 6
703 46
3
1
25 8
4
4 1
2
1 055 80
2,6
1956 Insgesamt weiblich
18
35 2
101 16
69 2
3
18
25
84 7
648 46
3
4
41 10
3
5 1
2
1 059 84
2,6
1957 Insgesamt weiblich
25 1
32
108 12
68 1
2
16
27
93 2
700 52
3
2
44 6
7
2
1 129 74
2,8
1958 insgesamt weiblich
21
49
109 17
41 1
8
13
32
95 2
727 60
2
6
37 4
7
4
5 1
1 156 85
2,8
1959 insgesamt weiblich
37
57 2
121 21
49 2
9
23
66 4
695 78
3
46 3
7
1
6 2
1 120 114
2,7
I 9 6 0 insgesamt weiblich
63 12
57 2
120 11
52
14
24 1
70 7
670 62
2 1
37 10
5
1
4
1 120 106
2,7
1
6
2 249
4,6
—
—
—
1
1927 wurden wegen dieser Delikte im deutschen Reich verurteilt: (auch aucl 8 339) §349 20R 5 30 37 293 77 230 1181 10 173 Aus §§ 353 a und 353 c fanden in dieser Zeit keine Verurteilungen statt.
-
Amtsdelikte freier Berufe (§§ 356, ζ. T. a. 352, 353 a, 353 c) und Delikte von Nichtbeamten (§§333, 334 I I ) ; andererseits finden sich Amtsdelikte außerhalb dieses Abschnittes (§§ 89, lOOf, 174 Nr. 2, 412 RAbgO, ζ. T. auch § 175 a Nr. 2). Nicht jede Amtspflichtverletzung ist ein Delikt. Mit Strafe bedroht das S t G B sie vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten. Einmal erfaßt es nur solchen Mißbrauch der Amtsgewalt, der in wichtige persönliche oder auch andere öffentliche Interessen eingreift. Diese Amtsdelikte sind teils unechte (uneigentliche) — wenn dieses Rechtsgut auch allgemein geschützt ist wie körperliche Integrität, Freiheit, Hausfrieden (§§340—342 S t G B ) —, teüs echte (eigentliche) — , wenn die Interessenverletzung nur durch amtliche Handlungen geschehen kann, wie die Rechtsbeugung. Bei den unechten Amtsdelikten ist ihre Ausbildung abhängig vom Zufall der gesetzestechnischen Ausgestaltung; so ist ζ. B . die Nötigung im Amt (§ 339) 1943 gestrichen worden. Die zweite Gruppe umfaßt die durch Mißbrauch der Amtsgewalt begangenen Vermögensdelikte, die ebenfalls echte wie die Bestechung als auch unechte wie die Amtsunterschlagung sein können. Auch bei diesen ist die Zuordnung zu den Amtsdelikten unvollständig; so ist insbesondere der Diebstahl im Amt kein Amtsdelikt. Auch das außerdeutsche Recht kennt, abgesehen vom angelsächsischen Recht, Verbrechensgruppen, die als Amtsdelikte, Amtsverbrechen und Verbrechen und Vergehen der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Amtes (Code pinal), Strafbare Handlungen gegen die Amts- und B e rufspflicht (Schweiz), Mißbrauch der Amtsgewalt (Österreich) u. ä. bezeichnet werden. Auch bei ihnen unterscheidet man eigentliche und uneigentliche Amtsdelikte. I m einzelnen ergeben sich aber zahlreiche Unterschiede hinsichtlich des als Täter erfaßten Kreises der Beamten und der in diese Gruppe aufgenommenen Delikte. Im Hinblick auf eine Anzahl von Sonderuntersuchungen über die Kriminologie der Amtsdelikte seien im folgenden die Amtsdelikte in Deutschland dargestellt. 2. Statistik der Amtsdelikte Die absolute und relative Zahl der Amtsdelikte fiel, wie die Übersicht in der Reichskriminalstatistik 1927, S. 39 und S. 56 zeigt, von 1882 bis 1914 ständig. Die Grundzahl der Verurteilten (GZ) ging von 1613 auf 1093, die Verhältnisziffer (VZ) von 5,1 auf 1,9 zurück. Schon im Krieg begann sie zu steigen und erreichte ihren Höchstpunkt 1921 mit 3058 Verurteilten (VZ 6,5); sie sank bis 1927 auf 2249 Verurteilte (VZ 4,6). Über die weitere Entwicklung im Deutschen Reich unterrichtet Tabelle 1 auf Seite 56 Die Verurteilungen in der Bundesrepublik von 1950—1960 finden sich auf Tabelle 2 der Seite 56 (Gesamtzahlen für 1950—1953 fehlen).
57
Die gesetzlichen Bestimmungen über die Amtskriminalität sind verschiedentlich geändert worden. Eingefügt wurde § 353 a am 26. 2. 1876 und nach Streichung durch KontrollratsG. Nr. 11 v. 3 0 . 1 . 1 9 4 6 in neuer Fassung am 30. 1951, § 347 I I I am 2 4 . 1 1 . 1 9 5 3 , §§ 353 b und 353 c am 2. 7 . 1 9 3 6 ; gestrichen wurden §§ 339 und 349 am 2 9 . 5 . 1 9 4 3 und § 3 3 8 am 8 . 5 . 1 9 5 3 ; eine neue Fassung erhielten §§ 345 I und 346 I am 2 4 . 1 1 . 1933, § 348 am 2. 7 . 1 9 3 6 und §§ 345 I I , 352 I , 355, 356, 358 und 359 am 4. 8 . 1 9 5 3 . Bedeutsamer für die Gleichheit der Massen bei der statistischen Erfassung ist der bei den Amtsdelikten sehr häufige Wandel der Rechtsprechung gewesen, der sich teils positiv, teils negativ auf die Zuordnung von Taten zu den Amtsdelikten auswirkte, aber auch innerhalb der Amtsdelikte zu Verschiebungen führte. Nur die wichtigsten Änderungen können hier angeführt werden. So ist der strafrechtliche Beamtenbegriff seit 1917 erweitert worden. Während bis 1917 Postaushelfer nur dann als Beamte angesehen wurden, wenn sie eine Beamtentätigkeit, insbesondere staatshoheitsrechtliche Verrichtungen ausübten, ließen R G S t 51, S. 65 (1917) und 52, S. 309 (1918) jede Dienstverrichtung, also auch den Bestelldienst, genügen. Die Bejahung einer Verwahrungsund Annahmepflicht der Poststellenhilfsinhaber bei Postanweisungen und Zahlkarten durch R G S t 65, S. 87 (1931) gegen 65, S. 38 hatte ihre Verurteilung aus §§ 350, 351, 354 bei der Unterschlagung eingezahlter Gelder zur Folge. Die erweiterte Auslegung, die R G S t 74, S. 251 (1940) und 77, S. 75 (1943) der Pflichtwidrigkeit der Amtshandlung bei Bestechung von Ermessensbeamten gab, führte zu einer Verschiebung von § 331 zu § 332 und zur Erweiterung der Bestrafung aus § 333. Die seit 1928 verstärkte Heranziehung des § 3 4 8 I I bei Delikten, die früher aus §§ 267 ff. verurteilt wurden, und die Klarstellung durch R G S t 65, S. 104 (1931), daß § 351 kein Sonderdelikt gegenüber §§ 348, 349 sei, wie die Rechtsprechung der Tatgerichte annahm, vermehrten Verurteilungen aus §§ 348, 349, und zwar bis zur Aufhebung des § 349 auf Kosten der Amtsunterschlagung und der passiven Bestechung. Weiter sind die Gerichte bei der Unbestimmtheit mancher Tatbestandsmerkmale in ihren E n t scheidungen oft unsicher. Das gilt namentlich für die Zuordnung von Taten zu Diebstahl oder Amtsunterschlagung, die von der Feststellung des Alleingewahrsams des Beamten abhängt, an den die Gerichte wegen der hohen Mindeststrafe bei Amtsunterschlagung oft strenge Anforderungen stellen. Endlich müssen die Regeln der statistischen Erhebung beachtet werden. Bei einer Verurteilung eines Täters aus mehreren, sei es tateinheitlichen oder -mehrheitlichen Taten, wird nur das schwerste Strafgesetz gezählt. Deshalb kann ein Amtsdelikt
Amtsdelikte
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als Nichtamtsdelikt in der Statistik erscheinen. Praktisch ist das insbesondere bei Anwendung des § 266 wichtig, den die Rechtsprechung des BGH ebenso wie die des RG vor allem bei Einkassieren, Verwalten und Abliefern von Geld durch den Beamten für die Behörde annimmt (BGHSt 13, S. 315). Die Tatgerichte folgen dieser Rechtsprechung nur zögernd. Amtsdelikte treffen aber auch untereinander sehr oft tateinheitlich (§ 73 StGB) zusammen. Auch dann werden die leichteren Delikte nicht vollständig gezählt. Das gilt insbesondere für § 354, der meist mit § 350 zusammentrifft. § 354 erscheint in der Statistik nur in den Fällen, bei denen der Postbeamte sich den Briefinhalt nicht aneignet, sondern aus Neugier den Brief eröffnet oder aus Faulheit nicht bestellt. Neben den Einflüssen, welche die Änderungen des materiellen Rechtes auf die Ergebnisse der Statistik ausüben, dürfen die Einwirkungen der Intensität der Strafverfolgung (ζ. B. Erweiterung des Opportunitätsprinzips bei der Strafverfolgung, Straffreiheitsgesetze u. a.) nicht übersehen werden. Von Bedeutung ist hier vor allem, daß gegenüber der älteren Auffassung seit RGSt 73, S. 265 (1939) sich die Anschauung durchgesetzt hat, daß es dem pflichtgemäßen Ermessen des Dienstvorgesetzten überlassen ist, ob er Straftaten seiner Untergebenen der Strafverfolgungsbehörde anzeigt. Die Oberpostdirektionen des Bundes haben in den Jahren 1950—52 von 4196 Tätern (nicht nur Beamte und Amtsdelikte) 1176 ( = 28%) nicht angezeigt. Die polizeiliche Kriminalstatistik, welche die festgestellten Taten zählt, weist von 1953—1962 die in Tabelle 3 genannten Zahlen auf, die allerdings die bei der Bundespost begangenen Amtsdelikte nur bei Einschaltung der Kriminalpolizei enthalten. 3. Die Begehungsformen der einzelnen Amtsdelikte a) Die A m t s u n t e r s c h l a g u n g ist das am häufigsten bestrafte Amtsdelikt. Die „Dunkelziffer" ist nicht hoch, da die Tat in der Regel durch Revisionsbeamte oder auf Anzeige des
Geschädigten entdeckt wird. Gegenstand der Unterschlagung ist meist Geld, Täter sind hier vor allem Kassenbeamte. Sie nehmen zugleich Falschbuchungen vor, die zum endgültigen Verlust oft erheblicher Beträge führen, zumal wenn sie sich als fortgesetzte Handlungen über längere Zeit hinziehen. Eine andere Form ist die Spätbuchung, die nur zu einer Kreditentnahme und damit nur zu einem vorläufigen Erfolg führt. Die Beträge, um die es sich bei diesen Schiebungen handelt, sind oft gering. Andere Unterschlagungen hatten amtlich aufbewahrte Gegenstände zum Objekt. Postbeamte, insbesondere Brief- und Paketzusteller sind vor allem beteiligt an Unterschlagung von Beförderungsgut. In den Zeiten des Schwarzmarktes häuften sich Unterschlagungen der Polizeibeamten an beschlagnahmten Gegenständen, bei denen die Dunkelziffer hoch war. b) Die Masse der U r k u n d e n d e l i k t e im A m t wird in Tateinheit mit Amtsunterschlagungen begangen, besonders von Postbeamten, welche etwa bei Zueignung von Geld oder Beförderungsgut Briefumschläge oder Paketadressen mit Anschrift und Tagesstempel oder auch andere Urkunden verschwinden lassen. Seit der Aufhebung des § 349 werden diese Taten in der Statistik unter § 351 gezählt. Bei den erfaßten Urkundendelikten ist die Falschbeurkundung nach § 3481 selten. Diese Taten werden von Urkundsbeamten ζ. B. bei der Ausstellung von Bescheinigungen oder der Aufnahme von Protokollen, begangen. Schwerwiegend sind dabei Falschbeurkundungen, die vorgenommen werden, um einem Nichtbeamten bei der Ausführung einer Straftat, etwa einem Schmuggel oder einem Einkauf bezugsbeschränkter Waren, zu helfen. Häufig sind dagegen Urkundenfälschungen oder -Unterdrückungen nach § 348 II, mit denen der Täter einen Vorteil von seiner Dienststelle erreichen will. c) K ö r p e r v e r l e t z u n g e n im A m t (§340) und andere Gewaltdelikte sind wenig zahlreich. Allerdings muß mit einer gewissen Dunkelziffer bei abhängigen Opfern gerechnet werden. Andererseits sind offensichtlich unbegründete Anzeigen
Tabelle 3 Neugemeldete Fälle 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
1927 2 443 2 687 2 294 2 476 2 258 2 835 3145 3 589 2 487
Aufgeklärte Fälle 1824 2 315 2 470 2126 2 221 2 043 2 553 2 883 3 347 2 336
Festgestellte Täter 1357 1740 1703 1744 1671 1822 2 285 2 281 2 305 1743
davon weiblich
Nichtdeutsche Täter
54 81 93 75 79 101 125 87 81 85
2 3 5 4 30 25 6 —
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Amtsdelikte sehr häufig. Beteiligt sind vor allem Lehrer, die die Grenzen zulässiger körperlicher Züchtigung überschritten haben, und Polizeibeamte. Wie auch die erkannten Strafen zeigen, handelt es sich meist um leichte Fälle. Das gilt auch für die Delikte nach §§ 341 und 342. Die deutsche Polizei geht nicht mit Mißhandlungen bei Ausübung ihrer Befugnisse vor. Als das Gegenteil in der Zeit des Nationalsozialismus einriß und insbesondere die „verschärfte Vernehmung" üblich wurde, fand deswegen keine Strafverfolgung statt. Erst nach 1945 konnten einzelne zurückliegende Fälle abgeurteilt werden, in denen Beamte der Polizei, insbesondere der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), politische Gegner des Regimes in grausamer Weise mißhandelt hatten, um Geständnisse oder andere Angaben von ihnen zu erpressen. In diesen Fällen wurde auf hohe Zuchthausstrafen erkannt. d) G e f a n g e n e n b e f r e i u n g . Die wenig häufige vorsätzliche Gefangenenbefreiung ist selten schwerwiegend. Meist handelt es sich um Aufsichtspersonal, das den ihm anvertrauten Gefangenen „Urlaub auf Ehrenwort" gibt, das von diesen meist gehalten wird. Fälle, in denen Beamte einem Gefangenen vorsätzlich die Flucht ermöglichen, gehören zu den seltenen Ausnahmen. Viel häufiger sind die fahrlässigen Taten. Es handelt sich um mangelhafte, oft erstaunlich leichtfertige Aufsicht durch die mit der Bewachung betrauten Strafanstalts-, sonstigen Justiz- oder Polizeibeamten. Bei ihnen kommt es manchmal zu einer längeren, selten zu einer dauernden Entweichung der Gefangenen. e) Die G e b ü h r e n ü b e r h e b u n g (§353) ist selten und wenig bedeutsam. Täter sind oft Postbeamte, die nur sehr geringe Überbeträge als Nachgebühren u. ä. einziehen. f) In der Statistik der B e s t e c h u n g s d e l i k t e muß mit einer hohen und wechselnden Dunkelziffer gerechnet werden. Bei einer erfolgten Bestechung haben die Partner ein erhebliches Interesse an der Geheimhaltung. Nur bei Streit unter ihnen kommt es zu einer Offenbarung. Sonstige Spuren der Bestechung können leicht verheimlicht werden. Selbst bei Aufdeckung einer Bestechung stößt die Verurteilung oft auf Beweisschwierigkeiten. Einstellungen und Freisprüche sind ungewöhnlich häufig. In einer Zeit völliger Integrität des Beamtentums kommt es nicht zu Bestechungen; der Bestechungsgeneigte unterläßt sie, weil er weiß, daß sein Angebot nicht nur vergeblich ist, sondern auch zu einer Strafanzeige gegen ihn führt. So gehört auch heute noch eine Verurteilung wegen (aktiver oder passiver) Richterbestechung aus § 334 zu den ganz seltenen Ausnahmen. Das wird anders, wenn sich Anzeichen einer Anfälligkeit des Beamtentums im ganzen oder auf einzelnen Gebieten zeigen. Jetzt werden Bestechungen vorgenommen, die zwar auch noch in einem Teil der
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Fälle zur Anzeige führen, aber doch nicht mehr aussichtslos sind. Ist die Beamtenschaft völlig korrupt, so werden die Anzeigen sinken, bis schließlich die Aufklärung nur noch in Fällen gelingt, in denen auch passive Bestechungen erfaßt werden. Die Dunkelziffer der aktiven Bestechung steigt. Das Verhältnis der Zahl der Verurteilungen von aktiver und passiver Bestechung ist daher, soweit es nicht durch Straffreiheitsgesetze verzerrt ist, ein Anzeichen für die Integrität des Beamtentums. Die Zahlen der Statistik geben kein zuverlässiges Bild der abgeurteilten Bestechungen. Sie treffen nicht selten mit Verurteilungen wegen anderer schwererer Delikte zusammen, insbesondere bis 1943 mit schwerer Falschbeurkundung (§ 349), aber auch mit Delikten aus §§ 346, 347 I u. a., und erscheinen dann statistisch unter diesen. aa) Die e i n f a c h e p a s s i v e B e s t e c h u n g ist ein leichtes Delikt. Das gilt insbesondere dann, wenn der Beamte ein Geschenk annimmt, das ihm für besondere Bemühungen, die er im Interesse des Geschenkgebers aufgewendet hat, angeboten wird. Bedenklicher ist es, wenn der Beamte nur dann seine Amtspflicht ordnungsgemäß erfüllt, wenn er beschenkt wird. bb) Schwere p a s s i v e B e s t e c h u n g ist kriminologisch ernster und in ihrer neueren Entwicklung bedrohlich. Ihre Bedeutung ist allerdings unterschiedlich. Auch hier gibt es leichte Fälle, ζ. B. wenn, wie es häufig vorkam, in der Zeit der Lebensmittelknappheit Strafanstaltsbeamte von den Angehörigen der unzureichend verpflegten Gefangenen kleine Geschenke annahmen, damit sie diesen Nahrungsmittel übergaben und so der Not der Gefangenen abhalfen. Die schwere passive Bestechung kann verschiedene Ziele haben. Der Beamte soll die hoheitliche Gewalt des Staates, die für den Bestechenden oder ihm nahestehende Personen nachteilige Folgen hat (Anzeige wegen einer strafbaren Handlung, Zwangsvollstreckung, Zollkontrolle u. a.), nicht ausüben oder eine Handlung, die für diesen vorteilhaft ist (Erteilung eines Berechtigungsscheines, Stundung oder Erlaß einer Zahlung), ohne die dafür erforderlichen Voraussetzungen vornehmen. Die kriminelle Wertigkeit hängt von der Bedeutung dieser Handlung ab. Die Bestechung erhält ein neues Betätigungsfeld in Zeiten einer Zwangswirtschaft, in denen es von den Beamten der zuständigen Behörden (Ernährungs-, Wohnungs-, Wirtschafts-, Straßenverkehrsamt) abhängt, ob den Antragstellern die begehrte Zuteilung, Genehmigung oder Bezugsberechtigung gewährt wird. Endlich spielt die Bestechung eine Rolle bei der Betätigung des Staates in der Wirtschaft, sei es, daß der Staat Entschädigungen für eingetretene Verluste (Lastenausgleich) oder Zuschüsse zu wirtschaftlichen Betätigungen leistet (sozialer Wohnungsbau u. a.) oder daß er sich selbst wirt-
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Amtsdelikte
schaftlich betätigt (Vergabe von Bauaufträgen, Aufträge für Beschaffung von Lebensmitteln, Ausstattung, Ausrüstungsstücken, Waffen u. a.). Gerade im letzteren Fall kann es sich, sowohl was die Bestechungsmittel als auch die von den Bestechern erstrebten Gewinne anbelangt, um ganz erhebliche Summen handeln. Meist wird der Beamte zur passiven Bestechung durch den Bestecher veranlaßt. Doch geht die Initiative gar nicht selten auch vom Beamten aus, namentlich wenn die amtspflichtwidrige Handlung Gelegenheit zu großen Gewinnen gibt und die Gewinnsucht entscheidendes Motiv wird. cc) Die a k t i v e B e s t e c h u n g entspricht in ihren Zielen der schweren passiven Bestechung. Die Täter befinden sich oft in einer Notlage. Sie sind etwa von Festnahme oder einer amtlichen Kontrolle bedroht und suchen ihr in einem solchen Konfliktsfall durch Bestechung zu entgehen. Oder sie wollen in Zeiten des Mangels eine ihnen günstige behördliche Entscheidung erlangen und versuchen sich so das Wohlwollen des entscheidenden Beamten zu erringen. Die Bestechungshandlung ist meist verschwiegen und unauffällig, auch sind die Bestechungsmittel oft gering. Anders ist das bei den Tätern, die aus Gewinnsucht handeln und mit unzulässiger behördlicher Hilfe ein großes Geschäft machen wollen. Sie pflegen ihre Pläne eingehend mit den Beamten zu besprechen; auch wenden sie erhebliche Mittel auf. Hier sind die Beamten einer stärkeren Versuchung ausgesetzt. 4. Die
Täler
Beamte i. S. des § 359 können auch Personen sein, die nicht Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Ihr Anteil ist erheblich. Genaue Feststellungen fehlen; auch ändert sich ihr Anteil mit der Behördenorganisation. Während Schütze noch schätzte, daß drei Fünftel der Täter Beamte im staatsrechtlichen Sinne seien, zeigen spätere Stichproben, daß die Zahl der Auch-Beamten erheblich überwiegt. Frauen sind, abgesehen von der aktiven Bestechung, bei der ihr Anteil ein knappes Fünftel (1950—1957 18,6%) beträgt, absolut und relativ wenig an den Amtsdelikten beteiligt. Sie sind zahlenmäßig schwächer in den Behörden vertreten und üben seltener Funktionen aus, die zu Amtsdelikten verleiten. An den Amtsdelikten sind höhere Altersstufen über 30 bis 60 Jahre stärker beteiligt als an anderen Delikten. Wichtiger als das Lebensalter ist aber das Dienstalter der Täter. Hier muß zwischen Beamten im staatsrechtlichen Sinn und anderen Beamten unterschieden werden. Jene stehen an Zahl der Täter absolut und relativ günstiger da; sie setzen mit einer Straftat mehr aufs Spiel. Aber bei ihnen häufen sich die schweren Amtsdelikte, zu deren Begehung sie auch mehr Gelegenheit
haben. Ihre Taten begehen sie auch oft nach langer Dienstzeit, in der sie in verantwortliche Stellungen gekommen sind, während die Aufsicht nachgelassen hat. Die Auch-Beamten begehen ihre Taten oft schon nach kurzer Dienstzeit. An den Taten sind Beamte aller Dienststufen beteiligt, wobei die unteren Stufen wegen ihrer größeren Anstellungszahl auch mehr Täter stellen. Über relative Unterschiede fehlen zuverlässige Feststellungen. Mit der Dienststufe wächst die Schwere der Taten. Die Täter der Amtsdelikte sind Einzelgänger; Begehung in Mittäterschaft, auch nur zu zweit, ist selten. Das liegt daran, daß der Beamte fremde Hilfe nicht braucht, weil er bei Ausübung seiner Funktionen selbständig gestellt ist, und daß er wegen der Gefahr der Entdeckung Mitwisserschaft scheut. Mittäterschaft kommt daher nur vor, wenn mehrere Beamte zusammen mit Erfüllung derselben Aufgabe betraut sind, ζ. B. auch Ehepaare, die gemeinsam eine Poststelle innehaben. Nur wenn sich bei einer Behörde ein Korruptionsherd bildet und die Scheu der Beamten vor der Mitwisserschaft anderer Beamter wegen deren ungetreuen Amtsführung schwindet, ist das anders. Unter den Tätern der Amtsdelikte werden auch abgesehen von §§333, 334 II, 352, 356 Nichtbeamte gezählt, wenn sie wegen Teilnahme an einem echten Amtsdelikt bestraft werden. Bedeutung erlangt das bei der Falschbeurkundung im Amt und der Urkundenvernichtung, zu denen interessierte Nichtbeamte manchmal Beamte anstiften. 5. Verteilung
der Amtsdelikte
auf die
Behörden
Der größte Anteil, etwa die knappe Hälfte, entfällt auf die Postbeamten. Das ist nicht erstaunlich, da es wohl keinen Zweig der Staatsverwaltung gibt, in welchem die Bediensteten bis zu den untersten Dienststellen bei oft geringem Einkommen ständig für Geld und Wertgegenstände, die ihrer Dienststelle gehören oder ihr anvertraut sind, Sorge tragen. Versuchung und Gelegenheit zur Unredlichkeit sind besonders groß. Da die Post wirtschaftliche Aufgaben hat, sind die von ihren Bediensteten begangenen Amtsdelikte ganz überwiegend Amtsunterschlagungen, die häufig mit Delikten nach § 354 oder (und) § 348 II, früher auch § 349 in Tateinheit stehen. Sonstige Amtsdelikte, auch passive Bestechung, sind selten. Dagegen werden von Postbeamten Vermögensdelikte, die nicht Amtsdelikte sind, in erster Linie Diebstahl, auch Betrug und Untreue, oft begangen. Sachlich ähnlich, aber wesentlich geringer, etwa bei 10°/o liegend, ist der Anteil der Bahnbeamten. Da Bahnbedienstete seltener Alleingewahrsam an dem angeeigneten Gut haben, verschiebt sich die Kriminalität von der Amtsunter-
Amtsdelikte schlagung zum Diebstahl; erstere wird auch durch Umsignieren von Transportgütern durch Bedienstete der Expressgut- und Gepäckabfertigungen begangen. Bei der Kriminalität gegen die Vermögensinteressen der Bahn überwiegt der Anteil der Betriebsfremden durchaus; nur etwa 8 % der Taten werden durch Bahnbeamte begangen. Im Unterschied zur Post spielt bei der Bahn die passive Bestechung keine ganz unbedeutende Rolle. Von den Staatshoheitsverwaltungen bedarf vor allem die Justizverwaltung einschließlich der Strafanstalten der Beachtung. Ihr Anteil ist nicht unerheblich. Die Amtsunterschlagung spielt hier eine geringe Rolle; sie kommt vor bei Kassenbeamten und Beamten, die Kostenmarken zu verwalten haben. Unter den Verurteilten wegen Bestechlichkeit ist vor allem Aufsichtspersonal von Strafanstalten vertreten. Auch die Gefangenenbefreiung fällt überwiegend ihm zur Last. Ähnlich liegt es bei der Polizei; doch ist ihr Anteil an der Amtsunterschlagung höher. Ihre Beamten stellen auch die meisten Täter der Körperverletzungen im Amt sowie der sonstigen Gewaltdelikte (§§ 341 bis 346). Die Finanzbehörden sowie die übrigen Verwaltungsbehörden (Krankenkassen, Arbeits-, Gesundheitsämter usw.) sind durch ihre Kassen- und Vollziehungsbeamten an der Amtsunterschlagung beteiligt; auch Bestechungsdelikte sind nicht selten. Auffallend hoch ist der Anteil der Gemeindebeamten. Er beträgt 20%. Hier fehlt es oft an einer genügenden Überprüfung der höheren, insbesondere der leitenden Beamten. Bei Amtsunterschlagungen handelt es sich daher auch oft um hohe Summen. Der Anteil an Bestechungsdelikten ist überdurchschnittlich. 6. Die Schwankungen
der
Amtskriminalität
Die Amtskriminalität hat zahlenmäßig in der Zeit der beiden Weltkriege und in den Nachkriegszeiten erheblich zugenommen. Das hegt einmal daran, daß im Kriege die wehrdiensttauglichen Beamten eingezogen und durch pensionierte Beamte, Frauen und Jugendliche ersetzt wurden. Das änderte sich mit Kriegsende zwar nicht sofort, aber nach dem ersten Weltkrieg doch bald, nach dem zweiten nur nach längerer Zeit und nur teilweise, da Lücken nicht nur durch Kriegs Verluste, sondern auch durch Maßnahmen der Entnazifizierung entstanden, und die Beamtenschaft durch falsche Auswahl (nicht selten durch Anordnungen der die deutschen Verhältnisse verkennenden Besatzungsmächte) mit fachlich und moralisch sich als ungeeignet herausstellenden Personen durchsetzt wurde. Zugleich erzwang die Mangellage die planwirtschaftliche Erfassung der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion und schuf damit eine Wirtschaftsbürokratie, die viel-
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fach traditionslos besonders gute Ansatzpunkte für die Kriminalität bot. Auch befanden sich die Beamten selbst infolge der Zwangswirtschaft und des Währungsverfalls in Not. Wenn die Amtsdelikte auch zunehmen, so waren sie doch zunächst nicht schwer. Ihr Ziel ist häufig die Erlangung von Sachwerten (Unterschlagung von Feldpostpäckchen und anderem Beförderungsgut, Urkundenfälschung an Lebensmittelmarken, Bestechung zur Erlangung von Zuteilungsvorteilen). Diese Taten sind situationsbedingt. Bedenklich wird die Kriminalität, wenn die Täter beginnen, nicht aus Not, sondern aus Gewinnsucht und planmäßig zu handeln. Das war in größerem Umfang schon in der Zeit des Schwarzen Marktes der Fall, der vielfach mit Waren und Urkunden beliefert wurde, die durch Amtsdelikte erlangt waren. Doch endete diese gefährliche Form der Amtskriminalität nicht mit der Währungsreform und dem Aufhören des Schwarzen Marktes. Korruptionserscheinungen erhalten sich wie schon in beschränktem Maße nach der Inflationszeit 1919—1923 auch jetzt. Das gilt insbesondere von der Bestechlichkeit. Nach 1945 litt das Ansehen der Beamtenschaft unter der Überzeugung von ihrer Anfälligkeit, wie es etwa in der Redensart von der „Bewaffnung der Polizei mit Aktentaschen" oder der Bezeichnung mancher Behörden als „Haus der kleinen Geschenke" oder „Paketannahmestelle" zum Ausdruck kam. Wenn auch viele Gerüchte übertrieben waren, so sind doch erhebliche Korruptionserscheinungen aufgedeckt worden. Das wird auch sichtbar in dem Verhältnis von aktiver und passiver Bestechung. In den Jahren 1882 bis 1914 betrugen die passiven Bestechungen mit geringen Schwankungen etwa 10°/o der aktiven Bestechungen. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg stieg ihr Anteil von 5% im Jahre 1919 auf 33°/0 im Jahre 1926 und sank 1927 auf 23%, ging aber seit 1931 auf die Hälfte herauf. 1950 lag ihr Anteil bei 64%, erreichte 1951 fast 75% und sank 1952 zunächst auf zwei Drittel, in den folgenden Jahren auf wenig mehr als die Hälfte. Dagegen ist die leichtere Amtskriminalität mit der Wiederkehr geordneter Zustände erheblich zurückgegangen, besonders deutlich bei den Postund Bahnbeamten. Das liegt einmal daran, daß disziplinarische Entlassung auch von den unteren Beamten wieder mehr gefürchtet wurde. Spürbar wird aber auch die Rückkehr des Stammpersonals. Hier zeigt sich die Bedeutung eines ausgeprägten Pflichtbewußtseins der Beamten, dessen Pflege in seiner Bedeutung für die Bekämpfung der Amtsdelikte nicht leicht überschätzt werden kann. K. S. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. 1949. B. B l a u : Die Kriminalität in Deutschland während des zweiten Weltkriegs. ZStrW 64. S. 31. It. J a c o b s : Die Kriminalität der Nachkriegszeit. 1952.
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Amtsdelikte — Asozialität
Μ. L i e p m a n n : Krieg und Kriminalität in Deutschland. 1930. L. M e n n e : Korruption. KölnZSoz. Jg. 1, S. 144. F.-J. N e u h o f f : Die Kriminalität bei der deutschen Bundespost 1947-1954, (Diss. Bonn). 1957. H. R i e g e l , Die Bestechungskriminalität im Landgerichtsbezirk Essen 1945—1957 (Diss. Bonn) 1961. H. S c h ü t z e : Die Amtsdelikte im Bezirk des Landgerichts Gera 1896-1935. 1937. II. S t o c k : Entwicklung und Wesen der Amtsverbrechen. 1932. Ξ . v. W e b e r : Kriminalsoziologische Einzelforschungen. 1939. Nichtgedruckte Bonner Dissertationen über Amtsdelikte: P. L a n g h a r d t : (LG Krefeld 1919-1949). 1953, H. S c h ä f e r : (LG Duisburg 1928-1951). 1955, O. F r a n k e : (LG Dortmund 1931-1951). 1956; über Kriminalität bei der Eisenbahn: G. H e i m : (Bezirk Köln 1946-1949). 1950, H. G o r d i e s : (Bezirk Essen 1946-1952). 1956; über Wirtschaftskriminalität: H. F r e s e : (LG Dortmund 1945-1948). 1956, Außerdem: F. F i t t e r e r : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei den wichtigsten Amtsdelikten (LG u. AG Karlsruhe 1920-1943). 1951 (Freiburg i. Br.), H . W u n s c h : Die Kriminalität des Schmuggels in der Nachkriegszeit. 1952 (Mainz), B . B r ö c k e r : Die Bestechungskriminalität, 1956 (Münster). HELLMUTH V. W E B E R
ASOZIALITÄT 1.
Begriffsbestimmung
Eine schärfere A b g r e n z u n g d e s B e g r i f f e s ergab sich aus einer jahrhundertelangen Erfahrung. Bei den Asozialen handelt es sich um einen Typus von Menschen, der von den Antisozialen durch seine Passivität, seine Willensschwäche abgegrenzt ist. „Die Asozialen betteln, um zu leben, die Antisozialen stehlen, betrügen, rauben etc., um b e s s e r zu leben" (R. v. Hippel). Ein weiteres Kennzeichen der Asozialen ist ihre Nichtseßhaftigkeit. Die Asozialen sind aber nur jene Nichtseßhaften, die nach ihrer Lebensführung nach der Vorschrift des §361 Ziff 3—5, 7, 8 StGB mit Haft bis zu 6 Wochen (§§ 18, 362 StGB) bestraft werden können. Von ihnen sind abzutrennen die Sozialschwierigen, die lebensuntüchtig und berufsschwach sind, sich aber hüten, mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen, und die Hilfe der Fürsorgeanstalten freiwillig annehmen, und die Gefährdeten, das sind Menschen, die vorübergehend nicht seßhaft sind und deshalb in Gefahr stehen, auf die Stufe der Asozialen oder der Sozialschwierigen abzusinken (Steigerthal, Bock). Es fehlt diesen Menschen das Gefühl für ein geordnetes Gemeinschaftsleben, sie sind in der Regel nicht verheiratet, sie empfinden die aus einer Einordnung in die Gemeinschaft erwachsenden Pflichten und Opfer als lästig, kennen kein Verantwortungsgefühl. Infolge ihrer labilen Veranlagung bilden sie jenen „Rest", der aus der
ganzen gesellschaftlichen Struktur herausfällt (A. Kronfeld) .Eine noch schärfere Fassung er" langt der Begriff „asozial" dadurch, daß man mit Steigerthal weitere drei Personengruppen ausscheidet: 1. Die körperlich Kranken und Unzulänglichen, soweit sie sich freiwillig der Krüppel-, Blinden- oder Altersfürsorge anvertrauen oder durch ihre Familie, ihr Vermögen oder dergleichen vor der Verwahrlosung bewahrt bleiben; 2. die pflegebedürftigen Idioten, Geisteskranken, Epileptiker, deren Betreuung Sache der Irrenpflege ist; 3. die moralisch Defekten, die sich im Leben durchzuschlagen verstehen (Dirnen). Der verbleibende Rest ist immer noch reich an Übergangsformen, doch ist eine weitere Eingrenzung des Begriffes nicht möglich, ohne dem lebenden Menschen und seinem Schicksal Gewalt anzutun. Nur solche Prostituierte, die, ohne ernstlich kriminell zu sein, es nicht verstehen, den sittenpolizeilichen Vorschriften gemäß „sich zu halten", gehören zu den Asozialen. Geschlechtskrankheiten, Trank, hochgradige Disziplinlosigkeit machen bei diesen langfristige (niemals „dauernde") Eingriffe fürsorgerischer Art notwendig. Die Zuhälter und Strichjungen (sich prostituierende Päderasten) sind als ausgesprochene Aktivnaturen mit erheblichen kriminellen Zügen nicht mehr den Asozialen zuzuzählen. Erstere sind häufig Unruhestifter und Rädelsführer. Die Mehrzahl der Asozialen ist in ungünstigen Verhältnissen aufgewachsen, ohne Eltern, in Fürsorgeanstalten, bei Pflegeeltern oder Großeltern, unehelich geboren, als Kinder ungelernter Hilfsarbeiter, schwerer Trinker, Fabrikarbeiterinnen, Dienstmädchen oder gewerbsmäßig Unzüchtiger. Intellektuelle Berufe fehlen bei den Eltern nahezu ganz. Ihre eigene Ehelosigkeit läßt tiefe gesellschaftliche Entwurzelung erkennen; wenn sie einmal zu einer ehelichen Verbindung von Dauer kommen, dann zeigt sich, daß auch ein Vagabund resozialisiert werden kann (v. Behr). Die Umwelt wird durch diese Menschen geprägt, sie gestalten sich ihre eigene Umwelt und machen diese durch ihr Schmarotzertum zu einer Gefahr für andere, die nur aus Not oder durch ein Schicksal mit ihnen in Berührung kommen. Denn sie haben kein Empfinden für Recht und Unrecht, für Treue, Wahrhaftigkeit und Ordnung, sind in ihrem Willen abnorm bestimmbar und ermangeln einer wirklichen Begabung. Ihrem Wesen nach sind sie passive Gesellschaftsschädlinge. Dementsprechend haben sie auch eine spezifische Kriminalität. 2. Kriminalität
der
Asozialen
Die K r i m i n a l i t ä t d e r A s o z i a l e n ist recht einförmig. Es sind ganz vorwiegend Strafen wegen Bettelei, Landstreicherei, Obdachlosigkeit und anderen Arbeitsdelikten (§ 361 StGB.) Einweisungen erfolgen in der Regel erst dann, wenn die Ver-
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Asozialität urteilungen in kurzer Zeit stark zunehmen. Es kommen naturgemäß auch Diebstähle geringfügiger Art, Felddiebstähle oder Gelegenheitsdiebstähle vor, auch Hausfriedensbruch, Beamtenbeleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, letztere meist bei der Festnahme begangen („Stromerdelikte") (Bonhoeffer, Polligkeit, Bock). Daneben, wenn auch seltender, findet man auch kleinere Betrügereien, eine Urkundenfälschung, eine falsche Namensangabe, Hehlerei, groben Unfug oder eine fahrlässige Brandstiftung. Die meisten dieser Delikte, auch gelegentliche Sittlichkeitsdelikte, werden unter übermäßigem Alkoholgenuß begangen. Aus den Straflisten ergibt sich, daß es sich ganz überwiegend oder ausschließlich um sog. BagatellVergehen handelt. Andererseits fällt die große Zahl der Vorstrafen auf; man findet oft durchschnittlich dreißig bis vierzig Vorstrafen, und auch hundert oder zweihundert Vorstrafen sind keine Seltenheit. Dennoch sind sie, als Individuen betrachtet, ungefährlich; auch der jugendliche typische Asoziale entwickelt sich späterhin nicht zu einem Verbrecher. Man kann sonach sagen, daß der typische Asoziale nicht kriminell im eigentlichen Sinn ist. Gerade die Asozialen, die die höchste Vorstrafenzahl aufweisen, haben in der Regel keine Gefängnis- oder Zuchthausstrafen in ihren Straflisten (Braun). Wenn es zu ausgesprochen kriminellen Handlungen kommt, so entspringen diese mehr einer unglücklichen Konstellation, einem Zufall, einer besonders verlockenden Gelegenheit (Bock). Zu überlegten, vorbereiteten Delikten sind sie auf Grund ihrer ganzen körperlichen und psychischen Eigenart gar nicht fähig. Völlig fremd sind ihnen ausgesprochene Gewaltdelikte. Auf Grund ihrer Straflisten lassen sich die Asozialen in zwei große Gruppen einteilen. Die erste umfaßt die F r ü h g e s c h e i t e r t e n , meist geistig und körperlich minderwertige Menschen, deren höchste Straffälligkeit zwischen dem 18. bis 25. Lebensjahr liegt; diese haben sich schon beim Eintritt in das Erwerbsleben als unfähig erwiesen. Die zweite Gruppe wird von den S p ä t g e s c h e i t e r t e n gebildet, die im Alter von 30 bis 60 Jahren straffällig geworden sind. Diese sind durch Alkohol oder andere körperliche Schäden oder sonstige Ursachen in ihrer Leistungsfähigkeit erst später beeinträchtigt worden, arbeitslos geworden und dem Bettel oder Landstreichertum verfallen (Bonhoeffer, Bock). Die Mehrzahl dieser zweiten Gruppe ist nur erwerbsschwach infolge körperlicher und geistiger Mängel. Der Schwerpunkt des Problems liegt bei der ersteren Gruppe; bei ihr spielen Arbeitsscheu und Liederlichkeit eine zunehmend größere Rolle. Die Anlagefaktoren, aber auch die erzieherischen Faktoren, haben bei der ersten Gruppe, die schweren Schicksale bei der zweiten Gruppe ein größeres Gewicht, ί
3.
Erscheinungsformen
Die E r s c h e i n u n g s f o r m e n des V e r h a l t e n s ergeben bei den Asozialen ein recht einförmiges Bild. Auch in ihrem inneren Wesen zeigt sich diese Einförmigkeit, was auf jahrelangen Gewohnheiten und gleichen Denkweisen beruht. Der Schritt von einem arbeitswilligen und arbeitsfähigen Handwerker zu einem arbeitsscheuen Bummler war nicht groß, solange die Meisterwürde an die Arbeit in der Fremde als Voraussetzung gebunden war (Eiserhardt). Heute ist der Saisonarbeiter und der unverschuldete Arbeitslose in dieser Lage. Zu den Übergangsformen der Asozialen gehören die städtischen Hausbettler, die zum großen Teil Arbeitslose, aber auch Kriegsversehrte sind, die sich zu ihrer staatlichen Unterstützung noch ein Nebenverdienst schaffen. Sie heben sich auch hinsichtlich ihrer körperlichgeistigen Struktur von den Asozialen, die fast ausschließlich „Nur-Bettler" sind, deutlich ab (Bock). Die beschränkte Anpassungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit der Asozialen bewirkt, daß sie in Krisenzeiten zuerst aus der Arbeitsstelle entlassen werden und überhaupt nur dann brauchbare Arbeiter sind, wenn die Arbeit ihrer Eigenart und ihren Kräften entspricht. Sie versagen, wenn sie auf sich selbst angewiesen sind. So bildet das Bettler- und Landstreichertum ein Sammelbecken für sozial Absinkende in allen Bevölkerungsschichten, in dem diese zu einer sekundären Einheit zusammengeschmolzen werden. Personen, die aus irgendeinem Grund wirtschaftlich Schiffbruch erlitten haben, Verbummelte ohne Ausdauer, Menschen mit Lust zum Abenteuer finden sich hier zusammen, und ihre Zahl steigt in Krisenzeiten, wo selbst der kräftige Arbeiter Schwierigkeiten hat, eine dauernde Stellung zu finden. Auf der untersten Stufe finden sich dann die Gewohnheitsbettler, die in der Freiheit jede Arbeit grundsätzlich ablehnen. Sie stehen in ihren Fähigkeiten weit über dem Durchschnitt der übrigen Klassen der Asozialen, sind aber geistig und sittlich gänzlich verwahrlost. Hierher gehören auch die sogenannten Stadtbummler, die nur aus Hang zu einem ungeordneten Leben sich an einem Ort mittellos und ohne festes Unterkommen aufhalten. Neben den eigentlichen Wanderbettlern gibt es auch Straßenbettler mit festem Stand, dann auch den sog. versteckten Bettel, in Form des Singens, Musizierens oder des Hausierhandels mit geringwertigen Gegenständen. Viele von diesen Bettlern sind nicht in Lumpen, sondern unauffällig gekleidet, oft auch abwechselnd, je nachdem, ob die Wirkung auf den Kunden mehr durch den Anblick oder durch rührselige Worte erzielt werden soll. Zu den besonderen Erscheinungsformen des Bettlertums gehören die Krankenhausbummler, die geschickt ihre Leiden vortäuschen, um auf
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Asozialität
Kosten der Fürsorge zu leben, und die Landstreicher, die im Winter in Krankenhäuser, Gefängnisse oder andere Anstalten auf „Erholung" gehen („Anstaltsbummler"). Der frühere „Tippelbruder" ist schon vor dem zweiten Weltkrieg von den Landstraßen verschwunden. Er zog völlig zerlumpt mit einer Schnapsflasche in der Hosentasche umher und galt als „großes Kind der Landstraße". Er wurde abgelöst durch einen anderen Typus, der nicht mehr zu Fuß wandert, sondern trampt, indem er an Straßenengen oder Biegungen sich von mitleidigen Autofahrern mitnehmen läßt. In dieser Gruppe finden sich neben den Asozialen auch Sozialschwierige und Gefährdete. Am Rande des Typus steht auch der abenteuerlustige Globetrotter, der etwa Bildhauerei gelernt, den Burenkrieg mitgemacht, jahrelang in Japan und China als Photograph gearbeitet und als Matrose Nordund Südamerika kennengelernt hat, dann im Alter von fünfzig Jahren keine Arbeit mehr findet und nach einem mißglückten Heiratsversuch auf die Landstraße gerät. Auch haltlose Frauen, die immer unterwegs sind, einem Kind nach dem anderen das Leben schenken, ohne daß der Vater zu ermitteln ist, gehören als eigener Untertypus hierher. Man findet sie oft in den venerischen Stationen von Krankenhäusern, Entbindungsanstalten, Gefängnissen, Arbeitshäusern usw. Wo zu den eigentlichen Bagatell- oder Stromerdelikten (Hausfriedensbruch, Beamtenbeleidigung, Widerstand, Sachbeschädigung usw.) auch andere Delikte hinzukommen, ist der eigentliche Typus des Asozialen schon verlassen. Man spricht dann von v e r b r e c h e r i s c h e n B e t t l e r n oder b e t t e l n d e n V e r b r e c h e r n . Ihre Kriminalität ist durch Planmäßigkeit, Rücksichtslosigkeit und schwere Straftaten gekennzeichnet. Auf der anderen Seite grenzen die Asozialen an die gesunden Wanderer, wobei die Sozialschwierigen und die Gefährdeten die Ubergangsformen bilden. Es sind Handwerksburschen „auf der Walz", wandernde Arbeiter, vorübergehend Arbeitslose und andere; Menschen, die den Stolz des körperlich und seelisch ungebrochenen Menschen, sein Brot durch seiner Hände Arbeit zu verdienen, noch nicht verloren haben (Steigerthal). Noch nach einer anderen Seite hin sind die Asozialen deutlich abgegrenzt. Sie wandern als einzelne, als Entwurzelte. Sie unterscheiden sich dadurch von den Zigeunern und den Landfahrern, (Jenischen), die ohne festen Wohnsitz mit Frau und Kind umherziehen und durch Korbflechten oder Handel ihr Brot verdienen (Ritter, Stumpfl, Reckless), und von den Saison- oder Zeitwanderern, die nur saisonweise auswärts ihre Arbeit suchen. Die Landfahrer und die Zigeuner bilden gleichsam ein Volk im Volke und sind in FamilienVerbänden verankert. Die Wanderarbeiter und
Wanderhändler wandern nur vorübergehend und planmäßig. Alle diese letztgenannten Gruppen fallen unter den Begriff der Zeitwanderung. 4. Körperliche Beschaffenheit Die k ö r p e r l i c h e Beschaffenheit der A s o z i a l e n ist durch eine besondere Häufung von Körperfehlern, Defekten und Krankheiten gekennzeichnet (Bonhoeffer, Stumpfl, Bock). Kräftige, gut gebaute, gesunde Individuen sind sehr selten. Oft besteht schon von Kindheit an eine allgemeine Körperschwäche oder Schwerhörigkeit, oder man findet Folgezustände nach schwerer Rachitis, Mißbildungen des Schädels, angeborene Sprachfehler, starkes Zurückbleiben im Längenwachstum, Verkrüppelung der Wirbelsäule, Krankheitsfolgen nach Osteomyelitis, Kinderlähmung oder Encephalitis, Folgezustände nach Tabes, Neuralgien, Sehstörungen, verschiedene im Leben erworbene Körperfehler, Lungenkrankheiten, Herzfehler, Schädigungen durch Unfälle, Leistenbrüche, mangelhafte Ernährungszustände usw. Alle diese Zustände bewirken, daß etwa 70°/0 dieser Menschen militäruntauglich sind. Dieselbe Minderwertigkeit tritt auch auf psychischem Gebiet hervor. Nur etwa 20°/0 sind ohne nachweisbare Symptome psychischer Anomalien, und gerade bei diesen sind auch die körperlichen Gebrechen besonders zahlreich. Eine besondere Bedeutung haben die Asozialen auch als Verbreiter von Geschlechtskrankheiten. Allen diesen Krankheiten gegenüber sind sie infolge ihrer ungenügenden Körperpflege und ihrer ganzen Lebensweise besonders anfällig. So ergibt sich mitunter ein Kreislauf ihres Daseins zwischen Landstraße, Haft, Gefängnis, Arbeitshaus, Krankenhaus und Irrenanstalt. Als einzelne harmlos, sind sie doch in ihrer Gesamtheit eine Gefahr. Die hohe Zahl der körperlich Defekten steigt von den Gefährdeten zu den Asozialen immer mehr an. Bei Wanderern liegt sie etwa bei 30%, bei großstädtischen Bettlern bei über 70°/0. Dieser große Anteil körperlicher Defekte hängt zum Teil mit der Herkunft aus sozial niedrigsten Schichten zusammen, ist aber zum Teil auch der Entstehung durch den Prozeß des sozialen Verfalls selbst und nicht zuletzt des die Gesundheit untergrabenden Lebens auf der Landstraße zuzuschreiben. In diesen Zusammenhang gehört auch die zerstörende Wirkung des Alkohols (Bonhoeffer, Hoppe).
5. Die charakterliche Beschaffenheit der Asozialen Die psychiatrisch-klinischen Typen sind überwiegend durch den A l k o h o l i s m u s (-* Alkoholismus) auf irgendeine Weise besonders gefärbt. Der gewohnheitsmäßige Alkoholgenuß, insbesondere in Form von Schnapskonsum ist eine Begleiterscheinung des sozialen Niedergangs, sofern dieser durch andere Ursachen bedingt ist, manchmal
Asozialität auch selbst Ursache dieses Niedergangs, indem er bei labilen Persönlichkeiten den Ausschlag für die ganze Entwicklung gibt. Er steht aber auch deshalb im Mittelpunkt des Interesses, weil der Bettler und der Landstreicher bald nur noch die nächsten vegetativen Funktionen im Auge hat (Bonhoeffer, Wilmanns). Dementsprechend sind auch nachweisbare klinische Zeichen chronischer Alkoholintoxikation recht häufig, man findet sie annähernd bei der Hälfte der gewohnheitsmäßigen Trinker. Solange ein Trinker sich im Berufsleben zu halten vermag und mit seiner Umgebung nicht in schwerere Konflikte gerät, beschäftigt er allenfalls Organisationen zur Bekämpfung der Suchtgefahren („ortsansässige Trunksüchtige"). Zu den Asozialen gehören nur solche, die infolge anhaltender Trunksucht ihre Persönlichkeitswerte so weit eingebüßt haben, daß sich Verwahrlosungserscheinungen besonderer Art an ihnen zeigen. Das hervorstechendste Merkmal der Asozialen ist ihre Willensschwäche und ihre geistige Labilität. Wohl sind sie guten Einflüssen zugänglich, aber nichts hält bei ihnen lange an. Es fehlt ihnen ein innerer Halt und ein Zug zur Beständigkeit. Man findet unter ihnen leichtsinnige Optimisten mit Zügen von heiterer Grundstimmung. Diese erinnern an die unkritischen, unvorsichtigen und leicht bestimmbaren hyperthymischen Psychopathen (K. Schneider), die sorglos und guter Hoffnung sind. Aber es fehlt ihnen an Vitalität und an Ausgeglichenheit des Gemüts. Und auch ein eigentlich sanguinisches Temperament, das zum Wesen des Hyperthymikers gehört, findet man bei den Asozialen kaum. Bei manchen kann man feststellen, daß es sich um Trinker handelt, die allmählich ins Stromertum abgesunken sind. Oft ist es dann die durch den Alkoholmißbrauch selbst gesetzte Persönlichkeitsveränderung, die neben Störungen des Magen-Darm-Traktes, des Kreislaufs, des Herzens und des Gehirns, zu einer allgemeinen Abstumpfung der Gefühle, zu einer Verflachung des Denkens, einer Gedächtnisschwäche und einer allgemeinen Einbuße der Verstandeskräfte führt. Bei der Mehrzahl der Asozialen ist allerdings, und das gilt besonders für die Frühgescheiterten, schon primär eine gewisse Gefühlsstumpfheit und Indolenz gegeben. Wie die Willenlosigkeit und Haltlosigkeit, so ist auch diese Gefühlsstumpfheit Ausdruck einer Psychopathie, also einer in der Anlage und in der frühen Entwicklung wurzelnden seelischen Abnormität, oder einer Encephalopathie (Demenz). Das fehlende Gewissen und Ehrgefühl bringt diese Menschen in die Nähe der gemütlosen Psychopathen (K. Schneider), wobei nicht übersehen werden darf, daß auch Trotz und Verbitterung ganz analoge Bilder hervorrufen können. Schon aus den Willensstörungen ergibt sich eine weitgehende Unberechenbarkeit in den Entschlüssen und Unselbständigkeit in der Lebens5
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führung. Diese Menschen denken nicht an die Zukunft, leben ohne weiter gespannte Interessen, überlassen alles dem Augenblick. Dazu kommen noch zwei wesentliche Züge: Ihre ausgesprochene Stimmungslabilität und ihre engen Beziehungen zum Schwachsinn. Fast alle Asozialen sind ausgezeichnet durch ein mehr oder weniger rasches Leidsein und Satthaben von allem und durch eine Unruhe, die namentlich im Frühjahr über diese Menschen hereinbricht. Auf Grund einer gewissen Empfindsamkeit, die sie an manchen Tagen oft auf minimale Reize reagieren läßt, während sie an anderen Tagen alles ertragen, neigen sie dazu, triebhaft und ohne zureichenden Grund einfach fortzugehen. Diese engen Beziehungen zu den sogenannten stimmungslabilen Psychopathen (K. Schneider) sind eine der wesentlichen Grundlagen für die Verhaltensdispositionen der Asozialen. Die Übermächtigkeit einer auf das Wandern ausgerichteten Triebgrundlage wird besonders im Frühling und in den Sommermonaten deutlich. Weil diese Menschen, teils aus angeborener Trägheit, teils aus erworbener Abstumpfung keine persönlichkeitseigenen Interessen und Antriebe besitzen, lassen sie sich vom Leben treiben, und selbst verlockende Lebensgenüsse vermögen es nicht, sie zu einer Bemühung um Arbeit zu veranlassen. Aus ihrer Stimmungslabilität heraus und begünstigt durch die Gewohnheit irradiieren ihre Gefühle in eine undifferenzierte, instinkthafte Aufbruchsstimmung, und in dieser den Zufall herausfordernden Stimmungslage werden ihre schwachen seelischen Bindungen aller Art, die auf Dauer gerichtet sind, aufgelöst. Es wird dann der Drang mächtig, das Territorium zu verlassen. Oft ist der resultierende „Wandertrieb" nichts anderes als eine primitive Fluchtreaktion (J. H. Schultz) auf Verpflichtungen irgendwelcher Art, ein Sichforttreibenlassen. Auch fixierte neurotische Fehlhaltungen spielen manchmal herein, es gibt aber auch Fälle, wo der Trieb als solcher („Fernweh") besonders stark ist. Wo ein solcher Wandertrieb stärker hervortritt („Poriomanie"), kann das Zustandsbild stark an ein endokrines Psychosyndrom (M. Bleuler) erinnern. Die fehlende Aggressivität, das verminderte Bedürfnis, Kälte zu meiden, ein gesteigertes Bewegungsbedürfnis, eine Verminderung oder auch eine Steigerung der Sexualität sind hier zu nennen. Doch handelt es sich wohl nur um eine äußere Ähnlichkeit des Erscheinungsbildes (Phänokopie) bei grundsätzlicher Wesensverschiedenheit. Was die Asozialen kennzeichnet, liegt mehr im Bereich der inneren Haltung im Sinne dauernder Überwertigkeiten als im Bereich primärer Trieb- und Instinktanomalien. Diese Üb er Wertigkeiten sind letztlich komplexhafte („unbewußte") Verbiegungen des normalen Beziehungerfassens und der Urteilskraft, im wesentlichen also Verbiegungen allgemeinmenschlicher kategorialer Verhaltensdispositionen (W. Keller)
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zu individuellen, lebensgeschichtlich erworbenen, abnormen Dispositionen des Verhaltens, die aber grundsätzlich modifizierbar sind. Neben dem Alkohol und der psychopathischen Wesensart (Willenlosigkeit, Gemütsarmut, Stimmungslabilität) spielt der Schwachsinn eine entscheidende Rolle (Bonhoeffer, K. Schneider, Stumpfl.Bock). Die Beziehung zur Hysterie beziehungsweise zur abnormen Geltungssucht sind demgegenüber eher gering. Auch hier sind die psychopathischen Züge durch den Schwachsinn besonders gefärbt. Dadurch sind gleichzeitig die neurotischen beziehungsweise psychopathischen Züge stark unterdrückt. Die Hysteriker unter den Asozialen fallen durch eine gute Auffassung, gehobenes Selbstgefühl, Unstetigkeit, Launenhaftigkeit und Planlosigkeit auf. Die Selbstüberschätzung und das intrigante Wesen tritt eher zurück. Am ehesten ist es noch ein Zug zum Abenteuerlichen und ein Zug, der eigentlich den Phantasten eigentümlich ist, den man bei ihnen häufiger finden kann. Es ist das ein Hang für Tagträumereien, zu unerfüllbaren Zukunftsträumen, hinter denen das reale Leben zurücktritt (Wilmanns). Dieser Zug und auch ein kleiner Hang zur Pseudologie ist deutlich etwa bei einem Landstreicher, der schon sechsmal zu Fuß durch Spanien nach Afrika gewandert war, um dort in einer Oase, im Schatten der Palmen seinen Träumen ungestörter nachzugehen. Den intelligenten Hysteriker findet man natürlich unter Asozialen nicht, ihm stehen andere Mittel zur Verfügung. Unter den psychopathischen Asozialen gibt es auch verschrobene, schizoide Persönlichkeiten, die zugleich sensitiv und abgestumpft, empfindsam und gefühlskalt sind. Ein Teil von ihnen steht dem schizophrenen Formenkreis konstitutionell nahe. Damit ist bereits die Grenze des asozialen Typs erreicht. Besonders hoch ist unter den Asozialen die Zahl der angeborenen und frühzeitig erworbenen Defektzustände. Neben dem angeborenen Schwachsinn spielen hier auch Hirnschäden leichterer Art und frühkindliche Encephalopathien sowie reine Milieuschädigungen eine große Rolle (Lange-Cosack und Nevermann). Die schlechte Erziehung, der mangelhafte Schulbesuch, das Fehlen geistiger Anregungen, die Einengung der Interessen, die schlechte Ernährung und die hochgradigen Defekte des Wissens und des Urteils erschweren es hier, die einzelnen Faktoren scharf auseinanderzuhalten. Dazu kommen noch im späteren Alter erworbene organische Psychosyndrome („Demenz"). Sofern alle diese Defekte nicht einen Grad erreichen, der schon an und für sich eine Einweisung in eine Anstalt oder eine Behandlung nahelegt, sind sie eines der häufigsten Merkmale der Asozialen. Bezieht man die Schwachbegabung ein, so sind mehr als die Hälfte
der Asozialen hierherzuzählen. Ausgesprochene Schwachsinnsgrade finden sich in einem Fünftel bis einem Viertel der Fälle (Bock). Bei den Wanderern sind die Ziffern wesentlich geringer (19°/o bzw. 6%). Die Anlagefaktoren, die den psychopathischen Wesenszügen und den intellektuellen Mängeln zugrunde liegen, sind gewiß nicht einheitlich. Im Erscheinungsbild sind sie bereits jeweils durch individuelle Schicksale geprägt, gefördert oder modifiziert. So ist es verständlich, daß der Lebenslauf des einzelnen ein verwirrendes Bild vom Zusammentreffen einer Vielheit von Einzelfaktoren sichtbar werden läßt, die das Abgleiten und schließlich das völlige Scheitern bewirkt haben, und daß die Gesamtgruppe dennoch eine gewisse Einförmigkeit des Verhaltens erkennen läßt. Besonders enge Beziehungen zeigen die Asozialen zur Epilepsie. Bonhoeffer fand 12°/0 der großstädtischen Bettler mit epileptischen Symptomen behaftet. Schon der Anteil derjenigen, deren Schwierigkeiten in Schule und Beruf wenigstens zum Teil auf einen organischen Kern (Hirnschaden) zurückzuführen ist, mit Kontaktstörungen und körperlichen sowie psychischen Beeinträchtigungen, ist verhältnismäßig groß. Dazu kommen noch viele Fälle, bei denen nur vereinzelt epileptische Anfälle vorgekommen sind oder schwer diagnostizierbare Äquivalente im Vordergrund stehen. Je genauer man die Gruppen durchforscht, desto größer wird die Zahl bisher unerkannt gebliebener Encephalopathen (Hirnleistungsschwäche). Es ergeben sich deshalb hier zahlreiche Überschneidungen gegenüber dem Fragenkomplex der sozialen Rehabilitation hirnverletzter Kinder und Jugendlicher (Lange-Cosack und Nevermann). Aber auch leichtere Grade oder atypische Formen einer epileptischen Wesensänderung sind hier zu nennen (Gruhle). Das Vorkommen reversibler Syndrome bei körperlich begründbaren Psychosen (aspontane, traumhafte, motorische Formen), insbesondere sog. „Durchgangssyndrome" (Wieck), ist wohl häufiger, als man bisher annahm. Ähnlich steht es mit den schleichenden Hebephrenien (Wilmanns). Wohl gehören auch diese, wie alle Geisteskranken, definitionsgemäß nicht zu den Asozialen, sondern in das Gebiet der Irrenpflege; schwer diagnostizierbare oder nichtdiagnostizierte Fälle wird man aber um so häufiger unter den Asozialen erwarten müssen, je schleichender der Verlauf und je symptomarmer das Bild einer Hebephrenie oder einer Pfropfschizophrenie sich gestaltet. So wie die Epileptiker häufige Verstimmungen, plötzliches Davonlaufen und zielloses Wandern mit den stimmungslabilen Psychopathen gemeinsam haben, so manche Hebephrene mit den gemütsarmen Psychopathen die allgemeine Stumpfheit, das stille, etwas menschenscheue Wesen, die unmotivierte Gereizt-
Asozialität heit, die Indolenz und das stumpfe Verhalten. Gerade in der Pubertät und in den folgenden Jahren kann eine Differentialdiagnose hier außerordentlich schwierig sein (Kretschmer). Die schleichende Charakterveränderung findet man j a auch bei den Gescheiterten, die langsam zu den Asozialen absinken, ohne an einer epileptischen Wesensänderung oder einer Hebephrenie zu leiden. Hingegen ist eine Abgrenzung gegenüber den Manischen, die nur vorübergehend umherreisen, aber auch gegenüber chronischen hypomanischen Zuständen, die gelegentlich als agitierter Schwachsinn verkannt werden, verhältnismäßig einfach (Wilmanns). Immerhin können auch längere hypomanische Perioden aus dem Formenkreis der zyklischen Psychosen ein Absinken in die Schicht der Asozialen zur Folge haben. Vereinzelt findet man unter Landstreichern auch Endzustände in der Entwicklung hyperthymer Persönlichkeiten (Bürger-Prinz). Unter den Typen der Schwachsinnigen überwiegen bei den Asozialen die indolenten Passiven (K. Schneider). In allen Fällen geht die geistige Abartigkeit nicht so weit, daß man sie gemäß § 51 Abs. I I StGB als vermindert zurechnungsfähig oder gemäß § 51 Abs I als krank bezeichnen müßte. Dabei ist von den nichtdiagnostizierbaren Grenzfällen in der Richtung der Hebephrenic und Encephalopathie naturgemäß abgesehen. Wo eine ärztliche Behandlung in einer Heil- und Pflegeanstalt notwendig ist, liegt nicht mehr der Typus des Asozialen vor. Immerhin kann man von einer Häufung von Grenzfällen sprechen. Ähnlich wie der Schwachsinn oder die Minderbegabung, so verläuft auch eine ausgesprochen asthenische Wesensart quer durch alle psychischen und psychopathologischen Wesenszüge der Asozialen hindurch. Sie sind psychische Astheniker, bei denen im Gegensatz zu den sthenischen Persönlichkeiten, mit ihrer Vitalität, Aktivität und Aggressionsbereitschaft im allgemeinen mehr ein primäres Versagen, Versinken und Verwelken, eine psychische Insufficienz das Bild beherrscht. Dabei kann das Primäre das Psychische sein, wie bei den asthenischen Psychopathen (K. Schneider), es kann aber auch die somatische Labilität das Primäre sein (Somatopathische Konstitution). Durch diese Asthenie sind die Asozialen gegenüber den Kriminellen in ähnlicher Weise abgegrenzt, wie die Konfliktkriminellen bzw. Einmalig-Bestraften gegenüber den Rückfälligen (F. Stumpfl). Gegenüber jedem Versuch einer psychopathologischen Typisierung darf nicht vergessen werden, daß jeder Landstreicher und Bettler, jeder Asoziale, ein mit niemand vergleichbares Individuum ist, genauso interessant wie andere Menschen, wenn man sich ihm aufgeschlossen nähert (Steigerthal). 6·
67 6. Geschichtliche Perspektiven
G e s c h i c h t l i c h e F o r s c h u n g e n (Steigerthal, Ritter, Radbruch und Gwinner) haben ergeben, daß die Asozialen schon bei der Bearbeitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1734 als gemeinlästige Leute ein soziales Problem darstellten. Die Einstellung gegenüber diesen Wanderarmen schwankte zwischen verständnisvoller Beurteilung, besonders wenn es sich um den Einzelmenschen, den armen Wanderer, handelte, und einer verdammenden Beurteilung, besonders wenn die Bettler in Massen auftraten. Stets aber anerkannte man wuchtige Schicksalsschläge als Ursache der gefahrvollen Lage dieser Unglücklichen. Eine besondere Rolle spielten die Erschütterungen durch die napoleonischen Kriege, die das Gedankengut der französischen Revolution in die Staaten des deutschen Bundes verpflanzt und dem Grundsatz der persönlichen Freiheit Anerkennung verschafft hatten (Steigerthal). Die damit verbundene Beseitigung vieler gesellschaftlichen und berufsständischen Bindungen bürdete die Verantwortung für die Gestaltung seines Lebensschicksal dem einzelnen Menschen auf. Der ökonomische Liberalismus brachte Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, Industrialisierung und Verstädterung und eine steigende Binnenwanderung der Bevölkerung. Den neuen Forderungen waren viele Wanderarmen nicht gewachsen, sie überschwemmten als Bettler, Landstreicher, als echte oder vermeintliche Arbeitsscheue das Land. Man vergaß, nach tieferen Ursachen zu fragen, und es kam zu dem folgenschweren Schritt, wonach die Einweisung in das Arbeitshaus in das System der Strafrechtspflege eingegliedert wurde (Preußen 6 . 1 . 1 8 4 3 ) . Landstreicherei („Vagabondage"), Bettelei, qualifizierte Obdachlosigkeit wurden zu strafwürdigen Tatbeständen erklärt, doch konnten diese Bagatelldelikte nur mit Bagatellstrafen „geahndet" werden. Die Arbeitshäuser, ursprünglich ungesicherte halboffene Anstalten als ein Zufluchtsort brot- und arbeitsloser Menschen, wurden mit Umfassungsmauern und dicken Eisenstäben versehen. Die Behandlung der asozialen Elemente, die dort nur einen uninteressanten Ballast darstellten, wurde auf diese Weise nur einer Notlösung zugeführt. Die Hoffnung, daß eine Reform des Strafrechts zur Ausklammerung des § 361 StGB aus dem Kriminalrecht führen werde, wurde bald lebendig. Mit der Gründung von Arbeiter-Kolonien für Gefährdete, die auf Pastor F. v. Bodelschwingh zurückgeht, beginnen schon die modernen Bestrebungen, bei der Behandlung des Wanderer-Problems und des Asozialen-Problems die Strafrechtspflege zu verlassen und ein Verwahrungsgesetz bzw. ein „BewahrungsGesetz" zu schaffen. Unter Bewahrung wurde eine von Fürsorgern, medizinischen und anderen Sachverständigen empfohlene, vom Vormund-
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schaftsgcricht angeordnete Freiheitsentziehung im System der Fürsorge mit sozialpädagogischen Zielen verstanden, die vorwiegend dem Wohle des Bewahrten, sekundär auch dem Bedürfnis der Allgemeinheit dient (Steigerthal). 7. Die
„Wanderungsbereitschaft"
Die p r a k t i s c h e B e u r t e i l u n g der Asozial e n geht meist von ihrer Arbeitsscheu aus (Wagner, v. Jauregg, Eisenhardt, Bock). Hartnäckige Arbeitsscheu führt zur Einweisung in ein Arbeitshaus, Wandergewerbescheine werden nur erteilt, wenn keine zweckvollere Arbeitsmöglichkeit besteht. Meist entwickelt sich die Arbeitsscheu aus der Arbeitslosigkeit über den Weg der Arbeitsentwöhnung. Aus dem wandernden Arbeiter wird der Wanderer, indem er den Wohnsitz nicht bloß wechselt, sondern aufgibt. J e länger nun die vergebliche Arbeitssuche dauert, um so mehr tritt, zunächst rein äußerlich erkennbar, eine Verwahrlosung ein. Das heruntergekommene Äußere erweckt das Mißtrauen der Arbeitgeber, dazu kommt noch erschwerend die Tatsache der Fremdheit. Die Arbeitsentwöhnung hat zur Folge, daß die Geschicklichkeit der Hände und die Sicherheit der Arbeit, vor allem auch die Arbeitsdizsiplin und die Fähigkeit, sich körperlich und seelisch einem Arbeitsrhythmus einzufügen, rasch abnimmt. Diese innere Verwahrlosung führt dazu, daß der Wanderer zum Eigenbrötler wird, der nur seinen Wünschen und Instinkten folgt und Einordnung mehr und mehr mit Zwang verwechselt. Es besteht sonach hier eine Verflechtung sozialwirtschaftlicher und psychologischer Momente, deren Produktin der „ W a n d e r u n g s b e r e i t s c l i a f t " (Heberle-Meyer) zum Ausdruck kommt. Das Fehlen eines bestimmten Wanderzieles und eines festen Arbeitszieles entspricht dann einer starken Wanderungsbereitschaft. Naturgemäß werden Wanderer, die innerlich zur Seßhaftigkeit und Stetigkeit neigen, nur vorübergehend auf der Landstraße auftauchen. Eine starke Wanderungsbereitschaft kann man auch als W a n d e r t r i e b bezeichnen, der in den verschiedensten Formen von jugendlicher Begeisterung bis zur Verachtung alles Seßhaften, einer Verfallenheit an die Landstraße, reicht. Bei den Dauerwanderern treffen beide Faktoren zusammen, die innere Bereitschaft zur Unstetigkeit, zum Abenteuer, und die wirtschaftlichen Faktoren. Ein besonderes Moment ist die Einsamkeit des Wanderers, die aus Mangel an Pflichten und Bindungen die Neigung zum Treibenlassen, zum Ausleben der Triebe und Instinkte begünstigt. Das Ergebnis ist dann der soziale Verfall und eine Bejahung der eigenen Verwahrlosung, die als Freiheit verkannt wird. Die Arbeit ist nur noch Notbehelf. Hier werden die engen Beziehungen zur Jugendverwahrlosung deutlich, j a man kann sagen, Asozialität sei eine besondere Form,
nämlich eine fixierte Verwahrlosung (->· Verwahrlosung). Die Arbeitsscheuen bilden eine Gruppe, die sich hauptsächlich in den Großstädten breitmacht. In ihr finden sich Personen, die überwiegend von strafbaren Handlungen leben, aber strafrechtlich schwer zu fassen sind, weil ihnen die Handlungen oft nicht nachgewiesen werden können. Sie fallen nicht mehr unter den Begriff der Asozialen und sollen durch ein eigenes Arbeitsscheuen-Gesetz erfaßt werden. 8. Beziehungen
zur
Jugendverwahrlosung
Gewisse Seiten des Asozialen-Problems lassen sich am besten von der Verwahrlosung Jugendlicher her beleuchten (Gruhle, Aichhorn, Allers). Die Erscheinungen der inneren Verwahrlosung bei Jugendlichen setzen meist sehr langsam ein. Für die Einstellung gegenüber verwahrlosten Jugendlichen ist es erforderlich, sich an Verhältnisse aus früheren Jahrhunderten zu erinnern. Im Mittelalter befand sich der Handwerker während der vollen Lehrzeit auf der Wanderschaft und war dort längere Zeit keiner strengen Autorität unterworfen. Bemerkenswert ist nun, daß alle uns bekannten Pubertätsreaktionen, die heute zu Konflikten mit der Umwelt führen, für den Jugendlichen der damaligen mit unvorstellbaren Härten verbundenen Zeit zu seiner Selbstbehauptung geradezu lebensnotwendig waren (Habermann). In der gleichen Wandersituation befand sich damals der umherziehende jugendliche Schüler der Lateinschule und der jüngere Student der Universität, deren Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren lag. Auch die Kinder wohlhabender Eltern zogen von Ort zu Ort und lebten als Pensionäre berühmter Lehrer unter der großzügigen Aufsicht ihrer Pensionsmutter, ein für die heutigen Großstadtgymnasiasten ungewohntes Maß an sexueller Freiheit genießend. Über Pubertätsprobleme aus jenen Zeiten wird auch in den ausführlichen autobiographischen Darstellungen nichts berichtet. Allerdings erlagen damals alle schwächeren Naturen sehr bald schon rein körperlich. Die Masse der Schüler lebte damals von Bettelei. Die zum Betteln Berechtigten erhielten ein Abzeichen, das zum Beispiel um 1500 in Sträßburg niemand bekam, der über 16 Jahre alt war. Vergleicht man damit junge Mädchen von heute, die in der Fabrik oder Werkstätte ihre festen Arbeitsstunden verbringen und unter dem harten Zwang der Lebenshaltung Geld verdienen müssen, so wird man mit Allers sagen müssen, daß sie kaum die Möglichkeit haben, richtig jung zu sein, und daß die beiseite gedrängten Pubertäts-Triebkräfte in oft merkwürdig verbogener Form zum Vorschein kommen. Sehr vielen Verwahrlosungserscheinungen liegen verdrängte Entwicklungskräfte, wie Erlebnishunger, Phantasterei und Gefühlsüberschwang, zugrunde. Man sieht
Asozialität hier überall die engen Beziehungen zu den heutigen Asozialen, hinter deren einförmiger Fassade von Gleichgültigkeit und Stumpfheit, von Passivität und Labilität alle menschlichen Eigenschaften in ihren buntschillernden Varianten aufleuchten, sofern man nur als Sachkenner ihnen begegnet und sich die Fähigkeit zum Erstaunen bewahrt hat. Polligkeit h a t derartige Schicksale von Landstreichern festgehalten. Auch bei der Verwahrlosung Jugendlicher sind geistige Defekte im Sinne eines Schwachsinns und andere dispositionelle Momente stark verbreitet; an erster Stelle Willensschwäche und Haltlosigkeit. Gerade an den Jugendlichen läßt sich feststellen, daß diese Willenlosigkeit auf Abweichungen in den Werthaltungen, in einem Nichtwollen des Richtigen und nicht bloß in einer Schwäche besteht, wie das Ertragen von Unbequemlichkeiten und Härten aller Art (Schlafen im Freien) gerade bei Landstreichern erkennen läßt. Eine erhöhte Bereitschaft, unter körperlichen Mißempfindungen zu leiden, davonzulaufen, plötzlich auftretenden Stimmungen nachzugeben, ist gleichfalls schon bei verwahrlosten Jugendlichen festzustellen. Im Vordergrund stehen aber die Milieueinflüsse. Es konnte festgestellt werden (Hetzer), daß Mädchen, die durch vorzeitige sexuelle Erlebnisse bis zur Ausschließlichkeit in Anspruch genommen werden, für andere Erlebnisbereiche dann überhaupt keine Zuwendung mehr aufbringen können und damit in ihrer Persönlichkeit verarmen und in ihren Strebungen mehr und mehr einer ausschließlichen Ichbezogenheit verfallen. Es sind das Prägungen, die in analoger Weise bei männlichen Individuen durch den Alkohol, die Arbeitsentwöhnung und die Landstraße zustande kommen. Nicht nur das Verständnis für sittliche Dinge gerät in Verfall, auch das Verständnis für sozialökonomische Fragestellungen bleibt unentwickelt. Und wieder ist es hier nicht so sehr ein eigentliches Unvermögen als vielmehr die Folge einer habituellen Blickwendung auf das Ich, analog der, die den Landstreicher immer mehr auf rein vegetative Interessen einengt. Der innige Wechselzusammenhang zwischen sozialer und ökonomischer Not und Erschütterung der sittlichen Normen reicht sonach, wenigstens bei den Frühgescheiterten, bis in die Jugendjahre, ja bis in die Kindheit, zurück. Das ergibt sich auch aus der Zunahme der Jugendkriminalität in Notzeiten. Für die Asozialen ergibt sich aus dieser Perspektive, daß sie jener Gruppe der verwahrlosten Jugendlichen entspringen, bei denen die innere Unsicherheit der Pubertätszeit zu einer tiefen Entmutigung und zu Unstetigkeit und Fluchtbereitschaft geführt h a t . Das gilt wenigstens f ü r einen Großteil der Frühgescheiterten. Die Flucht vor dem brutalen Vater (Trinker), der Antrieb zum Herumtreiben, zum Davonlaufen, ein kaptatives verdrängtes Antriebserleben aus der Kindheit (Schultz-Hencke), auch das sind
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Faktoren unter anderen verdrängten Entwicklungskräften, die in den Verhaltensdispositionen (Keller, Reckless) der Bettler u n d Landstreicher noch nachwirken. Gegenüber der Verwahrlosung Jugendlicher, die auch zur echten Kriminalität hinüberführen, aber auch behoben werden kann, stellt die Asozialität scheinbar einen Endzustand dar, einen Uberrest (Kronfeld), dem das eigentliche Verbrechen, das Verbrechen schwerer Art, nicht entwächst, in den es allenfalls ebenso wie soziales Verhalten hinabsinken kann. Die Kriminalsoziologie bezeichnet die Kriminalität als das Negativ der jeweiligen kulturell und sozial bedingten Verhaltensweisen. J e stärker die soziale Ordnung, desto geringer die Kriminalität (soziologischer Stabilitätsfaktor, Hurwitz). Wahrscheinlich könnte man diese Regel auch auf die Asozialen anwenden, die sicher weniger stabil sind als manche kriminellen Klassen und von der sozialen Ordnung noch viel stärker abhängen als sie. Derzeit gehören sie allerdings zur Bevölkerung noch als ihre „Gescheiterten" und als diejenigen, die von ihr in Stadt und Land durch gedankenloses Geben genährt werden. Durch dieses Verhalten werden die Unsicherheiten in den Beziehungen zu den Nebenmenschen, bei den jugendlichen Verwahrlosten die wichtigste Vorbedingung f ü r die latente Verwahrlosung (Aichhorn), bei den Asozialen der verdeckte Kern ihrer Verhaltensdispositionen, naturgemäß nur unterstrichen u n d verstärkt.
9. Besiehungen zur
Jugendkriminalität
Die B e z i e h u n g e n der A s o z i a l i t ä t zur J u g e n d k r i m i n a l i t ä t sind wesentlich lockerer als die zur Jugendverwahrlosung. Der jugendliche Kriminelle handelt in der Regel aktiv, aus einer lebendigen Konfliktlage heraus (Konfliktkriminalität, Stumpfl). Diese Konflikte ergeben sich aus seinem Übergang von der Welt der Jugend in die Welt des Erwachsenen. Insofern kann man von einem normalen, der strukturellen Verfassung einer Industriegesellschaft entsprechenden Phänomen reden (R. König). Nur die wenigsten der jugendlichen „Rechtsbrecher" enden in allgemeiner Kriminalität, was ja auch für die jugendlichen Verwahrlosten gilt, die als k ü n f t i g e Asoziale zu erkennen sind. Wohl leidet ein Großteil der jugendlichen Rechtsbrecher unter der „geschrumpften Reichweite der Familie", dieser Zeitkrankheit unserer abendländischen Kultur. Groß ist aber auch die Zahl derjenigen, die an der natürlichen Abnabelung und Emanzipation von der Familie verhindert wurden und durch neurotische E n t wicklungen zu kriminellem Verhalten kamen. Ihnen gegenüber erscheinen die Frühgescheiterten unter den Asozialen in der Regel als Persönlichkeiten, die wie Fremde neben der Familie aufwuchsen bzw. als Nestflüchter sich vorzeitig von ihr lösten. Entsprechend unterscheiden sich auch
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die hintergründigen Triebfedern, die das Sozialverhalten der beiden Gruppen bestimmen. Die Störungen im Familiengefüge weisen auch bei beiden Gruppen wesentlich verschiedene Charakteristika auf. Bei anderen jugendlichen Kriminellen entspringen die Konflikte aus mehr oder weniger spezifischen, psychischen oder physischen (etwa innersekretorischen) Reifungsstörungen (Stumpfl, Illchmann-Christ, Kretschmer). Ganz allgemein könnte man sagen, daß bei jugendlichen Kriminellen eine größere Spezifität und eine geringere Zahl der verursachenden Faktoren festzustellen ist als bei den Asozialen. Entsprechend ihrer Passivität fehlen bei diesen aktuelle Konflikte, entscheidende Erlebnisse, wenn sie überh a u p t nachweisbar sind, liegen schon weit zurück („inveterierte Affekte"), auch ihre Arbeitsunlust findet keine spezifische Begründung in Pubertätsentwicklung oder konkreten Motivationsprozessen. Das ganze Verhalten jugendlicher Asozialer ist weder verantwortlich noch unverantwortlich, weil sie sozial überhaupt nicht „antworten". 10. Sozialbiologische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge Die sozialen V o r b e d i n g u n g e n f ü r das A u f t r e t e n v o n A s o z i a l i t ä t sind von großem Gewicht, weil für den Menschen in seiner Welthaftigkeit nicht nur Charakter, Affekte, Temperament die motivierenden Verhaltensgrundlagen abgeben. Die Tatsache, daß in seiner Innenwelt die Umwelt mitgegeben ist, weist allen überindividuellen Institutionen und Bindungen eine ebenso große, wenn nicht noch größere Bedeutung zu (Bürger-Prinz). Schon sozial gibt es Überschneidungen, Konkurrenzen, Spannungen in der Motivation des Handelns, die sich psychologischer Sicht entziehen („Uberindividuelle Motivhintergründe"). Die geschichtlich gewordene soziale Ordnung, in der wir leben, ist auf der Seßhaftigkeit (Ansässigmachen an einem Ort) aufgebaut. Auf ihr beruhte einst der Erwerb der Bürgerrechte und der Begriff der Heimat. Die Gemeinschaftsgesinnung, die alle f ü r einander einstehen läßt, fand in dieser Ordnung (Stadtrecht) ihren lebendigen Ausdruck. Im neunzehnten Jahrhundert hat die auf einen, sei es manifesten oder latenten, Kollektivismus zusteuernde „liberale" Wirtschaftsordnung zu Wirtschaftsformen geführt, die geeignet sind, besonders in Krisenzeiten Menschen verschiedener H e r k u n f t zu entwurzeln und ihnen die Möglichkeit einer ständigen Niederlassung zu entziehen. Auch eine menschenwürdige Behausung ermöglicht keine neue „Verwurzelung". Maßnahmen, die über eine echte Versicherung (totale Pensionierung) hinausgehend zu einer mechanisierten Massenfürsorge führten, waren geeignet, das Lebens-, Fürsorge- und Gemeinschaftszentrum
von der Familie, dem natürlichen Hilfsverband, und von anderen echten Gemeinschaftszentren zum Staate hin zu verschieben (Röpke). Damit wurden unter anderem gerade jene Schichten am stärksten getroffen, deren Familienverband ohnedies schon brüchig und schwach war, nämlich die Gefährdeten, die Sozialschwierigen, also die im Lebenskampf weniger tauglichen Passivnaturen. Wo eine Familiengründung nicht mehr gelingt, ja selbst das Streben nach Familiengründung erstickt ist, da erfolgt in diesem Bereich das Absinken in Asozialität. Denn Ehelosigkeit ist ja, in dieser Gruppe wenigstens, unmittelbares Zeichen der tiefen gesellschaftlichen Entwurzelung. Kommt es wieder zu einer Eheverbindung von Dauer, dann ist der Vagabund schon resoziiert, aus seiner Einsamkeit befreit. Ein nicht zu übersehender Faktor ist der durch das neuzeitliche Bestreben, den Massen sowohl das Denken sowie die Ausfüllung der Muße abzunehmen, bedingte Verlust elementarer Freiheiten und die Entwürdigung des Menschen „zum schweifwedelnden Haustier" beim Steuerzahlen, Markenkleben und Schlangestehen vor stempelnden Beamten. Die elementaren Freiheiten, auf der nackten Erde schlafen zu dürfen, und der „komfortablen Stallfütterung" des Zivilisationsbetriebes enthoben zu sein, werden diesen Menschen zu einem Wertmesser ihres Strebens (Röpke). „Ich dachte an die Enge und all den D r i l l . . . , davor hatte ich Grauen." Diese Worte aus dem Lebenslauf eines Landstreichers, der in Spelunken aufgewachsen, später als Schiffsjunge gedient und schließlich als Seeräuber auf einer chinesischen Dschunke „gearbeitet" hatte, dann im ersten Weltkrieg seinem Vaterland zu Hilfe geeilt war, in sibirische Gefangenschaft geriet und auf der Landstraße endete, läßt den Abscheu dieser Menschen vor der bürgerlichen Ordnung in einem nicht ausschließlich negativen Aspekt erscheinen. Eine andere Faktorengruppe ist in allen verfehlten, weil nur gegen das oberflächliche Symptom gerichteten Maßnahmen zu erblicken, die eher geeignet sind, die Asozialität zu fördern und zu mehren, als sie wirklich zu bekämpfen. Hier ist alles zu nennen, was von den Repressalien vergangener Jahrhunderte, drakonischen Strafen, Zwangserziehung in Zwangsarbeitsanstalten bis zum sinnlosen Almosengeben getan wurde. Andere Vorbedingungen sind zu erblicken im Darniederliegen der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nur im Sinne von Notzeiten, sondern auch von tieferliegenden Gesellschaftskrisen der Gegenwart (Röpke). Hierher gehören die Probleme der Verproletarisierung und Entproletarisierung. Ein weiterer Zustrom zur Asozialität ergibt sich aus den „Abfallsprodukten" der Binnenwanderung (Heberle und F. Meyer). Der Begriff der Seßhaftigkeit selbst, früher an die Tatsache einer
Asozialität ständigen Niederlassung oder sogar des Vorhandenseins von Grundbesitz oder eines Gewerbebetriebes gebunden, hatte sich im neunzehnten Jahrhundert gewandelt. Es genügte der Wille oder die Möglichkeit, einen Aufenthalt zu finden. Änderungen der Wirtschaftslage und das Fehlen eines geregelten Arbeitsnachweises hatten das Ergebnis, daß viele wandernde Arbeitslose auf die Landstraße gerieten („Industrienomaden"). Daß auch gesunde und arbeitswillige Menschen in den Personenkreis der Nichtseßhaften abgedrängt werden können, zeigen die Massenausweisungen des zwanzigsten Jahrhunderts, zuerst aus dem Westen (Juden, Polen, Zigeuner), dann aus dem Osten. Dazu kommt der Flüchtlingsstrom, die Zahl der Jugendlichen aus Familien, die auseinandergerissen wurden, die illegalen Grenzgänger. Die keine Beschäftigung fanden, gerieten in tiefe Resignation, und in den Lagern zeigten sich teilweise Wirkungen (Entwurzelungsreaktionen) im Sinne einer „inneren Verwahrlosung", die der auf den Landstraßen weitgehend entspricht (Janz). Nicht nur die Fernwanderung, auch die Nahwanderung in Gestalt eines täglichen oder wöchentlichen Pendelverkehrs wirft Probleme auf, die, weil sie die Struktur und die Festigkeit der Familie tangieren, die Asozialenfrage immer mehr in den Vordergrund rücken. Auch bei der Binnenwanderung ist die Wanderungsbereitschaft am größten im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Unter den Ursachen stehen in erster Linie körperliche Mängel und Krankheit, geistige Regsamkeit und wirtschaftliche Faktoren. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Veränderungen in der Struktur der „Seßhaftigkeit", die mit dem derzeitigen Wirtschaftssystem verbunden sind, ständig neue und wechselnde Vorbedingungen für ein Abgleiten auf die Landstraße schaffen. In diese allgemeinen Vorbedingungen sind die individuellen, schicksalhaften Faktoren eingebettet. Sie sind das eigentliche Auslösende und Bewegende, die Katalysatoren des ganzen Verwahrlosungsprozesses, der in enger Wechselwirkung mit den psychischen Faktoren zur Asozialität führt. Hierher gehört etwa eine mangelnde Berufsausbildung in Verbindung mit einer fehlenden Stetigkeit in der Lebensführung, ein an sich natürlicher Wandertrieb und das Versäumnis einer Familiengründung, eine aus dem Lebensschicksal erwachsene Unrast und Enttäuschung, eine durch Unfall eingetretene Invalidität in Verbindung mit Ratlosigkeit gegenüber dem eigenen Schicksal, vor allem aber die im grauen Alltag der Familie erlebten Schicksale des Jugendalters und Kindesalters in Verbindung mit charakterlichen und konstitutionellen Anlagen (innere Verwahrlosung). Die Fülle der Faktoren, die hier schon in einem Einzelschicksal zusammentreffen, vervielfacht sich, wenn man ganze Gruppen zusammenfaßt.
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Früher hat man, wohl unter dem Einfluß von Lombroso, die Erscheinungsformen der Asozialen mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkt der Erblichkeit oder der „Volksschädlichkeit" studiert. Die wenigsten dieser Untersuchungen treffen wirklich die Gruppe der begrifflich abgegrenzten Asozialen, sondern sie erstrecken sich entweder auf Landfahrer, Zigeuner oder Verbrecherfamilien, auf „Menschenschläge" (Ritter). Wohl spielen erbliche Faktoren im Leben des einzelnen, der zum Landstreicher oder Bettler wird, eine nicht unerhebliche Rolle, aber es gibt keine einheitlichen Anlagen und auch keinen einheitlichen Typus des Zusammenwirkens bestimmter Anlagen mit anderen Faktoren. Neben den Schicksalen, die mit Notwendigkeit, das heißt von anderen, Institutionen oder von der Natur selbst ausgehend, eingreifen, sind es die mehr oder weniger unbewußten Seiten des Motivationsvorganges, die den einzelnen aus dem Arbeitsprozeß herausführen. Dabei kommt es schließlich zu einer Fixierung eines bloß limitativen Wollens (W. Keller) im Bereich einer auf vegetative Funktionen und ihr passives Gewährenlassen beschränkten Interessensphäre. 11. Forschungsaufgaben
und
Sozialhygiene
Psychopathologie, forensische Psychologie, Kriminalpsychologie und Kriminalsoziologie stehen gegenüber der Asozialität noch vor großen Aufgaben. Selbst die ausführlichsten psychologischen Einzeldarstellungen von Asozialen sind bisher über rein klinische Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbildes (Bonhoeffer, Willmanns) oder Darstellungen des äußeren Lebenslaufes (Polligkeit) nicht hinausgegangen. Katamnesen von jugendlichen Asozialen und eingehende Vorgeschichten erwachsener Asozialer, also Übersichten über den ganzen Lebenslauf etwa nach dem Vorbild von Fuchs-Kamp, fehlen bisher ganz. Objektive Vorgeschichten sind schwer zu gewinnen, weil die Familien- und Heimatverbindungen längst abgerissen sind. Es bleibt künftigen Forschungen vorbehalten, aus solchen Vorgeschichten zu einer Erhellung jener subtilen und maßgeblichen soziologischen Faktoren, jener „überindividuellen Motivhintergründe" (Bürger-Prinz) beizutragen, deren Erfassung für das Verständnis der Entwicklung von spezifischen Verhaltensdispositionen ebenso unerläßlich ist, wie für den Erfolg der Resozialisierungsmaßnahmen. Auch der Asoziale, selbst wo er sich treiben läßt, ist primär das „handelnde Wesen" (Gehlen), dessen gegenwärtige Handlungen noch mehr als durch bewußte Impulse durch Kräfte bestimmt sind, die es „lieben, im Hintergrund zu bleiben" (Dilthey). Uber sein eigenes Verhalten befragt, weiß der Asoziale in der Regel selbst nicht, wie er dazu gekommen ist (Motivkonkurrenz im Sinne von Gruhle). Der Nichtseßhafte und insbesondere
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Asozialität
der bindungslose Asoziale ist in anderer Weise dem Aufforderungscharakter (K. Lewin) der Dinge dieser Welt ausgeliefert, er bewegt sich dauernd im „Unvertrauten" und „Ungewohnten", also „unfamiliar". Er ist unmittelbar den augenblicklichen Feldwirkungen unterworfen und in seinem Verhalten daher unberechenbar. Indem er sich den Dingen anvertraut, die wir uns zu unterwerfen gewohnt sind, befindet er sich gleichsam in einer habituellen Demutshaltung. Diese Ergebenheit in das Schicksal berührt den wachen Beobachter sympathisch (Steigerthal). Sie beruht aber nur selten auf wahrer Demut. Was diese Haltung bestimmt, ist das Ergebnis einer E r l e b n i s e i n e n g u n g , die nach verschiedenartigen Abwehrkämpfen und Schicksalen zu einer stereotypen Haltung geführt hat. Dabei findet man die verschiedensten Varianten dieser Haltung, etwa eine seigneuriale, eine abgeklärte, eine großspurige, eine einfältige usw. Wenn man mit Landstreichern spricht, so kann man immer wieder feststellen, daß ganz geringfügige Dinge, der Geruch eines Holzfeuers, irgendein jahreszeitlich bedingtes Geräusch oder eine innere Gestimmtheit, vielleicht auch eine belanglose Begegnung, die bei uns allenfalls irgendeine Kindheitserinnerung schwach anklingen läßt, bei diesen Menschen Gefühle mit starken Feldeffekten erweckt, deren anziehende oder abstoßende Wirkung, Zug oder Druck etwas so Verlockendes oder Ubermächtiges gewinnen kann, daß ihm unmittelbar nachgegeben wird. So wird ihr Verhalten oft schon durch Irradiation oder Übertragung von Gefühlstönen unmittelbar bestimmt. Auch körperliche Ermüdungserscheinungen oder irgendwelche von den eigenen körperlichen Defekten ausgehende Wirkungen können derartige Feldeffekte hervorrufen. Alle diese Dinge unterstreichen aber nur die Unverständlichkeit und Unübersichtlichkeit des gesamten Motivationsprozesses, der noch besonders dadurch kompliziert wird, daß wir über „besondere Formen des schwachsinnigen Denkens" (K. Schneider), und auch das Denken ist ein inneres Handeln (Gehlen), und über das Wesen der bei den Asozialen häufig vorkommenden psychopathischen Wesensarten und psychischen Entwicklungsstörungen noch so gut wie gar nichts wissen. Nach den klinischen Erfahrungen kann man bisher nur sagen, daß in vielen Fällen eine übermäßige Objektbezogenheit des Gefühls (Bash) und dementsprechend eine Verhaltens disposition (Keller) vorliegt, die einem sachlichen Beziehungerfassen oder Argumentieren schwer zugänglich ist. Wenn man das Vertrauen derartiger Persönlichkeiten gewonnen hat, so erkennt man allerdings hinter einer Stumpfheit und Gefühlsarmut gegenüber ethischen und sachlichen Wertbereichen in der Regel bald einen komplementären Gefühlsreichtum oder wenigstens eine Empfänglichkeit
für andere Wertbereiche. Diese beschränken sich nicht auf solche der vitalen Instinktstrebungen, sondern verbergen sich nur hinter diesen. Ähnliches gilt ja für die nur scheinbare Gefühlskälte der Schizoiden, die gleichfalls unter den Asozialen vertreten sind. Naturgemäß gibt es auch Übergänge zu mehr oder weniger allgemein Abgestumpften. Es gehört hier zu den schwierigsten Aufgaben der angewandten Pathopsychologie, hinter der oft zutage tretenden Apathie eine Enttäuschung oder Verbitterung bloßzulegen und Gefühlsschwäche und Antriebsschwäche gegeneinander und von den Störungen des Wollens abzugrenzen. Zugleich handelt es sich hier um eine sozialhygienische Aufgabe. Demgegenüber sind die Berührungspunkte mit der forensischen Psychologie, der „subjektiven Kriminalpsychologie" (Hurwitz) und mit der forensischen Psychiatrie eher gering, weil die ganze Gruppe, als eigentlich nicht kriminell, schon am Rande dieser Sachgebiete liegt. Sicher ist, daß eine Bearbeitung des Asozialenproblems ohne psychologisch-biologische und forensisch-psychiatrische reiche Erfahrung nicht möglich ist. Oft handelt es sich darum, festzustellen, ob der Untergrund einer Verstimmung in epileptischen Äquivalenten, psychopathischen Anlagen, anderen endogenen Faktoren, bloßer Debilität oder in einem spezifischen Erlebnis zu suchen ist. Die Erfahrung lehrt, daß viele Asoziale, ähnlich wie Zigeuner oder andere Primitive, aber auch wie „Einfältige" oder „Weise" das Erfassen von Zusammenhängen und Wahrnehmungen aller Art auf unbewußtem Wege vollziehen. Dieses irrationale, „instinktive Erfassen" (C. G. Jung) verleiht den Erkenntnissen dieser Menschen eine besondere Evidenz und gibt ihnen nicht selten eine bohemeartig-künstlerische Note mit allerlei Verschrobenheiten, eine Beziehung, auf die schon A. Kronfeld hingewiesen hat. Tiefere Einblicke in das Einmalige der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur lassen zugleich die Unbeeinflußbarkeit durch gewöhnliche Mittel und die „Späterziehbarkeit" durch besondere Mittel transparent werden. Manche Erfahrungen lassen darauf schließen, daß Stereotypien und besondere Symbolgehalte des Handelns in gewissen Fällen auf das Wirken von bewußtseinsunfähigem, aber nicht wirkunfähigem (dissoziiertem) Erlebnismaterial, also auf Komplexe (C. G. Jung) zurückzuführen sind. Dieses unverarbeitete Erlebnismaterial ist offenbar im Grunde, und darin unterscheiden sich dieso Fälle von ausgesprochenen Neurotikern, nichts wesentlich anderes als der überindividuelle Motivhintergrund. Denn die Dissoziationsphänomene dieser Menschen sind mehr durch Ermüdung, Zerstreutheit, Alkoholwirkung und Gewohnheiten aller Art charakterisiert als durch eine ausge-
Asozialität sprochen neurotische Fehlhaltung. Mit der Rückführung der Nichtseßhaftigkeit des asozialen Typus auf gehemmte Triebäußerungen (Geborgenheitswünsche, Vertrauen) hat man zwar nur ein lebensfernes Gerippe in Händen, aber immer noch ein lebendigeres Gebilde als mit dem Schema von der „Hemmungslosigkeit" dieser Menschen. Viele Asoziale fallen auf durch eine Haltlosigkeit und Willenlosigkeit im Sinne der herrschenden Psychopathenlehre. Damit ist aber im Grunde nur ein sozialer Verhaltenstyp erfaßt. Denn so wie der sog. „Willensstarke" in der Regel nur durch eine besondere Antriebsstärke (Heftigkeit) bei Überwiegen eines einzelnen „Elementes" in der integralen Wollensstruktur, also durch Willensschwächen, ausgezeichnet ist, so ist auch den sog. Willenlosen nicht selten nur eine gewisse Antriebsschwäche gemeinsam. Zum Teil handelt es sich um Persönlichkeiten, bei denen das Wollen sogar stark, aber unstet ist, weil nicht verwurzelt in der selbsthaften Seinsmitte und ohne Zähigkeit. Solche Typen findet man unter den eigentlichen Kriminellen. Bei den Asozialen beruht die Willensschwäche auf einer Schwäche der Antriebe (Astheniker) sowie auf einem mangelnden inneren Gleichgewicht im Bereiche der gesamten Wollensstruktur. Es fehlt ihnen die Entscheidungskraft und die Entschlußfähigkeit, sie können zwischen Möglichkeiten nicht mit Entschiedenheit wählen, sich nicht zu einem Selbsteinsatz aufraffen, sich nicht im Hinblick auf ein Ziel verpflichten. Daraus resultiert Unentschiedenheit und Unentschlossenheit sowie Situationsabhängigkeit. Vor allem fehlt den Asozialen, im Gegensatz zu den eigentlichen Kriminellen, der Mut zum Wagnis. Wandern muß, in dieser Perspektive gesehen, wer sich nicht mehr zu wandeln vermag, das Wagnis der Wandlung scheut und sich auf die Stufe einer alten Lebensform zurückfallen läßt. Diese Menschen bleiben ihren lähmenden Triebschicksalen unterworfen. Man sieht etwa, wie ein Landstreicher, der leicht angetrunken in einem Garten eingeschlafen ist, beim Erwachen am nächsten Morgen ein Gefäß mit Strümpfen und daneben einen Korb auf einem Handwagen bemerkt. „Weil" er „gerade Bedarf an Strümpfen" hatte, legte er sie in den Korb und fuhr mit dem Handwagen davon. So wächst die Handlung bei abnormer Ich- und Akt-Schwäche gleichsam selbständig aus der „Situation"(Hurwitz, Lewin) heraus, man könnte auch sagen, aus dem überindividuellen Motivhintergrund (Bürger-Prinz), und es bedarf dazu nur eines relativ geringen Antriebs. Man darf aber nicht übersehen, daß das primär Entscheidende bei diesen Psychopathen und Schwachbegabten das Fehlen eines entschieden profilierten Reliefs der Strebungswerte ist (Keller). Dieser Mangel an personhafter Zentrierung wird begleitet von einem Mangel im Durchhalten von
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Entschlüssen. Wenn sich diese Menschen überhaupt einmal zu einem Entschluß aufgerafft haben, sind sie den Anfechtungen bei seiner Durchführung nicht gewachsen, es sei denn, daß er in der Richtung ihrer reduzierten und verbogenen Wertordnung liegt. Die Willenskonzentration ist beeinträchtigt, es besteht eine abnorme Beeindruckbarkeit. Kennt man die Anlagen, Kindheitseinflüsse und Schicksale des einzelnen, so kann die mangelnde Ausrichtung der Antriebsenergien auf übergeordnete Ziele und Zwecke nicht wundernehmen. Eine neue Ausrichtung des Daseins auf sittliche Werte und eine Befreiung aus dem triebhaften Dahinleben findet bei diesen Persönlichkeiten immer gewisse Möglichkeiten und Voraussetzungen für eine Nacherziehung; ist doch ihre Plastizität auf „Nachreifung" geradezu angelegt, wenn ihr auch durch körperliche und geistige Defekte gewisse Grenzen gezogen sind. In der Überwindung der zweifellos großen Schwierigkeiten bei der Betreuung und Nacherziehung der Asozialen liegen die großen Aufgaben einer Sozialhygiene und Fürsorge. Ein Heim zu gründen, war in früheren Zeiten, wie auch die Qualität „der Person", ein Privileg. Die Erkenntnis, daß es nicht ein Naturvorgang ist, sondern eine kulturelle Aufgabe, wird das Verständnis für die Bedeutung des Asozialenproblems fördern. 12. Das
Resozialisierungsproblem
Für eine s y s t e m a t i s c h e Beeinflussung u n d E r z i e h u n g d e r A s o z i a l e n , soweit sie vom Kriminalgericht oder anderen dazu befugten Stellen interniert werden (-> Sichernde Maßnahmen, Fürsorge), bedarf es zunächst der Differenzierung der Institutionen für die arbeitsfähigen, aber nicht arbeitswilligen Asozialen und die Arbeitsunfähigen. Dann bedarf es hauptamtlicher Erzieher, die auf dem Gebiet der Psychologie, Psychopathologie und Sozialarbeit befähigt sind und für das Schicksal des Untergebrachten Verständnis aufbringen und sein Vertrauen erwecken. Denn erst nach Beseitigung der Abwehrhaltung und der Verbitterung kann mit der eigentlichen Aufbauarbeit begonnen werden. Diese ist nur als individuelle Behandlung möglich unter Ausschaltung schematischer Gleichbehandlung, also unter Berücksichtigung der angeborenen und erworbenen Charakterzüge des einzelnen. Die Hinführung zur Reife für Leben und Freiheit kann nicht durch bloße Arbeitsgewöhnung erzielt werden, die nur die Arbeitsfähigkeit fördert, sondern nur durch Ermutigung zu der Überzeugung, daß er durch ernsthafte Arbeit den Lebenskampf bestehen kann. Es geht also um die Arbeitswilligkeit. Erziehung ist hier gleichbedeutend mit Erziehung zur Selbständigkeit und Verantwortung. Das erfordert einen an ein anständiges Leben gewöhnenden Stufenvollzug im Rahmen der Internierung
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Asozialität
(Meixner). Die schwierig zu Behandelnden müssen abgesondert werden, u n d korreliert mit diesen Maßnahmen müssen durch eine entsprechende Wanderfürsorge u n d Wanderordnung die Wanderer aus dem Wanderstrom ausgeschieden werden (Wanderbuch, Arbeitsvermittlung usw.). D e n Asozialen kann nur die Internierung auf unbestimmte Zeit ein menschenwürdiges Dasein sichern. Die Erfolgsaussicht, Asoziale zu resozialisieren, beruht auch auf der Erkenntnis, daß unter den Jugendlichen gerade die „asozial veranlagten" m i t ihrer abnormen Willens- und Verstandesschwäche eine Art „Späterziehbaxkeit" zeigen. Die hinausgeschobene Pubertät u n d Adoleszenz, die in neuerer Zeit immer stärker auffällt, scheint jene Entwicklungspotenzen zur Verfügung zu stellen, die dieser Erfahrungstatsache zugrunde hegen. Diese berechtigt zu einer Sonderbehandlung über das 21. Jahr hinaus. I n England h a t m a n diese Erkenntnis bereits in die Praxis eingebaut in Gestalt einer Fortsetzung des Borstal-Trainings bis zum 30. Lebensjahr. E s ist eine verlangsamte Festigung in den Zielausrichtungen, die bewirkt, daß diese Menschen unfehlbar abgleiten, w e n n man sie zu einer Zeit aus der Fürsorgeerziehung entläßt, w o bei den anderen die Erziehung abgelaufen ist („21jährige Erziehungsbedürftige"). D a z u k o m m t , d a ß Schwachsinnige u n d P s y c h o p a t h e n mit außergewöhnlicher Willens- u n d Widerstandsschwäche als unerziehbar aus der Fürsorge ausgeschlossen werden, w o m i t gerade die Bewahrungsbedürftigen getroffen sind. Die Früherfassung dieser Gruppe v o n Bewahrungsbedürftigen, die in der Fürsorgeerziehung nur stören, wird so zu einer Hauptaufgabe der Asozialenfrage. Monographien R. v. H i p p e l : Die korrektionale Nachhaft 1889. —: Die strafrechtliche Bekämpfung von Betteln, Land streichertum und Arbeitsscheu. 1895. —: Zur Vagabundenfrage. 1902. H o p p e : Alkohol und Kriminalität In allen ihren Beziehungen. 1906. K. W i l m a n n s : Zur Psychopathologie des Landstreichers. 1906. H. W. G r u h l e : Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität. 1912. G r e g o r und V o i g t l ä n d e r : Die Verwahrlosung. 1918. K u n r e u t h e r : Untersuchungen Ober das Landstreicherund Bettlertum in Preußen. 1918. C. G. J u n g : Psychologische Typen. 1921. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. 1923. K. S c h n e i d e r : Studien über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prostituierter. 1926. H. H o m b u r g e r : Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters. 1926. L e n z : Grundriß der Kriminalbiologie. 1927. T ö b b e n : Die Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. 1927. K. W i l m a n n s : Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit. 1927. Λ. F u c h s - K a m p : Lebensschicksal und Persönlichkeit ehemaliger Fürsorgezöglinge. 1929. J . L a n g e : Verbrechen als Schicksal. 1929. R o e s n e r : Der Kinfluß von Wirtschaftslage, Alkohol und Jahreszeit auf die Kriminalität. 1930.
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Β BELEIDIGUNG UND FALSCHE ANSCHULDIGUNG 1. Beleidigung,
üble Nachrede,
Verleumdung
Zur Beleidigungskriminalität (i. w. S.) rechnet man die Beleidigung i. e. S. (§ 185 StGB), die üble Nachrede (§186 StGB) und die Verleumdung
(§ 187 StGB). Die Verleumdung umfaßt die wider besseres Wissen aufgestellte ehrenkränkende Tatsachenbehauptung gegenüber Dritten. Meint der Täter, die behauptete Tatsache entspreche sicher oder möglicherweise der Wahrheit, so greift § 186 StGB ein, falls sich der Strafrichter nicht von der Wahrheit überzeugen kann. Diese Regelung ist
76
Beleidigung
ζ. Β . insbesondere dann unbillig, wenn der Wahrheitsbeweis mißlingt, weil der Zeuge, der die Richtigkeit der Behauptung bekunden kann, gestorben oder sonstwie unerreichbar geworden ist oder als Beamter keine Aussagegenehmigung erhält. — § 185 umfaßt einmal alle Mißachtungskundgebungen, die nicht in Tatsachenbehauptungen bestehen (Formalbeleidigungen), zum anderen nach der Auffassung der Rechtsprechung diejenigen ehrenrührigen Tatsachenbehauptungen, die dem Betroffenen gegenüber aufgestellt werden. In engem Zusammenhang mit den Beleidigungstatbeständen steht ferner das Verunglimpfen des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB), wie immer man auch zur Streitfrage der Ehrfähigkeit Verstorbener stehen mag. Verschärfte Bestrafung erfolgt unter bestimmten Voraussetzungen bei „Verunglimpfung" des Bundespräsidenten, Beschimpfung der Bundesrepublik, ihrer Symbole und ihrer höchsten Organe (§§ 95—97). Erhöht strafbar sind in gewissen Fällen auch üble Nachreden und Verleumdungen, wenn sie sich gegen Politiker richten (§ 187 a). § 131 endlich ahndet die „Staatsverleumdung". Diese ganze Gruppe gehört ihrem kriminologischen Schwerpunkt nach zu den politischen Delikten.
Diese prozessuale Ausgestaltung der Beleidigungstatbestände bildet einen der Gründe dafür, daß die Kriminalstatistik keinerlei Aufschluß über die Größe der wahren Kriminalität gibt. Das Prozeß- und Kostenrisiko hält viele, die an sich eine Bestrafung des Täters wünschen, davon ab, Privatklage zu erheben. Es kommt hinzu, daß in vielen Fällen die Betroffenen ohnedies an einer Bestrafung uninteressiert sind, sei es, weil ihnen ehrengerichtliche o. ä. Verfahren Genugtuung bieten, sei es, weil sie im Wege der privaten Auseinandersetzung die Angelegenheit bereinigen oder die Tat ihnen gleichgültig ist. Die Kriminalstatistik gibt deshalb nur einen winzigen Ausschnitt der wirklichen Beleidigungskriminalität wieder. Sie weist an Verurteilungen für die Nachkriegsjahre (seit Erstellung der Bundeskriminalstatistik) folgende Zahlen aus: §185 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961
6945 7447 7630 7638 7939 7650 7967 8179
§186
6828 8277 9605 8931
1306 1503 1471 1201 1048 988 876 871
§187 226 324 356 359 339 324 271 289 248 286 260 213
§ 187 a
4 15 20 8 3 5 5
§189
25 25 20 24 32 21 19 22
Für die kriminologische Forschung der Beleidigungsdelikte liegt eine wesentliche Schwierigkeit darin, daß sämtliche Beleidigungstatbestände (mit Ausnahme von § 131 StGB) nur auf Antrag bzw. mit Ermächtigung verfolgt werden, und gleichzeitig die Tatbestände der §§ 185—187 a und 189 StGB als Privatklagedelikte ausgestaltet sind (sofern nicht eine der in § 197 StGB genannten politischen Körperschaften betroffen ist, vgl. § 374 StPO). Das bedeutet, daß die Staatsanwaltschaft das Verfahren nur bei „öffentlichem Interesse" betreibt (§ 376 StPO).
(Für die Jahre 1950—1953 sind die Verurteilungen nach § 185 und § 186 StGB nicht getrennt ausgewiesen. § 189 wurde erst 1954 in die Statistik aufgenommen, § 187 a ist 1951 neu in das Gesetz eingefügt worden.)
Ferner ist bei der kriminologischen Auswertung des zur Verfügung stehenden statistischen und sonstigen Materials zu berücksichtigen, daß die Erhebung der Privatklage erst zulässig ist, wenn ein Sühnetermin zwischen den Parteien vor dem Schiedsmann durchgeführt worden ist (§ 380 StPO). Dieser Schiedsmann legt je nach seinem Geschick einen mehr oder minder großen Teil der Streitigkeiten gütlich bei. Vor Durchführung des Privatklageverfahrens hat der Kläger in der Regel einen Kostenvorschuß zu leisten. Von den erhobenen Privatklagen endet der weitaus größte Teil durch Vergleich; mancherorts werden bis zu 9 0 % der Privatklagesachen auf diese Weise erledigt. Überdies wirkt sich die Notwendigkeit, die Wahrheit der Behauptung zu prüfen, bei § 186 StGB in der Praxis des Strafprozesses oft dahin aus, daß statt des Täters der Beleidigte als der eigentliche Angeklagte erscheint, weil dessen Vorleben auf das Zutreffen des Vorwurfs hin durchforscht wird.
Die statistischen Zahlen sind aber nicht nur ungeeignet, die Größe der gesamten Beleidigungskriminalität anzuzeigen, sondern sie sind auch nicht tauglich, den Verlauf — die Zu- oder Abnahme — der wahren Kriminalität nach dem sog. Gesetz der konstanten Proportionalität widerzuspiegeln. Selbst wenn man dieses Gesetz in gewissem Umfang als berechtigt ansehen wollte, so gälte es hier ganz sicher nicht; schon die Möglichkeit einer Zunahme der Privatklagefreudigkeit infolge wirtschaftlicher Besserstellung oder infolge wachsender Bedeutung des Sozialprestiges verhindern einen einigermaßen gesicherten Schluß von der Statistik auf den wahren Kriminalitätsverlauf. Die Statistik weist höhere Zahlen für § 185 als für die §§ 186, 187 StGB aus. Aber daraus läßt sich nicht schließen, daß auch in der wahren Kriminalität eine ähnliche Proportion besteht. Denn die Beleidigungen des § 185 StGB gelangen
—
2 —
Beleidigung überwiegend zur Kenntnis des Verletzten, im Gegensatz zu denen der §§ 186,187 StGB, die nur Dritten gegenüber begehbar sind. Als Begehungsweise der — kriminologisch nur wenig erforschten — Beleidigungen (i. w. S.) kommt jede Form der Kundgabe der Mißachtung in Frage. Üble Nachrede und Verleumdung werden vorwiegend durch mündliche oder schriftliche Äußerungen begangen. Bei § 185 StGB, soweit er die sog. Formalbeleidigung durch negative Werturteile betrifft, kommen zwar außerdem andere Tatformen in Betracht: Tätlichkeiten, Karikaturen, Veröffentlichung oder Weitergabe einer nur für das Privatleben bestimmten Aufnahme (Aktbilder). Eine praktische Rolle spielen aber vor allem die tätlichen Beleidigungen und die als Beleidigungen abgeurteilten sexuellen Handlungen. Die Anlässe zur Tat sind so vielfältig wie die Möglichkeiten der Menschen zur Kontaktnahme. In der abgeurteilten Beleidigungskriminalität treten vor allem folgende Gruppen auf: Beleidigungen bei Hausstreitigkeiten, auf Grund geschäftlicher Differenzen, an der Arbeitsstätte, im Straßenverkehr, in Gastwirtschaften, aus Opposition gegen hoheitliches Handeln und bei den grundlosen Anrempeleien und Anpöbeleien durch Jugendliche und Jungtäter. Die Tatschwere der Beleidigungskriminalität ist sehr unterschiedlich. Sie differiert einmal nach dem Maß der Ehrenkränkung selbst, zum zweiten vor allem nach den durch die Tat ausgelösten weiteren Folgen. Diese können in Extremfällen außerordentlich schwerwiegend sein: Existenzvernichtung, Zerstörung der Ehe, Verhaftung usw. Im allgemeinen gehören die Beleidigungen jedoch zum Kleinwuchs der Kriminalität. Ohne daß eine scharfe Grenzziehung möglich ist, lassen sich doch viele Beleidigungstaten danach unterscheiden, ob bei ihnen die rationale Zwecksetzung überwiegt oder ob sie vorwiegend das Produkt von Affekten sind. Bei der ersten Gruppe bildet die Tat das Mittel zur Verwirklichung konkreter Zwecke: Konkurrenten sollen geschädigt, eine Laufbahn oder Stellung beeinträchtigt werden, ein Nebenbuhler ausgestochen, Mietverhältnisse gelöst, ein politischer Gegner in der öffentlichen Meinung disqualifiziert werden usw. Nicht selten haben diese Taten reaktiven Charakter: es soll eine drohende Benachteiligung abgewehrt werden in Form der „Flucht nach vom" (ζ. B. bei übler Nachrede oder Verleumdung in bezug auf Beamte, um Amtshandlungen gegenüber dem Täter zu paralysieren). Die zweite Gruppe, die vornehmlich triebhaften Beleidigungstaten, bilden den Tummelplatz für das Abreagieren der verschiedensten Gefühlszustände. Haß, Neid, Eifersucht, Unterlegenheitsgefühle, Geltungsbedürfnis, Sensationslust, Querulantentum, erotische oder sexuelle Spannungen usw. sind die
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Triebfeder zu Beleidigungen, üblen Nachreden und Verleumdungen. Auch bei dieser Gruppe können die Taten mehr aggressiven oder mehr reaktiven Charakter tragen. Eine besondere Gruppe bilden die als Beleidigungen abgeurteilten Verstöße gegen die Sexualsittlichkeit, die auf Grund von Untersuchungen der Sittlichkeitskriminalität besser erforscht sind. Der Tatbestand der Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183 StGB, ganz überwiegend Fälle des Exhibitionismus) läßt eine Bestrafung aus dieser Bestimmung nur zu, wenn das unsittliche Verhalten öffentlich erfolgt und de facto Ärgernis erregt. An beiden Merkmalen fehlt es häufig; dann werden solche Taten vielfach als Beleidigung (§ 185 StGB) abgeurteilt. Ähnliches gilt für manche Fälle der Unzucht mit Kindern und der Verführung. Bei diesen als Beleidigungen abgeurteilten Taten ist häufig — mit Ausnahme der Fälle von Exhibitionismus mit sadistischer Komponente — der Vorsatz problematisch; die mit der sexuellen Erregung einhergehende starke Bewußtseinsverengung schaltet vielfach das Erkennen des ehrenkränkenden Charakters des Verhaltens aus, so daß der Beleidigungsvorsatz in Wahrheit fehlt. Aber auch, wenn zu Recht der Tatbestand der Beleidigung bejaht wird, ist die Tat ihrem Schwerpunkt nach ein Sittlichkeitsdelikt. Von den Tätern der Beleidigungen (i. w. S.) wissen wir noch weniger als von den Tatformen. Was die Verteilung auf die Geschlechter anbetrifft, so ist das weibliche Geschlecht an der Zahl der Verurteilungen wegen Beleidigungen stärker beteiligt als an anderen Delikten. Den Anteil weiblicher Täter in der Kriminalstatistik zeigt Tabelle Seite 78. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb die wahre Beleidigungskriminalität der Frau anteilmäßig geringer sein sollte, als es bei den Verurteilungen in Erscheinung tritt; die im Offizialverfahren abgeurteilten Beleidigungen (verkappte Sittlichkeitsdelikte, Beleidigungen von Beamten usw.) entfallen ihrer Begehungsart nach sogar überwiegend auf Männer. Da trotzdem die Statistik eine gegenüber der sonstigen Kriminalitätsbeteiligung der Frau erhöhte Beteiligung weiblicher Täter zeigt, ist anzunehmen, daß die Beteiligung der Frau r e l a t i v hoch ist, wie auch die Alltagserfahrung lehrt. Die mit geringem Unrechtsgehalt verbundenen, häufig aus Affekten entspringenden Taten kommen sicher der weiblichen Psyche mehr entgegen als viele andere Deliktsformen. Aus diesen Gründen jedoch auf die D o m i n a n z der Affekte bei der Frau schließen zu wollen, wie dies nicht selten geschieht, ist verfehlt, da der Anteil der Frauen — soweit bekannt — an der Beleidigungskriminalität immer noch weit unter demjenigen der Männer liegt (-> Weibliche Kriminalität).
Beleidigung
78 Täter weibl. % weibl. insges. Täter Täter 1954
1955
1956
1957
1958
1959
1960
1961
§185 §186 §187 §185 §186 §187
6945 1306 339
1522 515 113
22% 39% 33%
7447 1503 324
1555 624 107
21% 42% 33%
§185 §186 §187 §185 §186 §187 §185 §186 §187
7630 1471 271
1440 665 83
7638 1201 289 7939 1048 248 7650 988 286 7967 876 260 8179 871 213
1444 460 88 1393 414 76 1302 418 97 1222 357 87
19% 45% 31% 20% 38% 30%
15% 41% 33%
1265 336 69
15% 39% 32%
§185 §186 §187 §185 §186 §187 §185 §186 §187
18% 39% 31% 17% 42% 34%
Bei der Altersaufteilung weist die Verurteilungsstatistik im Vergleich zu anderen Delikten einen hohen Anteil älterer Täter aus (s. Tab. Seite 79). Die in die Kriminalstatistik eingegangenen Verurteilungen sind jedoch für den Altersaufbau weitgehend atypisch. Ungleich größer, als es die Statistik anzeigt, dürfte der Anteil der jungen Täter sein. Mit dem erhöhten Anteil der älteren Täter steigt naturgemäß derjenige der verheirateten. — Die Aufschlüsselung nach Täterberufen zeigt, daß es sich bei den Beleidigungen um ein Jedermanndelikt handelt. Zahlreiche Täter weisen Vorstrafen auf, jedoch im allgemeinen keine sonderlich schwerwiegenden Delikte. 2. Die falsche
Anschuldigung
Der Tatbestand der falschen Anschuldigung (§ 164 StGB) greift ein, wenn jemand eine konkrete Person vor bestimmten Behörden fälschlich einer Straftat, Dienst- oder Amtspflichtverletzung bezichtigt in der Absicht, ein behördliches Verfahren oder andere Maßnahmen gegen den Verdächtigen herbeizuführen. Strafbar ist diese Falschbezichtigung dann, wenn sie vorsätzlich oder leichtfertig begangen ist; wenn der Täter wider besseres Wissen, d. h. ohne Zweifel bezüglich der Falschheit seiner Beschuldigung handelt, ist er erhöht strafbar. § 165 bestimmt, daß dem Verletzten stets
die Befugnis zuerkannt werden muß, die Verurteilung auf Kosten des Täters bekannt zu machen. Für den Ablauf des Strafverfahrens ist die Bestimmung des § 164 Abs. 6 StGB von erheblicher Bedeutung; hiernach ist solange mit dem Verfahren wegen falscher Anschuldigung einzuhalten, bis das Verfahren über die behauptete Straftat abgeschlossen ist. Betrachtet man die zahlenmäßige Entwicklung der falschen Anschuldigung, so ist außer den Auswirkungen von Amnestien zu berücksichtigen, daß 1933 der Tatbestand des § 164 StGB wesentlich erweitert wurde, um eine wirksame Waffe gegen das um sich greifende Denunziantentum zu haben. Aus dieser Erweiterung der Gesetzesfassung erklärt sich ζ. T. der starke Anstieg der falschen Anschuldigungen nach 1933. Jedoch haben Einzeluntersuchungen gezeigt, daß die Zahl der Taten, die schon nach der alten Gesetzesfassung strafbar gewesen wären, damals ebenfalls ganz erheblich zunahm. Es handelt sich um die Fälle politischer Denunziationen, die nach 1933 eine große Bolle spielten. Ein ähnlich starker Anstieg wird nach 1945 stattgefunden haben, ist jedoch nicht erfaßbar, u. a. weil damals ein großer Teil der Anschuldigungen (und gerade auch der falschen) an die Adresse der Militärregierung gerichtet wurde und nicht zur Kenntnis der deutschen Strafrechtspflegeorgane kam. Auch hier haben die politischen (und wirtschaftlichen) Verhältnisse eine große Rolle gespielt. Neben diesen zeitbedingten Delikten gibt es als Inhalt falscher Anschuldigungen einen festen Stamm von behaupteten Straftaten: Vermögensdelikte, daneben — meist in geringerer Anzahl — dienstliche Verfehlungen von Beamten, Sittlichkeitsdelikte (vor allem Notzuchtsbehauptungen nach außerehelichem Geschlechtsverkehr, wenn dieser zu Folgen führte), Abtreibungen, Eidesdelikte. Die landläufigen Falschbeschuldigungen sind recht primitiv und führen meist nicht einmal zur Anklage wegen des behaupteten Deliktes. Jedoch läßt sich daraus nicht auf die Harmlosigkeit der Taten schlechthin schließen. Die raffiniert angelegte Falschbeschuldigung hat zweifellos eine ungleich höhere Dunkelziffer als die primitive Tat. Es wird manche Fälle geben, wo zwar das behauptete Delikt vielleicht nicht festgestellt wird, jedoch ebensowenig bewiesen werden kann oder auch nur der Verdacht entsteht, daß bewußt etwas Falsches angezeigt wurde, weil der Täter geschickt Wahres mit Unwahrem zu einer Falschbeschuldigung vermischt hat. Die Opfer der abgeurteilten Taten rekrutieren sich aus allen Bevölkerungsschichten; in einem weit über ihrem Bevölkerungsanteil liegenden Maß sind jedoch Beamte betroffen, weil bei Auseinandersetzungen mit Behörden gern zur Behauptung einer Dienstverfehlung gegriffen wird. Hier reagiert freilich auch die Rechtspflege aus
Beleidigung
Altersstufe
14—16 J. 16—18 J. 18—21 J. 21—25 J. | 25—30 J. 30—40 J. 40—50 J. 50—60 J. Täter pro Jahrgang
§185 1954 §186 §187 §185 1955 §186 §187
30 2 1 36 3 1
64 2 4 87 12 3
§185 1956 §186 §187
40 2 1
106 12 3
§185 1957 §186 §187
58 2 1
§185 1958 §186 §187
61 3
111 8 2 128 5 2
§185 1959 §186 §187
62 1 2 53 1 1 43 1 1
§185 1960 §186 §187 §185 1961 §186 §187
79
—
126 4 2 121 2 2 118 5 1
117 9 7
161 18 8
168 25 9
144 10 5
183 19 8 191 13 7 186 15 8 214 15 7 228 13 6 258 11 6 290 13 6
190 28 9 197 24 7
156 12 4 167 10 8 209 8 6 233 8 5 245 6 4 226 10 3
191 19 5 190 16 6 187 17 8 201 16 5 218 12 3
157 26 8 157 31 7 161 33 5 163 26 7 172 22 5 167 24 6 176 19 7 180 18 7
182 40 9 183 46 7 186 40 6 175 31 7 169 28 6 140 24 7 140 22 5 147 20 5
104 27 4 118 29 6 115 35 5 117 28 6 121 23 5 113 21 5 120 21 5 115 20 3
(Die absoluten Zahlen der Kriminalstatistik, die in den einzelnen Altersgruppen eine verschiedene Zahl von Jahrgängen zusammenfassen, wurden umgerechnet auf die durchschnittlich auf jedes J a h r der betreffenden Altersgruppe entfallende absolute Zahl. Die Täter, die über 60 Jahre alt sind, wu rden nicht aufgeführt, weil bei ihnen eine derartige Umrechnung nicht möglich ist.) Solidaritätsgefühl mit besonderer Empfindlichkeit auf Falsch beschuldigungen, zuweilen auch, wenn das Verhalten des Beamten hart an der Grenze des Korrekten verläuft und die Falschbeschuldigung einen richtigen Kern hat. Hier spielt die hohe Glaubwürdigkeit mit, die die Aussagen von Beamten im allgemeinen genießen. Und es wirkt sich in besonderem Maß die noch immer nicht zuverlässig geklärte materiellrechtliche Frage aus, wann eigentlich eine Beschuldigung falsch ist. Ferner macht sich bemerkbar, daß die Grenzen der Tatbestandsverwirklichung fließend sind, wenn nur Teile der Behauptung richtig sind. Die Initiative zur Tat liegt in recht unterschiedlichem Maß bei den Tätern. Am geringsten ist sie, wenn die Falschbezichtigung im Rahmen einer aus anderem Anlaß erfolgenden Beschuldigten- oder Zeugenvernehmung, meist bei der Polizei, erfolgt. Hier schafft der Vernehmende — bisweilen leichtfertig — Anreize zur Bezichtigung Dritter, sei es, weil ein Beschuldigter sich selbst entlasten will, sei es, weil ein Zeuge das Aufklärungsbedürfnis des Vernehmenden befriedigen will, sei es, weil sich infolge der Vernehmungssituation die willkommene
Gelegenheit bietet, Dritten zu schaden. Ähnlich liegen die Verhältnisse, wenn die Falschbeschuldigung aus Anlaß anderweitiger behördlicher Verfahren erfolgt (bei Zivilprozessen, Beschwerden, Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit), in denen die Behauptung einer Straftat zur Durchsetzung anderer Rechte verhelfen soll. Stärkere Initiative entfaltet der Täter, der ohne solche konkreten Anlässe eine Anzeige erstattet (übrigens vielfach anonym; die behördliche Skepsis gegenüber anonymen Anzeigen entkleidet diese freilich ihrer besonderen Gefährlichkeit). Psychologisch gesehen besteht eine starke Verwandtschaft zwischen der falschen Anschuldigung und der üblen Nachrede bzw. Verleumdung. Auch hier lassen sich aggressive und reaktive Taten unterscheiden: Für erstere bildet eine aus Neid erfolgte Bezichtigung wegen eines Vermögensdeliktes ein Beispiel; letztere liegt etwa vor, wenn ein Gefängnisbeamter, der fahrlässig einen Häftling entweichen ließ und deshalb dienstliche Maßnahmen sowie ein Strafverfahren befürchtet, zu deren Abwehr fälschlich einen tätlichen Angriff des Häftlings anzeigt. Schließlich gibt es auch bei der
Beleidigung
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falschen Anschuldigung einerseits mehr zweckbetonte, andererseits mehr emotional akzentuierte Taten. Im Einzelnen lassen sich zahlreiche typische Tatgruppen unterscheiden. Hierfür einige Beispiele: Eine geschlossene Gruppe bilden die bei strafrechtlichen und sonstigen staatlichen Untersuchungshandlungen begangenen Falschbezichtigungen, die infolge von suggestivem oder drohendem Verhalten des Vernehmenden zustande gekommen sind, sowie diejenigen, die dem Bestreben entspringen, einen anderweitigen Tatverdacht zu entkräften oder sich das allgemeine Wohlwollen des Untersuchenden zu verschaffen. Eine weitere Gruppe stellen die Falschanzeigen von Schwächetypen dar, die in schwierigen Situationen des täglichen Lebens keinen anderen Ausweg mehr sehen. Von ganz anderer Beschaffenheit sind die Taten, die aus Haß, Rache und Eifersucht, sowie diejenigen, die aus Geltungsund Sensationslust entspringen. Eine besonders undurchsichtige Gruppe bilden die Taten mit ausgeprägt sexuellem Hintergrund. Wesentlich harmloser sind die (fahrlässigen) Falschbeschuldigungen infolge von Sinnes- und Erinnerungstäuschungen, meist auch die auf pathologischen Störungen und Wahnideen usw. beruhenden Taten. Die Verfahren wegen falscher Anschuldigung haben eine unterdurchschnittliche Verurteilungsquote. In den Jahren 1954—1961 wurden von den angeklagten Tätern verurteilt: 52%, 62%, 60%, 65%, 64%, 64%, 65%, 64%. Ein großer Teü der Verfahren endet mit Einstellung; die eingestellten Verfahren umfassen keineswegs nur Fälle, bei denen die Tat erwiesen, jedoch die Schuld gering ist. Zahlreiche Verfahren führen ohne Klärung der Tatfrage zur Einstellung, weil ein unverhältnismäßig großer Beweisaufwand doch nur zur Feststellung leichter Taten führen könnte. Vielfach wird eine Einstellung des Verfahrens erreicht durch eine Ehrenerklärung des Angeklagten für den Bezichtigten. Es wirkt sich ferner aus, daß häufig eine restlose Aufklärung des angezeigten Sachverhalts nicht gelingt und deshalb erst recht im Verfahren wegen falscher Anschuldigung, das mit umgekehrter Beschuldigten- und Zeugenrolle Altersstufe
auf die gleichen Tatsachen gerichtet ist, ebenfalls keine zur Verurteilung genügende Klarheit zu erzielen ist. Dies zumal, weil das Verfahren wegen falscher Anschuldigung dem Ursprungsverfahren nachfolgt (§ 164 Abs. 6 StGB) und deshalb regelmäßig ein großer zeitlicher Abstand zu den tatsächlichen Vorgängen besteht. Einigermaßen zuverlässige Erwägungen über die Größe der Dunkelziffer bei der falschen Anschuldigung lassen sich deshalb nicht anstellen. Die Verurteilungszahlen für die Jahre 1950— 1961 lauten: 1950: 1951: 1952: 1953:
954 1379 1522 1556
1954: 1955: 1956: 1957:
1464 1629 1644 1789
1958: 1959: 1960: 1961:
1638 1705 1633 1518
Die verhängten Strafen bewegen sich zumeist an der unteren Strafgrenze. Die obligatorische Zuerkennung der Bekanntmachungsbefugnis wird des öfteren unterlassen; von der Möglichkeit, dem Täter auch die Kosten des Ursprungsverfahrens aufzuerlegen (§ 469 StPO), wird fast nie Gebrauch gemacht. Die Altersverteilung der verurteilten Täter ergibt als durchschnittlichen Anteil pro Jahrgang der einzelnen Altersstufen (zum Berechnungsmodus s. o., bei der Beleidigung) das der untenstehenden Tabelle zu entnehmende Bild. Bei den Verurteilungen hegen die Höchstzahlen bei den jungen Tätergruppen, jedoch sind auch die älteren Jahrgänge noch ziemlich erheblich beteiligt. Ob dieses Bild zutreffend die Wirklichkeit widerspiegelt, ist sehr zweifelhaft. Der Anteil des weiblichen Geschlechts an den Verurteilungen wegen falscher Anschuldigung betrug 1950: 1951: 1952: 1953:
39% 38% 37% 34%
1954 : 1955: 1956: 1957:
34% 36% 31% 32%
1958: 1959: 1960 : 1961:
29% 30% 31% 28%
Diese Beteiligung der Frau hegt wesentlich über ihrem Kriminahtätsanteil bei den meisten anderen Delikten. Es ist anzunehmen, daß die Statistik
14—16 J. 16—18 J. 18—21 J. 21—25 J. | 25—30 J. 30—40 J. 40—50 J. 50—60 J. Täter pro Jahrgang:
1954 6 10 15 1955 10 7 21 1956 1957 9 20 1958 9 26 1959 21 10 10 21 1960 6 20 1961 Zur Berechnungsweise s. oben S. 79.
27 28 29 30 33 48 46 41
39 44 43 60 48 51 50 57
36 38 40 45 46 39 40 46
29 29 31 37 32 37 36 30
36 39 39 37 34 33 31 25
22 28 27 30 25 27 23 21
Beleidigung — Betrug
hier einigermaßen zutreffend die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegelt. Es handelt sich auch bei diesem Delikt um eine Handlungsweise, die der Psyche der F r a u stärker entgegenkommt als andere Tatformen. Ein spezifisch weibliches Delikt in der falschen Anschuldigung (oder in der Beleidigung) zu erblicken, ist freilich auch hier verfehlt, weil immer noch rund 2 / 3 aller Taten auf männliche Täter entfallen. Bei den verurteilten Tätern der falschen Anschuldigungen handelt es sich ganz überwiegend um Personen, die den unteren Bevölkerungsschichten angehören, und zwar weit mehr, als es dem Anteil dieser Schichten am Bevölkerungsaufbau entspricht. Ob dies der Wirklichkeit entspricht oder ob die Taten intelligenterer Täter lediglich seltener aufgedeckt werden, läßt sich nicht beantworten. Bemerkenswert ist fernerhin der hohe Anteil geistig abnormer Personen. Neben echten Geisteskranken findet sich ein großer Anteil psychopathischer Täter, u. a. der gefürchtete Querulantentyp, der sich in seinen Rechten verletzt fühlt und Verfahren auf Verfahren in Gang setzt. L i t e r a t u r z u §§ 1 8 5 f f . K. H ü r t h : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei der Beleidigung. Diss. Freiburg 1950. H. G. H e e s e n : Die Beleidigungskriminalität im LG-Bezirk Krefeld. Diss. Bonn 1962. H. R i e k e : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei der Beleidigung. Diss. Freiburg 1952. L i t e r a t u r zu § 164 H. G e s c h k e : Das Delikt der falschen Anschuldigung im Bezirk des Amtsgerichts Leipzig. 1940. M. l t e i c h - D ö r r : Zur Psychologie der falschen Anschuldigung und Selbstbezichtigung. Kriminologische Schriftenreihe Bd 7, Hamburg 1962. M. l l o d e : Erscheinungsformen und Strafzumessungsgründe bei der falschen Anschuldigung. Diss. Freiburg 1951. Ii. S c h w e g e l b a u e r : Erscheinungsformen und Strafzumessungsgründe bei der falschen Anschuldigung. Diss. Freiburg 1950. F. T o l l e : Der kriminologische Gehalt der falschen Anschuldigung. ungedr. Diss. Münster 1958. HILDE
KAUFMANN
BETRUG I. ZUR JURISTISCHEN SEITE DES BETRUGES A. Begriff des Betruges Die deutsche Rechtsgeschichte zeigt, daß unter Betrug (oder entsprechenden anderen Bezeichnungen) keineswegs immer das gleiche, sondern im Gegenteil recht Verschiedenes verstanden worden ist. Ursprünglich kannte man keine Abgrenzung zwischen Betrug, Fälschung und Diebstahl und ließ den Betrug im Diebstahl aufgehen. Dabei wurde (so auch im englischen Recht bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) die heimliche durch Diebstahl oder die mit offener Gewalt durch Raub begangene Entziehung des Eigentums 6
H d K , 2. Aufl., Bd. I
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schärfer beurteilt als die durch „Selbstbeschädigung" des bisherigen Inhabers erfolgte Beeinträchtigung. Bis in das 19. J a h r h u n d e r t hinein (vgl. Feuerbachs „Lehrbuch des peinlichen Rechts") waren drei Deliktsgruppen der Täuschung, nämlich die Fälschungen (von Urkunden, Münzen, Edelsteinen, Grenzzeichen, Maßen und Gewichten), die Aussagedelikte u n d der Betrug verbunden. Erst das RStGB von 1871 h a t den Betrug von den anderen Delikten gelöst und den scharf umrissenen Betrugstatbestand des § 263 I geschaffen: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen I r r t u m erregt oder unterhält, wird wegen Betruges . . . b e s t r a f t " . Es gibt keinen „natürlichen" oder übergeschichtlichen und erst recht keinen übernationalen Betrugsbegriff. Die einzelnen Strafgesetze des Auslandes weisen völlig verschiedene Betrugstatbestände auf, eine Tatsache, die bei einem Vergleich der in- und ausländischen Betrugskriminalität berücksichtigt werden muß. Das französische Recht des Code P6nal von 1810 beispielsweise unterscheidet sich noch heute vom deutschen § 263 StGB durch eine allzu spezialisierte Täuschungshandlung mit bestimmten im Gesetz aufgezählten Täuschungsakten, durch einen ebenso spezialisierten Vermögensverschiebungsakt, der sich auf ganz bestimmte im Gesetz aufgezählte Objekte beziehen muß, und durch die Herausbildung zahlreicher ergänzender Tatbestände und überläßt die Beurteilung vieler Tricks und Schwindelmanöver der zivilen und der Handelsgerichtsbarkeit. Eine kriminologische Behandlung des Betruges kann daher nur vom Grundtatbestand des nationalen Strafrechts, hier des § 263 StGB, ausgehen. Das geltende deutsche Strafrecht behandelt den Betrug im 22. Abschnitt zusammen mit der Untreue, weil beide Delikte trotz zahlreicher Unterschiede im Wesen u n d in der Ausgestaltung einen Angriff auf fremdes Vermögen durch Vertrauensmißbrauch darstellen. Die Entwürfe eines Strafgesetzbuches von 1960 u n d 1962 behandeln den Betrug richtiger zusammen mit der ihm verwandten Erpressung: beide Delikte sind sog. Vermögensverschiebungsdelikte, und ihre Tatbestände unterscheiden sich voneinander nur dadurch, daß das Tatmittel im Falle des Betruges die Täuschung, im Falle der Erpressung Gewalt oder Drohung ist. I m übrigen ändern die Entwürfe an dem in einer langjährigen Rechtsprechung entwickelten Betrugstatbestand nichts; ihnen k a m es nur darauf an, die Fassung des Gesetzes sprachlich zu verbessern und die wesentlichen Merkmale des Tatbestandes und deren Ver-
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Betrug
knüpfung deutlicher herauszuarbeiten. § 252 von Ε 1 9 6 2 lautet: „Wer durch Täuschung über Tatsachen jemanden zu einer Vermögensverfügung bestimmt, die diesem oder einem anderen einen Vermögensnachteil zufügt, um daraus sich oder einen Dritten widerrechtlich zu bereichern, wird . . . bestraft." B. Der Tatbestand des Betruges (§ 263 StGB) Äußerlich spielt sich der Betrug so ab, daß eine Täuschungshandlung des Täters beim Getäuschten einen Irrtum hervorruft und der Getäuschte durch diesen Irrtum zu einer Vermögensverfügung veranlaßt wird, die zu einer Vermögensschädigung entweder des Getäuschten selbst oder einer dritten Person führt, und daraus ein Vermögensvorteil für den Täter oder einen Dritten entspringt. Zwischen diesen äußeren Tatbestandsmerkmalen muß ein ursächlicher Zusammenhang in der Weise bestehen, daß jedes Merkmal jeweils die Ursache des nächsten ist. Fehlt der ursächliche Zusammenhang in dieser bestimmten Weise, was ζ. B. bei den ungedeckten,, Vertröstungsschecks" für eine bereits bestehende Schuldverpflichtung der Fall ist, so liegt kein Betrug vor. Als mögliche Täuschungshandlungen nennt das Gesetz die Vorspiegelung falscher und die Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen. Es genügt jedes Verhalten, das zur Irreführung bestimmt und geeignet ist, ein positives Tun (in Wort, Schrift oder schlüssiger Handlung) ebenso wie ein Unterlassen. Tatsachen sind alle konkreten, nach Raum und Zeit bestimmten vergangenen oder gegenwärtigen Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt oder des menschlichen Innenlebens. Äußere Geschehnisse oder Zustände sind ζ. B. Herkunft und Beschaffenheit einer Sache, Eigenschaften und Fähigkeiten einer Person, wie Eignung zu einer bestimmten Tätigkeit, Kreditwürdigkeit, Zahlungsfähigkeit. Innere Vorgänge sind insbesondere die Ernsthaftigkeit eines Geschäftsabschlusses oder die Absicht, zu zahlen oder zu liefern. Noch keine Tatsachen sind künftige Ereignisse. Sofern aber jemand verspricht, in Zukunft zu zahlen, so behauptet er damit eine gegenwärtige Tatsache, nämlich seine schon jetzt vorhandene Zahlungsabsicht. Nicht zu den Tatsachen rechnen die Werturteile; daher ist ζ. B . eine erkennbar übertreibende Werbung kein Betrug. Die Kennzeichnung von Sacheigenschaften, ζ. B. eine Ware sei gut und gängig, wird aber nicht mehr als Werturteil, sondern als Tatsachenbehauptung angesehen. Vorspiegelung falscher Tatsachen ist die Behauptung einer Tatsache in Kenntnis ihrer Unrichtigkeit. Betrug kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen. Wer ζ. B. eine Sache zum Kauf anbietet, behauptet damit stillschweigend, daß er Eigentümer, zumindest Verfügungsberechtigter sei. Ebenso begeht Betrug, wer bei
Darlehnsaufnahme oder beim Kreditkauf zur Erbringung der fristgerechten Leistung nicht gewillt ist oder auf Grund seiner gegenwärtigen schlechten finanziellen Lage begründete Zweifel daran hat, am Fälligkeitstage zahlungsfähig zu sein. Weitere Beispiele für Vorspiegelungen: das Roßtäuschen beim Pferdehandel, heute das „Frisieren" beim Handel mit gebrauchten Kraftwagen, die Verminderung der Gewinnchancen eines Spielautomaten durch verändernde Eingriffe in das Gerät usw. Entstellung wahrer Tatsachen ist das Verzerren des Hergangs oder der Bedeutung einer Tatsache oder des Verhältnisses mehrerer Tatsachen zueinander durch unrichtige Darstellung, durch Auslassungen oder wahrheitswidrige Ergänzungen. Beispiele: unrichtige Darstellung der Vermögenslage bei Kreditgesuchen durch bewußt zu hoch eingesetzte Posten auf der Aktivseite (ζ. B. Anführen zweifelhafter Außenstände als vollwertig, erdichteter Forderungen u. a. m.) oder zu niedriger Posten auf der Passivseite (ζ. B . Verschweigen von Schulden). Unterdrückung wahrer Tatsachen ist ein positives Tun, durch das eine Tatsache der Kenntnis anderer Personen entzogen wird; Beispiel: verschleiernde Oberflächenbehandlung in einem Hause vor seinem Verkauf, um bestehenden Schwamm unsichtbar zu machen. Von der Unterdrückung (die ein positives Tun verlangt) ist die Täuschung durch Unterlassen zu unterscheiden. Diese setzt eine Rechtspflicht zum Handeln (zur Offenbarung) voraus, die sich aus Gesetz oder Vertrag, aber auch nach Treu und Glauben, insbesondere beim Abschluß eines Vertragsverhältnisses ergeben kann. Ihre Pflicht zur Aufklärung verletzen beispielsweise Schuldner, die einem präsumtiven Bürgen ihre Vermögensverhältnisse nicht offenlegen, oder der Kreditsuchende, der dem Darlehnsgeber zwar die Warenvorräte und Maschinen zeigt, aber verschweigt, daß diese Werte bereits sicherungsübereignet sind. Die landläufige Vorstellung, die einen Betrug schon in bloßen Täuschungshandlungen zu sehen pflegt, ist irrig. Außer der Täuschungshandlung müssen noch weitere Merkmale gegeben sein, die zueinander in einem bestimmten ursächlichen Zusammenhang stehen müssen; ζ. B. fallen Täuschungshandlungen, die nicht auf eine Vermögensschädigung abzielen, nicht unter den Betrugsparagraphen. Täuschungshandlungen kommen übrigens nicht nur beim Betrug, sondern auch bei anderen Delikten vor, ζ. B. bei der Urkundenfälschung, bei der beabsichtigten irreführenden Reklame des § 4 UWG, bei Steuerhinterziehungen, bei falschen Angaben und unwahren Darstellungen nach dem Gesellschaftsrecht (§§ 295, 296 Akt. Ges., § 82 GmbH. Ges., § 147 Gen. Ges.), bei der geschäftsmäßig begangenen betrügerischen Verleitung zur Auswanderung (§ 144 StGB), bei der betrügerischen Inbrandsetzung (§265 StGB) u.a.m.
Betrug Irrtumserregung: durch die Täuschungshandlung muß beim Getäuschten ein Irrtum, d. h. die falsche Vorstellung über eine Tatsache, erregt oder unterhalten werden. Erregt wird der Irrtum, wenn durch die Täuschungshandlung die falsche Vorstellung erst hervorgerufen wird; unterhalten wird der Irrtum dann, wenn die Täuschungshandlung die beim Getäuschten bereits vorhandene falsche Vorstellung verstärkt oder ihre Richtigstellung verhindert. Bei der widerrechtlichen Verschaffung der Leistung eines Automaten ebenso wie bei der Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel oder des Zutritts zu einer Veranstaltung fehlt es häufig an der Täuschung einer bestimmten Person. Dann findet der subsidiäre Sondertatbestand des § 265 a StGB Anwendung. Die Vermögensverfügung des Getäuschten ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Sie bedeutet jedes tatsächliche Handeln, Dulden oder Unterlassen, das eine Vermögensminderung im wirtschaftlichen Sinne unmittelbar bewirkt. Keine schädigende Vermögensverfügung des Opfers, demnach auch kein Betrug, sondern Trickdiebstahl liegt vor, wenn der Geschädigte durch sein Verhalten nur eine Gelegenheit gibt, die der Täter dann zum Ansichbringen des begehrten Vermögenswertes benutzt. Beispiele: das Opfer wird durch Täuschungen (ζ. B. durch falschen Telefonanruf) von der Sache weggelockt, die der Täter alsdann an sich nimmt; Täter tritt als falscher Gasmann auf, erhält dadurch Zutritt zur Wohnung des Opfers und damit Gelegenheit zum Stehlen; Täter entwendet im Güterverkehr (ζ. B. aus Luftfracht) wertvolle Sendungen, indem er die Ware mit Attrappen vertauscht; Täter spiegelt als falscher Beamter eine Durchsuchung vor und sucht mit den „beschlagnahmten" Sachen das Weite. Vermögensschädigung: Die Vermögensverfügung des Getäuschten muß zu einer Schädigung des Vermögens von ihm selbst oder eines Dritten geführt haben. Unter Vermögen ist die Gesamtheit der einer Person zustehenden Wirtschaftsgüter zu verstehen, also auch der bloße Besitz, eine bestimmte Anwartschaft auf die Erlangung eines Vermögenswertes usw. (sog. wirtschaftlicher — im Gegensatz zu dem juristischen — Vermögensbegriff). Für die Schadensberechnung ist grundsätzlich ein objektiver Maßstab anzulegen; auf das, was der Geschädigte als Schaden ansieht, kommt es nicht an. Es ist jedoch die Brauchbarkeit der Gegenleistung für die besonderen Bedürfnisse und Zwecke des Getäuschten zu berücksichtigen. Nicht nur in einer Verminderung des vorhandenen Vermögensbestandes, sondern auch in einer Verhinderung möglichen Vermögenserwerbs (in entgangenem Gewinn) kann der Vermögensschaden liegen, selbst in einer bloßen Gefährdung eines Vermögensrechts, wenn die Gee·
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fährdung zugleich eine Verschlechterung des ursprünglichen Gesamtvermögens enthält. Auch der gutgläubige Erwerber einer dem Betrüger nicht gehörenden Sache erleidet einen Schaden, da er dem Risiko des Rechtsstreits mit dem früheren Eigentümer ausgesetzt ist. Bei Verträgen kann der Vermögensschaden bei der Eingehung der Vertragspflichten oder erst bei deren Erfüllung entstehen. Eingehungsbetrug liegt vor, wenn das Opfer durch Täuschung zum Abschluß eines Vertrages veranlaßt wird, bei dem die Verpflichtung des anderen Teils im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses einen geringeren Wert hat als seine eigene Verpflichtung. Beispiele: Zechprellerei, Diskontierung von bloßen Finanzwechseln als angebliche Warenwechsel; (deren nachträgliche tatsächliche Einlösung steht der Annahme des vollendeten Betruges nicht entgegen, sondern ist bloße Wiedergutmachung eines bereits eingetretenen Schadens). Beim Erfüllungsbetrug wird der Vertragspartner durch Täuschung veranlaßt, eine geringwertigere als die geschuldete Leistung als Erfüllung anzunehmen. Die Hingabe eines ungedeckten Schecks ist, auch wenn es sich nicht um einen bloßen Vertröstungsscheck handelt, nicht immer ein Betrug: ob damit vorgespiegelt wird, daß der Scheck bereits bei der Hingabe gedeckt sei und ob dadurch das Vermögen des Empfängers geschädigt wird, ist Tatfrage. Unsittliche Gegenleistung gehört nicht zum Vermögen. Wer eine Dirne um den vereinbarten Lohn prellt, begeht keinen Betrug. Aber auch bei beiderseits unsittlichen Rechtsgeschäften kann Betrug möglich sein: beim Erfüllungsbetrug hat der Getäuschte im Vertrauen auf die — ausgebliebene — unsittliche Gegenleistung geleistet, so daß ihm der Betrugsschutz zur Seite steht. Beispiel: der bewußte Verkauf untauglicher Abtreibungsmittel, falls der Käufer im Vertrauen auf die Tauglichkeit den Kaufpreis bezahlt hat. Beim Eingehungsbetrug kann eine als Schaden zu wertende Vermögensgefährdung schon darin bestehen, daß der Geschädigte überhaupt in vertragliche Beziehung zu einem böswilligen, in Betrugsabsicht handelnden Vertragspartner getreten ist. Der innere Tatbestand erfordert erstens Betrugsvorsatz hinsichtlich der 4 Vorgänge der Täuschung, des Irrtums, der Vermögensverfügung und des Vermögensschadens (wobei in jeder Hinsicht bedingter Vorsatz genügt), zweitens die Absicht des Täters, durch die Tat sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen (Bereicherungsabsicht). Vermögensvorteil ist jede günstigere Gestaltung der Gesamtvermögenslage, ζ. B. auch Stundung, Verzögerung der Geltendmachung eines begründeten Anspruchs, Verbesserung der Beweislage im Prozeß, Erlangung von Kredit. Betrug ist ein sog. Vermögensverschiebungsdelikt, d. h. der Ver-
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Betrug
mögensnachteil des Geschädigten muß zum Vorteil für den Betrüger werden (Grundsatz der Stoffgleichheit bzw. des Übergangs von einem Vermögen in das andere). Rechtswidrig ist ein' Vermögensvorteil, wenn der Täter auf seine Erlangung keinen unbedingten und fälligen Anspruch hat, daher liegt kein Betrug vor, wenn der Täter durch Täuschung lediglich die Erfüllung eines fälligen Anspruchs erreichen will, ζ. B. seinen Schuldner zur Hergabe eines Darlehns bestimmt unter Verschweigung der Absicht, sich durch Aufrechnung bezahlt zu machen. Vollendet ist der Betrug mit der Vermögensbeschädigung; die erstrebte Bereicherung braucht nicht erzielt zu sein. Versucht ist der Betrug mit dem Beginn der Täuschungshandlung. Der Vollendung kann ζ. B. entgegenstehen, daß sich der andere gar nicht täuschen läßt oder daß er zwar getäuscht wird, aber die schädigende Vermögensverfügung nicht vornimmt. Ein untauglicher Versuch kann darin hegen, daß der Täter eine objektiv wahre Tatsache für unwahr hält oder daß er eine in Wirklichkeit nicht mögliche Vermögensschädigung für möglich hält und anstrebt. Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen: Gesetzeskonkurrenz ist möglich u. a. mit § 2 6 5 a (wird aber z . B . ein Schaffner getäuscht, so liegt Betrug vor), mit Steuerbetrug (R. Abg. 0.), mit Monopolhinterziehung; § 263 wird verdrängt. Tateinheit ist möglich mit §§ 146ff. StGB (Inverkehrbringen von Falschgeld), mit §266, §267 StGB, mit den Eidesdelikten, mit §§ 295, 296 Akt. Ges., §§ 88, 95 Börsengesetz und § 4 UWG. Zwischen § 265 und § 263 besteht Tatmehrheit; denn § 265 ist mit der schädigenden Handlung der betrügerischen Inbrandsetzung usw. bereits vollendet und die betrügerische Schadensliquidation (§ 263) folgt als eigenes Delikt. Straflose Nachtat liegt vor, wenn der Betrug nur der Verdeckung einer Vortat dient oder wenn ein durch Betrug erlangter Gegenstand später veruntreut wird, es sei denn, daß die Nachtaten neuen Rechtsschaden hinzufügen. II. ZUR KRIMINOLOGIE DES BETRUGES A. Allgemeines Der Betrug gehört nicht zu den physischgegenständlichen, „klassischen" Gewalt delikten (wie Tötung, Raub, Notzucht), sondern er wird — von einigen Ausnahmen (ζ. B. vom Betrugsmord, von der „warmen Sanierung" durch Brandversicherungsbetrug u. a. m.) abgesehen — gewaltlos begangen. Daher wirkt die Betrugshandlung auf das Opfer unmittelbar nicht schockierend. Im Gegenteil, das Opfer trifft sogar selbst die vermögensschädigende Verfügung, weil der Betrug als „Intelligenzdelikt" äußerlich in erlaubten Formen, oft im Gewände normaler wirtschaftlicher Betätigung auftritt und das gesetzwidrige Han-
deln vom Opfer nicht sofort oder überhaupt nicht erkannt wird. Wie alle Intelligenzdelikte hat auch der Betrug gegenüber den Gewaltdelikten noch die Besonderheit, daß erstens bei ihm, soweit es sich nicht bloß um die leicht zu entlarvenden Fälle des „Schwindels" (s. u.) handelt, schon der Nachweis des objektiven Tatbestandes wegen der Abstraktheit und wegen der Kompliziertheit der Verhältnisse große Schwierigkeiten bereitet: „die Tat indiziert sich nicht selbst"; zweitens, daß es noch entscheidender auf die innere Stellungnahme des Täters, also auf den forensisch noch schwerer zugänglichen subjektiven Bereich, ankommt und hierbei die Erfüllung des objektiven Tatbestandes für den Nachweis des subjektiven Tatbestandes (eben anders als bei den Gewaltdelikten) nur selten eine Hilfe leistet. Welche Schwierigkeiten dabei auftreten und wie es oft unmöglich ist, dem Täter ζ. B. die Kenntnis tatsächlicher Umstände, wie die Unwirksamkeit seiner Behandlungsmethode oder einer bestimmten Absicht, etwa der Gläubigerbenachteiligung, zu beweisen, und wie nur deshalb mitunter schlimmste Betrüger noch einmal davonkommen, zeigt die tägliche Gerichtspraxis. Dem abstrakten, farblosen Betrugsparagraphen sieht man nicht an, welche schillernden Sachverhalte von unerschöpflicher Fülle und unübersehbarer Vielfalt sich unter ihn subsumieren lassen. Es gibt wohl kaum ein Lebensgebiet, auf dem ein Betrug nicht möglich wäre und noch nicht begangen worden ist. Unter Anpassung an immer neuere Zeiterscheinungen mit ihren besonderen wirtschaftlichen und soziologischen Verhältnissen und Gegebenheiten entwickeln sich auch wieder völlig neue Betrugsformen; Beispiele sind die Schiebungen mit Prämiengeldern bei der Förderung der Berliner Wirtschaft, die organisierte Wechselreiterei in Tauschringen, der Eiersubventionsbetrug mit „Wind- und Karusselleiern", der Automatenvertriebsschwindel, der Betrug durch Entschuldungs- und später durch Schuldenzusammenfassungsbüros, der betrügerische Beziehungshandel bei der Korruption u. a. m. Gewisse Betrugsformen können für einen bestimmten Zeitabschnitt sogar typisch, andere dafür gegenstandslos werden. Beispielsweise stehen Kriegs- und Notzeiten mit Zwangsbewirtschaftung und Bedarfsregelung unter dem Zeichen der Jagd nach Sachwerten und zeigen als typische Betrugsmanipulationen ζ. B. den Betrug mit Ersatzstoffen, mit falschen oder verfälschten Bezugsberechtigungen, Betrug bei der Vermittelung verknappter und nur auf dem Schwarzmarkt erhältlicher Güter. Bei einer Normalisierung der Rohstoff- und Energiewirtschaft, der Produktion und der Bedarfsdeckung werden diese Erscheinungen durch die Jagd nach dem Gelde abgelöst, als deren Folge sich Betrügereien im Teilzahlungsgeschäft, Wechselreiterei, Kreditbetrügereien, Versicherungsbetrug
Betrug usw. entwickeln. Es gibt aber auch Betrugserscheinungen, die von solchen Änderungen der Wirtschaftssituationen nicht beeinflußt werden, sondern immer „gängig" bleiben. Hierzu gehören vor allem der Gründungs- und Beteiligungsbetrug, der Provisionsbetrug, der Heim- und Nebenarbeitsvermittelungsschwindel, der Schwindel mit okkulten Fähigkeiten und Mitteln, Kurpfuscherei und Heilmittelschwindel, Hochstapelei, Heiratsschwindel u. a. m. Die Entstehung und Ausbreitung gleicher Betrugserscheinungen zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten kann darauf beruhen, daß neue Zeiterscheinungen und Betrugsmöglichkeiten auf verbrecherisch veranlagte Individuen völlig unabhängig voneinander in gleicher Weise anreizend eingewirkt haben oder aber daß böse Vorbilder einzelner „Erfinder" Schule gemacht haben und nachgeahmt worden sind. Ein Beispiel für den zweiten Fall ist die organisierte Wechseltauschvermittelung (Wechselreiterei unter einer unbeschränkten Kundenzahl), bei der sich ursprüngliche Kunden eines Tauschringvermittlers selbständig gemacht hatten und nach dem gleichen Prinzip selbst Initiatoren von Wechseltauschringen geworden waren. Eine in der Kriminalpraxis übliche Einteilung der Betrugsformen unterscheidet nach kriminalpsychologischen und kriminalistischen Gesichtspunkten den einfachen Typ der „Schwindler" und den qualifizierten Typ der großen Betrüger. Schwindler wenden alte und neue, plumpe und raffinierte Gaunertricks an, bedienen sich meist falscher Namen und verschwinden nach der Tatausführung, weil die Tat als solche bald evident wird und der Täter folglich mit schneller Entlarvung und Ergreifung rechnen muß. Der Schwerpunkt der Ermittelungshandlungen gegen Schwindler liegt daher auf der Fahndung nach dem flüchtigen unbekannten Täter, dessen Überführung nach seiner Festnahme keine besonderen Schwierigkeiten mehr bereitet. Der eigentliche Betrüger dagegen tarnt seine Manipulationen mit kaufmännischen Gepflogenheiten und Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen und des Handelsrechts und versteht es, die Sachverhalte so zu verwickeln und zu verwirren, daß Außenstehende kaum oder nur mit großer Mühe einen Einblick und eine Übersicht gewinnen können. Die Strafbarkeit des Tuns ist also nicht ohne weiteres erkennbar und wird regelmäßig auch viel zu spät erkannt. Dem Nachweis des objektiven und des subjektiven Tatbestandes stellen sich, wie oben bereits gesagt wurde, dann immer noch so erhebliche Schwierigkeiten entgegen, daß der Täter einer Strafverfolgung gelassen zusieht. Er hat es nicht nötig unterzutauchen; im Gegenteil, ein Untertauchen würde sein Eingeständnis bedeuten. Der Betrüger wehrt sich vielmehr mit scharfer Zurückweisung jeden Vorwurfs einer betrügerischen Absicht und mit Gegenangriffen gegen seine
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Opfer, die er zur Verwirrung der Sach- und Rechtslage oft sogar mit Zivilprozessen überzieht, und nicht selten auch mit Beschwerden gegen die Strafverfolgungsorgane. Der Schwerpunkt der Ermittelungshandlungen gegen Betrüger liegt also auf dem Nachweis der Tat. Diese qualifizierte Form des Betruges gehört zu den Haupttypen der Wirtschaftsdelikte und wird in der Regel auch mit Hilfe einer Firma begangen. Dabei handelt es sich entweder um Firmen, die nur gelegentlich ein betrügerisches Geschäftsgebaren an den Tag legen, oder um sog. Schwindelfirmen, d. s. Unternehmungen, deren Dasein und meist schon deren Entstehen auf Betrug und betrugsähnliche Machenschaften gegründet ist und deren Tätigkeit so stark auf wirtschaftskriminelle Sachverhalte abgestellt ist, daß eine ordentliche Geschäftsgebarung den Zusammenbruch bedeuten würde. Die Grenze zwischen Schwindel und Betrug ist freilich flüssig. Es gibt Fälle des Schwindels, die nur ein Kleinformat des Betruges darstellen; umgekehrt bleibt der reisende betrügerische Stoffhändler ein Neppertyp, obwohl er Warenbetrug unter Nachahmung kaufmännischer Gepflogenheiten und mit oft sogar erheblichen Umsätzen begeht. Auch die Deliktshandlungen von Kurpfuscherunternehmen und Heilmittelschwindlern widerlegen die landläufige Meinung, daß sich Schwindler im allgemeinen außerhalb des kaufmännischen Gebietes betätigen. Daher wäre es ungenau, beim qualifizierten Betrüger von einem „kaufmännischen Betrug" zu sprechen. Eine befriedigende Systematik der Schwindler und Betrüger ist leider ebenso wenig möglich wie eine erschöpfende Darstellung des Gesamtgebietes. Es bleibt nichts anderes übrig, als ein Mosaikbild von Schwerpunkten der in den letzten Jahrzehnten gängigsten Formen zu zeichnen, was aber auch nicht ohne Schwierigkeiten möglich ist, weil die Betrugsdelikte teils einen Hang zur Vergesellschaftung aufweisen, teils ohne Anschluß aneinander (ζ. B. der Prozeßbetrug, der Anstellungsbetrug) im Raum schweben, sich also nicht auf eine einzige Ebene projizieren lassen. Die Reihenfolge der nachstehenden Darstellung kann daher nicht zwingend sein. Nur die unterste Ebene steht fraglos fest: auf ihr wickeln sich die Schwindeleien ab. B . Die Erscheinungsformen des Betruges im einzelnen 1. Schwindler Haupttypen der Schwindler sind die Bauernfänger und deren Abart, die Nepper (in Österreich „Mächerer", auch „Mächler" genannt). Bauernfänger machen sich in Verkehrszentren und Vergnügungsvierteln der Großstädte an offensichtlich unerfahrene, leichtgläubige Menschen heran, erschleichen durch geschicktes Auftreten deren Vertrauen und begaunern sie mit Taschenspielertricks
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Betrug
beim Spiel oder durch sog. Vertrauensfallen. Neppen ist das Kleinformat des Warenbetruges und bedeutet, etwas Unechtes, Minderwertiges als echt und wertvoll anpreisen und zu unangemessenen Überpreisen arglistig an den Mann bringen. Gegenstand des Neppens sind unechter Schmuck und Ramschware in Gestalt von Uhren, Stoffen (sog. Stoffkeiler), Wolldecken, Teppichen. Häufig treten Nepper bandenmäßig auf. Zu den Neppern gehören auch die betrügerischen Händler mit gebrauchten Kraftwagen, die mit den gleichen Roßtäuschermethoden arbeiten wie ihre Vorgänger, die betrügerischen Pferdehändler. Eine andere Gruppe der Schwindler sind die Logisschwindler, die Einmiete-, Pension- und Hotelschwindel betreiben, ferner die Schwindler, die freien Aufenthalt in Krankenhäusern erschleichen, die Brief- und Paketfallen- und die Paketabgabeschwindler sowie die ihnen verwandten Zimmerfallenschwindler (Bestell-, Auswahlsendungsschwindler). „Schwindel mit dem Mitleid" begehen Bettelund Unterstützungsschwindler, die als falsche Flüchtlinge usw. auftreten oder körperliche Mängel oder Not und Elend vortäuschen, um Mitleid zu erregen und Zuwendungen zu ergaunern. Hierzu gehören auch die Schwindler, die minderwertige Ware dadurch an den Mann bringen, daß sie unter falschen Vorspiegelungen den Eindruck erwecken, es handele sich um Schwerbeschädigten- oder Blindenarbeiten. Eine dritte Art der Schwindler mit dem Mitleid sind die Sammlungsschwindler, die angeblich für in Not befindliche Dritte oder mildtätige Organisationen Geld und Gaben sammeln und so auf Kosten mitleidiger und gutgläubiger Mitmenschen ein angenehmes Leben führen. Den Sammlungsschwindlern verwandt sind die Schwindler, die Eintrittskarten für fingierte Wohltätigkeitsveranstaltungen absetzen. Spanische Schatzschwindler spiegeln vor, ein erhebliches Vermögen an Barwerten im Ausland zu besitzen, das aber unter irgendeinem Geheimverschluß hege und nur mit höheren Unkosten (zur Bestechung über eine Deckadresse o. ä.) ausgelöst werden könne. Für die Hilfe wird ein größerer Teil des auszulösenden Vermögens angeboten. Es handelt sich also um ein Kleinformat des Beteiligungsbetrügers. Unter den Begriff der betrügerischen Kurpfuscher fallen alle Schwindler auf dem Gebiete der Gesundheitspflege und des Heilmittelwesens, also auch Händler und Geschäftsreisende mit minderwertigen oder wertlosen Heilmitteln aller Art. Hauptmethoden sind Scheindiagnosen und -behandlungen sowie unlautere Heilmittelwerbung. Ihnen verwandt sind die Schwindler, die vortäuschen, mit übersinnlichen Mitteln oder unter Berufung auf angeblich vorhandene übersinnliche Fähigkeiten Krankheiten heilen zu können. Zu
dieser Gruppe gehören auch die Wahrsager, die sich die Leichtgläubigkeit, den (->•) Aberglauben und den gesteigerten Hang zum Mystischen ihrer Opfer zunutze machen und behaupten, auf Grund übersinnlicher Fähigkeiten mit Hilfe von Horoskopen, Handliniendeutung, Auspendeln, Kartenschlagen und anderen angeblich okkulten Mitteln Künftiges voraussagen zu können. Hellseher geben vor, Vergangenes, gegenwärtig Fernes oder Zukünftiges erschauen zu können, und die Telepathen behaupten, seelische Inhalte eines Individuums auf ein anderes ohne Vermittlung von Sinneswahrnehmungen übertragen zu können. Regelmäßig handelt es sich bei diesen Gauklern um Artisten mit gesteigerter Beobachtungs- und Kombinationsgabe und schau- und taschenspielerischen Fähigkeiten. Wenn sie gewerbsmäßig auftreten und gegen Entgelt okkulte Leistungen zu vollbringen vorgeben, sind sie Betrüger; allerdings pflegt gerade diese Art von Tätern oft mit Geschick Gutgläubigkeit vorzuschützen. Heiratsschwindler machen sich an Frauen mit geringen Eheaussichten heran, spielen den feurigen Liebhaber mit ernsten Absichten und ergaunern von den Angebeteten die Mittel, die angeblich zur Einrichtung einer Wohnung, eines Geschäfts oder zu einer Beteiligung dienen sollen. Seit der Gleichstellung der Geschlechter treten immer mehr Frauen auf, die männliche Eheaspiranten um Vermögenswerte erleichtern. Die Opfer werden durch Zeitungsinserate, über Ehevermittelungen oder durch unmittelbare Bekanntschaft auf Reisen oder in Lokalen angelockt. Hochstapler sind Gauner „von Format", die sich mit sicherem Auftreten als Angehörige oberer Klassen aufspielen und ihr Tätigkeitsfeld auch in „höheren" oder wohlhabenden Kreisen suchen, zu denen sie mit falschen, aber hochklingenden Namen und Titeln oder durch Schein von Reichtum Zugang finden und „unter Ausnutzung der angemaßten Rangstufe" (von Hentig) gewinnreiche Betrügereien verüben. 2. Die qualifizierte
Form: der
Betrug
Der Betrug hat eine ganze Reihe von Schwerpunkten. Die erste Hauptgruppe ist der Waren(Leistungs-) und Geldbetrug. Beim Waren-(Leistungs-)Betrug ertrügt der Täter eine Bezahlung oder Anzahlung (einen Vorschuß) durch betrügerisches Inaussichtstellen der Lieferung von Waren oder der Ausführung von Leistungen. In Wirklichkeit liefert oder leistet er überhaupt nichts; oder er liefert bzw. leistet zwar, aber die Ware oder die Leistung ist minderwertig. (Das Kleinformat des Warenbetrügers ist der Nepper.) Eine häufige Ausführungsform ist der Stoßbetrug. Bei ihm wird oft von mehreren Tätern unter Zuhilfenahme einer Firma (einer Schwindelfirma) eine Zahl von kleineren Geschäften glatt abgewickelt, um dem Geschäftspartner Zahlungs-
Betrug fähigkeit und Kreditwürdigkeit vorzuspiegeln und Vertrauen einzuflößen. Dann wird zum großen Schlage ausgeholt: es werden große Warenposten auf Kredit — meist gegen Wechsel — bezogen und sofort wieder „abgestoßen", d. h. unter Schleuderpreisen abgesetzt. Wenn die Zahlung fällig wird, sind keine greifbaren Werte mehr vorhanden, die Firma ist „geplatzt" und der Betrüger über alle Berge. Beim Geldbetrug täuscht der Täter vor, selbst in der Lage zu sein, Darlehen zu geben oder Hypothekengelder zu gewähren. In Wirklichkeit hat er es nur auf wucherisch hohe, unter phantasievollen Bezeichnungen geschickt aufgegliederte Gebühren abgesehen. Seit etwa 1959 haben Betrüger eine neue Art von Gebührenschwindel entwickelt und bieten unter dem Werbeslogan „Wir übernehmen Ihre finanziellen Sorgen und regulieren Ihre Schulden" eine „Insolvenzhilfe" an. In Wirklichkeit sind sie weder gewillt noch überhaupt in der Lage, den Schuldnern ihre Tilgungspflichten gegenüber den Gläubigern abzunehmen, sondern spekulieren nur auf hohe Gebühren, die sie mit Wechseln absichern lassen und bei der ersten auf die Gläubiger zu verteilenden Tilgungsrate des Schuldners vorweg einbehalten. Um nicht wegen Rechtsberatungsmißbrauchs belangt zu werden, haben sich diese Betrüger, die anfänglich als „Entschuldungsbüros" auftraten, in „Schuldenzusammenfassungsbüros" umbenannt. Die Tätigkeit ist die gleiche geblieben, nämlich einfache Boten- und Schreibtätigkeit zur Tarnung der Nichtleistung, für die die Schuldner noch draufzahlen müssen. Eine besondere Art von Geldbetrug hatte sich 1961 ein „Geldzauberer von Hamburg" ausgedacht. Unter der Werbehilfe eines von ihm gegründeten Vereins „Gesellschaft zur Förderung der Eigentumsbildung" hatte er Kundenfang mit wortreichen Gemeinplätzen, wie Rationalisierung, Direktverkauf bei Fabriken, Einsparung der Einzelhändlerverdienste usw. betrieben und dunkle Ausführungen über Zusammenfassung einer großen Zahl von Verbrauchern zur Erzielung von Gewinnen durch pausenlosen Fluß des Kapitals, das sich innerhalb eines Jahres versiebenfachen sollte, gemacht. Mit den Kunden hatte er Ansparverträge als „Spar-, Gewinn- und Kaufverträge" abgeschlossen. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Schneeballsystem, bei dem fällige Verträge nur dann erfüllt werden konnten, wenn für jeden auszuzahlenden Kunden sechs neue gewonnen werden konnten. Da der Kundenzulauf anfangs beträchtlich war, zahlte der „Geldzauberer" nach einem Jahre einigen Kunden die vereinbarten Beträge tatsächlich aus, um in der weiteren Werbung auf diese „zufriedenen Kunden" als Paradefälle hinzuweisen. Die Leistungsfähigkeit dieses Systems „risikoloser Vermögensbildung" erwies sich bereits 1963 als erschöpft.
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Kreditbetrug ist die betrügerische Erlangung von Vermögensleistungen irgendwelcher Art unter der Vorspiegelung, bei Fälligkeit Zahlung leisten zu wollen und zu können. Beim Waren- und Leistungskreditbetrug versucht der Täter, durch arglistige Täuschung ohne Bezahlung (durch bloßes Zahlungsversprechen oder auf eine Vorauszahlung hin) Waren oder Werkleistungen zu ergaunern. Rreditbetrug stellt sozusagen die Umkehrung des Waren- und Leistungsbetruges dar: bei letzterem betrügt der Veräußerer den Erwerber mit Lieferungsversprechen, bei ersterem umgekehrt der Erwerber den Veräußerer mit Zahlungsversprechen. Der Geldkreditbetrug zielt auf die Erschleichung anders unerreichbarer Bar- oder Bankkredite bzw. deren Verlängerungen ab. Seine Mittel sind in der Hauptsache der Betrug mit ungedeckten, gefälschten oder verfälschten Schecks, der Betrug mit Wechseln (faulen Eigenakzepten, Mißbrauch von Fremdwechseln, Betrug mit sog. fabrizierten Wechseln, also Gefälligkeits- und Kellerwechseln, insbesondere bei der Wechselreiterei, und mit gefälschten oder verfälschten Wechseln); ferner der Betrug mit (ungedeckten oder gefälschten) Überweisungsaufträgen, mit falschen Akkreditiven oder mit bloßer Inaussichtstellung angeblicher hoher Akkreditive u. a. m. Bei der deliktischen Kreditsicherung sind vor allem wilde Sicherungsübereignungen und -Zessionen zu nennen, die sich auf fingierte oder auf nicht mehr im Eigentum des Sicherungsgebers stehende Werte beziehen oder eine Mehrfachübereignung bzw. -Zession derselben Werte darstellen. Die nächste Hauptgruppe des Betruges ist der Vermittelungsbetrug. Bei ihm spiegelt der Täter vor, in der Lage und bereit zu sein, die vom Opfer gewünschten Gelegenheiten oder Objekte zu vermitteln. In Wirklichkeit hat er es aber nur auf hohe Provisions Vorschüsse und sonstige Vorauszahlungen auf Gebühren und Spesen abgesehen. Um sich gegen etwaige Betrugsvorwürfe abzusichern, entwickelt der Täter eine Scheintätigkeit. An der Spitze dieser Gruppe stehen die betrügerischen Finanzvermittler. Mit anreißerischer und irreführender Reklame locken sie Opfer, die Kapital oder Hypotheken suchen, an und täuschen ihnen mit unverbindlicher Zusicherung rascher, sicherer Erfolgsaussichten den Nachweis von Geldgebern vor, um hohe Vorausgebühren kassieren zu können. Die Scheintätigkeit erschöpft sich in der Verhandlung mit den Interessenten, denen, obwohl ihnen nichts geboten werden kann, Vermögensnachweise und Sicherungen „zur Prüfung" abverlangt werden; ferner in der Aufgabe von Geldsuchinseraten in Tageszeitungen und sog. Finanzierungszeitschriften („Kapitalfachblättern", die kostenlos an Geldinstitute versandt werden, dort aber in den Papierkorb wandern), und in der Vertröstung ungeduldig gewordener Opfer. Eine nicht minder gefährliche Sumpfblüte sind die betrüge-
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Betrug
rischen Nebenerwerbs- und Heimarbeits-Vermittler. Sie täuschen vor, zur Vermittelung von Arbeit in der Lage zu sein; in Wirklichkeit müssen die arbeitssuchenden Opfer noch tüchtig draufzahlen: entweder müssen sie eine „Kaution" zahlen, wie sie bei der angeblichen Vergebung von Adressenschreibarbeiten mit unwahrscheinlich hohen Entgelten abverlangt wurden, oder sie erhalten gegen Voreinsendung von Gebühren eine wertlose Broschüre (ζ. B. „505 Nebenverdienste"), oder sie werden von dem Betrüger unter der arglistigen Inaussichtstellung von Aufträgen bewogen, teure Arbeitsgeräte anzuschaffen. Eine neue Spielart des Nebenerwerbs-Vermittlungsbetruges ist der Absatz von Waren- und Spielautomaten unter wahrheitswidrigen Angaben über Aufstellplätze und Einspielergebnisse. In der endlosen Reihe der Vermittlungsbetrüger stehen ferner die betrügerischen Eheanbahnungsinstitute, die Geschäftsvermittlungsbetrüger, die betrügerische Vermittlung von ausländischen Objekten, die Auswanderungsvermittlungsbetrüger, der Titel- und Ordensvermittlungsbetrug u. v. a. m. Der Betrug auf dem Grundstücksmarkt und im Bau- und Wohnungswesen umfaßt im wesentlichen sowohl den Vermittlungs- als auch den Lieferungs- und Leistungsbetrug. Zu nennen sind der Grundstücks-, Parzellen- und Siedelungsbetrug, die Ausnutzung der Wohnungsnot durch betrügerische Wohnungs- und Zimmernachweise, Baukostenzuschußjäger, aber auch die betrügerischen Bauträger, Bauherren, Baulieferanten und Bauausführenden. Die Beteiligungsbetrüger suchen Opfer mit Interesseneinlagen zur Halbpartbeteiligung an vorgespiegelt einmalig günstigen Gelegenheiten oder als Teilhaber für den „Ausbau" des angeblich gut gehenden, in Wirklichkeit faulen Unternehmens. Hierzu gehören auch die falschen Gründer und Erfinder, die unter arglistiger Vorspiegelung hoher Gewinnaussichten immer wieder Geldgeber zur Beteiligung an der Ausbeutung von faulen Projekten, Patenten, Erfindungen und Ideen finden. Eine Abart des Beteiligungsbetruges ist der sog. Einsponbetrug. Er wird bandenmäßig begangen; die einzelnen Mitglieder der Bande spielen verteilt die Rollen eines Verkäufers, eines Vermittlers und eines Käufers. Der Vermittler wirbt in Zeitungsinseraten Opfer, die sich kurzfristig an einem angeblich aussichtsreichen Geschäft mit schnellem, sicherem und hohem Gewinn beteiligen sollen. Das Geschäft bestehe, so erklärt der Spanner, darin, daß es nicht zwischen dem Lieferanten und dem Abnehmer direkt, sondern über den Vermittler durch Einschaltung des Geldgebers als Zwischenabnehmer abgewickelt werden solle, so daß der Gewinn ein Vielfaches der sonst nur zu verdienenden Provision betrage. Sobald das Opfer sichergemacht (eingesponnen) ist und die große Summe gewagt hat, springen
die Gegenspieler, wenn sie im Besitz des Geldes sind, ab. Der angebliche Käufer schützt für seinen Rücktritt Nichteinhaltung der Lieferfrist und andere Einreden kaufmännischer Natur vor, und das Opfer bleibt auf der minderwertigen Ware sitzen, erkennt aber trotzdem in der Regel keineswegs immer den an ihm verübten Betrug. Anfang der fünfziger Jahre war ein raffiniertes Einsponbetrügerteam ausländischer „Kunsthändler" entlarvt worden, das von Paris, Rio de Janeiro, Montevideo, Amsterdam usw. aus sich mit Hilfe inländischer Mittelsleute an kapitalkräftige inländische Industrielle, Großkaufleute und andere begüterte Personen herangemacht und ihnen angeblich wertvolle, in Wahrheit aber minderwertige Kunstgegenstände, insbesondere Ölgemälde, zu weit überhöhten Preisen angedreht hatte, unter der Vorspiegelung, daß diese Werte mit guten Gewinnen an schwerreiche Südamerikaner weiterverkauft werden konnten. Die Aussicht auf die hohen Gewinne lockte die Opfer ebenso wie die Möglichkeit einer Kapitalanlage im Ausland (aus Furcht vor einer Geldentwertung im Inland). Sobald die Gelder aber ihren Besitzer gewechselt hatten, verschwanden die Betrüger spurlos, und die Opfer hörten weder etwas über das Bildergeschäft noch über die erhofften Devisen. Die Betrüger hatten richtig darauf spekuliert, daß die Betrogenen sich im Hinblick auf die damalige Strafbarkeit ihres Verhaltens in devisenrechtlicher Hinsicht nicht zu Strafanzeigen entschließen würden. Veranstaltungsbetrüger stellen die Abhaltung von Shows, Quiz-, Wohltätigkeits- und anderen Veranstaltungen unter Beteiligung namhafter Künstler und eine damit verbundene Werbung für die interessierten Firmen in Aussicht und erschwindeln Vorauszahlungen. In Wirklichkeit verfügen sie weder über Fähigkeiten noch über Mittel und Beziehungen zur Durchführung solcher und anderer Veranstaltungen, zu denen auch Kurse (Ausbildung zur Kosmetikerin, zur erstklassigen Sekretärin, Näh- und Zuschneidekurse u. a. m.) gehören. Kautionsbetrüger täuschen den Besitz eines sicheren Unternehmens oder einer gewinnbringenden Idee vor und versprechen ihren Opfern eine Festanstellung, eine Vertretung oder einen Nebenerwerb unter der Bedingung einer „Sicherheitsleistung" durch Hergabe einer größeren Geldsumme, um die die Opfer betrogen werden. Ideengangster suchen Film-, Roman- oder Erfinderideen unter Vorspiegelung einer gewinnbringenden Auswertung. In Wirklichkeit stehlen die Täter die in den Angeboten verkörperten Gedanken und ziehen aus ihnen eigenen Nutzen. Beim Betrug durch Werber (Vertreter) können die Unternehmer und die Kunden Opfer sein. Gegen den Unternehmer richten sich der Provisionsbetrug und die betrügerische Erlangung von
Betrug wertvollen Musterkollektionen. Der Provisionsbetrug wird in der Regel mit gefälschten Aufträgen und durch arglistige Unterbringung von Aufträgen (sog. Gefälligkeitsaufträgen) zahlungsunfähiger Kunden begangen. Zur betrügerischen Erlangung von Musterkollektionen spiegelt der Täter vor, daß er die Vertretung der Firma zu übernehmen beabsichtige, und veräußert später die anvertrauten Muster. (Anders liegt der Fall bei späterer Unterschlagung von ursprünglich ordnungsgemäß erhaltenen Musterkollektionen sowie bei der betrügerischen Erlangung solcher Kollektionen als angeblicher Käufer, die einen Warenkreditbetrug oder unter besonderen Voraussetzungen einen Zimmerfallenschwindel darstellen kann.) Die Schädigung von Kunden kann dadurch erfolgen, daß der Betrüger anreißend und mit irreführender Reklame oder sonst in unlauterer Weise (ζ. B. unter der Vorspiegelung, im Auftrage einer Behörde zu kommen), Interessenten wirbt (§ 4 UWG) oder Bestellungen ertrügt, ζ. B. unter dem Vorwand einer Volksbefragung oder eines bloßen Tätigkeitsnachweises oder auf andere Weise Unterschriften erschleicht, die er in Bestellungen umfälscht, ferner daß er Interessenten arglistig über den Inhalt des Vertrages, die Höhe der Vertragsdauer und -summe (ζ. B. bei Teilzahlungsgeschäften) täuscht, und schließlich dadurch, daß es ihm gelingt, den Kunden so viel Vertrauen abzugewinnen, daß sie bedenkenlos Anzahlungen oder Abzahlungen statt an die vereinbarte Stelle an den Vertreter leisten, der die Gelder unterschlägt. Betrügereien auf dem Gebiete des Teilzahlungsgeschäfts kommen sowohl auf der Kundenseite (als Warenkreditbetrug) und auf der Vertreterseite (s. o.) als auch auf der Verkäuferseite vor. In letzterem Falle sind zu nennen: Delikte beim Verkaufsabschluß (ζ. B. Erschleichen der Vollfinanzierung eines Tz.-Vertrages durch Einsetzen einer fingierten Anzahlung und erschlichene Empfangsbestätigungen der Kunden), Delikte in bezug auf die Lieferung (Warenbetrug mit Schundware oder mit zurückgenommener und aufgearbeiteter Ware oder überhaupt mit Nichtlieferung) sowie die betrügerischen Finanzierungen (ζ. B. illegale Kreditschöpfung mit fingierten Tz.-Verträgen, Doppelfinanzierung mit ungestückelten Tz.-Wechseln, gleichzeitiger Abschluß eines B- und C-Geschäfts über dieselbe Kaufsache, „Umfinanzierung", d. h. betrügerische nochmalige Finanzierung desselben Tz.-Verkaufs über ein anderes Finanzierungsinstitut). Korruptionsbetrügereien kommen vor allem in Form von Bestcchungsbetrug, Lieferungs- und Leistungsbetrug und betrügerischem Beziehungshandel (betrügerischer Kontaktvermittelung) vor. Der Versicherungsbetrug tritt in vier Arten auf: als betrügerische Vertragsgestaltung, als Ausnutzung eines Versicherungsfalles durch betrüge-
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rische Schadensliquidation, Vortäuschen eines Versicherungsfalles und als betrügerisches Auslösen (Herbeiführen) eines Versicherungsfalles. So gut wie jeder Versicherungszweig (Lebens-, Unfall·, Krankenversicherung-, Feuer-, Hagel-, Sturm-, Einbruchsdiebstahls-, Transport-, Kraftverkehrs- und andere Versicherungen) kennt betrügerische Ausbeuter. Nicht selten werden Versicherungsbetrügereien durch andere Verbrechen, wie Urkundenfälschung, Brandstiftung oder Mord („Betrugsmord") vorbereitet. Die Kriminalgcscliichte kennt eine große Zahl von „Betrugsmorden". So hatte im November 1929 der Kaufmann Tetzner in seinem P K W einen Anhalter erdrosselt und den Wagen in Brand gesteckt. Er war dann ins Ausland gegangen, und seine Ehefrau, die den Toten als ihren Ehemann „identifizierte", versuchte, die Lebensversicherungssummen zu erhalten. Durch dieses Vorbild wurde der Möbelhändler Saffran im September 1930 angeregt, mit seinem Prokuristen auf Menschenjagd zu gehen. Ein ermordetes Opfer verbrachte er in sein Geschäftshaus, gab ihm persönliche Sachen bei und zündete das Haus an. Die Leiche wurde fälschlich als die des Saffran identifiziert. Saffrans Versuche, unterzutauchen und die hohen Lebensversicherungssummen kassieren zu lassen, scheiterten jedoch. 1955 hatte J . G. Graham in der Absicht, seine Mutter umzubringen und sich in den Besitz der Erbschaft und der Versicherungssumme zu setzen, das von seiner Mutter benutzte Verkehrsflugzeug bei Denver durch eine Bombe zum Absturz gebracht. Außer seiner Mutter waren 43 andere Fluggäste zu Tode gekommen. Betrugsmörder gibt es übrigens auch unter den Heiratsschwindlern, wie 1961 der Fall Gufler in Wien gezeigt hat. Abschließend ist unter den vielen Begehungsformen des Betruges noch kurz die Fälschung im Rahmen der Täuschungshandlung zu erwähnen. Unter einer Fälschung ist die Nachahmung (Ganzfälschung) oder Veränderung (Verfälschung) einer Sache mit dem Ziel der Täuschung im Handel und Verkehr zur Erlangung eines Vorteils oder zur Bewahrung und Sicherung eines illegal erlangten Vorteils zu verstehen. Bei einem Teil der Fälschungen ist nicht die Fälschung selbst, sondern nur ihre Verwendung zur Täuschung als Betrug strafbar. Beispiele sind die Herstellung falscher Würfel usw., das Roßtäuschen im Pferdehandel, das Frisieren beim Gebrauchtkraftwagenhandel, die Kunstfälschungen, soweit nicht durch Signumfälschung gleichzeitig Urkundenfälschung begangen wird, u. a. m. Beim Hauptteil der Fälschungen ist bereits die Fälschung selbst ein Delikt, ζ. B. die Urkundenfälschung, die Lebensmittel- und die Weinfälschung, die Falschgeldherstellung. Diese Delikte treten mit einem nachfolgend durch Verwendung der Fälschung begangenen Betrug meist in Idealkonkurrenz.
Betrug
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C. Kriminalstatistisches Der Betrug gehört, wie seine soeben dargestellten Erscheinungsformen zeigen, zu den kriminologisch interessantesten Delikten. Er ist nächst dem Diebstahl auch das am häufigsten begangene Delikt: nach den von der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes Wiesbaden errechneten Häufigkeitsziffern entfielen pro Jahr Fälle auf je 100000 Einwohner
auf einfachen Diebstahl auf schweren Diebstahl auf Betrug
Ende der fünfziger Jahre
1961
1962
1963
1.100
1.224
1.177
1.172
315 385
389 350
418 323
466 314
Mit Wirkung vom 1. Januar 1963 war der Straftatenkatalog der Polizeilichen Kriminalstatistik, um einen etwas genaueren Einblick in die bekanntgewordene Kriminalität zu erhalten, neu geordnet worden (siehe „Kriminalistik", Juni-Heft 1964 S. 280). Aus der Gesamtzahl der Fälle von Betrug werden seit 1.1.1963 besonders erfaßt: 1963 betrugen die Häufigkeitsziffern (Zahl der auf 100.000 Einwohner errechneten Straftaten): Waren- und Warenkreditbetrug Geld- und Geldkreditbetrug Betrug durch Geschäftsreisende Grundstücks- und Baubetrug Kautions und Beteiligungsbetrug
96 79 27 2 2
Der Anteil der Täter in den Altersstufen und Geschlechtern an der Gesamtzahl der von der Polizeilichen Kriminalstatistik erfaßten Betrüger betrug 1963 (in etwa gleichbleibend wie in den Vorjahren, aber mit einem Anwachsen der weiblichen erwachsenen Täter um 1,8%), in % ausgedrückt: m. w. zus. bei bei bei bei
Erwachsenen: Heranwachsenden: Jugendlichen: Kindern:
76,6 4,2 1,1 0,2
16,5 0,9 0,4 0,1
82,1
17,9 100,0
93,1 5,1 1,5 0,3
Daß die Kriminalität der Frau auf dem Gebiete des Betruges erheblich geringer ist als die des Mannes, erklärt sich aus Umweltbedingungen, nämlich aus der trotz Gleichberechtigung überwiegend noch verschiedenen Lebensaufgabe. Die Betrugskriminalität der Frau bezieht sich im wesentlichen auf den Schwindel. Wo aber die Frau auch wirtschaftlich zum Zuge kommt und dabei Möglichkeiten zum Betrüge sucht und findet,
vermag sie den Mann an Intensität und Raffinesse zu überbieten. Der relativ geringe Anteil der Heranwachsenden und Jugendlichen beruht nach Exner darauf, daß erst mit wachsendem Verstände das Intelligenzdelikt des Betruges zur Geltung kommt: „Es gibt spät reifende Vermögensdispositionen; manche Betrüger gehören hierher. Erfolgreicher Betrug setzt beim Täter Lebenserfahrung, Menschenkenntnis, Urteilsvermögen und Verstellungsgabe voraus, Fähigkeiten, die sich mit dem Älterwerden entwickeln. So kommt es, daß Leute, die später zu richtigen Berufsbetrügern werden, in ihren jungen Jahren straffrei geblieben sind, einfach, weil sie damals zu den Verbrechen, für die sie charakterlich disponiert sind, das Zeug noch nicht besaßen." Die statistische Erfassung des Betruges in der Justizkriminalstatistik des Statistischen Bundesamtes entspricht nicht der Bedeutung des Betruges und ist nicht ergiebig. Die wenigen Zahlen sind nicht aufgeschlüsselt, sondern es ist nur der Betrug schlechthin (sogar unter Einbeziehung der nur betrugsverwandten Delikte der §§ 265, 265 a StGB) erfaßt; seit Jahren sind die Zahlen für Betrug und Untreue zusammen aufgeführt. Die Verurteilungen lagen in der Zeit von 1952—1957 bei rund 40.000 pro Jahr, in der Zeit von 1958— 1961 bei rund 46.500. Die Kriminalitätsziffern, d. h. die Zahl der Verurteilten, bezogen auf 100.000 der jeweiligen strafmündigen Bevölkerung, betrugen 1957: 105,2; 1958: 117,5; 1959: 117,1; 1960:110,4; 1961: 105,6. Bei allen statistischen Zahlen ist noch das Dunkelfeld in Rechnung zu stellen, das beim Betrug besonders unübersehbar ist, wie von Hentig im Abschnitt „Terra incognita" seines vorzüglichen Buches nachgewiesen hat. Im übrigen widerspricht nichts der Annahme, daß die Statistik im wesentlichen von den leicht faßbaren Kleinbetriigereien geformt ist. D. Die Täterpersönlichkeit des Betrügers Zunächst lassen sich vier Gruppen von Betrügern unterscheiden: 1. die „reinen" Betrüger, die „nur" vom Betrug leben; 2. die Täter, die auch oder nur betrugsverwandte Delikte, wie Automatenmißbrauch, Erschleichen freien Eintritts, unlauteren Wettbewerb, betrügerischen Bankrott usw. begehen; 3. die Täter, die Betrug unter gleichzeitiger Begehung anderer Delikte, wie Kurpfuscherei, Fälschungen, Brandstiftung, Mord usw. verüben; 4. Betrüger, die auch in anderer Richtung kriminell werden, ζ. B. Diebstahl, Unterschlagung, Bestechung, Sittlichkeitsverbrechen u. a. m. begehen (polytrope Verbrecher, Wandeltäter). Nach ihrem Aktionsradius sind lokale und interlokale Betrüger zu unterscheiden. Als reisende Täter treten beispielsweise Landfahrer auf, die
Betrug motorisiert das flache Land aufsuchen und betrügerischen Stoff-, Wolldecken-, Teppich- und Uhrenhandel oder Heilmittelschwindel begehen. Ein Mischtyp zwischen dem interlokalen und dem lokalen Täter ist der örtlich ansässige Betrüger, der durch Inserate gefährliche Fernwirkung ausübt. Ein qualifizierter Typ des interlokalen Betrügers ist der internationale Täter, der die Rechtsordnung mehrerer Staaten verletzt; Beispiele sind die international auftretenden Hochstapler, Heiratsschwindler, Vermittler ausländischer Schwindelinvestitionsobjekte und die Reisescheckfälscherbanden. Der Anteil der reisenden Betrüger an der Gesamtzahl der festgestellten Betrüger ist ziemlich hoch; er beträgt nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 1963 des Bundeskriminalamts rund 14,1%. Es liegt auf der Hand, daß der reisende und vor allem der internationale Betrüger in der heutigen Zeit des internationalen Schnellverkehrs, der offenen Grenzen, des freien Devisenverkehrs, der Aufhebung der Fremdmeldepflicht im deutschen Beherbergungsgewerbe usw. eine ganz besondere Gefahr darstellt. Der Betrug ist auch das Delikt, das am häufigsten von Bandentätern begangen wird. Bandenmäßig arbeiten ζ. B. die Einsponbetrüger, die Schwindelfirmen mit mehreren Inhabern, viele betrügerische Reisevertreter und landfahrende Nepper. Einen Zusammenschluß von internationalen Verbrechern, die stehlen, fälschen und betrügen, bilden die internationalen Reisescheckfälscherbanden; sie arbeiten systematisch mit verteilten Rollen: eine Gruppe von internationalen Taschendieben stiehlt in europäischen Ferienreisegebieten Reiseschecks und die Pässe ihrer Inhaber, eine zweite Gruppe besteht aus spezialisierten Fälschern, und die dritte Gruppe aus „Verteilern", die ganz Europa bereisen und die präparierten Schecks einlösen müssen. Betrüger neigen stark zur Perseveranz: wenn sie eine ihren Fähigkeiten, Neigungen und Gewohnheiten entsprechende bestimmte Arbeitsweise als erfolgversprechend erkannt und geübt haben, behalten sie sie bei und pflegen sie zu verbessern und vor allem noch besser zu tarnen. Ein Beispiel boten vor wenigen Jahren die „Entschuldungsbüros". Nachdem die Führung von Verhandlungen wegen Stundung bezw. Herabsetzung von Schuldtilgungsraten durch Strafurteile als Wahrnehmung fremder Rechtsangelegenheiten angesehen worden war, die ohne behördliche Genehmigung verboten und strafbar ist, gaben die Betrüger ihre Tätigkeit keineswegs auf. Sie stellten im Gegenteil fest, daß lediglich die Führung von Verhandlungen mit den Gläubigern, nicht aber jegliche Hilfeleistung für Überschuldete verboten war, und modifizierten ihre Tätigkeit zur „Schuldenzusammenfassung", die nach wie vor Tummelplatz gerissener Betrüger geblieben ist.
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Einen einheitlichen Tätertyp des Betrügers kann es nicht geben. Der Vielfältigkeit der Betrugsbegehung entspricht eine ebensolche Mannigfaltigkeit der Tätertypen. Es lassen sich immer nur einzelne Charakterzüge beleuchten. Grundsätzlich hegen dem Betrüger weder die rohe Gewalt noch der unmittelbare Zugriff; er bevorzugt den Umweg, sich mit List gewaltlos den erstrebten Vorteil von seinen Opfern gewähren zu lassen. Das gelingt natürlich nur, wenn der Täter zu blenden, seine Opfer für sich durch sein Auftreten und Verhalten einzunehmen und durch den Inhalt seines Angebots zu beeindrucken versteht. Seine Hauptmittel sind Aufmachung, Suggestion und Redegewandtheit. Gern verwendet er klingende Namen, Titel und Adelsprädikate, hochtrabende Firmenbezeichnungen, groß aufgezogene Schwindelfirmen u. a. m., um mit diesem demonstrativen Lebensstil die Opfer zu ködern und bei ihnen von vornherein jeden Verdacht zu zerstreuen. Die Skala seines Gebarens reicht von der Mitleidserregung des Bettelbetrügers bis zur „Angabe" des Hochstaplers. Je nachdem, wie es gerade gebraucht wird, tritt der Betrüger zurückhaltend, bescheiden, gefällig oder als aalglatter geschmeidiger Schaumschläger und Blender, liebenswürdig-zuvorkommend oder frechherausfordernd und überrumpelnd auf. Der Blender pflegt das Gewicht seiner Persönlichkeit und seines Vortrages meist durch Vorspiegelung von Verbindungen und von bereits laufenden Verhandlungen und Abschlüssen mit hochgestellten, vermögenden oder sonst einflußreichen Kreisen zu unterbauen. Der versierte Betrüger versteht es, seine Opfer mit außergewöhnlicher Redegewandtheit, zumindest mit ununterbrochenem Redeschwall, zu umgarnen und ihnen einen gewissen Respekt vor seiner vorgespiegelten Überlegenheit, Tüchtigkeit und Erfahrung einzuflößen. Es ist ihm dann ein leichtes, sie dahin zu bringen, in seinem Angebot eine einmalige Chance zu sehen. Der Betrug ist ein Intelligenzdelikt; das bedeutet aber nur, daß er nicht zu den physisch begangenen Gewaltdelikten gehört. Im übrigen braucht die Intelligenz nicht allzu hoch veranschlagt zu werden. Auch Schwachsinnige und Geisteskranke sind schon als erfolgreiche Betrüger aufgetreten. Allen Betrügern eigen ist eine kalt berechnende, zynische Selbstsüchtigkeit, mit der der Täter seine Lebensmöglichkeit in der Ausbeutung anderer sucht. Diesem Gesinnungsmangel und dieser Selbstsucht gesellt sich ein übersteigertes Geltungsbedürfnis hinzu. Der Täter will mehr scheinen als sein. Von Haus aus muß ein Betrüger, will er erfolgreich sein, eine ganze Reihe einschlägiger Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringen: geistige Beweglichkeit, rasche Anpassungsfähigkeit, Gerissenheit, Fähigkeit zu richtiger Witterung für Betrugsmöglichkeiten im allgemeinen und zu
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schneller Erfassung sich bietender Gelegenheiten, Fähigkeit zu schauspielerischer Umwertung und suggestiver Beeinflussung des Opfers, virtuose Kunst der Verstellung, aber auch Unverfrorenheit und Kaltschnäuzigkeit im Verkehr mit dem Opfer und bei der Tatausführung, die, wie bereits dargestellt wurde, in Extremfällen soweit gehen kann, daß der Betrüger zur Vorbereitung seiner Tat Verbrechen wie Brandstiftung und Mord begeht. E . Die Psychologie des Betrogenen Eine Täuschung des Opfers und seine „Selbstbeschädigung" wäre meist nicht möglich, wenn nicht auf Seiten des Opfers Umstände vorliegen würden, die dem Betrüger entgegenkommen, ihn in seinem Vorhaben maßgeblich bestimmen oder ihn bei der Tatausführung unterstützen. Der Getäuschte wird sozusagen „Feuer und Flamme" für das vermeintlich günstige Geschäft, zeigt sich „mitwirkungsbereit" und will jede Phase der Täterhandlung — natürlich mit Ausnahme des wirtschaftlichen Verlustes. Die Gier und das Vorteilsuchon des Opfers bildet den Ansatzpunkt für den Betrüger, der für das Gewinnstreben und die heimliche oder offene Interessenlage des anderen einen guten Blick hat. Aber auch andere Gefühlslagen des Opfers, ganz gleich ob sie durch Einsamkeit, Krankheit, Mitleid, religiöse oder soziale Einflüsse verursacht sind, vermag der Betrüger rasch zu erkennen und nutzt sie weidlich aus. Geeignete Tatopfer sind die Unerfahrenen, die Suggestiblen, Leichtgläubigen, Vertrauensseligen und Gutmütigen, die aus Arglosigkeit keinen Verdacht schöpfen oder aber, sorglos geworden, einen Verdacht fallen lassen, und die umso willfähriger werden, je sicherer der Täter auftritt. Zustatten kommt dem Betrüger, daß nicht alle Opfer die normale Reaktion von Geschädigten zeigen. Er spekuliert ζ. B. darauf, daß habgierige Opfer sich auf gewagte und vermeintlich umso lohnenswertere Geschäfte einlassen und eitel genug sind, sich nachher nicht betrogen zu fühlen, um nicht eingestehen zu müssen, daß sie trotz ihrer Erfahrung einem Betrüger aufgesessen waren. Meist hat der Betrüger seine Tat auch so angelegt, daß seine Opfer den an ihnen verübten Betrug gar nicht erkennen und sich deshalb nicht betrogen fühlen. Typische Beispiele für das Fehlen besserer Einsicht bieten der Schwindel mit angeblich übersinnlichen Mitteln und der Heilmittelschwindel. Hier werden Suggestion, Dummheit, Hang zum Aberglauben und Mystischen zum Gehilfen des Betrügers. Meist reagieren die Geprellten noch mit Anerkennungsschreiben über vermeintlich verspürte Wirkungen und tragen damit zur weiteren Werbung und zur Unterstützung von Entlastungsversuchen des Täters bei. Selbst nach rechtskräftiger Verurteilung des Täters bleiben sie von seinen okkulten Kräften überzeugt und ziehen ihn bald wieder zu Rate.
Nicht zuletzt rechnet der Betrüger damit, daß Betrugsbeschädigten das spontane Abwehrgefühl von Gewaltgeschädigten fehlt und sie im Gegenteil oft wenig Lust verspüren, über den Schaden hinaus noch Zeit für die Untersuchung des Falles zu verlieren und zum Schaden noch den öffentlichen Spott zu ernten; oder daß Geschädigte um ihren Ruf besorgt sein werden, was bei Geschäftsleuten, aber auch bei betrogenen Bräuten eines Heiratsschwindlers durchaus der Fall zu sein pflegt. Nicht selten sind Geschädigte sogar weniger über den Betrüger als über das ihrer Ansicht nach zu frühe Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden erbost; sie meinen, daß sie zu ihrem Gelde schon noch gekommen und höchstens andere geschädigt worden wären, hätte man nur den Täter noch weiterarbeiten lassen. Schließlich kommt es vor, daß Geschädigte den Täter nicht verraten, weil sie von ihm in Risikogeschäfte verwickelt worden waren und nun schweigen müssen aus Furcht, noch selbst strafrechtlich wegen Teilnahme oder wegen eines Steuerdelikts o. ä. belangt zu werden. Solche merkwürdigen Reaktionen der Umwelt gegenüber dem Betrüger beruhen auf menschlichen Schwächen und tief eingewurzelten Emotionen. Das erklärt, warum eine vorbeugende Aufklärung und Warnung, die sich ja an den Verstand richtet, beim Publikum so wenig ankommt. Der Gewalttäter stößt immer auf allgemeine Ablehnung; Betrügertricks dagegen werden vom nicht geschädigten Dritten mit dem Gefühl, daß „ihm so etwas nicht hätte passieren können", und mit Schadenfreude über die Einfalt des Betrogenen aufgenommen. F. Gefährlichkeit des Betrügers Bei dem Betrüger handelt es sich um einen Ausbeutungstyp, der skrupellos seine Opfer unter arm und reich sucht, schamlos auch fremde Not ausnutzt und sich nicht scheut, selbst Erwerbslosen ihre letzten Ersparnisse abzunehmen. Man kann einwenden, daß das auch die Angehörigen der „Schwestersparte", die Räuber und Einbrecher, tun und daß deren Gefährlichkeit noch durch die Schockwirkung der ausgeübten Gewalt verstärkt wird. Ein solcher Vergleich ginge aber an anderen Tatsachen, wie an der Höhe des angerichteten Schadens, an der gefährlichen Latenz der Betrugsdelikte und an der besonderen Rückfallneigung der Betrüger vorbei. Was den Schaden anbetrifft, so läßt sich ohne Übertreibung sagen, daß die Betrüger als Serientäter weiteste Volkskreise um Werte schädigen, deren Ausmaß das der Beute eines Räubers oder Einbrechers um ein Vielfaches übertrifft. Der Umfang der durch Betrug angerichteten Schäden ist bisher niemals durchgreifend ermittelt und zentral erfaßt worden, weil die Schwierigkeiten unüberwindlich wären. Man ist auf Einzelbeob-
Betrug achtungen angewiesen; aber auch schon Teilschätzungen lassen aufhorchen. Der amerikanische Soziologe Sutherland schätzte, daß die öffentlichen Feinde Nr. 1—6 seines Landes durch Raub und Einbruch im Jahre 1938 130.000 Dollar erbeutet hatten; demgegenüber wurde die Summe, die Ivar Kreuger ergaunerte, auf 250 Millionen Dollar geschätzt. Der Schaden, den allein die Schwindelfirmen in der BRD anrichten, dürfte mit hundertmillionen DM nicht zu hoch geschätzt sein. Der Blick darf aber nicht nur an den Fällen haften bleiben, in denen einige wenige Opfer um einen hohen Betrag geschädigt werden; kriminologisch noch wichtiger sind die anderen Fälle, in denen sich der Schaden in kleinen Beträgen auf eine große Anzahl von Opfern erstreckt. Eine nicht zu unterschätzende Schadensfolge sind Kettenreaktionen. Stürzt der Täter, so pflegt er nicht nur seine Mittäter und Gehilfen hereinzureißen, sondern auch Geschäftspartner in Mitleidenschaft zu ziehen, die in sein Treiben nicht verstrickt waren, sondern, auf Treu und Glauben bauend, mit ihm Geschäftsverbindung aufgenommen hatten. Die immateriellen Schäden sind ungeheuer. Sie beginnen beim Vertrauensverlust und der Rufgefährdung der Geschädigten und ihrem seelischen Trauma, das ζ. B. bei Opfern von Heiratsschwindlern oder Baukostenzuschußbetrügern nicht unterschätzt werden darf, bis zu schweren gesundheitlichen Schäden, wie sie beispielsweise 1959 als Folge von Massenvergiftung durch Speiseölbetrüger in Marokko und als Folge von Kurpfuscherei und Heilmittelschwindel auch bei uns tagtäglich auftreten. Die Gefährlichkeit des Betruges liegt weiter in seiner hohen Latenz. Aus bereits dargelegten Gründen wird er oft entweder gar nicht erkannt oder aber nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gebracht. Es gibt kaum ein anderes Delikt, das vom Täter so gründlich durchdacht und raffiniert ausgestaltet wird. Seinen Opfern gegenüber ist der Betrüger im Vorteil, weil er sich in bezug auf seinen Fall mit hinreichender Kenntnis der Spielregeln versehen und seine Handlungen so einrichten kann, daß ihm strafrechtlich nicht so leicht beizukommen ist, zumal wenn sein Sachverhalt als Einzelfal! zur Beurteilung vorliegt und die Serie nicht zu erkennen ist; daran scheiterte ζ. B. lange Jahre die Verfolgung des Einsponbetruges und des organisierten Wechseltauschs. Nur ungern läßt sich der Betrüger in die Karten sehen. Mitunter erstattet er besonders energisch drängenden Geschädigten das gezahlte Geld zurück, um die Gefahr zu bannen, die ihm durch solche unbequemen Gläubiger droht, gleichzeitig aber auch, um Paradefälle zu schaffen, auf die er sich bei der weiteren Werbung und vor allem Behörden gegenüber zu seiner Entlastung berufen
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kann. Für Außenstehende ist es daher in der Regel meist schwer, rechtzeitig oder überhaupt einen Einblick in die Geschäftspraktiken des Betrügers zu nehmen, ohne sich dem Vorwurf eines Eingriffs in fremde Rechte auszusetzen. Die Kompliziertheit und Undurchsichtigkeit der Sachverhalte verbinden sich oft mit der Reputation des Täters zu seinen Gunsten. Aus gleichen Gründen ist auch eine Untersuchung ohne konkreten Verdachtsgrund selten möglich. Die Folge davon ist, daß der Betrüger lange Zeit hindurch arbeiten kann, bevor sein Wirken als Betrug entlarvt wird. Zu einer erheblichen Gefahr wird der Betrug auch durch die starke Rückfallneigung der Betrüger. Die Bundeskriminalstatistik weist rund 7% der abgeurteilten Betrüger als Rückfallbetrüger aus. Da aber nach geltendem Recht (§ 264 StGB) erst der Betrug im zweiten Rückfall als solcher bestraft wird, liegt die Zahl der im kriminologischen Sinne Rückfälligen weit höher. Besonders gefährlich sind die gewerbsmäßigen Betrüger, die infolge ihrer charakterlichen Veranlagung und ihres durch Übung erworbenen Hanges zu steter Wiederholung neigen und ihren Unterhalt ganz oder überwiegend aus dem Betrüge bestreiten. Seit Einfügung der §§ 20a und 42aff in das StGB vor dreißig Jahren ist es aber möglich, einen als gefährlichen Gewohnheitsverbrecher erkannten Täter, auch wenn die Voraussetzungen des strafschärfenden Rückfalls nicht vorliegen, unter strafschärfenden Bedingungen zu verurteilen und, wenn die weiteren Voraussetzungen gegeben sind, ihn im Anschluß an die Strafverbüßung mit Maßregeln der Sicherung und Besserung zu belegen. Der StGB-Entwurf 1962 erkennt den Rückfall als allgemeinen Strafschärfungsgrund an (§ 61). Den gewerbsmäßigen Betrüger erfaßt der Entwurf als Regelbeispiel zu den Fällen des schweren Betruges (§ 253 Nr. 1); gewerbsmäßig handelt danach, wer sich aus wiederholter Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschaffen möchte, ohne daß er daraus ein kriminelles Gewerbe zu machen braucht. Zu den besonders schweren Fällen des Betruges, die mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten bestraft werden sollen, tritt noch der berufsmäßige Betrug (E 1962 § 254). Als berufsmäßiger Betrüger soll derjenige Täter angesehen werden, der das Betrügen derart wie einen Beruf betreibt, daß er daraus ganz oder zu einem erheblichen Teil seine Einkünfte zieht. Der Entwurf rechnet den berufsmäßigen Betrug zur Hochkriminalität und bedroht ihn im Grundstrafrahmen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Darüber hinaus wird die Strafrechtsreform das ζ. Z. ausgehöhlte Institut der Polizeiaufsicht durch eine Sicherungsaufsicht mit gerichtlich festgesetzten Geboten und Verboten ersetzen (§ 91). Diese Maßregel, die dem Rechtsinstitut der Bewährungshilfe bei Aussetzung einer Strafe oder
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Betrug
Maßregel zur Bewährung verwandt ist, zielt darauf ab, gefährdete oder gefährliche Täter in ihrer Lebensführung in der Freiheit über gewisse kritische Zeiträume hinweg zu unterstützen und zu überwachen, um sie von weiteren Straftaten abzuhalten und zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu führen. Sie wird damit auch eine wertvolle Handhabe zur Intensivierung der vorbeugenden Betrugsbekämpfung liefern. Α ν έ - L a l l e m a n t : Das deutsche Gaunertum, 1858/62. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. 1949. v o n B a r : Geschichte des deutschen Strafrechts, Handbuch des dtsch. Strafrechts, Band I. 1882. B e r t l i n g : Kaufmännischer Betrug und Steuervergehen. Taschenbuch für Kriminalisten. 1957. D e r s . : Die Latenz im Bereich der Betrugskriminalität. Krim. 1964, S. 22. B r e t t n e r : Betrüger im Gewand des reisenden Kaufmanns. 1955. B u n d e s k r i m i n a l a m t W i e s b a d e n , Schriftenreihe (seit 1956/56) Bekämpfung von Betrug und Urkundenfälschung. 1956 (im folgenden „BKA-Bericht" abgekürzt) Bekämpfung der Wirtschaftsdelikte. 1957. v o n Cleric: Der Hochstapler. SchwZStr. 1926, S. 16. D i t t m e r : Der Betrug mit Sammlungsobjekten (Raritätenbetrug). Taschenbuch für Kriminalisten. 1964. D o m e l a : Der falsche Prinz, Leben und Abenteuer von Harry Domela. 1927. E g e r : Berühmte Kriminalfälle aus vier Jahrhunderten. 1949. E s c h e n b a c h : Der Betrüger und seine Opfer. BKA-Bericht 1956, S. 27. Ders.: Betrügeram Werk, Polizeirundschau 1948/49, S.211. E x n e r : Kriminalbiologie. 2. Aufl. 1944. Ders.: Kriminologie. 3. Aufl. 1949. F e u e r b a c h : Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts (1. Aufl. 1801) 12. Aufl. hrgg. von Mlttermaier. 1847. Geller, P r o k o p , W e n d t e : Eine Wünschelruten- und Schatzgräberaffaire von unvorstellbarem Ausmaß. Arch. Krim. 116, S. 3. Götz: Betrug im Zahlungsverkehr. BKA-Bericht 1956, S. 139. Groß: Handbuch für Untersuchungsrichter, 6. Aufl. 1913. G ü n t h e r : Geschicklichkeits-, Glücks- und Falschspiele. Krim. 1964. S. 486. H a f t e r : Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts. 1937, 1943. H e l m e r : Betrug zum Nachteil der Versicherung. BKABericht 1956, S. 89. von H e n t i g : The criminal and his victim, Yale University Press 1948. Ders.: Zur Psychologie der Einzeldelikte, Bd. 3: Der Betrug. 1957. H i r s c h : Warenkreditbetrug. K,ev. Internat. Crim. 1964, S. 14. H i s : Deutsches Strafrecht bis zur Carolina. 1928. Deutsches Strafrecht des Mittelalters, Bd. III. Die einzelnen Verbrechen. 1935. H ö n n : Kurtzeingerichtetes Betrugslexikon von 1720. Berlin 1958. H o e v e l e r : Reisescheckbetrüger. Taschenbuch für Kriminalisten. 1963. H o l l e : Kriminaldienstkunde, Schriftenreihe des BKA 1956/57. Ders.: Die Kriminalität in der Bundesrepublik. Krim. 1962, S. 403; 1963, S. 368; 1964, S. 280.
v o n K n o b l a u c h : Die polizeiliche Überwachung der Berufs- und Gewohnheitsverbrecher, insbesondere der gewerbsmäßigen Betrüger. BKA-Bericht 1956, S. 197. K o h l r a u s c h - L a n g e : Strafgesetzbuch. 41. Aufl. 1956. K o l l e r : Scheckbetrügerbande. Krim. 1963, S. 116. K r e u z h a g e : Der Versicherungsbetrug. 1950. L K : Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, begründet von Ebermayer, Lobe, Rosenberg, hrsg. von Jagusch und Mezger. 8. Aufl. 1957/58. Lei c h t we iss: Kurpfuscherei BKA-Bericht 1956, S. 47 und Taschenbuch für Kriminalisten. 1962. L i c h t b l a u : Versicherungsbetrug. Krim. 1964, S. 131. L o g r o f i o : Neue Aspekte des Großbetruges in Argentinien. RIPC April—Mai 1964. Th. M a n n : Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. 1954. v o n M a n t e u f f e l : Falschspieler — Formen und Technik des Spielbetruges. 1923. M a u r a c h : Deutsches Strafrecht. 1956. Mezger: Kriminologie. 1951. M i c h a l k e : Heiratsschwindel. BKA-Bericht 1956, S. 57. M o r i a r t y ' s P o l i c e L a w : 15. Edition. London 1959. N e l k e n : Verbrechen und Versicherung. 1928. Ochs: Wirtschaftskriminalität. Krim. 1963, S. 402. P i t a v a l : Der neue Pitaval, 1842—1865 und 1866—1886. Der Pitaval der Gegenwart, 1903—1914. P o s s e h l : Moderne Betrüger. 1928. R a d b r u c h - G w i n n e r : Geschichte des Verbrechens. 1951. Reichskriminalpolizeiamt Berlin: Organisation und Meldedienst der Reichskriminalpolizei, Schriftenreihe des RKPA Nr. 1. 1941. S a u e r : Kriminalsoziologie. 1933. Ders.: Kriminologie. 1950. S c h ä f e r : Betrug und Betrüger, Taschenbuch für Kriminalisten. 1963 Ders.: Der Okkulttäter. Taschenbuch für Kriminalisten. 1962. S c h n e i c k e r t : Kriminaltaktik und Kriminaltechnik. 1933. S c h ö n k e — S c h r ö d e r : Strafgesetzbuch. Kommentar. 9. Aufl. 1959. S c h r ö d e r : Über die Abgrenzung des Diebstahls von Betrug und Erpressung. ZStrW 60, S. 33. S c h ü p p e r t : Über Betrüger an Volksgesundheit und Vermögen, hsgg. von der Zentrale zur Bekämpfung der Unlauterkeit im Heilgewerbe, Mainz. Die Entwicklunge und der heutige Stand des Kurpfuschertums sowie die Maßnahmen zu dessen Bekämpfung, im Anhang IV zu Zirpins, Schwindelfirmen, Schriftenreihe BKA 1959/1. S p r u n g — Wien:Nepperund Bauernfänger. BKA- Bericht 1956, S. 37. S u t h e r l a n d : Principles of Criminology. 3. ed. 1934. S t r a u s s : Zur Psychologie der pathologischen Schwindler, ArchKrim. 56, 8. 111. S t r e i c h e r : Das Wahrsagen. 1926. S t i e b e r — S c h n e i c k e r t : Prakt. Lehrbuch der Kriminalpolizei. 2. Aufl. 1921. T e u f e l : Der Einsponbetrug. In: Der Polizeibeamte. Nov. 1963. W ä c h t e r : Betrug. HwbKrim., I, S. 156. Warnungsdienst der deutschen Zentralstelle zur Bekämpfung der Schwindelfirmen (DZBS e. V., Hamburg). Weill: Der Betrug im internationalen Blickwinkel. BKABericht 1956, S. 153. W e n d t e : Erdstrahlengefahr. 1956. W i n d g a s s e n : Diebstahl und Betrug unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Mittelalters. Erlanger Diss. 1937. W i n k l e r : Kreditbetrug durch Abtretung fingierter Forderungen. Krim. 1963, S. 218.
Betrug — Brandstiftung W ü r t e n b e r g c r : Der Kampf gegen das Kunßtfälachertum in der deutschen und schweizerischen Strafrechtspflege. 1951. D e r s . : Das Kunstfälschertum. BKA-Bericht 1956, S. 119. W u l f t e n : Die Psychologie des Hochstaplers. 1923. Z i r p i n s : Die Täterpersönlichkeit des Betrügers. BKABericht 1956. Z i r p i n s : Kriminalpathologie des Wechselgeschäfts. BKABericht 1957. Z i r p i n s : Von Schwindelfirmen und anderen (unlauteren) Unternehmen des Wirtschaftslebens. Schriftenreihe des BKA 1959/1. Z i r p i n s — T e r s t e g e n : Wirtschaftskriminalität, Erscheinungsformen und ihre Bekämpfung. 1063. WALTER ZIRPINS
BEWÄHRUNG -* Strafaussetzung zur Bewährung
BRANDSTIFTUNG 1. Begriff und rechtliche Beurteilung Unter B r a n d s t i f t u n g versteht das Recht ganz allgemein das mit Gemeingefahr verbundene in Brand-Setzen einer Sache. Eine Sache ist dann in Brand gesetzt, wenn sie vom Feuer so ergriffen wird, daß sie auch nach Entfernen oder Erlöschen des Zündstoffes selbstständig weiter zu brennen vermag. Die Abgrenzung von der Sachbeschädigung ergibt sich durch das Merkmal der Gemeingefahr. G e m e i n g e f a h r wird vom StGB, (abstraktes Gefährdungsdelikt) dann angenommen, wenn Gegenstand der Brandstiftung die im § 306 genannten Räumlichkeiten sind, die nach Bestimmung oder Gebrauch dem Aufenthalt von Menschen dienen (schwere Brandstiftung), oder die in § 308 aufgezählten Objekte, mit deren Vernichtung im allgemeinen großer Schaden am fremden Eigentum verbunden ist (einfache Brandstiftung). Ein qualifizierter Fall der schweren Brandstiftung liegt nach § 307 dann vor, wenn sie den Tod eines Menschen verursachte, der sich zur Zeit der Tat in einer der in Brand gesetzten Räumlichkeiten befand, wenn sie begangen wurde, um bestimmte schwere Verbrechen zu begünstigen oder wenn sie, in der Absicht, ein Löschen des Feuers zu verhin-
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dern, unter Entfernen oder Unbrauchbarmachen von Löschgeräten erfolgte (besonders schwere Brandstiftung). In den Fällen der §§ 306 und 307 ist das Delikt auch dann gegeben, wenn die in Brand gesetzte Sache dem Täter gehört. In den Fällen des § 308 macht er sich durch in BrandSetzen der eigenen Sache nur dann strafbar, wenn nach der konkreten Lage und Beschaffenheit der in Brand gesetzten Gegenstände die Gefahr einer Brandübertragung auf die in dem § 306 genannten Objekte oder auf fremdes Eigentum der im § 308 genannten Art besteht (konkretes Gefährdungsdelikt). Die vorsätzliche Brandstiftung wird mit Zuchthaus bestraft, an dessen Stelle im Fall des § 308 bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter 6 Monate tritt. Tätige Reue macht straflos (§ 310). Wer in betrügerischer Absicht eine gegen Feuersgefahr versicherte Sache in Brand setzt, macht sich schon mit dieser Handlung des vollendeten Versicherungsbetruges schuldig (§ 265). Die f a h r l ä s s i g e H e r b e i f ü h r u n g eines Brandes der in den §§ 306 und 308 bezeichneten Art ist nach § 309 strafbar und zwar in den Fällen des § 306 unabhängig davon, in wessen Eigentum die in Brand gesetzte Sache steht, in den Fällen des § 308 hingegen nur bei Beschädigung einer fremden Sache. Im § 310 a wird die vorsätzliche und fahrlässige Herbeiführung einer konkreten Brandgefahr für bestimmte volkswirtschaftlich bedeutsame Objekte unabhängig davon mit Strafe bedroht, ob sie dem Täter oder einer dritten Person gehören. Das ö s t e r r e i c h i s c h e (§ 166ff.) und das S c h w e i z e r StG. (Art. 221) sehen unter Vermeidung der für das deutsche StGB, charakteristischen Kasuistik das entscheidende Moment der Gemeingefahr in der Herbeiführung der Gefahr einer „Feuersbrunst". Unter dieser wird ein ausgedehnter Brand verstanden, der nicht sicher beherrscht werden kann und Menschen oder im größeren Umfang fremdes Eigentum gefährdet. Tätige Reue macht nach österreichischem Recht straflos und ist nach dem Schweizer Strafgesetz
Bekannt gewordene Fälle schuldhafter Brandstiftung auf je 100000 der Wohnbevölkerung: 1954
1955
1956
1957
1958
1959
1960
1961
1962
Bundesrepublik Deutschland: Vorsätzliche Brandstiftung Fahrlässige Brandstiftung
2,5 22,8
2,4 18,1
3,3 23,5
3,5 18,2
3,5 16,4
4,4 27,0
3,8 19,6
3,6 16,2
4,1 19,7
Österreich: Vorsätzliche Brandstiftung Brandversicherungsbetrug Fahrlässige Brandstiftung
2,4 0,5 26,6
2,1 0,6 23,3
2,8 1,3 27,8
2,7 0,6 24,9
2,7 0,6 22,9
2,2 0,5 24,4
2,0 0,3 21,1
2,0 0,6 23,6
2,4 0,5 26,3
9G
Brandstiftung
ein Milderungsgrund. Das in Brand-Setzen der eigenen Sache stellt das österreichische StG. der Brandlegung am fremden Eigentum gleich, wenn hierdurch fremdes Eigentum der Feuersgefahr ausgesetzt wird (§ 169). Abgesehen davon ist die Entfachung einer Feuersbrunst an der eigenen Sache nur insofern strafbar, als hierdurch Rechte eines Dritten verkürzt oder jemand einem Verdacht ausgesetzt werden soll (§ 170). Auch in diesem Fall liegt in der Herbeiführung des Versicherungsfalles schon vollendeter Betrug. Das Schweizer Strafgesetz kennt keine analoge Bestimmung. Das in Brand-Setzen der eigenen Sache ist somit nach Schweizer Recht nur Mittel zum Betrug. Die fahrlässige Brandstiftung setzt nach österreichischem und nach Schweizer Recht eine konkrete Gefahr für Menschen oder für fremdes Eigentum im größeren Umfang voraus. 2. Häufigkeit und wirtschaftliche Bedeutung Während in Österreich die für die vorsätzliche Brandstiftung beobachteten Häufigkeitsziff e r n eine weitgehende Konstanz aufweisen, ist in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2.Weltkrieg bis 1959 eine stete Zunahme der vorsätzlichen Brandstiftung am fremden Eigentum festzustellen. Hierfür dürfte die für Schleswig-Holstein exakt ermittelte, von J a h r zu J a h r sich mehrende Brandlegung durch Heimatvertriebene maßgebend sein, die in Österreich eine ungleich geringere Rolle spielen als in der Bundesrepublik. Helmer führt dies darauf zurück, daß der in den Wirtschaftsprozeß noch nicht völlig eingegliederte Heimatvertriebene, vor allem, wenn er in der Landwirtschaft tätig ist, oft keinen vollen Anteil an den Vorteilen der Nachkriegskonjunktur hat. Damit vermehren sich mit Dauer und Intensität der wirtschaftlichen Hochblüte die sozialen Spannungen zwischen den Zugereisten, die einem unselbständigen Erwerb nachgehen, einerseits und der im Besitz und Erwerb konsolidierten bodenständigen Bevölkerung anderseits. Durch Aufstauung der solcherart genährten Affekte, unter denen der Neid eine bedeutsame Rolle spielt, kommt es zu gefährlichen Aggressionsgelüsten, die sich mitunter in einem durch Brandstiftung bekundeten Vernichtungswillen äußern. Die Entwicklung nach 1960 läßt hoffen, daß seither auch auf diesem Gebiet eine Konsolidierung eingetreten ist. Während heute der V e r s i c h e r u n g s b e t r u g an den vorsätzlich herbeigeführten Schadensfeuern nur mit 2 0 — 2 5 % beteiligt ist, hat er in der Zeit der Weltwirtschaftskrise (1929—1933) die Brandstiftungskriminalität beherrscht. Damals waren 8 0 — 9 0 % der vorsätzlich herbeigeführten Schadensfeuer vom Eigentümer veranlaßt. In der Zeit der wirtschaftlichen Depressionen ist für den in Industrie und Handel Tätigen der Anreiz gegeben,
das in einem falschen Optimismus durch Fehlinvestitionen immobilisierte Kapital im Versicherungsbetrug zu liquidieren (Konjunktur- oder Sanierungsbrand). Für den verschuldeten Landwirt ergibt sich in einem vom Angebot beherrschten Markt in der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalles die verlockende Möglichkeit, die zur Instandhaltung und unumgänglich notwendigen Erneuerung der Gebäude und Betriebseinrichtungen erforderlichen Gelder durch Brandstiftung an der eigenen Sache zu beschaffen, mit anderen Worten, das veraltete oder baufällige Anwesen „warm aufzubauen". Der U m f a n g d e r B r a n d s t i f t u n g s k r i m i n a l i t ä t ist somit weitgehend von den sozialen, insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnissen des Landes abhängig. Infolge einer wesentlichen Änderung der Zählmethode ist es nicht möglich, den oben wiedergegebenen Nachkriegswerten vergleichbare Zahlen aus der Vorkriegszeit gegenüberzustellen. Ein Urteil über die w i r t s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g der Brandstiftungskriminalität kann aus den Häufigkeitsziffern allein noch nicht gewonnen werden, weil der durch einen Brand verursachte Schaden sehr weitgehend vom Brandstiftungsmotiv abhängt und in den Fällen der vorsätzlichen Brandstiftung andere Durchschnittswerte erreicht als bei der fahrlässigen Herbeiführung eines Schadensfeuers. Das kommt zunächst schon in dem unterschiedlichen Anteil der vorsätzlichen Brandstatistik der Bundesrepublik Deutschland einerseits und am Gesamtbrandschaden anderseits zum Ausdruck. Bei Fehlen einer einheitlichen Brandstatistik der Bundesrepublik Deutschland seien die von Helmer für Schleswig-Holstein berichteten Zahlen gebracht. Dort entfielen in den Jahren 1949—1958 auf vorsätzliche Brandstiftung 4 , 6 5 % der Brandfälle, aber 1 1 , 6 1 % des Gesamtschadens. In Österreich war in den Jahren 1955—1962 die vorsätzliche Brandstiftung für 2 , 7 5 % der Brände und 7 , 9 1 % des Gesamtschadens verantwortlich. Der durch vorsätzliche Brandstiftung verursachte S c h a d e n beträgt im Jahresdurchschnitt pro Kopf der Bevölkerung in Schleswig-Holstein 0,65 DM und in Österreich, zum Teil durch das geringere Preisniveau bedingt, ö.S 2,03 = 0,32 DM, von denen rund ein Drittel auf Versicherungsbetrug entfallen. Der durch fahrlässige Brandstiftung pro Kopf der Bevölkerung verursachte Schaden wurde für das J a h r 1958 in Schleswig-Holstein mit 2,76 DM errechnet und ergab in Österreich für die Jahre 1955—1962 im Durchschnitt ö.S 8,49 = 1,35 DM. Bei Beurteilung der wirtschaftlichen Bedeutung der Brandstiftung darf nicht außer acht gelassen werden, daß der durch dieses Delikt verursachte Schaden nicht bloß den unmittelbar Betroffenen belastet, sondern letzten Endes von der Gesamt-
Brandstiftung
7 HdK, 2. Aufl., Bd. I
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Brandstiftung aus anderen Motiven Summe Hausangehört ge
Fremde
7 36 10.00—13.59 43 — 23 14.00—17.59 17 40 18.00—21.59 31 60 39 120 55 57 56 22.00— 1.59 168 2.00— 5.59 29 33 18 80 32 6.00— 9.59 15 2 49 (10.00—13.59) (36) (43) — (7) Verteilung der vorsätzlich herbeigeführten Schadensfeuer Schleswig-Holsteins auf die Tagesstunden (Nach Helmer: Beiträge zur Brandermittlung. 1954.) Viel bedeutsamer als das Dunkelfeld, das durch die unerkannten Verbrechen geliefert wird, ist die D u n k e l z i f f e r , worunter man die Zahl der unermittelten Täter versteht. Nicht in jedem Fall, in dem die Brandstiftung feststeht, gelingt es, den Verantwortlichen zu ermitteln. Die Aufklärungsquote gibt an, in wieviel Fällen es den Sicherheitsbehörden gelang, den Gerichten den Brandverursacher namhaft zu machen. Sie betrug in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1963 bei der vorsätzlichen Brandstiftung 47% und bei der fahrlässigen 72%. In Österreich betrug sie in den Jahren 1955—1963 bei der vorsätzlichen Brandstiftung durch den Eigentümer 95%, bei der vorsätzlichen Brandstiftung durch dritte Personen 78% und bei der fahrlässigen Brandstiftung 88%. Damit ist aber noch nicht gesagt, welches Risiko für den Brandverursacher besteht, wegen seiner Tat verurteilt zu werden. Eine für Österreich über die Jahre 1955—1961 angestellte Untersuchung hatte folgendes Ergebnis:
Insgesamt
Vorsätzliche Brandstiftung durch den Eigentümer Vorsätzliche Brandstiftung durch Dritte Fahrlässige Brandstiftung
Erwachsene
Auf 100 in den Jahren 1955—1961 in Österreich durch die Sicherheitsbehörde Angezeigte entfielen gerichtlich Verurteilte: Jugendliche
bevölkerung getragen werden muß. Während beim Diebstahl die Substanz erhalten bleibt und nur die Verfügung über sie dem Betroffenen entzogen wird, geht bei der Brandstiftung mit seinem Träger das angegriffene Vermögen zugrunde. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, daß unter beispielgebendem Vorantritt der Schleswig-Holsteinischen Landesbrandkasse (Gen.Direktor Adolf Franzke f 1957) amtliche und halbamtliche, durch die Versicherung geförderte B r a n d v e r h ü t u n g s s t e l l e n geschaffen wurden, die den Kampf gegen die in der vorsätzlichen und fahrlässigen Brandstiftung gelegene Vergeudung des Volksvermögens erfolgreich aufgenommen haben. Aus den Häufigkeitsziffern allein ist ein verläßliches Bild über den Umfang der vorsätzlichen und fahrlässigen Brandstiftungskriminalität nicht unmittelbar zu gewinnen. In vielen Fällen bleibt die wahre Ursache des Brandes unerkannt, so daß manche vorsätzlich und viele fahrlässig herbeigeführte Brände als Zufallsergebnisse gewertet werden und der Zählung durch die Kriminalstatistik entgehen. Das D u n k e l f e l d der Brandstiftungskriminalität ist somit erheblich. Das hat zu dem Bestreben geführt, die Zahl der unerkannten Brandstiftungsfälle, insbesondere auf dem Gebiet der vorsätzlichenBrandverursachung.zu errechnen. Für die E r r e c h n u n g des D u n k e l f e l d e s ergab sich bei der vorsätzlichen Brandstiftung insofern ein günstiger Ausgangspunkt, als der Brand als Schadensereignis nicht verborgen bleibt und es somit Aufgabe der Berechnung ist, bloß den Anteil der unerkannten Brandstiftungen an den bekannten Brandfällen zu ermitteln. Die Möglichkeit hierzu ergab sich aus dem innigen Zusammenhang, der zwischen Brandursache und der Tageszeit des Brandausbruches besteht. Der Brandstifter, insbesondere der Versicherungsbetrüger geht vorwiegend zur Nachtzeit ans Werk. Verteilt man die einzelnen Brandfälle auf die Tagesstunden, dann ergibt sich für die Brandlegung eine Spitze um Mitternacht. Die folgende, auf Helmer fußende Zusammenstellung stützt sich auf 600 Brandfälle, die in den Jahren 1923—1953 zur Kenntnis der Schleswig-Holsteinischen Landesbrandkasse gelangten. Umgekehrt wird der Großteil aller fahrlässigen Brandstiftungen im Rahmen der Berufsausübung und sonstigen Lebenstätigkeiten, also in erster Linie bei Tag gesetzt. Jede Brandursache zeigt somit ihren charakteristischen täglichen Gang, den ich im Jahre 1927 zum Ausgangspunkt meiner Berechnungen machte. Diese zeigten, daß im Jahre 1926, dem Hochstand der nach der Währungsstabilisierung überhandnehmenden Konjunkturbrände, vermutlich nur die Hälfte der tatsächlichen Brandstiftungen erfaßt wurden. Heute ist bei der absolut geringeren Brandstiftungskriminalität und den verbesserten Untersuchungsmethoden mit einem etwas geringeren Dunkelfeld zu rechnen.
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17
13
13
23 57
28 45
27 46
Aus diesen Zahlen ergibt sich, daß in Österreich in den Fällen der als solche erkannten Eigentümerbrandstiftung nur 12% der Täter, in den Fällen der als solche erkannten Brandstiftung durch dritte Personen nur 21% der Täter und bei der erkannten fahrlässigen Brandstiftung 40% der Verantwortlichen verurteilt werden. Berücksich-
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Brandstiftung
tigt man, daß, wie Berechnungen über das Dunkelfeld vermuten lassen, nur die Hälfte der vorsätzlichen Brandstiftungen erkannt wird, dann entfallen auf 100 tatsächliche Eigentümerbrandstiftungen rund 6 Verurteilte und auf 100 tatsächliche Brandstiftungen durch dritte Personen 8—9 Verurteilte. Im übrigen zeigt die Tabelle, daß die Dunkelziffer bei den Erwachsenen durchwegs höher ist als bei den Jugendlichen, die die Tat nicht nur weniger geschickt anstellen, sondern sich im allgemeinen auch weniger hartnäckig zu verteidigen wissen. Das größere Dunkelfeld und die höhere Dunkelziffer bei der Eigentümerbrandstiftung gegenüber der Brandstiftung durch dritte Personen ergibt sich daraus, daß die Brandermittlung auch heute noch trotz Ausgestaltung des naturwissenschaftlichen Sachbeweises weitgehend auf die Angaben des vom Brand Betroffenen angewiesen ist. Er liefert meist nicht nur den für die weitere Beurteilung entscheidenden Bericht über die Begleiterscheinungen des Initialfeuers, sondern ist gelegentlich auch die einzige Informationsquelle über die für die Aufklärung so wichtige Situation am Brandort vor Ausbruch des Feuers. Der Eigentümer hat somit ungleich größere Möglichkeiten, die Brandursache zu verschleiern als der fremde Brandstifter. 3.
Erscheinungsformen
der vorsätzlichen
Brandstiftung
Die A r b e i t s w e i s e des T ä t e r s ist im allgemeinen wesentlich verschieden, je nach dem, ob die Brandstiftung durch den Eigentümer oder durch dritte Personen erfolgt. Hierfür ist nicht nur das abweichende Ziel maßgebend, sondern auch, daß den beiden Tätergruppen selbst dort, wo der fremde Täter ein Hausangehöriger ist, unterschiedliche Möglichkeiten der Verwirklichung ihres Vorhabens zur Verfügung stehen. Das Ziel der B r a n d s t i f t u n g durch den E i g e n t ü m e r ist fast ausnahmslos der wirtschaftliche Vorteil. In erster Linie liegt er in einer Versicherungsleistung, seltener in der bloßen Verschleierung eines Vermögensschwundes, der sich etwa aus einer Veruntreuung oder Mißwirtschaft ergeben hat. Mit der Brandstiftung allein hat der Eigentümer somit noch nicht das Ziel seines Unternehmens erreicht. Viel einfacher liegen die Dinge für den Fremdbrandstifter, dem es meist nur darauf ankommt, Schaden zu stiften. Die Eigenbrandstiftung erfordert daher fast ausnahmslos größere V o r b e r e i t u n g e n als die Brandlegung durch dritte Personen. Sehr oft bemüht sich der Eigenbrandstifter, den Brandverlauf in einer für ihn günstigen Richtung zu steuern. Hierzu dient die Wahl einer Ausbruchsstelle, die erwarten läßt, daß dem Schadensfeuer nur die Gebäudeteile oder Güter zum Opfer fallen, die
abbrandwürdig sind oder die die Geltendmachung besonders hoher Ersatzansprüche erwarten lassen. In einem späteren Zeitpunkt dient die Vortäuschung erhöhter Lagermengen oder besonderer Qualitäten des Brandgutes einem ähnlichen Zweck (Liquidierungsbetrug). Bei Verdacht der Eigentümerbrandstiftung ist daher die Vergleichung des vorhandenen mit dem erforderlichen Stauraum und die Untersuchung der Brandreste auf die Qualität des Lagergutes besonders wichtig. Wiederholt besteht die Vorbereitung auch in der vorausgehenden Entfernung einzelner wertvoller Gegenstände aus dem Brandbereich. Der S t e u e r u n g des S c h a d e n s v e r l a u f e s dienen weiter alle Maßnahmen zur Verzögerung einer wirksamen Bekämpfung des ausgebrochenen Brandes. Hierzu gehört nicht nur die Wahl eines von außen schwer oder nicht einblickbaren Ausbruchsortes, sondern auch das Anbringen zusätzlicher Vorrichtungen, die Außenstehenden die frühzeitige Entdeckung des Initialfeuers verwehren. So mancher Versicherungsbetrüger hat sich schon dadurch verraten, daß zur Brandzeit die Fenster mit Tüchern vermacht oder von Möbeln und Werkstücken verstellt waren, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Raumes dort nichts zu suchen hatten. Endlich ergibt sich für den Eigenbrandstifter oft auch die Möglichkeit, das wirksame Eingreifen der Löschmannschaften durch Versperren, Verriegeln und Verstellen der Zugänge zu verzögern. AH dies ist für den F r e m d b r a n d s t i f t e r nicht oder in ungleich geringerem Maß gegeben. Wohnt er außerhalb des Hauses, dann gilt seine Sorge weniger einer Erschwerung des Zutrittes für die Löschmannschaften als der unbemerkten Annäherung an das Brandobjekt und der rechtzeitigen Flucht von diesem. Überdies fehlt ihm nahezu vollkommen die Gelegenheit, im Inneren des Brandobjektes eine den Brandverlauf steuernde Tätigkeit zu entfalten. Selbst dem im Brandobjekt wohnenden Fremdtäter ist auf diesem Gebiet nur ein äußerst eingeengtes Betätigungsfeld gegeben, soll er nicht schon durch seine Vorbereitungshandlungen den Verdacht der von ihm zu schädigenden Mitbewohner erwecken. Während der Eigenbrandstifter den Brand möglichst entlegen von den natürlichen Zugängen des Brandobjektes verursacht, legt der Fremdbrandstifter das Feuer vorwiegend an der Außenseite des Gebäudes oder doch in unmittelbarer Nähe der allgemein zugänglichen Gebäudeteile, wie Vorhaus, Tenne oder dem Bodeneinstieg. Die Zerstörung von Löschgeräten ist für den Eigenbrandstifter ein zu gewagtes Unternehmen, als daß sie von praktisch wesentlicher Bedeutung sein könnte. An sich selten, findet man sie in erster Linie bei dem mit den Verhältnissen am Tatort vertrauten Fremdtäter.
Brandstiftung Eine Großzahl weiterer Verschiedenheiten im modus operandi des Eigenbrandstifters und dem des Fremdtäters ergibt sich aus ihrer Sorge um die S i c h e r u n g vor der E n t d e c k u n g . Der Eigenbrandstifter hat das Bemühen, den Brand auf einen unglücklichen Zufall oder auf einen von außen Tätigen zurückzuführen. Er erscheint durch die für ihn gegebene Zugänglichkeit des Brandherdes von vornherein verdächtig und ist daher bestrebt, eine Ursache vorzutäuschen, die zeitlich und örtlich außerhalb seines Tätigkeitsbereiches fällt. Der auf seine Flucht bedachte Fremdbrandstifter vermeidet jede zusätzliche Tätigkeit im Gefahrenbereich. Als Anonymus hat er überdies wenig Anlaß, den Verdacht auf einen anderen Unbekannten zu lenken. So kommt es, daß der Eigenbrandstifter vielfach Zeitzünder verwendet, um den Zusammenhang von Tatzeit und Tatgelegenheit zu verschleiern, während sich der Fremdtäter im allgemeinen sofort wirksamer Zündmittel bedient. Die Z e i t z ü n d e r bestehen entweder in einer Vorrichtung, die die Übertragung der schon erfolgten Entzündung, etwa einer Kerzenflamme, auf die Umgebung tempiert, oder sie lassen die erforderliche Zündungswärme erst zu einem späteren Zeitpunkt entstehen. Am Land sind die zuerst genannten Zeitzünder noch immer die häufigsten. Hier wird eine entzündete Kerze ins Heu oder Stroh gesteckt oder im Zeitalter der Motorisierung auch oft in einem mit Benzin gefüllten Gefäß entzündet, wobei sie mit dem Niederbrennen den um sie gelagerten Zündstoff entflammt. Die Auslösungszeit ist durch die Länge der Kerze und die Geschwindigkeit ihres Abbrandes (Haushaltskerze rund 2 cm in der Stunde) von vornherein begrenzt. Zu einer vorzeitigen Auslösung kommt es vor allem, wenn die Kerze nicht senkrecht steht oder im einseitigen Luftzug abbrennt, so daß nur ein Teil der Kerzenmasse verbrennt, während der übrige Teil unverbrannt abrinnt. Die zweite Gruppe von Zeitzündern wird durch Vorrichtungen gestellt, die mechanisch, chemisch oder elektrisch zu einer bestimmten Zeit die Zündwärme liefern. Die c h e m i s c h e n Z e i t z ü n d e r bestehen meist aus einem Gemisch von Chlorat und einer organischen Substanz, das durch Schwefelsäure entzündet wird, die den Verschluß einer in der Zündmasse eingebetteten Phiole allmählich löst. Die m e c h a n i s c h e n Z e i t z ü n d e r sind meist dem Pionierzünder nachgebildet und enthalten dann einen gespannten Schlagbolzen, dessen Verankerung durch eine mineralische Säure gelöst wird, worauf der vorschnellende Bolzen den Zündmechanismus auslöst. Die elekt r i s c h e n Z e i t z ü n d e r arbeiten vorwiegend mit einem Relais, das nach Erschöpfung einer die Tempierung besorgenden Ruhestrombatterie anspricht. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe 7*
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von Möglichkeiten, den Zeitpunkt der Brandauslösung mehr oder minder dem Zufall zu überlassen, wozu vor allem Manipulationen an den Heizungseinrichtungen und elektrischen Anlagen dienen. Sowohl bei der Eigentümerbrandstiftung als auch bei der durch dritte Personen, bei dieser aber seltener, kommt es zur Vorbereitung einer Mehrh e i t von B r a n d h e r d e n . Liegen diese an schwer zugänglichen Stellen im Inneren des Gebäudes, dann weist dies auf den Eigentümer des Brandobjektes oder zumindest auf eine im Haus lebende Person als Täter. Der fremde Brandstifter legt nur dann das Feuer an mehreren Stellen, wenn er die verschiedenen Brandherde auf einem einheitlichen Rückzugsweg zu schaffen und auszulösen vermag. Wird vom Brandstifter eine Mehrheit von Zeitzündern eingesetzt, dann sprechen diese meist nicht gleichzeitig an. Man findet daher nach Brandstiftungen gelegentlich in den n i c h t abg e b r a n n t e n G e b ä u d e t e i l e n intakte Zeitzünder. Die Notwendigkeit einer eingehenden Vorbereitung des Brandes und eines zweckmäßigen Verhaltens nach dem Brand zur Sicherung des angestrebten Vorteiles führt dazu, daß der Eigenbrandstifter vielfach M i t s c h u l d i g e u n d Mitwisser hat. 27% der in Österreich wegen Versicherungsbetruges Verurteilten sind Mitschuldige. Der Fremdtäter geht hingegen vorwiegend als Einzelgänger ans Werk. Da nicht nur die durch ethische, biologische und soziale Unterschiede genährten Spannungen, sondern ganz allgemein jede affektive Ansprechbarkeit zur Wiederholung gegebener Konfliktssituationen und deren gleichartiger Lösung disponieren, findet man unter den Brandstiftern an fremder Sache eine erhöhte Zahl von Serient ä t e r n . Sie dürften für ein volles Drittel der nicht vom Eigentümer gelegten Brände verantwortlich sein. Der Serienbrandstifter verrät sich fast ausnahmslos durch eine stark ausgeprägte Verb r e c h e n s p e r s e v e r a n z . Die durch ihn verursachten Einzelbrände können ihre Zusammengehörigkeit in der Tatzeit, dem Angriffsobjekt, dem gewählten Brandausbruchsort, dem Anmarschweg des Täters, dem verwendeten Zündmittel und manchen anderen Begleiterscheinungen der Tat offenbaren. Während die Eigentümerbrandstiftung in allen Berufen und Lebensformen vorkommt, ist die Brandstiftung durch dritte Personen weitgehend auf das ländliche Milieu beschränkt. Dies hängt nicht nur damit zusammen, daß die ländliche Bauweise und die in den Ernteprodukten gegebene Anhäufung leicht brennbaren und unschwer zugänglichen Materials die Realisierung eines Brandstiftungsvorhabens begünstigt. Es ist auch weitgehend durch die Tatsache bedingt, daß die zur
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Brandstiftung
Brandlegung führenden Affekte in der engen Lebensgemeinschaft landwirtschaftlicher Arbeitsverhältnisse viel eher aufgestaut werden als im gewerblichen oder industriellen Betrieb, wo das Ende der Arbeitszeit zu einer faktischen Trennung der Lebenskreise von Dienstnehmer und Dienstgeber führt und meist auch eine Lösung vom Arbeitskameraden bringt. 4. Der Brandstifter und seine Motive Während man bei den Strafmündigen unschwer zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Brandverursachung unterscheiden kann, ist dies bei der Brandstiftung durch Kinder im Alter von unter 14 Jahren nicht immer möglich. Aus diesem Grund seien die K i n d e r b r a n d s t i f t u n g e n als eine Vorsatz und Fahrlässigkeit umfassende Gruppe den nach der Schuldform differenzierten Brandstiftungen der Strafmündigen gegenübergestellt. Etwa 3% aller Brandfälle und 15% des Gesamtbrandschadens sind auf Kinderbrandstiftungen zurückzuführen. Das Delikt wird in der deutschen Bundesrepublik zu 93%, in Österreich zu 91% von Knaben gesetzt, wobei in erster Linie die Freude am Zündeln und das Bestreben maßgebend ist, vor Gleichaltrigen zu zeigen, was man sich traut. Nur für etwa 18% der Fälle drängt sich die Vermutung eines bösen Vorsatzes auf. Die Täter stehen ganz vorwiegend im Alter von 10—13 Jahren. Knapp die Hälfte der Fälle ereignet sich im landwirtschaftlichen Milieu. Dort sind allerdings die Folgen der Tat, die sich oft in der Abgeschiedenheit der Tenne oder Scheune abspielt, meist verheerend. So kommt es, daß 98% des in Österreich durch Kinderbrandstiftung ver-
ursachten Schadens der Landwirtschaft zur Last fallen. Wie die j a h r e s z e i t l i c h e V e r t e i l u n g zeigt, ergibt sich für die Kinderbrandstiftung ein ausgeprägtes Maximum für die Monate März und April. Hierfür ist einerseits maßgebend, daß mit der Frühjahrsbestellung die Aufsicht über die Kinder nachläßt, während anderseits die wärmere Witterung nach den Monaten winterlicher Abgeschlossenheit die Kinder ins Freie lockt und im Zusammentreffen mit der Nachbarschaft sich so das bei der Mutprobe erwünschte Publikum von selbst einstellt. Das in den Monaten Oktober und November auftretende zweite Maximum wird vorwiegend durch Kinder gestellt, die im Rahmen der häuslichen Betätigung mit dem Einsetzen der Heizperiode verstärkt Gelegenheit zu einer fahrlässigen Verwahrung der Ofenasche finden. Die Prognose für die künftige Bewährung des Kinderbrandstifters ist im allgemeinen günstig. In der Bundesrepublik Deutschland sind 10,9%, in Österreich 16,8% der vorsätzlichen strafmündigen Bransdtifter w e i b l i c h e n G e s c h l e c h t s . Für Österreich ergibt sich die Möglichkeit einer Differenzierung zwischen Brandversicherungsbetrug und Brandstiftung aus anderen Motiven. Das weibliche Geschlecht ist hier am Versicherungsbetrug mit 21,4%, an den anderen Brandstiftungen mit 14,8% beteiligt. Da der Anteil der Frau an der Gesamtkriminalität in der Bundesrepublik bei 13,8% und in Österreich bei 16,3% liegt, ist somit die Frau am Versicherungsbetrug überdurchschnittlich, an den anderen Brandstiftungsfällen unterdurchschnittlich beteiligt. Diese Verschiedenheit ist darauf zurückzuführen, daß die Frau ganz allgemein weniger zur Aggres-
Brandstiftung und Jahreszeit, Österreich 1953—1963.
Monat
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Summe
Brandstiftung durch Kinder vorsätzlich und fahrlässig
Brandstiftung durch Strafmündige vorsätzlich Versicherungsbetrug
andere Motive
fahrlässig
7,3% 5,6% 11,5% 15,4% 10,4% 5,5% 5,4% 6,2% 9,0% 10,1% 7,8% 5,8%
7,1% 5,3% 10,3% 9,2% 10,6% 10,6% 6,6% 7,8% 9,6% 9,9% 6,4% 6,6%
8,0% 7,3% 7,7% 9,4% 9,6% 7,7% 6,8% 7,1% 10,2% 9,3% 10,0% 6,9%
10,3% 11,0% 11,0% 11,4% 7,8% 5,9% 5,5% 6,1% 6,3% 6,9% 7,8% 10,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
Brandstiftung sion neigt als der Mann, am Versicherungsbetrug des männlichen Familienangehörigen hingegen situationsgemäß häufig Anteil nimmt. Der V e r s i c h e r u n g s b e t r u g ist durchwegs klar motiviert und wird vorwiegend von männlichen Tätern im Alter von über 30 Jahren begangen. Diese sind meist unbescholten und zeigen weder körperlich noch geistig besondere Auffälligkeiten, bekunden aber gelegentlich selbst im primitiven Milieu eine erstaunliche Schläue. Im Vorleben des Versicherungsbetrügers findet man nicht selten Versicherungsfälle, die vermuten lassen, daß er sich schon früher, oft in einer anderen Sparte, als Versicherungsbetrüger erfolgreich betätigt hat. Für das Zustandekommen des Deliktes ist die Einstellung weiter Kreise zur Versicherung von entscheidender Bedeutung. Der Betrug an dem in der Versicherungsanstalt verkörperten anonymen Kapital wird vielfach nur für eine läßliche Sünde gehalten. In ländlichen Kreisen findet man nicht selten die Auffassung, daß eine lange Reihe von Jahren ohne Brandschaden geradezu das Recht auf den Eintritt des Versicherungsfalles schaffe. Der Versicherungsbetrug gilt in diesem Milieu als Kavaliersdelikt. Viel mannigfaltiger und unklarer ist die Motivation bei den B r a n d s t i f t u n g e n aus a n d e r e n B e w e g g r ü n d e n . Hier muß man vor allem bedenken, daß für das Zustandekommen des Deliktes nur selten ein einziger Beweggrund maßgebend ist, sondern oft eine Mehrzahl, über deren Natur und Beteiligung sich der Täter nur selten Rechenschaft gibt. Dazu kommt, daß der von zahlreichen Sensationen begleitete Brand ganz allgemein geeignet ist, starke affektive Spannungen zu lösen. Hierfür hat Gerle den Begriff der Entladungsreaktion geprägt, die nach seinen Beobachtungen in etwa 15% der Fälle zur Erklärung der Brandstiftung herangezogen werden muß. Endlich ist zu berücksichtigen, daß die Brandstiftung, da sie mit kleinen Mitteln eindrucksvolle Folgen auszulösen vermag, unter den Aggressionshandlungen Geisteskranker eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Auch in diesem Rahmen sind ihrer Zurückführbarkeit auf erkennbare Motive Grenzen gezogen. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich für den Untersucher daraus, daß der Motivationsprozeß bei der Brandstiftung aus „anderen Motiven" viel rascher als beim Versicherungsbetrüger verläuft. Im Gegensatz zu diesem sind Kurzschlußhandlungen bei der Brandstiftung aus anderen Motiven an der Tagesordnung. Von den nicht auf Versicherungsbetrug zurückzuführenden vorsätzlich herbeigeführten Bränden werden rund zwei Drittel aus Haß und Rache gelegt. In rund 10% war das Streben maßgebend, sich irgendwie hervorzutun, sei es beim Löschen, der Bergung gefährdeten Gutes oder der umsichtigen Alarmierung der Feuerwehr. Der Rest von rund 25% ist atypisch oder unklar motiviert.
101
H a ß u n d R a c h e ist bei Männern und Frauen in gleicher Häufigkeit als Motiv vertreten. Die den Affekt auslösenden Konflikte entstammen bei den Jugendlichen nahezu ausschließlich dem Arbeitsverhältnis, bei den Erwachsenen etwa zu einem Viertel den Arbeitsverhältnissen und in einem weiteren Viertel mterfamiliären, oft durch eine Erbschaft ausgelösten Auseinandersetzungen. Ein drittes Viertel ergibt sich aus Rivalitäten im Kampf um die Gunst eines Mädchens oder aus Zurücksetzungen in einem engeren, etwa durch den Besuch des gemeinsamen Wirtshauses oder Kirchweihfestes gekennzeichneten persönlichen Lebenskreis. Im letzten Viertel ist die Quelle des Hasses atypisch oder unbekannt. Die Brandstiftung als E n t l a d u n g s r e a k t i o n geht auf die verschiedensten Affekte, wie etwa Heimweh und viele andere vorwiegend emotionell getönte Konfliktssituationen zurück. Oft nimmt sie von einem unbefriedigten sexuellen Begehren ihren Ausgang. Wenn unter diesen Umständen mancher Sexualneurotiker im Genuß der durch seinen Brand ausgelösten Sensation den Orgasmus erlebt, so ist dies mehr eine Folge seiner Brandstiftung als deren Beweggrund. Auch sonst ist die beim g e i s t i g A b n o r m a l e n gelegentlich zu beobachtende Parallele zwischen Sexualdelikt und Brandstiftung nicht so sehr wechselseitig bedingt als die verschiedenartige Äußerung eines gemeinsamen Grundleidens. Das gilt vor allem für Schizophrenie und Oliophrenie. Zum Krankheitsbild der Schizophrenie gehört sowohl die in der Brandstiftung sich äußernde Aggressivität als auch die gesteigerte Sexualität. Die intellektuelle Unzulänglichkeit ist nicht nur die Quelle mannigfacher Zurücksetzungen, die ihrerseits der Ursprung von Haß und Rachegelüsten sein können, sondern auch ein beachtliches Hindernis in der Anbahnung sexueller Entspannungsmöglichkeiten. Die angedeuteten Zusammenhänge zwischen Brandstiftung und Sexualität treten mit zunehmender psychischer Normalität in den Hintergrund. Von den für zurechnungsfähig befundenen 634 Brandstiftern meines Materials waren 4% der Männer und keine einzige Frau wegen Sexualverbrechens vorbestraft. Es erscheint mir nicht notwendig, zur Erklärung dieses Phänomens die von Psychoanalyse und Individualpsychologie entwickelten Theorien heranzuziehen. In diesem Zusammenhang sei auch kurz erwähnt, daß die moderne Psychiatrie die Existenz eines eigenen B r a n d s t i f t u n g s t r i e b e s ablehnt, wie ihn der Begriff der Pyromanie voraussetzt. Zum Alter der in Österreich in den Jahren 1922— 1937 und 1946—1958 wegen Brandstiftung aus anderen Motiven Verurteilten siehe Tab. Seite 102. Aus der Verarbeitung von 603 gerichtlich wegen Brandstiftung „aus anderen Motiven" verurteilten Männern und 105 verurteilten Frauen
Brandstiftung
102
ergibt sich die folgende A l t e r s v e r t e i l u n g . Sie zeigt bei den Männern ein klar ausgeprägtes Maximum in den Jahren der höchsten Vitalität, während bei den Frauen eine eindeutige Kulminierung fehlt. Hierfür sind in erster Linie die aus einer sexuellen Enttäuschung entspringenden Affekte maßgebend. Die sexuelle Zurücksetzung wird umso tiefer gefühlt, je mehr sich die Frau dem Klimakterium nähert, mit dem dann das sexuelle Begehren als Konfliktsstoff im allgemeinen im Wegfall kommt. Alter 14—18 Jahre 19—23 „ 24—28 „ 29-33 „ 34—38 „ 39—43 „ 44—48 „ 49—53 „ 54—58 „ 59—63 „ 64—68 „ 69—73 „ 74—78 „ 79—83 „ Summe
Männer
Frauen
11,9% 21,9% 18,4% 11,6% 8,1% 7,1% 5,5% 5,5% 3,2% 2,6% 2,0% 1,5% 0,5% 0,2%
11,4% 9,5% 12,4% 14,3% 19,0% 11,4% 8,5% 4,8% 3,8% 1,0% 1,0% 1,9% 1,0%
100,0%
100,0%
Etwa ein Fünftel der vorsätzlichen Brandstifter aus „anderen Motiven" sind infolge von G e i s t e s k r a n k h e i t unzurechnungsfähig. Gerle kommt für Schweden auf Grund einer sorgfältigen Untersuchung zu einem höheren Anteil. In seinem Material befinden sich 30% Oligophrene, 24% Schizophrene, 14% Psychopathen, 6% Senile und nur 11% psychisch Normale. Ganz allgemein zeigt sich, daß die körperlichen und geistigen Gebrechen, insbesondere der Schwachsinn, den sozial Benachteiligten nicht nur häufiger das Opfer von Zurücksetzungen werden, sondern ihn auch schwerer eine sozial erträgliche Abreaktion der erlittenen Kränkung finden lassen. So kommt es bei ihm leicht zu Affektstauungen, die dazu führen können, daß ein verhältnismäßig kleiner Anlaß zu schweren, der unwissenden Umgebung unverständlichen Reaktionen führt (Explosivtäter). Wie bei allen Aggressionsdelikten, so spielt auch bei der Brandstiftung aus „anderen Motiven" der Alkohol als auslösende Ursache eine entscheidende Rolle. In mindestens einem Drittel aller Fälle handelt der Täter unter seinem maßgeblichen Einfluß. Auch die Brandstifter aus „anderen Motiven" zeigen keine auffällige Belastung durch V o r s t r a f e n . Eine Ausnahme stellen die Alkoholiker dar, die die für sie charakteristischen Vorstrafen wegen
gefährlicher Drohung, Raufhandel, Sachbeschädigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt aufweisen. Unter den Neurotikern findet man oft Landstreicher. Trotz der nicht unbedeutenden Rolle von Serientätern ist die Wahrscheinlichkeit eines R ü c k falles in die Brandstiftung nach verbüßter Strafe verhältnismäßig gering. Unter den von mir registrierten 603 Männern und 105 Frauen, die wegen Brandstiftung aus „anderen Motiven" verurteilt wurden, befanden sich 10 Männer und 1 Frau, die wegen Brandstiftung vorbestraft waren. Die f a h r l ä s s i g e B r a n d s t i f t u n g wird in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich in gleicher Weise zu 21% von Frauen begangen. Die über dem Durchschnitt hegende Beteiligung der Frauen an dieser Kriminalität ergibt sich durch die besondere Gelegenheit zur Fahrlässigkeit im Haushalt. An der fahrlässigen Brandstiftung der Frau ist das unachtsame Entleeren und Verwahren nachglühender Asche der Öfen und Herdfeuerungen, das Nahebringen von Wäsche und Kleidung an Heizstätten, das vergessene Abschalten von Bügeleisen und anderen elektrischen Wärmespendern entscheidend beteiligt. Die fahrlässige Brandstiftung des Mannes steht vorwiegend mit seiner Berufstätigkeit im Zusammenhang. Sie ergibt sich in erster Linie aus unsachgemäßer Anlage und Wartung von Feuerstätten, leichtfertigem Umgang mit Schweißgeräten, Lötapparaten und ähnlichen Geräten sowie aus einer sich oft im Pfuschertum äußernden Mißachtung der Gefahren des elektrischen Stromes. Dazu kommt noch eine nicht unbeträchtliche Zahl der durch Tabakraucher ausgelösten Brände. 5.
Brandermittlung
Unter Brandermittlung versteht man den Inbegriff aller zur F e s t s t e l l u n g der B r a n d u r s a c h e und der für sie Verantwortlichen getroffenen Maßnahmen. Sie liegt zur Zeit vorwiegend in den Händen von hierfür besonders geschulten Einheiten der Sicherheitsbehörde. Entscheidend für den Erfolg des Spezialbeamten ist aber nicht nur sein Eifer und seine Fähigkeit, sondern sehr wesentlich auch das sachgemäße Vorgehen der Ermittlungsbeamten des ersten Angriffes. Es bedarf daher einer eingehenden Schulung auch dieser für den ersten Angriff zuständigen Beamten der lokalen Sicherheitsbehörden. Da zur Beurteilung der Brandspuren eine Vielzahl chemisch-physikalischer und rein technischer Kenntnisse unerläßlich ist, wird die Brandermittlung heute vorwiegend von einem Team geleistet, dem nach Möglichkeit schon von Anbeginn die erforderlichen Sachverständigen angehören sollen. Die Brandermittlung zerfällt meist in folgende A b s c h n i t t e : a) Erstes Einschreiten an der
Brandstiftung Brandstätte durch die lokale Sicherheitsbehörde; b) Aufnahme des eigentlichen Ermittlungsverfahrens durch ein Team von besonders geschulten Beamten und Sachverständigen. Die Organe des e r s t e n E i n s c h r e i t e n s haben neben der Sicherung der durch den Brand gefährdeten Personen und des zu bergenden oder geborgenen Eigentums eine Reihe wichtiger Beobachtungen zu machen, die den später an der Brandstätte eintreffenden Spezialbeamten und Sachverständigen wertvolle Hinweise geben können. Das e i g e n t l i c h e E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n beginnt mit einer allgemeinen Orientierung über das Brandobjekt nach Lage und Gliederung und einer Prüfung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse, Bauzustände, Feuersicherheit usw. Diese allgemeine Orientierung soll nicht nur eine Übersicht über die möglichen Brandursachen und das Gebiet verschaffen, das später zur Ermittlung der Lage des Brandherdes und der Brandursache einer eingehenden Untersuchung bedarf. Die allgemeine Orientierung soll in den Fällen des Versicherungsbetruges schon die ersten Anhaltspunkte für eine Steuerung des Schadensverlaufes durch das Verbringen wertvoller Güter liefern und in den Fällen einer Brandstiftung aus anderen Motiven über bedeutsame Konfliktssituationen und Spannungen im Lebensbereich des Brandbetroffenen unterrichten. Der allgemeinen Orientierung über das Brandobjekt und den Brandbetroffenen folgt die Ermittlung der Lage des B r a n d h e r d e s . Nur wenn dieser feststeht, läßt sich im allgemeinen sagen, worauf das Feuer zurückzuführen war. Hierüber darf nicht die für das Gerichtsverfahren unerläßliche Beweissicherung vergessen werden. Erst wenn die Brandursache feststeht, kann erfolgversprechend die Suche nach dem für sie Verantwortlichen einsetzen. Zur Ermittlung der Lage des Brandherdes stehen im allgemeinen zwei Methoden zur Verfügung. In dem einen Fall handelt er sich darum, aus den objektiven B e g l e i t e r s c h e i n u n g e n des Anf a n g s b r a n d e s den Ausgangspunkt des Feuers zu erschließen und aus dem Verhalten der nach Brandentdeckung an der Brandstätte anwesenden Personen Aufschluß darüber zu gewinnen, aus welcher Richtung damals die für sie erkennbare Gefahr kam. Der zweite Weg besteht in der Rück Verfolgung des B r a n d verlauf es. Durch die Mehrheit dieser Ermittlungsmethoden gewinnt die Schlußfolgerung dann an Beweiswert, wenn sie unabhängig von der Methode immer wieder zum gleichen Ausgangspunkt führt. Steht einmal der Brandherd fest, dann kann die Ermittlung seiner Ursache wieder auf zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen in Angriff genommen werden. In dem einen Fall handelt es sich darum, von den an sich möglichen Brandursachen auszugehen und festzustellen, welche
103
von ihnen infolge der in concreto gegebenen Umstände für diesen Brand nicht in Frage kommen. Schon im Wege dieser Eliminationsmethode kann sich eine eindeutige Antwort ergeben. Abgesehen davon hinterlassen viele Brandursachen für sie c h a r a k t e r i s t i s c h e S p u r e n , die dem Fachkundigen wertvolle Aufschlüsse geben. Dies gilt ganz besonders für die vorsätzliche Brandstiftung, deren Zündmittel vor allem bei Verwendung von Zeitzündern fast immer Spuren zurücklassen, selbst dort, wo zur Tempierung des Brandausbruches eine einfache Kerze verwendet wurde. Da mit Ausnahme der kosmischen Einwirkungen so gut wie jede Brandursache vorsätzlich herbeigeführt werden kann, ist nach deren Ermittlung jeweils zu überprüfen, ob sie auf einem Zufall, auf einem fahrlässigen oder auf einem vorsätzlichen Gebaren beruht. So sei beispielsweise erwähnt, daß ein Versicherungsbetrüger das Drahtseil seines Blitzableiters knapp über der Erdung abgeschnitten und durch das Fenster in die Küche geführt hatte, wo er es in einem mit Benzin gefüllten Eimer enden ließ. Da ihm das Gewitter nicht den erhofften Gefallen tat, hat er dann allerdings mit einem Zündholz nachgeholfen. Viel häufiger sind schon brandauslösende Manipulationen an den Feuerstätten und ihrem Abzug sowie an den heute in fast jedem Gebäude vorhandenen elektrischen Anlagen und Einrichtungen. Das auf S. 104 gebrachte S c h e m a der B r a n d u r s a c h e n nennt daher nicht die Brandstiftung, sondern enthält nur die technischen Brandentstehungsmöglichkeiten. In diesem Rahmen scheint es nach jahrelanger Erfahrung vollständig zu sein. Bei der abschließenden V e r n e h m u n g des V e r d ä c h t i g e n ist zu berücksichtigen, daß die Geständnisbereitschaft des Versicherungsbetrügers an sich gering ist. Dazu kommt, daß der geständige Versicherungsbetrüger ganz besonders zum Widerruf seines Schuldbekenntnisses neigt, sobald ihm in der Abgeschiedenheit der Einzelhaft oder in der Aussprache mit den Zellengenossen klar wird, daß er im Falle der Verurteilung nicht nur eine Strafe erleidet, sondern auch alle Ansprüche auf die Versicherungsleistung verwirkt hat. Wird der Brandstifter aus anderen Motiven als Versicherungsbetrug schon bald nach der Tat ermittelt, dann ist unter dem Eindruck der affektiven Entspannung von ihm in der Mehrzahl der Fälle ein G e s t ä n d n i s zu erzielen. Wie bei jedem Affekttäter ist allerdings mit einem raschen Wechsel der Stimmung zu rechnen und damit die Gefahr eines Geständniswiderrufes völlig unabhängig von der Umwelt, in die er gebracht wird, sehr groß. Es muß daher in jedem Fall ganz besonders sorgfältig die Verifizierung des Geständnisses durch objektive Tatsachen in die Wege geleitet werden.
104
Brandstiftung
Abschließend sei folgendes Merkblatt für den Brandermittlungsbeamten wiedergegeben: E r s t e s E i n s c h r e i t e n an der B r a n d s t ä t t e . 1. Aufschreiben der Zeit des Eintreffens; 2. Besichtigung des brennenden Objektes und seiner Umgebung: a) Feststellung der Brandausbreitung, b) Beobachtung von Form und Farbe der Flammen und des Bauches, c) Feststellung der Wind- und Luftzugsverhältnisse, d) Beobachtung der anwesenden Personen: (1) Wer ist anwesend ? (2) Wessen Anwesenheit ist auffällig? (3) Wie sind die Anwesenden bekleidet ? (4) Welche Tätigkeit wurde von den Anwesenden entfaltet und wie ist ihr Gehaben ? e) Ermittlung der Zugänglichkeit des Brandobjektes ; 3. Besichtigung des geborgenen Gutes: a) Wo befindet sich das Bergegut ? b) Was wurde geborgen ? c) Welche Beschaffenheit zeigt das Bergegut ? 4. Aufnahme der ersten vorläufigen Ermittlungen: a) Wer hat das Feuer entdeckt ? b) Wann wurde es entdeckt ? c) Wieso wurde es entdeckt ? d) Wer veranlaßte die Alaimierung der Feuerwehr? e) Wann wurde sie veranlaßt ? f) Wann erhielt die Feuerwehr die Brandmeldung ? g) Von wem erhielt sie die Meldung ? h) Wann rückte sie aus ? i) Wann traf sie an der Brandstätte ein ? j) Wer weiß Bescheid über das Brandobjekt ? k) Wer war zuletzt im Brandobjekt ? 1) Wer hat das Bergungsgut in Sicherheit gebracht: (1) Woher hat er es genommen ? (2) Wohin hat er es gebracht ? Allgemeine G l i e d e r u n g des e i g e n t l i c h e n E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n s . 1. Allgemeine Orientierung über das Brandobjekt: a) Lage, Gliederung und zugehörige Objekte, b) wirtschaftliche Verhältnisse und Bauzustand, c) allgemeine Feuersicherheit; 2. Ermittlung der Lage des Brandherdes; 3. Beweissicherung; 4. Ermittlung der Brandursache; 6. Ermittlung des für sie Verantwortlichen. E r m i t t l u n g der Lage des B r a n d h e r d e s . A. Aufsuchen der Kennzeichen des Anfangsbrandes. 1. Objektive Anhaltspunkte: a) Schwelgasniederschläge,
b) Spannungsausfall in den einzelnen Stromkreisen, c) Zeichen der Bekämpfung eines Initialfeuers; 2. Subjektive Anhaltspunkte: a) Verhalten auf der Brandstätte, b) Bericht über die ergriffenen Lösch- und Bergungsmaßnahmen. B. Rückverfolgen des Brandverlaufes. 1. Objektive Merkmale der Brandausbreitung: a) Verlauf der Wärmeübertragung, b) Schichtung im Brandschutt, c) Befund am Bergungsgut; 2. Subjektive Angaben über den Brandverlauf: a) Aussage des Brandentdeckers, b) Aussage der von ihm benachrichtigten Person, c) Aussage der Löschkräfte, d) Aussage sonstiger Beobachter. Schema der B r a n d u r s a c h e n . A. Zündung durch Wärmeentstehung. 1. Elektrische Energie als Wärmequelle: a) Atmosphärische Elektrizität, b) Terrestrische Elektrizität: (1) Statische Elektrizität (Reibungselektrizität), (2) Dynamische Elektrizität (elektrischer Strom): aa) Widerstandswärme, bb) Unterbrechungsfunken und stehender Flammenbogen. 2. Kinetische Energie (Bewegung) als Wärmequelle : a) Kompression, b) Schlag, c) Reibung; 3. Molekulare Energie als Wärmequelle (Selbstentzündung) : a) Fermentation und Fäulnis, b) Adsorption, c) Oxydation, d) Reaktion. B. Zündung durch Wärmeübertragung. 1. Kosmische Einwirkungen: a) Sonnenstrahlen, b) Meteore und Meteorite; 2. Terrestrische Einwirkungen: a) Einschlag von Munition und Feuerwerkskörpern, b) Feuerstätten: (1) Mittelbare Zündung durch Wärmeleitung und Wärmestrahlung: aa) Infolge von Mängeln in Feuerstätte und Rauchabzug, bb) Durch Nahebringen oder Überhitzen brennbarer Stoffe, (2) Unmittelbare Zündung durch Glut oder Flammen: aa) Austreten von Glut und Flammen aus
Brandstiftung Feuerstätten oder Rauchabzug: Funkenflug, Schwelgasexplosion, Andere Fälle, bb) Eindringen brennbarer Stoffe in die Feuerung, c) Andere Wärmespender, d) Beleuchtungskörper: (1) Ortsfeste Beleuchtungskörper, (2) Ortsveränderliche Beleuchtungskörper, e) Entzündete, nachglühende und heiße Stoffe: (1) Brennstoffe und Zündmittel, (2) Glimmstoffe (Tabak), (3) Werkstoffe und deren Abfälle, f) Funkensprühende Arbeitsvorgänge, g) Explosionsmotoren, h) Offenes Feuer. 6. Bekämpfung der
Brandstiflungskrimimlität
Entscheidend für die B e k ä m p f u n g d e r B r a n d s t i f t u n g s k r i m i n a l i t ä t ist vor allem die erfolgreiche Brandermittlung. Nur dann, wenn man die Entstehungsursache des unbeabsichtigten Schadensfeuers kennt, kann man durch Aufklärung und besondere Schutzmaßnahmen der fahrlässigen Brandstiftung wirksam steuern. Dies wird zur Zeit in vorbildlicher Weise durch Brandverhütungsvorschriften und Merkblätter der Brandverhütungsstellen, Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsichtsämter besorgt, die auch durch Betriebsbesichtigung wirksame Brandvorbeugung leisten. Auf dem Gebiet des V e r s i c h e r u n g s b e t r u g e s hat die Ermittlung und Überführung des Täters eine generalpräventive Wirkung besonderer Art, weil die Unrechtsfolge sich bei diesem Delikt nicht in der Strafe erschöpft, sondern auch in dem Verlust des Ersatzanspruches besteht. Während die Umwelt die verbüßte Strafe des Nächsten bald vergißt, wird sie durch seine dauernde Unfähigkeit, in den alten Lebenskreis zurückzukehren, viel eindringlicher an sein böses Geschick erinnert. Bei verwirktem Anspruch auf die Versicherungsleistung fehlen im bäuerlichen Milieu fast immer die Mittel zum Wiederaufbau. So wird die verlassene Brandstätte und die kümmerliche Behelfsunterkunft zu einem nachhaltenden Menetekel. Bei der starken Emotionalität des B r a n d s t i f t e r s a u s „ a n d e r e n M o t i v e n " ist die generalprävenierende Wirkung der Strafdrohung ihm gegenüber vermutlich gering. Umso mehr hat die vollzogene Strafe spezialpräventive Aufgaben zu erfüllen. Bei der an sich hohen Strafdrohung übernimmt sie vielfach reine Sicherungsfunktionen. Das kommt auch in der Strafzumessungspraxis der Gerichte zum Ausdruck, wie die folgende Zusammenstellung zeigt.
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Die in den Jahren 1947—1958 in Österreich wegen Brandstiftung aus „anderen Motiven" als Versicherungsbetrug verhängten F r e i h e i t s s t r a f e n : Strafausmaß bis einschließlich 1 Jahr über 1 J. bis einschl. 2% J· über 2y 2 J . bis einschl. 5 J . über 5 J. bis einschl. 10 J. über 10 Jahre
Männer
Frauen
10,0% 21,8% 39,1% 21,8% 7,3%
27,0% 29,8% 27,0% 16,2%
Für die im S t r a f v o l l z u g gelegene Spezialprävention eröffnet sich vor allem in der Behandlung des Brandstifters aus „anderen Motiven" ein dankbares Betätigungsfeld. Hier ist es Aufgabe der Psychotherapie, die für die deliktsauslösenden Affektstörungen maßgebende Kontaktschwäche zu überwinden. Auf dem Gebiet des Versicherungsbetruges liegt eine sehr wichtige Präventivmaßnahme im privatwirtschaftlichen Bereich. Durch Vermeidung jeder Ü b e r v e r s i c h e r u n g wird ein höchst bedeutsamer Verbrechensanreiz aus der Welt geschafft. Die zur Fremdbrandstiftung führenden Konflikte können durch einen planmäßigen Abbau der sozialen Gegensätze und ein verständiges Eingehen auf die Nöte der vom Schicksal Benachteiligten reduziert werden. Monographien und Sammelwerke H. Gruhle: Säufer als Brandstifter. 1614. H. T ö b b e n : Beiträge zur Psychologie und Psychopathologie der Brandstifter. 1917 S. N e l k e n : Die Brandstiftung. 1925. H. W e c k : Brandstiftung und Brandversicherungsbetrug. 1926. F. Thier: Brandstiftung und Brandversicherungsbetrug und ihre Bekämpfung. 1926. R. G r a s s b e r g e r : Die Brandlegungskriminalität. 1928. O. V o g e l : Brandstiftung und ihre Bekämpfung. 1929. Κ. A. T r a m m : Brandstiftungen und Brandursachen. 2. Aufl. 1934. J. B r e i t : Brandnot und Wirtschaft, Sicherung und Versicherung in Tirol. 1934. H. H e n n e : Bilder von Brand- und Explosionsstätten und ihre Lehren. 2. Aufl. 1936. Ders.: Einführung in die Beurteilung der Gefahren bei der Feuerversicherung von Fabriken und gewerblichen Anlagen. 5. Aufl. 1937. H. S c h m e r l e r : Die Brandstiftungskriminalität im Landesgerichtsbezirk Gera. 1936. W. S p e c h t : Die naturwissenschaftliche Kriminalistik im Dienst der Brandermittlung. 1937. E. v o n S c h w a r t z : Brandursachen. 2. Aufl. 1937. H. L e v e c k e : Die Selbstentzündung von Fetten, ölen und Wachsen, ihre Verhütung und Ermittlung. 1939. W. K i s c h : Herbeiführung des Versicherungsfalles durch den gesetzlichen Vertreter des Versicherungsnehmers. 1939. B. Gerle: Mordbrännare. 1943. Kohr er: Unfalls Verhütung und Brandschadensbekämpfung in der Schweiz. 1946. F. M e i n e r t : Die Brandstiftung und ihre kriminalistische Erforschung. 1950. Schleswig-Holsteinische Landesbrandkasse: Fragen der Brandermittlung. 1951.
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Brandstiftung — Chemische Untersuchungsmethoden
Dies.: Beiträge zur Lehre von der Brandermittlung. 1952. A. C u e l e n a e r e : Essai d'une Bibliographie Europäern» de l'Incendie, en particulier de l'Incendie criminel. 1053. B a y r i s c h e V e r s i c h e r u n g s k a m m e r , Abteilung für Brandversicherung: Brandermittlung. 1Θ54. C. M ü l l e r : Die Feuerstättenschau. 1953. W. Geck: Zündfähige Industriestäube. 1954. D o r s c h und V a a s : Die praktische Brandermittlung. 4. Aufl. 1954. L. S c h e i c h l : Brandlehre und Chemischer Brandschutz. 1955. G. B e l m e r : Vorträge über Fragen der Brandermittlung. 1958. E. von S c h w a r t z : Handbuch der Feuer- und Explosionsgefahr. 5. Aufl. 1958. B u n d e s k r i m i n a l a m t W i e s b a d e n : Brandermittlung und Brandverhütung. 1962.
Zeitschrift enaufsätze Eine umfassende Zusammenstellung ist in der oben erwähnten Bibliographie von Cuelenaere und in der „Liste Trimestrlelle d'articles silectionis" enthalten, die seit 1960 als Beilage der RIPC erscheint und unter den Schlagwörtern Incendie und Psychiatrie mehr als 400 einschlägige Aufsätze anführt. Die seit I960 erscheinenden Excerpta Criminologica behandeln ebenfalls laufend die Brandstiftung. Arbeitematerial Jahresberichte der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie, Jahresberichte der BrandverhütungsstelJen. Polizeiliche KriminalstatiBtik. ROLAND GRASSBERGER
c CHEMISCHE UNTEBSUCHUNGSMETHODEN Chemische Untersuchungen spielen in der forensischen Praxis bei der Klärung von Einzelfragen und der Bewertung von Spurenkomplexen im Rahmen naturwissenschaftlich-kriminalistischer Beweisführungen seit je eine wesentliche Rolle. Chemische Analysenbefunde tragen nämlich im allgemeinen wie oft auch sehr im speziellen zur Aufhellung des objektiven Tatbestandes bei, indem sie die vom Staatsanwalt, Richter oder Polizeibeamten getroffenen Tatortfeststellungen und die Ergebnisse von Zeugenbekundungen beweisträchtig ergänzen oder sogar die Indizienkette schließen. Gelegentlich waren aber auch auf dem Ermittlungswege bereits scheinbar geklärte Tatbestände durch die chemische Untersuchung von Asservaten zu korrigieren, indem sich neue, bis dahin unberücksichtigt gebliebene Fahndungswege abzeichneten oder sich Schuldausschließungsmomente ergaben (Vergiftungen, Brandursachenermittlung u. a.). Die besondere Bedeutung chemischer Untersuchungen erhellt ferner aus der Tatsache, daß bei rechtzeitigem Einsatz durch gezielte Anwendung dieser Methoden und bei kritischer Auswertung der Analysenergebnisse fallweise auch die Person des Täters erkannt werden kann. Man denke an die Auffindung von Giftspuren in Kleiderstaub und -schmutz (Taschen, Hosenaufschläge, auch Fingernagelschmutz), von Brandmittelspuren an der Kleidung Verdächtiger, von Fangstoffspuren an Händen, Gesichtshaut, Schuhsohlen, Berufskleiderstaub und dergl. Möglichkeiten mehr. Die klassischen Untersuchungsmethoden der gerichtlichen Chemie haben nach wie vor Gültigkeit; indessen reichen diese allein ζ. B. auf dem Gebiet der Gift- und Brandmittelnachweise sowie
bei chemischen Untersuchungen von Urkunden auf Grund der Weiterentwicklung hinsichtlich der Bearbeitung spezifischer Fragestellungen wie Nachweis von Materialbeziehungen, der Materialherkunft, der Prüfung des Alters im Rahmen des Kausalitätsbeweises für die forensische Praxis nicht mehr aus. Bestehende Nachweis- und Identifizierungsmethoden wurden daher in den vergangenen Jahrzehnten verfeinert bzw. spezifiziert, zahlreiche neue Methoden und Meßtechniken unter Zuhilfenahme diffizilster chemischer und physikalischer Apparaturen geschaffen, deren Beherrschung heute Voraussetzung für die Tätigkeit des Gerichtschemikers geworden ist. Auf dem Gebiet der Spurenexpertise schlechthin, die in allen Sparten gerichtlich-chemischer Untersuchungen eine überragende Rolle spielt, vor allem bei der Identifizierung gegebener oder erst auszumittelnder Substanzspuren, bei der Vergleichung der Stoffeigenschaften von Beweis- und Vergleichungsmaterial, etwa mit dem Ziel des Nachweises gleicher Herkunft und in diesem Zusammenhang der Identifizierung zweier oder mehrerer Proben im Sinne des Nachweises des Tatzusammenhanges, aber auch bei der Feststellung, daß sich Stoffe voneinander unterscheiden, vermögen Makromethoden, die oft nur eine art- oder gruppencharakteristische Kennzeichnung zulassen, in aller Regel die Fragestellungen nicht zu klären. Selbst die gängigen m i k r o c h e m i s c h e n A n a l y s e n m e t h o d e n , deren Wert in Einzeloder Spezialfällen unstreitig ist, werden gemeinhin den spurenkundlich-kriminalistischen Erfordernissen allein nicht mehr gerecht. Zudem werden die meist nur geringfügigen Proben durch solche Reaktionen verbraucht, so daß die Möglichkeit entfällt, eine möglichst große Anzahl charakteristischer Materialeigenschaften durch substanzerhaltende Methoden zu ermitteln.
Chemische Untersuchungsmethoden Die modernen Verfahren sind dadurch gekennzeichnet, daß man zunächst bestrebt ist, zerstörungsfrei zu arbeiten; d. h. man bedient sich bei den Untersuchungen gemeinhin unter Substanzerhaltung immer mehr p h y s i k a l i s c h chemischer u n d p h y s i k a l i s c h e r Methoden. Man untersucht beispielsweise das optische Verhalten der Stoffe bzw. deren Schwingungszustände beim Durchgang elektromagnetischer Schwingungen verschiedenster Wellenlängen und gelangt auf diesen Untersuchungswegen zu Meßergebnissen, die im angestrebten Sinne sicher auswertbar sind, indem sie maßgeblich zur Charakterisierung unbekannter Substanzen beitragen oder fallweise sogar schon deren Identifizierung ermöglichen. Je nachdem ob Elektronen oder Moleküle angeregt werden, ob Licht kleiner und kleinster Wellenlängen (Röntgenstrahlen) von kleinsten Bausteinen der Materie absorbiert oder gebeugt wird, lassen sich die Untersuchungen je nach Wahl der Methode im ultravioletten Bereich emissions-, a b s o r p t i o n s s p e k t r ο g r a p h i s c h (qualitativ und quantitativ) oder r ö n t g e n f e i n s t r u k t u r a n a l y t i s c h durchführen. In letzter Zeit bedient man sich mit wachsendem Erfolg auch der I n f r a r o t s p e k t r o g r a p h i e . Der Bereich der infraroten Strahlen ist umso bedeutungsvoller, als man sich beim Durchgang dieser Strahlung durch Materie Kenntnisse vom Molekülaufbau verschaffen kann. Jede chemische Verbindung besitzt bei bestimmten Wellenlängen charakteristische Absorptionsbanden (Schwingungsspektren), aus denen die BindungsVerhältnisse eines Moleküls und dessen Struktur hervorgehen. Das Infrarotspektrum ist durch die Feststellung funktioneller Gruppen und struktureller Bindungen in organischen Substanzen ein unentbehrliches Identifizierungshilfsmittel geworden. Bei der Vergleichung des IR-Spektrums einer fraglichen Substanz — etwa eines ausgemittelten Benzinrestes — mit dem einer entsprechenden Originalprobe aus dem Besitz eines Verdächtigen kann man im Falle der Übereinstimmung der Spektren, die sich aus Intensität und spektraler Lage meist einer größeren Anzahl scharfer Absorptionsbanden ergibt, nicht nur das Brandmittel seiner Konstitution nach kennzeichnen, sondern auch — genügende Reinheit des Flüssigkeitsrestes vorausgesetzt — dessen Herkunft nahelegen oder beweisen. Insofern werden die bislang geübten Untersuchungsmethoden (Bestimmung des Siedepunktes, der Dichte, des Brechungsindex, der elementaren Zusammensetzung einer Brandstiftungsflüssigkeit), die zu verhältnismäßig nur wenig spezifischen Kennzahlen führen, entscheidend ergänzt, — wie das Bestreben des Untersuchers ja stets darauf gerichtet sein muß, auch geringe Substanzmengen tunlich durch Schaffung einer Vielzahl unzweideutiger Analysenergebnisse und Meßwerte diagnostisch zu sichern.
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Starre Untersuchungsschemata sind für die Spurenanalyse im allgemeinen nicht festzulegen. Aus der Reihe der der Eigenart des Untersuchungsobjektes entsprechenden Untersuchungsmethoden, deren wissenschaftliche Genauigkeit gesichert und deren forensische Anwendbarkeit im Hinblick auf das zu erwartende Analysenergebnis — in Relation zur vorhandenen Substanzmenge — bestätigt und anerkannt sein muß, wird der erfahrene Experte im konkreten Falle Prüfverfahren und Reihenfolge so wählen, daß Bewertung und Auswertung möglichst reichhaltiger Detailbefunde von breiter Basis aus erfolgen können. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn Spurenvergleichungen vorzunehmen sind, wobei aus den hier wie da aufgestellten Merkmalskomplexen die jeweiligen „ L e i t e l e m e n t e " als signifikant und daher beweiskräftig zu ermitteln sind. Der Gutachter tut daher gut daran, seine Aufmerksamkeit schon bei den Untersuchungen am Tatort, aber auch nicht minder noch im Laboratorium auf die Auffindung solcher Spuren zu richten, die den Fall individuell kennzeichnen. Auf den zu leistenden Untersuchungsaufwand und die stets besonderen Schwierigkeiten, die die chemische Analyse von Relikten weitverbreiteter Massenfabrikate wie Lacksplitter, Farbspuren, Reifengummi, Kunststoffe, Legierungsmetalle, Glasteilchen u. a. bietet, sei hingewiesen. Die Untersuchung von Lacksplittern oder Farbabstreifungen, wie sie bei Verkehrsunfällen in der Regel als wichtige Asservate anfallen, erstrecken sich nicht nur auf den anorganischen Festkörper (Pigmente und Füllmittel), sondern auch auf das Bindemittel und weitere Ausrüstungsbestandteile (Emulgatoren, Verdickungsmittel, Weichmacher, Sikkative, Farbstoffe u. a.). Dementsprechend ist die anzuwendende Untersuchungsmethodik reichhaltig, die Identifizierung mit den herkömmlichen Analysenverfahren aber kaum, zumindest nicht vollgültig, zu ermöglichen, indessen mit den modernen analytischen Hilfsmitteln sehr wohl erreichbar. Oberflächen- und Schichtstruktur, Gefüge und Textur der Festkörper werden auf licht- und elektronenmikroskopischem Wege untersucht. Röntgenfeinstrukturaufnahmen geben Aufschluß über Mischungsverhältnisse von Pigment- und Füllstoffen, Polymorphie, Korngrößen, Änderung von Gitterkonstanten. Der Nachweis der Spurenelemente und der quantitativen Zusammenhänge wird spektrochemisch geführt. Zur Untersuchimg des Bindemittels werden — abgesehen von mikroskopischen Prüfungen — spektrophotometrische Messungen (numerische Auswertung der Absorption bei 200 m μ—1 μ) und die Infrarotspektrographie (1—15 μ) genützt. Durch die Methode der Pyrolyse schließlich werden die im Verlauf der thermischen Zersetzung aus dem Bindemittel entstehenden Substanzen mikro-
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Chemische Untersuchungsmethoden
skopisch und erforderlichenfalls durch sehr empfindliche mikrochemische Reaktionen ermittelt. Für die Lösung solcher und ähnlicher diffiziler wie stets zeitraubender Aufgaben, die recht häufig gestellt sind, ist Voraussetzung, daß der gerichtschemische Analytiker seine Untersuchungskonzeption von vornherein auf methodische Mikromaßstäbe konzentriert; denn nur in ganz seltenen Fällen gelingt es, den Identitätsnachweis von Spuren etwa durch Auffinden von sogen. Paßstellen an Tatortmaterialien (also auf rein spurenkundlichem Untersuchungswege) zu führen. Ganz besondere Vorzüge für forensisch-chemische Untersuchungen bieten die c h r o m a t o g r a p h i s c h e n A r b e i t s v e r f a h r e n , die nach einer Entwicklungszeit von einem halben Jahrhundert zur Anwendungsreife nicht nur auf gefärbte, sondern auch auf ungefärbte Stoffe ausgebaut worden sind. Der Wert der Chromatographie wird daraus ersichtlich, daß selbst komplizierte Gemische chemisch verwandter Stoffe, die sonst einer Trennung nur schwer oder überhaupt nicht zugänglich sind, zerlegt werden können. Die P a p i c r c h r o m a t o g r a p h i e erschließt zudem die Chance, solche Trennungen selbst mit sehr kleinen Mengen durchzuführen. Sie ist daher ein wichtiges Hilfsmittel zur Erschließung wegweisender Erkenntnisse geworden, die in solcher Klarheit auf einem anderen chemischen Untersuchungswege wohl nicht zu erlangen sind. Es wird nur auf die Untersuchung von Schriftfälschungen verwiesen, bei denen mit winzigen Mengen vergleichende Untersuchungen von Schreibstoffen vorgenommen werden müssen, oder an die Trennung von Spuren organischer Giftstoffe auf dem chemisch-toxikologischen Sektor. Bei allen chromatographischen Verfahren sind Adsorptions-, Verteilungs- oder Austauschkräfte wirksam, oft alle drei zusammen. Unter S ä u l e n c h r o m a t o g r a p h i e als analytischer Arbeitsmethode, bei der das in einem geeigneten Lösungsmittel gelöste und zu analysierende Substanzgemisch ein mit Adsorbentien (Aluminiumoxyd, Kieselgel, Cellulosepulver u. a.) gefülltes Glasrohr passiert, faßt man die Adsorptions-, Verteilungs- und Austauschchromatographie zusammen. Bei der vorwiegend auf dem Verteilungsverfahren beruhenden Papierchromatographie, die auf-, absteigend, ein- und zweidimensional, als Ring- oder Rundfilterchromatographie durchgeführt werden kann, dienen Filterpapiere bestimmter Qualität als Träger für die bewegliche Phase und das bewegliche Lösungsmittel, das durch die Kapillarkräfte weitergetrieben wird. Ein Vorzug der Papierchromatographie vor der Verteilungschromatographie nach dem Säulenverfahren besteht darin, daß für analytische Trennungen äußerst geringe Substanzmengen genügen (im allgemeinen 10 bis 50 /ig einer Kompo-
nente, aber auch noch Bruchteile eines μξ erfaßbar; l / u g = 1 millionstel Gramm = 1 Gamma). Die Trennung des Stoffgemisches in seine Bestandteile, das „Chromatographieren" bzw. „Entwickeln", erfolgt nach bekannten Gesetzmäßigkeiten mit erstaunlicher Schärfe gemäß der verschieden großen Wanderungsgeschwindigkeit der Komponenten, d. h. deren unterschiedlichem Lösungsvermögen in der mobilen und stationären Phase. Die Wanderstrecke eines Stoffes vom Startpunkt aus in einem bestimmten Fließmittel, die leicht ausgemessen werden kann, wird zu einem wesentlichen Charakteristikum für den betreffenden Stoff, wenn diese Strecke zur Wanderstrecke des Fließmittels in Beziehung gesetzt wird. Je nach der Art der chromatographierten Stoffe sind die erhaltenen Substanzflecke (oder Zonen) gefärbt oder ungefärbt. Letztere lokalisiert man auf dem Chromatogramm gegebenenfalls im filtrierten Ultraviolettlicht (bei Wellenlängen von 254 und 366 πιμ) auf Grund charakteristischer Fluorescenzerscheinungen oder man macht sie — was meist erforderlich ist — durch chemische Farbreaktionen sichtbar (Tauchmethode, Sprühverfahren). Die Anfärbereagentien reagieren häufig spezifisch auf bestimmte chemische Gruppen; die erzeugten Färbungen sind sonach mehr oder weniger charakteristisch und werden bei Tagesoder im ultravioletten Licht beobachtet. Zwecks Erleichterung und Sicherstellung der Identifizierung der in einem Flecken vorliegenden Substanz läßt man jeweils die Vergleichssubstanz im Chromatogramm mitlaufen, ermittelt und vergleicht den R p - W e r t letzterer und der Untersuchungssubstanz (Verhältnis der Wegstrecke Startpunkt-Fleckmittelpunkt zur Wegstrecke Startpunkt-Fließmittelpunkt). Wegen der stets längeren Wegstrecke des Fließmittels ist der RpWert immer kleiner als 1; er ist für jede Verbindung eine reproduzierbare (konstante) Größe, sofern sorgfältig auf gleiche Versuchsbedingungen (u. a. Klimatisierung) bei den Analysen geachtet wird. Auch die quantitative Auswertung von Papierchromatogrammen ist möglich durch direkte photometrische Bestimmung der Flecke im Densitometer oder durch kolorimetrische, spektrophotometrische und fluorescenzphotometrische Bestimmung der aus dem Fleck eluierten Substanz. Ergänzungen der Säulen- und Papierchromatographie stellen die D ü n n s c h i c h t - und die Gasc h r o m a t o g r a p h i e dar. Bei letzterer Methode, die zur Analyse von Gasen und Flüssigkeiten (mit Siedepunkten bis etwa 350° C) dient, erfolgt die Trennung der Komponenten über Adsorberstoffe (Kieselgur, -gel, Aktivkohle, Aluminiumoxyd) in Röhren durch Inertgas (Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenoxyd usw.) infolge verschiedener Passagegeschwindigkeit der Teile des Substanzgemisches, die am Kolonnenkopf fraktioniert, mit physika-
Chemische Untersuchungsmethoden lischen Methoden (ζ. B. Wärmeleitfähigkeit, infrarotspektrographisch) nachgewiesen und automatisch in Kurven quantitativ aufgezeichnet werden. Zur Analyse reichen schon Flüssigkeitsmengen von einigen mm3 aus! Als Ergänzung der Papierchromatographie wird in der analytischen Praxis besonders der Schreibstoffanalyse oft auch die elektrophoretische (und ionometrische) Arbeitsweise auf Papier herangezogen. Unter E l e k t r o p h o r e s e versteht man den Transport großer Molekeln, unter Ionophorese den von Ionen im elektrischen Feld. Die an die Elektroden angelegten Spannungen betragen 110 bis 220 Volt, sie können aber auch auf 500 Volt ansteigen, während die Stromstärke des elektrischen Feldes auf 0,5 bis 1 Milliampfcre gehalten wird. Die Auswertung der Elektropherogramme erfolgt nach den Prinzipien derjenigen der Papierchromatogramme. Es zeichnen sich auch in der gerichtlichen Chemie bereits Entwicklungen ab, den chromatographisch zu trennenden farblosen Substanzen kleine Mengen von radioaktiven Indikatoren beizumischen, die auf Grund ihrer Strahlung die Bestimmung der in Flecken oder Zonen angesammelten Substanzanteile erleichtern und wesentlich verschärfen. Man kann die von den einzelnen Papierzonen ausgehenden radioaktiven Strahlungen mit Zählrohren, Nebelkammern u. a. feststellen oder auf photographischem Wege nach Art a u t o r a d i o g r a p h i s c h e r M e t h o d i k ermitteln. Nichts steht ferner dem Gedanken im Wege, daß auch die N e u t r o n e n a k t i v i e r u n g s a n a l y s e u. a. zum quantitativen Nachweis geringster Spuren gewisser Metallgifte und zur Feststellung von deren Verteilung in geeigneten Substraten (ζ. B. Haaren) herangezogen wird. Dabei wird die Gegenwart eines Elements dadurch nachgewiesen, daß aus ihm bei Beschüß mit geeigneten Elementarteilchen (im Reaktor durch thermische Neutronen) durch eine Kernreaktion ein Radioelement entsteht, dessen spezifischer Nachweis und mengenmäßige Bestimmung hinsichtlich Genauigkeit und Empfindlichkeit dominieren dürften. Die nur kurz und daher keineswegs vollständig skizzierte Entwicklung führte in den letzten Jahrzehnten zur Vervollkommnung, ja Vollkommenheit in der Untersuchungstechnik forensischchemischer Asservate, ohne die im Hinblick auf die Ausweitung und Vielgestaltigkeit der Aufgabenstellungen die verantwortungsvolle Gutachtertätigkeit des Gerichtschemikers nicht mehr vorstellbar ist. Bei den anzuwendenden physikalischen und physikalisch-chemischen Untersuchungsmethoden handelt es sich um anerkannte Präzisionsverfahren und moderne unerläßliche Hilfsmittel der Forschung und Betriebsanalyse, die die Erreichung der hohen Empfindlichkeitsanforderungen, die an gerichtschemische Nach-
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weise von Fall zu Fall gestellt werden können, gewährleisten und eine Materialbestimmung an Spuren sowie deren Identifizierung überhaupt erst ermöglichen. Die Ergebnisse beispielsweise der Spektral- und Röntgenfeinstrukturanalysen werden von den unbestechlichen Augen der Geräte latent photographisch fixiert, Ultraviolett- und Infrarotabsorptionen in ihren Kurvenverläufen vollautomatisch von den Meßapparaturen aufgezeichnet, so daß das Einschieichen subjektiver Fehlermöglichkeiten bei der Erhebung von Befunden eliminiert ist. Der Untersucher verfügt sonach in den Photo- und Diagrammen über Analysenbelege, denen im erweiterten Sinne der Charakter von corpora delicti zukommt. Der Gerichtschemiker weiß die Schärfe der modernen Untersuchungsmethoden wohl zu schätzen, ist sich aber auch der kritischen Maßstäbe bewußt, die im Interesse der Rechtssicherheit an die Bewertung der aus der Mikro-, wenn nicht Submikrosphäre erhobenen Befunde anzulegen sind. Die übermäßige Verschärfung der Ausmittelung und des Nachweises etwa einer Spur eines flüssigen Brandmittels muß nämlich nicht immer das Wünschenswerteste darstellen; denn die mühevolle Identifizierung einer Brandmittelspur erscheint nur dann sinnvoll und nützlich, wenn zugleich festgestellt werden kann, daß jede Möglichkeit einer natürlichen Entstehung durch Schwelung oder Crackung ausscheidet. Dies gilt sinngemäß auch für andere Asservate. Aus praktischer forensischer Sicht und Erfahrung wird man die makrochemischen Untersuchungsmethoden — soweit deren Durchführung möglich und vom Objekt her gesehen angezeigt ist — nach wie vor bevorzugt anwenden, sich aber zugleich auch naturwissenschaftlich-kriminalistischer Konzeption gemäß die volle Nutzung der modernen Methoden der physikalischen Chemie angelegen sein lassen. Auf dem Gebiet der Spurenexpertise, auf dem Makromethoden versagen müssen, sind die speziellen Methoden das unerläßliche Rüstzeug des Experten für die Laboratoriumsuntersuchungen geworden. 1. a) Die erste Anwendung chemischer Untersuchungsmethoden in forensischen Fällen war wohl der analytische N a c h w e i s von G i f t e n bei V e r g i f t u n g s v e r d a c h t . Die t o x i k o l o g i s c h - c h e m i s c h e A n a l y s e hat zur Wirkung des Giftes keine Aussage zu machen, sondern nur die Fremdsubstanzen — ob Gift oder Medikament — in einschlägigen Asservaten nachzuweisen bzw. in Substanz auszumitteln, diese zu identifizieren und quantitativ zu bestimmen. Bei vielen Vergiftungen mit tödlichem Ausgang ist der Sektionsbefund völlig negativ oder uncharakteristisch. Obwohl die Praxis lehrt, daß sich der erfahrene Gerichtsmediziner dennoch aus den Sektionsbefunden unter gleichzeitiger Berück-
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sichtigung von Ermittlungsergebnissen ein ungefähres Bild darüber machen kann, ob überhaupt eine und gegebenenfalls welche Vergiftung in Frage kommen könnte, ist der Giftnachweis mit chemischen, physikalischen und pharmakologischen (biologischen) Methoden an dem bei der Sektion entnommenen Material (mit Ausdehnung auf Asservate wie Gefäße, Speisen und Getränke, in denen dem Verstorbenen das Gift beigebracht sein kann, sowie auf Erbrochenes, Kot, Harn, Harnflecke im Bettlaken, auf Unterwäsche schlechthin, sofern vorhanden) der einzige Beweis, der die Kette der Verdachtsmomente mit der Diagnose „Tod durch Vergiftung" zu schließen vermag. Ein negativer toxikologisch-chemischer Befund spricht nicht immer gegen das Vorliegen einer Vergiftung; denn es gibt Gifte, die sich dem Nachweis sehr schnell entziehen (Blausäure, Cyanide, Phosphor, einige Alkaloide, gewisse Schlafmittel), die andererseits bis zum Tode bereits ausgeschieden sind oder (vorwiegend im Falle leicht spaltbarer organischer Verbindungen) bis dahin bereits abgebaut und postmortal bis zum Zeitpunkt der chemischen Untersuchung durch Fäulnisprozesse zu nicht hinreichend mehr definierbaren, auch uncharakteristischen Substanzen zersetzt wurden. Solche Überlegungen haben insbesondere auch bei der Analyse exhumierter Leichenteile Platz zu greifen, sieht man von der langjährigen Erhaltung der Metalle giftiger Metallverbindungen ab, deren Nachweis bei ungestörter Lagerung des Leichnams in rezenten Fällen, u. U. aber auch noch nach Hunderten von Jahren, zu führen ist (Knochen, Haare, Finger- und Zehennägel, Zähne, Erdreich unterhalb des Sarges u. a.). Es erwies sich gelegentlich als nützlich, wenn der Gerichtschemiker beim Vorliegen von Giftverdacht bei der Sektion und der Exhumierung zugegen war. Zumindest ist ein enger Gedankenaustausch zwischen Gerichtsmediziner und -Chemiker bei der Bearbeitung von Vergiftungsfällen unerläßlich. Der Chemiker kann nämlich vor Beginn seiner Untersuchungen auf Hinweise des Arztes nicht verzichten, auf welche Gifte und in welchen Organen oder Körperflüssigkeiten (auch Injektionsstellen) auf solche im konkreten Falle vorzugsweise zu prüfen ist. Ein Auftrag, irgendwelche, bisweilen noch in geringer Menge eingesandte Organe oder nur Teile sonstiger verdächtiger Proben auf alle nur denkbaren Gifte zu untersuchen, kann in aller Regel nicht befriedigend bearbeitet werden. Vor Inangriffnahme der Untersuchungen hat sich auch der Gerichtschemiker im allgemeinen Kenntnis vom gesamten Akteninhalt zu verschaffen, nicht zuletzt um Klarheit darüber zu erhalten, ob vor dem Tode noch medikamentöse Maßnahmen getroffen, Antidota verabfolgt waren, Magenausheberung oder Blutübertragung stattgefunden hatten, Feststellungen, die auf die Be-
wertung von Untersuchungsergebnissen von nicht unerheblichem Einfluß sein können. b) Die Untersuchung beginnt mit baldigst vorzunehmenden V o r p r o b e n : Geruchsprüfung an der Leiche (auch im Raum, in dem die Leiche gefunden worden war), während der Sektion vor allem bei Eröffnung des Magens, des Schädels, aber auch später noch bei Öffnung der Asservatengläser. Blausäure kann sich durch den kennzeichnenden Bittermandelgeruch verraten, ebenso Carbolsäure, Lysol, Nitrobenzol, Ε 605, Metallphosphide (knoblauchartiger Geruch), Benzin- und Benzolkohlenwasserstoffe, chlorierte Kohlenwasserstoffe (Chloroform, Tetrachlorkohlenstoff, Trichloraethylen), Aether, Spirituosen u. a. Makrochemische Vorproben (ζ. B. auf Phosphor, Blausäure) sind heute durch wesentlich empfindlichere, dazu spezifische Spezialprüfungen im Mikromaßstab abgelöst (noch 0,13 Gamma Cyan-Ionen aus Cyankali erfaßbar). Sehr empfindlich arbeitet auch das handliche, zur Spurensicherung taugliche, vielseitig einsetzbare DrägerGasspürgerät. Die in auswechselbaren Prüfröhrchen befindlichen Farbreagentien sprechen auf die jeweils zu messenden Gase oder Dämpfe giftwirksamer Substanzen weitgehend spezifisch an, ermöglichen Konzentrationsbestimmungen und gestatten orientierende Vorprüfungen am Tatort, bei der Sektion und im Laboratorium. Informatorisch läßt sich mit einem Taschenspektroskop bereits im Sektionssaal ein höherer Grad der Sättigung des Blutes mit Kohlenoxyd ermitteln. Bisweilen finden sich — oft schon makroskopisch erkennbar — im Mageninhalt auffallende Bestandteile (Tablettenreste, Pilzstücke, Drogenbestandteile u. a.), die sorgfältig zur näheren Untersuchung separiert werden. Solche vorläufig erhobenen Befunde bedürfen in jedem Falle der eingehenden chemischen, physikalisch-chemischen, pharmakognostischen Nachprüfung. c) Nach ihrem chemisch-analytischen Verhalten lassen sich fast alle bekannteren Gifte und stark wirkenden Arzneistoffe in folgende G r u p p e n einreihen: I. Stoffe, die sich als solche oder in charakteristischen Spaltprodukten mit Wasserdampf aus neutralem oder angesäuertem Ansatz abdestillieren lassen (flüchtige Gifte). II. Organische nicht flüchtige Stoffe, die dem Untersuchungsmaterial durch Erhitzen mit weinsäurehaltigem Alkohol entzogen und nach einem komplizierten Verfahren der Reinigung von Eiweißstoffen, Albumosen, Fett, harzigen Stoffen und von Farbstoffen im Analysengang von Stas-Otto durch Extraktion mit Aether und Chloroform ihren chemischen Eigenschaften gemäß entweder aus saurer, wäßrig alkalischer und der mit Ammoniak alkalisch gemachten Analysenlösung ausgemittelt werden. Hierher gehören synthetische organische Arzneistoffe (zahlreiche Schlaf-, Kopf-
Chemische Untersuchungsmethoden schmerz- und andere häufig angewandte Heilmittel), die stark wirkenden Alkaloide sowie verschiedene Glukoside. III. Alle metallischen Gifte. Zu deren Nachweis werden die Leichenteile, Lebensmittel oder sonstigen Substrate zunächst mineralisiert, d. h. die organischen Bestandteile werden nach einschlägigen Methoden zerstört. Die restierenden Metallsalzlösungen werden der Analyse zugeführt. IV. Giftstoffe, die sich auf Grund abweichender Löslichkeitsverhältnisse und sonstiger Eigenschaften nicht nach den Verfahrensgängen I—III ermitteln lassen, beispielsweise starke Säuren (Salz-, Salpeter-, Schwefelsäure), Oxalsäure und deren saures Kaliumsalz (Kleesalz), Fluoride, Silicofluoride, starke Alkalien (Ätzkali, -natron, Ammoniak), Kaliumchlorat und nicht zuletzt Kohlenoxyd. Zu dieser Reihe gehören auch einige stark wirkende Arzneimittel, deren Isolierung besondere analytische Maßnahmen erfordert (ζ. B. Aconitin, Johimbin, Digitalisglukoside, Saponine, Solanin, Mutterkornalkaloide, künstliche Kokainersatzmittel wie Novocain, Pantocain, Suprarenin usw.) Die toxikologische Analyse zerfällt sonach in drei Hauptabschnitte, von denen jeder einen besonderen chemischen Untersuchungsgang notwendig macht, denen sich erforderlichenfalls noch besondere Prüfungsverfahren des ursprünglichen Untersuchungsmaterials anschließen müssen.Toxikologisch-chemische Untersuchungen gestalten sich daher, sofern nicht ein begründeter definierter Giftverdacht vorliegt, stets sehr zeitraubend. Hinzukommt, daß die toxikologische Chemie in ein Stadium getreten ist, das eine grundlegende Neuorientierung des Analytikers und seines Wirkungsbereiches (Apparaturen, Methodik) erforderlich gemacht hat. Dadurch, daß heute zu Vergiftungszwecken in gesteigertem Maße Substanzen — man denke an die modernen Schädlingsbekämpfungsmittel, neue Schlaf mittel usw.— verwendet werden, die als solche aus Relikten — wenn überhaupt — meist nur mehr in Spuren auszumitteln, im übrigen anhand von Zersetzungsbzw. Abbauprodukten zu agnoscieren sind, rücken die Nachweismethoden der klassischen Gifte immer mehr in den Hintergrund. Der toxikologische Chemiker kann im Gegensatz zu früher in vielen solcher Fälle erst nach Kenntnis der für eine neue Substanz denkbaren biologischen, aber auch postmortalen Abbaumöglichkeiten anhand neuer, vom Althergebrachten oft abweichender Methoden der Ausmittelung und Identifizierung entstandener Reaktionsprodukte daran gehen, die Analyse giftverdächtiger Organe in Angriff zu nehmen. Bereitete seit je schon die stets anzustrebende Reindarstellung der Alkaloide aus Leichenteilen auf Grund der leichten Zersetzlichkeit aller pflanzlichen Giftstoffe an sich sehr häufig große Schwierigkeiten, da ihnen Stoffe, sogen. Leichen-
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a l k a l o i d e bzw. P t o m a i n e , hartnäckig anhaften können, die bei der Fäulnis tierischen Materials entstehen, ist heute zusätzlich bedeutenden weiteren Erschwernissen der chemischen Diagnostik Rechnung zu tragen, die sich aus der Notwendigkeit der Differenzierung von Zersetzungsprodukten organeigener Substanzen gegen Umwandlungsprodukte (Metaboliten) und Ausscheidungsprodukte (Paarlinge mit Glucuron- oder Schwefelsäure) neuer giftwirksamer Stoffe im Harn ergeben. Mit jeder (stets unwiederbringlichen) Materialprobe ist sonach umsichtig und grundsätzlich sehr rationell zu verfahren, besonders dann, wenn sich die Untersuchung auf den „Nachweis von Giften" schlechthin zu erstrecken hat. Dieser Fall tritt beispielsweise ein, wenn Verdacht auf Vergiftung zwar besteht, aber Anamnese und Sektionsprotokoll keinen Anhaltspunkt für den Schwerpunkt der chemischen Untersuchungsbemühungen liefern. Man achte zudem stets darauf, daß ein Teil der Untersuchungsobjekte (zumindest bis zur Rechtskraft des Urteils) für eine Nachuntersuchung reserviert bleibt. Daher ist es zweckmäßig, zunächst durch die allgemeine systematische Untersuchung einer Durchschnittsprobe der (tunlich nicht konservierten) Organe und Körperflüssigkeiten in Erfahrung zu bringen, ob die asservierten Leichenteile überhaupt ein Gift enthalten. Hierbei spielt u. a. die spektralanalytische Untersuchung auf Metallgifte, die schnell zuverlässige Resultate liefert und Rückschlüsse auf die Mengenverhältnisse gestattet, eine übergeordnete Rolle. Auch ist stets eine Prüfung auf Arsen im Apparat von Marsh (Arsenspiegel) angeraten. Erst wenn durch die Übersichtsuntersuchung ein bestimmter Giftstoff nachgewiesen ist, interessiert die Frage, in welchen Organen oder Körperflüssigkeiten das Gift qualitativ und der Menge nach vorhanden ist. Das positive Orientierungsergebnis gestattet unter Berücksichtigung des ganz verschiedenartigen Verhaltens von Giften im Organismus gegebenenfalls die Beschränkung der Untersuchung auf bestimmte Organe, macht fallweise aber auch die Ausdehnung der Prüfungen auf noch herbeizuschaffende Proben erforderlich, je nachdem ob sich Hinweise auf das Vorliegen einer akuten, subakuten oder chronischen Intoxikation ergeben (Arsen, Thallium, Blei u. a., erforderlichenfalls Exhumierung). d) Abgesehen von den klassischen Vertretern der flüchtigen Gifte (Blausäure, Phosphor, Methyl-, Aethylalkohol) sind die Wasserdampfdestillate nun auch auf Phosphid (aus Zink- oder Aluminiumphosphid, Schädlingsbekämpfungsmittel wie „Delicia") zu prüfen. Vor allem aber lassen sich die derzeit zu Vergiftungszwecken häufig benutzten hochgiftigen Insektizide auf der Basis der Ester der Thiophosphorsäure wie Ε 605 forte (Parathion, Folidol, Thiophos), Ε 605 Staub, Systox, Metasystox aus biologischem Material
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mittels Wasserdampf destination auf verhältnismäßig einfache Weise abscheiden. Die Bestimmung geringer Mengen erfolgt durch Messung der Ultraviolettabsorption (spektralphotometrisch). Genügende Konzentration vorausgesetzt, gestattet die Aufnahme des Infrarotspektrums des Aetherextrakts des Wasserdampfdestillates im Bereich der Molekül-Gerüstfrequenzen der Ester, diese in Substanz zuverlässiger nachzuweisen, als es durch die bisher bekannt gewordenen chemischen Analysenverfahren gelingt. Auf deren Durchführung sollte freilich zwecks Vermehrung der Einzelnachweise in keinem Falle ebensowenig verzichtet werden wie auf die Durchführung des auf frisches Untersuchungsmaterial beschränkt bleibenden, sehr empfindlichen biologischen Tests (Cholinesterase-Hemmung). Der Vorteil einer dokumentarischen Festlegung der Analysenergebnisse in UV- und IR-Absorptionskurven ist offensichtlich. Zwecks Erhöhung der Ausbeute bei gleichzeitig weitgehenderer Reinigung der extrahierbaren organischen Gifte von störenden Ballaststoffen kann bei der Aufarbeitung von Leichenteilen nach StasOtto Ultraschall wirkungsvoll eingesetzt werden. Selbst sehr kleine Mengen extrahierter kristallisierter Substanzen lassen sich durch Mikrosublimation, Mikroschmelzpunktsbestimmung (Heizblock nach Kofier) und kristalloptische Methoden identifizieren, während chemischen Farbreaktionen (ζ. B. Zwikker'sche Reaktion auf Barbitale und die zahlreichen Alkaloidfarbreaktionen) sowie der Messung der Ultraviolettabsorption nur der Charakter der Gruppenspezifität zukommt. Beispielsweise bei den Barbituraten (Veronal, Dional, Luminal, Phanodorm, Noctal, Evipan, Medomin u. a.), die auch heute noch den größten Teil aller Vergiftungen nach dem Kohlenoxyd trotz vieler neuer synthetischer (barbitursäurefreier) Schlafmittel wie Persedon, Noludar, Valamin, Doriden verursachen, genügt im Rahmen der toxikologischen Aufgabenstellungen der Gruppennachweis von Barbitursäure nicht mehr. Entscheidend für den Erfolg der toxikologisch-chemischen Analyse ist vielmehr die Endkonzentration der Barbitale und ihrer im intravitalen und postmortalen Geschehen entstehenden Umwandlungsprodukte, die sich in den zur Untersuchung gelangenden Organen und Körperflüssigkeiten durch verbesserte analytische Methoden (fraktionierte Vacunmsublimation nach Gg. Schmidt) ermitteln läßt. Wesentliche Erleichterungen der Untersuchung alkaloidverdächtiger Organextrakte brachten die papierchromatographischen Trennungsverfahren und Identifizierungsmöglichkeiten. Das Verfahren von Jatzkewitz, der eine Methode zur chromatographischen Bestimmung basischer Sucht- und Arzneimittel (Morphium, Dilaudid, Nikotin, Eukodal, Dicodid, Cliradon, Pervitin, Dolantin, Dromoran und Polamidon) im Harn
für klinische Zwecke schuf, wurde zur Grundlage für weitere, sehr zahlreiche Methoden des papierchromatographischen Alkaloidnachweises (ζ. B. Strychnin, Aconitin, Papaverin, Glukoside), wobei die Nachweisgrenze für alle diese Stoffe etwa zwischen 10 und 50 Gamma liegt. Auch Ε 605 und sein Abbauprodukt p-Nitrophenol sowie das Rattengift α-Naphtylthylthioharnstoff (Antu) u.a. erwiesen sich als dem papierchromatographischen Nachweis zugänglich. Die Chromatographie ist demnach zu einer wesentlichen Informationsquelle für den toxikologisch arbeitenden Chemiker geworden und aus den Untersuchungsgängen nicht mehr wegzudenken. Sie gestattet zugleich das Erkennen unzähliger Störstoffe (Kohlehydrate, deren Spaltprodukte, Fette, Eiweißzersetzungsstoffe u. a.) in giftverdächtigen Extrakten. Hierdurch, besonders aber durch die physikalischen Meßdaten sowie die Prüfung der Wirkung einer ausgemittelten Substanz im Tierversuch (weiße Maus, Frosch), die stets dem Gerichtsmediziner oder Pharmakologen obliegt, ist die Möglichkeit der Verwechslung einer Alkaloidspur mit einem Ptomain oder ähnlichen natürlichen, unter dem Einfluß von Bakterien entstehenden Abbauprodukten ausgeschlossen. Zugleich wird an die Beweiskraft der physiologischen Alkaloidnachweise erinnert. Gerade auch in physiologischer Hinsicht unterscheiden sich nämlich die Fäulnisprodukte sehr wesentlich von den chemisch ähnlich gebauten Pflanzenbasen. Zur Erzielung der meist charakteristischen, oft zumindest gruppenspezifischen Wirkungen genügen sehr geringe Mengen des Giftstoffes. Beispiele: Nachweis des Strychninkrampfes (noch 0,003 mg Strychnin) im Mausversuch oder am Frosch, Pupillenerweiterung am Katzen- oder Hundeauge (auch Selbstversuch) durch einen Tropfen einer Atropinlösung 1:130000 (aber auch Kokain und Scopolamin), stark pupiUenverkleinernde Wirkung durch Physostigmin, die für den Morphinnachweis zur Sicherung einer chemischen Wahrscheinlichkeit erzielbare, Sförmig gekrümmte Aufrichtung des Mäuseschwanzes (Straub'scher Mäuseschwanztest), die Herzwirksamkeit der Digitalisglukoside oder die anaesthesierende Wirkung auf der Zunge durch Kokain, Novocain u. a. In Lichtbildern festgehalten, gegebenenfalls auch graphisch registriert, werden physiologische Befunde zu wichtigen Beweismitteln vor Gericht. Die S p e k t r a l a n a l y s e ist neben anderen modernen Methoden in der toxikologischen Analyse im allgemeinen dann das Verfahren der Wahl, wenn es gilt, den Nachweis und die Bestimmung einer größeren Zahl von Elementen (Metallen) in kleinen Mengen, erforderlichenfalls nach chemischer Anreicherung durchzuführen (Thallium bei Vergiftung mit Thalliumsulfat-haltiger Celiopaste, Blei bei chronischen Intoxikationen, bei akuter Vergiftung mit Bleiacetat, -carbonat,
Chemische Untersuchungsmethoden Quecksilber ζ. B. aus Sublimatpastillen, Zink aus dem Rattengift Zinkphosphid u. a.). Auch die P o l a r o g r a p h i e , eine von Beobachtungsfehlern unabhängige elektrochemische Analysenmethode außerordentlich großer Empfindlichkeit (Nachweis bis herab zu '/ιοο Gamma), dient mit anerkanntem Erfolg nicht nur der qualitativen und quantitativen Metallgiftanalyse, sondern gestattet auch die Registrierung von Kontaktinsektiziden (DDT = p-Dichlordiphenyltrichlormethylmethan) und die Unterscheidung des hochwirksamen Lindane von den anderen Hexachlorcyclohexan-Isomeren (HCC, Gammexan). Schnell und sicher werden Metallgifte auch f l a m m e n s p e k t r o m e t r i s c h bestimmt. Die genannten Methoden sind besonders deshalb wertvoll, weil sie wie kein anderes Analysenverfahren ein genaues Verteilungsbild von Giftspuren im Spiegel des Spurenelementhaushalts zulassen. Zudem gewährleisten sie den Nachweis von Spuren giftiger Metalle in Exhumierungsfällen sowie Kremierungsrückständen und gestatten in Ausschließung diagnostischer Irrtumsmöglichkeiten die sichere Differenzierung ubiquitärer Metallspuren und solcher, die den Vergiftungsverdacht bestätigen, worauf besonders bei der Untersuchung exhumierten Materials zu achten ist (Blei, Arsen u. a.). e) Zum Nachweis des G i f t v e h i k e l s bedarf es sehr genauer Untersuchungen des Magen- und Darminhalts (mikroskopisch, pharmakognostisch, chromatographisch, chemisch-analytisch) auf Reste von Geschmackskorrigentien (bitterer Geschmack der Alkaloide), Spuren von Warnfarbstoffen aus fabrikmäßig hergestellten Ungeziefervertilgungsmitteln (blau gefärbte Celiopaste, rote Strychninweizenkörner), von Drogenbestandteilen oder speziellen pflanzlichen Strukturen usw. Zu letzterem Hinweis sei vermerkt, daß sich manche Pflanzengifte — entsprechende Applikation vorausgesetzt — nur durch die mikroskopisch-pharmakognostische Untersuchung von Magen- und Darminhalt, Erbrochenem, Speiseresten zuverlässig nachweisen lassen, ζ. B. Pilzvergiftungen durch Knollenblätterschwamm (Amanitatoxin), Fliegenpilz (Muskarin), Lorchel (Helvellasäure) oder nach Verzehr von Tollkirschen (Atropin), Wasserschierling (Zikutoxin), der an seinen gekammerten Wurzelknollen leicht erkannt werden kann, oder Rauchen von indischem Hanf (Marihuana oder Haschisch). Bei den bakteriellen L e b e n s m i t t e l v e r g i f t u n g e n spielen einerseits Bakterientoxine im Verlauf der Infektionskrankheit, andererseits echte Giftstoffe wie das Botulinustoxin eine Rolle. f) Die toxikologisch-chemische Untersuchung sämtlicher zu einem Vergiftungs- oder Vergiftungsverdachtsfall gehörender Asservate, in Sonderheit von am Tatort oder in dessen Milieu sichergestellten Speise- und Getränkeresten sowie sonstiger verdachterregender Proben (Arzneizubereitungen, 8
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Tabletten usw.), ist Sache des Gerichtschemikers, nicht Aufgabe der staatlichen Lebensmittelkontrolle. Es ist grundsätzlich darauf Bedacht zu nehmen, daß die Untersuchung der zu einem Vorgang gehörenden Beweisstücke in Händen einer eng koordinativ zusammenarbeitenden naturwissenschaftUch-kriminalistisch geschulten Expertengruppe verschiedener Disziplinen bleibt, die zwecks gegenseitiger Kenntnisvermittlung stark der medizinischen Toxikologie angelehnt ist. Die Untersuchungen, die sich nicht selten auf zahlreiche Proben zu erstrecken haben, richten sich nach den oben gegebenen Hinweisen. Wenn es die Verhältnisse gestatten, ist stets die Gesamtmenge einer Probe sicherzustellen; denn die unsachgemäße Abtrennung eines Teiles kann den Untersuchungserfolg zumindest in quantitativer Hinsicht gefährden (inhomogene Durchmischung, Entmischung durch Sedimentierung usw.). g) Bei der Ermittlung von T r u n k e n h e i t spielen Nachweis und Mengenbestimmung von Aethylalkohol in Blut und Harn, auch Lebender, eine wichtige Rolle. Der Nachweis des B l u t a l k o h o l s geschieht üblicherweise nach der chemischen M i k r o m e t h o d e (jodometrische Titration) v o n W i d m a r k (1922) und dem A D H F e r m e n t v e r f a h r e n . Letzteres beruht darauf, daß durch die Alkoholdehydrase (=ADH) eine wasserstoffübertragende Reaktion katalysiert wird. Hierbei wird Aethylalkohol in Acetaldehyd übergeführt und gleichzeitig die Substanz DPN hydriert. Die hydrierte Form des Akzeptors DPN (DPNH) ist durch eine starke, für den Stoff charakteristische Lichtabsorption gekennzeichnet, die die spektralphotometrische Messung ermöglicht. Während durch das Widmark-Verfahren der Alkohol in seiner Reduktionskraft bestimmt wird, erfaßt die ADH-Methode den Aethylälkohol als spezifisches Substrat der Alkoholdehydrase (äußerste Genauigkeit). 2. Die chemischen Vorproben (Oxydasereaktionen) auf B l u t (Wasserstoffsuperoxyd, Benzidin, Phenolphtalein) sowie die Luminescenzreaktion sind zwar sehr empfindlich, aber nicht streng spezifisch. Ihr Ausbleiben zeigt indessen die Abwesenheit von normalem Blut an. Der chemische Nachweis erfolgt durch Darstellung der Teichmannschen Häminkristalle (salzsaures Hämatin). Einwirkung von Sonnenlicht auf die blutverdächtige Spur, Fäulnis, Anwesenheit anderer Hämoglobinderivate und metallische Verunreinigungen (ζ. B. Rost am Tatinstrument) stören oder verhindern diese Beweisprobe. Die zuverlässigste Methode ist die Darstellung des kristallisierten Haemochromogens. Völlig sicher ist der (mikro-)spektroskopische Blutnachweis (Darstellung der typischen Absorptionsbanden des Hämoglobins und dann das seiner Derivate auch an einem Minimum von Spurensubstanfc). Aus sehr altem, durch Beimengungen oder Hitze verdorbe-
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nem Blut versucht man das saure Hämatoporphyrin herzustellen und absorptionsspektrographisch zu identifizieren. Da es meist notwendig ist, den K o h l e n o x y d hämoglobin-Gehalt von Blut (Leuchtgas-, Rauchgasvergiftung, Explosionsfälle) quantitativ zu ermitteln, rangieren die qualitativen chemischen Untersuchungsmethoden (Hoppe-Seyler, Kunkelsche Tanninprobe, Formalin-, Pyrogallolprobe) an untergeordneter Stelle. Erstaunlich empfindlich und genau läßt sich mit der Testfleckenmethode Kohlenoxyd chemisch noch zu 0,5% und darunter bestimmen. Den Gehalt des Blutes an Kohlenoxydhämoglobin ermittelt man heute in erster Linie spektralphotometrisch. Auch der Spätnachweis von Kohlenoxydvergiftungen ist erwähnenswert (die Zeit zwischen Tod und Exhumierung bzw. Sektion betrug 9—210 Tage). Hinsichtlich gelungener Giftnachweise in exhumierten Leichen wird auf die zusammenfassende Darstellung von Weinig verwiesen. 3. Chemische Untersuchungen spielen auch bei dem freilich vorwiegend mikromorphologisch durch Auffindung intakter Samenfäden zu führenden Nachweis von S p e r m a eine Rolle. Aus den durch die Fluorescenzprüfung im Ultraviolett (bläuliches Aufleuchten, 4 2 0 0 ^ 9 0 0 Ä ) zu begrenzenden Flecken werden Extrakte hergestellt, die in 70% der Verdachtsfälle beim Vorhegen von Sperma durch Zusatz von konzentrierter Jodjodkalilösung doppelbrechende, rhombische Florence-Kristalle abscheiden (durch Cholin zur Ausscheidung gebrachte Jodkristalle). Diese Reaktion ist noch nicht beweisend, da sie ζ. B. auch durch Vaginalsekret, Eiter geliefert wird. Die empfindlichste und als spezifisch für menschliches Sperma angesehene Probe scheint die Darstellung von Spermin-Diflavianat-Kristallen (Reaktion der Sperminbase mit Naphtolgelb S) zu sein, die auch an ausgewaschenem Textilgewebe noch positiv ausfällt. Außerdem ist Sperma selbst an älteren Flecken noch durch die Phosphatasereaktion (fermentchemischer Nachweis) zu erkennen. 4. Die Anwesenheit von Speichel kann durch den Nachweis von Kaliumrhodanid gestützt werden, sie wird bewiesen durch Feststellung des Gehalts an Ptyalin (Amylase) durch Testung des fermentativen Stärkeabbaus. Speichelnachweise an Mundknebeln, Bißspuren, Pfeifen, Zigarren-, Zigarettenstummeln, an Kaugummi, Klebestellen, Briefumschlägen und Briefmarken (in Verbindung mit der Blutgruppenbestimmung) sind oft von wegweisender spurenkimdlicher Bedeutung. Durch chemische Untersuchungen können auch Reste oder Flecken von H a r n (Nachweis von Harnsäure, Harnstoff, Urochrom, Unterscheidung von menschlichem und tierischem Harn) und K o t erkannt werden. 5. Bei S c h u ß d e l i k t e n erstrecken sich chemische und spektrographische Untersuchungen
auf die Waffe, die Munition und den Einschuß. Aus Art und Zusammensetzung des im Lauf befindlichen Belages kann mit Vorbehalt geschlossen werden, ob in letzter Zeit, gegebenenfalls mit welcher Munition, aus der Waffe geschossen wurde. Neben der Analyse der Munitionsbestandteile ist fallweise die Kenntnis der Legierungsbestandteile eines Geschoßsplitters von Interesse. Zur Beantwortung der Frage, ob eine Glasscheibe durch ein Geschoß oder einen Stein durchschlagen wurde, trägt der Nachweis oder das Fehlen der an der Durchdringungsstelle vom Geschoß abgestreiften Elemente Nickel, Eisen, Blei, Kupfer, Barium, Antimon bei. Der Nachweis der N a h s c h u ß z e i c h e n (unverbrannte Pulverteilchen und Schmauch) und allgemein des Einschusses, auch der Schußrichtung und -entfernung erstreckt sich je nach Art des Treibmittels auf Nitrat und Nitrit (Diphenylamin-Schwefelsäure-Reaktion) bzw. spezifisch auf Nitrit mit Lunges Reagens (Nitropulver). Bei Sinoxydmunition spielt der Bleinachweis (quantitativ noch 1 Gamma mit Dithizon) in der Umgebung der Schußöffnung eine wichtige Rolle. In dem sich bei Nahschüssen allgemein flächenhaft auf der Haut oder Kleidung niederschlagenden Schmauchhof lassen sich spektrographisch Antimon, Barium, Blei (aus dem Zündsatz der Patrone) sowie Kupfer u. a. nachweisen und unter Berücksichtigung ausreichender Kontrollen neutraler Haut- und Stoffgewebeproben sicher auswerten. Werden Pulversorte, Waffensystem und Kaliber berücksichtigt (Probeschüsse), die von Einfluß auf die Ausdehnung des Schmauchhofes sowie den Streukreis eingesprengter Pulverteilchen sind, so werden anhand der Spurenverteilung weitgehende Rückschlüsse auf die Schußentfernung (1 cm bis 1—2 m) ermöglicht. Schöntag und Baumgärtner gelang in wesentlicher Ergänzung der spektrographischen Spurenanalyse, die die Bestimmung von Schußentfernungen bis zu etwa 80 cm zuverlässig gestattet, durch Anwendung der Neutronen-Aktivierungsanalyse der Nachweis von Antimonspuren (im Bereich von Nanogramm) aus dem Zündhütchen der Patrone noch in 2—3 m Entfernung von der Schußstelle (wichtig für Differenzierung Mord — Selbstmord). Bei absolutem Nahschuß findet sich der Pulverschmauch vorwiegend im Schußkanal (Schmauchhöhle). Bei Weitschüssen wird die spektrographische Prüfung des Kontusions- oder Schürfungsringes auf die vom Geschoß abgestreiften Metallspuren erforderlich. Auf das Vorhandensein von Schmauch an der Schießhand (auch bei Toten) sei hingewiesen (Nachweise wie oben angeführt). 6. a) In der B r a n d u r s a c h e n d i a g n o s t i k sind chemisch-analytische, -technische, physikalischchemische und physikalische Untersuchungsmethoden in besonders großem Umfang nicht nur zum Nachweis flüssiger und fester Brennmittel bei präparierten Brandstiftungen, sondern auch
Chemische Untersuchungsmethoden zwecks Nachprüfung von Selbstentzündungen chemischer Stoffe oder Gemische einzusetzen. Selbstentzündungen vegetabilischer Stoffe sind dagegen nur durch mikrobiologische Untersuchungen geeigneter Proben (thermophile Flora, Glathetest) zu beurteilen. Da die inkriminierten Stoffe durch den Brand meist mehr oder weniger gegen ihren Originalzustand verändert werden, ist deren Identifizierung und Bestätigung als Brandlegungsmittel nur nach exakter Differenzierung gegen natürliche, infolge pyrogener Zersetzung entstandene Brändprodukte und erst dann möglich, wenn solche brandintensivierend wirkenden Stoffe nicht ursprünglich schon (aus technischer Ursache oder zufällig) am Nachweisort vorhanden waren, eine Präparation also nur vortäuschten. Bei sachverständiger Durchmusterung der Brandrückstände sind meist unschwer die Stellen und vielgestaltigen Objekte zu finden, an denen Brennmittel zu vermuten sind (Geruchsprüfung, Dräger-Gasspürgerät). In der Dielenfüllung, im gewachsenen Boden (also u n t e r h a l b des Brandschuttes) ist bevorzugt auf flüssige, an markanten Ausbrennungen (Schrankboden, Dielenbretter, Kisten u. a.) auf feste Brennmittel wie latente Kerzenreste, Aschen chemischer Zündmittel, Schlacken zu fahnden. Auch Rußbeläge können wertvolle Untersuchungsproben sein. Bis zur chemischen Untersuchung sind die Asservate in luftdicht schließenden Glasgefäßen aufzubewahren (leichte Flüchtigkeit von Benzin-, Spiritusspuren!). Flüssige Brennmittel (Petroleum, Benzin, Brennspiritus, Lackverdünnungsmittel u. a.) lassen sich durch Wasserdampfdestillation oder andere schonende Verfahren aus Brandresten abtrennen und nach Anreicherung isolieren, Kerzenreste durch Extraktion mit geeigneten Lösungsmitteln erhalten und durch Säulenchromatographie verlustlos reinigen. Die mit Wasserdampf abdestillierten Proben werden zwecks Erfassung schwer flüchtiger öliger Bestandteile (Maschinen-, Schmieröl) noch der Extraktion mit Aether, Hexan o. ä. zugeführt. Die Analyse von Aschen und Schlacken erstreckt sich auf den Nachweis pyrophorer Bestandteile bzw. hinweisender Umsetzungsprodukte, Reguli usw. Sinnesprüfung (Geruch und Geschmack), Flamm- und Brennprobe, Dichte (g/ccm), Brechungsindex, Elementaranalyse, das Absorptionsverhalten im UV und IR sind Kriterien, die der Identifizierung von Resten brennbarer Flüssigkeiten dienen. Spektrographisch oder mikrochemisch lassen sich in den Destillaten, sofern es sich um Kraftfahrzeugbenzin handelt, die nicht ubiquitären Antiklopfmittelzusätze bestimmen, wodurch der Nachweis von Benzinfraktionen im Destillat mit einer jeden Zweifel ausschließenden Gewißheit zu führen ist. Als Antiklopfmittel kommen Bleitetraaethyl, Monomethylanilin und Trikresylphosphat (T. C. P.) in Betracht. Für die Ermittlung des Bleigehalts 8·
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hegt die Nachweisempfindlichkeit bei etwa 0,002 ccm Destillat. Die Röntgenspektroskopie gestattet den Nachweis von 0,01% Tetraaethylblei im Gemisch mit Aethylenbromid in Benzin. Auch die Farbstoffe in Markenbenzinen lassen sich (als wichtige Indizien) aus geeigneten Brandstellenproben abtrennen (Säulenchromatographie). Für ausgemittelte ölige Rückstände sind sonach differentialdiagnostische Aussagen darüber möglich, ob zu einer Brandstiftung Kraftfahrzeugbenzin, auch ölhaltiger Vergaserkraftstoff (Zweitaktergemisch) oder Reinbenzin, Petroleum oder Dieselöl benutzt wurde. Die Untersuchung geeigneter R u ß p r o b e n von der Brandstelle kann besonders bedeutungsvoll sein, weil die Schwelgasund Rußniederschläge das erste Kennzeichen des Ursprungsfeuers (Zündort) sind. Bleitetraaethyl in Bleibenzinrußspuren wird im Sinne einer Substanzanalyse elektronenmikroskopisch nachgewiesen durch die würfelförmigen Kristalle von Bleibromid und Abschätzung von dessen Mengenverhältnis zum Bleioxyd. Es bildet sich als flüchtige Verbindung neben Bleioxyd beim offenen Abbrand verbleiten Benzins aus dem Bleitetraaethyl und Aethylenbromid enthaltenden Antiklopfmittelzusatz. Die Charakterisierung des Empyreumas, der öligen Teile des Aetherextraktes aus Rußbelägen, kann spektralphotometrisch (UV und IR) versucht werden. Aus der Struktur des Rußes können durch physikalische Methoden derzeit noch nur sehr bedingte Rückschlüsse auf dessen Ausgangsstoffe gezogen werden. Weitere Objekte der chemischen Untersuchung bei einer Brandstiftung sind u. U. Streichhölzer, Kerzen, Dochte und Zündschnüre, aber auch Teile besonderer Brandstiftungsapparaturen, die immer wieder einmal auch bei landläufigen Brandlegungen als raffinierte Zeitzünder (Alibisicherung) benutzt werden. Chemische Untersuchungen tragen zudem wiederholt zum Beweis des Brandversicherungsbetrugs bei. Die S e l b s t e n z ü n d u n g s n e i g u n g autox y d a b l e r Oele (Leinöl, Firnis, andere pflanzliche Oele, manche Lacke) wird u. a. im MackeyTest, einem international anerkanntem Prüfverfahren, ermittelt. Im übrigen bietet die Reproduktion von Selbstentzündungsreaktionen, die sich in der Praxis oft katalytisch beschleunigt abspielen, meist gewisse, oft auch große Schwierigkeiten. b) S p r e n g s t o f f e sind fallweise — keineswegs immer — an gewissen Rückständen und Verfärbungen in der Nähe der Sprengstelle (ζ. B. Pikrinsäure) in Verbindung mit ihrer Wirkung chemisch erkennbar. Bei Sprengstoffdelikten (Anschläge durch Bombenpakete, Höllenmaschinen) ist sowohl spektrographisch auf Blei, Antimon, Barium, Quecksilber (aus Zündinitialen) und deren Verteilung sowie auf Umsetzungsprodukte von
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Chemische Untersuchungsmethoden
Schwarzpulver, Kaliumchloratsätzen als vor allem auch auf den Nachweis geringster Reste unzersetzten Sprengstoffs in den meist schwärzlich verfärbten Schmauchablagerungen zu achten; denn es ist möglich, daß beispielsweise ein in einer von Hand zusammengebauten Sprengapparatur befindlicher Nitroaromat nur deflagriert. Durch organische Lösungsmittel extrahiert, werden die gesuchten Komponenten durch fraktionierte Mikrosublimation, auch papierchromatographisch, gereinigt und durch mikrochemische Tüpfelreaktionen, Mikroschmelzpunkt, kristalloptische Bestimmungen, Polarisationsvermögen und Röntgenfeinstrukturanalyse (Debye-Scherrer-Diagramm) identifiziert (Trinitrotoluol = TNT, Diund Trinitronaphtalin noch in Mengen unter 0,1 mg erfaßbar). Sprengstoffopfer sind zu sezieren (Isolierung oft wichtiger Sprengsplitter). Blutuntersuchung ist angezeigt. Analoge Nachweismöglichkeiten bestehen an aufgesprengten Schlössern von Panzerschränken, Tresoren usw. 7. Beim N a c h w e i s v o n U r k u n d e n - u n d S c h r i f t f ä l s c h u n g e n wird oft auch die chemische Untersuchung sowohl des Papieres als auch der Schreibmittel erforderlich. Die Methoden zur Feststellung der Zusammensetzung des Papieres erstrecken sich auf die mineralischen Füll-, die Leim- und Farbstoffe (auch der Blankophorzusätze). Visuell auf Grund nur geringer Koloritunterschiede meist nicht exakt differenzierbar, werden die in Schriftzügen deponierten Schrifteinfärbungsmittel hauptsächlich durch chromatographische und elektrophoretische Methoden untersucht. Diese eignen sich zur Isolierung aller oder anteiliger Komponenten in je nach Gebrauchsform flüssig (Tinten, Tuschen), pastös (ζ. B. Kugelschreiberpasten) oder fest (ζ. B. Schreibminen, Stifte) aufgebrachten Schreibstoffen, sofern das richtige Schriftablösungsmittel und -verfahren angewandt wird. Hierbei sind Leerkontrollen des Papieres zu beachten. Aus dem Chromatogramm eluierte Komponenten werden spektralphotometrisch, fluorescenzanalytisch geprüft. Einzelne angefärbte Papierfasern lassen sich mikrospektralphotometrisch untersuchen (Ermittlung der Transparenz- oder Absorptionskurven). Zur Chromatographie reichen 3—6 Buchstaben aus. Mikrochemische Tüpfelreaktionen bleiben tunlich auf Spezialnachweise beschränkt. Gelegentlich sind auch G e h e i m s c h r i f t e n ( z . B . Kassiber) durch chemische Reaktionen lesbar zu machen. Zur W i e d e r s i c h t b a r m a c h u n g a u s r a d i e r t e r oder chemisch g e b l e i c h t e r S c h r i f t z ü g e dienen optische (UVFluorescenz, I R (Bildwandler)-Untersuchung) und chemische Verfahren. Letztere verfolgen das Ziel, ein dem Oberflächenangriff resistierendes latentes Schriftbild in der Papiertiefe mit besonderen chemischen Hilfsmitteln sichtbar zu machen, ζ. B.
Eisensalzspuren durch Rhodanwasserstoffsäure, in den Papierfilz eingedrungene farblose (ionenaktive) Bestandteile (Alkalichlorid) bei Benutzung mancher Blei-, Kopierstifte. Nach Möglichkeit sind auch Hinweise auf die Art des benutzten Bleichmittels (Eau de Javelle, „Tintentod" usw.) zu geben. Mit gutem Erfolg lassen sich die Bemühungen, durch dichten Schreibmittelauftrag unleserlich überschmierte Schriftteile auf chemischem Wege durch Entfernung der Abdeckschicht wieder sichtbar zu machen, mittels Ultraschall wirkungsvoll unterstützen. Trotz zahlreicher Forschungsbemühungen ist es zur B e s t i m m u n g des A l t e r s v o n T i n t e n s c h r i f t e n bislang bei der sog. Chlorid- und Sulfatmethode (Mezger, Rail u. Heess) geblieben (Eisengallustinten, manche Farbstofftinte). Sie basiert auf bestimmten und hinreichend erforschten Gesetzmäßigkeiten, nach denen die unsichtbaren Chlorund Sulfationen — sofern in der Tinte ursprünglich vorhanden gewesen — mit zunehmendem Alter der Tintenschrift im Schriftzug selbst und im Schriftträger in Tiefe und Breite wandern. Die in Mehrstufenreaktionen (an Schriftausschnitten!) angefertigten Chlorid- und Sulfatbilder, die zur absoluten und relativen Altersbestimmung geeignet sind, bedürfen im Hinblick auf die Altersansprache (1—2 Jahre) sehr kritischer Bewertung. Das Prinzip der Methodik hat Weinig auf die Altersbestimmung von Blut- und Spermaflecken übertragen. Die sich unaufhaltsam anbahnende Einführung der C h e m i e f a s e r - P a p i e r e (Synthesepapiere) wird die Verläßlichkeit mancher der bisherigen Methoden auf dem Gebiet der Urkundenuntersuchung erheblich tangieren. Besonders ist künftig auch auf die Art der Leimung der Papiere zu achten, da an die Stelle der üblichen Harzleimung (Aluminiumsalz der Abietinsäure) Oberflächenbehandlung mit Syntheseleimen ohne Beeinträchtigung der Schreibfähigkeit des Papieres tritt, woraus sich bei Nichtbeachtung Fehlbeurteilungen ergeben können. Auch Stempel- und Druckfarben, Siegellack, Klebstoffe (Nachweis widerrechtlicher Brieföffnung), Briefmarken usw. können zum Untersuchungsgegenstand werden. Die Bedeutung, die den gerichtschemischen Beweisen im Einzelnen wie in ihrer Gesamtheit für die Aufklärungsarbeit und damit die Rechtssicherheit beizumessen ist, liegt auf der Hand. Sie beruht in erster Linie auf der Unwiderruflichkeit der aller wissenschaftlichen Kritik standhaltenden, da reproduzierbaren und sich in den Grenzen der Aussagemöglichkeit haltenden Argumentation. Der ausgereifte Sachverständige analysiert gezielt nach richtiger Auswahl gesicherter, der Individualität des Falles angepaßter, d. h. der speziellen Aufgabenstellung am deutlichsten gerecht werdender Untersuchungsmethoden. Die
Chemische Untersuchungsmethoden — Diebstahl
Ergebnisse werden im R a h m e n der naturwissenschaftlich-kriminalistischen Bewertung niedergelegt und — worauf es letztlich maßgeblich ank o m m t — in leicht faßlicher Form so vorgetragen, daß sie v o m Gericht in ihrer vollen Tragweite zur Belastung, aber auch Entlastung eines Tatverdächtigen voll genützt werden können. Auch ist der Gutachter verpflichtet, in Ausschöpfung der fachwissenschaftlichen Erkenntnisquellen Untersuchungen fallweise über den mitunter zu eng gesteckten Rahmen eines Ersuchens (tunlich im Einverständnis mit dem Auftraggeber) auf den erforderlichen Umfang auszudehnen. H. Amsler: Die Mikro-Spektralphotometrie, ein wichtiges Hilfsmittel für den Farbvergleich kleinster corpora delicti. ArchKrim. 124 (19S9) S. 85. W. A u t e n r l e t h : Nachweis und Bestimmung der Gifte auf chemischem Wege. Abderhalden, Hdb. biol. Arbeltsmethoden, Abt. IV, Teil 7. F. B a u m g ä r t n e r u. A. S c h ö n t a g : Aktivierungsanalyse in der Kriminaltechnik, Kerntechnik, Isotopentechnik und -Chemie, 3. Jg. H. 11 (1961), S. 605. St. Berg: Methoden zum Nachweis von Genitalsekretspuren. DZGerMed. 42 (1954) S. 605. Ders.: Int. Revue 85 (1965) S. 63. A. B r ü n i n g : Beiträge zur Überführung von Verbrechern durch den Nachweis von Leitelementen an ihrem Körper und ihrer Kleidung. Groß'Archiv Bd. 75, S. 266. F. Cramer: Papierchromatographie. 1952. J. B e r k o s c h , H. J a n s c h , R. L e u t n e r u. F. X. Mayer: Zum Nachweis des Schädlingsbekämpfungsmittels Ε 605. Monatshefte für Chemie 85 (1954) H. 3. J. Derkoech u. F. X. Mayer: Über den Nachweis und die Bestimmung des Schädlingsbekämpfungsmittels Έ 605 in der gerichtlichen Chemie. Mlkrochimica Acta, H. 2/3 (1955). F. Fei gl: Spot Tests in organic analysis. Elsevier Publishing Company, 1956. H. F ü h n e r : Nachweis und Bestimmung der Gifte auf biologischem Wege. 1911. H. G l a t h e : Der heutige Stand der wissenschaftlichen Erforschung der Selbsterhitzung von Erntestoffen. Beiträge zur Lehre v. d. Brandermittlung. 1952. H a r d e r — B r ü n i n g : Die Kriminalität bei der Poet. 1924. F. H e c h t u. Μ. K. Z a c h e r l : Handbuch der Mikrochemischen Methoden. III. 1955. W. Heese: Ist das Chlorid- und Sulfatbild eine zuverlässige Unterlage für die Altersbestimmung von Tintenschriften ? DZGerMed. 28 (1937) S. 269. R. H e r r m a n n : Flammenphotometrie. 1956. H o u b e n — W e y l — M ü l l e r : Methoden der Organischen Chemie. Bd. III/2. 1955. H. J a t z k e w i t z : Ein klinisches Verfahren zur Bestimmung von basischen Suchtmitteln im Harn. Hoppe-Seylers Z. physiol. Chem. 292 (1953) S. 94. W. K a t t e u. W. S p e c h t : Die Chemische Identifizierung von Benzinrückständen in Brandresten. VFDB-Ztschr. 2. Jg. H. 2 (1953) S. 60.
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D i e s . : Zur Identifizierung geringster Sprengmlttelreste aus Schmauchspuren. Krim. H. 9/10 (1953), S. 109. D i e s . : Ultraschallextraktion giftverdächtiger Leichenteile. Ein Verfahren zur Erhöhung der Giftausbeuten und zur Reinigung ausgemittelter toxisch wirksamer Substanzen. Dtsch. Apotheker Ztg. Nr. 22 (1956) S, 490. L. K o f i e r u. A. K o f i e r : Mlkromethoden zur Kennzeichnung organischer Stoffe und Stoffgemische. 1'. 'Aufl. 1948. Chr. L e s z c y n s k i : Die Anwendung physikalischer und chemischer Verfahren in der naturwissenschaftlichen Kriminalistik. Grundfragen der Kriminaltechnik. Herausgeber Bundeskriminalamt Wiesbaden, 1958. R. Mally: Kriminalistische Spurenkunde I. — Schriftenreihe des Bundeskriminalamts Wiesbaden 61—69. 1958. E. Merck: Chromatographie unter besonderer Berücksichtigung der Papierchromatographie. 1959. M e z g e r , H e e s e u . B a l l : Die chemische Identifizierung und Altersbestimmung von Tintenschriften. Wiaeenschaftl. Veröffentlichung d. Krim. Laboratoriums d. Pol. Direktion Wien. 1931. Mezger, S a l i u. Heess: Ein neues Verfahren, Identität und Alter von Tintenschriften festzustellen. Ztschr. Angw. Chemie. 44 (1931) S. «45. ArchKrim. 92 (1933) S. 105, 96 (1935) S. 17, 101 (1937) S. 13. B. Mueller: Gerichtliche Medizin. 1953. A. P o n s o l d : Lehrbuch der Gerichtlichen Medizin. 2. Aufl. 1957. G. S c h m i d t : Der intra vitale und postmortale Abbau von Barbitalen. ArchTox. 17 (1958) S. 93. A. S c h ö n t a g u. F. B a u m g ä r t n e r : Erweiterung' des Meßbereiches auf 3 m bei der Bestimmung der Sciiußentfernung durch Anwendung der Aktivierungsanalyse. ArchKrim. 131 (1963), S. 1. A. S c h ö n t a g u. R. H e i n d l : Entwicklung der Methoden zur Bestimmung der Schußentfernung. ArchKrim. 118 (1956), S. 19. W. S p e c h t : Die Chemiluminescenz des Hämins, ein Hilfsmittel zur Auffindung und Erkennung forensisch wichtiger Blutspuren. DZGerMed. 28 (1937) S. 235. Ders.: Angew. Chemie 50 (1937) S. 135. D e r s . : Leichen- und Fäulniserscheinungen an menschlichen Leichen. Chemische Abbaureaktionen bei der Leichenzersetzung. Ergeb. Allg. Patholog. Anatomie des Menschen und der Tiere. Bd. 33 (1957) S. 138. W. S p e c h t u. A. D v o r a k : Neue Untersuchungsmöglichkeit zur Lesbarmachung überstrichener Schriften. Pol. Nr. 19/20 (1953) S. 240. W. S p e c h t u. K. F i s c h e r : Chemisch-toxikologische Studie an 900jährigen Mumienrelikten. I960. W. S p e c h t u. W. K a t t e : Giftverdacht? 1954. D i e s . : Elektronenmikroskopischer Nachweis von Blelbenzinspuren in Brandruß. VFDB-Ztschr., 6. Jg. H. 4 (1957), S. 160. E. W e i n i g : Eine Methode' zur Altersbestimmung von Blut- und Spermaflecken. DZGerMed. 43 (1954/55) S. 1. D e r s . : Über die Veränderungen von Giften im Leichnam bis zur Exhumierung. Grundfragen der Kriminaltechnlk. Herausgeber Bundeskriminalamt Wiesbaden. 1958. WALTER SPECHT
D DIEBSTAHL I. VORBEMERKUNGEN Der volkstümliche und der juristische Stahlsbegriff erfassen im wesentlichen den gl
ι
Tatbestand, der durch die Begriffe Wegnahme und Gewahrsamsbruch definiert wird. Gelegentlich geht im vulgären Denken der wert- und affektbetonte Begriff „Diebstahl" über den juristischen Bereich hinaus — so beim Plagiat, nach den.ort-
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Diebstahl malen, beeinflußt aber auch bei uns — nicht zuletzt auf dem Weg über die Resonanz in der Öffentlichkeit — die Beurteilung des Delikts und findet in den Strafzumessungsgründen Berücksichtigung. Juristische Abgrenzungsschwierigkeiten mit kriminologischer Bedeutung können durch Konkurrenzen entstehen, insbesondere Gesetzeskonkurrenz gegenüber den §§ 247, 248a, 248b, 249, 250, 252 (im Bereich des französisch orientierten Rechts werden Diebstahl und Raub meist
lichen Gegebenheiten sehr unterschiedlich bei der Wilderei, manchmal bei der Unterschlagung (Funddiebstahl) —, in anderen Fällen wird entgegen dem juristischen Denken kein Diebstahl angenommen — so mitunter bei Anstiftung und Beihilfe. Vor allem die Heimlichkeit der Tatausführung gilt als gefährlich und wird manchmal auch als beleidigend empfunden. Der Wert des angeeigneten Gutes gehört nicht wie im angloamerikanischen Recht zu den Tatbestandsmerk-
Tabelle 1 DEUTSCHES REICH Einfacher Diebstahl
Schwerer Diebstahl
von Spalte (2) sind
Jahr
insgesamt §§ 242 u.242/244 Bückfall u. 248 a § 242/244
insgesamt
weiblich
jugendlich · )
Verurteiltenziffern
von Spalte (6) sind
Bückfall §§ 243 u. 243/244 § 243/244
weibl ch
jugendlich*)
einlacher schwerer Diebatahl Diebstahl
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
(7)
(8)
(β)
(10)
(11)
1882 1895 1900 1905 1910 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942
91.132 81.558 82.979 86.515 95.097 93.985 79.638 74.606 85.695 105.227 123.760 114.502 202.885 194.274 209.990 308.005 180.076 91.588 78.175 74.907 71.651 74.946 78.183 77.510 85.315 76.793 60.471 67.870 57.725 64.651 51.392 48.252 55.594 67.975 78.025
12.016 11.793 12.029 12.920 15.048 14.431 12.463 8.788 8.786 7.598 8.208 9.381 13.366 15.199 16.172 21.827 17.383 12.123 11.027 10.416 9.903 10.650 10.859 10.371 10.672 10.669 8.496 8.451 8.511
26.425 23.358 21.781 22.074 22.462 20.187 18.423 23.158 27.897 40.548 51.858 35.812 47.894 48.585 44.131 54.743 36.113 20.764 18.005 16.766 15.762 15.833 15.764 14.877 14.334 12.897 11.996 14.471 12.920 15.820 13.379 13.233 19.188 25.187 31.615
16.071 18.432 19.710 20.934 21.971 22.837 19.772 29.541 36.792 45.181 46.336 32.130 52.276 41.341 43.120 58.408 21.627 10.140 9.316 9.323 10.008 9.885 10.281 8.803 8.476 6.675 5.657 8.319 6.831 9.519 7.096 6.419 8.808 14.795 19.626
11.918 11.486 11.822 13.668 19.110 20.722 18.539 17.306 23.637 32.377 37.299 45.253 62.446 57.638 41.539 59.430 44.454 21.008 17.172 15.995 14.696 16.163 19.413 21.845 27.253 24.806 15.270 14.108 13.457 12.123 11.268 10.082 8.452 10.526 13.517
2.946 2.675 2.609 3.119 4.373 4.877 4.581 3.258 3.973 4.274 4.558 7.171 8.484 8.305 6.718 8.746 7.232 4.381 4.169 3.974 3.560 4.088 4.635 4.886 5.507 5.521 3.572 3.211 2.875
1.444 1.316 1.168 1.176 1.216 1.127 1.068 1.625 2.240 4.352 4.856 3.686 3.461 3.370 2.334 2.798 1.976 1.078 900 841 767 782 722 696 755 685 612 679 797 843 828 717 864 1.135 1.653
2.513 3.438 3.877 4.366 5.401 5.804 5.045 8.448 12.400 17.839 18.739 12.725 13.634 11.538 8.384 11.076 5.505 2.643 2.525 2.718 2.756 2.739 3.097 2.909 3.040 2.291 1.680 2.175 2.252 2.956 2.532 2.475 2.377 4.362 6.959
287 224 212 205 209 198
38 32 30 32 42 44
428 404 437 633 386 194 163 154 145 150 156 154 170 153 120 132 111
132 120 86 122 95 44 36 33 30 32 39 44 54 49 30 27 26
*) bis zum JGG 1923 von 12 bis unter 18 Jahren, danach von 14 bis unter 18 Jahren.
119
Diebstahl nicht voneinander getrennt), 370 Ziff. 2 u. 5 StGB; ferner durch die wahlweise Feststellung zwischen Diebstahl und Hehlerei; schließlich gehören auch die Wilderei (§§ 292, 293), der durch Landesvorschriften geahndete Feld- und Forstdiebstahl u. a. in den weiteren Bereich des Diebstahls. Dabei fallen kriminologisch die zuletzt genannten Delikte sowie § 248 b mehr quantitativ, § 252 wegen der Gefährlichkeit der Tat mehr qualitativ ins Gewicht. Infolge der Antragsbedürftigkeit mehrerer der erwähnten Delikte werden die Grenzen noch mehr verwischt, was für die gesamte Diebstahlskriminalität nicht von Bedeutung sein dürfte, wohl aber den Kriminologen insofern interessiert, als er solche Randdelikte als Symptome der Frühkriminalität gern in den Bereich seiner Beobachtungen einbeziehen möchte. Nicht nur der Wegnahmeakt mit seinen Erschwerungsformen nach § 243, sondern auch der Gewahrsam kann zum Problem werden: v. Hentig weist darauf hin, daß entgegen der juristisch klaren Unterstellung in der engen Kommunikation des heutigen (in anderen Formen auch des früheren) sozialen Lebens der tatsächliche Gewahrsam häufig „gelockert" ist (vgl. Automaten-, Beischlaf-, Hotel-, Taschen-, Selbstbedienungsläden- u. a. Diebstähle) und so Personen den Diebstahl ermöglicht, die unter anderen Voraussetzungen nicht bzw. nicht so leicht straffällig würden. Die in Statistik und Kasuistik erfaßten Diebstähle sind somit an die juristische Definition gebunden, die einerseits scharf umgrenzt, zum andern nicht ganz unabhängig von bestimmten historischen und soziologischen Gegebenheiten ist. Dies ist beim Vergleich verschiedener Zeiträume, aber auch gleich erscheinender Begehungsarten innerhalb unterschiedlicher soziologischer Strukturen zu beachten. Π. HÄUFIGKEIT DES DIEBSTAHLS T a b e l l e 1 enthält die wichtigsten Daten der Verurteiltenstatistik bis zum zweiten Weltkrieg. In normalen Zeiten kann eine einigermaßen konstante Relation zwischen der tatsächlichen Diebstahlshäufigkeit und der Zahl der Verurteilten angenommen werden. Die Verurteilungen nach §248a StBG bleiben in der Regel unter 1% aller Diebstahlsverurteilungen. An der kausalanalytisch schon an sich recht komplexen Diebstahlskurve machen sich bei Schwankungen der Wirtschaftslage und der Bevölkerungsstruktur (ζ. B. vor, in und nach Kriegen) verständliche Veränderungen bemerkbar, die ihrerseits nicht selten durch Faktoren wie Amnestie, Vergrößerung der Dunkelziffer u. a. abgewandelt werden. Von all diesen modifizierenden Momenten wird in erster Linie der einfache bzw. der Gelegenheitsdiebstahl betroffen. Die Angabe von Verurteiltenziffern ist
für Kriegszeiten wegen der territorialen und bevölkerungsmäßigen Verschiebungen (ζ. T. auch der Einrichtung von Sondergerichten und -maßnahmen) nicht möglich bzw. irreführend, für die Zeit nach 1933 wegen der wirtschaftlichen und militärischen Mobilmachung, durch die die Erfassung von leichter erscheinenden Diebstählen oft unterblieben ist, problematisch. Die tatsächliche Diebstahlskriminalität bei Ende des zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren läßt sich wegen der großen Dunkelziffer statistisch nicht annähernd ermitteln. Obwohl in der Regel kaum Aussicht auf Wiedererlangung des gestohlenen Guts oder auf Ergreifung des Täters besteht und die Anzeigenfreudigkeit daher gering ist, steigt beispielsweise in Berlin 1946 die Häufigkeit der Anzeigen gegenüber 1937 beim einfachen Diebstahl auf mehr als das elffache, beim schweren auf das sechseinhalbfache. Bei den auf T a b e l l e 2 angeführten Verurteiltenziffern müssen, abgesehen von den erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten, zu denen auch die ständige Flüchtlingsbewegung beiträgt, die wiederholten Amnestien berücksichtigt werden; die Ziffern geben nur schwache Anhaltspunkte für den Verlauf der tatsächlichen Kriminalität. (Bader, Blau 1952, Jacobs, Pingel.) In T a b e l l e 3 (Grundzahlen) und T a b e l l e 4 (Verurteiltenziffern) ist eine Aufgliederung nach Altersgruppen vorgenommen worden (Heranwachsende = 18 bis unter 21 Jahre; Jungerwachsene = 21 bis unter 25 Jahre). Die polizeiliche Statistik gibt ein zuverlässigeres Bild von der tatsächlichen Diebstahlskriminalität als die Verurteiltenstatistik. Auf T a b e l l e 6 sind für einige Jahrgänge die Zahl der gemeldeten Diebstähle, die Straftatenziffer (Zahl der auf 100.000 Einwohner entfallenden Straftaten dieses Delikts) und die Aufklärungsquote angegeben; letztere liegt tatsächlich insofern etwas höher als notiert, als eine Anzahl von Delikten mit oft erheblicher Verspätung aufgeklärt wird und dann nicht mehr Tabelle 2 Verurteiltenziffern §§ 242, 243, 244, 248 a StGB
Jahr
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1946 1947 632 1948 556 1949 335 1950 198 *) ohne § 248 a
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387 390 304 196
443 440 292 186
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(1)
(2)
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(7)
(8)
(9)
(10)
1950 1951 1952 1953 1964 1965 1956 1957 1968 1959 1960
101 128 137 96 69 67 65 67 60 57 56
334 462 489 396 298 308 323 341 332 305 302
474 656 692 535 399 377 372 417 415 415 410
346 455 401 333 263 294 307 382 409 425 454
15 16 16 12 10 9 8 8 8 8 7
87 118 126 97 83 80 90 96 100 93 80
142 224 223 156 143 134 131 160 167 159 169
116 213 161 113 92 105 117 160 165 155 168
219 284 286 223 173 174 176 196 191 185 180
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*) Anmerkungen wie auf Tab. 3. Tabelle 5 BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND*) Polizeiliche K r i m i n a l s t a t i s t i k Zahl der gemeldeten Diebstähle
Straftatenziffer (auf 100.000 Einwohner)
Aufklärungsquote
(1)
(2)
(3)
(4)
1953 1954 1965 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
644.110 634.507 576.619 622.385 714.087 736.679 781.797 856.033 906.094 908.186
1.062 1.034 1.105 1.179 1.330 1.353 1.422 1.538 1.613 1.595
44,8% 43,4% 42,6% 41,1% 38,0% 36,6% 36,1% 34,5% 34,0% 34,9%
Jahr
*) Einschl. Berlin (West) und ab 1957 Saarland. in der Statistik erscheint. Die D u n k e l z i f f e r , die von Meyer einmal auf 1 : 1 6 bis 20 beim einfachen und 1 : 8 beim schweren Diebstahl geschätzt worden ist, unterliegt, wie bereits angedeutet,
vermutlich starken Schwankungen, die aber nur teilweise mit der Verfolgungsintensität zusammenhängen. In jeweils verschiedenem Anteil bei den einzelnen Diebstahlsarten (vgl. Abschnitt III) kann folgendes eine Rolle spielen: Der Verlust wird nicht bemerkt oder durch Verlegen oder Verlieren erklärt; es wird keine Anzeige erstattet, weil man sich davon keinen Erfolg verspricht oder weil man mit dem Dieb Mitleid hat und ihn „begnadigt" oder weil man unerfreuliche Rückwirkungen auf das Ansehen der eigenen Person, des Geschäfts usw. befürchtet oder weil der Verlust einer Arbeitskraft schwerer zu wiegen scheint als das Risiko eines erneuten Diebstahl oder weil man sich der Gefahr der Entdeckung von strafbaren Handlungen, ζ. B. steuerlicher Art, aussetzen würde; es gibt eine Schutzhaltung des Kollektivs bzw. der Gruppe, der der Täter zugehört, beispielsweise bei gewissen Diebstählen in der Industriebevölkerung oder beim Militär, die in eigener Justiz geahndet werden; ähnliches gilt für manche Diebstähle in exklusiven Kreisen, die den Fall lieber unter sich regeln, als ihn der Justiz und damit der Öffentlichkeit zu überlassen (v. Hentig 1954). Im Krieg bzw. bei schwerer Strafandrohung unterläßt der Verletzte mitunter die Anzeige, wenn die Strafe ihm in keinem angemessenen Verhältnis zu den vermuteten verständlichen Motiven zu stehen scheint; andererseits
Diebs talil
122
nimmt die Zahl der Denunziationen aus persönlichen Gründen zu, bei denen der Diebstahl nur ein geeigneter Anlaß ist. ΠΙ. ERSCHEINUNGSFORMEN DES DIEBSTAHLS A. Einlacher und schwerer Diebstahl Eine Typologie des Diebstahls wird sich vornehmlich an die Ausführungsart, an das Diebstahlsobjekt oder an eine bestimmte Diebstahlssituation halten; eine Einteilung von der Person des Täters oder vom Motiv her (wie ζ. B. beim Fetischismus) ist gegenwärtig noch kaum möglich. Im folgenden Abschnitt werden einige prägnante Erscheinungsformen des Diebstahls — in weitgehender Anlehnung an die praktisch bewährte polizeiliche Einteilung—in alphabetischer Reihenfolge, d. h. ohne besonderes Ordnungsprinzip, gebracht. Die gesetzliche Unterscheidung von einfachem und schwerem Diebstahl läßt sich kaum kriminologisch rechtfertigen, sondern ist vornehmlich historisch begründet. Bei jungen Tätern ist die Korrelation zwischen alleinigem und gemeinschaftlichem Diebstahl anscheinend geringer als zwischen einfachem und schwerem (Brauneck). Kirchendiebstahl, Transportdiebstahl, Diebstahl von Gegenständen aus edlen oder unedlen Metallen, die dem öffentlichen Nutzen dienen, Bandendiebstahl, Diebstahl zur Nachtzeit sind kriminologisch in vielen Fällen weitaus „leichter" einzuschätzen als nicht wenige einfache, beispielsweise Hotel- oder Taschendiebstähle (im angloamerikanischen Recht ist larceny from the person ein Erschwerungsgrund). Historisch-soziologische Gegebenheiten und Notwendigkeiten machen den stärkeren Schutz des Rechtsguts verständlich, sind in ihrer Auswirkung aber oft unelastisch; ähnlich wie früher der Pferdediebstahl sind in allgemeinen Notlagen der Vieh- und Getreidediebstahl, der Diebstahl von Flüchtlingsgut u. a. besonders schutzwürdig. Selbst der Einbruch, der 50 bis 75% aller schweren Diebstähle ausmacht, ist in erster Linie durch seine Technik — Einbrechen, Einsteigen, Erbrechen von Behältnissen, und praktisch wird auch der Nachschlüsseldiebstahl dazu gerechnet — gekennzeichnet, woraus sich oft (so ζ. B. bei jungen Delinquenten) kein Schluß auf die kriminelle Intensität des Täters ziehen läßt.
B. Die einzelnen Erscheinungsformen 1.
Automatendiebstahl
Er ist nicht so sehr wegen seiner Zunahme in den letzten Jahren von kriminologischer Bedeutung als deshalb, weil er in erheblichem Umfang ein Anfängerdelikt ist. 1963 sind rund 40.000
Automatendiebstähle angezeigt worden. Unter den (zu 30%) ermittelten Tätern waren 24,9% Heranwachsende, 27,0% Jugendliche und 6,1% Kinder. Bei späteren Dieben und Einbrechern, aber auch anderen Kriminellen findet sich relativ häufig der Automatendiebstahl als erste oder eine der ersten Deliktsformen. Dabei läßt die Durchführungsart dieses Delikts oft schon einen Zusammenhang mit späteren Straftaten erkennen, beispielsweise in der Anwendung von plumper Gewalt, von Handgeschicklichkeit oder von technischem Raffinement. Bevorzugte T e c h n i k e n sind: (a) Der Automat wird gewaltsam abgerissen; (b) es wird die Scheibe eingeschlagen und Ware entnommen; (c) es wird die Kassette aufgebrochen. Es werden kleine Konstruktionsmängel ausgenutzt: (d) bei Zigarettenautomaten (ältere Modelle) konnte man durch nicht richtiges Schließen nach Entnahme einer Packung die übrigen Packungen mittels Haken herausmanipulieren; (e) ebenso war es mitunter möglich, durch einen geschickten, kräftigen Schlag mit dem Handballen im Augenblick des Einschiebens eines Schubfaches ein anderes zu lösen und so alle Fächer nacheinander zu entleeren, (f) Es werden Geld minderen Wertes (echte präparierte oder ausländische oder nicht mehr gültige Münzen) oder falsches Geld oder Metallscheiben benützt (gilt rechtlich als Betrug, ist aber kriminologisch mehr dem Diebstahl verwandt). Sperr- und Sicherungsvorrichtungen werden ausgeschaltet: (g) durch ein an einem Nylonfaden befestigtes Geldstück konnte bei älteren Fernsprechautomaten eine Sperrfeder gelöst und so die Geldrückgabe betätigt werden; (h) Papierpfropfen, gelegentlich mit Draht festgehalten, machen den Automaten betriebsunfähig, verhindern andererseits die Geldrückgabe, worauf das angesammelte Geld bei Entfernung des Pfropfens ausgelöst werden kann, (i) Eine oft geradezu virtuose Geschicklichkeit und „Einfühlungsfähigkcit" in die Automatik erfordern die verschiedenen Arten der Geldentwendung aus Spielautomaten. Für nicht wenige jüngere Täter hat die Technik des Automatendiebstahls bzw. -betrugs sportlichen Charakter und wird ζ. B. Freunden vorgeführt. Erfolgreiche Tricks sprechen sich schnell herum, weshalb mehrfach in Städten oder Stadtteilen durch solche „Moden" eine größere Zahl von Automaten außer Betrieb gesetzt worden ist. Die Täter arbeiten meist schnell, vorwiegend bei Dunkelheit und hinterlassen wegen der allgemeinen Zugänglichkeit der Automaten nur selten verwertbare Spuren. Die Verurteilung erfolgt in der Regel nach den §§ 242,243 Ziff. 2,265 a, 303 StGB, was hinsichtlich der Unterscheidung von einfachem und schwerem Diebstahl insofern unbefriedigend ist, als es auf die oft recht schwierig zu beurteilende Art der Anbringung des Automaten an Gebäuden usw. ankommt.
123
Diebstahl
2. Beischlafdiebstahl
3. Eisenbahndiebstahl
Die Dunkelziffer ist sehr groß, und zwar teils weil keine Anzeige erstattet wird, teils weil das Opfer den Verlust nicht bemerkt oder nicht sicher ist, daß ein Diebstahl vorliegt. In öffentlich zugelassenen Häusern ist die Gefahr, bestohlen zu werden, geringer, weil die Inhaberinnen auf Ruf und Geschäft Rücksicht nehmen müssen und daher streng kontrollieren; größer ist sie bei Prostituierten, die frei oder unter Aufsicht von Zuhältern ihrem Gewerbe nachgehen, wobei es hier alle Übergänge gibt bis zur Diebin, der die gelegentliche Prostitution nur ein Mittel zur Verwirklichung ihrer Diebstahlsabsichten ist. Teils besteht die Absicht zu stehlen von vornherein, teils entsteht sie erst — wie das aus der Mentalität vieler Prostituierter leicht verständlich ist — bei günstiger Gelegenheit. J e nach der Situation bzw. dem Niveau der Bar, des Tanzlokals usw. erfolgt die Annäherung mehr in der Rolle des bescheidenen, auch verschämten Mädchens, der vernachlässigten Frau oder des durchaus zielbewußten Liebespartners. Die in der Regel leicht zu erreichende Intimität ermöglicht es, durch Berührung (Abtasten, oft bemerktes und erregungssteigerndes Streicheln), durch Beobachtung des Finanzgebarens (Ausgaben, Trinkgelder, Sitz der Brieftasche usw.) oder durch das Gespräch soziale Stellung und Besitz des Opfers zu erkunden. Beides kann von Bedeutung sein: Bei hohen Geldbeträgen ist das Risiko einer Anzeige größer; exponierte oder empfindliche soziale Stellung und Haltung verringern die Gefahr einer Anzeige. Wird beispielsweise eine bestimmte Diebin beschuldigt, so genügt oft die Ankündigung ihres Verteidigers, er werde die Ehefrau oder die Familie des Klägers als Zeugen laden lassen, zur Zurücknahme der Beschuldigung. Bei Entwendungsabsicht ist es für die Diebin zweckmäßig, den Diebstahl vorzuverlegen — beispielsweise beim Tanz oder in anderen Vorstadien des Sexualverkehrs zu stehlen —, um nicht durch das Aufsuchen eines Hotels, Zimmers usw. die Identifizierung zu erleichtern. Fast immer gelingt es, das Opfer in einen mehr oder weniger stark alkoholisierten Zustand zu versetzen, in dem nicht nur der Diebstahl unbemerkt bleibt, sondern auch die Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Zur Unterstützung von „Erinnerungsschwächen" werden dem Opfer mitunter einige Barmittel belassen, was dann den Gedanken an Diebstahl u. U. gar nicht aufkommen läßt. Manchmal werden beim Opfer Regungen von Mitleid, Eitelkeit u. a. miteinkalkuliert. Falschbeschuldigungen kommen vor, ζ. B. wenn ein plausibler, aber nicht nachprüfbarer Grund für das Fehlen von Geld gefunden werden muß. Das Peinliche des berichteten Vorfalls kann dabei den Eindruck der Aufrichtigkeit verstärken.
Gemeint ist hier nur das Bestehlen von Fahrgästen, nicht der Diebstahl von Transportgütern. In der Regel handelt es sich um Trickdiebstahl oder eine Variante des Taschendiebstahls. So hat der Dieb oft einen (mitunter weiblichen) Helfer, der die Aufgabe hat, am Schalter zahlungsfähige und zugängliche Fahrgäste ausfindig zu machen, ein Gedränge herbeizuführen, den Fahrgast abzulenken — beispielsweise zum gemeinsamen Besuch des Speisewagens zu veranlassen —, den Dieb zu decken, unmittelbar nach dem Diebstahl die Beute zu übernehmen usw. Wenn der Eisenbahndieb allein ist, benutzt er das Gedränge am Schalter, an der Gepäckabfertigung, im Zug und zwar möglichst kurz vor dem Anhalten; in schmalen Gängen arbeitet er sich durch die Menge hindurch, den linken Arm erhoben, evtl. mit Mantel oder Aktentasche, und unter dieser Deckung mit der rechten Hand stehlend. Daß schlafende Fahrgäste besonders geeignete Opfer sind, ist verständlich. Ebenso wie beim Taschendieb sind Unauffälligkeit und Gewandtheit im Auftreten, notfalls Geistesgegenwart und Unverfrorenheit erforderlich. Viele Täter gehören zu den internationalen Dieben. Vgl. Taschen- und Trickdiebstahl und Diebstahl von Transportgütern.
4. Feld- und Forstdiebstahl. Viehdiebstahl Feld- und Forstdiebstähle werden in der Regel nach Landesvorschriften geahndet. Sie haben in früheren Zeiten eine weitaus größere Rolle als heute gespielt. So kam in den Jahren 1857 bis 1880 in Preußen eine Anzeige wegen Holzdiebstahls (allmählich abnehmend) auf 45 bis 60 Einwohner, eine Anzeige wegen sämtlicher anderer Diebstähle auf etwa 400 bis 500 Einwohner. — Ein besonderer Tätertyp läßt sich nicht herausarbeiten. Das Delikt wird meist von wenig bemittelten Personen in mehr ländlichen Gegenden, in den Städten jahreszeitlich bedingt als Obstdiebstahl, begangen und gewinnt nur in Zeiten allgemeiner Not kriminalpolitische Bedeutung, wenn sich der Mangel an Lebensmitteln und Heizmaterial auch in wirtschaftlich besser situierten Kreisen und in städtischen Bezirken bemerkbar macht. Die Zahl der Entwendungen sinkt mit Besserung der allgemeinen Wirtschaftslage sofort ab. So erfolgten beispielsweise in Nordrhein-Westfalen jeweils in den Monaten September bis Dezember Anzeigen von Kleindiebstählen (Jacobs): Jahr
Felddiebstähle
Klein viehdiebstähle
1946 1947 1948 1949 1950
10.034 34.205 6.522 2.445 1.069
6.330 15.613 10.907 4.500 1.749
124
Diebstahl
Der Diebstahl von Großvieh ist in engbesiedelten Gegenden von Kulturstaaten für einzelne Personen schwierig durchzuführen und daher selten. Der Pferdediebstahl geschah in früheren Zeiten wahrscheinlich aus ähnlichen Motiven und zu ähnlichen Zwecken wie heute der Kraftfahrzeugdiebstahl. Gegenwärtig wird der Großviehdiebstahl in gut organisierter Form beispielweise in viehzüchtenden Gegenden Amerikas insbesondere beim Steigen der Fleischpreise durchgeführt, indem etwa Pferde in Möbelwagen mit dem Namen bekannter Umzugsfirmen verladen, an einsamen Stellen mit schallschwachen Gewehren erschossen, sofort von Schlächtern fachgerecht zerlegt und in derselben Nacht Hunderte von Kilometern verfrachtet und in Kühlhäusern untergebracht werden (v. Hentig 1954). Aus Deutschland ist der Fall eines Schlächters bekannt, der fast fünf Jahre lang mit einem Komplizen in gutem Anzug und einem teueren Kraftwagen, ohne Verdacht zu erregen, nachts Weiden aufsuchte, Rinder nach Anlegen geeigneter Kleidung schlachtete, zerlegte und im Kofferraum seines Fahrzeugs wegschaffte (Eigenbrodt). 5. Diebslahl auf fetischistischer Grundlage Beim unechten Fetischismus steht die Handlung, ζ. B. der Diebstahl, in einer noch einigermaßen verständlichen, luststeigernden Beziehung zum normalen Sexualgeschehen; so etwa beim Aufschlitzen von Kleidern, bei der Aneignung von Haaren (Zopfabschneider), Unterwäsche, Strümpfen, Schuhen und ähnlichen Gegenständen, die oft auch der Vermittlung bestimmter intimer Gerüche dienen. Es bestehen fließende Übergänge zum echten Fetischismus, bei dem das Objekt lediglich erregungsauslösende Ersatzfunktion besitzt. Hierzu gehört ζ. B. die Entwendung von Schürzen, Taschentüchern, Kleidern, Windeln, Wachstuch, Fellen, Leder, bestimmten Stoffen, aber auch Brillen, Exkrementen, Prothesen, Werkzeugen, Kunstwerken, Dokumenten, Autogrammen (Berg). Oft muß sich der Gegenstand in einem bestimmten Zustand befinden, ζ. B. naß, gebraucht, verschmutzt, blutig sein, riechen, woraus sich häufig Anhaltspunkte für das Motiv des Diebstahls ergeben. Viele Fetischisten sammeln Fetische einer bestimmten Art. Es gibt dabei Übergänge zur Kleptomanie. 6. Einbruch in Geldinstitute. Geldschrankeinhruch In der Statistik fallen der Einbruch in Banken, Sparkassen usw. und der Geldschrankeinbruch nicht ins Gewicht. In den Jahren 1957 bis 1959 sind in der Bundesrepublik 793, 764 und 700 solcher Einbrüche bekannt geworden (Straftatenziffer rund 1,4). Davon wurde etwa ein Drittel aufgeklärt. Als Täter wurden mehr als 50% Er-
wachsene festgestellt; weibliche Täter sind sehr selten. Die relative Konstanz der Deliktshäufigkeit und des Personenkreises beruht darauf, daß diese Einbrüche angesichts der Kompliziertheit von Planung und Durchführung vorwiegend von Berufs- und Gewohnheitsverbrechern begangen werden. Auffällig ist, daß Tatorte in ländlichen Gebieten um etwa ein Drittel häufiger sind als in Großstädten, in denen vermutlich moderne Panzerungen und Sicherungsvorrichtungen die Erfolgsaussicht mindern. Lange, kalte und stürmische Nächte erleichtern die Arbeit; in der Nacht zum Sonntag ist die Gefahr des Entdecktwerdens geringer, auch kann man nötigenfalls die Arbeit in der folgenden Nacht fortsetzen. Der Einbruch bedarf guter Organisation und Vorbereitung und kann bei dem heutigen Stand der Verschluß- und Sicherungstechnik nicht von einer einzelnen Person durchgeführt werden. Die Kolonne umfaßt meist 2 bis 5 Mann. Sie muß erstens wegen der Gewinnverteilung, zweitens wegen des Risikos einer Entdeckung oder des Verrats möglichst klein gehalten werden. Sie bleibt ständig oder längere Zeit bestehen oder die Täter schließen sich ihren Kenntnissen und Erfahrungen entsprechend zur Verübung eines einzelnen Einbruchs zusammen. Wegen des Risikos und der oft umfangreichen Vorbereitungen beschränken sich Berufsverbrecher auf das für die Tat unbedingt Notwendige und sind unter anderem daran oft für den Kriminalisten erkennbar; je komplizierter das Unternehmen angelegt ist, um so eher kann etwas schief gehen. Die Arbeitsteilung erfolgt nach organisatorischen Notwendigkeiten, nach Erfahrung und nach Kenntnissen. Immer ist mindestens ein Fachmann für die anzuwendende Aufbruchstechnik dabei (Schlosser, Schweißer, Mechaniker, Elektriker usw.), der nicht selten Autodidakt ist. Für die eigentliche Einbruchsarbeit sind körperliche Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer vonnöten. a) V o r b e r e i t u n g . (1) A u s k u n d s c h a f t u n g u n d P l a n u n g . Sie erfordern mitunter langfristige und breit angelegte Vorarbeit. Räumliche Lage und Zugänglichkeit des Objekts müssen festgestellt werden, ebenso der zugehörige Personenkreis und sein gewohnheitsmäßiges Verhalten im Hinblick auf das Objekt. Die auskundschaftenden Mitglieder der Stary-Bande (1949—1954) ließen oft Monate verstreichen, um sich in Vergessenheit zu bringen. Sie traten ζ. B. als stoffreisende Flüchtlinge (mit Wandergewerbeschein) auf, hatten getrennte Aufenthaltsorte und wurden erst kurz vor der Tat zusammengerufen (Gabrysch). Manchmal müssen Grundrisse von Bauten beschafft oder rekonstruiert, die genauen Stellen von Durchbrüchen, Tunnels usw. berechnet werden. Bei den Brüdern Sass fand sich 1934 eine Skizze der Tresoranlage der Kopenhagener Stadtsparkasse, deren Neub au gerade begonnen worden
Diebstahl war (Fabich). Als Pächter von Schließfächern kann man sich leicht Kenntnisse von örtlichkeiten und Gewohnheiten verschaffen. Mitunter ist Tarnung als ehrbarer Bürger, der brav seiner Arbeit nachgeht, angebracht, wobei diese Arbeit keine Beziehung zur Einbruchstechnik haben darf. Ein gewandter „Schließer" und „Bohrer" galt vier Jahre lang als Invalide (Eschenbach). Die Planung erfolgt mitunter schon in den Strafanstalten, wo gegebenenfalls auch die Kolonne zusammengestellt wird. In Besprechungen oder einer Art Unterricht erhalten dann angemessene Zeit vor der Tat die Mitglieder technische und taktische Informationen, ζ. B. auch über das Verhalten bei Festnahme. Gelegentlich erfolgt die Anregung zu einem Einbruch und in seltenen Fällen sogar die Zusammenstellung der Kolonne durch einen Hehler, der geistig wendiger als die Tatausführenden ist. (2) V o r a r b e i t . Hierzu gehören alle Verrichtungen, die erst den planmäßigen Ablauf der eigentlichen Einbruchshandlung ermöglichen: Beschaffung oder Herstellung von Werkzeugen, Geräten (ζ. B. Gasflaschen), Nachschlüsseln usw., die teils gekauft, teils gestohlen werden; im Hinblick auf die Tat räumlich und zeitlich günstige Lagerung dieser Mittel; mitunter Vorversuche zur Aneignung bestimmter Techniken (ζ. B . Schweißverfahren); selten Ausschaltung, Ablenkung oder Bestechung von Personen; Heranarbeiten an das Einbruchsobjekt, ζ. B. durch Tunnelbau (Brüder Sass 1928/29), getarnte Mauer- und Deckendurchbrüche, Präparieren von Sicherungseinrichtungen (1944 hatten — nach v. Hentig 1954 — in New York Einbrecher einen winzigen Fehler in Schlössern einer Fabrik entdeckt, der es ermöglichte, einen Zylinder herauszunehmen und einen selbstgefertigten einzusetzen, der wiederum nach der Tat durch den alten ersetzt wurde); Anlegen von Verstecken und Lagern möglichst weitab vom Tatort. Manchmal müssen Alternativen vorbereitet werden: Wenn das öffnen des Schlosses nicht gelingt, muß ein Durchbruch versucht werden usw. Um in den Besitz von Schlüsseln oder Schüsselabdrücken zu kommen, müssen mitunter Beziehungen zu Kassenbeamten hergestellt und notfalls Diebstähle begangen werden; Tötungen sind sehr selten und unbeliebt. b) E i n b r u c h s t e c h n i k . Die Sicherungseinrich tungen werden teils umgangen (ζ. B . Ausschaltung von Alarmanlagen), teils angegriffen. Der Angriff erfolgt primitiv (mit Brachialgewalt) oder mit technischen Finessen. Er geschieht auf die Wandung des Kassenschranks, Tresors usw. (der Ausführende ist ein „Bohrer" oder „Knacker") oder auf den Verschluß („Schliesser"). Einbrecher in moderne Tresoranlagen müssen sich auf der Höhe der Technik befinden und bewirken einen ständigen Wettstreit mit der Industrie, die auf Messen, in Fachzeitschriften und Kursen die Einbrecher
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informiert. Ein Tresor muß feuer-, stürz-, einbruch-, spreng- und schmelzsicher sein. Stahlkammeranlagen müssen Umbauten besitzen, die alle Wände der Kammer kontrollierbar machen. Um S c h l ö s s e r öffnen zu können, muß der „Schließer" mit dem System vertraut sein. Der Schlüsselbund zum Nachschließen wird heute kaum noch gebraucht, weil er nur für veraltete Verschlußsysteme in Betracht kommt und die Verwendung einer größeren Zahl von Schlüsseln bzw. Dietrichen zu zeitraubend wäre. Buntbartschlösser lassen sich jederzeit öffnen, sogenannte Chubb-Schlösser mit mehreren unter Federdruck stehenden „Zuhaltungen", die gesondert angehoben und gehalten werden müssen und erst in ihrer Gesamtheit das öffnen ermöglichen, lassen sich bis zu 4 Zuhaltungen abtasten und nachschließen. Durch Komplikationen wie mehr Zuhaltungen, unsymmetrische Anordnung, Einschaltung von Sperrvorrichtungen, die ein Abtasten verhindern, Doppelbart mit zweifacher Sperrung u. a. wird das Nachschließen bis an die Grenze des Unmöglichen erschwert (Ehrlich). Der „Schließer" verwendet eine Drahtbürste, die die zum öffnen der Zuhaltungen nötigen Schlüsselbarteinschnitte erkennbar macht, oder einen Bleistreifen-Schlüsselbart, mit dem ein Schlüsselprofil gewonnen werden kann, das ebenfalls die Herstellung eines Nachschlüssels ermöglicht; mit sogenannten Öffnungshebeln kann er unter bestimmten Voraussetzungen die Zuhaltungen nacheinander anheben und so das Schloß ohne Nachschlüssel öffnen. Die Sicherheit von Zylinderschlössern beruht auf einer bestimmten Anordnung von gefederten Stiftzuhaltungen, die den drehbaren Zylinderkern fest mit dem starren Zylinderkörper verbinden und bei abgezogenem oder falschem Schlüssel den Zylinder blockieren. Mit Öffnungshebeln können auch solche Schlösser geöffnet werden, doch erfordert dies besondere Feinfühligkeit, Fingerfertigkeit und Übung. Bei Kombinationsschlössern, bei denen das öffnen ohne Schlüssel durch Einstellen von drehbaren Scheiben auf eine Geheimzahl geschieht, konnte früher durch Abhorchen (auch mittels Stethoskop) der Reibgeräusche manchmal die richtige Einstellung gefunden werden. Bei modernen Tresoranlagen sind alle diese Öffnungsmöglichkeiten berücksichtigt und durch ein System von Sperr- und Täuschungseinrichtungen derartig erschwert worden, daß die Einbrecher meist gar nicht erst versuchen, durch Nachschließen ihr Ziel zu erreichen. Beim K a l t v e r f a h r e n , einer alten und noch immer verbreiteten Methode, wird die Wandung angegriffen. Bohrlöcher werden durch den „Reißer", ein Eisen mit hakenförmiger Spitze, zu einem Schlitz verbunden, dann wird der „Knabber", bestehend aus Kopf und Hebelarm, angesetzt. Er schneidet Panzerplatten bis 8 mm Dicke durch. Das Verfahren erfordert erhebliche Körper-
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Diebstahl
kräfte. Es wird die Rück- oder Seitenwand des Tresors durchbrochen oder das Schloß freigelegt und dann geöffnet. Nur im letzteren Fall hat man die Gewähr, an den ganzen Inhalt des Geldschranks heranzukommen und sich nicht u. U. mit einem Seitenfach begnügen zu müssen. Bei der sogenannten Ziehmaschine wird ein Eisenstück mit dem Kassenschrank verschraubt und durch Eindrehen eines Bolzens mit feingängigem Gewinde die Tür oder Teile der Panzerung zum Bersten gebracht. Auch durch rotierende Sägen können Löcher gebohrt werden. Beim W a r m v e r f a h r e n , das seit etwa einem halben Jahrhundert zunehmend angewandt wird, werden die Wände (meist in Schloßnähe) mittels des Schneidbrenners oder nach dem sogenannten Thermitverfahren aufgeschweißt. Auch hier haben sich die Methoden der Einbrecher den Abwehreinrichtungen der Industrie angepaßt. Werkstückdicken bis zu 400 mm lassen sich so bewältigen. Mit der sogenannten Sauerstofflanze kann man Eisenbeton bis zu 2 m Dicke in wenigen Minuten durchbohren. Das Warmverfahren erfordert umfangreiche und kostspielige Vorbereitungen, gute Fachkenntnisse und wird daher selten und bei lohnenden Objekten angewandt. Das A u f s p r e n g e n des Geldschranks ist bei älteren Modellen möglich und war einige Zeit recht beliebt. Man konnte ζ. B. Dynamit in gebohrte Löcher bringen oder Nitroglyzerin in die Ritzen gießen oder eine Sprengkapsel in ein ungesichertes Schlüsselloch einführen, verdämmen und zünden. Bei modernen Geldschränken ist solchen Möglichkeiten vorgebeugt. Beim amerikanischen C a r r y - a w a y - S y s t e m wird „der ganze Geldschrank hochgewuchtet, aufgeladen, weggefahren und irgendwo an einsamer Stelle geöffnet" (v. Hentig 1954). Technische Einzelheiten bei Schaible. c) S i c h e r u n g und S p u r e n v e r w i s c h u n g . Auskundschafter nehmen oft nicht an der eigentlichen Tat teil und haben so notfalls ein Alibi; wie umgekehrt auch die Tatausführenden nachweisen können, daß sie mit fremden und verdächtigen Personen, die vor der Tat bemerkt wurden, nicht identisch sind. Es werden Fluchtwege festgelegt und eventuell vorbereitet. Die Arbeit wird in Handschuhen, Strümpfen oder Sportschuhen durchgeführt; Kleider werden danach sofort gereinigt, Schuhe mitunter verbrannt. Abdichtung des Raumes gegen Licht und Schall ist oft notwendig. Wenn die Arbeit in einer Nacht nicht fertig wird, müssen Spuren verwischt werden. Um der Polizei keinen Schluß aus der Perseveranz zu ermöglichen, täuschen beispielsweise KaltArbeiter eine stümperhafte Warm-Arbeit vor. Pistolen werden gelegentlich mitgenommen, aber nur in äußerster Not verwendet. Minderjährige Einbrecher sind allerdings oft bedenkenloser. Es wird festgelegt, inwieweit und in welcher Hinsicht
man sich bei Festnahmen und Gegenüberstellungen kennt. Geldinstitut- und Geldschrankeinbrecher genießen in den Kreisen der Kriminellen höchstes Ansehen. Jungen Kriminellen gelten sie als Helden und Vorbilder. Diese Idealisierung hängt einmal mit offensichtlichen Befähigungen und Fertigkeiten des Einbrechers wie Mut, Zuverlässigkeit, Umsicht, Körperkraft, Fachkenntnis zusammen, zum zweiten mit der faszinierenden Wirkung der großen Beute, drittens mit der Resonanz der Öffentlichkeit auf die Tat (Presseschlagzeilen) und schließlich mit sehr selten vorkommenden, aber nach sozialpsychologischen Regeln sich schnell und tendenziös verbreitenden Berichten beispielsweise der Art, daß große (amerikanische) Banken in Notlagen ihre Zuflucht zu aus dem Zuchthaus vorgeführten Einbruchsspezialisten nehmen, die dann auch den Safe fachmännisch öffnen (v. Hentig 1954). Das Gruppenbewußtsein und der Ehrenkodex, die in der Kolonne entstehen, erhöhen einerseits durch die Exklusivität den Nimbus der Kolonne, erleichtern zum andern die Arbeit und verstärken die äußere Sicherheit; sie verringern die Gefahr des Verrats (ζ. B. bei Festnahmen) und machen dem einzelnen Kolonnenmitglied die notfalls brutale Durchsetzung der Bestimmungen des Kodex bewußt. Amateure und Neulinge werden mit großer Vorsicht aufgenommen. Wenn die Gruppe zerfällt, ist jeder einzelne durch den Verdacht des möglichen Verrats besonders gefährdet. 7.
Geschäftseinlruch
Der Einbruch in Geschäfts-, Fabrik-, Werkstatt- und Lagerräume macht mit über 50.000 Fällen in der Polizeistatistik der Bundesrepublik fast ein Drittel aller schweren Diebstähle aus. Die Inbesitznahme erfolgt mehr oder weniger gewaltsam und ohne die Anwesenheit des Besitzers oder anderer Personen. Hinsichtlich der Persönlichkeit des Täters, der erstrebten Beute, der Planung und der angewandten Mittel bestehen ganz erhebliche Unterschiede; die Variationsbreite reicht vom beiläufigen, augenblicksbestimmten Entschluß, eine Schaufensterscheibe einzuschlagen, bis an den durchorganisierten Bankeinbruch heran. Teils wird ein bestimmtes, wertmäßig bekanntes Objekt zu stehlen gesucht, teils wird aus der Art des Geschäfts oder der Räumlichkeiten auf das Vorhandensein von verwertbaren Gegenständen bzw. Geld geschlossen, teils wird aufs Geratewohl eingebrochen und u. U. Geringwertiges — dessen juristische Belastung unerfahrenen Tätern oft erst in der Gerichtsverhandlung zu ihrem Ärger bewußt wird — mitgenommen. Die Tat wird vorbereitet, ζ. B. durch Auskundschaften, Werkzeugbeschaffung, nicht selten geht man aber einem spontanen Entschluß folgend — bei jungen Tätern oft angetrunken — direkt aufs Ziel zu. Bei der
Diebstahl Durchführung können etwas ängstliche Komplizen zur Not Schmiere stehen oder einen Kraftwagen bereithalten. Die Notwendigkeit der Ausschaltung von Alarmanlagen (Mörschel), Wächtern ist nicht immer voraussehbar und wird mitunter dem Zufall überlassen. Wenn Schlösser nicht geöffnet werden sollen oder können, erfolgt der Einbruch durch Fenster (Schaufenster, Gitter), Tür (Oberlichtfenster), Mauer, Decke, Dach mit den üblichen Techniken und gelegentlich in halsbrecherischen Kletterpartien. Manchmal ist Einschleichen während der Betriebszeit des Geschäfts am zweckmäßigsten. Die Tatzeit ist vorwiegend nachts. Manchmal sichert man sich, ζ. B. durch Abdichten und Verschließen von innen, und verwischt Spuren. Mitunter und besonders bei Einbrüchen junger Täter in Lebensmittelgeschäfte kommt es zu sinnlosen Zerstörungen (Vandalismus), die psychologisch den massiven Aggressionsentladungen beim Plündern (überreichliche Beute kann nur zu einem geringen Teil verwertet werden, ζ. B. durch Vollfressen) verwandt sind. Gelegentliches Verrichten der Notdurft hat Entspannungsund daneben manchmal Protestfunktion. Die Kioskeinbrüche der Minderjährigen kommen den Automatendiebstählen nahe, weil der Einbruch nicht schwer durchzuführen, der Sicherungsschutz schwach und die Beute meist gering und übersehbar ist. 8.
Hoteldiebstahl
Der Hoteldieb rückt insofern in die Nähe des Betrügers und Hochstaplers, als er in der Regel selbstsicheres Auftreten, Gewandtheit im Umgang mit Menschen, Geistesgegenwart, im ganzen also Anpassungsfähigkeit an die Atmosphäre und die jeweilige Situation besitzen muß. Während vor einem halben Jahrhundert noch über Fälle berichtet wurde, in denen ein Hoteldieb nach vorheriger Rekognoszierung bei Nacht im dunklen Trikot durch die Flure huschte, um bestimmte Zimmer — gelegentlich nach vorherigem Einölen von Schlössern und Angeln 1 —• zu öffnen, würde eine solche Ausstattung für ihn heute nur nachteilig sein. Bei Nacht ist es zweckmäßiger, sich im Pyjama in der Zimmertür zu „irren" oder die Toilette zu suchen. Günstig zum Stehlen sind die Frühstückszeit, während der das Zimmer noch nicht aufgeräumt ist und insbesondere Frauen ihren Schmuck oft recht sorglos herumliegen lassen, die übrigen gemeinsamen Essenszeiten und die Schlafenszeit. Da die meisten Türen nicht verschlossen sind, kann man mit oder ohne Anklopfen das Zimmer betreten und notfalls sich entschuldigen. Bei verschlossener Tür ist es oft weniger angebracht, sich eines'Nachschlüssels oder Dietrichs zu bedienen, als etwa beim Portier in ebenso selbstverständlichem wie bestimmtem Ton um den Schlüssel zu bitten (vgl. die Memoiren von G. Manolescu, zit. bei v. Hentig 1954). Diese
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Taktik ist vor allem zweckmäßig, wenn ein Diebespaar zusammenarbeitet, wobei der als Besucher auftretende Partner sofort mit der Beute verschwindet, während der andere sich notfalls untersuchen läßt. Es ist nicht notwendig, daß der Dieb im Hotel wohnt: er erscheint zur passenden Zeit, um etwas persönlich abzugeben, jemand aufzusuchen und bedient sich dabei des jeweils angemessenen Tons (Gabeler). Als Hotelgast versteht er es oft, sich durch sein verständnisvolles, feines, zurückhaltendes Wesen oder durch weltmännisches Auftreten, durch Arroganz usw. Beliebtheit oder Respekt zu verschaffen und dadurch über jeden Verdacht erhaben zu erscheinen (Setzepfand; vgl. auch die subtile Schilderung der geschmeidigen, wenn auch narzißtischen Anpassung beim „Felix Krull" von Thomas Mann). Notfalls muß er auch überzeugende Auftritte arrangieren können. Nach gelungenem Diebstahl ist es angebracht, nicht nur möglichst schnell und weit vom Tatort zu verschwinden, sondern auch das Besucherklima zu wechseln, beispielsweise nach einem exklusiven Badeort ein Touristenstädtchen in den Bergen oder eine Großstadt mit mehr Geschäftsbetrieb aufzusuchen. Viele Hoteldiebstähle werden von internationalen Dieben begangen. Frühere Hotelangestellte sind mit dem Hotelbetrieb und dem intimen Gebaren der Gäste so vertraut, daß sie sich oft als besonders geschickte Diebe erweisen. An Bestechung von Hotelpersonal muß immer gedacht werden. Den Hoteldieben verwandt sind die Einmietediebe, die entweder anläßlich einer Zimmerbesichtigung den Vermieter aus dem Zimmer locken oder durch einen Partner herauslocken lassen oder die das Zimmer einige Tage bewohnen, wodurch sie genügend Gelegenheit finden, sich umzusehen, in Ruhe die Beute aus dem Haus zu schaffen und zu verschwinden (Eschenbach 1955). Einen Übergang zum Wohnungseinbrecher bildet der Fassadenkletterer, der im Hotel auch ohne vorherige Auskundschaftung mit Beute rechnen kann. 9.
Juwelendiebslahl
Zu den Juwelen- bzw. Schmuckdiebstählen im weiteren Sinn des Wortes gehören die Hoteldiebstähle, bei denen Juwelen durch einfachen Diebstahl oder Einbruch entwendet werden; weiterhin die Diebstähle in Theatern, auf öffentlichen und repräsentativen Veranstaltungen, bei Zusammenkünften usw., wo im Augenblick festlicher Hochstimmung und entsprechender Unbesorgtheit entweder mit Taschendiebstahlsmethoden oder durch Eindringen in Räume oder Behältnisse gestohlen wird; schließlich der nach Plan durchgeführte Diebstahl von Schmuck aus der Wohnung, dem Schaufenster (W. Keller) oder Geldschrank, nachdem die Diebe sich des Werts und Aufbewahrungsorts des Objekts vergewissert haben. Eine andere
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Diebstahl
Variante ist der „Beischlafdiebstahl", bei dem der hochstaplerisch auftretende Dieb die Bekanntschaft alleinstehender Frauen macht, sie in intimer Situation zum Ablegen des Schmucks veranlaßt — falls sie das nicht schon von sich aus getan haben — und im geeigneten Augenblick verschwindet. Der eigentliche Juwelendiebstahl ist eine Sonderform des Ladendiebstahls, bei dem der Schmuck entwendet oder gegen Fälschungen umgetauscht wird. In der Regel arbeiten zwei Täter zusammen, die sich natürlich nicht zu kennen scheinen. Der erste nimmt die Aufmerksamkeit des Verkäufers in Anspruch, provoziert u. U. sogar einen kleinen Auftritt, während der andere mit den vorgelegten Objekten manipuliert und sich dann mit irgendeiner Begründung verabschiedet; sobald dem ersten der Diebstahl bzw. die Vertauschung gelingt, gibt er den Schmuck an den Partner ab. Er kann somit verdächtig erscheinen und sich notfalls durchsuchen lassen. Einen kleinen Stein kann man auch mit Wachs unter der Tischplatte festkleben und später vom Partner abholen lassen. Erhebliche Sicherheit im Auftreten ist vonnöten, wenn im Festtagstrubel kurz vor Ladenschluß zwei Diebe in angemessener Kleidung das Geschäft betreten und der eine an den von Käufern, Verkäufern und Aushilfskräften besetzten Tischen dem Partner eine Kollektion vorlegt, worauf dieser mittels eines kleinen Geschenkpakets mit offenem Boden einige Stücke verschwinden läßt (v. Hentig 1954). Eine andere Methode besteht darin, daß der Juwelier an einen
bestimmten Ort bestellt und dort getäuscht wird. Hier gibt es in der Tatausführung und oft bereits im Vorsatz des Täters Übergänge zur Gewaltanwendung, d. h. zum Juwelenraub. Juwelendiebstahl aus Kraftfahrzeugen bedarf in der Regel sorgfältiger Vorbereitung (Deeley). Seiner Persönlichkeit nach gehört der Juwelendieb meist zu den Taschen-, Laden- und insbesondere Trickdieben. Im Falle der Vertauschung sind Fachkenntnisse und u. U. Beschaffung von Similisteinen bzw. -schmuck nötig. Hochwertige Objekte zu „verschärfen" ist schwierig, weshalb die Täter entweder geraume Zeit verstreichen lassen oder die Beute zerlegen und zerkleinern und dadurch ihres Kunstwerts berauben oder sie ins Ausland schaffen; viele Juwelendiebe gehören zu den internationalen Verbrechern. Bei Diebstahlsanzeigen, vor allem von reisenden Personen, ist immer auch an die Möglichkeit des Versicherungsbetrugs zu denken. 10. Kraftfahrzeug-
und
Fahrraddiebsiahl
Der Diebstahl und die unbefugte Benutzung von Kraftfahrzeugen (Kfz) sind in den meisten Kulturstaaten während der letzten Jahrzehnte zu einem ernsten Problem geworden (Frieden). Noch im Jahre 1922 wurden im Deutschen Reich bei einem Gesamtbestand von rund 166.000 Kfz weniger als 200 Kfz entwendet. Für die Bundesrepublik (einschl. Westberlin und ab 1957 Saarland) ergeben sich bei einem Gesamtbetrag von fast 8 Millionen 1962 angemeldeter Kfz (außer Mopeds) folgende Zahlen:
Tabelle 6 Polizeistatistik Jahr
KfzEntwendungen2)
Straftatenziffer
Aufklärungsquote
(1)
(2)
(3)
(4)
1938 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
18.807 21.603 29.951 40.181 73.514 84.969 95.676 119.433 114.474 96.234
36,7 41,8 57,4 76,1 136,9 156,3 173,9 214,9 203,8 169,0
53,7% 45,2% 46,8% 44,0% 31,0% 29,3% 29,0% 26,8% 26,7% 29,4%
*) 2 ) 3 ) 4 )
Jeweils am 1. Juli. Einschl. Mopeds. 1958/59 außer Saarland. In den Grenzen der heutigen Bundesrepublik.
Zahl1) der zugelassenen Personenkraftwagen und Krafträder
Zahl der Mopeds8)
(δ)
(6)
1.671.169«) 3.195.023 3.768.222 4.182.434 4.570.814 5.050.048 5.354.540 5.488.191 6.385.963 7.066.280 7.829.166
1.901.318 2.093.290 2.192.800 2.110.000 1.624.179
Diebstahl Die Zahl der Entwendungen im Laufe der Jahre ist nicht der Zahl der Fahrzeuge proportional, sondern deutlich überhöht. Diebstahl von Lastkraftwagen ist selten. Die Ahndung der Entwendungen erfolgt nach den §§ 242 und 243 StGB, seit dem 4.8.63 auch nach § 248b. Die Freispruchsquote ist niedrig. Anzeige wird fast immer erstattet. Der Entwendungsort ist in 60 bis 70% der Fälle eine Großstadt. (In Großstädten lebt rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung.) Etwa 98% der ermittelten Täter sind männlichen Geschlechts. Von allen ermittelten Tätern waren: ErHeranwachsene wachsende 1954 1959 1962
53,8% 36,7% 40,3%
29,0% 33,1% 31,4%
Jugend- Kinder liehe 16,9% 29,1% 27,0%
0,3% 1,1% 1,3%
Aus diesen Zahlen läßt sich im Zusammenhang mit den Verurteilungen nach § 248b (vgl. unten) vermutungsweise auf eine erhebliche Zunahme des Anteils junger Täter schließen, doch sind genaue Angaben wegen der gesunkenen Aufklärungsziffer nicht mögüch. Grundsätzlich sind vier Entwendungsarten zu unterscheiden, denen kriminologisch auch weitgehend verschiedene Tätertypen entsprechen: a) D i e b s t a h l aus Kfz. Diese Diebstähle, die in der obigen Statistik nicht enthalten sind, gehören genau genommen insofern nicht zu den KfzDiebstählen, als das Kfz weder Ziel noch Mittel einer strafbaren Handlung ist, sondern nur eine — zufällige oder bevorzugte — Möglichkeit für einen Diebstahl bietet. Die Zahl dieser Diebstähle wird in Großstädten auf 5 bis 10% aller einfachen und schweren Diebstähle geschätzt (Diebstahl von Transportgütern aus Lastkraftwagen vgl. unten). Der Täterkreis reicht vom Berufsverbrecher, der sich spezialisiert hat und erst nach sorgfältiger Sondierung zugreift, über die Gruppe der gewerbsund gewohnheitsmäßigen Täter, die Einbrüche in Kfz neben solchen in Schaufenster, Geschäfte, Automaten usw. begehen und in der Beute nicht allzu wählerisch sind, bis zum Gelegenheitsdieb, der die Tat unter besonders günstigen Bedingungen durchführt, und zwar nicht selten anläßlich einer unbefugten Benutzung des Kfz, d. h. ohne anfängliche Diebstahlsabsicht. Die Beute ist verschiedenartig und -wertig, meist wird alles Greifund Mitnehmbare gestohlen. Abmontieren von Antennen, Kühlerverschraubungen, Radkappen weist auf Kinder und Jugendliche. Allgemein überwiegen Täter im Alter bis zu 25 Jahren. Die meisten sind ortsansässig. In belebten Straßen wird bevorzugt am Tag gestohlen, in abgelegenen in der Nacht. Im Weihnachtsmonat ist die Dieb9
HdK, 2. Aufl., Bd. I
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stahlsgelegenheit besonders groß. Die Perseveranz ist für die Ermittlung wichtig. Häufig wird die Entlüftungsscheibe zertrümmert oder gewaltsam mit mehr oder weniger Geschicklichkeit bei der Behandlung des Sperriegels geöffnet; der Türgriff wird abgerissen und die Schloßfalle zurückgeholt, was technische Kenntnisse voraussetzt; nach dem Einschlagen oder Herausnehmen von Seiten- oder Heckscheiben wird die Tür meist nicht geöffnet, sondern die Beute direkt herausgeholt; das Verdeck wird mit einem scharfen Gegenstand aufgeschlitzt. Bei vermutetem öffnen mittels Nachschließwerkzeugs ist auf Spuren zu achten, da diese Einbruchsart oft von Geschädigten behauptet wird, die in den Besitz der Versicherungssumme kommen wollen. Am häufigsten ist der Diebstahl aus dem unverschlossenen Kfz. Manchmal erweckt der Dieb den Eindruck, Besitzer des Wagens zu sein, und läßt sich u. U. von fremden Personen helfen. Diebstahl aus dem verschlossenen Kfz wird als Diebstahl aus einem umschlossenen Raum bestraft (Berndt, Tegel, Weinzierl). b) D i e b s t a h l von Kfz. Bei schätzungsweise 10% aller Kfz-Entwendungen ist das Fahrzeug Vermögensobjekt, die Täter handeln aus Gewinnsucht. Sie — meist eine organisierte Bande — sind fast immer erwachsen und haben Branchenerfahrung. Die Aneignung des Fahrzeugs, das man möglichst unbeschädigt in Besitz bringen will, kann auf verschiedene Weise geschehen: Bei manchen Typen ist das bereits erwähnte öffnen des Schwenkfensters, Kurzschließen und Wegfahren die gegebene Methode; durch Ausbau des Handschuhkastenschlosses, dessen Schlüssel oft auch für das Zündschloß verwendet wird, beschafft man sich Zweitschlüssel; bei Wagen mit Lenkradsicherung macht man (u. U. durch Nachfahren) die Bekanntschaft des Besitzers, unterhält sich mit ihm fachmännisch und darf sich vielleicht auch einmal in den Wagen setzen, wodurch es gelingt, die Nummer des Zündschlüssels festzustellen (da das Kennzeichen des Wagens bekannt ist und Besitzer sowie dessen Wohnung unter einem Vorwand erfragt werden können, ist die Beschaffung eines Zweitschlüssels möglich); es wird beobachtet, wo der Besitzer den Zündschlüssel beispielsweise beim Betreten eines Lokals hintut, wobei sich dann oft eine Gelegenheit zum Diebstahl ergibt; ordnungsgemäß gekaufte Wagen (meist große Typen) werden weiterverkauft, worauf man mittels eines Zweitschlüssels den Wagen bald nach dem Verkauf wieder stiehlt; es wird ein Versicherungsbetrug begangen, indem der „Geschädigte" sich die Versicherungssumme auszahlen läßt, während der „Dieb" den Wagen ins Ausland verschiebt (Weinzierl). Verbleib der Wagen :(l)Der A u t o a u s s c h l a c h t e r zerlegt das Kfz sofort nach dem Diebstahl und veräußert die Teile einzeln oder in neuer Zusammensetzung im Inland. Gängige Typen sind
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Diebstahl
leichter verwertbar und werden daher bevorzugt. Werkstätten, Geräte und Fachkenntnisse sind erforderlich. (2) Der A u t o s c h i e b e r ist an großen Wagentypen interessiert, die nach dem Diebstahl zur Erschwerung der Identifizierung auf mitunter sehr geschickte Weise verändert werden (ζ. B . Heraus- und Einschweißen von Fahrgestell- und Motorennummern). Zur Verbringung ins Ausland werden oft betrügerische Manipulationen vorgenommen, etwa eine gleiche Wagentype gemietet und der gestohlene Wagen mit ihren Papieren und Kennzeichen über die Grenze gebracht (Rückkehr von Papieren und Kennzeichen mit Flugzeug); oder es werden Blankozulassungsscheine hergestellt u. a. m. In einigen europäischen Ländern ist die Übereignung an einen neuen Besitzer leichter möglich als in anderen, indem ζ. B. Kaufvertrag und Verzollungsbescheinigung genügen. Bei der Autoverschiebung findet man in der Regel eine Arbeitsaufteilung der Bande nach der technischen und nach der kaufmännischen Seite hin (Geerds). c) D i e b s t a h l und R a u b m i t t e l s K f z . In etwa 1 0 % der Entwendungen ist das Kfz Tatwerkzeug bei der Begehung eines Einbruchs oder Raubüberfalls. Typ und Alter des Wagens sind dabei unwichtig, doch soll er möglichst unauffällig sein. E r wird später irgendwo abgestellt oder zerstört (ζ. B. ins Wasser gestoßen) oder an einen Ort verbracht, wo er nicht so schnell aufgefunden werden kann. Die Täter sind Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrecher aller Altersstufen. d) E n t w e n d u n g des K f z zum Zweck der B e n u t z u n g . Wenn man die Diebstähle von und mittels Kfz ausscheidet, bleiben die Fälle, in denen das Kfz Fahrobjekt, der Täter Kfz-Benutzer ist (Blau 1960, Geerds, Lindner, Mayerhofer, Oster-
korn, Wenzky). Das sind schätzungsweise 8 0 % aller Kfz-Entwendungen. In — örtlich verschieden — mindestens 9 0 % dieser Fälle erhält der Besitzer den Wagen bzw. das Kraftrad zurück. Die Unterscheidung von Diebstahl und unbefugter Benutzung ist juristisch und kriminologisch oft schwierig, nicht selten von Zufälligkeiten, dem Verhalten und den Einlassungen des Täters nach der Festnahme, der Einstellung des Richters und gelegentlich auch von kriminalpolitischen Erwägungen (Generalprävention) abhängig. In der Regel wird § 248b StGB angewandt, wenn das Kfz kurzfristig gebraucht und an den Ort der Entwendung bzw. in seine unmittelbare Nähe zurückgestellt wird. In den nicht seltenen Grenzfällen kann es dem Täter gelingen, den Richter vom Fehlen einer Zueignungsabsicht zu überzeugen; einschlägig erfahrene Delinquenten wissen, worauf es ankommt, und setzen sich somit in eine bessere Position; wenn dem Täter, der den Wagen kurzfristig benutzen wollte, der Treibstoff ausgeht oder wenn er es — bei Jugendlichen nicht ganz selten — mit der Angst zu tun bekommt und das Kfz deshalb nicht zurückfährt, liegt Diebstahl vor. Die juristische Notwendigkeit einer Unterscheidung von § 242 und § 248 b ist somit kriminologisch unbefriedigend, zumal Diebe von und mittels Kfz meist andere Tätermerkmale als die Kfz-Benutzer aufweisen. Der Vorschlag, diese aus der allgemeinen Diebstahlsregelung herauszunehmen (und möglichst auch das Antragserfordernis fallen zu lassen), erscheint daher begründet (Geerds). Wenn man unterstellt, daß die Verurteilungen nach § 248b StGB — das sind etwa 2 0 % aller Kfz-Entwendungen — einigermaßen repräsentativ für die altersmäßige Verbreitung des Delikts sind, kommt man zu folgender Übersicht:
Tabelle 7 V e r u r t e i l u n g e n n a c h § 248b StGB
Jahr
1954 1967 1960
Erwachsene ab 25. Lebens jähr
Jungerwachsene
Heranwachsende
Jugendliche
Grundzahl
Verurt. Ziffer
Grundzahl
Verurt. Ziffer
Grundzahl
Verurt. Ziffer
Grundzahl
Verurt. Ziffer
550 920 935
1,8 2,9 2,9
773 1.330 1.408
27,5 45,1 40,9
984 1.494 1.565
43,9 57,7 55,1
645 1.580 1.126
18,6 45,8 37,9
Ein erheblicher Teil der entwendeten Kfz (ohne Rücksicht auf die §§ 242 oder 248 b) war unverschlossen und ungesichert. Bevorzugt werden Wagen gängiger Typen mit moderner Linie sowie lautstarke Motorräder. Große, unbewachte Parkplätze sind im Stadtinnern für die Begehung der Tat beliebt, im übrigen wird von der Bordschwelle gestohlen. Die Tatzeit ist meist nachts. Häufung
der Delikte im Spätherbst und frühen Winter sowie stets am Wochenende. Die Täter sind meist jung und fast ausschließlich männlichen Geschlechts. Mehr als die Hälfte sind vorbestraft oder -belastet, wenngleich Gewohnheitsverbrecher so gut wie nie gefunden werden; 1957 waren rund 4 0 % vorbestraft. Psychische Defekte konnten fast nie festgestellt werden. Ebenso ist die wirtschaftliche und
Diebstahl
soziale Lage der Täter nicht oder nicht wesentlich schlechter als die der übrigen Bevölkerung entsprechender Altersgruppen; das Delikt ist weitgehend eine Erscheinungsform der Wohlstandskriminalität. (Ähnliche Feststellungen aus England und den U S A : England, Gibbens, Wattenberg u. Balistrieri.) Bei der Mehrzahl der in Jugendstrafanstalten einsitzenden Kfz-Benutzer wurden psychosomatische Retardierung, Antriebsreichtum, allgemeine Aufgeschlossenheit, sportliches Interesse festgestellt. Die Täter waren oft intelligent (wenngleich technische Gewandtheit und Fertigkeit nicht ohne weiteres einen Schluß auf Intelligenz zulassen) und kamen aus verhältnismäßig gutem sozialem Milieu (Munkwitz und Neulandt). Die meisten dieser Delikte werden in Gruppen von 2 bis 4 Personen begangen; die Beteiligung wechselt oft. Manchmal spezialisieren sich Täter auf bestimmte Autotypen oder betonen die „sportliche" Seite des Unternehmens (Savitz), indem sie beispielsweise Rowdystreiche begehen (Schweitzer) oder mit überhöhter Geschwindigkeit bis zu 1.000 km in einer Nacht zurücklegen (Jansen). Als ein Motivationskern ist das jugendliche Geltungsstreben anzusehen, das sich zeitgemäßer Mittel bedient. Der Besitz eines K f z ist Zeichen des Lebensstandards; die technische Beherrschung des Fahrzeugs erhöht infolge der hohen Einschätzung dieser Fähigkeit das Selbstgefühl und imponiert anderen, was abermals das Selbstgefühl stärkt (nicht selten beschränkt sich die technische Beherrschung allerdings auf die gebräuchlichen Manipulationen am K f z , weshalb der Täter bei einem Defekt dann hilflos ist und den Wagen stehen läßt); Erlebnis und noch mehr Erzeugung hoher Geschwindigkeiten haben auf die meisten Menschen eindringliche, oft faszinierende Wirkung; Abenteuerlust und Nachahmungsbedürfnis haben meist mehr zusätzliche Bedeutung, manchmal aber eine spezifische Funktion innerhalb der Charakterstruktur: neben einer Kerngruppe von entwicklungskriminellen Tätern mit meist guter Prognose findet sich eine Anzahl von gestörten Persönlichkeiten, ζ. B. Neurotikern und Psychopathen mit sozialen Insuffizienzgefühlen, für die die aktive oder passive Beteiligung an Kfz-Entwendungen ein nur situationsbedingter Kompensationsmechanismus ist, der je nach den Umständen früher oder später durch einen anderen abgelöst wird; die Prognose ist hier weitaus weniger günstig. Die E n t w e n d u n g v o n F a h r r ä d e r n rückt nicht nur wegen der Funktionsähnlichkeit von Diebstahlsobjekt und Begehungsart (Greive) in die Nähe der Kfz-Diebstähle, sondern auch deshalb, weil bei der minderjährigen Bevölkerung eine gewisse Rangordnung im Gebrauch, in der Einschätzung und Beschaffung von Fahrzeugen besteht. Der für viele Kinder selbstverständliche 9*
131
Besitz eines Fahrrads, das oft zunehmend mit technischen Raffinessen versehen wird, ist nach Eintritt der Pubertät bereits häufig von dem Wunsch begleitet, möglichst bald zu einem Moped, später zu einem Motorrad oder Kraftwagen zu kommen, wobei diese Wünsche von einer beträchtlichen Zahl junger Leute auch verwirklicht werden können. Das über das K f z als äußeres Zeichen eines als angemessen empfundenen Lebensstandards usw. Gesagte gilt, mutatis mutandis auf jüngere Altersgruppen verschoben, auch hier. Nicht selten findet man bei Kfz-Dieben und -Benutzern Vorbelastungen wegen Fahrraddiebstahls. Die Polizeistatistik bringt zum Fahrrad- und Fahrradgebrauchs-Diebstahl folgende Zahlen: Tabelle 8 Fahrradentwendungen*) Jahr
Grundzahl
Straftatenziffer
(1)
(2)
(3)
(4)
1963 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962
78.408 75.375 78.652 82.598 109.060 115.614 123.532 125.361 123.468 111.118
153,1 145,7 150.7 156.4 203,1 212,6 224.5 225.6 219.8 195,1
28,3% 26,3% 24,5% 21,6% 15,6% 14,4% 14,9% 13,7% 13,4% 13,4%
Aufklärungsquote
* ) Bundesrepublik einschl. Berlin (West) und ab 1957 Saarland. Die Dunkelziffer ist vermutlich wesentlich größer als beim Kfz-Diebstahl. Tatort ist in etwa 60% die Großstadt. Rund 95% der ermittelten Täter sind männlichen Geschlechts. Von allen ermittelten Tätern waren:
1954 1959 1962
Erwachsene
Heranwachsende
Jugendliche
57,7% 39,3% 41,6%
15,9% 20,3% 16,1%
18,4% 29,5% 25,7%
Kinder
8,0% 11,0% 16,6%
Das Fahrrad ist auch heute für weite Bevölkerungskreise ein unentbehrliches Verkehrsmittel, mit dem man beispielsweise regelmäßig zur Arbeit fährt. Sein Verlust wiegt daher für viele Besitzer schwer. Angesichts der als gering bekannten Aufklärungsquote bemühen sich die Bestohlenen häufig nicht genügend um Wiedererlangung, was
Diebstahl
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seinerseits zur Folge hat, daß eine erhebliche Zahl von sichergestellten Fahrrädern nicht zurückgegeben werden kann und versteigert wird. Diebstahl und unbefugte Benutzung lassen sich meist noch schwerer voneinander unterscheiden als beim Kfz. Oft werden gestohlene Fahrräder im Aussehen verändert, aus verschiedenen Teilen neu zusammengesetzt usw., doch ist angesichts der Vielzahl von Rädern eines Typs in größeren Orten eine solche Veränderung meist gar nicht erforderlich. In Notzeiten, ζ. B. nach dem Krieg, gewinnt das Fahrrad beträchtlich an Gebrauchswert; wegen der Häufung der Diebstähle und wegen der verstärkten Verfolgungsschwierigkeiten findet aber oft keine Ausschreibung in den Fahndungsbüchern mehr statt (Bader). Über Maßnahmen gegen Fahrraddiebstahl vgl. Lindner. 11. Diebstahl von
Kunstwerken
In Zeiten der Not werden Metallplastiken, kunstgewerbliche Gegenstände, Schmuck, Service, Möbel usw. insbesondere von jungen Tätern lediglich wegen des Metall-, Edelstein- oder sonstigen Materialwertes gestohlen. Meist kennen die Täter den Kunstwert nicht oder haben von ihm eine sehr unbestimmte Vorstellung und halten es für zu riskant, das Kunstwerk als ganzes anzubieten, weshalb es häufig zerstört und als Bruch, Schrott, ungefaßter Stein usw. verkauft wird. Manchmal wird aus der Art der Aufbewahrung, ζ. B. im Museum oder in einem offensichtlich begüterten Haus, auf einen hohen Wert geschlossen, das Werk aus Unverständnis dann aber verschleudert. Aus einem ganz anderen, ζ. T. wohlorganisierten und internationalen Täterkreis kommen die Diebe, die auf Bestellung stehlen und sich dafür bezahlen lassen. Meist besitzen sie Fachkenntnisse, sind kunstgeschichtlich bewandert, mehr Geschäftsleute oder selbst Künstler. Um an Bilder, Bücher, insbesondere Autographen, u. a. heranzukommen, bedarf es mitunter hochstaplerischer Allüren, falscher Titelführung usw. und oft der Geschicklichkeit und des Einfallsreichtums eines Taschen- oder Trickdiebs. Manchmal führt ein massiver Einbruch zum Ziel. Es wird in der Regel nicht planlos, aber auch oft nicht ein ganz bestimmtes — insbesondere allgemein bekanntes — Kunstwerk gestohlen, sondern es werden Objekte entwendet, die auf dem Kunstmarkt „verlangt", von Liebhabern gesucht werden oder die infolge ihres zweifellosen künstlerischen Werts eine sichere Kapitalsanlage bedeuten (Susini). Der Dieb muß sich oft selbständig ein Urteil bilden und für einen bestimmten Gegenstand entscheiden können. Diebstähle von Bildern nur zu dem Zweck, eine Kopie herzustellen, sind bekannt geworden. Der Übergang zum Kunstbetrug ist fließend. Kasuistische Darstellung im „Spiegel" (1964). Internationale Diebe haben manchmal einen umfang-
reichen Schriftverkehr mit dem Ausland, wodurch sie gelegentlich auffallen. Ein Teil dieser Täter gehört bereits zu einem dritten Täterkreis, Dieben, die kein oder nicht in erster Linie kommerzielles Interesse an dem Kunstwerk haben, sondern eine persönliche, psychologisch zu verstehende Beziehung zu ihm. Bei Geistesgestörten steht das gestohlene Objekt in irgendeiner Beziehung zu dem Wahnsystem. Geltungsbedürftige und andere abartige Persönlichlichkeiten stehlen Werke, die in der Öffentlichkeit als hochwertig bekannt sind und deren Verlust ausführlich in den Zeitungen gebracht wird. J e nach der Art der Abartigkeit können so auch Ressentiments oder Rachegefühle befriedigt werden; oder man kann sich durch „Herbeischaffung" des Kunstwerks, aber auch durch die Entdeckung als Dieb die vermißte und gesuchte Beachtung verschaffen. Auf der Grundlage solcher, gelegentlich ans Psychotische grenzender Störungen kann es unter dem Einfluß von Modeströmungen zu Bilderstürmerei kommen, die sich ζ. B. gegen modernste Kunstrichtungen wendet. Ein erheblicher Teil neurotischer Fehlhaltungen, die zu Kunst diebstählen führen können, wird durch den psychologisch komplexen Begriff „Sammelleidenschaft" bezeichnet. Unter den „Sammlern" sind gelegentlich hochgeachtete Persönlichkeiten, die den Diebstahl subjektiv als Folge eines unwiderstehlichen Dranges empfinden und sich moralisch oft von dem Delikt distanzieren (Hirschfeld 1928). Es bestehen hier Übergänge zur Kleptomanie und zum Fetischismus, so ζ. B. wenn ein älterer Gelehrter berichtet, daß er seit seiner Jugendzeit beim Betrachten von originalen Unterschriften bedeutender Persönlichkeiten in Erregungszustände geraten sei (Wulffen 1926). Gelegentlich wird die — häufig zu vermutende — mehrfache Determiniertheit des Diebstahls offensichtlich, wie etwa beim Diebstahl der Gioconda (1911). Der Dieb soll aus Gewinnsucht — obschon an Verkauf in absehbarer Zeit nicht gedacht werden konnte —, aus gekränktem Nationalgefühl — der Täter war Italiener, das Bild hing im Louvre — und aus einer fetischistisch anmutenden Bezogenheit auf die Frauengestalt gehandelt haben (v. Hentig 1954). 12. Laden- und
Warenhausdiebstahl
Die Dunkelziffer ist vor allem beim Warenhausdiebstahl groß (Peijster). Anzeige wird oft nicht erstattet, weil der Diebstahl nicht oder verspätet bemerkt wird oder weil man sich von ihr keinen Erfolg verspricht, allenfalls geschäftsschädigende Unannehmlichkeiten durch die Nachforschungen befürchtet (der Schaden ist durch Versicherung gedeckt); in Warenhäusern begnügt man sich daher bei geringwertigen Entwendungen in der Regel zunächst mit Hausverboten; vermutlich
Diebstahl etwa ein Drittel der Fälle wird der Polizei gemeldet (Tegel). Gewerbsmäßige Diebe bevorzugen Geschäfte mit wertvoller Ware, gewohnheitsmäßige Diebe und insbesondere Diebinnen eignen sich oft billige Objekte in Warenhäusern an. Den Kundendiebstählen stehen die seltenen Personaldiebstähle gegenüber, bei denen Warendiebstahl weniger vorkommt als gegenseitiges Sichbestehlen. Bei jugendlichen Dieben überwiegen vermutlich die männlichen, bei erwachsenen die weiblichen Täter (Tegel). Infolge der Anonymität des Eigentümers wird das Stehlen oft als nicht oder nicht allzu unmoralisch empfunden (Debuyst/Lejour/ Racine, Gegenfurtner, Krause, Tegel). Zur Durchführung des Diebstahls eignen sich erstens Geschäfte und Zeiten mit starkem Käuferandrang (Selbstbedienungsläden, Warenhäuser u. ä. Geschäfte, vor allem wenn der Verkäufer mehrere Personen gleichzeitig bedienen muß; Hauptgeschäftszeit, Tage nach Lohn- und Gehaltszahlungen), zweitens kleine Geschäfte mit wenig Personal, das in geschäftsarmen Zeiten (ζ. B. über Mittag) noch verringert wird. Die Aufmerksamkeit des (meist einzigen) Verkäufers muß dann abgelenkt werden: man beschäftigt ihn durch die Bitte, etwas Bestimmtes zu holen oder zu suchen oder einem irgendwie gefällig zu sein, oder man irritiert ihn durch Unruhe und Nervosität oder läßt ihn durch einen Komplizen ans Telefon rufen, oder man ist wählerisch, läßt sich so viele Gegenstände vorlegen, daß er die Übersicht verliert, usw. Mittlere Geschäfte sind bei Berufsdieben weniger beliebt. Auftreten, Kleidung usw. sind milieuangepaßt. Mitunter ist die Kleidung präpariert, mit besonderen Taschen und Verstecken; Pakete mit dem Einwickelpapier des Geschäftes lassen keinen Argwohn aufkommen und kennzeichnen den Kunden, haben aber einen offenen Boden mit Greifvorrichtung usw. Bei Banden sind die Funktionen ähnlich wie beim Taschendiebstahl verteilt: Der „Abdecker" lenkt den Verkäufer ab oder bildet die sichtabdeckende „Wand", der „Packer" eignet sich das Objekt an und läßt es möglichst schnell durch den „Schlepper" aus dem Gefahrenbereich entfernen (Stein). Der Täterkreis läßt sich nach drei Polen hin orientieren. Zum ersten gehören die gewerbsmäßigen Diebe, für die sich der Laden- oder Warenhausdiebstahl als geeignete kriminelle Technik erwiesen hat; die Täter sind den Hotel-, Juwelen- und Taschendieben verwandt oder mit ihnen identisch. Um den zweiten Pol gruppieren sich die sogenannten Kleptomanen, meist Frauen, denen der Stehlakt selbst — vor allem im Gewühl der Menschen — Lustgefühle bereitet, und einige Fetischisten (Neustatter, Wulffen 1931). Einen dritten Pol bilden die — zahlenmäßig recht häufigen — Gelegenheitsdiebe, die weniger aus einer Notlage stehlen, als den Versuchungen ausgeklügelter Werbemethoden unterhegen (Krause).
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„Jeder Diebstahl eines sonst einwandfreien Menschen ist ein Triumph der modernen Verkaufstechnik" (v. Hentig 1954). 13. Taschen- und
Trickdiebstahl
Die Zahl der bekannt gewordenen T a s c h e n d i e b s t ä h l e (rund 8.000) und die Häufigkeitsziffer (um 15) sind während der Jahre 1954 bis 1959 in der Bundesrepublik ziemlich konstant geblieben, seither ein wenig gesunken. Etwa drei Viertel aller Fälle ereignen sich in der Großstadt. Die Täter sind zu 65 bis 75% Erwachsene, unter ihnen mehr als ein Drittel weiblichen Geschlechts. Die Häufigkeitskurve kulminiert in den Sommermonaten, in etwas schwächerem Ausmaß im Dezember. Aufklärung gelingt in etwa 28%. Die Dunkelziffer ist vermutlich groß: Diebstähle werden nicht bemerkt oder man begründet den Verlust mit Vergeßlichkeit, Verlieren, Verlegen usw. oder man erwartet von einer Anzeige keinen Erfolg, zumal dann nicht, wenn der Diebstahl zu spät festgestellt wurde und man ihn nicht einmal vermutungsweise zeitlich oder räumlich lokalisieren kann. Der Taschendieb ist vorwiegend Berufsdieb. Die recht häufigen Diebstähle auf Märkten, aus Einkaufstaschen gehören nicht zum Taschendiebstahl im eigentlichen Sinn des Wortes; sie werden meist von Gelegenheitsdieben begangen und sind durch die überaus günstigen Stehlmöglichkeiten gefördert worden; hierdurch sind sie auch leicht erkennbar. Der Berufsdieb variiert vom einfachen, in der Straßenbahn, auf Märkten usw. arbeitenden Typ („tireur") bis zum differenzierten, elegant auftretenden, dem Betrüger sich nähernden („pickpocket"). Er arbeitet allein oder mit Komplizen. Der gesamte Geschehensablauf läßt sich etwa in folgende Phasen aufgliedern (vornehmlich nach v. Hentig 1954), denen je nach Situation, Persönlichkeit des Täters und des Opfers sehr unterschiedliches Gewicht zukommen kann: a) E r k u n d u n g von Opfer u n d zu e r w a r t e n d e r Beute. Wenn man von den zahlreichen kleinen Taschendiebstählen absieht, bei denen der leichtfertige Umgang mit dem Eigentum (ζ. B. mit der Handtasche oder mit der Geldbörse in einer Außentasche) den Diebstahl geradezu herausfordert, gilt für den Berufsdieb, daß die zu erwartende Beute in angemessenem Verhältnis zum Risiko stehen soll. Es muß zunächst festgestellt werden, bei wem und mit welcher Wahrscheinlichkeit lohnende Beute gemacht werden kann. Mimik und Gestik, Kleidung und Benehmen, Besitz eines bestimmten Autos, geschäftliches Gebaren und bevorzugte Preisklassen in Hotel, Theater, Verkehrsmitteln, Aufenthalt in Banken, auf Rennbahnen u. a. lassen Schlüsse auf Wohlhabenheit zu. Bei der selbstsicheren Achtlosigkeit, die vielen auf ihren Besitz stolzen Personen eigen ist, kann
134
Diebstahl
man sich auch meist ohne Schwierigkeiten Gewißheit über Sitz und ungefähren Inhalt der Brieftasche verschaffen. Die plötzliche Begegnung mit dem — früher verbreiteten —· Schild „Vor Taschendieben wird gewarnt" veranlaßt viele Menschen zu unwillkürlichen Bewegungen in Richtung auf Wertobjekte hin, was der Beobachtung des Taschendiebs nicht entgeht. Manche senilen, geizigen, mißtrauischen Personen, die Geld bei sich tragen, wirken zwar äußerlich unauffällig, mitunter allzu bescheiden, lenken aber ausdrucksmäßig die Aufmerksamkeit des Taschendiebs durch ängstliche Besorgtheit im Geldverkehr, vor allem bei Ausgabe großer Scheine, durch Vergewisserung ihres Besitzes usw. auf sich. Manchmal bedient sich der Taschendieb eines Komplizen oder anderer Mittelspersonen zur Erkundung, eines Dienstmädchens, Kellners, die ihr Wissen aus Habgier, Rachegefühlen oder Ressentiment verkaufen. b) Ü b e r w i n d u n g der r ä u m l i c h e n D i s t a n z z w i s c h e n D i e b u n d Opfer. Eine Möglichkeit, sich dem Opfer zu nähern, besteht darin, an es h e r a n z u t r e t e n . Das geschieht ζ. B. durch die Bitte um Feuer, um Auskunft, beim Tanz, bei der Umarmung. Hierzu sind jedoch entweder zeitraubende Vorbereitungen notwendig oder — weitaus schlimmer — es wird durch das geringste den Umständen nicht angemessene Benehmen beim Opfer unwillkürlich Mißtrauen erregt und damit ein Schutzwall bewußter Aufmerksamkeit errichtet, der das Stehlen nahezu unmöglich macht. Eine zweckmäßigere Näherungsmöglichkeit ist es daher, S i t u a t i o n e n a u f z u s u c h e n , in denen zwangsläufig zufällige Begegnungen stattfinden. Dies geschieht da, wo ein Gedränge entstanden ist, in Verkehrsmitteln, bei Veranstaltungen, Ausverkäufen, in Vergnügungsstätten, dort, wo Massen es eilig haben, wo man sich festhalten muß, um in der Kurve nicht umzufallen, wo einzelne sich rücksichtslos benehmen und dadurch Unruhe erzeugen, wo man auf engem Raum sich in seine Garderobe zwängen muß usw. Auf Verkehrsmitteln ist es angebracht, wenn der Dieb in letzter Sekunde ein- oder aussteigt, wodurch sich erstens das Gedränge verstärkt, zum andern etwaige Kriminalbeamte leichter abgeschüttelt werden können. Auf Eisenbahnen, Schiffen, in Flugzeugen wird der Dieb sich bemühen, das Fahrzeug so schnell wie möglich zu verlassen. c) Ü b e r w i n d u n g der Zone der W a c h s a m k e i t . Der Taschendieb muß durch Unauffälligkeit unverdächtig sein. Unauffällig gut ist er gekleidet, benimmt sich höflich, macht den Eindruck eines Inländers, möglichst eines Ortsansässigen, trägt einen gängigen Hut, gelegentlich Berufstracht (ζ. B. eines Geistlichen, Handwerksmeisters). Jeder Verstoß gegen derartige Regeln kann insofern Verdacht erregen, als er dann nicht mehr dem Leitbild vom „soliden" und „anständigen"
Menschen (Freund-Schema) entspricht, das in erster Linie Unbefangenheit und Arglosigkeit des Opfers und anderer anwesender Personen garantiert. Daß die Wachsamkeit von bestimmten Personentypen (Geschäftige, Zerstreute usw.) sowie von Personen in bestimmten Situationen (Liebespaare, Frauen in Modegeschäften u. a.) herabgesetzt ist, berücksichtigt der Dieb. Lebenslagen, in denen der Mensch emotional und affektiv einseitig gebunden ist, lassen sich besonders leicht ausnützen: Früher war es eine öffentliche Hinrichtung, heute sind es Sportveranstaltungen, Theater, Kino, jede Panik, jedes religiös oder politisch oder auf andere Art enthusiasmierte Kollektiv, d. h. Lagen und Zustände, in denen urtümliche Erlebens-, Antriebs- und Ausdrucksweisen uns beherrschen. Wenn eine solche „natürliche" Ablenkung des Opfers nicht möglich oder nicht zu erwarten ist, muß sie künstlich erzeugt werden. In der Regel wird dann mit Komplizen gearbeitet: Einer knüpft ein Gespräch an oder veranstaltet auf der Straße eine Szene, die Neugierde erregt, oder bekommt einen epileptischen Anfall, der Abscheu und Mitleid hervorruft, oder stößt — das muß allerdings gut vorbereitet sein — mit einem Kassenboten zusammen, was zunächst Verwirrung, dann umfangreiche Entschuldigungen zur Folge hat, oder fixiert die hübsche Partnerin eines Mannes, was dessen Zorn und Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung lenkt usw. Wenn mehrere Komplizen da sind, können sie versuchen, durch umfassende und u. U. provozierende Diskussion des „Vorfalls" die Aufmerksamkeit des Opfers zu fesseln. Der eigentliche Dieb bleibt bei solchen Inszenierungen unbeteiligt in der herumstehenden Masse. Manchmal bildet ein meist mit dem Rücken zum Opfer stehender Komplize — nicht selten noch geschickter: eine Komplizin — eine „Mauer" oder „Wand", was der Abdeckung oder Ablenkung (unter Umständen mittels eines kleinen „Zwischenfalls") dient. d) D e r e i g e n t l i c h e S t e h l a k t . Wenn der Taschendieb durch sorgfältige Vorarbeit oder durch das für ihn bezeichnende „Herumschauen" ein Opfer ausfindig gemacht hat, begibt er sich in eine für den Zugriff günstige Ausgangsposition. Oder er sucht in einer allgemein günstig erscheinenden Ausgangsposition, ζ. B. im Gedränge, ein bestimmtes Opfer. Dabei wendet er oft ein eigenartiges Gebaren an, das Hinunterschauen oder „Stechen" (durch das er sich dem Kriminalbeamten verrät). Wenn sich dabei zufällig der Blick des Diebs mit dem einer fremden Person kreuzt, wird die Arbeit sofort aufgegeben. Von Kriminalbeamten wird eine bestimmte Annäherungsweise von Taschendiebinnen durch die Wendung „in Stellung Tanzen" charakterisiert. In geeigneter Situation kommt gelegentlich Abtasten des Opfers vor, doch gilt als Grundregel: Man stiehlt nicht
Diebstahl mit den Fingern, sondern mit Auge und Hirnl Das Zugreifen bildet den AbscMuß der oft zeitraubenden Vorarbeit. Es erfordert Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Übung. Schmale, sensible Hände und stärkste, unverkrampfte Muskelkoordination im Augenblick des Stehlens sind nötig. Bei der „Schere" werden Mittel- und Zeigefinger oder Mittel- und Ringfinger so gespreizt, daß sie — oft unter Verwendung des Daumens — das Objekt herausgreifen können. Manchmal müssen Anzüge, Taschen usw. erst aufgeknöpft oder behindernde Gegenstände beiseitegeräumt werden. Im Gedränge, ζ. B. in Fahrzeugen, kann durch „zufällige" Berührung an bestimmten Körperstellen, beispielsweise in der Magengegend, beim Opfer eine Sensation hervorgerufen werden, die gegen Berührung an anderer Stelle unempfindlich macht. Wenn es nicht gelingt, die Beute zu „ziehen", wird mit einem scharfen Messer (u. U. in den Fingerring eingelassen) die Tasche aufgeschlitzt usw. — Der Taschendieb hat oft ein langes Training hinter sich. Sensibilität der Finger und Fingerfertigkeit müssen erhöht werden. Man übt an Mitarbeitern oder an besonderen Modellen, ζ. B. dem bereits vor einem halben Jahrhundert beschriebenen „Klingelmann": Eine sorgfältig bekleidete und mit zahlreichen Utensilien ausgestattete lebensgroße Puppe ist mit vielen Glöckchen besetzt, die bei der geringsten ungeschickten Berührung erklingen. Mehrfach ist von Schulen für Taschendiebe berichtet worden. Oft werden schon Kinder abgerichtet. Eine heute nur noch selten zu findende Variante des Taschendiebstahls ist der Diebstahl von Krawattennadeln. Er wird durch „zufällige Berührung" und Manipulation, beispielsweise mit einer Zeitung — die Kante „zieht" die Nadel — oder mit dem Taschentuch beim Naseputzen, bewerkstelligt; hübsche Diebinnen hatten bei einem kleinen Flirt — der Kopf wird auf die Schulter des Partners gelegt, die Zähne „ziehen" — mitunter großen Erfolg. Uhrendiebstähle sind heute ebenfalls seltener als früher. Eine Armbanduhr zu stehlen, gilt als Meisterstück. e) V e r b l e i b der B e u t e . Sie wird so schnell wie möglich an einen Komplizen weitergegeben. Unter Umständen kann hierzu nochmals Benutzung oder Erzeugung eines Gedränges notwendig sein. Brieftaschen, Ausweise u. ä. können einen verraten. Man entledigt sich ihrer, indem man sie wegwirft, im Abort „wassert", in einen Briefkasten steckt usw. Die nach Differenziertheit und Spezialisierung oft recht verschiedenartige P e r s ö n l i c h k e i t des Taschendiebs ist der des Eisenbahn-, Hotel- und Warenhausdiebs verwandt. Das notwendige ständige Training und der erhebliche Spannungszustand vor und während der Tat, weiterhin die durch Erfahrung geschulte Geschicklichkeit, auch in der Herstellung und Auswertung geeigneter psychologischer Konstellationen, haben zur Folge,
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daß die erfolgreichste Phase im Leben des Taschendiebs in der Regel in seinen mittleren Lebensjahren liegt. Gewalttäter gibt es unter Taschendieben nur selten. Notfalls versucht man zu fliehen; nur in ausweglos erscheinenden Situationen und als für manche Völker — ζ. B . Ungarn — bezeichnende Eigenart sind Widersetzlichkeit und Gewaltanwendung bei der Flucht häufiger beobachtet worden. Viele Taschendiebe gehören zu den internationalen Verbrechern. Die Gefährlichkeit des Berufs, die sorgfältige Ausbildung, die im Gegensatz zu vielen anderen Kriminellen in mancher Hinsicht recht differenzierte Persönlichkeit und die Notwendigkeit, in Gruppen oder Banden zu arbeiten, haben zu einem gewissen Berufsethos und einem auch oft merkbaren Berufsstolz geführt. Bestimmte Regeln hinsichtlich des Konkurrenzkampfes, der „Entlohnung" wie des „Verrats" werden streng eingehalten. Diese Moral beruht auf der Verteidigungsposition, an der alle interessiert sein müssen. Projektive Mechanismen der Gewissensentlastung werden mitunter sichtbar, so dann, wenn der Täter eine soziale Mission darin sieht, daß er den „Reichen" das Geld wegnimmt, das sie „auf Kosten der Armen" an sich gebracht haben. — Über Persönlichkeit und Technik des Taschendiebs vgl. Harnisch, v. Hentig 1954, Sprung, Sutherland. Der T r i c k d i e b s t a h l ist dem Taschendiebstahl ζ. T. im Hinblick auf die Annäherungsmethoden, ζ. T. in der Technik der Durchführung verwandt. Die Diebstahlstechnik kann allerdings sehr verschiedenartig sein, die Tricks sind „so zahlreich, wie der menschliche Geist einfallsreich i s t " (Aub6). Zu den primitiveren Typen gehören beispielsweise der Wechselfallendieb, der beim Geldwechseln täuscht, oder der wohlhabend aussehende Reisende mit dem luxuriösen Koffer, dessen Boden einklappbar ist und der sich über einen anderen Koffer stülpen läßt, oder Horoskopsteller und Handliniendeuter, die das Geld ihrer gutgläubigen Kunden bestreichen, oder „entfernte Verwandte", die sich in gute Familien aufnehmen lassen und dann stehlen, oder der Dieb, der sich in einer verschlossenen Kiste im Lagerraum einer Firma „aufbewahren" läßt und nachts aussteigt, und viele mehr. Diebe, die „durch Vertauschen" arbeiten, sind in ihrer Methodik meist differenzierter und gehören häufig zu den internationalen Verbrechern. Sie haben es auf hochwertigen Besitz abgesehen und sind zum Teil mit den J u welendieben identisch. Verpackte Ware wird mit gleichaussehenden Päckchen (mit wertlosem Inhalt) vertauscht, oder es wird ein hoher Geldbetrag als Pfand in einem versiegelten Umschlag hinterlassen, dessen Inhalt tatsächlich Papierstücke sind, u. a. Obwohl die Perseveranz bei diesen Diebstählen groß ist, haben internationale Diebe wiederholt große Erfolge mit ihrer Methode gehabt; Wechsel von Tatort, Namen, Aussehen
Diebstahl
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und Bekleidung ist dazu notwendig. Es gibt fließende Übergänge zum Betrüger, mitunter auch solche zum Geldfälscher. Nicht selten wenden sich die Diebe an Käufer und Verkäufer, die fragwürdige oder illegale Geschäfte mit Wertobjekten betreiben — ζ. B. gegen Devisen- oder Edelmetallbestimmungen verstoßen — und deshalb nicht so leicht Anzeige erstatten werden. Hier bestehen auch Übergänge zur Erpressung (Aub£). 14. Diebstahl von
Transportgütern
Die Zahl der Anzeigen schwankte in den Jahren 1954 bis 1959 um 20.000, steigt seither leicht an, wobei etwa 20% aufgeklärt werden. Die ermittelten Täter sind zu mehr als 60% erwachsen; weibliche Täter sind selten. Der Transportgüter- bzw. Kollidiebstahl hat in den letzten Jahrzehnten insofern eine gewisse Wandlung durchgemacht, als Entwendungen vom offenen Wagen angesichts der modernen Verschluß- und Sicherungstechnik geringer geworden sind, wogegen sich neue Formen entwickelt haben, die rechtlich allerdings oft als Unterschlagung oder Untreue gewürdigt werden müssen (v. Hentig 1954); so dann, wenn Fahrer oder Transportarbeiter den Inhalt der Transportgüter entwenden, durch wertloses Material ersetzen und die Ladung korrekt verschließen. Von kriminologischer Bedeutung ist die enorme Zunahme der Diebstähle in Kriegs- und Notzeiten. Vergleichbare Gesamtzahlen liegen für die ersten Nachkriegsjahre nicht vor. In Nordrhein-Westfalen wurden jeweils in den Monaten September bis Dezember an Anzeigen über Eisenbahndiebstähle erstattet (Jacobs): 1946 1947 1948 1949 1950
13.966 1.704 2.253 887 172
Im Eisenbahndirektionsbezirk Köln gingen an Anzeigen ein (G. Heim, zit. nach v. Hentig 1954): 1946 1947 1948 1949
17.076 38.175 24.251 18.055
Auffällig ist die nach Kriegsbeginn festgestellte zunehmende Beteiligung des Begleitpersonals von Post und Eisenbahn als Täter oder Begünstiger. Während des Krieges wurde bevorzugt Frachtgut, in dem Wertgegenstände, später auch Eßwaren, vermutet wurden, entwendet; nach dem Krieg wurden Liebesgabenpakete aus dem Ausland gestohlen. Von kriminologischem Interesse ist weiterhin eine vor allem aus den Jahren 1948 bis 1950 im Rheinland bekannt gewordene Form des Banden-
diebstahls, das sogenannte Autospringen (Tegethoff). Nach Erkundung durch Motorradfahrer usw. werden Angriff und Abtransport sorgfältig vorbereitet. Der Fahrer des beladenen Lastkraftwagens wird durch Koffer, Steine oder einen starken Anstieg zum vorübergehenden Halten oder zum Langsamfahren gezwungen, währenddessen der Dieb aufsteigt oder von oben (Brücke) springt und im Fahren Gegenstände herabwirft. Bei besser gesichertem Ladegut bzw. bei Banden mit höherem Anspruch und Ehrgeiz wird mittels Lastkraftwagen von hinten auf etwa 50 cm angefahren, ein Mann springt über, öffnet notfalls mit scharfem Messer die Plane und wirft die Beute seitlich ab, wo sie vom nachkommenden Wagen aufgesammelt wird. Manchmal wird auf dieselbe Weise auf den nachfolgenden Wagen zurückgesprungen, manchmal zwingt auch ein Kraftfahrzeug der Bande den Fahrer des Beutewagens zu langsamer Fahrt, um den Absprung zu ermöglichen. Das Diebesgut wird sofort geteilt und zum Hehler gebracht. Tatzeit ist nachts, die Tat dauert in der Regel 3 bis 5 Stunden. Die Rollen sind genau verteilt. Der „Springer" steht fast immer im Alter von 18 bis 25 Jahren. Er muß kräftig, mutig und gewandt sein, trägt dunkle, bewegüch machende Kleidung, leichtes Schuhwerk, ist mit Taschenlampe, Messer, manchmal einer Waffe ausgestattet. Die Hehler sind meist älter. Junge Täter haben das erlöste Geld oft in kurzer Zeit in Wirtshäusern, für Frauen usw. ausgegeben; gelegentlich sind sie durch allzu großzügige Ausgaben aufgefallen und so ermittelt worden. Ältere Täter haben ihr Geld meist vernünftiger investiert, ζ. B. für Wiederaufbau, Häuserkauf. Ein Teil der Täter war vorbestraft. Durchführung der Tat und Verbleib der Beute zeigen gerade beim jüngeren Täter daß das Delikt für ihn oft eine sportüche Note besitzt, wodurch es — auf dem Hintergrund der allgemeinen Verwahrlosung der Nachkriegszeit — in die Nähe der Pubertätsdelikte rückt. 15.
Wohnungseinbruch
Über 20.000 Wohnungseinbrüche sind der Polizei während der letzten Zeit jährlich bekannt geworden, wovon fast die Hälfte in einer Großstadt begangen wurde. Mehr als die Hälfte der ermittelten Täter sind erwachsen, nahezu 10% weiblich. Im Gegensatz zu dem vorwiegend nachts begangenen Geschäftseinbruch wird hier auch am Tag eingebrochen. Rund 40% der bekannt gewordenen Fälle sind aufgeklärt worden. Täterpersönlichkeit und Ausführung der Tat zeigen eine große Variationsbreite, vom Einsteigen in ein offenes Fenster bei zufällig sich bietender Gelegenheit bis zum geplanten, vorbereiteten und mit technischen Hilfsmitteln durchgeführten Einbruch. Die Erkundung erfolgt beispielsweise durch das Gespräch mit Wohnungsinhabern oder Nach-
Diebstahl barn, noch besser durch Indiskretionen von oder Freundschaft mit Hausangestellten (die gelegentlich zum Mittäter werden und den Dieb einlassen); durch Beobachtung der gewohnheitsmäßigen, täglichen Abwesenheit der Wohnungsinsassen oder einer längeren Abwesenheit (geschlossene Rollläden, nicht geleerte Briefkästen); durch Beachtung von Anzeigen, ζ. B. Zeitpunkt einer Bestattung; durch Telefonanruf. Vergitterte Fenster deuten auf hohe Werte oder auf Angst hin. Kombination von Erkundung und Tatausführung liegt beim „Klingelfahrer" vor, der — oft seriös gekleidet, mit Blumenstrauß, Geschenkpäckchen oder Aktentasche — klingelt und sich nach einem Herrn Sowieso erkundigt; wird auf mehrfaches Klingeln nicht geöffnet, so schließt er mit Nachschlüssel oder Dietrich auf. Man kann auch eine Kiste vor die Wohnungstür stellen und auf die Rückkehr des Wohnungsinhabers „warten"; die Kiste hat eine zur Tür hin offene Seite, wodurch es dem in der Kiste sitzenden Komplizen möglich ist, die Türfüllung auszuschneiden. Die Tatausführung erfolgt durch Nachschlüsselbenutzung, Einsteigen, Einschieichen (Einmietediebstahl als Grenzfall) oder Einbrechen. Nachschlüsseldiebe sind oft handwerklich vorgebildet. Einsteigen wird häufig durch Wohngewohnheiten ermöglicht oder erleichtert: Balkontüren, Dachluken, Abortfenster, Kelleröffnungen bleiben unverschlossen, Fenster vor allem in der warmen Jahreszeit oder, wenn sie in der zweiten Etage oder höher liegen, geöffnet; Pflanzungen oder Mauern, die die Bewohner gegen Licht schützen, decken auch den Dieb. Günstige Gelegenheiten zum Einsteigen bieten sich bei Festen und Veranstaltungen, die die Teilnehmer in bestimmten Räumen festhalten und die allgemeine Achtlosigkeit erhöhen (vgl. Hoteldiebstahl), neuerdings auch bei regelmäßigen familiären Zusammenkünften wie ζ. B. dem Fernsehen, das zugleich eine akustische Kulisse bildet. Einsteigen in ein Zimmer, in dem sich eine schlafende Person befindet, ist mehrfach von Dieben als ein überaus erregender, große Ausdauer erfordernder Vorgang geschildert worden: nach jedem Geräusch muß die Reaktion des Schläfers abgewartet werden; einen Schritt macht man möglichst nur beim Ausatmen des Schlafenden; beim öffnen wird die Tür nach alter Verbrecherregel leicht angehoben; die Wegnahme des Schlüssels oder der Brieftasche unter dem Kissen erfordert u. U. die Behutsamkeit und Fingerfertigkeit eines Taschendiebs usw. Der aus den zwanziger Jahren bekannte Typ des Fassadenkletterers („Klettermaxe") besaß artistische Fähigkeiten. Unter Ausnutzung von Mauervorsprüngen, Verzierungen, Blitzableitern, Regenrinnen usw. gelangte dieser Dieb über einen Balkon oder durch ein offenes Fenster in die Wohnung und verschwand auf dieselbe Weise. Moderne Häuserfronten machen diese Arbeit fast
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unmöglich. — Das Einbrechen geschieht durch Ausschneiden oder Ausbohren von Schlössern, öffnen von Fenstern durch Eindrücken von Scheiben, Aufwirbeln usw. und durch den gewaltsamen Angriff auf Türen, Mauern, Decken mittels mehr oder weniger differenzierter Methoden. Hierbei wirken meist mehrere Täter zusammen. Oft und insbesondere bei jüngeren Tätern, die keine ganz bestimmte, vorher erkundete Beute im Auge haben, entwickelt sich das Geschehen vom Einsteigen über das Einbrechen zum Erbrechen von Behältnissen oder auf ähnliche Weise, weshalb die üblichen vereinfachenden Angaben über die Ausführungsart oft nicht ganz zuverlässig sind. In jeder Phase kann die Tathandlung unterbrochen werden; das Einbrechen schlägt vermutlich am häufigsten fehl (Geräusche, Alarmvorrichtungen, unerwartet starke Sicherung). Zur Technik des Einbruchs vgl. Schaible. C. Bäckfall- und Bandendiebstahl Kriminologisch wichtig und schon wegen ihres quantitativen Umfangs von Bedeutung sind die juristischen Erschwerungsformen des Rückfallund Bandendiebstahls. 1.
Rückfalldieislahl
Die absolute Zahl der Rückfallsdiebe variiert weitaus weniger als die der erstmalig Verurteilten; der Prozentsatz des Rückfalldiebstahls steigt bei sinkender und sinkt bei steigender Diebstahlskriminalität. In normalen Zeiten kann man damit rechnen, daß unter 100 verurteilten Dieben rund 15 rückfällige sind. Es handelt sich bei den Rückfalldieben um eine verhältnismäßig stabile Gruppe von Tätern, die von den Schwankungen der wirtschaftlichen Konjunktur und der sozialen Verhältnisse nur sehr wenig beeinflußt wird (John). Die Schwankungen der Rückfallkurven (Tab. 1 u. 3) sind zu einem erheblichen Teil durch „unechte Rückfälligkeit" zu erklären, d. h. durch die Tatsache, daß in allgemeinen Notzeiten ihrer Persönlichkeitsstruktur nach nicht zu Rückfall tendierende Menschen wiederholt in Versuchungssituationen geraten; andererseits werden in Rüstungs- und Kriegszeiten rückfallgeneigte Personen oft so fest sozial, ζ. B. militärisch, eingespannt, daß die gewohnte kriminelle Betätigung für sie nicht oder sehr schwer möglich ist. Wiederholt Rückfällige pflegen bei ihrer Deliktsrichtung zu bleiben (Wend); ebenso ist die Perseveranz bei Gewohnheits- und Berufsdieben groß. Dies liegt teilweise an der (oft mühsam erworbenen) Spezialisierung bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten (so ζ. B. bei vielen Geldschrankeinbrechern oder Taschendieben), teilweise am Mangel an Einfallen und geistiger Beweglichkeit (so gelegentlich bei Trickdieben, die ihr anfänglicher Erfolg blind für
Diebstahl
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die zunehmende Gefahr der Entdeckung macht). Bei minderjährigen Rückfalltätern kann der Rückfall pubertätsbegrenzt sein (so bei einem Teil der Kfz-Benutzer, aber auch bei anderen Dieben, bei denen pubertätshafte Einflüsse nicht so leicht erkennbar sind) und kann dann mit dem — oft verspäteten — Eintritt der Reife nachlassen oder aufhören. Bei der kriminologischen Beurteilung von Minderjährigen ist auf die latente bzw. Randkriminalität zu achten, die sich in nicht oder nur bedingt straf- und verfolgbaren Handlungen zeigt, beispielsweise dem Bestehlen von Angehörigen oder Bekannten. Bei Alleintätern ist die Rückfallgefahr größer als bei Gemeinschaftstätern (Brauneck). Bei etwa 60 bis 60% der Rückfalldiebe erfolgt der Rückfall innerhalb eines Jahres nach der letzten Strafentlassung (John). Das Rückfallintervall ist unabhängig von Strafe und Vollzug; durch Verschärfung, Milderung, Verlängerung usw. der Strafe bzw. des Vollzugs läßt sich bei Gewohnheitstätern ein Einfluß auf die Rückfälligkeit nicht ausüben (Nass, Radbruch); vgl. hierzu Abschnitt V. 2.
Bandendiebstahl
Kriminologisch kann mit dem landläufigen Begriff „Bande" recht verschiedenartiges gemeint sein: a) Der Diebstahl wird in M i t t ä t e r s c h a f t begangen, wobei das Sichzusammenfinden mehr oder weniger zufällig bzw. situationsbedingt ist. Eine „Bande" liegt hier weder kriminologisch noch juristisch (§ 243 I Ziff. 6 StGB) vor, u. U. auch dann nicht, wenn die Täter mehr als einmal zusammen ein Delikt begangen haben. b) Den Diebstahl als M a s s e n d e l i k t gibt es beispielsweise in Gestalt der Plünderung, die ebenfalls situationsbedingt, darüber hinaus aber von affektbetonten, individuelle Persönlichkeitsunterschiede nivellierenden Einstellungen und Antrieben getragen ist. Auf dieser Basis kann es zu bandenähnlichen gemeinsamen Handlungen kommen. c) Bande als z w e c k g e b u n d e n e V e r e i n i g u n g mit F u n k t i o n s t e i l u n g . Bank- und Tresoreinbrüche können nicht von Einzelpersonen durchgeführt werden; „Autospringer", Diebe von Kraftfahrzeugen, Hotel-, Taschen- und Trickdiebe haben in der Regel mehr Erfolg, wenn sie sich zu Gemeinschaften zusammenschließen. Die Kolonne wird zahlenmäßig so klein gehalten, daß sie gerade ihre Aufgabe erfüllen kann; auf diese Weise bleibt die Zahl der Mitwisser möglichst gering und wird der Beuteanteil groß. Ganz junge, unsichere und unerfahrene Personen werden nur sehr vorsichtig aufgenommen, zu alte und nicht mehr voll einsatzfähige ebenfalls nicht hinzugezogen. In einem gewissen Gegensatz zu den Zweckgemeinschaften des öffentlichen Lebens (Vereinen, Gesellschaften
usw.) kann die Bande infolge des fehlenden äußeren, ζ. B. auch rechtlichen Schutzes nicht ganz ohne „innere Sicherung" auskommen, etwa einen wenn auch noch so rudimentären Ehrendokex, Androhung und Durchführung von Vergeltungsmaßnahmen bei Verrat, agreement mit anderen Banden, Auswahl der Mitglieder unter dem Gesichtspunkt der Zuverlässigkeit, Standfestigkeit, Diszipliniertheit usw. Hierdurch nähert sich die Bande der organisierten Gruppe. d) Ein anderer Ausgangspunkt für Bandenbildung ist die p u b e r t ä t s h a f t e Gruppe. Der Zusammenschluß der Jugendlichen erfolgt entwicklungstypisch,· gemeinsame Unternehmungen haben meist anfangs keinen kriminellen Charakter und werden dann oft durch den Einfluß einzelner asozialer Jugendlicher in kriminelle Richtung gedrängt; die romantisch-spielerische Funktion der Delikte ist häufig — und individuell oft recht unterschiedlich — zu erkennen (ζ. B. bei Baubudeneinbrüchen; „Räuberleben"), nicht selten machen dann später Jungen in klarer Erkenntnis der Unmoral und Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens trotz zunehmenden Unbehagens mit, weil sie sich von der Gruppenbindung nicht freimachen können. Die Gemeinsamkeit des Vorgehens — gerade bei Einbrüchen — kann insofern für die puberale Grundhaltung charakteristisch sein, als die Antriebe zur Tat durch die künstliche Erhöhung und Fixierung des Eigenmacht- und Selbstgefühls und die Aktivierung der Kräfte, die um Strebung nach Selbstdurchsetzung, Geltung und Anerkennung gruppiert sind, verstärkt werden; puberale Insuffizienzgefühle können so kompensiert werden (Illchmann-Christ 19B3). Unter dem Einfluß der sozialen Verhältnisse, aber auch durch das gemeinsame Schicksal entwickelt sich aus der zunächst spontanen eine zumindest zeitweilig organisierte Gruppe mit einer gewissen Tradition, mit Gruppenbewußtsein, Solidaritätsgefühl, oft auch eigener Moral, wie das bei den amerikanischen Gangs gut zu beobachten ist (Trasher, Scott). Die Exklusivität der Bande wird demonstriert und betont, indem ζ. B. die Erwerbung der Mitgliedschaft die kontrollierte Durchführung eines Diebstahls — oft unter erschwerten Bedingungen — voraussetzt; auf diese Weise können auch die Qualitäten des Kandidaten in mehrfacher Hinsicht geprüft werden. Der Schwerpunkt solcher puberaler Bandentätigkeit liegt in der ersten Pubertätsphase; mit zunehmendem Alter der Jungen löst sich die Bande um so eher auf, je weniger materielle Ziele sie verfolgt. In der Regel ist die Begehung von Straftaten nicht der anfängliche und eigentliche Zweck der Bandenbildung. Bei der Verübung von Diebstählen ist die Organisation der Bande im allgemeinen straffer, bei Begehung von Überfällen und Körperverletzungen lockerer. Gelegentlich distanzieren sich Jungenbanden ausdrücklich von Mitgliedern, die
DiebstaM kriminelle Handlungen wie Diebstähle begehen, und beschränken ihre Aggressivität auf Raufen und Zerstören; so etwa viele Gruppen der englischen Teddy-Boys (Middendorff). Nicht selten — und vor allem in den Gangs — wird die Bandentätigkeit durch Ressentiments, durch soziale und politische Ideologien rationalisiert und erscheint dadurch subjektiv gerechtfertigt. Eine Mischung der unter c) und d) beschriebenen Erscheinungsformen und Motive liegt bei vielen Banden in Kriegs-, Nachkriegs- und Notzeiten, neuerdings auch nicht selten im Rahmen der sogenannten Wohlstandskriminalität vor. Mit jugendlichem Elan, Freude am Wagnis und Abenteuer werden teils planmäßig, teils mehr beiläufig Einbrüche und Raubüberfälle begangen, wobei nach dem Krieg in der Durchführungsart —• Verwendung von Waffen und Sprengstoffen, militärähnliche Organisation — Kriegseinflüsse oft noch deutlich zu erkennen waren. Charakteristisch für solche Banden ist die Ausweitung des Alters (es sind auch Erwachsene beteiligt), der Zahl (man beschränkt sich nicht auf das Minimum der Zweckgemeinschaft, auch nicht auf den Kern der puberalen Gruppe) und der Deliktsart (Susini, Middendorff). Von Kriegs- und Notzeiten abgesehen arbeiten die deutschen Banden im allgemeinen weniger planvoll und straff organisiert bzw. spezialisiert als die amerikanischen (Middendorff 1956). Bei Minderjährigen wird zunehmend eine Lockerung der Gruppenstruktur zugunsten eines teils interesse-, teils gelegenheitsbedingten losen Zusammenschlusses beobachtet (Joray, Wilfert). e) Eine historische Sonderform der Bande sind die sogenannten R i n g v e r e i n e , die sich nach dem ersten Weltkrieg bis 1933 in Berlin und einigen anderen Städten gebildet hatten. Es handelt sich um Konföderationen von „Geselligkeits-", „Spar-", „Gesang-" usw. -Vereinen, die sich ausschließlich oder vornehmlich aus Vorbestraften — vorwiegend Einbruch, Diebstahl, Raub und primitive Formen des Betrugs — zusammensetzen. Das Vorbestraftsein bzw. die Haft als gemeinsames Schicksal verstärken die Exklusivität und das Kollektivbewußtsein erheblich. Angestrebt wird ein Vereinsleben nach Art der bürgerlichen Gesellschaft. Es entsteht ein vorwiegend am äußerlichen Verhalten orientierter Ehrenkodex, auf dessen Verletzung überempfindlich reagiert wird. Beliebte Ausdrucksformen von Macht und Geltung sind die oft harten Bestrafungen oder die Elimination von Mitgliedern, Gewalttätigkeiten („Rollkommandos") gegen Fremde, auch andere Vereine, zur Wahrung des Vereinsprestiges. Die Grenzen des Selbstschutzes werden leicht überschritten, ζ. B. indem der Verein Gastwirten und anderen Personen seine „Hilfe" aufnötigt und sich u. U. in geeigneter Form dafür bezahlen läßt. Im Gegensatz zu den (seit 1889 existierenden) Zuhälter-
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vereinen ist die Vorbereitung und Begehung von Straftaten nicht oder nur in sehr beschränktem Umfang Zweck des Vereins. (Sittlichkeitsdelinquenten werden in Vorbestraftenvereinen in der Regel nicht zugelassen.) Infolge der günstigen Gelegenheit zum Meinungsaustausch und der gesinnungsmäßigen Grundhaltung hat jedoch der Verein vor allem für junge Personen kriminogene Bedeutung (er erzeugt „gewohnheitsmäßige Gelegenheitstäter"). Der Neugründung von Ringvereinen nach dem zweiten Weltkrieg in einigen deutschen Städten war nur für kurze Zeit Erfolg beschieden. Nicht nur die Ausweitung des § 129 S t G B im Jahre 1951 minderte ihre Wirksamkeit, sondern vor allem die Tatsache, daß die Vereine personell und ideell vornehmlich aus der Vergangenheit lebten und für junge Kriminelle angesichts der veränderten sozialen Verhältnisse keinen besonderen Reiz mehr hatten (Hoberg). — Die Ringvereine mit amerikanischen Gangstervereinigungen zu vergleichen, ist kaum möglich. Sie unterscheiden sich voneinander in Zweck, Aufbau und Organisation, vor allem in ihren historischen und soziologischen Voraussetzungen. Im übrigen läßt bei den amerikanischen Vereinen bereits die starke Verfilzung mit Korruption, Gewalttätigkeit, Drohung, Nötigung, ferner das mitunter komplizierte System der Einschaltung von Deckund Mittelspersonen eine Identifizierung mit den Ringvereinen nicht zu; Diebstahl und Einbruch sind oft nur situationsbedingte Handlungsweisen in einem weitaus umfassenderen kriminellen Geschehen (v. Hentig).-+Organisiertes Verbrechertum. IV. URSACHEN UND FUNKTIONEN DES DIEBSTAHLS Δ. Die Komplexität der Diebstahlshandlung Der Diebstahl ist nicht nur das häufigste, sondern das ätiologisch und funktional wohl auch vielgestaltigste, farbenreichste aller Delikte; in einem Mißverhältnis hierzu stehen die sehr spärlichen wissenschaftlichen Untersuchungen über ihn. Das liegt daran, daß die als Diebstahl bezeichnete Handlung ganz an der äußeren, juristisch entscheidenden Tatsache der Wegnahme fremden Eigentums orientiert ist, woraus sich auch bei Berücksichtigung der verschiedenen Erscheinungsformen nur in begrenztem Umfang ein Schluß auf die charakterliche Eigenart des Diebs und noch seltener auf das Diebstahlsmotiv ziehen läßt. Vulgärpsychologische, durch plausible Verhaltensbegriffe wie Habgier, Egoismus usw. oder Begründungen wie Notlage, Gelegenheit, Versuchung, Willensschwäche usw. umschriebene Ansichten über das Zustandekommen des Delikts sind vordergründig, meist unvollkommen, falsch oder einseitig; so ζ. B., wenn in Epochen betont merkantilen Denkens es als nahehegend und keiner Er-
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Diebstahl
klärung bedürftig erscheint, daß der Dieb zu Geld und Besitz kommen will, um besser und müheloser leben zu können. Aui dem Hintergrund solcher Ideologien mußten dann auch Phänomene wie die Kleptomanie oder der fetischistische Diebstahl als Curiosa oder pathologische Erscheinungen angesehen werden; wir wissen denn auch heute über sie relativ mehr als über den ja weitaus häufigeren „landläufigen" Diebstahl. Die Diebstahlshandlung hat eine individuell oft sehr unterschiedliche, grundsätzlich komplexe Genese. Damit ist gemeint, daß (a) der Diebstahl durch Zusammenwirken mehrerer Ursachen bzw. Motive (Motivbündel) entstehen und dabei u. U. überdeterminiert sein kann und daß (b) der Schwerpunkt seiner Genese in verschiedenen Persönlichkeitsschichten und -bereichen liegen kann, beispielsweise mehr in gewissensunabhängigen Triebregulationen oder mehr in Mängeln der intellektuellen, gemüts- oder gesinnungsmäßigen Steuerung oder mehr in Störungen, Konflikten und Komplikationen des sozialen Zusammenlebens. Zwei gleich erscheinende und vielleicht sogar gemeinsam ausgeführte Wegnahmeakte können daher völlig heterogen, auf verschiedenartige kriminogene Strukturen zurückzuführen sein. Unter kriminogener Struktur ist das individuell spezifische Zueinander körperlich-psychischsozialer Gegebenheiten zu verstehen, durch das die kriminelle Handlung in erster Linie hervorgerufen· wird; die kriminogene Struktur braucht nicht mit der charakterlichen übereinzustimmen, wenngleich in der Regel ein deutlicher Zusammenhang besteht. Der Diebstahl ist im Hinblick auf die kriminogene Struktur des Täters spezifisch (d. h. sein eigentliches Ziel ist die Beute oder der Wegnahmeakt), oder er ist unspezifisch, d. h. er kann durch ein anderes Delikt (ζ. B. Brandstiftung, Körperverletzung, Beleidigung) oder eine nicht strafbare Aktion ersetzt werden. Über diese Spezifität ist heute noch so wenig bekannt, daß vieles, was im Folgenden über Ursachen und Motive des Diebstahls gesagt werden kann, in die allgemeine, nicht auf den Diebstahl beschränkte Kriminalätiologie gehört. Auch wenn im Einzelfall oft schwer festzustellen, muß zwischen tatmotivierenden und tatausführenden Funktionen unterschieden werden: so können Aktivität, Selbstsicherheit, Gewandtheit, Skrupellosigkeit usw. in einem Fall mehr tatbegründend sein, während sie in einem anderen Fall lediglich instrumentale Bedeutung haben; aus der Tatsache, daß ein Diebstahl intelligent, mutig usw. durchgeführt worden ist, ergeben sich nicht ohne weiteres Schlüsse auf die kriminelle Intensität des Täters bzw. prognostische Folgerungen. Allerdings kommt es vor, daß durch den erwiesenen bzw. wiederholten Erfolg bei der Tatausführung bestimmte Techniken „entdeckt" und dann sekundär tatmotivierend werden; dies gilt
beispielsweise manchmal für Minderjährige, die zunächst (u. U. entgegen Gewissensregungen) mitmachen, weil sie sich dem Einfluß des Kollektivs nicht entziehen können, und dann Fertigkeiten entwickeln, durch die sie ihr Selbstgefühl und Prestige heben oder wiederherstellen können. Die Schilderung des subjektiven Zustande des Täters bei der Tatausführung (v. Hentig 1954, Sutherland 1937) ist im Hinblick auf die Unbewußtheit der meisten Tatmotive sowie die Undifferenziertheit vieler Täter und ihre Neigung zu Zurückhaltung, Verdrängung und Projektion nicht sehr ergiebig, weist aber ebenfalls auf die Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit der Täterpersönlichkeiten hin, beispielsweise durch die oft angst-lust-akzentuierte Zuständigkeit bei Taschen- und Hoteldieben, Kleptomanen und manchen Einbrechern, die mehr kaltblütigsichernde Haltung anderer Einbrecher und Diebe, die mehr gruppenbezogene, sportliche Note bei vielen jungen Autobenutzern und -Springern. B. Korrelationen Systematische Untersuchungen bezüglich des Diebstahls (und nicht der allgemeinen Kriminalität) liegen kaum vor. Evident und deshalb etwas genauer erforscht ist die Korrelation zwischen Wirtschaftslage und Diebstahlskriminalität. Im Zeitraum von 1882 bis 1913 bestand in Deutschland zwischen Roggenpreisen und Diebstahlsziffer eine Korrelation von 0,76 und in England 1879 bis 1913 zwischen Lebensmittelpreisen und Diebstahlsziffer von 0,77. Allerdings machte sich bald nach der Jahrhundertwende eine allmähliche Ablösung der Diebstahlskurve von der Preiskurve und Annäherung an die Kurve des (inzwischen stark angestiegenen) Reallohns bemerkbar. Diese Korrelation ist schon nicht mehr so groß, weil mit der wirtschaftlichen und gesetzlichen (Tarifverträge) Stabilisierung eines Mindesteinkommens sich äußerlich die Notlage, psychologisch die Anfälligkeit widerstandsschwacher Personen verringert hat. Auf dem nun erreichten wirtschaftlichen Niveau werden die Zusammenhänge komplizierter, sind statistisch weniger prägnant zu erfassen und kausal schwerer zu analysieren. So sind etwa in den Jahren 1925 bis 1933 Konjunkturschwankungen und dabei insbesondere die Arbeitslosigkeit für die Diebstahlskriminalität offensichtlich von Bedeutung, wogegen die allgemeinen Lebenshaltungskosten eher eine negative Korrelation zum Diebstahl zeigen. Ausgesprochene Gewohnheitsdiebe bleiben von Konjunkturschwankungen unberührt. Geldwertschwankungen, wie etwa in der Inflation nach dem ersten und in schwächerem Umfang nach dem zweiten Weltkrieg, lassen den Diebstahl (und die Hehlerei) stark ansteigen. Es werden Sachwerte gesucht, weshalb ζ. B. der Tresoreinbruch und der Geld-
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Diebstahl raub erheblich zurückgehen. Daß in Kriegs- und Notzeiten vor allem kleinere und Gelegenheitsdiebstähle zunehmen, ist plausibel, wenngleich auch hier unikausale Interpretationen nicht ausreichen. So bringt der erste Weltkrieg auch in nicht direkt kriegsbeteiligten Ländern wie Schweden und der Schweiz eine starke Erhöhung der Diebstahlskriminalität, während dies in England nicht der Fall ist. In den USA fallen im zweiten Weltkrieg die Diebstahlsziffern, offensichtlich unter dem Einfluß der Kriegsprosperität. In Deutschland senkt sich ab 1947 in Betrieben der Exportindustrie die Werkkriminalität ein Jahr vor dem allgemeinen Rückgang der Kriminalitätsziffer für Diebstahl, nachdem die Arbeiter zusätzliche Nahrungsmittel erhalten haben (Forsbach). In vielen westlichen Ländern macht sich seit Anfang der fünfziger Jahre die sogenannte Wohlstandskriminalität im Bereich der Vermögensdelikt t in einer Zunahme der mit Kfz-Benutzung und -diebstahl zusammenhängenden sowie der unter Alkoholeinfluß begangenen Straftaten bemerkbar und zwar unter Verschiebung des Schwerpunkts auf die jüngeren Jahrgänge hin. Doch sind auch hierbei die statistischen und erst recht die kausalen Beziehungen im einzelnen noch weitgehend ungeklärt. Über statistische Zusammenhänge mit dem Lebensalter und dem Geschlecht ist in den Abschnitten II und I I I einiges angeführt worden. Im Ablauf der Jahreszeiten erreichen die Vermögensdelikte im Gegensatz zu den Sittlichkeitsdelikten und Körperverletzungen während der Wintermonate ihren Höhepunkt. Über regionale Untersuchungen vgl. Dünnbier, Kotte, C. Müller. Der immer wieder gemachte Versuch, durch einfache Beschreibung bzw. Korrelierung etwas über die Eigenart „des Diebes" auszusagen (in letzter Zeit etwa Louwage, Nass), hat insofern nur geringen Erkenntniswert, als (a) bei der genetischen und funktionalen Komplexität des Diebstahls merkbare Korrelationen mit statischen Persönlichkeitsmerkmalen nicht erwartet werden können, (b) die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Diebstahlshandlung zwar auf Persönlichkeitsunterschiede hinweisen, die ihrerseits aber mehr instrumentale Funktionen betreffen als etwas Wesentliches über den Dieb und seine Motive aussagen, (c) eine Typisierung infolge der niedrigen Korrelationskoeffizienten nicht möglich, auch faktorenanalytisch noch nicht versucht worden ist und daher allenfalls die Aufstellung von (statistisch nicht belegbaren) Idealtypen mit Ordnungs- und Orientierungsfunktion vorübergehend oder heuristisch zweckmäßig sein kann. Gegenüber früheren Unterstellungen (moralischer Schwachsinn, „Triebhaftigkeit" usw.) kann heute als geklärt gelten, daß sich der Dieb hinsichtlich des Schwerpunkts und der Streuungsbreite meßbarer psychischer Merkmale nicht nachweisbar
deutlich vom Verbrecher im allgemeinen und vermutlich auch nicht erheblich vom Nichtkriminellen unterscheidet (Sutherland 1947); lediglich zwischen Minderbegabung und Eigentumsdelikten scheint eine leichte Korrelation zu bestehen (Williams), doch ist die Streuungsbreite der Intelligenz groß, ihre Bedeutung innerhalb der kriminogenen Struktur meist gering. Konstitutionsbiologisch ist auf die relativ hohe (bis etwa 40%) Zahl der Leptosomen und die niedrige der Pykniker unter den Dieben hingewiesen worden; Athletiker finden sich unter gewalttätigen Vermögensverbrechern gehäuft (Kretschmer, Sheldon). Die Mehrzahl der soziologischen Feststellungen korrelationsstatistischer Art betrifft die Kriminalität im Ganzen und nicht nur den Diebstahl; hierzu gehören ζ. B. auch die mit der gebietsmäßigen Verteilung der Jugendkriminalität in den USA (des „Area Approach" von Shaw und McKay) zusammenhängenden Probleme. Allgemeine Übersicht bei Middendorff 1956, 1959. Sozialanalytische Erhebungen an minderjährigen Vermögensdelinquenten von Brauneck. C. Ursachen In seiner Ätiologie unterscheidet sich der Diebstahl — wenn man von einigen Arten der sogenannten Kleptomanie absieht — grundsätzlich nicht von den meisten anderen Delikten. Bei psychischen Fehlentwicklungen, endothymen und sozialen Störungen, Frühverwahrlosung usw. bilden sich oft schon während der ersten Kindheitsjahre Verhaltensmuster aus, in denen dem Diebstahl restitutive, projektive, kompensatorische, identifikatorische usw. Funktion in einem bestimmten sozialen Feld zukommt. Die meisten auffälligen psychologischen und soziologischen Gegebenheiten, zu denen beispielsweise Intelligenz, Aktivität, Affektivität, Gemüt, bestimmte Erkrankungen, weiterhin die familiäre, soziale und kulturelle Konstellation gehören, haben nur als dominierende Bestandteile der individuellen Persönlichkeitsstruktur bzw. in bestimmten Entwicklungsphasen mitverursachende, sonst allenfalls modifizierende, im übrigen bezüglich der Diebstahlshandlung instrumentale Bedeutung. Über Ursachen, Entstehung von Verhaltensmustern, Antriebsarten usw. vgl. Brauneck, Dietrich, Gillin, Glueck und Glueck, Gottschaidt, Healy und Bronner, Lindner, Sutherland 1947, Thomae 1959; Übersicht über die amerikanische Literatur bei Bordua. D. Funktionen Eine Trennung von Ursachen (im Verlauf der Ontogenese) und Funktionen des Diebstahls (innerhalb einer bestehenden Persönlichkeitsstruktur) ist oft nicht möglich. Nicht zuletzt im
Diebstahl
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Hinblick auf Aspektunterschiede, die sich aus den psychologischen Theorien ergeben, erscheint es jedoch angebracht, eine solche Trennung vorzunehmen und — auch bei dem dürftigen einschlägigen Untersuchungsmaterial — die funktionale Bedeutung des Diebstahls unter einigen Ordnungsgesichtspunkten zu umreißen. Die eklektische Art der Darstellung braucht bei dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse keineswegs ein Nachteil zu sein. 1.
Hintergrundsfunktionen
Sie haben für den Diebstahl keine ursächliche Bedeutung, sind aber conditiones sine quibus non. So gilt bei manchen Naturvölkern der Diebstahl als eine persönlich zu regelnde Privatangelegenheit ohne verbrecherischen Charakter; bei den Somali des nordöstlichen Afrika ist der Raub erlaubt, während der Diebstahl streng bestraft wird; nach dem alten russischen Recht wird der Dieb bei Nacht „wie ein Hund erschlagen", nach Tagesanbruch darf er nicht mehr getötet werden; es gibt konventionell-zeremonielle Diebstähle, etwa auf Timor, wo die Knaben während der Zeit der Jünglingsweihe ihre Nahrung stehlen müssen, ähnlich bei den Kaffern; das Bestehlen von Europäern bzw. Weißen ist bei vielen Natur- und Halbkulturvölkern durchaus zulässig, während Diebstahl gegen Stammesangehörige als unmoralisch gilt und bestraft wird; je nach der kulturellen Eigenart der Völker (Jäger, Nomaden, Hackbaukulturen usw.) werden oft erhebliche Unterschiede in der Bewertung der einzelnen Diebesarten und -güter gemacht (Malinowski, Thurnwald). In Kulturländern gibt es ähnliche Unterschiede: einen Krüppel bestiehlt man nicht; katholische Taschendiebe bestehlen nur sehr ungern einen katholischen Priester (Sutherland 1937); in bestimmten Gruppensituationen und Subkulturen gelten Diebstähle und manche anderen Delikte als selbstverständlich zulässig (Cohen, Mays), mitunter auch in psychologisch weniger ausgeprägter Form und geringerem Realitätsgrad bei politischen Ideologien („Eigentum ist Diebstahl") usw. Alle derartigen Faktoren haben insoweit Hintergrundfunktion, als sie den Diebstahl nicht bewirken, sondern das Feld abstecken, auf dem für den einzelnen ein Diebstahl überhaupt möglich ist bzw. psychologisch und ethisch sinnvoll werden kann. 2.
Strukturen
a) Ein e i n f a c h s t r u k t u r i e r t e s Geschehen ist der Diebstahl in Not- und Hungersituationen. Wie die Erfahrung zeigt, führt die Notlage nur bei einem Bruchteil der Bevölkerung zu (Gelegenheits-)Diebstählen und zwar vor allem bei Personen, bei denen die Steuerungsfunktionen des Gewissens oder Gemüts (Mitgefühl) schwach sind oder bei denen es infolge Bewußtseinstrübung zu
triebhaftem Handeln kommt; andererseits wird die Bedeutung der quantitativen Relationen innerhalb einer Struktur offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in der ersten Nachkriegszeit nicht wenige Personen verhungert sind, weil sie außerstande waren, zu stehlen oder Schwarzmarktgeschäfte zu betreiben. Die phylo- und ontogenetische Verwurzelung des Greifens und Wegnehmens, teilweise des sogenannten Sammeltriebs (der Begriff „Sammeltrieb" umfaßt psychologisch Verschiedenartiges, das vom triebnahen, instinkthaften bis zu einem höchst komplizierten neurotischen Geschehen reicht), zeigt sich nicht nur im Greifreflex des Kindes, in den Instinkten und Primitivreaktionen von Tieren und Schwachsinnigen, sondern auch in manchen Stehlhandlungen kleptomanischer Art, bei denen eine Irradiation von einer Triebgruppe zu einer anderen beispielsweise bei überstarken Affekt- und Spannungszuständen (Angst, Sexualität) bzw. bei Störungen und Schwankungen der Zwischenhirnregulation eintritt (Gerchow, Hirschmann, Schmidt). Subjektiv bedeutet Stehlen dabei meist eine Befreiung von unbestimmten Drangzuständen (Jaspers). Eine so einfach strukturierte Kleptomanie nur als Folge außergewöhnlicher seelischer Verfassung oder biologischer Phasen (Menstruation, Schwangerschaft, Klimakterium) dürfte allerdings selten sein. Wenn es auch eine „Anlage" zum Stehlen nicht gibt, können doch psychopathische Zustandsbilder, ζ. B. unruhighyperthymer, viskoser, infantiler Art, auch ohne Milieuschädigung infolge sozialer Anpassungsschwierigkeiten zu Verwahrlosung führen, die ihrerseits Diebstahlshandlungen und andere Entgleisungen zur Folge hat (Hadamik, IllchmannChrist, Mottl). Extreme Milieuschädigung wirkt sich ähnlich aus, wenn auch mehr in polytroper Kriminalität, und äußert sich bei Kindern und Jugendlichen gern im sozialen Nahraum (Bestehlen von Angehörigen, Kameraden, ζ. T. Arbeitgebern usw., mitunter nach vorheriger Annäherung), wobei die Intensität der kriminellen Handlungen oft stetig zunimmt (Abels). Die Unterschiedlichkeit der Aktions- und Reaktionsarten ergibt sich aus den Unterschieden der individuellen Persönlichkeitsstrukturen. Bei weiblichen Personen stehen Diebstähle nicht selten im Zusammenhang mit dem Verhältnis zum Mann (Hörigkeit, Erreichen-, Nichtverlierenwollen, Schmükken, irreale, ζ. B. tagträumerische Beziehungen), wobei die hieraus sich ergebenden Emotionen und Antriebe selbstverständlich Mängel im Steuerungssystem für ihre Realisierung zur Voraussetzung haben; fließende Übergänge zu kleptomanischen Verhaltens- und Erlebnisweisen sind zu vermuten (Beispiele bei Wulffen). Sekundär (Mittel zum Zweck) ist die Funktion des Diebstahls bei manchen Süchtigen und bei Fetischisten ohne kleptomanischen Einschlag. Zweifellos gibt es
Diebstahl Personen, die aus Freude am Risiko, aus Abenteuerlust, sportlicher Einstellung und ähnlichen plausiblen Motiven einmal stehlen, doch beinhaltet diese Feststellung (schon im Hinblick auf die vermutlich erhebliche latente Diebstahlsneigung) im Grunde nur die äußerliche Tatsache, daß prägnante oder abnorme Ursachen bzw. Motive nicht gefunden werden können. b) K o m p l i z i e r t e r e S t r u k t u r e n . Die Diebstahlshandlung kann ein integrierender Bestandteil bestimmter Verhaltensmuster bzw. Antriebsarten sein, so bei manchen Formen von Kleptomanie oder dominierender Eigentumsthematik auf moralisch brüchigem Hintergrund usw. Mangel an Gewissen braucht aber ebensowenig wie ein ausgeprägtes Ressentiment oder eine antisoziale Gesinnung diebstahlverursachend zu sein. Bei den meisten bisher analysierten Strukturen erwies sich die Diebstahlshandlung als eine nach den Lernprinzipien, u. U. aufgrund eines einmaligen Erfolgs oder Erlebnisses (Fixierung), angeeignete, mehr oder weniger komplizierte Technik, deren Wiederholung entweder mehr durch Tendenzen und Strebungen, die sich aus der bestehenden psychischen Struktur ergeben, oder mehr durch die äußere, soziale Situation bewirkt wird (Sutherland 1947). In der mehr psychoanalytisch orientierten Literatur sind solche Techniken, Neigungen und Einstellungen als Aggressions-, Projektions-, Ausweich-, Selbstbestrafungstendenz, Kompensation, Ersatzbefriedigung usw. beschrieben worden. Sie entstehen in dem — in seiner vielfältigen Genese und Phänomenologie hier nicht darstellbaren — Konfliktund Spannungsfeld zwischen Überich, Ich und Es, wobei der Diebstahlshandlung oft „symbolische", d. h. ihre eigentliche Bedeutung zugleich verdeckende und auf der Ebene des Unbewußten andeutende Funktion zukommt (Aichhorn, Berner und Spiel, Diedenhofen, Dührssen, Fuchs-Kamp, Healy und Bronner, Reiwald, Zierl, Zulliger). Daß und warum es gerade zu einem Diebstahl und nicht zu einer anderen moralisch unzulässigen Handlung kommt, läßt sich aus der kriminogenen Struktur meist nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit prognostizieren. Das Versagen des Steuerungssystems ist häufig nur relativ, d. h. Gewissen, Schuldgefühle usw. sind zwar vorhanden, aber anderen, ich- und es-haften Funktionen gegenüber zu schwach oder sie sind „fehlgeleitet" (Zulliger 1954), neurotisch versteift usw. Daß der Diebstahl sich so leicht als Mittel zur Wiederherstellung des sozialen und emotionalen Gleichgewichts anbietet, liegt einmal in seiner für jeden ersichtlich und zweifelsfrei wertbetonten Stellung, zum andern daran, daß er häufig mehrere Funktionen zugleich hat, beispielsweise eine aktuelle Spannung löst sowie Mittel zur Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen verschafft. Der psychologische Sinn der Diebstahlshandlung bzw.
143
ihre Einbettung in das individuelle Gefüge und Spannungsfeld der Persönlichkeit wird im übrigen oft unmittelbar verständlich, wenn man auf den Verbleib der Beute (maßloses Vergeuden, Renommieren, Verteilen an andere, Anschaffung bestimmter Gegenstände, Horten, schnelles Abstoßen ohne Gewinn usw.) achtet sowie auf das manchmal groteske Mißverhältnis zwischen Aufwand und Risiko einerseits, Ertrag andererseits (v. Hentig 1954). In der nicht psychoanalytisch orientierten Literatur wird neben anderem der biologisch-endothymen Verankerung von sozialen Verhaltensweisen bzw. Antriebsarten besondere Beachtung geschenkt. So können Schwankungen in den hirnstammgesteuerten Funktionen (Stimmungs-, Affekt- und Antriebslage) Verschiebungen hervorrufen, die zu strukturellen Schwerpunktsverlagerungen führen und dadurch Entgleisungen hervorrufen oder begünstigen. Verfestigung von kriminellen Neigungen kann dann wiederum durch die durch solche Verschiebungen bedingte Milieuwahl bewirkt werden, wobei es allmählich zu Überformungsprozessen kommt, die schließlich zu gesinnungsmäßig asozialer Einstellung führen können (so teilweise bei den Ringvereinen, ferner bei Berufseinbrechern und in Gangs). Gelegentlich läßt sich eine Verselbständigung bzw. Automatisierung einer bestimmten Technik beobachten, die dann auch bei veränderter Motivation eingesetzt werden kann: beispielsweise bei einem frühverwahrlosten Jugendlichen, der sich zunächst einer Diebstahlsmethode bedient, um sich Süßigkeiten usw. zu verschaffen, später, um sich in einer Bande von Jungen hervorzutun, dann, um sich einem Mädchen gefällig zu erweisen oder ihm zu imponieren (Gottschaidt, Kretschmer, Kujath, Leferenz, Nass, Thomae 1952). Bei der sogenannten Kleptomanie sind Strukturverschiebungen ansatzweise schon erforscht. Auf den Diebstahl als sexuelle Ersatzhandlung, ausgehend von einem angst- und spannungsgeladenen Initialerlebnis, ist schon um die Jahrhundertwende hingewiesen worden, doch ist der Kausalzusammenhang nicht so einfach wie zunächst vermutet: Die tatauslösende Struktur wird in individuell verschieden starkem Anteil bestimmt durch die habituelle und in biologischen Phasen variierte sexuelle Erregbarkeit, durch die wechselseitigen Beziehungen der individuellen Stimmungs-, Affekt- und Temperamentslage untereinander und zur Sexualität, durch Steuerungsfunktionen und Verhaltensmuster (beispielsweise im Sinne der sozialen Vereinsamung, der Bevorzugung bestimmter sozialer Konstellationen), aufgrund wiederholter Erfahrungen dann auch in einer mehr oder weniger bewußten Erlebnisgestaltung etwa derart, daß in bestimmten Umweltund Affektsituationen Triebmechanismen ausgelöst werden können. Von der Erlebnisseite her
144
Diebstahl
wird die Entladungsrichtung determiniert, d.h. es tritt eine Prägung ein, bei der auch der Zufall von Bedeutung ist: so kann in einer einmal entstandenen Kombination der verschiedenen Faktoren die Handlung beispielsweise in Richtung einer bestimmten kleptomanen oder einer fetischistischen Betätigung oder aber auch der Brandstiftung sowie anderer Delikte fixiert werden. Es gibt somit Kleptomanien auf der Grundlage von neurotischen Fehlhaltungen, ohne daß aber der kleptomanische Mechanismus als solcher psychologisch motiviert werden könnte. Ob man unter all diesen Umständen den Begriff Kleptomanie als „wesenlos" (Hadamik) ansieht, ist eine Frage des Aspekts bzw. der Zweckmäßigkeit. Auch wenn eine einheitliche Ursachenkombination nicht herausgearbeitet werden kann, empfiehlt es sich vorerst, diese phänomenologisch als „Stehlen um des Stehlens willen" (wobei manchmal das gestohlene Gut später zurückgegeben wird) charakterisierte Deliktsgruppe als verhältnismäßig leicht abgrenzbar hervorzuheben, (de Boor, Hirschfeld, Hirschmann, Schmidt; Gerchow mit ausführlichen Literaturangaben, 1958.) Hypothetisch lassen sich am Modell der Kleptomanie auch viele andere Diebstähle verständlich machen. 3.
Entwicklungsabläufe
Die im Zusammenhang mit der Pubertät stehende Diebstahlskriminalität hat besondere Beachtung erfahren. Zu unterscheiden sind (a) pubertätsausgelöste Delikte bei (kriminogen) präformierten Strukturen und (b) vornehmlich pubertätsbedingte Kriminalität. Im Fall (a) kommt es bei mehr psychisch oder mehr somatisch (ζ. B. zerebral, seltener hormonal) gestörten bzw. stigmatisierten Persönlichkeiten unter dem Einfluß des psychophysischen Reifungsgeschehens zu inneren Unausgeglichenheiten bzw. äußeren Anpassungsschwierigkeiten, aus denen sich kleptomanieähnliche wie andere Diebstähle entwickeln können. Im Bereich der Sexualitätsreifung und anderer triebnaher Funktionsabläufe können bestimmte Reizschemata und Verhaltensmuster entstehen, die oft eine starke Abhängigkeit von der Gruppe mit ihren Vor- und Leitbildfunktionen erkennen lassen. Es gibt hier fließende Übergänge zur pubertätsbedingten Diebstahlskriminalität (b), deren ätiologischer Schwerpunkt mehr in den endogenen Schwankungen von Funktionen der Tiefenperson oder mehr im personalen Uberbau mit seiner Fülle von möglichen Selbstwertkonflikten, von Schwierigkeiten beim Ablösungs- und Individuationsprozeß (Protest-, Kollektivdelikte) hegen kann. Sekundär wird die Rückfallwahrscheinlichkeit oft durch chronische soziale Mißerfolge, durch Steuerungsmängel, Ressentimentbildung und ähnliche Überformungsvorgänge erhöht (Abels, Dietrich, Enke, Gerchow, Henck,
Illchmann-Christ, Kretschmer, Mays, Stutte, Zeller, Zulliger). Das Ausmaß der (partiellen) Acceleration bzw. Retardierung spielt oft eine entscheidende Rolle, und zwar deshalb, weil es den Pubertierenden in unterschiedlichen vitalen und sozialen Bereichen zu leben und sich durchzusetzen zwingt (Illchmann-Christ, Leuner, Undeutsch). Auffällig werden vorwiegend puberal gestörte Minderjährige häufig durch intensiv ausgeführte Serien- und Bandendiebstähle, die pubertätsbegrenzt längere Zeit andauern können, aber keine schlechte Prognose haben. Subjektiv entlastet die Kollektivschuld den einzelnen. V. STRAFE, BEHANDLUNG UND STRAFVOLLZUG Die Strafen erstrecken sich über die ganze Breite des gesetzlich Möglichen und sind — zumindest bei Erwachsenen — vorwiegend an der Schuld orientiert, in deren Beurteilung Faktoren wie Tatausführung, Schaden, Gefährlichkeit des Täters sowie die gesetzlichen Erleichterungs- und Erschwerungsgründe miteingehen; hinzu kommen spezial- und generalpräventive Erwägungen. Zeitbedingt haben sich so in der Strafzumessungspraxis Bräuche herausgebildet, deren Begründung im Einzelfall weitgehend irrational bzw. hypothetisch ist (Klug). Über die Anwendung der wichtigsten Strafen und Maßnahmen geben die T a b e l l e n 9 u n d 10 einen kurzen Überblick. Im Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes wird eine stärkere Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit angestrebt, doch ist eine Resozialisierung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln z. Zt. nur in beschränktem Umfang erreichbar. Das liegt daran, daß für die Behandlung von Kriminellen, insbesondere von dem Richter meist eintönig, allenfalls durch die Tatausführung interessant erscheinenden Dieben und Einbrechern, bisher fast keine spezifischen, auf die kriminogene Struktur des Täters abgestellten Methoden entwickelt worden sind, sondern (historisch zu verstehenden) ideologischen Vorurteilen entsprechend der Täter im Ganzen „umgewandelt" oder „gebessert" werden soll. Die Ätiologie (im Verlauf der Ontogenese) der kriminellen Neigungen ist in der Regel für die Behandlung ohne Bedeutung. Bei noch nicht ausgereiften Tätern wird durch die gewissen Regelmäßigkeiten des biologischen (ζ. B. wellenförmig an- und abklingenden) Phasenverlaufs entgegengerichteten gesetzlichen Anordnungen (ζ. B. Rückfallbestimmungen) vermutlich nicht selten eine Verfestigung und Versteifung der Kriminalität bewirkt. Ähnliches gilt für die Behandlung von Eigentumsdelinquenten, deren Straftat Ausdruck einer puberalen Protesthaltung, seltener einer zwangsneurotischen Struktur ist. Bei Diebstahlhandlungen aufgrund von Gewissenkonflikten (Zulliger) kann psychotherapeutische Behandlung
Diebstahl erfolgreich sein; für andere Fälle sind erfolgversprechende Methoden noch kaum gesucht und gefunden worden. Im Strafvollzug bilden Diebe und Einbrecher die farblose Masse, für die besondere Persönlichkeitsmerkmale allenfalls per exclusionem gefunden werden können; für schädliche Haftwirkungen sollen sie mehr als andere Delinquenten anfällig sein; daß sie in der Strafanstalt häufiger als andere stehlen, ist nicht erwiesen; Diebe und Betrüger bevorzugen gegebenenfalls die Entweichung aus der Anstalt, während Gewalttäter ausbrechen (Gallmeier). Gute Einbrecher sind oft auch gute Ausbrecher (v. Hentig 1964). Da auch der Straf-
145
vollzug mangels wissenschaftlicher Vorarbeit in seinen Methoden nicht die kriminogene Struktur des individuellen Täters berücksichtigt, sondern von gewissen vulgärpsychologischen und -pädagogischen Fiktionen ausgeht, wird nur bei einem Teil der Delinquenten und nur mit geringer Wahrscheinlichkeit prognostizierbar eine Resozialisierung erreicht (Suttinger). J e ausgeprägter die (kriminellen) Verhaltensmuster sind, um so geringer ist die nachhaltige Abschreckungswirkung von Strafen. Die Rückfallsintervalle sind bei Dieben und Einbrechern unabhängig von Art („Müde" und „Schärfe") und Dauer des Strafvollzugs (Nass).
Tabelle 9 S t r a f e n und Maßnahmen ( s ä m t l i c h e V e r u r t e i l t e n )
Jahr
§§
Verurteilte
Zuchthaus
(1)
(2)
(3)
1910
242 243 244
1930
1966
Gefän *nis*)
Geldstrafe (allein)
Sicherungsverwahrung (8)
insgesamt
bis zu 3 Monaten
(4)
(δ)
(6)
(7)
80.049 14.737 19.421
26 669 3.619
70.862 14.169 16.802
66.674 4.262 464
426 6 3
242 243 244
66.754 14.778 16.494
4 181 1.708
29.742 14.163 13.788
26.449 2.713 196
34.368 64 17
242 243 244
49.108 11.944 8.365
2 169 1.044
16.416 8.166 7.307
11.807 1.441 1.249
19.773
7 71
*) einschl Jugendstra. :e (-gefängnis Tabelle 10 S t r a f e n und Maßnahmen ( J u g e n d l i c h e )
Jahr
§§
Verurteilte
(1)
(2)
1930
1956
10
Jugen«1s träfe
Geldstrafe (allein)
Zuchtmittel
Erziehungsmaßnahmen
(7)
(8)
9.631 2.734 2
403 190
insgesamt
bis zu 3 Monaten
(3)
(4)
(5)
(6)
242 243 244
10.249 3.075 44
6.081 2.647 44
4.770 1.932 15
2.466 36
242 243 244
10.606 3.787 5
572 863 3
HdK, 2. Aufl., Bd. I
146
Diebstahl
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Ε EHE UND FAMILIE L
DIE
KRIMINOLOGISCHEN
HAUPTFRAGE-
STELLUNGEN Z U E H E U N D F A M I L I E Obgleich sich der Artikel im S c h w e r p u n k t m i t den kriminologischen und kriminalpolitischen Problemen der Wechselwirkungen z w i s c h e n Kriminalität und Ehe u n d Familie b e s c h ä f t i g e n wird, kann er nicht darauf verzichten, z u v o r einen skizzenhaften Überblick über die Erkenntnisse der sog. kriminologischen Grundlagenwissenschaften zu Ehe u n d Familie zu g e b e n , u m die kriminologischen Fragestellungen in die u m jo·
fassenderen soziologischen, psychologischen u n d psychiatrischen Zusammenhänge einzubetten u n d so erst in ihrer ganzen Tragweite verständlich zu machen. Diese Fragestellungen können, u m eine bessere Übersicht zu gewährleisten, kurz folgendermaßen umrissen werden: Zunächst einmal erhebt sich i m R a h m e n der rein kriminologischen Betrachtung die Frage, ob die E h e als solche einen verbrechensmindernden oder gar -verhindernden Einfluß auf die Ehepartner auszuüben vermag oder ob sie i m Gegenteil verbrechensauslösend, -fördernd oder -verursachend wirken kann. Das P h ä n o m e n der Familie m i t Eltern, die schwerwiegende Charaktermängel oder
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Ehe und Familie
kriminelle Gewohnheiten haben, wirft sodann die weitere Frage auf, in welcher Weise es sich auswirkt, daß die Kinder solcher Familien weitgehend der sozial abweichenden Lebensweise ihrer Eltern wehrlos ausgesetzt sind. Hieran schließt sich die ganze Variationsbreite der Fragestellungen im Rahmen der Besprechung der Beziehungen zwischen Familie und Jugendkriminalität an, bei der sichtbar werden soll, in welchem Umfang bestimmte konstellative Familiensituationen delinquente Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zu erklären vermögen. Alle phänomenologischen und ätiologischen Erwägungen zur Kriminalität im Hinblick auf Ehe und Familie bleiben hingegen letztlich unfruchtbar, wenn sie nicht wenigstens Ansätze für die Behandlung des Straftäters und seiner Familie abgeben. Zur Beantwortung der Fragen, ob und in welcher Form Familienbehandlungen durchzuführen sind, haben sich Erläuterungen zu diagnostischen und prognostischen Methoden als unumgänglich erwiesen, die speziell auf die Familie und ihre Probleme zugeschnitten sind und im Falle der Prognose vor allem der Vorbeugung gegen Kriminalität dienen. Schließlich muß noch auf die kriminalpolitische Frage des staatlichen Schutzes von Ehe und Familie gegen kriminelle Angriffe von außen und delinquente Zersetzung von innen eingegangen werden. Π. EHE UND FAMILIE IN IHRER BEDEUTUNG FÜR KRIMINOLOGIE UND KRIMINALPOLITIK A. Des gegenwärtige Erscheinungsbild von Ehe und Familie nach den kriminologischen Grundlagenwissenschaften Die Forschungsergebnisse der sog. kriminologischen Grundlagenwissenschaften können hier nur insoweit erörtert werden, als sie für das Verständnis der sich anschließenden kriminologischen Betrachtung von Bedeutung sind. 1. Ursprung
und Wesen von Ehe und
Familie
Ehe und Familie sind vormenschliche Phänomene. Die Tiersoziologie hat nachgewiesen, daß Tiere mannigfaltige Ehe- und Familienformen bilden. Diese Gruppierungen sind — dem jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe der Tiere entsprechend — allerdings regelmäßig nur auf Zeit angelegt und erschöpfen sich in der Zeugung und Aufzucht von Nachkommenschaft. Die menschliche Sexualität ist demgegenüber durch Daueraktualität und Antriebsüberschuß gekennzeichnet (Schelsky, 1955, S. 241/242). Dennoch kann sie nicht als der wesentlichste Faktor beurteilt werden, der für die Entstehung der menschlichen Ehe und Familie verantwortlich ist, weil sie das Merkmal der Dauerhaftigkeit der sozialen Bindung in der Ehe nicht erklärt.
Vielmehr steht die biologische Eigenschaft des Menschen im Vordergrund, in einem Zustand besonderer Hilflosigkeit geboren zu werden, so daß man von einer „physiologischen Frühgeburt" gesprochen hat. Die auf dieser biologischen Eigenart beruhende lang dauernde Abhängigkeit des menschlichen Kindes hat zur Folge, daß es irgendwelche Einrichtungen geben muß, in denen das Kind längere Zeit hindurch ernährt, geschützt und erzogen wird. Margaret Mead (1955, S. 207—210) hat betont, daß die mütterliche Fürsorgebindung an das Kind (der „Brutpflegetrieb") so tief in den tatsächlichen biologischen Vorgegebenheiten von Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Laktation verwurzelt sei, daß nur recht komplizierte soziale Einrichtungen sie ganz zu zerreißen vermöchten. Dagegen sei „menschliche Vaterschaft eine soziale Erfindung", die irgendwann in der Dämmerung der menschlichen Geschichte gemacht worden sei und bei der die Männer angefangen hätten, ihre Frauen und Kinder auf Dauer zu ernähren. Da ein solches Verhalten der Männer, für andere zu sorgen, erlernt worden sei, könne es leicht gestört werden, wenn die Gesellschaft nicht fortfahre, es eindrucksvoll immer wieder zu lehren. Die Völkerkunde hat eine fast unübersehbare Fülle von Ehe- und Familienordnungen festgestellt, die die Beziehungen der Ehepartner und Familienmitglieder in der unterschiedlichsten Weise regelten (Thurnwald, 1932). Die Volkskunde hat anschaulich gemacht, wie Ehe und Familie im Laufe der Geschichte durch mannigfaltige Sitten und Bräuche ihre heutige Form erhielten (Peuckert, 1955). Den mächtigsten Einfluß auf die Gestaltung von Ehe und Familie hat im abendländischen Kulturkreis die christliche Religion ausgeübt, die eine kulturelle Überformung der sexuellen Antriebe des Menschen anstrebte und so erst eine echte leiblich-seelischgeistige Einheit in der Ehe ermöglichte, in der das Seelisch-Geistige den Vorrang vor dem Körperlichen beansprucht. So sehen wir die Ehe heute als eine alle Lebensbereiche umfassende, auf Dauer gerichtete Gemeinschaft, deren ontologische Grundlage nach Piper (1954, S. 226) in der realen Zweieinigkeit der Ehepartner besteht. Der von daher verstandene Geschlechtsakt in der Ehe vermag mithin den Ausdruckswert einer echten menschlichen Begegnung (Doms, 1935, S. 152/153), einer „dualen Wirklichkeit" eines „Geschlechtsleibes" (von Gebsattel, 1955, S. 7) anzunehmen, in dem die „wirhafte Liebe" (Künkel, 1936, S. 96) im Sinne einer „liebenden Erfassung der ganzen Person" des Partners (Michel, S. 124) verwirklicht wird. Da die Ehe aber vor allen Dingen auf die Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft abzielt, greift sie über die bloße Liebesbindung der Ehepartner hinaus. Das Wort „Ehe" heißt in seiner
149
Ehe und Familie ursprünglichen etymologischen Bedeutung „Gesetz" (Kluge-Götze, 1953, S. 157). Der Notwendigkeit einer gesetzlichen Ordnung der Ehe im Interesse der Nachkommenschaft haben die christlichen Kirchen und der Staat dadurch Rechnung getragen, daß sie die Eheschließung als Vertrag zwischen den Verlobten ausgestalteten und den Eheschluß zum Formalakt erhoben, an dem die Öffentlichkeit erheblich interessiert ist (Aufgebot, Heiratszeremonie). Die christlichen Kirchen betrachten den Ehevertrag darüber hinaus als Sakrament, dessen Chiffren der Gnade während der ganzen Dauer des Ehebandes wirksam sind. 2. Der
weltweite
Wandel
und seine drohenden
in
Ehe
und
kriminogenen
Familie Folgen
Gegenwärtig befinden sich Ehe und Familie in der ganzen Welt im Übergang, wobei Ausmaß und Schnelligkeit der Wandlung gebiets- und zeitweise unterschiedlich sein können (Goode, 1963). Das Hauptmerkmal des Wandels besteht darin, daß in zunehmendem Maße an die Stelle der traditionellen (meist patriarchalisch organisierten) Großfamilie die Kleinfamilie tritt. Während in dieser „Kemfamilie" (nuclear family) nur noch das Gattenpaar mit seinen unmündigen Kindern zusammenlebt, bestand die Großfamilie aus zwei oder mehreren Kernfamilien. Sie wurde durch eine Erweiterung der Eltern-Kind-Beziehung gebildet, indem etwa ein verheirateter Sohn und seine Familie mit seinem Vater und dessen Familie zusammenlebte. Mit dem sich abzeichnenden Trend zur Kemfamilie sind auch regelmäßig ein Funktionsverlust der Familie und eine Einbuße an väterlicher Autorität verbunden. Das traditionelle Vaterbild erlischt, der Vater wird „unsichtbar" (Mitscherlich, 1963, S. 220), weil er im Beruf und durch außerfamiliäre Freizeitbeschäftigungen zu sehr von der Gesellschaft in Anspruch genommen wird. Die verantwortliche Erziehungsaufgabe in der Familie wächst dementsprechend immer mehr der Mutter zu. Während die Großfamilie eigentlich eine kleine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft war, gibt die moderne Kernfamilie mehr und mehr Aufgaben an die Gesellschaft ab. Ihr Schwerpunkt wird vom Sachlichen zum Persönlichen, von den ökonomischen Funktionen zu den Erziehungs- und Erholungsfunktionen verschoben. Gleichzeitig tritt das ein, was man mit dem Schlagwort der „Demokratisierung" der Familie zu bezeichnen pflegt. Nicht nur die Ehepartner treten sich gleichrangig-partnerschaftlich gegenüber (Dingwall, 1962; MacKenzie, 1963), sondern auch die Kinder streben nach größerer Freiheit, nach Selbständigund Unabhängigkeit. Sie wollen an Familienentscheidungen verantwortlich teilhaben, sich andererseits aber in ihre eigenen persönlichen
Angelegenheiten, ζ. B. in ihre Berufs- und Partnerwahl, von Seiten der Eltern nicht dreinreden lassen. Das Verständnis für die Eigenständigkeit der kindlichen Welt nimmt in der neuzeitlichen Gesellschaft zu. Aus dem Nebeneinanderbestehen unterschiedlicher Familienleitbilder bei der älteren und jüngeren Generation und bei der ländlichen und städtischen Bevölkerung (van Deenen, 1961; Kuhnen, 1961) erwachsen Wertkonflikte und persönliche Spannungen innerhalb der Familien, die sich in Neurosen niederschlagen (Maldonado Sierra, 1960, S. 246), aber auch unmittelbar kriminologisch auswirken können. Daß die Jugendkriminalität, insbesondere die Kriminalität jugendlicher Banden, in Japan nach dem 2. Weltkrieg so außerordentlich angewachsen ist (Nishihara, 1963, S. 341) und daß der Selbstmord unter den 15- bis 24jährigen Japanern die Haupttodesursache bildet (Mamoru, 1961), wird ζ. T. auf die Strukturveränderungen innerhalb der japanischen Familie der Nachkriegszeit und die sich hieraus ergebenden Konflikte zurückgeführt (vgl. auch Masuoka, 1962). Mit dem Emanzipationsstreben der Frau und ihrer damit verbundenen „seelischen Vermännlichung" (C. G. Jung, 1948, S. 11) scheinen auch Desorganisationserscheinungen, wie ζ. B. eine erhöhte Scheidungshäufigkeit (Geertz, 1961, S. 69—71), einherzugehen, die sich wegen der besonderen Verwundbarkeit der modernen Kernfamilie kriminologisch nachteilig auswirken können. Die beschriebenen Wandlungstendenzen, die ζ. B. in der arabischen (Wehr, 1962), westafrikanischen (Cohen, 1961; Marris, 1961), indischen (Burling, 1963; Collver, 1963; Kapadia, 1959; Khatri, 1962; Kurian, 1961) und japanischen (Tanino, 1961) Familie beobachtet worden sind und die auch die polnische (Chalasinski, 1958), sowjetrussische (Frumkin, 1961; Mace, 1963; Schlesinger, 1949) und die unter starkem kommunistisch-ideologischem Druck stehende chinesische Familie (Huang, 1961; Yang, 1959) beeinflussen, werden auf eine zunehmende Urbanisierung, Industrialisierung, technische Entwicklung und eine erhöhte Mobilität in der heutigen Gesellschaft, vor allem aber auf die verbesserte Erziehung in den sog. Entwicklungsländern (Omari, 1960, S. 208; Ross, 1963, S. 58) zurückgeführt. 3. Die moderne Kernfamilie ihre kriminologisch
als Intimgruppe
erhebliche
und
Verletzbarkeit
Die Familie ist eine organisierte, strukturierte Gruppe, in der jedes Familienmitglied eine bestimmte Stellung (einen Status) innehat. Die heutige Familie ist eine Gruppe eigener Art (R. König, 1955, S. 139), eine Intimgruppe, weil die öffentliche Meinung von ihr erwartet, daß die persönlichen Verhältnisse der Familienmit-
150
Ehe und Familie
glieder untereinander und insbesondere das Verhältnis von Frau und Mann durch liebevolle Zuneigung und gegenseitige Hilfe bestimmt werden. Für den Zusammenhalt der heutigen Kernfamilie sind die Stabilität der Gattenbeziehung, die Einstellungen der Ehepartner zueinander und zu ihren Kindern von entscheidender Bedeutung. Bei einer Befragung in der Bundesrepublik Deutschland hielten im Herbst 1949 8 9 % der Befragten die Einrichtung der Ehe für notwendig; als Motiv für die Wahl des Ehepartners stand die Liebe mit 39% bei den Männern und mit 51% bei den Frauen an erster Stelle (von Friedeburg, 1953, S. 81, 90). Die von Schelsky (1954, S. 75) bei seinen empirisch-soziologischen Familienuntersuchungen festgestellte wachsende „Versachlichung der Intimbeziehungen" scheint demgegenüber nicht im Gegensatz zu dem immer noch ausschlaggebenden Primat der Liebes- und Sympathiebindung zu stehen. Diese Versachlichung wirkt sich auch deshalb nicht so nachteilig auf die Stabilität von Ehe und Familie aus, weil es für den heute weithin üblichen gemeinsamen Aufbau einer Existenz und den weiteren materiellen Lebenskampf der Ehepartner eher von Nutzen sein kann, wenn eine nüchterne Betrachtung der Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit des zukünftigen Ehegatten bei der Partnerwahl mit ins Spiel kommt. Dagegen scheinen die von Wurzbacher (1954, S. 215, 216) in seinen Familienmonographien ermittelten Leitbilder einer Eigenständigkeit der Familie in und gegenüber der Gesellschaft, einer Eigenständigkeit der Gattenbeziehung gegenüber der Eltern-Kind-Beziehung und einer Eigenständigkeit der einzelnen Familienmitglieder innerhalb des Familienverbandes schon eher für drohende Auflösungstendenzen im System der modernen Kernfamilie zu sprechen. Hier wird offenbar, daß der überspitzte Individualismus der Neuzeit eine der stärksten Bedrohungen der Kernfamilie darstellt, weil er zur Lockerung der familiären Beziehungen und in eine soziale Isolation des einzelnen führt. Diese individualistische Bedrohung der Familie wird durch einen krassen Materialismus noch verstärkt, der ebenfalls die emotionalen Bindungen in der Familie zerstören und die hilflose Kontaktlosigkeit und Einsamkeit des modernen Menschen in einer industrialisierten Massengesellschaft zur Folge haben kann. Der Ausfall im Personenbestand, der eine unvollständige „Halb- oder Restfamilie" entstehen läßt, und die Störung der Binnenstruktur, die eine „innere" Desorganisation der Familienbeziehungen durch einen Zerfall des Zusammengehörigkeitsgefühls herbeiführt, sind für die einzelnen Familienmitglieder der Kernfamilie deshalb so verhängnisvoll, weil in ihr — im Gegensatz zur traditionellen Großfamilie — keine Ersatzperson zur Verfügung steht, die die Funktionen
des ausgefallenen Familienmitglieds übernehmen könnte, und weil sie keine „übergeordnete Schiedsrichterpersönlichkeit" wie in der Großfamilie kennt, die aufgetretene Konflikte und Spannungen innerhalb der Eltern- oder Eltern-Kind-Beziehung auszugleichen und zu schlichten vermöchte. Hinzu kommt noch der für das System der Kernfamilie eigentümliche zeitliche Rhythmus der personellen Ausdehnung und Zusammenziehung. Die Kernfamilie beginnt mit der Eheschließung, erweitert sich alsdann mit der Geburt von Kindern, um sich schließlich nach und nach wieder auf das Gattenpaar zu beschränken. Jeder Mensch gehört somit grundsätzlich zwei Kernfamilien während der Dauer seines Lebens an, für die Goode (1960, S. 78/79) das Begriffspaar „Orientierungsfamilie" und „Fortpflanzungsfamilie" geprägt hat. Der erste Begriff bezieht sich auf die Familie, in der der einzelne geboren ist und erzogen wird, der zweite auf die Familie, die er selbst gründet. Ist es im System der Kernfamilie während der Kindheit einerseits äußerst schwierig, möglichen drückenden Spannungen und Konflikten zu entgehen, so sehen sich die älteren Erwachsenen auf der anderen Seite regelmäßig dem Phänomen des „leeren Nestes" gegenüber, wenn die Kinder ihrer Obhut entwachsen sind. So müssen sie nach einiger Zeit ohne jedes familiäre Ziel leben; sie fühlen sich dann einsam und verlassen, hilflos der modernen Massengesellschaft unmittelbar gegenübergestellt und auf deren Altersinstitutionen weitgehend angewiesen (Townsend, 1957). Das Phänomen des „Ausgeliefertseins" der Kinder an ihre Eltern und der Eltern an die Gesellschaft ist daher kennzeichnend für das System der Kernfamilie, das heute innerhalb der westlich-demokratischen Lebensform ganz vorherrschend ist und sich auf die gesamte Welt auszubreiten scheint. Mit diesem „Ausgeliefertsein" und der beschriebenen besonderen Anfälligkeit der modernen Kernfamilie gegenüber Erscheinungen wie Unvollständigkeit und innere Desorganisation ist zugleich die besondere kriminologisch relevante Verletzbarkeit der Kernfamilie bezeichnet, auf die im weiteren Verlauf der Darstellung noch näher einzugehen sein wird. 4. Die Sozialisation als Hauptaufgabe der heutigen Kernfamilie und die kriminogene Wirksamkeit eines gestörten Sozialisalionsprozesses Zwei Hauptaufgaben besitzt die heutige Kernfamilie: die Stabilisierung der Gattenbeziehung und die Sozialisation der Kinder (Parsons, 1956, 5. 16/17). Sie wird als „Primärgruppe" bezeichnet, weil ihr der Mensch in seinem Lebenslauf als erster Gruppe zu begegnen pflegt und weil sich in ihr seine „zweite Geburt" (R. König, 1955, S. 143—145) vollzieht, die den Aufbau seiner
Ehe und Familie sozial-kulturellen Persönlichkeit zum Ziele hat: „In der Familie baut sich . . . die sittliche Persönlichkeit auf, wobei dann die Grundformen sozialer Ideale erfahren werden, wie Liebe, die Rücksicht, der Dienst, das Opfer, aber auch die Vorstellung vom Selbstwert anderer Personen, ohne die auf die Dauer überhaupt keine Gesellschaft bestehen kann." Versteht man unter Familienrolle die von einem Familienmitglied seiner Stellung entsprechende Verhaltensweise (den dynamischen Aspekt seines Status), so ist die Familie eine Gruppe von Menschen, deren Rollen eng miteinander verknüpft und gegenseitig voneinander abhängig sind. Sozialisation (auch Enkulturation genannt) geschieht in diesem Rollensystem durch Interaktion, d. h. dadurch, daß sich die Familienmitglieder in ihren entsprechenden Familienrollen wechselseitig beeinflussen. Das wichtigste Mittel und zugleich das hauptsächlichste Ergebnis der Enkulturation ist hierbei die soziale Kontrolle, die von der Familie mehr oder weniger intensiv und kontinuierlich, mittelbar und unmittelbar ausgeübt wird. Sozialisation ist nämlich ein Prozeß, in dem durch Internalifierung von Leitbildern, Normen und Werten eine ethische Kontrollinstanz, ein „Überich" aufgebaut und damit die Außenkontrolle ins Innere des einzelnen hinein verlegt („eingeinnert") wird, in dem sich weiter durch Identifikation mit ErziehungspeTsonen ein „Ich", ein „Selbstbild" ausgestaltet, das dem einzelnen Eigenhalt zu geben vermag, und in dem der einzelne schließlich selbst Rollen übernimmt und auf Rollenerwartungen anderer einzugehen lernt. Am Ende des Sozialisationsprozesses, in dessen Verlauf sich das Kind allmählich immer mehr von seiner „Orientierungsfamilie" loslöst (emanzipiert), weiß das Kind im Idealfall nicht nur, was von ihm in der Gesellschaft und deren Gruppen erwartet wird und wie es sich zu verhalten hat, sondern es ist ebenso davon überzeugt, daß sein Denken und Handeln die richtige Art und Weise des Denkens und Handelns überhaupt ist (Elkin, 1963, S. 4). Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für das Gelingen des Sozialisationsprozesses ist ein ungestörtes psychodynamisches Funktionieren innerhalb der Familie. Rollenharmonie, Vertrautheit und Wärme des engen familiären Beieinander, eine ausgeglichene emotionale Atmosphäre innerhalb der Familie begünstigen die Enkulturation (Ciaessens, 1962). Abweichendes Verhalten entsteht demgegenüber nicht selten aus ernsthaften Störungen der Psychodynamik und des Sozialisationsprozesses in der Familie. Krisen in der Gesellschaft (ζ. B. Arbeitslosigkeit) können als Druckphänomene von außen an die Familie herangetragen werden und in Form von heftigen Konflikten und massiven Spannungen in ihr zersetzend weiterwirken. Charaktermängel oder auch nur
151
unvorteilhafte Erscheinungsbilder der Eltern, Ausfall im „persönlichen Inventar" (R. König) der Familie durch Tod oder Scheidung, längere oder sogar nicht selten bloß immer wiederkehrende vorübergehende Trennungen zwischen dem Kind und einem oder beiden Elternteilen können mißliche Voraussetzungen für eine angemessene Identifikationsmöglichkeit schaffen, so daß das Kind oder der Jugendliche wegen eines zu schwach entwickelten Selbstbildes den Eigenhalt verliert und für delinquente Verhaltensweisen anfällig wird. Insbesondere ist eine ungestörte Interaktion zwischen Mutter und Kind für das seelische Gedeihen des Kindes unerläßlich. Langdauernde Trennungen der Mutter von ihrem Kind während der ersten Lebensjahre des Kindes und fortwährende außerhäusliche Berufstätigkeit der Mutter scheinen sich hier auf die physische und psychische Entwicklung des Kindes schädlich auszuwirken, falls keine geeignete Ersatzperson für die Erziehung des Kindes zur Verfügung steht. So ist auf Grund von familienmonographischen Untersuchungen an 115 Familien und auf Grund einer Schulerhebung an 194 Volksschulkindern in München festgestellt worden, daß die Erwerbstätigkeit der Mütter einen bedeutenden erziehungswidrigen Störfaktor der gegenwärtigen Familienordnung darstellt (Speck, 1956, S. 126/127; vgl. auch Bergius, 1960; Dunckelmann, 1961; Jephcott, 1962; Pfeil, 1961; Powell, 1961; Verwey-Jonker, 1958; Yarrow, 1962). Aber auch die oft weitgehend unvermeidbare (weil beruflich bedingte) längere Abwesenheit des Vaters übt einen nachteiligen Einfluß innerhalb des Enkulturationsprozesses aus. Von besonderer Bedeutung für das Ausüben der kriminologisch so bedeutsamen sozialen Kontrolle sind indessen die Einstellungen (Verhaltensprädispositionen) der Eltern zu ihren Kindern (Ackerman, 1958, S. 20). Diese Einstellungen können, müssen aber nicht unbedingt (Westley, 1958, S. 141/142) Ergebnis der Erfahrungen sein, die die Eltern in ihren eigenen „Orientierungsfamilien" gemacht haben. Die Art und Weise, wie die Eltern sich gegenseitig und ihren Kindern gegenüber ihre Zu- oder Abneigung, ihr Ver- oder Mißtrauen (Murphey, 1963, S. 651) spüren lassen, ist bezeichnend für den emotionalen und kontaktmäßigen Ausgleich und Austausch innerhalb der Familie. Fehlhaltungen der Eltern ihren Kindern gegenüber wie bewußte oder unbewußte Ablehnung, überängstlich-beschützendes Verwöhnen, unsichere Nachgiebigkeit, starre Unduldsamkeit, willkürliches Vorziehen einzelner Kinder, schwankende widersprüchliche Richtungslosigkeit in der Erziehung rufen Verwirrungen und Spannungen innerhalb der Familie hervor, die sich im Wege der Externalisierung, des „acting-out" in delinquentes Verhalten der Kinder umsetzen können.
152
Ehe und Familie
Eine von den Eltern schmerzlich empfundene Diskrepanz zwischen ihren Rollenerwartungen and dem tatsächlichen Rollenverhalten ihrer Kinder mag ihre Einstellungen oft mit geprägt haben. Ausschlaggebend beeinflußt werden die Haltungen der Eltern gleichwohl durch das Bild, das sie von sich selbst und ihrer Familie haben, und durch die Normen, die sie gemeinsam anerkennen. Familienbild, Selbstbild und das gemeinsam gebilligte Wertsystem stehen in einem Verhältnis der Interdependenz zueinander. Eine Familie vermag ihre Aufgabe im Sozialisationsprozeß um so besser zu erfüllen, je hochwertiger das reale Familienbild ist und je mehr es sich dem idealen Bild annähert, das die Eltern von ihrer Familie haben (van der Veen, 1964, S. 53/54). Monographien N. W. A c k e r m a n : Psychodynamics of family life. 1958. Κ. A n d e r s o n (Hrsg.): Untersuchungen Uber die Familie. 3 Bd. 1958. R. N. A n s h e n (Hrsg.): Family: its function and destiny. 1949. G. B a u m e r t , Έ. H ü n i n g e r : Deutsche Familien nach dem Erlege. 1954. H. B e c k e r , E. H i l l : Family, marriage and parenthood. 1948. L. S. B e e : Marriage and family relations, an interdisciplinary approach. 1959. N. W. Bell, E. F. Vogel (Hrsg.): A modern introduction to the family. 19β2. A. B e n n i n g : Ehe und Familie in der Sowjetunion. 1955. J . B l a k e : Family structure in Jamaica. 1961. Ε. Ο. B l o o d : Marriage. 1962. J . Η. S. B o s s a r d , Ε. S. B o l l : Family situations. 1943. Th. Β ο ν e t: Ehe, ihre Krise und Neuwerdung. β. Aufl. 1954. Έ. W. B u r g e s s , Η. J. L o c k e : Family, from institution to companionship. 2. Aufl. 1953. Β. B u r l i n g : Rengsanggri, family and kinship In a Garo village. 1963. W. D. C a m p : Marriage and family In France since the revolution. 1961. R. Sh. G a v a n : American family. 1956. D. C i a e s s e n s : Familie und Wertsystem, eine Studie zur „zweiten, sozio-kulturellen Geburt" des Menschen. 1962. E. Colson: Marriage and family among the plateau Tonga of Northern Rhodesia. 1958. H. D a h n : Partnerwahl. 1955. Β. v a n D e e n e n : Die ländliche Familie unter dem Einfluß von Industrienähe und Industrieferne. 1961. E. J. D i n g w a l l : Die Frau in Amerika. 1962. H. D o m s : Vom Sinn und Zweck der Ehe. 1935. H. D u n c k e l m a n n : Die erwerbstätige Ehefrau im Spannungsfeld von Beruf und Konsum, dargestellt an den Ergebnissen einer Befragung. 1961. F. E l k i n : Child and society, the process of socialisation. 1963. Μ. F r e e d m a n : Chinese family and marriage In Singapore. 1957. I . v. F r i e d e b u r g : Umfrage in der Intimsphäre. 1953. R. F r B h n e r , Μ. v. S t a c k e l b e r g , W. E s e r : Familie und Ehe. Probleme in den deutschen Familien der Gegenwart. 1956. I. G a l d s t o n (Hrsg.): Family In contemporary society. 1958. Ξ . G e e r t z : The Javanese family, a study of kinship and socialisation. 1961. A. G e h l e n , Η. S c h e l s k y (Hrsg.): Soziologie. 2. Aufl. 1955. Η. Glese (Hrsg.): Sexualität des Menschen. Handbuch der medizinischen Sexualforschung. 1955. P. C. Gllck: American families. 1957. W. J . Goode: Struktur der Familie. I960. World revolution and family patterns. 1963.
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B. Einflüsse von Ehe and Familie auf die Kriminalität Wenn nunmehr die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und Ehe und Familie klarer sichtbar gemacht werden sollen, so müssen zur ätiologischen Fragestellung einige methodologische Bemerkungen vorausgeschickt werden, die sich auf alle einschlägigen empirisch-kriminologischen Forschungsarbeiten beziehen, über die haupt-
Ehe und Familie
154
sächlich im Überblick berichtet werden soll. Da es im deutschsprachigen Raum indessen an empirisch-kriminologischen Forschungsarbeiten, die modernen methodologischen Erfordernissen einigermaßen gerecht werden, auf dem Gebiet der Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und Ehe und Familie so gut wie völlig fehlt, muß weitgehend auf Erkenntnisse aus der angloamerikanischen Kriminologie zurückgegriffen werden. Diese Erkenntnisse sind auf mitteleuropäische Verhältnisse wegen der bestehenden unterschiedlichen zivilisatorischen Lebensbedingungen allerdings nur mit vorsichtiger Zurückhaltung entsprechend anwendbar. 1.
Einordnung
der Jirirnirtalälwlogischen in ein methodologisches kriminologischer
Ehe- und
Einzelforschungen Gesamtmodell Familienforschung
a) Notwendigkeit einer ganzheitlich-multifaktoriellen Betrachtungsweise. Schicken wir uns an, Ursachen für die Kriminalität in Ehe und Familie zu finden, so müssen wir uns stets folgendes vor Augen halten: Die traditionelle kriminologische Betrachtungsweise einer linearen, singulären Punkt-zu-Punkt-Kausalität (Monokausalität) stimmt nicht mit der sozialen Wirklichkeit überein. Sie ist durch die Modellvorstellung einer fast unauflösbaren, dynamischen Verflochtenheit von geschichtlich gewordenen, persönlichen und situativen Teilbedingungen zu ersetzen (Plurikonditionalität). In diesem Modell haben Motivbündelung und unbewußte Motivation durchaus ihren Stellenwert. Die für die Kriminalität bedeutsamen negativen familiären Umweltfaktoren müssen deshalb im Einzelfall nicht notwendigerweise die Verursachung eines Verbrechens vollständig ausmachen. Selbst wenn man statistisch signifikante Unterschiede in Charakterzügen und Umweltfaktoren zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen feststellt und ebenso statistisch signifikante Korrelationswerte zwischen Umweltfaktoren und Charakterzügen bei Kriminellen errechnet, so ist damit noch nicht bewiesen, daß die Kriminalität auf die bei den Kriminellen ermittelten vorherrschenden Charaktereigenschaften und Umweltfaktoren zurückzuführen ist und daß bestimmte kriminell wirksame Charakterzüge durch Umweltfaktoren beeinflußt oder gar geprägt worden sind. Denn sowohl Faktoren und Eigenschaften als auch die Kriminalität können möglicherweise aus weiteren ihnen zugrunde liegenden Faktoren hergeleitet werden. Der Aufweis des Vorhandenseins einer Beziehung zwischen Faktoren und Eigenschaften auf der einen Seite und Kriminalität auf der anderen Seite erhellt mit anderen Worten für sich allein noch nicht das Wesen dieser Beziehung. So
können zur Kriminalität hin tendierende Eigenschaften, ungünstige familiäre Umweltfaktoren und abweichendes, sozial unangepaßtes Verhalten durchaus im Verhältnis einer dynamischen Interdependenz zueinander stehen, d. h. sie können sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Mit den nun folgenden Darlegungen ist mithin nur beabsichtigt, Straftaten aus konstellativen Familiensituationen zu erklären und damit überhaupt erst verständlich zu machen, nicht hingegen die Ursächlichkeit von einzelnen Ehe- und Familienfaktoren für die Kriminalität zu „beweisen". Zwar behandeln die empirisch-kriminologischen Forschungsarbeiten, über die berichtet werden soll, in der Kegel die Einflüsse gesondert, die von einzelnen familiären Störfaktoren wie ζ. B. der Berufstätigkeit der Mütter auf die Jugendkriminalität ausgehen. Bei der Betrachtung dieser Einflüsse ist indessen stets darauf Bedacht zu nehmen, daß die einzelnen Störfaktoren nur in ihrer unlösbaren Verkettung mit der Beeinträchtigung der Gesamtpersönlichkeit des potentiellen Rechtsbrechers, in die auch hereditäre Einflüsse mit eingehen (Yoshimasu, 1961b, S. 140/141), und mit der Störung der gesamten Psychodynamik der Familie gesehen werden dürfen. In der Vergangenheit hat man in der kriminalätiologischen Forschung die intervenierenden Variablen zu wenig berücksichtigt, die in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn man die Berufstätigkeit der Mütter zur Jugendkriminalität in Beziehung setzt, so darf man diese Beziehung nicht losgelöst betrachten von den Persönlichkeiten der Mütter und ihrer Kinder und den Familiensituationen, aus denen heraus die Berufstätigkeit der Mütter erwachsen ist und auf die diese Berufstätigkeit in einem Feedback-Prozeß wieder zurückwirkt. Freilich ist es äußerst schwierig, in statistisch exakt geplanten und durchgeführten Reihenuntersuchungen solche Variablen „herauszukorrelieren". Dennoch zeigen die Forschungsarbeiten von Sheldon und Eleanor Glueck zu den Familienverhältnissen ihrer jugendlichen Straftäter gerade, daß hier erste Ansätze zur Bewältigung des Problems vorhanden sind. Auf die Methode dieser Forschungsarbeiten soll vorab kurz eingegangen werden, um die bisherigen abstrakten methodologischen Bemerkungen an einem markanten Beispiel zu verdeutlichen. b) Berücksichtigung der Interdependenz zwischen Charakterzügen und Familienfaktoren. Gegenstand der Untersuchungen der Gluecks war eine Gruppe von 500 jugendlichen Rückfallverbrechern im Alter von 11 bis 17 Jahren, die aus zwei staatlichen Besserungsanstalten (den Lyman und Shirley correctional schools) in Boston/Mass, ausgewählt worden waren. Dieser Testgruppe von Delinquenten wurde eine gleichgroße Kon-
Ehe und Familie trollgruppe nichtstraffälliger Jungen aus Bostoner Grundschulen in der Weise gegenübergestellt, daß sie sich paarweise hinsichtlich ihrer Herkunft aus Elendsvierteln (depressed areas), ihrer rassischvölkischen Abstammung, ihres Lebensalters und ihrer Intelligenzhöhe glichen, die auf Grund des Wechsler-Bellevue-Intelligenztests ermittelt worden war. Diese vier Faktoren wurden bei beiden Gruppen konstant gehalten, um u. a. folgende Variablen genau erforschen zu können: Umweltfaktoren, vor allem Familienverhältnisse, körperliche Unterschiede nach der Sheldonschen Konstitutionslehre und Persönlichkeitsmerkmale, wie sie sich aus einer psychiatrischen Exploration und nach dem Rorschachtest ergaben. Die ersten Forschungsergebnisse zu den unterschiedlichen Familienverhältnissen beider Gruppen wurden — neben den Erkenntnissen zu den anderen Teilausschnitten des Forschungsprogramms — im Jahre 1950 in dem Buch „Unraveling juvenile delinquency" veröffentlicht. In diesem Forschungsbericht sind alle Einzelergebnisse statistisch verarbeitet und auf ihre Zufallswahrscheinlichkeit derart überprüft worden, daß die gefundenen Unterschiede zwischen der Gruppe der Straffälligen und der Gruppe der Nichtstraffälligen — also auch zu den voneinander verschiedenen Familienverhältnissen beider Gruppen — mittels der Chi2-Methode auf durchweg 1%-Grundlage gesichert wurden, d. h. daß nur 1% Wahrscheinlichkeit für ein Zufallsergebnis sprach. In ihrem im Jahre 1962 erschienenen Werk „Family environment and delinquency" versuchen die Gluecks nun, die Beziehungen zwischen den bei den kriminellen Jugendlichen vorherrschenden Charakterzügen zu den bei ihnen dominierenden Familienverhältnissen zu klären. Haben sie in „Unraveling juvenile delinquency" gezeigt, daß bestimmte Charakterzüge und Familienverhältnisse bei jugendlichen Rechtsbrechern überwiegend vorzukommen pflegen, so wollen sie nun in „Family environment and delinquency" deutlich machen, daß einzelne zur Kriminalität hin tendierende Persönlichkeitsmerkmale beim Vorhandensein ungünstiger familiärer Umweltfaktoren kriminell aktiviert werden können, daß solche Umweltfaktoren mithin gleichsam wie Katalysatoren für das abweichende, sozial unangepaßte Verhalten der Kinder und Jugendlichen wirken, die bestimmte zur Kriminalität hin neigende Charakterzüge aufweisen. Das Ziel weiterer Veröffentlichungen der Gluecks soll es sein, nicht nur das dynamische Zusammenwirken einzelner Persönlichkeitsmerkmale mit einzelnen Umweltfaktoren zu ergründen, sondern „Gestalten" zu entwerfen, in denen die vielen kriminologisch relevanten Einzelfaktoren aufgehen. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird auf die Ergebnisse der Glueckschen Untersuchungen näher einzugehen sein.
155 2. Ehe und Kriminalität
Anknüpfend an die Darlegungen über die beispiellose körperlich-seelisch-geistige Einheit, die den Ehepartnern in der Ehe möglich ist, erscheint es nicht verwunderlich, daß sich die Ehepartner in kriminologisch bedeutsamer Weise gegenseitig beeinflussen, falls sie zur Kriminalität hin tendierende Charaktermängel besitzen oder sich einer von ihnen an kriminelle Verhaltensweisen gewöhnt haben sollte. Die Eheschließung verändert die Lebensart der Ehepartner meist von Grund auf. Sie erhalten neue Aufgaben und Pflichten, begründen neue menschliche Bindungen, und die Geburt von Kindern vermag ihrem bisherigen Leben eine neue äußere und innere Wendung zu geben. Alle diese Wandlungen bleiben in der Regel nicht bedeutungslos für etwaige kriminelle Verhaltensweisen. Man hat in der älteren kriminologischen Forschung versucht, aus dem Umstand, daß Rückfallverbrecher mehr vorbestrafte Frauen zu Partnerinnen wählen, etwas über die „kriminelle Ehe" auszusagen. Ferner hat man aus der Verschiedenheit der Eheschicksale eineiiger, also anlagegleicher, männlicher Zwillinge den kriminalitätsfördernden oder -hemmenden Einfluß der Ehefrauen zu beweisen versucht (Näheres hierzu bei Exner, 1949, S. 245/246). Auf der Grundlage dieser Forschungen war es jedoch bisher nicht möglich, Grundsätze über den kriminalitätsverhindemden oder -verursachenden Charakter der Ehe aufzustellen. Hier bietet sich für die zukünftige empirisch-kriminologische Forschung ein weites Betätigungsfeld. Wegen der Komplexität aller Ehephänomene gelang es einstweilen lediglich, einige typische Verläufe an Hand von Einzelfällen zu veranschaulichen. Unter Verwendung von verfügbaren Kriminalstatistiken kann man gegenwärtig darüber hinaus die unterschiedliche kriminelle Belastung der Ledigen, Verheirateten, Verwitweten und Geschiedenen etwas näher beschreiben, indem man bestimmte Akzente setzt. Allgemeingültige Folgerungen können hingegen weder aus den Einzelfällen noch aus den Kriminalstatistiken gezogen werden. Siebecke-Giese berichtet (1960, S. 31—38) von dem Fall einer 25jährigen Ehefrau, die in der kriminellen Laufbahn ihres Mannes kein Hindernis für eine eheliche Partnerschaft sah, solange der Mann für seine Familie sorgte und ihr das Gefühl des Zuhauses und der Geborgenheit gab. Die Frau, die vor ihrer Ehe keine kriminelle Verfehlung begangen hatte, kam sämtlichen Aufforderungen ihres Mannes, ihm bei seinen Straftaten helfend zur Seite zu stehen, mit Selbstverständlichkeit nach. Sie zeigte bei der Ausführung der Delikte keine anderen Eigenschaften als bei der Ausführung sozialer Leistungen (S. 37). Vor allem die besondere Art ihres Pflichtbewußtseins
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Ehe und Familie
und ihrer Unterordnung unter ihren Ehemann, der sich an kriminelle Verhaltensweisen gewöhnt hatte, wirkte sich bei ihr kriminogen aus. Cormier, Kennedy, Sangowicz und Trottier haben umgekehrt (1961) das kriminelle Verhalten von 102 verheirateten Männern in Kanada untersucht, die erst nach ihrem Eheschluß kriminell wurden. Auf Grund dieser Forschungsarbeiten zeigte sich, daß tiefgreifende, meist depressive Störungen in der Partnerbeziehung als eine vornehmliche Verbrechensursache in Frage kommen. Die Autoren nennen zwei Hauptbeispiele (S. 27): Eine erdrückende Dominanz der Ehefrau, die ihrem Ehemann unerträgliche Versagungserlebnisse zumutet, kann einmal die Krisenanfälligkeit und Konflikthaltigkeit innerhalb der ehelichen Partnerbeziehung hervorrufen. Die aus den Versagungserlebnissen herrührenden agressiven Reaktionen, die der Ehemann in seiner Ehe und Familie nicht adäquat zu verarbeiten vermag, weil ihn seine Ehefrau aus der Rolle des Ehemannes und der des Vaters herausdrängt, können dann zu kriminellen Handlungen innerhalb und
außerhalb der Familie führen. Eine knechtische Abhängigkeit des Mannes von seiner Ehefrau verbunden mit einem quälenden Minderwertigkeitsgefühl kann zum anderen für die drückende Spannung und Belastung der Partnerbeziehung ebenso verantwortlich sein. Der Ehemann begeht dann Straftaten, um seine Ehefrau nicht zu verlieren. Aus der österreichischen und schweizerischen Kriminalstatistik können weiterhin einige deutlich sichtbare Tendenzen in der kriminellen Belastung der verschiedenen Familienstände zusammenfassend beschrieben werden, um eine differenzierendere Betrachtung der sich widersprechenden Thesen von der kriminalitätsverhindernden und -verursachenden Wirkung der Ehe zu ermöglichen. Wie die österreichische Kriminalstatistik (Tabelle 1) zeigt, begehen ledige Männer mehr Straftaten als verheiratete, während sich bei den Frauen das Verhältnis umkehrt. Es erscheint jedoch äußerst gewagt, an diesen Umstand die Deuterelation anzuknüpfen, die Verbindung mit dem Mann „verschlechtere" die Frau, während
Tabelle 1 V e r u r t e i l t e n a c h ihrem F a m i l i e n s t a n d in Ö s t e r r e i c h (Auszug aus einer Zusammenfassung der österreichischen Kriminalstatistik für das Jahr 1961, S. 112/113) Strafbares Verhalten
Jahr
1959 Verbrechen
1960 1961 1959
Vergehen
1960 1961 1959
Übertretungen
1960 1961 1959
Straftaten insgesamt
1960 1961
Geschlecht
Gesamtzahl
ledig
verheiratet
verwitwet
geschieden
m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w.
15.778 2.500 15.043 2.450 15.221 2.474 4.216 319 3.945 297 4.188 315 85.529 14.880 83.920 13.829 74.505 12.793 105.523 17.699 102.908 16.576 93.914 15.582
10.077 1.153 9.779 1.194 9.937 1.236 2.124 78 1.928 84 2.003 104 39.828 4.505 39.679 4.317 34.953 3.988 52.029 5.736 51.386 5.595 46.893 5.328
4.254 851 3.888 781 3.925 817 1.780 164 1.683 140 1.689 131 39.521 7.129 38.142 6.609 34.039 6.102 45.555 8.144 43.713 7.530 39.653 7.050
184 143 141 140 144 124 67 41 56 35 59 41 1.167 1.675 1.082 1.513 916 1.332 1.418 1.859 1.279 1.688 1.119 1.497
1.263 353 1.235 335 1.215 297 245 36 278 38 437 39 5.013 1.571 5.017 1.390 4.597 1.371 6.521 1.960 6.530 1.763 6.249 1.707
Tabelle 2
157
V e r u r t e i l t e nach ihrem F a m i l i e n s t a n d und ausgewählten D e l i k t s g r u p p e n in der Schweiz (Bearbeitung dreier Übersichten aus den schweizerischen Kriminalstatistiken der Jahre 1960 (S. 64/55), 1961 (S. 70/71), 1962 (S. 70/71)) Straftaten gegen
Jahr 1960
das Vermögen
1961 1962 1960
die Ehre
1961 1962 1960
die Freiheit
1961 1962 1960
die Sittlichkeit
1961 1962 1960
die Familie
1961 1962 1960
den Straßenverkehr
1961 1962 1960
die öffentliche Gewalt
1961
sonstige Rechtsgüter des schweizerischen StGB und bundesrechtl. Bestimmungen
1960
1962
1961 1962 1960
Straftaten insgesamt
1961 1962
Geschlecht
Gesamtzahl
m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w.
7.992 1.656 7.963 1.830 8.281 1.732 374 199 369 170 380 143 268 20 286 15 234 28 2.620 111 2.984 124 2.872 131
m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w. m. w.
552 63 452 63 422 80 3.451 217 3.635 230 3.800 251 905 65 789 50 806 62 2.894 626 2.990 684 2.994 573 19.046 2.957 19.458 3.166 19.789 2.990
ledig 4.783 692 5.091 767 5.270 701 96 22 90 24 98 24 132 6 162 3 122 9 1.674 44 1.896 56 1.848 64 76 16 60 16 55 26 1.380 92 1.525 92 1.623 87 444 21 407 12 406 18 1.302 248 1.390 236 1.379 212 9.887 1.141 10.621 1.206 10.800 1.141
verheiratet 2.403 759 2.152 825 2.262 805 242 137 253 111 243 95 105 12 106 10 92 16 800 40 920 55 878 46 277 29 204 23 186 29 1.930 102 1.962 113 2.012 136 344 31 279 28 290 25 1.410 288 1.443 345 1.444 287 7.511 1.398 7.319 1.610 7.407 1.439
vergewitwet schieden 70 48 64 53 63 50 4 15 2 11 14 10 6 2 2 1 40 3 40 3 29 5 6 1 6 1 6 35 14 37 11 40 16 12 5 9 1 6 2 41 27 25 22 44 26 214 113 175 102 203 109
Familienstand unbekannt
709 157 633 179 627 176 27 25 18 23 21 12 12 2 15 2 16 2 99 24 128 10 116 16
27
191 17 181 23 175 25 83 9 95 13 99 13 103 8 87 9 102 7
2
124 63 121 81 111 46 1.348 305 1.278 340 1.266 297
23 6 59 5 6 1 4 2 3 1 2 7
2
1
23 16 1 26 2 7 4 17 11 16 2 86 65 8 113 4
158
Ehe und Familie
die Verbindung mit der Frau den Mann „verbessere". Denn die verheirateten Frauen begehen vor allem wesentlich mehr Übertretungen, während sich die Zahlen bei den Vergehen schon erheblich angleichen. Verbrechen werden von ledigen Frauen mehr verübt als von verheirateten, so daß der kriminologisch ungünstige Eindruck der verheirateten Frau beträchtlich korrigiert wird, wenn man die Beurteilung der Schwere der Kriminalität mit ins Spiel bringt. Daß ledige Männer mehr als doppelt so viel Verbrechen begehen als verheiratete, kann nicht nur daraus erklärt werden, daß die Heranwachsenden, die weniger verheiratet zu sein pflegen, sehr stark mit Gewaltverbrechen belastet sind. Hier scheint sich doch ein gewisser vorteilhafter Einfluß der Ehe auf den Mann bemerkbar zu machen. Im Verhältnis zu den verwitweten Männern begehen verwitwete Frauen ungewöhnlich viele Straftaten (vor allem mehr Übertretungen). An diese Beobachtung kann man die Hypothese anschließen, daß sich das Ausgeschlossensein der verwitweten Frau von den Familienaufgaben und -pflichten im System der Kernfamilie auf sie besonders ungünstig auswirkt. Die hohen Zahlen sind jedenfalls nicht nur allein mit der höheren Lebenserwartung der Frau zu erklären. Wahrscheinlich trifft die verwitwete Frau ihr „Ausgeliefertsein" an die Massengesellschaft besonders schwer, so daß sie unter einer ständigen seelischen Bedrückung leidet, die sich dann in der Begehung von Übertretungen bemerkbar macht. Geschiedene Männer, aber auch geschiedene Frauen scheinen kriminell stark belastet zu sein. Dieser Umstand läßt erkennen, daß Persönlichkeitseigenschaften, die einen Menschen straffällig werden lassen, ihn auch für eine geordnete Ehe untauglich machen (E. Stern, 1957, S. 121—140). Scheidung und Straffälligkeit scheinen mithin in vielen Fällen im Verhältnis der Interdependenz zueinander zu stehen (vgl. auch Robins, 1958, S. 358). Auf Grund der schweizerischen Kriminalstatistik ( T a b e l l e 2) wird das entworfene Bild noch etwas differenzierter. Ledige Männer begehen nämlich wesentlich mehr Vermögensdelikte als verheiratete; dagegen ist das Verhältnis bei den Frauen wieder umgekehrt, wenn auch der Unterschied nicht so groß ist wie bei den Männern. Bei den Straftaten gegen die öffentliche Gewalt liegen die Verhältnisse ähnlich; jedoch sind die Unterschiede hier nicht so ausgeprägt. Ledige Männer verüben mehr Delikte gegen die Sittlichkeit und die Freiheit, während die verheirateten Männer und Frauen mehr mit Straßenverkehrsdelikten belastet sind. An den Straftaten gegen die Ehre und gegen die Familie sind die Verheirateten vermehrt beteiligt. Verheiratete Frauen begehen häufig Delikte gegen die Ehre. Der Grund hierfür dürfte darin liegen, daß die modernen Kern-
familien untereinander in eng besiedelten Gebieten gesteigerten Reibungen ausgesetzt sind. In das skizzierte Bild über die Probleme der verwitweten Frau scheint es auch zu passen, daß sie etwas mehr Straftaten gegen die Ehre begeht. Die verheirateten Männer machen sich besonders vieler Rechtsbrüche gegen die Familie schuldig. Auch die geschiedenen Männer vergehen sich an der Familie in verstärktem Maße. Sie verüben gleichfalls verhältnismäßig viele Delikte gegen die öffentliche Gewalt. 3. Multiproblemfamilie
und
(synthetischer
Jugendkriminalität Ansatz)
Wenden wir uns jetzt den Einflüssen der Familie auf die Jugendkriminalität zu, so stellen wir zunächst folgendes fest: In New York City hat der „New York City Youth Board" auf Grund der Erforschung einer repräsentativen Stichprobe von 1000 Familien ermittelt, daß weniger als 1 % der etwa 2 Mill. New Yorker Familien, also weniger als 20000 Familien, mehr als 75% der jugendlichen Rechtsbrecher der Metropole hervorbringen (Vedder, 1963, S. 32/33). Dieses Forschungsergebnis legt die Frage nahe, ob es eine Abart von Familien gibt, aus denen in vermehrtem Umfang kriminelle Jugendüche hervorgehen, und durch welche Merkmale sich diese besondere Familiengattung von der sog. „Normal-Familie unterscheidet. Es sind die „Multiproblem-Familien", denen sich in den USA, Kanada, England und den Niederlanden in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit der kriminologischen Praxis und Forschung in verstärktem Maße zuwendet (vgl. Blacker; Garland, 1961; Haverda, 1960; Schlesinger, 1963) und die auch im deutschsprachigen Raum eine größere Beachtung von seiten der Kriminologie verdienen. Diese „Multiproblem-Familien" sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie sich einer Fülle von Problemen gegenübergestellt sehen. Einige ihrer Symptome können wie folgt umschrieben werden: Alkoholismus, Rauschgiftsucht, körperliche und Geistes-Krankheiten, sexuelle Verwahrlosungserscheinungen, Selbstmordversuche, Unfallneigung, Intelligenzmängel ihrer Familienmitglieder, schlechte Arbeitsgewohnheiten der Männer (vgl. Chope, 1963, S. 464; vgl. auch Elliott, 1961, S. 199—202 u. 322—324). Es handelt sich zumeist um große Familien mit einer hohen Kinderzahl, die im Verhältnis zu ihrer Größe über ein äußerst geringes Einkommen verfügen. Deshalb lebt die „MultiproblemFamilie" plan- und zukunftslos von heute auf morgen und befindet sich meist in erdrückender wirtschaftlicher Not. Sie wird in der Regel dadurch sozial auffällig, daß sie ihre Kinder in Kleidung und Ernährung erheblich vernach-
Ehe und Familie lässigt, sogar bisweilen körperlich schwer mißhandelt und nur unregelmäßig zur Schule schickt. Durch die Fülle der sie bedrängenden Probleme gleichsam von einem Krampf erfaßt, zieht sie sich in sich selbst und in ihre Fehlhaltungen zusammen und sondert sich von der Gesellschaft ab, deren Wertsystem sie nicht mehr anerkennt. Von der „Normal"-Familie, die durchaus auf Grund äußerer und innerer Desorganisationserscheinungen massiv gestört sein kann, unterscheidet sie sich darin, daß sie nur mit privater und öffentlicher Unterstützung von außen überhaupt einigermaßen lebensfähig ist und daß sie sich in einer einschneidenden Isolation von der Gesellschaft befindet. In einem sich prozeßhaft vollziehenden, progredienten Geschehen pflegt sie sich selbst von der Gesellschaft loszulösen, und drängt sie die Gesellschaft ihrerseits in die soziale Isolation hinein. Es ist ein hervorstechendes Zeichen der „Multiproblem-Familie", daß sie deshalb nicht in der Gesellschaft zu „funktionieren" vermag, weil es ihr nicht gelingt, sich an die Leitbilder und an die Lebensgewohnheiten der modernen Industriegesellschaft anzupassen. Wenn sich die Kernfamilien in der heutigen Massengesellschaft nämlich behaupten wollen, sind dafür Eigenschaften ihrer Familienmitglieder erforderlich, die die Angehörigen der „Multiproblem-Familien" nicht besitzen: persönliche Initiative, ein Mindestmaß an Intelligenz, rasche Reaktions- und Entscheidungsfähigkeit. Das Leben in der Gesellschaft von heute erfordert ein schnelles Sich-Einfügen in eine Fülle von verschiedenen Rollen. Die Mitgb'eder der „Multiproblem-Familien" sind hierfür geistig zu schwerfällig und zu sehr körperlich-seelisch benachteiligt. Die „Multiproblem-Familien" fallen deshalb regelmäßig der Gesellschaft zur Last und stören sie dadurch empfindlich. Wilson (1962) hat während der Jahre 1952 bis 1956 52 englische „Multiproblem-Familien" mit 190 Buben und 171 Mädchen genau beobachtet und sehr signifikante Unterschiede in der kriminellen Belastung der Kinder dieser Familien gegenüber einer Kontrollgruppe ermittelt (S. 120). Die Rückfallkriminahtät der Kinder und Jugendlichen aus „Multiproblem-Familien" war dreimal so hoch wie die der Kontrollgruppe (S. 122). Wilson spricht in diesem Zusammenhang von „Vernachlässigungskriminalität" („neglect-delinquency", S. 147) und will damit andeuten, daß die Eltern letztlich für das kriminelle Verhalten ihrer Kinder verantwortlich sind. Zu ähnlichen Ergebnissen sind Curtis, Simon, Boykin und Noe (1964) gekommen, die 29 New-Yorker „Multiproblem-Familien" mit 67 Kindern fünf Jahre hindurch eingehend studiert haben. Auf Grund von Charaktermängeln, die oft auf seelische Unreife und empfindliche Entwicklungsstörungen zurückzuführen sind, vermögen die
159
Eltern in „Multiproblem-Familien" ihrer Elternrolle nicht gerecht zu werden. Es gibt eine weitverbreitete psychoanalytische Interpretation, wonach sich unterdrückte kriminelle Wünsche der Eltern bewußt oder unbewußt auf ihre Kinder übertragen. Die Eltern haben Angst vor ihren eigenen kriminellen Impulsen, gegen die sie einen starren Abwehrmechanismus aufgebaut haben, und sie projizieren die Gefahr des abweichenden, sozial unangepaßten Verhaltens in ihre Kinder hinein (Simcox Reiner, 1963, S. 16; vgl. auch Gardner, 1959, S. 151). Falluntersuchungen, die Kiernan und Porter in New-York angestellt haben, veranschaulichen diese Hypothese und führen zu dem Ergebnis, daß Eltern, die ungelöste kriminelle Bedürfnisse haben, ihren Kindern bewußt oder unbewußt delinquentes Verhalten erlauben oder sie in ihrem Fehlverhalten noch ermutigen (1963, S. 541). Carek, Hendrickson und Holmes haben (1961) sogar von einer kriminellen „Sucht" der Eltern gesprochen, die durch das delinquente Gebaren ihrer Kinder angeblich eine bemerkenswerte emotionale Befriedigung erlangen. In der „kriminellen Familie", die ebenfalls die Gesellschaft stört und die mit der „Multiproblem-Familie" auch insofern eng verwandt ist, weil sie sich gleichfalls von der Gesellschaft — diesmal bewußt und gewollt — losgelöst hat und mit ihren Werten, Normen und Leitbildern nicht übereinstimmt, haben die Eltern nicht nur kriminelle Wünsche, die sie in ihre Kinder hineinprojizieren, sondern sie geben ihren kriminellen Impulsen nach und begehen selbst Straftaten. Die kriminelle Familie zeigt besonders anschaulich, wie „ausgeliefert" ein Kind in der modernen Kernfamilie seinen Eltern ist, die einen absurden subjektiven Weltentwurf leben. Stendenbach hat in diesem Zusammenhang (1963) darauf hingewiesen, daß Jugendkriminalität nicht nur mit einer kriminellen Identifikation erklärt zu werden braucht, sondern daß kriminelles Verhalten von Jugendlichen auch durch Teilnahme an kriminellen Gruppen im Wege der Imitation erlernbar ist (S. 293/294). Es bildet sich dann eine kriminelle Subkultur, deren sozial-abweichendes Wertsystem es ihren Mitgliedern erlaubt, Straftaten zu begehen. Multari und Boden haben (1964) eine Untersuchung veröffentlicht, die sie mit psychologischen Testmethoden an 30 wegen Diebstahls überführten Kindern und Jugendlichen in Kanada durchgeführt haben, die sich im Alter von 7 bis 19 Jahren befanden und die aus Problemfamilien der unteren sozialen Schichten stammten. Aus dieser Forschungsarbeit geht hervor, daß die Kinder und Jugendlichen das antisoziale Benehmen ihrer Eltern nachzuahmen und sich durch ihre Straftaten nach den kriminellen Erwartungen ihrer Eltern zu richten pflegen (S. 104).
160
Ehe und Familie
4. Die Bedeutsamkeit einzelner familiärer StörfaMoren für die Jugendkriminalität (analytischer Ansatz)
Betrachten wir nunmehr die durch die unterschiedli chsten Störfaktoren beeinträchtigte „Norm al"-Familie, so soll zuerst einmal auf die äußeren Belastungen im Sozialisationsprozeß —- Zuge hörigkeit zu unteren sozialen Schichten, Unvollständigkeit der Familie — eingegangen werden. Daran schließt sich eine Untersuchung der psychodynamisch gestörten, disharmonischen Familie an, in der soziale Kontrolle und Identifikationsmöglichkeit beträchtlich erschwert sind. Schließlich werden die kriminalätiologischen Erörterungen mit e iner besonderen Beleuchtung der Rolle der Mutfc er und der des Vaters im Sozialisationsprozeß abgeschlossen, um die Darstellung insoweit noch zu vertiefen, a) Sozioökonomischer Status der Familie. Die Zugehörigkeit einer Familie zu einer unteren sozialen Schicht ist ein äußerst komplexes Phänomen. Denn mit ihr ist nicht nur ein geringes soziales Ansehen und ein dürftiges Einkommen der Familie verbunden, sondern es bestehen in der Regel auch Zusammenhänge mit einer erweiterten Familiengröße und unzureichenden Wohnverhältnissen (Überfüllung der Wohnungen) in unvorteilhaften Wohngebieten (Shulman, 1959, 5. 129). Dennoch hat man immer wieder versucht, eine kriminalätiologische Beziehung zwischen der sozioök onomischen Familienstellung und der Jugendkriminalität herzustellen, wobei man meistens die Familien nach dem Beruf des Familienvaters in die verschiedenen Klassen einstufte. Reiss und Rhodes, die 9.238 Fälle weißer Jungen mit der Interviewmethode in den USA untersucht haben, die im Untersuchungszeitpunkt 12 Jahre und älter waren, in der Zeit von 1950 bis 1958 Straftaten verübt hatten und von e inem Jugendgericht zu Freiheitsentzug verurteil t worden waren, kommen zu dem Schluß, daß die Jungen aus Familien niederer sozialer Schichten mit Kapitalverbrechen stärker belastet sind und einen höheren Anteil an Hangtätern stellen (1961, S. 731/732). Demgegenüber haben Nye, Short und Olson bereits früher (1958 a, S. 23—32, 1968b) darauf aufmerksam gemacht, daß die Gerichte in den USA dazu neigen, mehr Jugendliche aus Familien unterer Schichten zu „institutionalisieren", d. h. in Einrichtungen der Jugendpflege und -fürsorge oder in Jugendstrafanstalten einzuweisen, um die kriminell Gefährdeten nicht weiterhin den mit der Zugehörigkeit zu einer niedrigeren sozialen Schicht verbundenen ungünstigen Familienbedingungen (ζ. B. überbelegte Wohnungen) auszusetzen. Die Verfasser haben argumentiert, dieser Umstand führe dazu, daß die Jugendlichen aus Familien niederer sozialer Abkunft in einem
aus einer „institutionalisierten" Population entnommenen Sample übermäßig stark vertreten seien und daß man deshalb zu unrichtigen Ergebnissen im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Familien und der Jugendkriminalität gelange. Sie haben selbst die Nullhypothese, daß kein statistisch-signifikanter Unterschied im delinquenten Verhalten der Jugendlichen aus Familien der verschiedensten sozialen Schichten besteht, in folgender Weise geprüft: Sie ermittelten die Delinquenz von 2.350 15- bis 18jährigen Jugendlichen der Bevölkerung dreier mittlerer Städte aus dem Westen der USA und von 250 Jungen und 265 Mädchen gleichen Alters dreier Kleinstädte aus dem mittleren Westen der USA, indem sie diesen Jungen und Mädchen, die sich zur Zeit der Untersuchung alle noch in der Schule befanden, einen Fragebogen aushändigten, der nach dem begangenen sozial abweichenden Verhalten fragte, und ihn in den Klassenzimmern ihrer Schulen von ihnen ausfüllen ließen. Sie bildeten sodann eine delinquente Gruppe und eine Kontrollgruppe und stuften die Angehörigen dieser Gruppen nach dem Beruf ihres Vaters in die verschiedenen sozialen Schichten ein. Im Ergebnis konnten sie die von ihnen aufgestellte Nullhypothese nicht zurückweisen (1958a, S. 30/31; 1958b, S. 388/389). Bestreiten Nye, Short und Olson mithin einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht und der kriminellen Belastung der Jugendlichen, so haben Robins, Gyman und O'Neal (1962) umgekehrt diese Beziehung dadurch noch sorgfältiger aufzuklären versucht, daß sie an 524 ehemaligen Patienten eines städtischen psychiatrischen Krankenhauses der USA, die in den Jahren 1924 bis 1929 als Kinder dort wegen delinquenten Betragens behandelt worden waren, in den Jahren 1956 bis 1960 katamnestische Untersuchungen vornahmen. Von den ehemaligen Patienten, die aus Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft, überwiegend aber aus Familien der unteren Klasse, stammten, konnten 409 Personen (81%) im standardisierten Interview und nach der biographischen Methode unter Verwendung von Aktenunterlagen auf ihren beruflichen Erfolg und ihre Klassenzugehörigkeit hin beurteilt werden. Die Ergebnisse der Testgruppe wurden mit den Erkenntnissen verglichen, die die Autoren an einer Kontrollgruppe von 91 Personen gleichen Alters, gleicher Intelligenzhöhe und gleichen Wohnorts erzielt hatten. Es zeigte sich, daß nahezu alle Probanden der Testgruppe Angehörige der niederen sozialen Klasse waren. Selbst die Probanden, die aus gehobenerem sozialem Milieu stammten, waren inzwischen in die niedrigeren sozialen Schichten abgesunken, weil sie vor allem wegen ihrer Persönlichkeitsanomalien, die sie in ihrer Kindheit
Ehe und Familie delinquent werden ließen, ungenügende Schulerfolge erzielt und später für sie ungünstige Arbeitsgewohnheiten im Beruf angenommen hatten. Auf Grund eines Vergleichs mit den an der Kontrollgruppe erzielten Untersuchungsergebnissen schließen die Verfasser (S. 491/492), daß abweichendes, sozial unangepaßtes Verhalten für die Zugehörigkeit zu einer niedrigen Klasse determinierend ist. Wahrscheinlich stehen Kriminalität und Zugehörigkeit zu einer niederen sozialen Schicht im Verhältnis der Intcrdependenz zueinander. Beide werden aber auch maßgebend mitbestimmt durch die Persönlichkeitseigenschaften des potentiellen Rechtsbrechers, die wiederum von den mit der Zugehörigkeit zu einer unteren sozialen Schicht verbundenen ungünstigen Umweltbedingungen beeinflußt werden. Shulman hat signifikante Unterschiede hinsichtlich der Überbelegung der Wohnungen seiner New Yorker jugendlichen Probanden gefunden (1961, S. 388). Unzureichende Wohnverhältnisse, die den Kindern und Jugendlichen keine gesunde psychische Entwicklung innerhalb der Familie ermöglichen, veranlassen sie mehr oder weniger zwangsläufig dazu, sich negativen außerfamiliären Einflüssen auszusetzen. Auch Bennett, die in den Jahren 1946 bis 1949 50 kriminelle und 50 neurotische Kinder dreier englischer Großstädte miteinander verglichen hat, fand bei ihren delinquenten Probanden mehr überfüllte Wohnungen (1960, S. 125), größere Familien (S. 143) und eine höhere Zahl von asozialen Vätern (S. 149). Die Gluecks ermittelten schließlich, daß überbelegte Wohnungen mit bestimmten Charakterzügen der Kinder eng verbunden sind, die in solchen Wohnungen leben müssen: ein stark ausgeprägter Erwerbssinn, Zerstörungswut, destruktiv-sadistische Tendenzen, niedrige verbale Intelligenz, ein Gefühl der Isolation und ein auffallendes Mißtrauen (1962, S. 117). Da diese Charakterzüge bei ihren kriminellen Jugendlichen mehr vorhanden waren als bei ihren nichtkriminellen, sprechen sie von einem indirekten Einfluß der überbelegten Wohnungen auf die Jugendkriminalität. Die Überfüllung der Wohnungen hat — nach ihrer Ansicht — aber auch noch eine direkte Wirkung auf das sozial abweichende Benehmen der Jugendlichen. Drei Charakterzüge delinquenter Jugendlicher — emotionale Labilität, schwache Kontaktfähigkeit und affektive Konflikthaftigkeit — tragen nämlich in einem dynamischen Zusammenwirken mit dem Umweltfaktor der überbelegten elterlichen Wohnung wesentlich zur Jugendkriminalität bei, so daß für Jugendliche, die diese Eigenschaften besitzen, eine überfüllte elterliche Wohnung gleichsam wie ein Katalysator auf ihre latent vorhandenen Kriminalitätsneigungen wirkt (1962, S. 117). Daß Sheth bei seinen empirisch-kriminologischen Untersuchungen an 400 delinquenten und 180
11
HdK, 2. Aufl., Bd. I
161
nichtdelinquenten Jugendlichen aus Bombay entdeckt hat, daß die Mehrheit dieser Jugendlichen aus Großfamilien stammt (1961, S. 190), mag auf die dürftigen wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen sein, in denen die Großfamilien in Indien leben müssen. Wahrscheinlich wirkt sich hier aber auch der Umstand aus, daß die traditionellen Großfamilien mit den Leitbildern der heutigen Gesellschaft zumeist in Konflikt stehen. b) Unvollständigkeit der Familie. Es ist immer wieder überraschend, eine wie hohe Zahl jugendlicher Straftäter aus unvollständigen Familien sich in Jugendstrafanstalten befindet (vgl. Gibbens, 1963, S. 69; Stoll, 1963, S. 266). Deshalb lag es nahe, daß die ältere kriminologische Forschung eine Kausalbeziehung zwischen der Unvollständigkeit der Familie und der Jugendkriminalität herauszustellen versuchte (vgl. die Überblicke über die ältere Forschung bei Cavan, 1962, S. 116/117; Monahan, 1962 a, Robison, 1960, S. 108—112). Diese Versuche begannen bereits um das Jahr 1923 und erreichten ihren Höhepunkt, als Shaw und McKay im Jahre 1931 an einem Sample von 1.675 delinquenten und einer Kontrollgruppe von 7.278 nichtdelinquenten Schuljungen gleichen Alters und gleicher Wohnviertel aus Chicago feststellten, daß 42,5% der delinquenten, aber nur 36,1% der nichtdelinquenten Jungen aus unvollständigen Familien kamen (S. 262—285). Obgleich auch heute noch Unvollständigkeit der Familie und Jugendkriminalität in eine lineare, singuläre Beziehung zueinander gestellt werden (Ehlen, 1963, S. 55/56; Szewczyk, 1961, S. 15), bemüht man sich doch in zunehmendem Maße um eine differenzierendere Betrachtungsweise. Denn die Unvollständigkeit der Familie umfaßt so äußerst verschiedene Erscheinungsformen wie ζ. B. Unehelichkeit und Verwaisung. Sie hat die mannigfaltigsten Ursachen und sehr unterschiedliche Wirkungen. Vom Erleben des Kindes oder Jugendlichen her gesehen, sind Unehelichkeit, Tod der Eltern, eines Elternteils oder eines seiner Geschwister, Scheidung oder Trennung der Eltern völlig voneinander verschiedene Tatbestände. Auf den Eindruck, den die Unvollständigkeit der Familien, ihre Veranlassung und ihre Folgen auf die Persönlichkeit des Kindes oder Jugendlichen macht, kommt es aber entscheidend an, wenn die Einflüsse der Unvollständigkeit der Familie auf die Jugendkriminalität in Betracht gezogen werden sollen (Ball, 1962, S. 65). Der plötzliche Tod oder gar Selbstmord eines Familienmitglieds kann einen nachhaltigen psychischen Schock bei einem Kind auslösen, das enge emotionale Bindungen zu dem Verstorbenen gehabt hat. Die Scheidung der Eltern kann demgegenüber wie eine seelische Entlastung empfunden werden. Die Mehrzahl der von Haffter untersuchten
162
Ehe und Familie
Baseler Scheidungskinder begrüßte die Auflösung der Elternehe als günstige Wendung ihres Schicksals (1960, S. 161 u. S. 166). Auch die Mehrheit der von Goode im Jahre 1948 befragten 425 geschiedenen Mütter aus Detroit hielt die Scheidung im Hinblick auf die physische und psychische Entwicklung ihrer Kinder für besser als ein konflikthaftes, disharmonisches Familienleben (1956, S. 329/330). Obwohl also die Scheidung an sich keine schweren psychischen Schädigungen bei den Scheidungskindern zu hinterlassen braucht, können die der Scheidung vorhergegangenen, von ihnen erduldeten Streitigkeiten und Spannungen zwischen ihren Eltern als ungünstige Spätfolgen zur Entstehung der Jugendkriminalität beitragen (Toby, 1962, S. 331; vgl. auch Landis, 1960; Monahan, 1962 b). Für eine differenzierendere kriminologische Betrachtungsweise ist es aber auch nicht gleichgültig, in welchem Alter das Kind das die Unvollständigkeit der Familie auslösende Ereignis durchgemacht hat. Die Gluecks (1962, S. 124) und Monahan (1960, S. 394/395) stimmen auf Grund sorgfältiger empirisch-kriminologischer Untersuchungen darin überein, daß sich die Gefahr sozial abweichender Handlungen mit der Zunahme des Lebensalters vermindert, in dem das die Unvollständigkeit der Familie begründende Geschehnis von den Kindern und Jugendlichen erlebt wird. Das kann allerdings nur insoweit gelten, als vor diesem Ereignis überhaupt eine Familie bestanden hat. Dennoch kommt es auch bei den Unehelichen nicht so sehr auf das Phänomen der Unehelichkeit — für sich gesehen — an, sondern „auf die Reaktionen jenes sozialen Umfeldes, in dem der unehelich Geborene zu leben gezwungen ist, auf die Verarbeitung dieser Reaktionen durch ihn und auf die bewußten und unbewußten Konsequenzen, auf die Stellungnahmen und Prägungen, die im Gefolge dieser Verarbeitung auftreten" (Dietrich, 1962, S. 175; vgl. auch Brandt, 1963a; Nährich, 1951). Gerade uneheliche Mütter, die sehr oft unter einem Liebesentzug in früher Jugend gelitten haben (Nielsen, 1963, S. 741), neigen zu ängstlich überbesorgten oder besitzergreifenden Fehlhaltungen ihren Kindern gegenüber (Bruni, 1964, S. 29; vgl. auch Vincent, 1961, u. Wimperis, 1960). Diese Einstellungen können zu charakterlichen Fehlentwicklungen der Kinder führen, ζ. B. den psychischen Prozeß der Emanzipation von der Mutter stören, so daß das Kind zu sehr an die Mutter fixiert bleibt. Derartige Fehlentwicklungen können allerdings ebenso durch den Tod eines Bruders oder einer Schwester hervorgerufen werden, wenn die Eltern das ihnen verbleibende Kind nunmehr mit ängstlicher Überbesorgtheit behandeln oder umgekehrt von dem verstorbenen Kind ein Idealbild entwerfen und das Betragen des lebenden Kindes stets an diesem Idealbild messen, so daß eine Dauer-
frustration bei dem so behandelten Kind eintreten kann (Cain, 1964, S. 750). Die aufgezeigten, völlig voneinander verschiedenen Erscheinungsformen der Unvollständigkeit der Familie sollen verdeutlichen, daß ein Kind nicht deshalb kriminell wird, weil Ausfälle im Personengefüge der Familie entstanden sind, sondern weil diese Ausfälle zu Fehleinstellungen ihm gegenüber, zu sozialen Benachteiligungen und Dauerfrustrationen (ζ. B. auch in der Stief- oder PflegekindSituation) führen können, die geeignet sind, sich im Wege des „acting-out" in kriminellen Aggressionen auszuwirken. Es kommt somit nicht so sehr auf die Unvollständigkeit der Familie an, sondern auf die Disharmonie des Zuhauses, die durch die Ausfälle im Personenbestand der Familie herbeigeführt werden kann (Browning, 1960, S. 43/44). Das emotionale Familienklima vor dem Bruch im Personengefüge der Familie, die Beschaffenheit der Beziehung zu dem dem Kind verbliebenen Elternteil nach diesem Bruch und die mögliche Anknüpfung neuer befriedigender Beziehungen zu Vater- oder Muttersubstituten sind ausschlaggebend. Daß äußere Desorganisationserscheinungen indessen so leicht und unmittelbar eine Störung der Psychodynamik und sogar eine innere Zerrüttung der Familie heraufzubeschwören vermögen, das veranschaulicht erneut die kriminologischrelevante Verletzbarkeit der modernen Kernfamilie. c) Störungen der Psychodynamik der Familie. Ein harmonisches Elternhaus und ein ungehindertes psychodynamisches Funktionieren innerhalb der Familie sind gegenwärtig für das Gelingen des Sozialisationsprozesses deshalb so entscheidend wichtig, weil die liebevolle Zuwendung der Familienmitglieder das konstituierende Moment der modernen Kernfamilie überhaupt bildet. Sobald einzelne Familienmitglieder, insbesondere die Eltern, Fehleinstellungen zueinander und unhaltbare Familienbilder aufbauen, entstehen eine drückende Spannung und eine Werteverwirrung innerhalb der Familie, die nicht nur eine wirksame soziale Kontrolle unmöglich machen, sondern sogar den Familienzusammenhalt ernstlich gefährden. Allerdings wird nicht allein das im Elternhaus emotional vernachlässigte Kind oft sozial auffällig; auch das mit allzuviel Liebe und übertriebener Kontrolle „übersozialisierte", erbarmungslos ehrgeizige Musterkind ist eine asoziale Erscheinung, weil es sich in der Gesellschaft später rücksichts- und skrupellos durchzusetzen sucht (Freed, 1963, S. 316). Bereits im Jahre 1936 haben Healy und Bronner in den USA die grundlegende Entdeckung gemacht, daß die elterliche Behandlung von unschätzbarer Bedeutung für das abweichende, sozial unangepaßte Verhalten der Kinder ist, indem sie 105 delinquente Kinder mit 105 ihrer
Ehe und Familie Geschwister verglichen. Gegenwärtig ist erwiesen, daß die Mehrzahl der jugendlichen Rechtsbrecher aus emotional gestörten Familien kommt (Abrahamsen, 1960, S. 43; Mulligan, 1961, S. 43/44; Peck, 1958, S. 349/350). Brauneck ordnet das Familienleben der Mehrheit ihrer 300 jugendlichen Straftäter als „unharmonisch" (1961, S. 77) ein. Sie folgert sogar mit Vorbehalt (S. 117), daß die Rückfälligkeit ihrer jugendlichen und zum Teil auch heranwachsenden Rechtsbrecher von der Disharmonie des Elternhauses abhängt. Hierbei sind es häufig die unerträgliche Verspannung und die seelische Entfremdung, die ernsthafte Störungen hervorrufen. Mädchen unternehmen ζ. B. bisweilen den verzweifelten Versuch, mit einer sie erdrückenden Familiensituation fertig zu werden, indem sie von zu Hause fortlaufen (Robey, 1964, S. 766). Manchmal entsteht auch durch den übermäßigen emotionalen Druck ein klaffender Riß zwischen Eltern und Kindern, die zwar rein äußerlich noch unter demselben Dach zusammenleben, aber psychisch in zwei voneinander verschiedene autonome Einheiten zerfallen sind (Minuchin, 1964, S. 126/127). Langdauernde Trennungen der Kinder von ihren Eltern können ebenfalls eine psychische Entfremdung zur Folge haben. In den Kriegs jähren 1941—1944 waren über 50.000 finnische Kinder in Pflegefamilien nach Dänemark und Schweden verschickt. Westling (1961) hat in den Jahren 1953—1958 alle Fälle von finnischen Jungen unter 21 Jahren geprüft, die zu mehr als 6 Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden waren. Er hat dabei gefunden, daß sich unter den Straffälligen, insbesondere den Rückfalltätern, ein signifikant höherer Prozentsatz von verschickt gewesenen Jugendlichen befand. Dieses Ergebnis erklärt er u. a. aus den Schwierigkeiten bei der Eingliederung der Jungen in das Leben ihrer Familien nach ihrer Rückkehr nach Finnland. Seit den grundlegenden Forschungen von Healy und Bronner sind in den USA immer wieder Versuche unternommen worden, das sozial abweichende Benehmen der Kinder und Jugendlichen aus dem Verhalten ihrer Eltern ihnen gegenüber zu erklären. Drei neuere empirische Arbeiten aus den USA sollen den heutigen Stand der kriminologischen Forschung zu diesem Problem aufzeigen: Dentler und Monroe haben mit einem „Diebstahlsfragebogen" (Self-report scale of theft) 912 Jugendliche aus „junior high schools" untersucht und dabei festgestellt, daß die „Diebe" in ihrer Mehrzahl kein Vertrauen zu ihren Eltern haben, daß sie ihnen nicht gehorchen und daß sie in ungeliebten und ungeschätzten Familien leben (1961, S. 742/743). Winder und Rau haben ebenfalls mit einem Eltern- und einem Schulkinderfragebogen 710 10- bis 12 jährige Jungen und 108 ihrer Väter sowie 118 ihrer 11·
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Mütter in der Stadt Palo Alto befragt. Sie haben das abweichende, sozial unangepaßte Verhalten der Jungen und die Haltungen ihrer Eltern zu ermitteln und miteinander in Verbindung zu bringen gesucht. Als Ergebnis ihrer Forschungsarbeit verdient festgehalten zu werden, daß die Überzahl der Eltern von Kindern, die sich sozial abweichend verhielten, u. a. unbewußte Ablehnung, Aggressionswünsche, Straf- und Einschränkungsbedürfnisse ihren Kindern gegenüber empfand und daß die Mütter solcher Kinder über ein geringes Selbstwertgefühl verfügten (1962, S. 422/423). Jaffe hat schließlich den von Emile Dürkheim (1858—1917) herrührenden Begriff der Anomie benutzt, um die von ihm gefundenen empirischen Forschungsergebnisse in einen größeren theoretischen Zusammenhang zu bringen. Er untersuchte eine Stichprobe von 102 14 jährigen Negerschuljungen aus Youngstown (Ohio), eine zweite Gruppe von 72 weißen Schuljungen gleichen Alters und gleichen Wohnorts aus einer niedrigen Schicht der Bevölkerung und eine dritte Gruppe von 105 weißen Schuljungen gleichen Alters aus der oberen Mittelklasse der Bevölkerung einer Vorstadt von Cleveland (Ohio) mit drei verschiedenen Fragebogen („Delinquency proneness scale", „powerlessness scale" und „value consensus scale"). Die zweite und dritte Gruppe dienten ihm als Kontrollgruppen, während er die Negerjungen besonders eingehend testete. Auch Jugendgerichtsakten und Lehrerberichte wurden herangezogen. Jaffe entdeckte, daß die Mehrzahl seiner delinquenten Probanden und ihrer Familien an Erscheinungen litt, die er unter dem Begriff „FamilienanomieSyndrom" zusammenfaßte. Die wesentlichsten Merkmale dieses Syndroms sind die mangelnde Werteübereinstimmung unter den Familienmitgliedern und Gefühle der Ohnmacht verbunden mit Angst und Schicksalsergebenheit bei den Kindern (1963, S. 148—154). Alle diese Forschungsergebnisse werden durch die Erkenntnisse ergänzt und abgerundet, die die Gluecks (1950, 1962, 1963) und Nye (1958 a) in ihren wohl derzeit umfassendsten empirischen Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Familie und Jugendkriminalität zum Einfluß des disharmonischen Elternhauses gefunden haben. Die Forschungsmethoden der Gluecks sind bereits dargestellt worden (oben II Β Ib.). Nye hat im Jahre 1955 2.350 15- bis 18jährige Jugendliche dreier mittlerer Städte (von 10.000 bis 30.000 Einwohnern) des Staates Washington (USA) mit der Fragebogenmethode untersucht. Er klärte zunächst die Straffälligkeit seiner Probanden mit einem Fragebogen auf, den er unter anonymen Klassenraumbedingungen ausfüllen ließ, und bildete sodann zwei Gruppen: eine delinquente Testgruppe und eine nichtdelinquente Kontrollgruppe. Die Unterschiede
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Ehe und Familie
in den Familienverhältmssen sicherte er statistisch nicht nur mit der Chi2-Methode, sondern er prüfte auch die Straffheit der Kontingenz (des Merkmalszusammenhangs), indem er die Korrelationsmaße zwischen den einzelnen Familienfaktoren und der Straffälligkeit ermittelte (1958a, S. 10—21). Die von den Gluecks und Nye erzielten Forschungsergebnisse zum Einfluß der emotionalen Atmosphäre des Elternhauses, die im wesentlichen übereinstimmen und sich gegenseitig ergänzen, können wie folgt zusammengefaßt werden: Ein emotional gestörtes Familienleben begünstigt die Jugendkriminalität. Der Familienzusammenhalt läßt nach, wenn die Familienmitglieder keine oder nur schwache emotionale Bindungen untereinander entwickeln, wenn sie keinen Stolz auf ihr Zuhause, keine oder nur eine geringe Familienselbstachtung und kein „Wir"-Gefühl empfinden (Glueck, 1950, S. 113—115; vgl. auch Glueck, 1963, S.63— 66). Die S c h a u b i l d e r 1 und 2 lassen die bemerkenswerte Bedeutung der Fehleinstellungen der Eltern gegenüber ihren Jungen für die Jugendkriminalität erkennen. Ein unglückliches Eheleben, Parteilichkeit gegenüber ihren Kindern, Nörgeln, Launenhaftigkeit und Nervosität kommen bei den Eltern der delinquenten Jugendlichen signifikant häufiger vor als bei den Eltern der nichtdelinquenten; die Merkmalszusammenhänge mit der Straffälligkeit der Jugendlichen sind verhältnismäßig eng (Nye, 1958 a, S. 49, 80, 87, 120). Die Väter der jugendlichen Rechtsbrecher neigen zu strengen und harten Strafen (Glueck, 1950, S. 81; Nye, 1958a, S. 81) und zu häufigem Schelten (Nye, 1958a, S. 87). Harte körperliche Strafen des Vaters treffen dabei besonders empfindlich die Jungen, die äußerst unruhig sind, wobei sich nicht entscheiden läßt, ob die Jungen so häufig bestraft werden, weil sie so äußerst unruhig sind, oder ob sie so äußerst unruhig sind, weil sie so häufig und hart bestraft werden (Glueck, 1962, S. 135). Die „Demokratisierung" des Lebens der modernen Kernfamilie im Sinne kooperativer Handlungsweisen wirkt sich eher hemmend auf die Entstehung der Jugendkriminalität aus. Eltern und Kinder aus Familien, aus denen wenig Kriminelle hervorgehen, treten sich fast partnerschaftlich-gleichberechtigt gegenüber und verbringen oft zusammen ihre Freizeit zur Erholung in und mit ihrer Familie (Glueck, 1950, S. 113/114; Nye, 1958 a, S. 104). Die Kinder spielen häufig Ball mit ihrem Vater (Nye, 1958a, S. 105). Es herrscht eine entspannte, vertrauensvolle Atmosphäre, in der die Kinder Verantwortung mit tragen, an Entscheidungen mit beteiligt werden, Rat bei ihren Eltern suchen und erhalten und mit den Leitbildern und Werten ihrer Eltern übereinstimmen (Nye, 1958a, S. 96/97, 129, 143/144). Dagegen fördert die Gewährung von zu viel, aber auch zu
wenig Freiheit die Jugendkriminalität (Nye, 1958 a, S. 94). Der Besitz eines eigenen Autos und von zu viel Taschengeld trägt eher dazu bei, daß die Kinder der elterlichen Kontrolle entgleiten und delinquente Handlungen begehen (Nye, 1958 a, S. 95, 137). Schließlich scheint für die Mädchen ein harmonisches Familienleben wichtiger zu sein als für die Jungen. Denn Mädchen werden durch Nichtübereinstimmung oder gar Streitigkeiten ihrer Eltern nachhaltiger negativ beeindruckt (Nye, 1958a, S. 49/50). Immer kommt es indessen auf die emotionalen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern selbst an. So äußerliche Merkmale wie ζ. B. die Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe vermitteln keinerlei brauchbare Auskünfte über die kriminelle Gefährdung (vgl. aber auch Näf, 1953, S. 23). Erste, einzige und jüngste Kinder haben sogar ein geringeres delinquentes Verhalten gezeigt als die mittleren (Glueck, 1950, S. 120; Nye 1958 a, S. 37). d) Belastungen der Mutter-Kind-Beziehung. Da im familiären Sozialisationsprozeß die Identifikation der Kinder mit der Mutter und dem Vater ihren besonderen Stellenwert besitzt, soll nach der Gesamtbetrachtung der emotionalen Atmosphäre im Elternhaus noch speziell auf die Rolle der Mutter und die des Vaters im Rahmen der Sozialisation der Kinder eingegangen werden. Pränatale Einflüsse können schon auf Grund der psychischen Verfassung der Mutter (schwere Depressionen) die Entwicklung des Kindes belasten (Ablehnung der Mutterschaft, unerwünschtes Kind). Der Begriff der „physiologischen Frühgeburt" bezeichnet sodann weiter die besondere physische und psychische Verwundbarkeit des Kindes in seinen ersten Lebensjahren. Eine Schädelbasisblutung bei seiner Geburt oder eine eine Kinderkrankheit begleitende Hirnentzündung an umschriebener Stelle können ζ. B. seine Reifung empfindlich stören (vgl. hierzu Schneider, 1963, S. 133). Die hirngeschädigten Kinder, die heute auf Grund der medizinischen Fortschritte in viel größerer Zahl ihre Hirnschädigung überleben, sind überdies gegen ungünstige Umwelteinwirkungen in der Familie in erhöhtem Maße anfällig (Göllnitz, 1961, S. 47/48). Ein hervorragendes Verdienst der Psychoanalyse ist es, den formenden und prägenden Einfluß der „schicksalhaften" ersten Lebensjahre für die Persönlichkeitsentwicklung erkannt zu haben. Als Spätfolgen der in dieser Lebensepoche erlittenen psychischen Traumen und Milieuschädigungen können Verwahrlosung und Kriminalität in Erscheinung treten (Friedlander, 1960, S. 24). Es gibt hauptsächlich drei Formen von Störungen der Mutter-Kind-Interaktion, die solche den Persönlichkeitskern des Kindes treffende Traumen und Milieuschädigungen hervorzurufen vermögen: der völlige
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Ehe und Familie Schaubild 1: Einstellungen der Väter gegenüber ihren 500 delinquenten und 500 nichtdelinquenten Jungen (Prozentzahlen nach S h e l d o n und E l e a n o r G l u e c k , Unraveling juvenile delinquency, S. 125)
40%
-
-
43%
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IMMMMMI 16%
81%
3%
Nichtdelinquente Jungen
I
•
—
•
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Schaubild 2: Einstellungen der Mütter gegenüber ihren 500 delinquenten und 500 nichtdelinquenten Jungen (Prozentzahlen nach S h e l d o n und E l e a n o r G l u e c k , Unraveling juvenile delinquency, S. 126)
Delinquente Jungen
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».«.WA·
Nichtdelinquente Jungen
warm,
übermäßig
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besorgt
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s
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Ehe und Familie
Entzug mütterlicher Zuwendung ohne ausreichenden Mutterersatz, verfehlte Liebeseinstellungen der Mutter und die wechselvolle Betreuung durch mehrere „Mütter". Sehr einschneidende Veränderungen wurden als Folgeerscheinungen früher Mutter-Kind-Trennung beobachtet, wenn das Kind in Dauerheimen für Klein- und Vorschulkinder untergebracht war. Diese Hospitalismuserscheinungen können kurz folgendermaßen umrissen werden: Intelligenzrückstände (niedrigerer Intelligenzquotient, potentielle Schwankungen im Leistungsvollzug, Ausfälle in der Abstraktionsfähigkeit), neurotische Symptomatik (Enuresis, Enkopresis, Jactatio, pathologische Onanie), Persönlichkeitsabartigkeiten (Kontaktschwäche, Bindungslosigkeit) (Dührssen, 1958 a, S. 143/144; vgl. auch Veiga, 1963). Die isolierte Lebensweise im Heim, die unzureichende persönliche Bindung zwischen dem Kind und den betreuenden Erwachsenen, der häufige Wechsel der Betreuer und des Heims und die ungenügende Erziehungsarbeit können für diese Schädigungen verantwortlich gemacht werden (Schmidt-Kolmer, 1961, S. 35). Ähnliches gilt — graduell vermindert — für Pflegekinder. Art und Ausmaß der Schäden werden immerhin in den einzelnen empirischen Untersuchungen, die sich mit dem Hospitalismus beschäftigen, unterschiedlich beschrieben (Yarrow, 1961, S. 464). Die Dauer des Heimaufenthalts, die Persönlichkeit und das Alter des Kindes, das Wesen der MutterKind-Beziehung vor und die Güte des „Mutterersatzes" nach der Trennung scheinen sich hier als intervenierende Variablen bemerkbar zu machen. Aber nicht nur Mutter-Kind-Trennungen, sondern auch ungeeignete und unzureichende Mutter-Kind-Beziehungen können wegen der großen Plastizität der kindlichen Psyche Charakter· und Persönlichkeitsmißbildungen bewirken. Schwidder beschreibt folgende bewußte oder unbewußte Fehlhaltungen der Mütter: vertrautheits- oder geborgenheitsfeindliche, besitzergreifende, überfordernde, überbescheidene, überfürsorgliche, sich aufopfernde, übersparsame, zurückhaltende, feindselig-aggressive, herrschsüchtige, unterwürfige, zärtlichkeitsbedürftige, zärtlichkeitsarme und sexualfeindliche Einstellungen (1962, S. 15—21). Mit unmittelbaren Beobachtungen an Säuglingen und Methoden der experimentellen Psychologie hat Spitz (1960) das Aufeinander- und Zusammenwirken der Persönlichkeit der Mutter mit der Persönlichkeit des Kindes zu erforschen gesucht. Er hat entdeckt, daß unverhüllte Ablehnung, ängstlich übertriebene Besorgnis, Feindseligkeit in Form mütterlicher Über-Besorgnis und ein Pendeln der Mutter zwischen Verwöhnung und aggressiver Feindseligkeit nachhaltige Entwicklungsstörungen beim Kind zur Folge haben können (S. 85 bis 110).
Die psychoanalytische Lehrmeinung hat in diesem Zusammenhang die Hypothese aufgestellt, daß der auf Muttertrennung oder -fehlhaltung beruhende Liebesentzug nicht nur Bindungslosigkeit, sondern auch einen „Affekthunger" verursacht. Gestohlenes Geld und entwendete Süßigkeiten können dann zu Symbolen entgangener Liebe werden; auch die Prostitution soll auf einen Mangel an Liebe in der frühen Kindheit der Mädchen und auf Sexualschwierigkeiten ihrer Eltern zurückzuführen sein (Glover, 1960, S. 257/258). Die von Greenwald untersuchten 20 New Yorker „call girls" beklagten fast alle das Entbehren der Elternliebe in ihrer Kindheit und hatten nahezu alle das Gefühl, daß ihre Mutter sie ablehnte (1958, S. 92—95; vgl. auch Choisy, 1962, S. 62). Greenwald interpretiert das Verhalten der „call girls" so, daß sie als erwachsene Frauen ihre Mütter für das bestrafen wollen, was sie ihnen in der Kindheit vorenthalten haben, und daß sie bei den Männern, die zum „Vaterersatz" werden, jene Fürsorge, Wärme und liebevolle Aufmerksamkeit suchen, die ihnen fehlten (1958, S. 93). Schachter berichtet schließlich über den Fall eines intelligenten, gebildeten Mädchens, das sich „prostituierte", ohne Geld anzunehmen, um durch ihr promiscues Verhalten gegen den Liebesentzug zu rebellieren, dessen Opfer sie — nach ihrer Meinung — in ihrer Kindheit geworden war (1961, S. 303). Bezeichnend ist es, daß sich auf Grund dieser Berichte viele Mädchen nicht mit ihrer Mutter zu identifizieren vermochten. Wie die neuere psychologische Forschung zeigt, sind aber gerade ein harmonisches Familienleben und eine warme, herzliche Mutter-Tochter-Beziehung für die gesunde psychische Entwicklung des Mädchens äußerst wichtig (Müssen, 1963b, S. 606). Ein auf Muttertrennung oder -fehlhaltung beruhender Liebesentzug während der ersten fünf Lebensjahre soll auch über die Entwicklung eines „delinquenten Charakters" einen starken indirekten Einfluß auf die Entstehung der Kriminalität ausüben. Diese Hypothese, die Bowlby (1952, S. 34) aufgestellt hat, ist in der ganzen Welt während der letzten Jahre heftig diskutiert worden. Lebovici (1962) hat über den Stand der empirischen Forschungen berichtet, die diese Hypothese zu verifizieren suchten (vgl. auch Casler, 1961; Clarke 1960). Auf eine der neuesten und sorgfältigen Forschungsarbeiten soll hier kurz hingewiesen werden: Naess hat in Oslo im Jahre 1958 zunächst 42 kriminelle Jungen mit ihren 42 Brüdern unter dem Gesichtspunkt der Muttertrennung in ihren ersten fünf Lebensjahren verglichen (1959/60). Sie hat dann im Jahre 1960 ihre Studien an einer weiteren Gruppe von 41 gleichaltrigen kriminellen Osloer Jungen fortgeführt und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß die Muttertrennung nur ein unter-
Ehe und Familie geordneter kriminogener Faktor ist (1961/62, S. 373). Die Bowlby-Hypothese ist sehr kritisch beurteilt worden (vgl. Andry, 1962, S. 32 u. 36; Lebovici, 1962, S. 91; Wootton, 1962, S. 69). Gegen den Vorwurf, Bowlby sondere einen einzigen Faktor ab und behandle ihn als die wesentlichste Ursache des Verbrechens, hat Ainsworth (1962) ihn in Schutz zu nehmen versucht, indem er darauf aufmerksam gemacht hat, daß Bowlby von der Muttertrennung und der liebevorenthaltenden Fehlhaltung der Mutter nur im Zusammenhang mit der Bildung eines delinquenten, gemütlosen, psychopathischen Charakters („affectionless, psychopathic character") gesprochen habe (S. 117). Die außerhäusliche Berufstätigkeit der Mütter gehört desgleichen in diesen Gedankengang, da sie zu einer Vernachlässigung der Kinder oder zu einer Fehlhaltung der Mütter ihren Kindern gegenüber führen und damit zum Anwachsen der Jugendkriminalität beitragen soll. Die empirischen Untersuchungen sind in dieser Frage allerdings zu unterschiedlichen Resultaten gekommen: Während Hand (1957, S. 245/246) und Nye (1958 a, S.59; vgl. auch 1959, S. 243/244) einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit der Mutter und Jugendkriminalität für bewiesen ansehen, leugnen Dentler und Monroe (1961, S. 740) jede Verbindung zwischen der Häufigkeit der Diebstahlsbegehung durch ihre Probanden und der Berufstätigkeit der Mütter. Auch Siegel und Bushkoff unterstreichen, daß es keinerlei Beweise dafür gebe, daß sich die Kinder berufstätiger Mütter von den Kindern nichtberufstätiger Mütter in Anbetracht der mütterlichen Berufstätigkeit voneinander unterscheiden (1963, S. 535). Die Gluecks behaupten auf Grund ihres sorgfältig statistisch aufbereiteten Materials, daß die sporadisch außer Haus arbeitenden Mütter den negativsten Einfluß auf die Entstehung der Jugendkriminalität ausüben (1957, S. 349). Zwei Theorien versuchen, den Einfluß der Berufstätigkeit der Mütter auf die Entstehung der Jugendkriminalität zu klären: die „Vernachlässigungstheorie" (neglect-theory) und die „Schuld - Überbesorgtheitstheorie" (guilt - overprotection theory). Die Vernachlässigungstheorie soll für Mütter gelten, die nicht gern berufstätig sind, während die Schuld-Überbesorgtheitstheorie die Mütter angeht, die ihre Berufstätigkeit lieben. Die empirischen Untersuchungen, die Hoffman angestellt hat, scheinen beide Theorien zu bestätigen: Er verglich nämlich mit Hilfe der Fragebogen- und Interviewmethode 88 vollständige Familien aus Detroit, bei denen die Mütter berufstätig waren, mit 88 vollständigen Familien aus derselben Stadt, bei denen die Mütter keiner Berufstätigkeit außer Haus nachgingen, und stellte fest, daß zwar die Kinder berufstätiger Mütter sozial schlechter angepaßt waren, daß sie
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aber sehr verschiedene Symptome schlechter sozialer Anpassung zeigten, je nachdem ob ihre Mütter Freude an ihrer Berufsarbeit hatten oder nicht (1961, S. 196). Der Grund dafür, warum die verschiedenen empirischen Arbeiten zu so voneinander abweichenden Ergebnissen kommen, liegt wahrscheinlich darin, daß sie die intervenierenden Variablen nicht genügend berücksichtigen. Es wurde bereits dargetan (oben I I B la.), daß bei der Beurteilung des vorliegenden Problems die Verschiedenheit der Persönlichkeiten der Mütter, die Beweggründe für ihre Berufstätigkeit und die Auswirkungen ihrer außerhäuslichen Berufsarbeit auf die gesamte Familie mit zu beachten sind. Ansätze hierfür sind in der eben erwähnten Arbeit von Hoffman (1961) bereits vorhanden. Die berufstätige Mutter wird im Durchschnitt aktiver, energischer, leistungsorientierter, ehrgeiziger, dafür aber weniger mütterlich und häuslich sein als die nichtberufstätige Mutter. Diese Persönlichkeitszüge beeinflussen die Erziehung der Kinder entscheidend mit. Außerdem wird es neben anderen Faktoren von Bedeutung sein, ob die Mutter aus wirtschaftlicher Notwendigkeit oder aus materialistischer Gesinnung noch mitarbeitet, ob die Kinder durch eine „Ersatzmutter" gut versorgt sind und ob die Mutter durch ihre Berufsarbeit ihr Selbstwertgefühl und -Verständnis und damit ihre Selbstzufriedenheit überhaupt erst erlangt oder erhöht. Die abwechselnde Betreuung durch mehrere „Mütter", die auch den Interaktionsprozeß zwischen Mutter und Kind stören kann und die in engem Zusammenhang mit der eben erörterten Frage der Berufstätigkeit der Mutter steht, ist bisher am wenigsten kriminologisch untersucht worden. Es spricht zwar vieles dafür, daß sich die polymaterne Situation, in der mehrere weibliche Personen das Kind „bemuttern", ungünstig auf die intellektuelle und emotionale Entwicklung des Kindes auswirkt (Caldwell, 1963, S. 663/664). Ernsthafte psychische Störungen und in ihrem Verfolg Jugenddelinquenz treten hingegen jedenfalls dann nicht auf, wenn die Sorge- und Pflegerechte der „Mütter" sorgfältig geordnet und gegeneinander abgegrenzt sind. Das beweisen ζ. B. die empirischen Forschungsarbeiten von Rabin (1958, 1959, 1964) und Spiro (1958) zur sog. „Kibbutz"-Erziehung. Obgleich die „Kibbutzim", die modernen israelischen Gemeinschaftssiedlungen, in ihrer Struktur unterschiedlich sind, stimmen sie darin überein, daß die Kinder in jedem „Kibbutz" zusammen in kleinen Gruppen im Kinderhaus unter der Aufsicht einer Kinderschwester erzogen werden. Die Kinder besuchen ihre Eltern in deren Freizeit regelmäßig täglich etwa zwei Stunden. Während dieser Zeit können sich die Eltern ganz ihren Kindern widmen und mit ihnen spielen (vgl. auch Ferkiss,
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Ehe und Familie
1956, und Halpern, 1962). Rabin (1958) hat mit dem Rorschachtest und dem „Zeichne-einenMenschen-Test" (Goodenough) eine Gruppe von 9- bis 11jährigen ,,Kibbutz"-Kindem untersucht und in ihrer Entwicklung mit Kindern verglichen, die in Kernfamilien mit ihren Eltern zusammenleben. Er hat keine Retardierungserscheinungen bei der Testgruppe festgestellt. Gegenüber der Kontrollgruppe zeigten die „Kibbutz"-Kinder sogar eine bessere emotionale Kontrolle und eine größere Ich-Stärke. Rabin hat dann weiterhin ein Sample von 92 9- bis 11jährigen „Kibbutz"Kindern und eine Kontrollgruppe von 45 Kindern gleichen Alters mit einem „Satz-Vervollständigungs-Test" geprüft und dabei ermittelt, daß die „Kibbutz"-Kinder eine signifikant positivere Einstellung zur Familie und ihren Eltern hatten (1959, S. 178/179). Schließlich hat Rabin 123 Mütter aus 13 verschiedenen „Kibbutzim" befragt: 97% der Mütter hielten ihre Kinder im Kinderhaus für glücklich; 88% waren mit dieser Erziehungsregelung für ihre Kinder zufrieden, und mindestens 80% hatten „gute" Beziehungen zur Kinderschwester (1964, S. 141), die im wohlgeordneten Sozialisationssystem der „Kibbutzim" als „Ersatzmutter" die Haupterziehungsaufgaben erfüllt, während die natürlichen Mütter lediglich die Rolle von „Ergänzungsmüttern" übernommen haben. Da über 80% der Frauen im kommunistischen China berufstätig sind, werden auch dort die Kinder in kommunalen Institutionen erzogen, die Lazure besucht hat. Er berichtet, daß er keine Eltern-Kinder-Konflikte und keinerlei abweichendes, sozial unangepaßtes Verhalten beobachtet habe (1962, S. 195). e) Beeinträchtigungen der Rolle des Vaters. Ist Muttertrennung und -fehlhaltung in der bisherigen kriminologischen Forschung überwiegend unter dem Blickpunkt des Liebesentzugs in früher Kindheit gesehen worden, so wird Vaterabwesenheit und -fehleinstellung mehr im Hinblick auf eine mangelhafte Identifikationsmöglichkeit — insbesondere für die Jungen im Pubertätsalter, aber auch in früherem Alter — beurteilt. Mays (1963, S. 129/130) behauptet auf Grund von vierjährigen Beobachtungen an 66 Familien, in denen der Vater abwesend war oder seine Vaterrolle aus verschiedenen Gründen nur unzureichend zu erfüllen vermochte, daß Vaterabwesenheit und -Unzulänglichkeit die Kinder und Jugendlichen für delinquentes Benehmen anfällig machen. Diese Behauptung wird von anderen empirischen Forschungsarbeiten, die sich mit der Auswirkung der Vaterabwesenheit auf Kinder und Jugendliche beschäftigt haben, nur in sehr abgeschwächter Form bestätigt. Obgleich Vaterabwesenheit schon bei Kindern im Vorschulalter zu beachtlichen Entwicklungsstörungen führen kann (Mischel, 1961, S. 124), findet sie allenfalls über
Charakter- und Persönlichkeitsmißbildungen ihren indirekten kriminogenen Niederschlag. Tiller (1958), Lynn und Sawrey (1959) haben im Jahre 1956 eine Testgruppe von 40 Kindern (davon 21 Buben und 19 Mädchen) und eine Kontrollgruppe von ebenfalls 40 Kindern (davon 20 Buben und 20 Mädchen) in der mittelgroßen norwegischen Küstenstadt Tonsberg untersucht. Die Kinder beider Gruppen stammten aus vollständigen Familien und waren zwischen 8 und 9Vg Jahre alt. Die Väter der Kinder der Testgruppe waren als Seeoffiziere regelmäßig während längerer Zeiträume von zu Hause abwesend, während die Kinder der Kontrollgruppe mit ihren Eltern in Kernfamilien zusammenlebten. Als Untersuchungstechniken wurden Interviews mit den Müttern, ein Puppenspiel-Test (Lynn) und der „Zeichne-eine-Familie-Test" bei den Kindern benutzt (1958, S. 21—23). Diese empirische Arbeit brachte folgende Ergebnisse: Die Mütter der Kinder der Testgruppe nahmen in ihrer Überzahl ihren Kindern gegenüber eine ängstlich-überbesorgte Haltung ein. Das führte zu einer Reifungsverzögerung und einer merkbaren Abhängigkeit der Kinder von ihren Müttern (1958, S. 43). Die Jungen der Testgruppe ließen ferner feminine und Männlichkeit kompensierende Persönlichkeitszüge erkennen (1959, S. 261/262; vgl. auch Green, 1962; Hartmann, 1961, S.253; Mitchell, 1964, S. 280; Stolz, 1954). Zu ähnlichen Resultaten kamen die McCords und Thurber (1962), die in den Jahren 1939 bis 1945 eine Gruppe von 55 10- bis 15jährigen Jungen aus unvollständigen Familien, in denen der Vater fehlte, und eine Kontrollgruppe von 150 gleichaltrigen Jungen aus vollständigen Familien zu Hause, in der Schule und beim Spielen beobachteten. Die Jungen der Testgruppe zeigten ein feminin-aggressives Verhalten, wenn sie beim Verlust ihres Vaters 6 bis 12 Jahre alt gewesen waren (1962, S. 368). Diese Untersuchungen zur Beziehung zwischen Vaterabwesenheit und Jugenddelinquenz machen erneut deutlich, wie wesentlich die Persönlichkeit der Kinder, insbesondere ihr Alter und Reifestand, und die Haltung der Mütter sind, wenn es gilt, das Problem der kriminogenen Wirkung der Vaterabwesenheit zu beurteilen. Es ist u. a. von außerordentlichem Belang, in welcher Weise die Mutter dem Kind das Bild des abwesenden Vaters vermittelt. Wvlie und Delgado haben an einem Material von 20 ausgewählten Fällen darzutun versucht, wie die Mutter-Sohn-Beziehung bei Vaterabwesenheit an Wichtigkeit für die Erklärung des aggressiven und antisozialen Betragens der Jungen zunimmt. Eine lieblose, gegnerische Haltung der Mutter dem abwesenden Vater oder dem Sohn gegenüber oder gar eine manifeste Sexualisierung der Mutter-Sohn-Beziehung üben in dieser Hinsicht einen äußerst
169
Ehe und Familie ungünstigen Einfluß aus (1959, S. 648/649). Zu nachhaltigen emotionalen Störungen kann es auch bei Kindern und Jugendlichen kommen, deren Mütter die Väter — bei im übrigen vollständiger Familie — aus ihrer Vaterrolle herauszudrängen und von der Familie abzusondern suchen (Plotsky, 1960, S. 783). Eine aggressive Mutter-Vorherrschalt solcher Art in der Familie und ein auf diese Weise unausweichlich geschwächtes Vaterbild können das abweichende, sozial unangepaßte Verhalten der Kinder und Jugendlichen mit herbeiführen (Fantl, 1959, S. 30 u. 32). Die McCords und Verden haben bei Nachuntersuchungen („follow-up studies") im Kähmen des Cambridge-Somerville-Experiments im Jahre 1956 festgestellt, daß sexuell abweichendes Verhalten von Jungen, ζ. B. Homosexualität, auf „autoritärer" Einstellung der Mutter, Vaterabwesenheit oder einer unverträglich-feindseligen Haltung des Vaters beruhen kann. Die Jungen lehnen dann das männliche Selbstbild für sich ab, weil sie wegen der väterlichen Abwesenheit oder Zurückweisung durch die Annahme einer weiblichen Rolle die Zuneigung von Vatersubstituten erwerben wollen (1962b, S. 171; vgl. auch Burton, 1961; Leichty, 1960). Eine befriedigende Erfahrung der Väterlichkeit ist für die Jungen bei Vaterabwesenheit oder -fehlhaltung mithin äußerst erschwert. Wie wichtig aber selbst das äußere Erscheinungsbild des Vaters zum Zwecke einer zufriedenstellenden Identifikation für die Jungenist, haben die Forschungsergebnisse vonNye gezeigt, der eine relativ enge Verbindung zwischen einer ungepflegten Erscheinung des Vaters, insbesondere auch seiner vernachlässigten Kleidung, und delinquenten Verhaltensweisen der Jungen ermittelt hat (1958 a, S. 111—113). Die unheilvolle Wirksamkeit von väterlichen Fehleinstellungen im Sozialisationsprozeß haben bereits die Forschungsarbeiten der Gluecks sichtbar gemacht. Unter einer ablehnenden, feindseligen Haltung des Vaters leiden besonders die Jungen, die zur Extraversion neigen, emotional labil sind und über eine nur geringe verbale Intelligenz und wenig objektbezogene Interessen verfügen (Glueck, 1962, S. 125). Die von den Gluecks erzielten Ergebnisse werden durch die empirische Studie von Peterson, Becker, Shoemaker, Luria und Hellmer noch unterstrichen, die eine enge Verknüpfung zwischen einer unfreundlich-rücksichtslosen Einstellung des Vaters und antisozialen Tendenzen bei den Kindern nnd Jugendlichen aufgezeigt haben (1961, S. 161). Eine solche Einstellung des Vaters kann ihrerseits wieder von einer begründeten oder unbegründeten Abneigung gegenüber dem Jungen, ζ. B. auf Grund von Verfehlungen des Jungen oder seiner körperlichen Mißgestaltung, herrühren. Einer eingehenden Analyse hat schließlich auch Andry (1960) die Vater-Sohn-Beziehung im Hinblick auf
die Entstehung der Jugendkriminalität unterzogen. Er hat 80 delinquente 12- bis 15jährige und 80 nichtdelinquente Jungen gleichen Alters aus vollständigen Familien im standardisierten Interview befragt. Die Mitglieder der delinquenten Gruppe, die ausschließlich aus Rückfalltätern bestand, kamen aus einem Londoner „Remand Home", die der Kontrollgruppe aus zwei Londoner Oberschulen. Alle Jungen hatten einen Intelligenzquotienten zwischen 80 und 125. Der Autor bildete aus jeder Gruppe nochmals eine Untergruppe von je 30 Jungen, deren Eltern er ebenfalls befragte (S. 9—13). Er verglich die in den Testgruppen gefundenen Ergebnisse mit denen der Kontrollgruppen und sicherte die Unterschiede mittels der Chi2-Methode auf 5% Grundlage (S. 16—17). Folgende Endresultate verdienen hervorgehoben zu werden: Delinquente Jungen erfahren weniger starke und offene Zuneigung von ihren Vätern (S. 38/39). Väter delinquenter Jungen verbringen kaum ihre Freizeit mit ihnen, teilen ihre „hobbies" weniger mit ihnen und nehmen sie seltener mit bei Ausflügen und Spaziergängen (S. 58/59). Delinquente Jungen leben öfter in Familien, in denen eine gespannte, unharmonische Atmosphäre herrscht, die zumeist entscheidend auf die Handlungsweise der Väter zurückzuführen ist (S. 64). Sie erhalten schließlich eine weniger adäquate Ausbildung durch ihre Väter als die nichtdelinquenten (S. 84). 5. Die
Behandlung
ehe- und
familienbedingter
Kriminalität Der multifaktoriellen Betrachtungsweise bei den kriminalätiologischen Erörterungen sind mehrdimensionale Methoden bei der Diagnose und Behandlung von kriminogen bedeutsamen Familienstörungen zuzuordnen. „Ehe- und familienbedingte" Kriminalität kann nicht behandelt werden, ohne den Ehepartner und die Familienmitglieder in die Behandlung irgendwie mit einzubeziehen. Die einzelnen familiären Störfaktoren, von denen die Kriminalität meist nur ein Symptom bildet, müssen in ihrer unlösbaren Verknüpfung mit der Beeinträchtigung der Gesamtpersönlichkeit des Rechtsbrechers und mit der Störung der gesamten Psychodynamik der Familie gesehen werden. In Diagnose und Therapie gilt es deshalb, die ganze Familienkonstellation zu erfassen (vgl. auch Toman, 1961, S. 250). Das kann einmal dadurch geschehen, daß man diagnostische und prognostische Verfahren ansetzt, die einen Einblick in die Familienstruktur und -dynamik gewähren, und zum anderen dadurch, daß man mit einer Fülle sich ergänzender therapeutischer und prophylaktischer Maßnahmen die eigentlich kriminogen bedeutungsvollen Familienstörungen anzugehen sucht.
170
Ehe und Familie
a) Familiendiagnose und Prognose an Hand von Familienfaktoren als Voraussetzungen für Verhütungs- und Behandlungsmaßnahmen. Die teilnehmende und nichtteilnehmende direkte Beobachtung der Familie und soziometrische Verfahren (ζ. B. nach Jacob L. Moreno) haben bisher schon mit Erfolg spezielle Erscheinungsformen der Interaktion und der affektiven Beziehungen von Individuen in der Familie erkennbar gemacht. Die psychologische und psychiatrische Forschung sind gegenwärtig darum bemüht, eigens auf die Familie und ihre Probleme zugeschnittene Beobachtungsverfahren (vgl. ζ. B. Drechsler, 1961; Goldstein, 1962) und Interview(vgl. ζ. B. Carroll, 1964; Jackson, 1961) und Fragebogenmethoden (vgl. ζ. B. Roe, 1963) aufzubauen. Darüber hinaus gibt es heute schon gut brauchbare und verhältnismäßig einfach zu handhabende Zeichentests, die auch über den Zusammenhang zwischen Familienstörung und Jugendkriminalität Auskunft zu geben vermögen (Gräser, 1957, S. 64—67; vgl. auch Elkän, 1961). Szyrynski (1963 a, 1963 b) hat den „Zeichne-eineFamilie-Test" zum „Zwei-Häuser-Verfahren" weiterentwickelt, mit dem er auch die Psychodynamik der Familie im Hinblick auf die Jugendkriminalität prüfen will. Neuerdings gibt es ein thematisches Verfahren, mit dem familienbedingtes delinquentes Verhalten diagnostiziert werden kann: Elbert, Rosman, Minuchin und Guerney haben den „Thematischen Apperzeptionstest (TAT)" für die Familiendiagnose zum „Family Interaction Apperception Test (FIAT)" fortgebildet, mit dem sie u. a. auch ein auf einer Störung der Psychodynamik der Familie beruhendes delinquentes „acting-out" erkennen wollen (1964, S. 273). Auf Grund ihrer kriminalätiologischen Forschungen haben die Gluecks neben anderen Prognosetabellen eine Voraussagetafel ( T a b e l l e 3) entworfen, die auf den Gegebenheiten des familiären Hintergrundes aufgebaut ist. Sie haben sich dabei von folgenden Erwägungen leiten lassen: Wenn sich die Jugendlichen der delinquenten Gruppe mit von den Nichtstraffälligen signifikant unterschiedlichen Merkmalen in den Familienverhältnissen kriminell verhalten, so kann man im konkreten Einzelfall das spätere kriminelle Benehmen des Kindes genügend sicher vorausbestimmen, das dieselben Merkmale wie die früher untersuchte delinquente Gruppe aufweist. Dabei trägt ein Faktor in desto höherem Maße zur Kriminalität bei, je größer der Unterschied ist, der im Hinblick auf diesen Faktor zwischen Straffälligen und Nichtstraffälligen gefunden worden ist. Die Gluecks wollen mit ihrer Prognosetafel, die sie allerdings nur als Hilfsmittel zusammen mit ihren anderen Voraussagetabellen im Rahmen von klinischen Begutachtungen angewandt wissen wollen, potentielle jugendliche Straftäter bereits in den
Tabelle 3 V o r a u s s a g e t a f e l (Social prediction table) (nach S h e l d o n and E l e a n o r Glueck, Unraveling juvenile delinquency, S. 261/262) GewichtePunkte
Soziale Beziehungen 1. Erziehung des Jungen durch den Vater a) übermäßig streng oder ungleichmäßig b) lasch c) fest, aber freundlich
72,5 69,8 9,3
2. Aufsicht der Mutter über den Jungen a) unzureichend b) einigermaßen ausreichend c) gut
83,2 67,5 9,9
3. Zuneigung des Vaters zum Jungen a) gleichgültig oder feindselig b) warm (einschl. übermäßig besorgt) 4. Zuneigung der Mutter zum Jungen a) gleichgültig oder feindselig b) warm (einschl. übermäßig besorgt) 5. Zusammenhalt der Familie a) innerlich desorganisiert b) ein wenig Zusammenhalt c) guter Zusammenhalt
Gewichtspunkte
unter 200 200—249 260—299 300 und darüber
75,9 33,8 86,2 43,1
96,9 61,3 20,6
Chancen der Straffälligkeit
Chancen der Nichtetraffälligkeit
8,2%
91,8% 63,0% 36,5% 10,8%
37,0% 63,5% 89,2%
ersten Schuljahren, also zwischen 6 und 8 Jahren, erkennen. Die fünf Faktoren ihrer Voraussagetafel (siehe Tabelle 3) haben sie genau definiert (1950, S. 270/271). in Subkategorien aufgeteilt und den Prozentsatz der in diese Subkategorien fallenden Straffälligen und Nichtstraffälligen als Grad der Wahrscheinlichkeit künftigen delinquenten oder nichtdelinquenten Verhaltens genommen. Nach der Subsumtion des Einzelfalls in die verschiedenen Kategorien sind nur noch die Gewichtspunkte zusammenzurechnen und die Chancen der Straffälligkeit oder Nichtstraffälligkeit in der beigegebenen Hilfstabelle abzulesen. Eleanor Glueck berichtet, daß bei der
Ehe und Familie Eichung der am meisten angewandten „Social prediction table" nicht nur in den USA, sondern auch in Frankreich und Japan bezüglich Verläßlichkeit (reliability) und Gültigkeit (validity) der Tafel gute Ergebnisse erzielt worden sind (1960, S. 71). b) Behandlung mit der, durch die und in der Familie. Bilden die aufgezeigten diagnostischen und prognostischen Verfahren Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Therapie, so ist die Bestrafung von Familienmitgliedern bei vorwiegend „ehe- und familienbedingter" Kriminalität zumeist keine Behandlungsmaßnahme, die die berechtigten Belange von Ehe und Familie zu fördern geeignet ist, weil sie regelmäßig zu einer Isolation des bestraften Familienmitglieds von seiner Familie führt, damit die gestörte Psychodynamik innerhalb der Familie nicht wiederherstellt, sondern allenfalls noch verschlimmert und oft zu einer indirekten Mitbestrafung aller übrigen Familienmitglieder (bisweilen der Opfer der Straftat) führt. Von den Zuchthaus- und Gefängnisgefangenen sind in der Bundesrepublik Deutschland rund 36% verheiratet. Am 31.3.1962 waren von 36.511 Zuchthaus- und Gefängnisgefangenen 12.950 und am 31. 3.1961 von 35.643 Zuchthaus- und Gefängnisgefangenen 12.945 Verheiratete (vgl. Bevölkerung u. Kultur, Rechtspflege, Strafvollzug 1961, S. 34; 1962, S. 34). Diese Tatsache wirft nicht nur die Frage nach dem ehelichen Umgang der Strafgefangenen auf (vgl. hierzu Cavan, 1958/59; Verborgen, 1963), sondern überhaupt die Frage nach den Beziehungen des Strafgefangenen zu seiner Familie während seines Freiheitsentzugs (vgl. Fenton, 1959; Lorenzi, 1962). Die Familie gerät oft durch die Verbüßung der Strafe des Familienvaters in nicht geringe finanzielle Schwierigkeiten; die Abwesenheit des Ehemanns und Vaters kann darüber hinaus eine Entfremdung der Ehepartner und Entwicklungsstörungen bei den Kindern hervorrufen. Diese nachteiligen Folgen gilt es dadurch abzumildern, daß eine vorausschauende Entlassenenfürsorge nicht nur den Strafgefangenen schon während seiner Strafverbüßung darin berät, wie er seiner Familie nach seiner Entlassung zu begegnen und mit ihr zusammen zu leben hat, sondern seine Ehefrau und seine Kinder auch darauf vorbereitet, wie sie den Ehemann und Vater empfangen und ihn behandeln sollen (vgl. Deehy, 1961, S. 295 bis 297). Ähnliche Behandlungsprobleme ergeben sich aus der familienbedingten Jugendkriminalität. Jugendgerichte, Bewährungshilfe und Jugendstrafvollzug sollten sich darum bemühen, die Eltern zur Mithilfe bei der Behandlung des jugendlichen Rechtsbrechers zu gewinnen. Das eifrigste Bestreben findet hierbei freilich nicht selten seine Grenze am Unverständnis und an der Böswilligkeit, der Eltern (vgl. Voelcker, 1960/
171
1961, S. 165/166). Aber nicht nur m i t der Familie sollte die Jugendkriminalität behandelt werden, sondern auch d u r c h die und in der Familie. Mit der Maßnahme der Unterbringung des jugendlichen Delinquenten in Pflegefamilien haben gerade kleinere Länder wie Belgien (Veillard-Cybulsky, 1963, S. 139/140), Ceylon (J. R. Parsons, 1960, S. 27) und Island (Jonsson, 1959, S. 567/568) gute Erfahrungen gemacht. Die Pflegefamilien und die dort unterzubringenden jugendlichen Delinquenten müssen allerdings sehr sorgfälltig ausgewählt und vorbereitet werden (Güpin, 1959, S. 662; Williams, 1959, S. 658; vgl. auch Freeman, 1963; Hunt, 1962; Lindberg, 1963). Kann die Eltern-Kind-Trennung als therapeutische Maßregel in bestimmten Fällen durchaus indiziert sein (vgl. hierzu Howells, 1963), so ist gleichwohl im Regelfall davon auszugehen, daß delinquente Kinder und Jugendliche — unbeschadet der Verhängung von Strafen und Maßnahmen durch die Jugendgerichte — am besten in ihrer eigenen Familie behandelt werden, indem man Ehe- und Erziehungsberatungsstellen einschaltet: Eine gestörte Eltembeziehung kann so ζ. B. stabilisiert, Fehleinstellungen der Eltern können auf diese Weise aufgelockert oder ganz beseitigt werden. Familienbedingte Jugendkriminalität kann jedenfalls meist nicht erfolgreich behandelt werden, wenn man nicht die Haltungen der Eltern mit berücksichtigt (Smyth, 1959, S. 970) und auf die Eltern-Kind-Beziehungen positiv einzuwirken versucht (Parioff, 1961, S. 448). Das kann durch Einzelgespräche, aber auch im Wege der Gruppendiskussion geschehen (vgl. Colliander, 1962; Feldman, 1960; Karson, 1962; Selsky, 1962). c) Spezielle Behandlungsmethoden und -Institutionen für die Multiproblemfamilien. Ob und in welchem Umfang eine Familie behandlungsfähig ist, hängt indessen nicht allein von den vorhandenen gesetzlichen Voraussetzungen und dem guten Willen der Familie ab, sondern auch von ihrer Anpassungs- und Belastungsfähigkeit. Kann Jugendkriminalität, die auf psychodynamischen Störungen innerhalb der sog. „Normal"-Familie beruht, dadurch erfolgreich angegangen werden, daß man die Störungen einer Therapie zu unterwerfen versucht, so ist die „MultiproblemFamilie" nur als eine Einheit zu behandeln. Elles (1961/62) und Tinker (1959) haben aus ihrer Praxis geschildert, wie schwer diese Familien für eine Behandlung zu erreichen sind („hard-to-reach-families"). Ihre einzelnen Mitglieder sperren sich gegenüber jeder Hilfe, weil sie sich davor fürchten, unter den beherrschenden Einfluß Außenstehender zu kommen, die ihre Probleme nicht richtig erkennen und damit die Unsicherheit noch vermehren, in der diese Familien leben müssen (Elles, 1961/62, S. 25 u. S. 39). Dennoch wird über gute Erfolge bei der
172
E h e u n d Familie
Behandlung v o n „Multiproblem-Familien" berichtet (Tinker, 1959, S. 171). U m diese Erfolge n o c h zu verbessern u n d damit zugleich eine der wichtigsten Erscheinungsformen familienbedingter Jugendkriminalität wirksam zu bekämpfen, h a b e n Tait u n d Hodges, die 179 Kinder aus Washington (D. C.) m i t psychiatrischen E x plorationen u n d d e m Rorschachtest untersucht haben, die zu 85% aus „Multiproblem-Familien" s t a m m t e n , die Einrichtung v o n „Familienkrankenhäusern" für diese Familien vorgeschlagen (1962, S. 117; vgl. auch Strickler, 1962; Warren, 1963). I n solchen Spezialeinrichtungen, in die die gesamte Familie einzuweisen wäre, k ö n n t e n die verschiedensten Leiden der einzelnen Familienmitglieder (Alkoholismus, Geschlechtskrankheiten, Psychopathie), aber es k ö n n t e auch die in ihrer P s y c h o d y n a m i k v o n Grund auf gestörte Familie selbst als Ganzes behandelt werden. Solche Institutionen h ä t t e n dabei den Vorteil, daß ein Team v o n Behandlungsspezialisten der verschiedensten Wissenschaften zur Verfügung stünde u n d daß sich dieses T e a m der jeweiligen sich wandelnden Familiensituation in seinen Behandlungsmaßnahmen anpassen könnte. Hierdurch k ö n n t e die Behandlung der „Multiproblem-Familien" höchst flexibel gestaltet werden (Shipman, 1959, S. 622). Monographien D. A b r a h a m s e n : Psychology of crime. ΙββΟ (bes. S. 42—55). L. A l b a n e l : Le crime dans la famllle. 1900. Β. Ο. A η d r y : Delinquency and parental pathology. 1960. J . G. B a l l : Social deviancy and adolescent personality. 1962. I. B e n n e t t : Delinquent and neurotic children. I960 (bes. S. 115—169). R. B e r g l e r : Kinder aus gestörten und unvollständigen Familien. 1956. J . B e r n a r d : Remarriage. 1956. C. P. B l a c k e r : Problem families. 0. J . J . B o w l b y : Maternal care and mental health. 1952. A.-E. B r a u n e c k : Die Entwicklung Jugendlicher Straftäter. 1961 (bes. 8. 63—90). I.. C a s l e r : Maternal deprivation. 1961. R. Sh. C a v a n : Criminology. 1956 (bes. S. 106—124). Juvenile delinquency. 1962 (bes. S. 111—127). M. C h o i s y : Psychoanalysis of the prostitute. 1962. Μ. Β. C l i n a r d : Sociology of deviant behavior. 1963 (bes. S. 196—203, 430—459). Β. M. C o r m i e r , M. K e n n e d y , A. O b e r t : Transmission of delinquent patterns in families. 1962. J . L. D e s p e r t : Children of divorce. 1953. G. D i e t r i c h : Kriminelle Jugendliche. 1962. A. D t t h r s s e n : Heimkinder und Pflegekinder In Ihrer Entwicklung. 1968 a. M. A. E l l i o t t , F. E. M e r r i l l : Social disorganization. 4. Aufl. 1961 (bes. S. 79—85, 199—202, 322—324, 446—449). F. E x n e r : Kriminologie. 3. Aufl. 1949 (bes. S. 224—230, 244—249). N. F e n t o n : The prisoner's family. 1959. L. F. F r e e d : Crime in South Africa. 1963 (bes. S. 298/299, 313—318). K. F r i e d l a n d e r : The psycho-analytical approach to Juvenile delinquency. I960 (bes. S. 23—26). T.C. N. G i b b e n s , M. M a r r i a g e , Α. W a l k e r : Psychiatric studies of borstal lads. 1963 (bes. S. 67—73).
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C. Schutz von Ehe und Familie vor Kriminalität Die im Rahmen dieses Artikels bisher erörterte ehe- und familienbedingte Kriminalität findet nicht nur ihren Niederschlag in Straftaten gegen Ehe und Familie, sondern in jeder Art von Kriminalität innerhalb und außerhalb von Ehe und Familie (vgl. auch Kennedy, 1969, S. 50 u. S. 52). Der kriminalpolitische Schutz von Ehe und Familie folgt andererseits nicht zwingend aus den bisherigen kriminologischen Erwägungen. Denn der Strafgesetzgeber, dem in der Bundesrepublik Deutschland der staatliche Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG aufgegeben ist, bildet eine autonome Instanz sui generis, die bei der Schaffung von Strafrechts-
normen weder durch die sog. Seinswissenschaften, wie ζ. B. die Kriminologie, noch durch besondere Werthaltungen, wie ζ. B. die christlich-abendländische Weltanschauung, festgelegt werden darf. Dennoch ist es von weitreichendem kriminologischen Interesse, wie der Gesetzgeber die Straftatbestände zum Schutz von Ehe und Familie in der geltenden Strafrechtsordnung ausgestaltet hat, wie er sie auf Grund der Strafrechtsreform regeln will und wie er sie normieren sollte. Denn das Strafrecht erfüllt gerade für die Ehe und Familie eine bedeutsame sittenbildende und -erhaltende Funktion, die die Psychodynamik und den Sozialisationsprozeß in der Familie maßgebend mit zu beeinflussen vermag (vgl. auch Becker, 1954, S. 210). Es greift allerdings bisweilen auch — namentlich bei den Delikten gegen Ehe und Familie — in den intimen Bereich engster mitmenschlicher Beziehungen empfindlich ein, so daß immer wieder der Vorschlag diskutiert wird, Straftaten gegen Ehe und Familie nur dann zu verfolgen, wenn Außenstehende oder die Rechtsordnung verletzt worden sind (vgl. hierzu schon Westermarck, 1937). 1. Werthaltung
der
gesamten
gegenüber Ehe und
Strafrechtsordnung Familie
Der Umfang der in der Bundesrepublik Deutschland begangenen Straftaten gegen Ehe und Familie ergibt sich aus T a b e l l e 4. In dieser Übersicht sind indessen nur die Rechtsbrecher erfaßt, die wegen Straftaten verurteilt worden sind, die das geltende Strafrecht im 12. Abschnitt des besonderen Teils des StGB zusammenfaßt. Es handelt sich hierbei um Personenstandsfälschung (§ 169), Eheerschleichung (§ 170), Verschleuderung von Familienhabe (§ 170a), Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170 b), Versagung der Hilfe gegenüber einer Geschwängerten (§ 170c), Vernachlässigung eines Kindes (§ 170d), Doppelehe (§171) und Ehebruch (§172). Der Entwurf eines Strafgesetzbuchs 1962 (E1962) gliedert in seinen Titel „Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand" darüber hinaus die Vorschriften über die Blutschande (§ 173 StGB), den Muntbruch (§ 235 StGB) und die Verletzung der Aufsichtspflicht (§§143, 361 Nr. 9 StGB) sowie die neu geschaffenen Tatbestände des Verlassens eines Kindes (§ 197 Ε 1962) und der künstlichen Samenübertragung (§ 203 Ε 1962) mit ein. Die Werthaltung des Strafgesetzgebers gegenüber Ehe und Familie drückt sich hingegen nicht allein im Abschnitt über die Straftaten gegen Ehe und Familie aus. Sie durchzieht vielmehr die gesamte Strafrechtsordnung. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen: Beim Hausund Familiendiebstahl (§247 StGB) gibt der Strafgesetzgeber der Familiengemeinschaft die Möglichkeit, die leidige Angelegenheit unter sich
176
Ehe und Familie Tabelle 4
V e r u r t e i l t e wegen S t r a f t a t e n gegen P e r s o n e n s t a n d , E h e und F a m i l i e in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d in den J a h r e n 1960 und 1961 (Auszug aus Bevölkerung und Kultur, Reihe 9: Rechtspflege, II. Strafverfolgung 1960, S. 5; 1961, S. 6) Strafbares Verhalten Straftaten gegen Personenstand, Ehe und Familie (§§ 169—172 StGB) im Jahre 1960 Vergleich: Verbrechen und Vergehen im Jahre 1960 insgesamt Straftaten gegen Personenstand, Ehe und Familie (§§ 169—172 StGB) im Jahre 1961 Vergleich: Verbrechen und Vergehen im Jahre 1961 insgesamt zu bereinigen und den häuslichen Frieden selbst wiederherzustellen, der durch eine Strafverfolgung nur noch mehr gestört werden würde. Beim Aussagenotstand des § 167 StGB berücksichtigt er den Gewissenskonflikt, in den ein Zeuge bei der wahrheitsgemäßen Aussage zuungunsten eines Familienangehörigen kommen kann. Er mutet einem Familienmitglied eine Verbrechensanzeige gegenüber einem Angehörigen unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu (§139 Abs. 3 StGB) und läßt die Strafvereitelung zugunsten eines Familienangehörigen in Anbetracht des natürlichen Gefühls der Hilfsbereitschaft innerhalb der Familie straffrei (§257 Abs. 2 StBG). Er schützt nicht nur die Orientierungsfamilie, sondern auch die Fortpflanzungsfamilie, indem er ζ. B. bei der Entführung von einer Strafverfolgung absieht, wenn der Täter die Frau geheiratet hat (§ 238 StGB). 2. Schutz von Ehe und Familie
gegen
kriminelle
Gefährdung von außen Der wesentlichste Strafrechtsschutz wird Ehe und Familie allerdings vor kriminellen Aggressionen von außen und vor delinquenter Zersetzung von innen gewährt. Bei den Angriffen von außen sind zunächst die Beeinträchtigungen der formellen Ehe- und Familienordnung zu erwähnen. Der Tatbestand der Doppelehe (§ 171 StGB) wehrt Verletzungen des Ehebandes durch Mißbrauch der Eheschließungsform ab. Die Familienstandsfälschung (§ 169 StGB) soll die Evidenz der durch Ehe und Abstammung begründeten Beziehungen gewährleisten, die Wesenselement der Familienordnung ist. Eine Betrachtung möglicher Angriffe von außen auf den materiellen Bestand von Ehe und Familie läßt bereits die Grenzen erkennen, die der Strafrechtsordnung gesetzt sind. Beim Muntbruch (§ 235 StGB) kann lediglich die Familiengemeinschaft und die ungestörte Ausübung des Erziehungsrechts vor räumlicher Entfernung des Kindes aus dem
Gesamtzahlen
Männliche Täter
Weibliche Täter
12.220
10.317
1.903
548.964
487.866
61.088
12.723
10.592
2.131
678.355
614.574
63.781
Bereich elterlicher Wirksamkeit bewahrt werden. Unheilvolle Einflüsse von Erziehungsstörern, die den jungen Menschen seinen Eltern seelischgeistig zu entfremden suchen, können mit strafrechtlichen Mitteln dagegen nicht abgewehrt werden (vgl. hierzu Becker, 1963, S. 101). Die Vorschrift des erpresserischen Kindesraubes (§ 239a StGB) schützt auch den Sorgeberechtigten als mittelbar Betroffenen. Damit erschöpft sich im wesentlichen jedoch schon der strafrechtliche Schutz des materiellen Bestandes der Familie vor Angriffen von außen. Bei den kriminellen Aggressionen auf die Ehe liegen die Verhältnisse ähnlich. Hier sind nur Ehebruch (§172 StGB) und Ehebetrug (§ 170 StGB) zu nennen, die allerdings die geistig-seelische Einheit der Ehepartner nicht sicherzustellen vermögen. Die Strafwürdigkeit des Ehebruchs ist darum eine kriminalpolitisch umstrittene Frage. Denn er kann das Eindringen fremder Peronen in die Ehe nicht verhindern, weil sich die eheliche Treue durch den Druck der Strafe nicht erzwingen läßt. Es handelt sich aber um einen merkwürdigen Strafrechtsschutz, der — wie in § 172 — erst wirksam werden kann, wenn der Gegenstand des Schutzes schon — durch die Ehescheidung — zerstört ist. Im übrigen ermöglicht das Antragsrecht des § 172 Erpressungen und Racheakte verwerflicher Art. Wenn der Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962 demgegenüber an einer Strafbarkeit des Ehebruchs mit der Begründung festhalten will, ein Abbau des Strafrechtsschutzes könne dahin mißverstanden werden, als messe der Staat der Ehe nicht mehr dasselbe Gewicht bei wie bisher (vgl. Begründung, S. 348), so ist diese Beweisführung nicht durchschlagend. Denn dadurch, daß der Staat den Ehebruch straflos läßt, macht er ihn noch nicht zu einer erlaubten Handlung. Der Ehebruch bleibt vielmehr eine Verletzung der ehelichen Treuepflicht und ist deshalb auch weiterhin als unsittlich und unmoralisch zu verurteilen (Lebedkin, 1943, S. 87/88; vgl. auch Lackner, 1962).
Ehe und Familie 3. Schutz von Ehe und Familie gegen delinquenie Zersetzung von innen Das Strafrecht muß gegenüber delinquenter Zersetzung von innen notwendigerweise in die Ehe und Familie eingreifen. Infolgedessen ist dieser Strafrechtsschutz für die Sicherung der Belange von Ehe und Familie nicht unproblematisch. Wenn die Vorschrift des § 170b StGB beispielsweise die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Familie vor Gefährdung sichern will, so kann dies durch eine Gefängnistrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, zumeist gerade nicht erreicht werden. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß das bloße Vorhandensein der Bestimmung des § 170 b potentiellen Tätern ihre Unterhaltungsverpflichtung („Vaterschaft als soziale Erfindung") eindrucksvoll vor Augen führt. Auf die Vorschrift über die Verschleuderung der Familienhabe (§ 170 a StGB), die ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört, will der Strafgesetzgeber in Zukunft verzichten (vgl. Begründung Ε 1962, S. 347). Mit den Bestimmungen über die Aussetzung (§ 221 Abs. 2 StGB) und die Mißhandlung (§ 223b StGB) von Kindern soll auch dem Ausgeliefertsein wehrloser Kinder an elterliche Willkür entgegengewirkt werden. Auf Grund der Vorschriften über die Blutschande (§ 173 StGB) und die Verkupplung von Ehefrau und Kindern (§ 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB) will die Strafrechtsordnung die Ehegatten- und Eltern-Kind-Beziehung gleichfalls vor Übergriffen reinhalten. Für die Bestrafung des Inzests, der eher Symptom, denn Ursache für die Störung familiärer Psychodynamik darstellt, sind Erwägungen eugenischer Art gegenwärtig nur noch von untergeordneter Bedeutung. Strafgründe bilden heute die Rollenverwirrung in der Familie, die Mutter-Tochter- oder VaterSohn-Rivalität und die psychischen Schäden bei dem Abkömmling, die durch den Inzest hervorgerufen werden können (vgl. Cormier, 1962, S. 216/217; Davis, 1960, S. 400/401; v. Hentig, 1962 a; Scott, 1962; Weiner, 1962). Die Ursprünge inzestuöser Vater-Tochter-Beziehungen liegen meist in einer krisenhaften, konfliktbeladenen ehelichen Struktur (ζ. B. Verschiebung der innerfamiliären Autorität zugunsten der Ehefrau) und in einer verschatteten Mutter-TochterBeziehung. Überbelegte Wohnungen, sexuelle Not und Alkoholismus wirken dann als Auslösemechanismen (vgl. schon Marcuse, 1926, S. 308). Durch die Strafrechtsreform soll ferner die künstliche Samenübertragung (§ 203 Ε 1962) als Straftatbestand normiert werden. Die biologischen und psychologischen Gründe sind für die homologe Insemination regelmäßig in der Behinderung eines Ehegatten zu finden, trotz bestehender Fruchtbarkeit den ehelichen Geschlechtsverkehr auszuführen; dagegen beruht die heterologe Insemination in der Regel auf der 12
HdK, 2. Aufl., Bd. I
177
Unfruchtbarkeit des Ehemanns. Nach vorsichtigen Schätzungen sollen in den USA etwa 100.000 und in Deutschland und Frankreich etwa je 1.000 Kinder aus artifizieller Insemination hervorgegangen sein (Dünnebier, 1960, S. 131). Hinsichtlich der homologen Insemination besteht in kirchlichen Kreisen und in den medizinischen, psychologischen und psychiatrischen Wissenschaften im wesentlichen Einigkeit darüber, daß ein strafrechtliches Verbot insoweit nicht in Betracht kommt, als der Eingriff mit Einwilligung beider Ehegatten durch einen Arzt vorgenommen wird. Das ist dagegen für die heterologe Insemination anders. Der 62. Deutsche Ärztetäg hat sie im Jahre 1969 in Lübeck aus sittlichen Gründen abgelehnt, eine Strafvorschrift aber nicht für wünschenswert gehalten. Andererseits sind für eine solche Vorschrift der Deutsche Ärztinnenbund und die Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie in ihren Stellungnahmen zur Strafrechtsreform eingetreten (vgl. hierzu Beuerlein, 1963, S. 2). Auch kirchliche Kreise haben sich in diesem Sinne geäußert. Da die Beziehungen der Ehepartner durch die heterologe Insemination nachhaltig belastet werden können, läßt sich aus diesem Grunde die Bestimmung des § 203 Ε 1962 kriminologisch rechtfertigen. Die Strafrechtsordnung stellt schließlich den Verstoß gegen bestimmte Eltern- und Familienpflichten unter Strafe, um u. a. grobe familiäre Fehleinstellungen zu beseitigen. In diesem Zusammenhang sind die Verletzung der Aufsichtspflicht (§§143, 361 Nr. 9 StGB) und die Verletzung der Hilfspflicht gegenüber einer Schwangeren (§ 170 c StGB) zu erwähnen. Der Tatbestand der Vernachlässigung eines Kindes gemäß § 170 d StGB soll durch die Strafrechtsreform eingeschränkt werden. An Stelle des zu unbestimmten Merkmals der Gefährdung des körperlichen und sittlichen Wohls eines Kindes soll der Umstand treten, daß der Schutzbefohlene durch die Tat in die „Gefahr der sittlichen und körperlichen Verwahrlosung" gebracht worden ist (Begründung Ε 1962, S. 352). Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß das „Verlassen eines Kindes" (§ 197 Ε 1962) als neuer Straftatbestand in den Titel über „Straftaten gegen Ehe, Fam lie und Personenstand" in das neue StGB eingefügt werden soll. Mit dieser Strafrechtsnorm sollen die Fälle erfaßt werden, in denen Eltern, insbesondere uneheliche Mütter, ihre Kinder in Warenhäusern, in den Wartesälen von Bahnhöfen, vor Krankenhäusern oder Kinderheimen zurücklassen, um sich ihrer zu entledigen. Der Unrechtsgehalt der neuen Vorschrift soll darin liegen, daß die Bindungen zwischen dem Sorgeberechtigten und dem Kinde jäh gelöst werden und das Kind dadurch einem ungewissen Schicksal überlassen bleibt (vgl. zum Vorstehenden: Begründung Ε 1962, S. 351/352).
178
Ehe und Familie
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AUSBLICK
AUF
KRIMINOLOGISCHE
EINE
FORSCHUNG IN Die
Bedeutung
ZUKÜNFTIGE
EHE- UND
der
FAMILIEN-
DEUTSCHLAND Einflüsse
der
Ehe
und
F a m i l i e auf die K r i m i n a l i t ä t w i r d unterschiedlich beurteilt.
Auf
Grund
jüngster
kriminologischer
E i k e n n t n i s s e scheint es eher so zu sein, als o b E h e u n d F a m i l i e über die B i l d u n g der lichkeit
des
indirekte
potentiellen Wirkung
Kriminalität
auf
die
sein,
daß
es f ü r
Praxis
heute
Theorie
und
einzelne
familiäre
Jedenfalls
der sollte
so viel e r k e n n b a r
die
kriminologische
wenig
sinnvoll
Störfaktoren in
singulare B e z i e h u n g
eine
Entstehung
ausüben w ü r d e n .
aus v o r s t e h e n d e n D a r l e g u n g e n geworden
Persön-
Rechtsbrechers
eine
ist,
lineare,
zur K r i m i n a l i t ä t zu setzen.
E s ist v i e l m e h r e r f o r d e r l i c h , die gegenseitige hängigkeit
der
persönlichkeit fassenden der
Beeinträchtigung des R e c h t s b r e c h e r s
Störung
Familie
zu
der
ganzen
berücksichtigen
Ab-
der
Gesamt-
von
der
um-
Psychodynamik und
in
einen
g r ö ß e r e n Z u s a m m e n h a n g m i t der B e h a n d l u n g des R e c h t s b r e c h e r s ( a u c h i n seiner, durch seine u n d m i t seiner F a m i l i e ) zu stellen. D a s kann indessen nur
geschehen,
wenn
suchungen der S t r a f t ä t e r —
Persönlichkeitsunterunter
Verwendung
Ehe und Familie — Erpressung psycho diagnostischer Verfahren — mit sorgfältigen Analysen ihrer Familiensituationen Hand in Hand gehen. Nur auf diese Weise wird das dynamische Zusammenwirken zwischen Persönlichkeitseigenschaften und familiären Umweltfaktoren bei der Entstehung und Behandlung der Kriminalität überhaupt erfaßt. Die bisherigen anglo-amerikanischen und deutschen Forschungsarbeiten über die Wechselwirkungen zwischen Kriminalität und Ehe und Familie, über die berichtet worden ist, können hierbei für eingehendere deutsche empirisch-kriminologische Untersuchungen als sog. „Pilot"-Studien und für die kriminologische Praxis als Orientierungsmittel wertvolle Hilfe leisten. Keineswegs ist es hingegen der Erforschung der Zusammenhänge zwischen Kriminalität und Ehe und Familie beim gegenwärtigen Stand kriminologischer Forschung dienlich, im Wege des „Modelldenkens" (R. König) „neue" Hypothesen und Modelle aufzustellen, die die empirisch-kriminologische Forschung nur mit zusätzlichen Vorurteilen und Spekulationen belasten würden, von denen sie sich zunächst mühsam erst wieder befreien müßte, um an ihre eigentliche Arbeit gehen zu können. Ein solches „Modelldenken", mit dem sich in der Vergangenheit die deutsche Kriminologie nur zu oft begnügt hat, würde die kriminologische Familienforschung also nicht nur nicht fördern, sondern geradezu verwirren. Was in der deutschen kriminologischen Familienforschung heute not tut, ist ein mit exakten empirischen Methoden gesichertes Tatsachenwissen auf Grund von deutschen repräsentativen Stichproben (verifizierenden Untersuchungen), auf dem sodann eine deutsche kriminologische Familientheorie aufbauen könnte. HANS JOACHIM SCHNEIDER
ERPRESSUNG I. STRAFRECHTLICHE FRAGEN 1. Die gesetzliche
Regelung
Erpressung begeht, wer einen anderen durch Anwendung bestimmter Zwangsmittel veranlaßt, sein eigenes oder fremdes Vermögen, über das er verfügen kann, zu schädigen, und dadurch sich selbst oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern sucht. Vom Raub, bei welchem der Täter fremdes Eigentum durch einen unmittelbaren Eingriff in Form einer Wegnahme schädigt, die auf Erlangen einer eigentümerähnlichen Stellung abzielt, unterscheidet die Erpressung sich als ein Dispositionsverbrechen dadurch, daß der Schaden vom Opfer selbst durch eine sogen. Vermögensverfügung herbeigeführt wird. Der für den Raub kennzeichnenden Wegnahme steht hier also gewissermaßen die Weggabe gegenüber, bei der 12·
179
die Vermögensverschiebung auf dem Willen des Opfers beruhen muß; allerdings ist dieser Wille nicht frei, weil er vom Erpresser durch Zwangsmittel motiviert worden ist, die jedoch ersichtlich nicht eine solche Intensität erreichen dürfen, daß man nur noch von einer Duldung der Wegnahme sprechen darf, bei der — wie ζ. B. in Fällen der vis absoluta — der Wille des Betroffenen nach Lage der Dinge überhaupt keine Rolle mehr spielt. Diese Natur des Dispositionsverbrechens teilt die Erpressung mit dem Betrug, der ebenfalls ein Vermögensdelikt verkörpert, bei welchem ein Vermögensschaden durch eine Vermögensverfügung des Opfers bewirkt wird, die vom Täter veranlaßt worden ist, der auf diese Weise sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen sucht. Unterschiedlich sind insoweit nur die Mittel; denn der Erpresser wendet Zwang an, um das Opfer zu einer Vermögensverfügung zu veranlassen, während der Betrüger sich zum gleichen Zwecke einer Täuschung bedient. Das Gesetz unterscheidet von dem in § 253 StGB geregelten Grundtatbestand der Erpressung lediglich im Hinblick auf die besondere Art der Zwangsmittel die schwere bzw. sogen, räuberische Erpressung im Sinne von § 255 StGB. Wird der Zwang in § 253 StGB als Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel beschrieben, so setzt § 255 StGB Gewalt gegen eine Person oder Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben voraus. Eine Drohung im Sinne von § 253 StGB liegt vor, wenn der Täter ein Übel in Aussicht stellt, das geeignet ist, die Willensbildung eines besonnenen, d. h. ζ. B. eines nicht besonders ängstlichen Menschen zu bestimmen, wobei — im Gegensatz zur bloßen Warnung — vorausgesetzt wird, daß der Erpresser zumindest behauptet, Einfluß auf den Eintritt des angedrohten Übels zu haben. Das umstrittene Zwangsmittel Gewalt deckt sich bei § 253 StGB, auch wenn man verlangt, daß sie vom Opfer körperlich als solche empfunden werden muß, im allgemeinen mit einer Drohung. Dagegen muß man bei der schweren Erpressung (§ 255 StGB) wohl derjenigen Ansicht zustimmen, die im Hinblick auf die hier besonders intensive Drohung verlangt, daß die Gewalt gegen die Person ebenfalls mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben verbunden ist. In beiden Fällen der Gewaltanwendung aber ist gerade im Gegensatz zum Raube, der ein typisches Gewaltdelikt darstellt, bei welchem die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben in Wahrheit nur eine Vorstufe der Gewalt verkörpert, zu beachten, daß das typische Zwangsmittel des Erpressers die Drohung ist; die Anwendung von Gewalt dient hier genau genommen nur dazu, der Drohung Nachdruck zu verleihen, hat letztlich also drohenden
Erpressung
180
Charakter, weil der Wille des Opfers nicht ausgeschaltet, sondern gefügig gemacht werden soll. Diese unterschiedliche Grundstruktur von Raub und Erpressung, die man häufig übersieht, wird gerade durch die Erkenntnisse der Kriminologie treffend beleuchtet. — Der Tatbestandskonstruktion nach ist die Erpressung bei wesentlich anderem Unrechtsgehalt ein Spezialfall der Nötigung (§ 240 StGB). Andererseits gibt es Straftatbestände, die sich ihrer Konstruktion nach auf die Erpressung beziehen, deren besonderer Unrechtsgehalt aber ein anderer ist wie ζ. B. der erpresserische Kindesraub (§239a StGB) oder sein soll wie der räuberische Angriff auf Kraftfahrer (§ 316 a StGB). 2. Die historische
Entwicklung
Historisch betrachtet, verkörpert die Erpressung einen verhältnismäßig modernen Deliktstypus, der strafrechtlich hierzulande erstmalig von der gemeinrechtlichen Doktrin des 18. Jahrhunderts erfaßt und erst im 19. Jahrhundert in etwa ausgeprägt wurde. Kriminologisch reichen die Wurzeln des Erpressertums allerdings sehr viel weiter zurück. So schuf denn auch das römische Recht — vermutlich bereits in der klassischen Zeit, d. h. alsbald nach der Zeitenwende — mit der concussio, einem crimen extraordinarium, zumindest einen Vorläufer des modernen Erpressungstatbestands. Das Recht des Prätor sah eine auf vierfachen Ersatz gehende zivile Strafklage, die actio quod metus causa, vor. Auch im germanischen Recht finden sich Anhaltspunkte dafür, daß Verhaltensweisen, die wir heute als Erpressung klassifizieren würden, strafrechtlich erfaßt worden sind. Dies geschah jedoch — anders als bei den Römern — nicht selbständig, sondern im Rahmen des damals weiter gefaßten Begriffes des Raubes, sofern die gewaltsame Wegnahme einer fremden Sache nicht überhaupt eine Form rechtmäßiger Fehde darstellte. Dabei ist zu bedenken, daß die Germanen den Raub gerade im Gegensatz zum heimlichen, schimpflichen Diebstahl als ein verhältnismäßig honoriges Verhalten werteten und deshalb weniger schwere Rechtsfolgen vorsahen, die nach der damals herrschenden Konzeption des Privatstrafrechts nur in Bußen bestanden, die an den Verletzten bzw. dessen Sippe zu leisten waren. Dieses Bild änderte sich erst mit dem für die weitere Strafrechtsentwicklung grundlegenden Durchbruch des peinlichen Strafrechts, das von einer öffentlich-rechtlichen Konzeption getragen wird. Der Raub, der weiterhin gewisse Formen der Erpressung umfaßte, wurde nunmehr eines der schwersten, todeswürdigen Verbrechen; denn an die Stelle der Bußen traten nunmehr die für das peinliche Recht zunächst typischen Lebens- und Leibesstrafen. Diese andere Wertung des Raubes hatte
weitreichende soziale und kriminalpolitische Hintergründe. Das wird auch bei den vom Raubbegriff damals erfaßten Erpressungen deutlich. Denn ganz offensichtlich setzt die für den Auffassungswandel kennzeichnende Landfriedensgesetzgebung des ausgehenden Mittelalters einschlägige Kriminalität von erheblichem Umfang voraus. Auch der Raubritter, der entgegen dem Zuge der Zeit am Hergebrachten festhielt bzw. festhalten mußte und so bei seinen Zeitgenossen in Verruf kam, wird sich nicht gar so selten erpresserischer Praktiken bedient haben, wenn wir an Wegezölle, Brückengeld oder Honorar für aufgezwungenes Schutzgeleit denken. Kriminalpolitisch dürfte für die Weite und Härte des damaligen Raubtatbestandes ausschlaggebend gewesen sein, daß dieser für die immer mächtiger werdenden Territorialherren ein vorzügliches Instrument verkörperte, um ihre Konzeption vom Strafrecht als einer staatlichen Aufgabe durchzusetzen und damit zugleich die Sicherheit auf den Landstraßen zu gewährleisten. So erklärt es sich ζ. B. auch, daß die Rezeption des römischen Rechts aus den Händen der italienischen Juristen des Mittelalters zumindest insoweit auf fruchtbaren Boden stieß, als der Raub dort das im Vergleich zum Diebstahl schwerere Delikt verkörperte. Sehr viel zurückhaltender war man, wie der ungleich weitere Raubbegriff zeigt, zunächst mit den tatbestandlichen Voraussetzungen. Dieses Bild zeigte auch noch Art. 126 der in den Jahren 1530 und 1532 auf den Reichstagen zu Augsburg und Regensburg beschlossenen Constitutio Criminalis Carolina, der ersten und auf Jahrhunderte hin einzigen reichsgesetzlichen Strafrechtskodifikation. Das Gesetz sprach nicht vom Raub, sondern vom Räuber als einem Verbrechertypus, wenn es bestimmte, daß „jeder boßhafftiger überwundener rauber" am Leben gestraft werden sollte. So bestand kaum ein Anlaß, bei erpresserischen Techniken nach Art. 105 CCC auf das subsidiär geltende kaiserliche Recht, d. h. auf das römische Recht mit der concussio, zurückzugreifen. Dies änderte sich erst in der späten gemeinrechtlichen Doktrin, als es gelungen war, des Räuberunwesens mehr und mehr Herr zu werden. Nunmehr machte sich in der Lehre das Bestreben geltend, den Raub — der römischrechtlichen rapina entsprechend —• auf die widerrechtliche Wegnahme einer Sache unter Anwendung von Gewalt gegen die Person zu beschränken. Deshalb war die Wissenschaft gezwungen, in anderen Fällen auf die in den Digesten geregelte concussio zurückzugreifen. Dies war strafrechtlich — aber eben nicht kriminologisch — die Geburtsstunde des modernen Erpressungstatbestands, der dann im 18. und 19. Jahrhundert von der Lehre und der Partikulargesetzgebung zu derjenigen Form entwickelt wurde, die er im § 253 StGB erhielt. 1943 wurde der Tatbestand neu
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Erpressung gefaßt und dabei einerseits im Hinblick auf die vom Opfer vorzunehmende Vermögensverfügung dem Betrug angenähert und andererseits hinsichtlich der Zwangsmittel auf die Nötigung ausgerichtet. Π. KRIMINOLOGIE Kriminologisch lassen sich u. E. vier Aspekte unterscheiden, die unterschiedliche Formen kriminologischer Betrachtung darstellen und als solche auch für die Kriminologie der Erpressung aufschlußreich erscheinen. A. Entwicklung und praktische Bedeutung Die Entwicklung der Erpressungskriminalität, die wir seit 1882 an Hand der Kriminalstatistik beurteilen können, zeigt bis zum ersten Weltkrieg, wenn wir von konjunkturellen Schwankungen absehen, kaum Besonderheiten. Erst nach dem Weltkriege kam es zu einer bemerkenswerten Divergenz von der Diebstahls- und Raubkriminalität. Zwar nahmen auch die Erpressungen zu; doch blieb die Zunahme deutlich hinter der des Raubes zurück, um erst im Jahre 1924 — d. h. mit Stabilisierung der Verhältnisse — weit über diesen hinauszuwachsen. Das Bild änderte sich wiederum in der Weltwirtschaftskrise, in welcher der Raub wieder stärker zunahm. Erst 1934 sank die Kriminalitätsziffer des Raubes wieder unter die der Erpressung. Ähnlich ist die Entwicklung nach dem zweiten Weltkriege verlaufen, wo allerdings eine starke strukturelle Zunahme der Raubkriminalität zu verzeichnen ist. Doch darf man eben deshalb nicht vorschnell auf einen Rückgang der Erpressungskriminalität schließen, obwohl deren Kriminalitätsziffer mit etwa 1,0 deutlich unter den Ziffern für die Zeit des Kaiserreiches liegt. Jedenfalls lehrt schon diese Betrachtung der Erpressungskriminalität als Massenerscheinung, daß wir es nicht mit einem ausgesprochenen Notdelikt zu tun haben, sondern es sich in einer großen Zahl von Fällen gewissermaßen um ein Wohlstandsdelikt handeln dürfte, das gerade eine intakte Gesellschaftsordnung und nicht zuletzt Währungsstabilität voraussetzt, weil das Ziel des Erpressers in aller Regel Bargeld ist; natürlich beeinflußt auch das Vorhandensein einer starken und funktionierenden Staatsgewalt das statistische Bild der Erpressungskriminalität. Rein zahlenmäßig betrachtet tritt die Erpressung allerdings gegenüber anderen Formen kriminellen Verhaltens weit zurück. So wurden in den Jahren 1954—1960 im Bundesgebiet durchschnittlich nur 300—400 Personen nach § 253 StGB wegen einfacher Erpressung verurteilt. Man darf aber dennoch die praktische Bedeutung der Erpressungskriminalität nicht unterschätzen bzw. angesichts der genannten Kriminalitäts-
ziffern optimistisch sein. Einmal sagen absolute Verurteilungszahlen — man denke etwa an den Mord — nichts über das kriminelle Gewicht einer Straftat. Zum anderen sind die Zahlen für die praktische Bedeutung, wenn man darunter die tatsächlich begangenen Gesetzesverstöße versteht, schon deshalb wenig repräsentativ, weil die Dunkelziffer bei der Erpressung besonders groß sein dürfte. Nur in verhältnismäßig wenigen Fällen kann man, wie wir noch sehen werden (vgl. III C), mit einer Anzeige rechnen. Und selbst in diesen wenigen Fällen haben die Strafverfolgungsbehörden mit ganz besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil die Erpressung — anders als der Raub — in der absoluten Mehrzahl der Fälle ein intellektuelles Verbrechen darstellt, das — häufig raffiniert ausgeführt — in einer geheimen und vom Täter bewußt anonym gestalteten Sphäre begangen wird. B. Erscheinungsformen (Kriminalphänomenologie) Wer eine Tattypologie der Erpressung erarbeiten will, die typische und für diese Art von Kriminalität aufschlußreiche Erscheinungsformen systematisch erfassen soll, erkennt sehr schnell, daß der für den Raub als Delikt mit gewissermaßen Initialzündung wesentliche Tatort ebenso unergiebig ist wie die strafrechtlich zu unterscheidenden Tatmittel Gewalt und Drohung, die kriminologisch sogar irreführend wären, weil — wie gesagt — typisches Tatmittel des Erpressers die Drohung ist. Wollen wir aber, wie es Aufgabe der Kriminalphänomenologie ist, die unterschiedliche Funktion typischer Formen der Erpressung im Leben unserer Gemeinschaft erfassen, so müssen wir stets von der Drohung ausgehen, die ggf. hinter einer vordergründigen Gewaltanwendung steht. Was nun die Art der demnach maßgebenden Drohung anlangt, so nimmt der Erpresser in der Mehrzahl der Fälle — vermutlich sind es um 75% — eine wirklich oder angeblich vom Opfer begangene, nicht allgemeiner bekannte Verfehlung zum Anlaß, um es durch Androhen der Preisgabe dieses Geheimnisses auszubeuten. Diesen Fällen, die wir die einer ausbeuterischen Erpressung nennen, steht eine kleinere Gruppe von Erscheinungsformen gegenüber, bei welcher wir von erpresserischer Bedrohung sprechen, weil der Täter hier durch Bedrohen des Opfers mit Gewalt- oder Willkürakten zum Zwecke der Erpressung erst die für dieses Verbrechen typische Zwangslage schaffen muß. 1. Ausbeuterische
Erpressungen
Bei den ausbeuterischen Erpressungen kommt es kriminologisch durchweg nicht entscheidend darauf an, ob dem Opfer durch die vom Täter in
182
Erpressung
Aussicht gestellte Indiskretion eine Strafverfolgung droht. Vielmehr baut der Erpresser, für den vielfach ein Einschalten der Strafverfolgungsbehörden mit beträchtlichem Risiko verbunden sein dürfte, im allgemeinen auf andere Konsequenzen, ζ. B. bei einem Ehebrecher darauf, daß Information der Ehefrau oder ihrer Verwandtschaft sehr viel unangenehmer empfundene Folgen für das Opfer haben würde. Deshalb erscheint es uns ratsam, obwohl im Einzelfalle natürlich einmal Überschneidungen vorkommen können, wenn ζ. B. einem Lehrer die Preisgabe sittlicher Verfehlungen mit Kindern angedroht wird, nach Art der Verfehlung zu gliedern, weil damit häufig zugleich der Hintergrund beleuchtet wird, auf dem die Drohung ihre zwingende Kraft entfalten soll. a) Die Mehrzahl der ausbeuterischen Erpressungen, Einzeluntersuchungen nennen Sätze von 40—60% aller Erpressungen, erfolgt auf s e x u e l l e m H i n t e r g r u n d . Der Erpresser sucht Verfehlungen seines Opfers in geschlechtlicher Hinsicht, die sich ungünstig auf dessen Familienleben oder allgemeines soziales Ansehen auswirken können, zu seinem Vorteil auszubeuten. Neben dem Ehebruch spielt hier vor allem homosexuelle Betätigung eine verhängnisvolle Rolle. Die Zahlen schwanken in den Einzeluntersuchungen natürlich sehr. Immerhin läßt sich wohl sagen, daß Ehebruch bzw. ehewidriges Verhalten in etwa 10—25% aller aufgeklärten Erpressungsfälle als Druckmittel verwendet werden, während homosexuelle Verfehlungen insoweit einen Satz von 12—20% ausmachen, wobei zu beachten ist, daß sie nicht gar so selten von Strichjungen als potentiellen Erpressern provoziert werden. Aber gerade hier ist zu bedenken, daß die Strafbarkeit nicht das Entscheidende ist, auch wenn Gegner des § 175 StGB immer wieder auf dieses Ausbeuten Homosexueller hinweisen; denn zumindest solange die Allgemeinheit derartige Verhaltensweisen mißbilligt, wird die Homosexualität vermutlich ein probates Mittel des Erpressers bleiben. Bei der ausbeuterischen Erpressung auf sexuellem Hintergrund ist aber auch an andere unzüchtige Verhaltensweisen zu denken. So wird auch sonst mit außerehelichem, angeblich meist folgenschwerem Geschlechtsverkehr erpreßt. Allein die Abtreibungen, die demnach auch hier eine Rolle spielen, stehen mit ö—13% an dritter Stelle aller bekannten Erpressungen. Ferner haben Erpresser sich ζ. B. Gelegenheit zu Aktaufnahmen vom Opfer verschafft und diese Fotos als Druckmittel verwendet. b) Der Erpresser beutet u. U. aber auch ein Verhalten seines Opfers aus, das sich auf b e r u f lichem H i n t e r g r u n d für dieses schädlich auswirken kann. Man hat hier Sätze von 10—16% aller Erpressungen ermittelt. Dies ist erklärlich,
weil bei entsprechender beruflicher Stellung des Opfers Steuerdelikte oder Korruption verhältnismäßig leicht als Druckmittel zur Hand zu sein pflegen. So wird besonders häufig Arbeitgebein von entlassenen Arbeitnehmern mit Anzeige von Steuerverfehlungen gedroht. Aber auch andere Straftaten oder anrüchige Praktiken, die geeignet sind, unlauteres Geschäftsgebaren oder mangelnde Vertrauenswürdigkeit darzutun, bieten, sofern die berufliche Existenz des Opfers davon abhängig ist, Handhaben für den Erpresser, der sich auf diese Weise billig eines Teilhabers entledigen oder sonst auf Kosten eines anderen Geschäftsmannes bereichern kann. c) Eine weitere Erscheinungsform der ausbeuterischen Erpressung erhält ihr Gepräge durch den p o l i t i s c h e n H i n t e r g r u n d . Nach Einzeluntersuchungen dürfte sie 8—10% aller bekannten Fälle umfassen, wobei allerdings zu beachten ist, daß die Bedeutung dieser Erscheinungsform zeitlich, ζ. B. unter abnormen politischen Bedingungen, sehr verschieden sein dürfte. Denn die Möglichkeiten der Androhung eines derartigen politischen Rufmordes, der entweder eine Betätigung des Opfers in diesem Bereich oder aber seine Existenz überhaupt unmöglich machen bzw. erheblich erschweren kann, sind naturgemäß sehr unterschiedlich. Handelt es sich einmal bei den Opfern vorwiegend um Politiker, so ist andererseits — bei politisch abnormen Lebensbedingungen — etwa an die traurigen Schicksale deutscher Juden nach 1933 oder für die Zeit nach 1945 an durch die NS-Zeit politisch belastete Personen zu denken, die das Opfer von Erpressern geworden sind. d) Natürlich gibt es auch Indiskretionen, die sich auf V e r f e h l u n g e n a n d e r e r Art beziehen, bei denen es dann wesentlich auf die drohende Strafe anzukommen pflegt. In normalen Zeiten spielen hier als Druckmittel des Erpressers vor allem der Meineid bzw. sonstige Aussagedelikte eine Rolle; daneben kommen Hehlerei und Steuerdelikte in Betracht, die nicht durch einen beruflichen Hintergrund gekennzeichnet sind. In Notzeiten sucht der Erpresser häufig Schwarzmarktgeschäfte oder andere Verstöße gegen Bewirtschaftungsvorschriften auszubeuten. 2. Erpresserische
Bedrohungen
Bei den erpresserischen Bedrohungen, bei denen der Täter nicht über das Druckmittel einer unbekannten Verfehlung verfügt, muß er selbst die Zwangslage schaffen, indem er seinem Opfer Gewalt- oder Willkürakte anderer Art als Preisgabe von Geheimnissen in Aussicht stellt. Diese Gruppe von Erscheinungsformen umfaßt 15—25% aller Erpressungen. a) Die B e d r o h u n g mit einer S t r a f t a t , durchweg die primitivste Form des Geschäftes
Erpressung mit der Furcht, bezieht sich überwiegend auf Gewalttaten, die sich entweder gegen das Opfer bzw. eine ihm besonders verbundene Person oder aber gegen diesen gehörende Sachwerte richten. Bei der Drohung gegen das Opfer selbst ist ζ. B. an einen Täter zu denken, der einen Taxifahrer mit vorgehaltener Pistole zwingt, eine weite Strecke zu fahren, um dann ohne Bezahlung verschwinden zu können. Bei der Bedrohung einer Person der Sympathie des Opfers ist kriminologisch u. a. auf den erpresserischen Kindesraub, das Kidnapping, hinzuweisen, bei welchem durch die Entführung eine Zwangslage geschaffen wird. Der bekannteste Fall dieser Art ist wohl die Entführung des Lindbergh-Babys im Jahre 1932; es wurden 50.000 Dollar gezahlt, obwohl das Kind bereits getötet war, um sich — wie üblich — der Sorge für seine Verwahrung bzw. eines lästigen Mitwissers zu entledigen. Die erpresserische Bedrohung mit einer Straftat kann aber auch Sachwerte betreffen. Ein typischer Fall dieser Art ist der mit einer Zahlungsaufforderung an den reichen Bauern verbundene „Brandbrief". b) Verhältnismäßig selten ist die B e d r o h u n g mit S e l b s t m o r d , weil der Erpresser hier eine Person der Sympathie des Opfers sein muß, wenn das Druckmittel Erfolg haben soll. Zuweilen aber verschaffen Söhne bzw. Töchter oder auch eine geliebte Frau — hier meist unter Hinweis auf eine wirkliche oder angebliche Schwangerschaft — sich auf diese Weise die gewünschten Barmittel. c) Sehr vielgestaltig — und oft hart an der Grenze zum Bereich des Strafbaren — liegt die erpresserische B e d r o h u n g mit w i r t s c h a f t l i c h e n N a c h t e i l e n . Einmal ist hier an wilde Streiks und zum anderen vor allem an wirtschaftliche Kampfmaßnahmen halbkrimineller Art zu denken, durch die das Opfer zu einer ungünstigen Veräußerung seines Geschäfts oder zu selbstmörderischen bzw. überaus ungünstigen Vertragsbedingungen gezwungen werden soll. In diesem Zusammenhange sei beispielsweise auf Kartellpraktiken wie Boykott und Diskriminierung hingewiesen. C. Ursachen (Kriminalätiologie) Bei der Erforschung der Ursachen kriminellen Verhaltens sind die kriminogenen Faktoren unabhängig von der simplifizierend wirkenden Anlage-Umwelt-Formel zu untersuchen, die zudem darüber hinwegtäuscht, daß der Mensch ungeachtet der durch Anlagen und Umwelt gesetzten Grenzen und eröffneten Möglichkeiten als Persönlichkeit und Träger eines eigenen Willens im Mittelpunkt der kriminologischen Forschung stehen muß. Dabei ist klar, daß es hier nur darum gehen kann, Faktorenkombinationen herauszuarbeiten, die für die Erpressung
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typisch sind. Die folgenden Erkenntnisse sind deshalb auch nur nach dem Gesetz der großen Zahl richtig und können bei der Beurteilung des Einzelfalles daher lediglich als Orientierungsmittel dienen. Mit diesen Vorbehalten läßt sich für Erpressungen folgendes feststellen: a) Was das G e s c h l e c h t anlangt, ist der Anteil weiblicher Verurteilter an der Erpressungskriminalität eher niedriger als der an der Gesamtkriminalität. Immerhin zeigen die einzelnen Erscheinungsformen insoweit bemerkenswerte Divergenzen; ζ. B. bieten sich für ausbeuterische Erpressungen auf sexuellem Hintergrund der Frau verhältnismäßig zahlreiche und günstige Möglichkeiten. b) Hinsichtlich des Lebensalters der Rechtsbrecher ist die Erpressung — im Gegensatz zum Raube — als typisches Altersdelikt anzusprechen. Zwei Drittel bis drei Viertel der Erpresser haben das 30. Lebensjahr bereits überschritten. Auch bei den jüngeren Tätern überwiegt bezeichnenderweise die Gruppe der 25- bis 30jährigen. Diese Altersschichtung erklärt sich nicht nur aus biologischen und psychologischen Gründen, sondern hängt überdies eng mit der sozialen Situation zusammen; vielfach bieten erst Positionen, die man in fortgeschrittenerem Lebensalter zu erreichen pflegt, Möglichkeiten zur ausbeuterischen Erpressung, ζ. B. im beruflichen oder politischen Leben. Jüngere Menschen, die sich als Erpresser betätigen, greifen auffallend häufig zur erpresserischen Bedrohung, die dann oft maßlos oder ersichtlich unsinnig ist. Natürlich gibt es jüngere Rechtsbrecher, etwa als Strichjungen, bei der ausbeuterischen Erpressung auf sexuellem Hintergrund. c) Über I n t e l l i g e n z u n d E r z i e h u n g der Täter läßt sich nach dem bisher vorliegenden Material wenig sagen.. Vermutlich wird der Erpresser mehr als andere Straftäter insoweit dem Bevölkerungsdurchschnitt entsprechen, weil beispielsweise die zahlenmäßig überwiegenden ausbeuterischen Erpressungen nicht selten ein entsprechendes Maß an intellektuellen Fähigkeiten voraussetzen. Hier könnte eine Analyse der Erpresserbriefe sich als wertvoll erweisen. d) Für die soziale Lage läßt sich hinsichtlich des Familienstandes wohl nichts sagen, was nicht im wesentlichen mit dem Alter zu erklären wäre. Wesentlich interessanter dürften die Zusammenhänge zwischen Beruf und Kriminalität sein, die aber auch hier bisher noch wenig erforscht sind. Bedenkt man jedoch, daß schon Berufswahl und Berufsausübung eine gewisse Affinität zur Erpressung dartun oder bewirken könnten und jedenfalls gewisse Berufe Erpressern besondere Chancen bieten, so erscheint es bemerkenswert, daß sich unter den Erpressern in beträchtlicher Zahl wirkliche oder angebliche Beamte finden, die ζ. B. bei Verfehlungen gegen entsprechendes
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Honorar ein Auge zudrücken wollen. — Bezüglich der wirtschaftlichen Lage teilt die Erpressung im wesentlichen das Schicksal der Vermögensdelikte. Immerhin wirkt sich hier, wie wir gesehen haben, die allgemeine wirtschaftliche Not weniger als bei Diebstahl oder Raub aus. Vielmehr weist die Erpressung insoweit Züge eines Wohlstandsdelikts auf, weshalb eine schlechte wirtschaftliche Lage des Täters, die natürlich vorliegen kann, jedenfalls nicht als typisch anzusehen ist. e) Das soziale V e r h a l t e n der Erpresser läßt sich einstweilen nur an Hand der Vorstrafen beurteilen. Die Belastung ist hier mit rund 50% Vorbestraften unter den verurteilten Tätern sehr viel größer als bei der Durchschnittskriminalität. Zudem ist anzunehmen, daß gerade der wiederholt erfolgreiche Erpresser statistisch vielfach nicht erfaßt wird. Bemerkenswert ist bei den rückfälligen Erpressern auch die hohe Zahl der Vorstrafen. Natürlich werden zwischen den einzelnen Erscheinungsformen Unterschiede bestehen; der Anteil dürfte bei ausbeuterischen Erpressungen auf beruflichem oder politischem Hintergrund vermutlich kleiner, bei sexuellem Hintergrund warhscheinlich aber noch größer als der Durchschnitt sein. Was die Art der früheren Kriminalität anlangt, so steht an erster Stelle der Betrug; ihm folgen Urkundenfälschung und Unterschlagung. f) Bei der M o t i v a t i o n als der zur Tat treibenden psychischen Konstellation, d. h. im allgemeinen einem Motivbündel, steht naturgemäß die Gewinnsucht in ihren vielfältigen Formen — wie Habgier, Genußsucht, Verschwendungssucht bis zur Arbeitsscheu, deren Folgen auf diese Weise kompensiert werden sollen — im Vordergrund. Echte wirtschaftliche Not ist demgegenüber bei Erpressern verhältnismäßig selten das überragende Motiv. Häufiger findet man — allein oder in Verbindung mit Gewinnsucht —· Geltungsdrang, während Motive der emotionalen Gruppe wie Hass, Rachsucht, Eifersucht und dergl. zurückstehen, weil nicht der fremde Schaden, sondern der eigene Vorteil Triebfeder des erpresserischen Verhaltens zu sein pflegt. D. Erpressertypen (Tätertypologie)
Da wir im Bereiche der Tätertypologie, deren Ziel es ist, kriminologisch aufschlußreiche Persönlichkeitstypen herauszuarbeiten, sowohl Typologien anderer Wissenschaftsdisziplinen als auch die üblichen kriminalpolitischen Typologien, die in methodisch bedenklicher Weise mit der Anlage-Umwelt-Formel arbeiten oder Gesichtspunkte der Kriminalphänomenologie bzw. Kriminalätiologie verwenden, ablehnen, bleibt nur der Unterschied von Rückfalls- und Durchschnittstätern.
1.
Rückfallstäter
Rückfallstäter sind solche Rechtsbrecher, die durch ihren Lebenswandel und namentlich durch kriminologisch gesehen einschlägige Taten eine besondere Anfälligkeit für kriminelles Verhalten aufweisen. Dieses ist bei der Erpressung nach dem oben bei den Vorstrafen Gesagten in besonderem Maße der Fall. Wir meinen, daß man ungeachtet der statistisch erfaßten Rechtsbrecher sogar etwa 50—66% der Erpresser zur Gruppe der Rückfallstäter rechnen muß, innerhalb der wiederum drei Typen zu unterscheiden sind. Ganz überwiegend dürfte es sich um a n t i soziale R ü c k f a l l s t ä t e r handeln, einen Tätertyp, der durch aktive Gemeinschaftsfeindlichkeit gekennzeichnet wird. Hierzu zählen außer den Schwersterpressern, die nur oder wesentlich von den abgenötigten Summen leben, auch viele Rechtsbrecher, die ausbeuterische Erpressungen mit sexuellem Hintergrund begehen. Vermutlich stellt dieser Tätertyp rund drei Viertel der Rückfallstäter und damit etwa 40—50% aller Erpresser. — Selten dürfte dagegen bei der Erpressung der asoziale R ü c k f a l l s t ä t e r sein, der passiv und mehr lästig als gefährlich, d. h. im Grunde gemeinschaftsuntauglich ist. Gerade weil er im Gegensatz zum antisozialen Täter vielfach bereits einen äußerlich auffälligen Lebenswandel führt, fehlt es ihm an für Erpressungen geeigneten Positionen. Auch mangelt es ihm im allgemeinen an der hier vielfach erforderlichen kriminellen Energie. — Vielleicht etwas häufiger, zahlenmäßig jedoch dem Lauf der Zeiten entsprechend schwankend sind sozial hilflose R ü c k f a l l s t ä t e r ; hier handelt es sich um Menschen, die nicht wirklich über ihr Leben entscheiden konnten, die vielmehr durch ein schweres Schicksal — Krieg, Flucht, Körperschaden oder andere Ereignisse — aus der Lebensbahn geworfen sind und sich nicht aus eigener Kraft zurechtfinden, weshalb sie wiederholt zu strafbaren Handlungen greifen. 2.
Durchschnittstäter
Kleiner als die Gruppe der Rückfallstäter dürfte mit rund 40% die der Durchschnittstätcr sein. Das sind diejenigen Täter, bei denen sich im Gegensatz zu den Rückfallstätern nicht sagen läßt, daß die von ihnen begangene Straftat persönlichkeitssymptomatisch ist, die sich also von der Tatsache der Begehung einer strafbaren Handlung abgesehen nicht vom Durchschnitt der Bevölkerung unterscheiden. Dabei scheidet der E n t w i c k l u n g s t ä t e r als ein besonderer, dieser Gruppe zuzuordnender Tätertyp bei Erpressungen nahezu völlig aus, weil es ja nicht auf das Lebensalter, sondern darauf ankommt, ob die in der Entwicklung begriffene Persönlichkeit für die Tat
Erpressung symptomatisch ist. Bei der Erpressung als Altersdelikt kommt der Anteil dieses Tätertyps vermutlich nicht über 3—5% der Fälle hinaus. — Etwas, aber nicht sehr viel häufiger dürfte unter den Erpressern der Typ des K o n f l i k t s t ä t e r s anzutreffen sein, der sich nur durch die besondere Konfliktssituation vom Durchschnittsmenschen unterscheidet. — Über das nach allem schätzungsweise verbleibende Drittel der Erpresser, die e i g e n t l i c h e n D u r c h s c h n i t t s t ä t e r , läßt sich, da es sich kriminologisch gesehen um einen Restbegriff handelt, tätertypologisch nur sagen, daß wir es mit Täterpersönlichkeiten zu tun haben, die als solche überhaupt nicht vom Durchschnittsmenschen abweichen. III. KRIMINALISTIK Wie die Kriminologie dem sachlichen Strafrecht, so korrespondiert die Kriminalistik als nichtjuristische Disziplin der Lehre vom Strafverfahrensrecht im Gesamtgebiet der Kriminalwissenschaften. Aufgabe der Kriminalistik ist es, die unmittelbare — und zwar sowohl repressive als auch präventive — Bekämpfung der Kriminalität durch die Strafverfolgungsorgane in der Lebenswirklichkeit zu erforschen. Dabei erscheinen im Bereich der Erpressung drei Zweige der Kriminalistik als besonders aufschlußreich.
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Fälle handeln, in denen der Erpresser Gewalt gegen Personen anwendet, was am ehesten bei erpresserischer Bedrohung zutreffen dürfte. In allen diesen Fällen entspricht die Arbeitsweise des Erpressers im wesentlichen der des Räubers, weshalb es kriminalistisch in erster Linie auf die für die Gewaltanwendung typischen, auswertbaren Personen- und Sachspuren ankommt. Selbstverständlich kann auch bei ausbeuterischen Erpressungen oder in Fällen erpresserischer Bedrohung, in denen keine Gewalt angewendet wird, der Täter dem Opfer bekannt sein. Ein derart dreistes Vorgehen wird man aber — wie gesagt — nur in denjenigen, seltenen Fällen beobachten können, in denen der Erpresser glaubt, sich auf eine für sein Opfer besonders unangenehme Zwangslage verlassen zu können. Das trifft u. U. bei der ausbeuterischen Erpressung auf sexuellem Hintergrund zu, wenn der Zuhälter einer Dirne bzw. der Komplize der beteiligten Frau als angeblicher Vater bzw. Ehemann in Erscheinung tritt, um seine Empörung bzw. Eifersucht durch einen entsprechend dosierten Geldbetrag besänftigen zu lassen. Aber auch bei anderen Verfehlungen kann der Rechtsbrecher über eine derart starke Stellung verfügen, wie ζ. B. Beamte einer Polizeistreife, die angetrunkene Kraftfahrer durch Drohung mit einer Strafanzeige erpressen.
A. Technik der Erpresser Fragen wir nach der Technik der Erpresser, so fragen wir nach der Tattypologie in der Kriminalistik. Bewegen wir uns demnach auch im Bereiche der Kriminalphänomenologie, so wird doch gerade hier der unterschiedliche Standpunkt der beiden Disziplinen besonders deutlich. Kommt es für den Kriminologen darauf an, sich mit Hilfe der Tattypologie einen Überblick über die unterschiedliche Funktion typischer Formen kriminellen Verhaltens in der sozialen Wirklichkeit zu verschaffen, so steht für den Kriminalisten zunächst einmal die Tatausführung als solche im Vordergrund des Interesses, d. h. ihre handwerkliche Seite, der sogen, modus operandi. Denn nur derjenige, der die vielfältigen erpresserischen Techniken kennt, vermag derartige Straftaten aufzuklären bzw. zu verhindern. Hier aber kommt es nicht so sehr auf die kriminologisch bedeutsame Unterscheidung von ausbeuterischer Erpressung und erpresserischer Bedrohung als vielmehr darauf an, ob wir es mit einem bekannten oder einem anonymen Erpresser zu tun haben. 1. Bekannte
Erpresser
Bekannt ist derjenige Erpresser, dessen Persönlichkeit das Opfer kennt oder ohne weiteres zu identifizieren vermag. Dieses ist bei Erpressungen verhältnismäßig selten der Fall. Überwiegend dürfte es sich dabei um die wenigen
2. Anonyme
Erpresser
In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle jedoch haben wir es mit einem anonymen Erpresser zu tun, d. h. einem Täter, dessen Persönlichkeit unbekannt ist und der sich bemüht, anonym zu bleiben. Für die Technik dieser Erpresser ist typisch, auf welche Weise der Erpresser seine Anonymität zu wahren trachtet, weil eine Kommunikation mit dem Opfer sich bei der Erpressung als einem Dispositionsverbrechen naturgemäß nicht umgehen läßt. Selbstverständlich kann der Erpresser im Laufe einer Tat die für den modus operandi kennzeichnenden Kommunikationsmittel wechseln. In den meisten Fällen bedient der anonyme Erpresser sich der P o s t , wobei auf postlagernde Sendungen, die vom Erpresser selbst oder von einem Boten abgeholt werden, und auf Postnachsendeaufträge hinzuweisen ist. Die Verwendung von Brieftauben ist atypisch und wohl nur als kriminalistisches Kuriosum zu erwähnen; sie führte übrigens nicht zum Erfolge, weil den Brieftauben, die das Geld befördern sollten, im betreffenden Falle ein Hubschrauber zum heimatlichen Schlage und damit zum Täter folgte. — Andere Erpresser weisen das Opfer mehr oder weniger kompliziert an, Nachrichten bzw. das gewünschte Geld an einem b e s t i m m t e n O r t zu hinterlegen. Dabei werden örtlichkeiten
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Erpressung
zweifacher Art bevorzugt. Einmal handelt es sich um Orte in einsamer, abgelegener Gegend, die Strafverfolgungsbeamten möglichst wenig Gelegenheit zum Verbergen, dem Täter jedoch Möglichkeit zur Beobachtung geben soll. Wird ausnahmsweise einmal ein abgelegener Ort gewählt, der unübersichtlich ist, ζ. B. ein Friedhof, so zeugt das vielfach von Romantik und wenig Überlegung, was auf unerfahrene, insbesondere junge Täter hinweisen dürfte. Andererseits kann die Wahl des Erpressers aber auch auf solche Orte fallen, die — wie ζ. B. Bahnhöfe, Haltestellen, Jahrmärkte, Sportveranstaltungen — sehr belebt sind, weil diese es dem Täter ermöglichen, unauffällig zu beobachten und leicht unterzutauchen. — Bei den erwähnten Erpressertechniken und auch sonst kann der Täter sich eines B o t e n bedienen, der sehr häufig — ζ. B. als Kind ·— nicht einmal selbst den Erpresser zu identifizieren vermag. Hier kann der Erpresser es sogar wagen, die Sendung im Hause oder Geschäft des Opfers abholen zu lassen. Natürlich kann der Erpresser es dem Opfer zur Auflage machen, sich bei der Hinterlegung eines Boten zu bedienen, was aber wiederum ähnliche Vorsichtsmaßnahmen wie bei der nunmehr zu behandelnden persönlichen Entgegennahme durch den Erpresser erfordert. — Die p e r s ö n l i c h e E n t g e g e n n a h m e der Nachricht bzw. Beute durch den Erpresser ist in diesen Fällen naturgemäß deshalb schwierig, weil der Täter seine Anonymität wahren will. Der Erpresser wird daher versuchen, sich durch die Dunkelheit, eine Verkleidung oder auf andere Weise zu tarnen. So hatte z.B. bei der Entführung des LindberghBabys der Vertrauensmann des Vaters am Gitterzaun eines Friedhofes vorbeizugehen, durch den an einer vorher nicht bekannten Stelle der Erpresser seine Hand hindurchsteckte. B. Kriminaltechnische Möglichkeiten
Nach diesen Techniken der Erpresser richten sich die kriminaltechnischen Möglichkeiten bei der Aufklärung derartiger Straftaten. Unter Kriminaltechnik verstehen wir denjenigen Zweig der Kriminalistik, der sich speziell mit den Hilfsmitteln, Methoden und Verfahren zur Aufklärung von Straftaten an Hand des Sachbeweises oder doch zumindest naturwissenschaftlich auswertbarer Spuren befaßt. Beim bekannten Erpresser bedarf es in aller Regel keiner kriminaltechnischen Untersuchung oder hat eine solche bestenfalls bestätigenden Charakter. Hier ergeben sich für die Erpressung also keine speziellen Probleme. Anders liegt die Sache jedoch beim anonymen Erpresser. Hier ist der Kriminaltechniker in erster Linie auf die genannten Kommunikationsmittel und auf Gegenstände aus der Hand des
Erpressers angewiesen. Hinsichtlich der schriftlichen Mitteilungen ist hier zunächst einmal auf die allgemeinen Untersuchungsmethoden hinzuweisen wie Auswertung von Fingerabdrücken, physikalische oder chemische Analyse der Schriftträger oder der Schreibmittel, wobei hier heute die Chromatographie führend ist. Zu diesen allgemeinen treten besondere Untersuchungsmethoden, ζ. B. bei Handschrift das Gutachten eines Schriftsachverständigen und bei Maschinenschrift eine Prüfung mit dem Ziel, die benutzte Maschine und den Schreiber zu ermitteln. Auch die zuweilen von Erpressern benutzte Klebeschrift, bei der aus Zeitungen und dergl. Worte bzw. Buchstaben ausgeschnitten und in solcher Reihenfolge auf das Papier geklebt werden, daß sie den gewünschten Sinn ergeben, bietet gute kriminaltechnische Möglichkeiten. — Sehr schwierig sind demgegenüber mündliche Mitteilungen zu sichern und auszuwerten. Praktisch besteht hierzu nur eine Möglichkeit, wenn es gelingt, die Stimme des Anrufers auf Tonband zu konservieren, wie es im Stuttgarter Fall Tillmann (1958) möglich war. — Zuweilen kann man auch Gegenstände kriminaltechnisch untersuchen, die •— wie schriftliche Aufzeichnungen, Druckfahnen oder Fotos — aus der Hand des Erpressers stammen. C. Zur Kriminaltaktik bei Erpressungen
Die Möglichkeiten der Aufklärung und Verhinderung von Erpressungen müssen im größeren Rahmen der Kriminaltaktik gesehen werden. Dieser Zweig der Kriminalistik befaßt sich mit der Frage nach dem taktisch richtigen, d. h. dem technisch, psychologisch und ökonomisch zweckmäßigen Vorgehen bei der Aufklärung und Verhinderung von Straftaten. Die Erkenntnisse der Kriminaltaktik, die sich u. a. auch auf den persönlichen Beweis erstrecken, sollen uns also zeigen, in welcher Weise die verfügbaren Hilfsmittel, Methoden und Verfahren anzuwenden sind, um schnell und sicher zum Ziel zu gelangen. Besonderheiten ergeben sich insoweit wiederum nur beim anonymen Erpresser. Hier ist es im Interesse der Aufklärung bzw. Verhinderung einer Erpressung wichtig, daß der Kontakt zwischen Opfer und Täter, der diesen in Sicherheit zu wiegen pflegt, nicht abreißen darf. Prozessuale Zwangsmittel wie Durchsuchung oder Festnahme sollten grundsätzlich erst dann angewendet werden, wenn hinreichend sicher ist, daß es sich bei der verdächtigen Person wirklich um den Täter und nicht nur um einen Mittelsmann handelt. Im übrigen erfordern im Rahmen der Fahndung selbstverständlich die geschilderten besonderen Techniken des Erpressers auch besondere Maßnahmen. Es gibt hier eine ganze Reihe von Erfahrungen, die man ζ. B. bei der
Erpressung Benutzung des Postweges bzw. bei der Hinterlegung an bestimmtem Ort beachten sollte. Erfolgt die Kommunikation zwischen Täter und Opfer per Fernsprecher, so ist eine Überwachung zu erwägen, bei der man sich technischer oder manueller Fangeinrichtungen bedienen kann, um den Anschluß festzustellen, von dem aus der Anruf erfolgt. In anderen Fällen ist an mechanische oder fototechnische Fallen bzw. an chemische Fangmittel zu denken. Besonders problematisch ist — wie bereits angedeutet — das Ergreifen des Erpressers auf frischer Tat, ζ. B. bei persönlicher Entgegennahme einer Nachricht oder der Beute. Das Schwergewicht der Erpressung, die typischerweise durch Drohung begangen wird, liegt nach allem ersichtlich nicht auf technischer, sondern auf psychologischer Ebene, was namentlich dann zu beachten ist, wenn man einen noch ausstehenden Erfolg des Erpressers verhindern will. Ist — wie in Fällen erpresserischer Bedrohung — die Erpressung nicht vom Opfer veranlaßt worden, so unterbleibt eine Anzeige regelmäßig wohl nur dann, wenn der Betroffene die angedrohte Gewalt besonders fürchtet und meint, sich auch mit Hilfe der Strafverfolgungsorgane nicht schützen zu können. Das kann beispielsweise schon bei einer Drohung mit Mord oder Brand der Fall sein, ist jedoch besonders typisch für den erpresserischen Menschenraub, das Kidnapping; hier befürchten die Angehörigen, daß durch Einschalten der Polizei die Herausgabe des gesunden Kindes vereitelt würde, obwohl die Chancen dafür auch bei Zahlung des Lösegeldes erfahrungsgemäß gering sind. — Ganz anders ist dagegen die kriminaltaktische Situation bei der ausbeuterischen Erpressung, wo die eigene Verfehlung, deren Preisgabe angedroht worden ist, das Opfer in aller Regel so zu lähmen pflegt, daß eine Anzeige als absolute Ausnahme angesehen werden muß. Nicht gar so selten erstattet das Opfer erst dann Anzeige, wenn es, da der Erpresser den Bogen überspannt, nicht mehr aus noch ein weiß in seiner Verzweiflung; und dennoch hört man immer wieder, daß Erpreßte selbst unter diesen Umständen den Tod einer Anzeige vorziehen. Verständlich ist die geschilderte Lage bei Straftaten, weil das Opfer bei einer Anzeige gegen den Erpresser befürchten muß, selbst strafrechtlich belangt zu werden. § 154 c StPO, der dem Opfer mit der Möglichkeit einer Einstellung dieses Verfahrens den Weg zur Anzeige zu erleichtern sucht, hat in der Praxis nicht die gewünschten Erfolge zeitigen können. Das liegt zumindest zum Teil an der gesetzlichen Regelung selbst, weil die Frage, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, von einer Ermessensentscheidung des zuständigen Staatsanwalts abhängt. Auf sie kann der Erpreßte sich einmal deshalb nicht verlassen, weil es keine
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Rechtskraft gibt, das Verfahren also jederzeit wiederaufgenommen werden kann. Zum anderen aber ist die für das Ermessen vorgesehene Begrenzung, daß nicht wegen der Schwere der Tat des Opfers eine Sühne unerläßlich sein darf, überaus unsicher; denn man wird sich häufig nicht recht vorstellen können, wie der zuständige Staatsanwalt über diesen Punkt denkt. Könnte man diesen Schwächen des § 154c StPO auch dadurch abhelfen, daß man eine zwingende Regelung vorsieht und der Zusage des Staatsanwalts bindende Wirkung beilegt, so bliebe doch auch bei einem strenger formulierten Abwägungsprinzip, auf das man im Hinblick auf einen möglichen Mißbrauch dieses Rechtsinstituts wohl nicht wird verzichten können, immer die Angst des Opfers vor Bloßstellung. Diese schwierige kriminaltaktische Problematik wird sich von der Gesetzgebung vermutlich nicht befriedigend bewältigen lassen, weil man dem Betroffenen weder Geheimhaltung des Verfahrens gegen den Erpresser noch einen Ausschluß der Öffentlichkeit wird zusichern können, um seine Verfehlungen nicht durch jenes Verfahren bekannt werden zu lassen. Das beste kriminaltaktische Rezept wäre natürlich das, daß jedermann sich vor Verfehlungen hüten möge, die augenscheinlich das wirksamste Instrument in den Händen der Erpresser darstellen. Aber wenn man beispielsweise an Steuerdelikte eines Geschäftsmannes, Bestechlichkeit eines Beamten oder an denjenigen denkt, der sich auf unsittliche Beziehungen einläßt, und dabei den üblichen Optimismus dieser potentiellen Opfer eines Erpressers in Rechnung stellt, so wird einem bei nüchternem Blick klar, daß der wohlgemeinte Rat wahrscheinlich nur in sehr begrenztem Umfange Erpressungen wird vorbeugen können und wir es daher auch künftig hier mit einer kriminaltaktisch besonders schwierigen Materie zu tun haben werden. Die Erkenntnisse von Kriminologie und Kriminalistik beweisen u. E. eindeutig, daß gerade die Problematik der Erpressung sicherlich nicht allein oder wesentlich mit juristischen Mitteln zu bewältigen ist. Selbst eine an Hand dieser Erkenntnisse verbesserte gesetzliche Regelung könnte als solche jedenfalls nicht eine kriminalpolitisch richtige Handhabung des Gesetzes garantieren. Wird diese schon dadurch kompliziert, daß eine ausschließlich materiellrechtliche Lösung sich, wie §154c StPO unmißverständlich zeigt, vermutlich nicht wird erzielen lassen, sondern man auch hier die Einheit von sachlichem Strafrecht und Strafprozeßrecht wird beachten müssen, so wird der Jurist ohne die Erkenntnisse von Kriminologie und Kriminalistik im Bereiche der Erpressungskriminalität wahrscheinlich immer in einem Halbdunkel umhertappen. Es ist
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Erpressung — Ethnische Minderheiten
jedoch ebenfalls nicht zu verkennen, daß sowohl der Kriminologe als auch der Kriminalist hier vor schwierigste Probleme gestellt werden. Nach allem aber bietet die Erpressung als einer der Prototypen der White-Collar-Kriminalität uns ersichtlich Handhaben, um in diese sonst zuweilen kaum faßbare zentrale Problematik der modernen Kriminalpolitik eindringen zu können. Daß die Materie so überaus kompliziert ist, kann nach allem nicht mehr überraschen. Ebenso wie die zwischenmenschlichen Beziehungen in der zivilisierten Massengesellschaft immer komplizierter geworden sind, so greift auch der Erpresser als ein Typ des modernen Schwerverbrechers zu immer mehr verfeinerten Techniken, die sich auf individual- und sozialpsychologische Erfahrungen stützen. Monographien R. H e i n d l : Der Berufsverbrecher. 7. Aufl. 1929. F. B r a u n t m e i e r : Die Erpressung in kriminalsoziologischer Betrachtung, mit besonderer Berücksichtigung des Landgerichtsbezirks Bielefeld 1925—1933. 1936. StrafrAbh. 388. R. S c h u s t e r : Die Erpressungskriminalität im Bezirk des Landgerichts Wuppertal 1927—1937. 1940. KrimEinzelf. 8. O. K l e i n e : Die Erpressungskriminalität im Bezirk des Landgerichts Duisburg in den Jahren 1934—1944. Diss. Bonn 1948. F. W. P l ü c k h a h n : Erscheinungsformen und Strafzumessung bei der Erpressung, Nötigung und Bedrohung. Diss. Freiburg 1. Br. 1948. K. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. 1949. H.-U. W i l l i g m a n n : Die Erpressungskrlminalltät In der Nachkriegszeit und ihre Bekämpfung. Eine Untersuchung auf kriminalsoziologischer Grundlage. Dies. Freiburg i. Br. 1953. H. v. H e n t i g : Zur Psychologie der Einzeldelikte, IV. Die Erpressung. 1959. Zeitschriften und Sammelwerkaufsätze B. S t r e w e : Erpressung (Chantage, concussio). HwbKrim 1. Aufl. 1. 1933. S. 321 ff. H. S c h n e i c k e r t : Die Entführung des Lindbergh-Kindes und der Mordprozeß gegen Hauptmann. Arch Krim. 107. S. 125ff„ 108. S. 27ff., 90ff., 109. S. 18ff., 88ff., 134ff., 110. S. 39ff. H. N e u k i r c h n e r / F r e y : Der Stuttgarter Fall Tillmann. Krim. 1958. S. 398ff., 439f., 501ff., 1959. S. 24ff. F. G e e r d s : Zur Kriminologie von Kaub und Erpressung. Die Neue Polizei. 1962. S. 178ff. FRIEDRICH GEERDS
ETHNISCHE MINDERHEITEN Der Sprachgebrauch der Tagespolitik bezeichnet als ethnische Minderheiten vornehmlich Bevölkerungsteile, die durch Herkunft, Sprache, Religion, Kulturstufe oder andere Eigenheiten vom Landesüblichen und Vorherrschenden abweichen. Diese Minderheiten können innerhalb der Staatsgrenzen geschlossene Gebiete innehaben oder aber zerstreut unter der Majorität wohnen. In Deutschland bieten für den ersten Fall u. a. die Sorben der Lausitz ein aktuelles, die Wenden oder Polaben des Lüneburger Wendlandes ein historisches Beispiel; für den zweiten Fall lassen
sich die Staatsbürger mosaischen Glaubens oder die gewöhnlich Zigeuner benannten Staatsangehörigen heranziehen. Der Grad der Eigenständigkeit und der Geschlossenheit, d. h. des inneren und äußeren Zusammenhangs einer Minorität, wird wesentlich mitbestimmt durch ihren Isolations- oder Assimilationswillen, der vielfach wieder eine Reaktion auf die ablehnende oder positive Haltung der Majorität darstellt. Überhaupt wird die Taktik und Strategie der Minoritäten durch die jeweilige Minderheitenpolitik der herrschenden Majorität bestimmt. Da diese auch das Recht setzt, vermag sie die soziale Situation der Minderheiten weitestgehend zu formen, und zwar um so einschneidender und negativer, je stärker deren Lebensart und Glauben dem Üblichen und Herrschenden widerspricht. So waren ζ. B. die bereits erwähnten Wenden, d. h. in diesem Fall alle Angehörigen slawischer Gruppen im deutschen Sprachbereich bis in das späteste Mittelalter, ja teilweise bis in das 18. Jh. hinein von sämtlichen Handwerksberufen ausgeschlossen. Für Juden galten diese Berufsbeschränkungen bis fast zur Mitte des 19. Jhs., gegen Zigeunerblütige werden sie wohl noch heute stillschweigend, wennschon ohne gesetzliche Grundlage, angewendet. Die Ursachen für die Herabwertung und -Würdigung von Minoritäten sind schwer zu ergründen. Fast durchgehende entziehen sie sich dem rationalen Betrachten; den relativ größten Aufschluß hat noch die Psychologie erbracht. Höchstwahrscheinlich erzeugt allein schon das Anderssein, die Andersartigkeit, das Abweichen vom Üblichen der Minderheit eine tiefe Aversion in der Majorität, die uniform ist und der daher die Uniformität auch als Bestätigung von Regel und Ordnung gilt. Die Gleichsetzung von Anderssein und Schlechtsein ist in der Psychologie der Masse gegeben; das Beurteilen des Andersseins als vermeintlichen Ausflusses eines Willensaktes, als vermuteten demonstrativen Ausdrucks der Opposition reizt zusätzlich die Gefühle der Majorität. Als Höhepunkte der Gegensätzlichkeit können jene Auslösungen gelten, die unter Verkennen von Ursache und Wirkung das Eliminieren und Liquidieren der Minorität durch die herrschende Mehrheit anstreben. Dabei ist zu beachten, daß die Majorität meistens trotz emotionaler und spontaner Züge des Geschehens diesem zumindest nachträglich einen legalen Unterbau, eine juristische Begründung zu geben trachtet. Bei Kenntnis der historischen Vergangenheit der Minderheiten, insbesondere ihrer sozialen Lage, ergeben sich Überlegungen, die für das Abwägen ihrer gegenwärtigen Situation unerläßlich und fruchtbar sind. Betrachtet man ζ. B. kriminalstatistisch die gegen die deutschen Juden vom Mittelalter bis zur neuesten Zeit vorwiegend
Ethnische Minderheiten erhobenen Beschuldigungen, dann schälen sich drei stereotype Hauptanklagen heraus: Wucher, Brunnenvergiftung und Ritualmord. Zum Vorwurf des Wuchers braucht hier nicht viel gesagt zu werden: es ist hinreichend bekannt, daß die kirchliche und weltliche Gesetzgebung der Majorität das Judentum seit dem frühesten Mittelalter auf Geldwesen und Handel beschränkte. Ohne auf die Frage der jeweiligen Zinsfußbildung einzugehen, ist nur zu bemerken, daß durch die organisch erwachsene Monopolisierung des Geldwesens in jüdischen Händen selbstverständlich auch alles damit zusammenhängende Mißbräuchliche statistisch nur auf der jüdischen Sollseite erscheinen kann, d. h. daß echte Statistik stets des hier fehlenden vergleichbaren Gegenparts bedarf. Die Anklage, durch Vergiften der öffentlichen Brunnen vorsätzlich Epidemien hervorgerufen zu haben, braucht heutzutage substantiell überhaupt nicht mehr erörtert zu werden. Jedoch ist sie insofern interessant, als sie immer wieder nur von der Majorität gegen die Minorität erhoben worden ist, obwohl der letzteren entsprechend der auch für sie geltenden mittelalterlichen Mentalität die gleiche Anklage gegen die Mehrheit sicher gelegentlich auch angebracht und möglich erschienen wäre. Das erhärtet den Satz, daß die Mehrheit nicht nur den Rechtsgang bestimmt, sondern während geraumer Zeit auch das Geschichtsbild fälschend bestimmen kann: pseudohistorisch und gleichfalls pseudostatistisch steht einer Vielzahl jüdischer Brunnenvergiftungen nicht ein Fall durch einen Nichtjuden gegenüber, während es faktisch selbstverständlich auch keinen Fall jüdischer Brunnenvergiftung gegeben hat. Obwohl der Ritualmordbeschuldigung weit mehr die mittelalterliche Denkweise anhaftet als der Brunnenvergiftungsanklage, ist sie bis in die allerjüngste Zeit immer wieder von politisierten Polizei- und Justizbehörden für die psychologische Vorbereitung antisemitischer Aktionen benutzt worden, so ζ. B. im zaristischen Rußland und im kaiserlichen Deutschland. Traurige Berühmtheit errang der Fall Ernst Winter, der 1900—1902 von Könitz in Westpreußen aus scharfe Schlaglichter auf die Polizei und Justiz lenkenden Hintermänner warf und 131 Staatsbürger mosaischen Glaubens zum Fortzug aus Könitz veranlaßte. Es zeugt für die geringe Variationsbreite der Volksphantasie, daß sie den ehemals nur den Juden zugeschriebenen Kinderraub späterhin stereotyp auch den Zigeunern anhängte, wenn auch mit einem bemerkenswerten Unterschied: im Fall der jüdischen Minderheit hatte sich die Majorität wenigstens noch um ein nach ihrer Ansicht plausibles Motiv für den Kinderraub bemüht und es im rituellen Schlachten, Blutabzapfen u. dgl. gefunden. Bei den Zigeunern ersparte man sich diese geistige Mühe und sta-
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tuierte schlicht und einfach als Dogma, daß sie Kinder raubten. In diesem Glauben störte auch der naheliegende Einwand nicht, daß die Zigeuner meistens kaum ihre eigenen zahlreichen Kinder zu ernähren vermöchten und mithin keinen Grund hätten, sich noch zusätzlich mit fremden Kindern zu belasten. Hans Gross, der mit so vielen Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen erfolgreich aufgeräumt hat, ist es auch zu verdanken, wenn der zigeunerische Kinderdiebstahl heutzutage unter den nicht mehr zugkräftigen Zeitungsenten rangiert. Daß Gross die Zigeuner bei weitem nachsichtiger beurteilt hat, als es etwa seitens des 1899 bei der Polizeidirektion München gegründeten Zigeuner-Nachrichten-Dienstes geschehen ist, erklärt sich unschwer durch seine dienstlichen Erfahrungen im zigeunerreichen Österreich-Ungarn. Außerdem aber war er ein profunder Kenner der Geschichte, Psyche und Lebensweise der Zigeuner, was ihn vor schiefen Urteilen über diese so merkwürdige ethnische Minderheit schützte. Das hat die Zigeuner allerdings nicht davor bewahrt, daß die von Gross für fabelhaft und lächerlich erklärte alte Beschuldigung, sie wären Menschenfresser, noch in den zwanziger Jahren allen Ernstes von einem tschechoslowakischen Staatsanwalt erhoben wurde. Neueste Forschungen haben das Wesen des damals groß aufgezogenen Prozesses als eines auf das Sensationsbedürfnis der Asphaltpresse gezielten Schauprozesses hervorgehoben, der die tschechoslowakische Öffentlichkeit von innenund außenpolitischen Schwierigkeiten der Regierung ablenken sollte. Im übrigen hätte jeder Zigeunerforscher und -kenner dem Gericht eröffnen können, daß den Zigeunern aller Länder und jeglicher Bildungsstufe eine abergläubische Scheu vor allem, was mit dem Tod zusammenhängt, zu eigen ist, d. h. daß ethno- und psychologisch der Anklage des Kannibalismus selbst die geringste Glaubwürdigkeit mangelte. Wie sehr zurückhaltend jede kriminologische Betrachtung der ethnischen Minderheiten sein muß und zu welchen Fehlschlüssen auch die vermeintlich objektive Grundlage der Kriminalstatistik führt, wird sich bereits nach dem Dargelegten ermessen lassen. Zur Illustration jedoch noch einige Ausführungen vom historischen Blickpunkt aus. Die Zigeuner, deren große von Südosteuropa ausgehende Wanderbewegung auf Mittel- und Westeuropa zu seit dem Jahre 1416, wo sie ζ. B. in Kronstadt in Siebenbürgen auftauchten, recht wohl verfolgbar ist, galten im 15. Jh. durchaus nicht für kriminell. Man faßte sie als Pilger, als Wallfahrer auf — der Begriff des Dauernomadentums war dem Mittel- und Westeuropäer selbstverständlich völlig fremd — und akzeptierte ihre Art und Eigenart. Markant wurden ihre Besonderheiten erst, als in der 1. Hälfte des 16. Jhs. durch die Glaubensspaltung in
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Ethnische Minderheiten
Deutschland Pilgerzüge und Wallfahrten fast völlig von den Straßen verschwanden. Fremdartig, störend und schließlich unleidlich erschienen die wandernden Fremdlinge den deutschen Obrigkeiten dann stets in dem Grade, in dem der behördliche Absolutismus zunahm. Je mehr sie Objekt von ausdrücklich gegen sie und gegen ihre Lebensweise gerichteten Gesetzen wurden, desto mehr und desto häufiger mußten sie nun auch zu Gesetzesbrechern werden. Wenn man die 1905 veröffentlichten „Bestimmungen über die Handhabung der Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner in Bayern" liest, so gewinnt man den peinlichen Eindruck einer Magna Charta der Polizei- und Justizbehörden zur willkürlichen Behandlung einer ethnischen Minderheit, verspürt jedoch nicht einen Deut des Wissens und der Erkenntnisse ζ. B. von Hans Gross. Da übrigens die Bestimmungen auch gegen die sogenannten nach Zigeunerart umherziehenden Personen gerichtet waren, d. h. gegen Nichtzigeuner, sei nur am Rande bemerkt, daß in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg und besonders in der Inflationszeit dieser Kreis ungleich größer war als die Schar echter Zigeuner, von der er jedoch kriminalstatistisch kaum oder nur unvollkommen getrennt gehalten wurde. In gewissem Sinn eine Parallelerscheinung bietet die Westwanderung russischer Staatsbürger jüdischen Glaubens, die während und nach dem ersten Weltkrieg aus dem Bereich des deutschen Oberbefehlshabers Ost nach Deutschland einsetzte. Die Hintergründe dieser Bevölkerngsverschiebung, die historisch nur eine Rückwanderung darstellte, interessieren hier nicht. Einer ernsthaften Untersuchung des Phänomens wich leider auch die Weimarer Republik aus, obwohl sie damit der politisch mißbräucldichen Propaganda gewisser Kreise mit der angeblich besonders starken Kriminalität der sogenannten Ostjuden manches von ihrer Wirksamkeit genommen hätte. Tatsächlich beschränkte sich der vermeintliche hohe Kriminalitätsanteil der Zuwanderer im wesentlichen auf Paß- und Devisenvergehen, d. h. auf Vergehen, die damals in der besonderen Situation des ostjüdischen Elements begründet und faktisch einfach nicht zu vermeiden waren. Die merkwürdige Haltung der Reichsregierung und ihrer Justizorgane gründete sich teilweise auf die Gewißheit, daß völkerrechtlich damals der Gesamtheit der Zuwanderer die Rechte einer ethnischen Minderheit niemals zugebilligt wären. Je stärker sich allmählich die völkerrechtlichen Begriffe der nationalen Minderheit, des Selbstbestimmungsrechts usw. herausbildeten und Gemeineigentum demokratischer Systeme wurden, um so anachronistischer wirkte allmählich die von intoleranten und chauvinistischen Staatswesen krampfhaft aufrechterhaltene These
von der ethnischen und moralischen Minderwertigkeit ihrer Minoritäten. Aus diesem Grunde sind alle älteren Kriminalstatistiken, die ethnisch oder gar konfessionell aufgegliedert sind, mit größtem Mißtrauen zu betrachten, da sie ihrer Anlage nach grundsätzlich den Beweis für die überdurchschnittliche Kriminalität der Minoritätsgruppe als Zielsetzung haben. Außerdem ist bei der manchmal leider nicht vermeidbaren Heranziehung solchen Materials strikt zu beachten, daß darin vielfach durch Delikte, die mit dem im Minoritätenkampf nicht vermeidbaren und von der herrschenden Majorität als Hochoder Landesverrat angesehenen Komplex oft verquickt sind — es sei hier nur an Sprengstoffanschläge u. dgl. erinnert —, eine auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbare Verzerrung des statistischen Bildes eintritt. Ohne jeden wissenschaftlichen Wert sind selbstverständlich willkürliche Wertskalen, wie sie der deutschen Kriminologie seit 1933 als angeblich objektive Ergebnisse von sogenannten Rasseforschern dargeboten wurden. Obwohl jeder nur einigermaßen Urteilsfähige das Wahnwitzige eines Dogmas beurteilen konnte, das ζ. B. Juden und Zigeuner insgesamt zu erbbedingt Kriminellen stempelte, leisteten die deutschen Polizeiund Justizorgane dieser Hekatomben von Menschenleben in Europa verschlingenden Geistesverirrung ihre volle Unterstützung. Leider ist die damals verbreitete geistige Infektion, die Recht und Gesetz durch nackte Willkür ersetzte, noch heute in kleinen Rezidiven spürbar. Ihre Auswirkungen aber haben erneut ethnische Minderheiten geschaffen, denn letztlich handelt es sich um solche bei den vorerst in Europa und nachgehende in fast allen Erdteilen zerstreuten· Emigrantengruppen und -grüppchen. Die kriminologische Bedeutung dieser zeitlich jüngsten Gruppen steht insofern weit über derjenigen der älteren und sozusagen traditionellen Minoritäten, als ihre Angehörigen meistens sozial und wirtschaftlich deklassiert sind. Dadurch aber bilden sie ein potentielles Reservoir der am Rande oder jenseits der gesetzlichen Ordnung Lebenden. Die relative Geschlossenheit der Gruppen macht sie andererseits zu bevorzugten Infiltrations- und Unterwanderungsobjekten des Berufsverbrechertums, das darin durch Solidarität ausgezeichnete und auch durchorganisierte Tarnmöglichkeiten findet. D. h., daß die primär an sich indifferenten ethnischen Minderheiten schließlich sekundär unter ungünstigen Umständen berechtigt ins Blickfeld der Kriminologie rücken können. Trotzdem und nochmals ist aber vor einer Überbewertung ethnisch aufgegliederter Statistiken zu warnen und dafür einer vom Soziologischen ausgehenden und die historische Entwicklung jeweils berücksichtigenden Betrachtung das Wort zu reden. Es gibt ζ. B. zu denken,
Ethnische Minderheiten — Ethnologische Forschungen daß in den skandinavischen Ländern die Zigeunerkriminalität unter dem Landesdurchschnitt liegt oder daß etwa die armenischen Minoritäten, deren Angehörige noch vor zwei Menschenaltem ziemlich allgemein als recht kriminell galten, heute absolut unauffällig und sozial eingepaßt sind. Beide Tatsachen sind selbstverständlich durch weitestgehenden Verzicht auf ethnische Eigenheiten in der Lebens- und Erwerbsweise bedingt. Das spricht für jene Thesen, die eine nach Berufs- und Einkommensgruppen aufgegliederte Kriminalstatistik für allein berechtigt und angebracht halten. Daß nach dieser Statistik etwa auch die Negerkriminalität in den USA oder gar in der Südafrikanischen Union sich wesentlich anders darstellen würde, als es manchen hartnäckigen Vertretern rassenethnisch orientierter Kriminologie erwünscht ist, darf als sicher angenommen werden, wie ja denn überhaupt die vergleichende Kriminologie sich grundsätzlich weit mehr und enger an die Soziologie als an die Geographie und Ethnologie anlehnen sollte. SIEGMUND A. WOLF
ETHNOLOGISCHE FORSCHUNGEN Homo homini lupus: dieser Gedanke des Thomas Hobbes, wonach im „Naturzustand" der Menschheit ein Krieg aller gegen alle geherrscht haoe, klingt bis in die Hypothese Sigmund Freuds über die „Urhorde" nach, in welcher angeblich ein „Hordenvater" alle Frauen für sich beanspruchte und dafür von seinen Söhnen erschlagen wurde. „Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich . . . Die Totenmahlzeit, vielleicht das erste Fest der Menschheit, wäre die Wiederholung und die Gedenkfeier dieser denkwürdigen, verbrecherischen Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion." Mord und Inzest, meint Freud (Totem und Tabu. 1913. Kap. 4), seien die „beiden einzigen Verbrechen . . . , welche die primitiven Gesellschaften bekümmerten." Von solchen Spekulationen hat die empirische Verbrechensforschung der Ethnologie sich längst gelöst. Ihr Weg führte von entwicklungs- und kulturgeschichtlichen Gesamtdarstellungen des Verbrechens und der Strafe bei Naturvölkern zur vergleichenden Systematik und zur monographischen Analyse krimineller Konflikte bei einzelnen Völkerschaften. Bis in die neueste Zeit wurden diese Forschungen allerdings meist unter strafrechtlichen Gesichtspunkten betrieben. Während man sich aber fiüher gewöhnlich damit begnügte, abstrakte Formulierungen von Rechtsnormen — einschließlich der Straf- und
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Prozeßnormen — in „primitiven" Gesellschaften zu verzeichnen, wurde neuerdings die Beobachtung der konkreten Reaktionen auf Rechtsverletzungen zum methodischen Prinzip der ethnologischen Rechtsforschung erhoben. Nicht Verstöße gegen Normen, sondern soziale Konflikte, die sie verursachenden Situationen und Motivationen sowie die Störungen des Gleichgewichts der sozialen Beziehungen, die sie auslösen, bilden immer mehr den „Bezugsrahmen", in dem aggressive Verhaltensweisen aller Art, darunter auch Vergehen und Verbrechen, in außereuropäischen Gesellschaften gesehen werden. A. Gesamtdarstellungen von Verbrechen und Strafe bei Naturvölkern 1.
Enlmcklungsgeschichtlich
a) E v o l u t i o n i s t i s c h . Die ethnologische Verbrechens· und Strafrechtsforschung folgte den methodischen Richtungen, die die allgemeine Ethnologie einschlug. So wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. Strafe und Verbrechen wie alle kulturellen und sozialen Verhältnisse unter dem Aspekt ihrer universalgeschichtlichen „Entwicklung" betrachtet. Diese Entwicklung glaubte man rekonstruieren zu können, indem man die bei verschiedensten Völkern beobachteten Erscheinungen „richtig" aneinanderreihte. Dabei wurde vorausgesetzt, daß alle menschlichen Gesellschaften stufenweise in der gleichen Richtung „Fortschritte" machten. Dieses Verfahren der evolutionistischen Rekonstruktion wandte der holländische Gelehrte Steinmetz in seinen „Ethnologischen Studien zur ersten Entwicklung der Strafe" (1894) an. In diesem monumentalen Werk versuchte er, die Strafe bei primitiven Völkern aus der Rache abzuleiten, die angeblich mehrere entwicklungsgeschichtliche Stadien von der „völlig ungerichteten Rache" über die „Blut- oder Gruppenrache" bis zur „staatlichen Strafe" durchlief. Ähnlich meinte Hartland, daß zur Schlichtung von Blutrachefehden zwischen Verwandtschaftsgruppen sich allmählich eine Schiedsgerichtsbarkeit herausgebildet habe: „Die Übergabe des Rechts auf Rache [an diese Autorität] ist ein Triumph für das Recht und ein aufwärts führender Schritt zur Zivilisation" (1924). Eine extrem evolutionistische Auffassung der Geschichte des Verbrechens und Strafrechts vertritt auch Diamond (1935, 1951). Nach ihm repräsentieren die heutigen primitiven Völker verschiedene Stufen (stages) in der Rechtsentwicklung, die „untrennbar mit dem Fortschritt dieser Völker verbunden" sei und sich eindeutig nach dem Stande ihrer materiell-technischen Entwicklung beurteilen lasse. Die Entwicklung führte gradlinig von den primitivsten Sammlern über zwei Stufen der Ackerbauer zu den Hirten-
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Ethnologische Forschungen
Völkern und den „Frühen Zivilisationen". Jeder Stufe ordnet Diamond bestimmte Verbrechen und Straftatbestände zu, welche sich mit fortschreitender Zivilisation vermehrt haben sollen. Besonders sucht Diamond nachzuweisen, daß bereits auf den primitivsten Kulturstufen zwischen „Verbrechen und zivilem Unrecht" unterschieden worden sei; beide Auffassungen gingen erst gegen E n d e der Rechtsentwicklung ineinander über, als in der Zivilisationsphase zivile Vergehen immer mehr als kriminelle Handlungen gegen Rechtsgüter der Gesamtheit angesehen wurden. Ein „rudimentäres Strafrecht" habe es schon in der Agrikulturphase gegeben, in welcher die Öffentlichkeit insgesamt auf Verbrechen wie „Zauberei, Inzest und Bestialität" reagierte. Dagegen wurden Vergehen gegen einzelne Personen, wie Totschlag, Körperverletzung, Ehebruch und Diebstahl als private Angelegenheiten aufgefaßt und ausschließlich zwischen den betroffenen Individuen oder Familien durch Racheakte oder — nach Vermehrung des Besitzes — durch Vermögensbußen (Komposition) vergolten. Allerdings trugen die Sanktionen dieses „Zivilrechts" nach Diamond nicht nur „kompensatorischen", sondern auch „strafenden" Charakter. Insofern ist es also fraglich, ob bei primitiven Völkern so scharf zwischen „civil" und „criminal wrongs" unterschieden werden kann, wie Diamond annimmt. An den größtenteils spekulativen evolutionistischen Rekonstruktionsversuchen wird der Zwiespalt deutlich, in dem sich die ethnologische Rechtsforschung befindet: entweder werden unsere eigenen Kategorien kritiklos auf fremde Verhältnisse angewandt, oder es wird umgekehrt vermutet, daß diese Verhältnisse um so „primitiver" seien, je weniger sie mit unseren Kategorien übereinstimmen. Beide Apriorismen erschweren die Annäherung an die geschichtliche Wirklichkeit. b) K u l t u r h i s t o r i s c h . Gegenüber den vorgefaßten Entwicklungsschemata der Evolutionisten begriffen die kulturhistorisch orientierten Ethnologen jeden Kulturtypus als einen besonderen Zweig der universalgeschichtlichen Entwicklung. Dementsprechend wurden auch die bei verschiedenen Völkerschaften beobachteten Verbrechen und Strafen nicht mehr als notwendige Durchgangsphasen einer allenthalben einheitlich verlaufenden Entwicklung verstanden, sondern als eigenständige Rechtsformen, die von der geschichtlichen Besonderheit des jeweiligen „Kulturkreises" abhängen. Am deutlichsten hat dies der Rechtsethnologe Hermann Trimborn (1931, 1950) ausgesprochen. In zahlreichen Untersuchungen, besonders über die Rechtsverhältnisse in den altamerikanischen Hochkulturen (vgl. unten C ld), versuchte er, die kulturgeschichtliche Abfolge verschiedener
Rechtsauffassungen festzustellen. Der „älteste erschließbare Rechtszustand" bei den primitiven Sammler- und Jägervölkern lasse sich folgendermaßen kennzeichnen: 1. In Fällen, in denen die Gesamtheit auf magische Weise geschädigt wird, wie vor allem durch Zauberei und Inzestvergehen, erfolgt bereits auf dieser Kulturstufe eine „kollektive Reaktion" der Hordengemeinschaft. 2. Die Mehrzahl der Rechtsbrüche wird jedoch vom Geschädigten selbst oder seinen Angehörigen gesühnt, meist durch blutige Racheakte. 3. Diese knüpfen meist „an die äußere Verwirklichung eines Schadens" an, „während psychologische Unterscheidungen zwar nicht unbekannt, aber meistens doch unentwickelt sind und gar nicht oder doch geringer veranschlagt werden." 4. Weder die „Ausübung der Rache noch die Haftung für den Schaden" werden „streng persönlich" aufgefaßt. Vielmehr genügt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, „um zur Vergeltung zu berechtigen oder gar zu verpflichten" bzw. „um solidarisch für den Schaden zu haften". — Um ein Straf-Recht handelt es sich nach Trimborn bei diesen Racheakten einzelner insofern, als diese „in Ermangelung eigener Organe des öffentlichen Willens . . . mit der Vergeltung betraut" werden, wobei sie sich „bei der Ausübung ihrer Rache der Billigung des allgemeinen Rechtsbewußtseins erfreuen." Erst in der Phase des Bodenbaus und der Viehzucht änderten sich diese Zustände, indem die Besitzverhältnisse sich differenzierten, Vermögen gebildet wurden (besonders an Viehherden) und Zahlungsmittel aufkamen. Es „tritt nun ein neues strafrechtliches Moment auf den Plan: es ist der Gedanke der Komposition oder Buße"; die körperliche Strafe wird mehr und mehr durch Vermögenshingabe abgelöst. Den Rechtszustand in der Phase der „frühen Hochkultur" charakterisiert Trimborn vor allem durch die Anfänge einer „arbeitsteiligen Organisation der öffentlichen Gewalt", die die Strafe als eine den privaten Interessen übergeordnete Angelegenheit an sich zieht. Der „private" Schadensersatzanspruch wird von der „öffentlichen" Strafe getrennt. Letztere wird als Abschreckungsmittel, vor allem im Sinne der Generalprävention, aufgefaßt und somit psychologisch motiviert. Der früher vorherrschende Gesichtspunkt der Schadensabwehr tritt ebenso zurück wie das Prinzip der solidarischen Haftung. Neben dem äußeren wird zunehmend ein innerer Tatbestand berücksichtigt: „ . . . es entwickelt sich in allen Hochkulturen der Schuldbegriff. Bestraft wird, wenigstens der Tendenz nach, nurmehr die bewußte und gewollte Missetat, während früherhin vielfach auch der unfreiwillige und unbewußte Rechtsbruch Vergeltung fand." Um die subjektive Schuld festzustellen, bilden sich im vom Herrscher oder seinen Staatsorganen
Ethnologische Forschungen (Beamten) durchgeführten Strafverfahren bestimmte Beweisregeln heraus, vor allem die Zeugenaussage und das Geständnis des Schuldigen, welches häufig durch Folterungen herbeigeführt wird. Die Strafen nehmen entsprechend ihrem Abschreckungszwecke einen drakonisch strengen Zug an (Todes- und Verstümmelungsstrafen nach dem alten Prinzip der Talion; daneben aber auch Geldstrafen als Fortführung der Kompostion; Ehrenstrafen entsprechend der ständischen Gliederung usw.) (Trimborn. 1950). In ähnliche Phasen teilt Thurnwald (1939) die Entwicklungsgeschichte des Verbrechens und der Strafe ein, wobei er allerdings in manchen Einzelheiten andere Auffassungen vertritt. Die Ursprünge des Rechts sucht auch er bei den „Wildbeutem" (Sammler- und Jägervölker), deren Rechtsverhältnisse nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit geregelt seien: „Das Recht beginnt daher beim Vertrag, die Rechtsverletzung beim Vertragsbruch. Der Vertrag wird . . . Bestandteil der Weltordnung, daher heilig. Der Vertragsbruch wird als Bruch der Weltordnung, daher verdammenswert empfunden." Die Blutrache zwischen den selbständigen Familien und Sippen erfüllt nach Thurnwald als Vergeltungsmaßnahme die Funktion eines Strafrechts, das streng genommen in diesen kleinen Gruppen ohne übergeordnete Autorität fehlt. Böser Zauber, Sexualvergehen und Meidungsübertretungen werden häufig aber auch durch übernatürliche Mächte gesühnt. Bei ungeschichteten Bodenbauern und Hirtenvölkern vermehrt sich augenfällig die Zahl derVerbrechenstatbestände, entsprechend der reicheren Ausgestaltung ihrer Kulturen. Die Sühnung von Totschlag und Diebstahl wird nach wie vor „der hergebrachten Rache der Familien" anheimgestellt. Auch Thurnwald hebt die wachsende Bedeutung der Vermögensbußen hervor, die die Blutrache mehr und mehr ablösen. Das Verfahrensrecht bleibt schwach entwickelt; immerhin kommt es bei vielen Stämmen zu Verhandlungen zwischen den Familienhäuptern, die nach einer „konkreten Kasuistik" urteilen. „Untersuchungen und sorgfältige Ermittlungen eines Falles in unserem Sinne sind diesem Bewußtseinsstadium unbekannt." In „gegliederten und überschichteten Gemeinwesen", die etwa Trimborns Phase der „früheren Hochkultur" entsprechen, bleiben nach Thurnwald Straftaten lange Zeit ebenfalls Angelegenheit der betroffenen Familien, zwischen denen die Blutrache fortbesteht. Zugleich gewinnen aber die Delikte gegen die privilegierte herrschende Schicht an Bedeutung. „Von .Strafe' kann nur beim Auftreten einer gerichtlichen Autorität die Rede sein, welche eine Züchtigung oder Leistung an die Obrigkeit als Vertretung des Gemeinwesens zu verhängen und zu vollziehen vermag. Die 13
HdK, 2. Aufl., Bd. I
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Strafe erscheint als Vergeltung der Gemeinschaft." Selbst in den voll entfalteten „archaischen" Hochkulturen unterscheidet man nach Thurnwald noch nicht deutlich zwischen dem Zivilund dem Strafrecht. Anders als Trimborn und Thurnwald hebt Julius Lips die regionalen Unterschiede zwischen den Völkerschaften der „wildbeuterischen" Phase stärker hervor. Während bei den meisten Sammler- und Jägervölkern die Gemeinschaft auf Verbrechen wie die Verletzung des Gruppengebietes, Mord und Entführung von Frauen solidarisch reagiere, bestehe bei den arktischen Jägervölkern eine stärker individualistische Tendenz, und dementsprechend nehme die Öffentlichkeit häufig die Rolle des neutralen Zuschauers bei Konflikten ein. Gemeinschaftlich werde nur gegen unverbesserliche Störenfriede eingeschritten, wobei aber auch der Vollzug der „Strafe" meist einem einzelnen überlassen bleibe. Bei den sogenannten Erntevölkern (spezialisierte Sammler) gelte die Grenzüberschreitung des Gebietes der Lokalgruppen nicht mehr als todeswürdiges Verbrechen, da der Verkehr zwischen ihnen intensiviert wird. Mit dem Häuptlingstum der totemistischen Clane bilde sich auch ein Asyl- und Taburecht heraus. Lips weist ebenso wie Thurnwald darauf hin, daß in den primitiven Bodenbaugesellschaften (ζ. B. in West-Afrika, Melanesien) die überregional organisierten Geheimbünde eine Art von Strafjustiz ausüben. Zugleich entwickelt sich in diesen Gesellschaften, besonders in Afrika, ein Prozeßrecht, das vom Rat der Häuptlinge und Ältesten in oft stundenlangen Verhandlungen („Palavern") ausgeübt wird. 2.
Systematisch
Neben den evolutionistischen und kulturhistorischen Rekonstruktionsversuchen einer universalen Entwicklungsgeschichte von Verbrechen und Strafe gibt es bisher nur wenige vergleichende Gesamtdarstellungen dieses Problemkreises (vgl. unten C 2). Eine eingehende Systematik der Rechtsbrüche und Ausgleichsakte nahm Post vor, wobei er völlig unhistorisch Verbrechen und Rechtsbräuche aus den verschiedensten primitiven und hochkulturellen Verhältnissen zusammenstellte und verglich. Dieser Versuch muß heute nicht nur wegen erheblicher Materiallücken als veraltet gelten, sondern vor allem auch, weil Post seine Systematik nach den Kategorien unseres europäischen Strafrechts aufbaute. Bemerkenswert bleibt immerhin, daß er die große Variationsbreite primitiver Verbrechens- und Strafauffassungen erkannte und sie als Ergebnis geschichtlicher Wandlungen interpretierte.
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Ethnologische Forschungen
In neuerer Zeit suchte Thurnwald in seinem großen Werke über „Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts" (1934) zu allgemeinen Feststellungen über Auffassungen, Formen und Bedeutungen rechtlicher Konflikte in primitiven und archaischen Kulturen zu gelangen. Er verglich dazu systematisch eine Fülle von ethnographischen Beobachtungen über die „Blutrache", die „Missetat und ihre Bestrafung" sowie über den „Rechtsstreit" bei den verschiedensten Völkern. Die Blutrache bildet nach Thurnwald „nicht nur den historischen Ausgangspunkt für das Strafrecht, sondern sie ist auch der Ausdruck eines ursprünglichen Gefühls für Recht und Moral, sie stellt Gleichgewicht und Billigkeit unter den Beteiligten her". Sie werde zwar durch Vergeltungssucht, Angst und Mißtrauen zwischen den Verwandtschaftsgruppen motiviert, trage aber „den Keim einer Regelung in sich", der sich später zu geregelten Formen beispielsweise des Zweikampfes entfaltete, soweit die Blutrache nicht überhaupt von der Komposition abgelöst oder von der politischen Autorität eingedämmt und unterdrückt wurde. Die Auffassung des Verbrechens bei den einzelnen Völkerschaften hängt von ihren Wertsytemen ab. Vieles, was wir ohne weiteres als „Verbrechen" ansehen, gilt daher in primitiven Gesellschaften durchaus nicht als solches und umgekehrt (vgl. ζ. B. die verschiedene Bewertung der Zauberei). Dementsprechend wird auch die Schwere verschiedener Missetaten ganz verschieden beurteilt. Im einzelnen untersucht Thurnwald daraufhin bei primitiven Völkern verschiedene „Missetaten gegen die soziale Ordnung", besonders Zauberei, Inzestvergehen und Diebstahl. Bei den Ausgleichsakten müsse man zwischen Buße, Sühne und Strafe unterscheiden. Die Buße entspringt nach Thurnwald vor allem der Bereitwilligkeit des Täters, sich nach begangener Missetat „zu demütigen und alles zu tun, was zur Versöhnung stimmen kann". Auch die Vermögensbuße ist daher oft von demütigen Gutmachungsgesten begleitet, die allerdings mehr und mehr von rein wirtschaftlichen Leistungen abgelöst werden. Das vielerorts gebräuchliche Wergeid wird nach Thurnwald meist nicht entrichtet, um einen Totschlag als solchen abzugelten, sondern es soll „nach vollzogener Blutrache zur beiderseitigen Anerkennung des Friedens verhelfen". Bei der Kompositionenleistung spielen soziale Unterschiede eine erhebliche Rolle. In den archaischen und frühhochkulturellen Verhältnissen fällt meist dem Vermittler zwischen beiden Parteien als Autoritätsperson ein Anteil an der Buße zu, aus dem sich die Geldstrafe entwickelte. „Von großer Bedeutung für den Umschwung der Anschauung, welche die Missetat nicht als
eine private Angelegenheit der gekränkten Partei ansieht, sondern das öffentliche Interesse betont und die Tat zum Delikt stempelt, ist das Hereinspielen religiöser Auffassungen in das soziale Leben." Die Buße wandelt sich dann oft zur Sühne, die „den Anwälten und Vertretern der übermenschlichen Verwaltungen zufällt: Zauberern, Priestern und Heiligtümern". Auf primitiveren Kulturstufen werden Verletzungen der als heilig aufgefaßten Weltordnung und der in sie einbeschlossenen Gesellschaftsordnung vielfach „automatisch" durch übernatürliche Mächte gesühnt. „Der Sühne wird durch die Menschen allerdings häufig nachgeholfen..." Eine bedeutsame Sanktion besteht bei vielen primitiven und archaischen Völkern auch in der „Friedlosigkeit", durch die der Rechtsbrecher innerlich und äußerlich aus seinem Lebensverband ausgestoßen wird und seinen sozialen, aber auch religiösen Schutz verliert. Umgekehrt stellt das Asyl ein wichtiges „Korrektiv" der primitiven Rechtspflege dar, das sich an die numinose Kraft von Orten und Autoritätspersonen knüpft. Übernatürliche Mächte werden bei vielen Völkern auch durch Eid und Ordal („Gottesurteil") beschworen, um Verbrechen aufzudecken oder zu verhüten. Die neueren Forschungen und Theorien angloamerikanischer Ethnologen (cultural and social anthropologists) hat LeVine (1961) resümiert und zugleich die wesentlichen Problemstellungen für ein zukünftiges Forschungsprogramm systematisiert. Nach LeVine gehen die jüngsten theoretischen Ansätze zur Untersuchung sozialer Konflikte in primitiven Gesellschaften von der Struktur- und Funktionstheorie der sozialen Systeme sowie ζ. T. von der behavioristisch modifizierten psychoanalytischen Theorie der Persönlichkeit (Frustrations-Aggressions-Hypothese) aus. LeVine hebt hervor, daß man zwischen verschiedenen S t r u k t u r e b e n e n (structural levels of conflict) unterscheiden müsse: Konflikte innerhalb der Familie (intrafamilial), innerhalb der Lokalgruppe (intracommunity), zwischen Gruppen, die derselben ethnolinguistischen Einheit angehören (intercommunity) und zwischen verschiedenen ethnolinguistischen Gruppen (intercultural) seien nicht ohne weiteres miteinander zu vergleichen. J e nach dem „culture pattern" nehmen die Aggressionsakte bei den einzelnen primitiven (und zivilisierten) Völkern verschiedene „overt c u l t u r a l m a n i f e s t i o n s of conflict" an: 1. Physische Aggression (Krieg, Fehde, Totschlag, Krawall, Duell; Eigentumszerstörung, ζ. B. durch Brandstiftung, Diebstahl); 2. öffentliche verbale Streitigkeiten (öffentliche Beleidigung und Anschuldigung des Übeltäters, Prozeß, Debatte); 3. Heimliche verbale Angriffe (üble
Ethnologische Forschungen Nachrede und Klatsch, private Verdächtigung der Zauberei und der Anwendung schwarzer Magie) — sie gelten als verläßliche Indikatoren für konflikthaltige Situationen innerhalb der Familie und Lokalgruppe. 4. Bruch der Verhaltenserwartungen (ζ. B. Verweigerung der Kooperation und des Gehorsams). 5. Meidung und Trennung (ζ. B. Tabus zwischen Verwandten, Errichtung von Zäunen und Wänden zwischen Nachbarn, Abwanderung von Individuen oder Gruppen, Sezession, Abbruch diplomatischer Beziehungen usw.). Soziale Konflikte gehen stets mit bestimmten G e f ü h l e n und V o r s t e l l u n g e n einher, vor allem mit Feindseligkeit (offene oder latente Disposition zur Aggression, Aggressionsphantasien) und mit negativen „images" (Stereotype, Vorurteile, abschätzige Meinungen usw.). Unter den U r s a c h e n für Konflikte in primitiven Gesellschaften hebt LeVine folgende hervor, die bei einzelnen Völkern in sehr verschiedenem Ausmaße wirksam werden: 1. wirtschaftliche (Wettbewerb um knappe Ressourcen wie Land, Arbeitsmöglichkeiten, Prestigegüter, auch um Status- und Autoritätspositionen); 2. struktuelle: a) demographische Veränderungen (vermehrter Kontakt durch Bevölkerungswachstum führt häufig zu vermehrten Konflikten), b) Rollenund Statuszweideutigkeit (vor allem beim Fehlen autoritativer Entscheidungsträger); 3. psychologische: a) Kindererziehung (durch Ermutigung aggressiven Verhaltens), b) psychische Belastungen und Frustrationen bei Erwachsenen. Über den s o z i a l e n W e r t der Konflikte haben sich zwei entgegengesetzte Hypothesen herausgebildet: während nach Gluckman (1955; 1960; 1963) und Turner (1957) soziale Konflikte zwischen Gruppen den Zusammenhalt eines sie umfassenden sozialen Systems vor allem durch die Abhaltung entsprechender Rituale fördern, bestreiten Siegel und Beals (1960 a; 1960 b) diese „eufunktionale" Wirkung der Konflikte und halten sie vielmehr für Indikatoren der „schwachen Stellen" eines sozialen Systems, die oft erst in Situationen des kulturellen und sozialen Umbruchs als „factionalism" (Aufspaltung von Gruppen in antagonistische Parteien) manifest werden. Unbestritten ist dagegen die positive Wirkung von Konflikten zwischen Gruppen auf die Stärkung ihres inneren Zusammenhalts. Unter den Formen der K o n t r o l l e und Lös u n g von Konflikten sind uns die Zwangsmittel einer politischen Zentralgewalt (Staat) aus unserer eigenen Kultur geläufig. Dagegen hatte sich die ethnologische Forschung seit je mit dem Problem auseinanderzusetzen, welche Kontrollen undSanktionenin Gesellschaften existieren, denen eine übergeordnete Zentralgewalt und spezialisierte politische Funktionäre fehlen. I n n e r h a l b solcher Gruppen verhindern meist 13*
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die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und der Zwang zur Kooperation, ferner informelle oder auch formelle Machtträger, die Sanktionen wie körperliche Schadenszufügung, Zauberhandlungen, Verbannung, Kompensationszahlungen, Verspottung, Flüche usw. verhängen können, sowie nicht zuletzt übernatürliche Sanktionen (Rache der Ahnengeister, Glaube an Krankheit und Tod als Folgen der Kontravention) den Ausbruch schwerer Konflikte bzw. legen sie erfolgreich bei. Z w i s c h e n Gruppen ohne übergeordnete Autorität werden folgende Regulatoren wirksam: 1. Gegenseitige kriegerische Abschreckung (entsprechend der „balance of power" zwischen souveränen Staaten). 2. Einschluß anderer Gruppen in den Verwandtschaftsverband (Sippenzugehörigkeit nach dem klassifikatorischen Verwandtschaftsprinzip). 3. Geteilte Loyalitäten der Individuen gegenüber verschiedenen Verbänden, denen sie gleichzeitig angehören (besonders wirksam bei uxorilokaler Wohnordnung, nach der Männer aus verschiedenen Lokalgruppen in diejenige ihrer Frauen einheiraten). Auch Altersgruppen mit gemeinsamen Initiationsriten fördern die Durchbrechung des „egozentrischen" Prinzips der Sippenzugehörigkeit, nach welchem in vielen primitiven (und als Substratwirkung auch in hochkulturellen) Gesellschaften unaufhörliche Blutrachefehden geführt werden.
B. Einzelne Probleme des Verbrechens und der Strafe im „primitiven" und im „modernen" Recht Die ethnologische Rechtsforschung hat erwiesen, daß Verbrechen und Strafe von den geschichtlich geprägten und sich wandelnden Kulturverhältnissen der einzelnen Völker und Epochen abhängen. Dennoch wurden einzelne Aspekte d e s primitiven Rechts immer wieder besonders beachtet und mit „modernen" Verhältnissen und Auffassungen kontrastiert. So wurde häufig gefragt, ob es bei primitiven Völkern überhaupt ein „Recht" in unserem Sinne gebe, und wenn ja, wie es sich von unserem modernen, durch staatliche Autorität sanktionierten Recht unterscheide. Diese Frage interessiert hier nur in bezug auf den Rechtsbruch. Trimborn (1950) meint dazu grundsätzlich: obwohl vielfach bei primitiven Völkern nicht zwischen „Zivilrecht", „Strafrecht" und „öffentlichem Recht" unterschieden werde, „ist es auch den frühesten Gesellschaften immanent, daß unvermeidliche Spannungen zwischen der Willkür des einzelnen und den ihr gesetzten Schranken des gemeinen Wohls, wie und wo man diese auch ziehen mag, naturnotwendig zu ,Rechtsbrüchen' und diese wiederum zu einer darauf reagierenden Sühne führen. Auch Rechtsbruch und Sühne ziehen sich deshalb, wenn auch in
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Ethnologische Forschungen
unterschiedlichen Formen, wie ein roter Faden durch die Geschichte des Menschengeschlechts." Llewellyn und Hoebel (1941) sind überdies der Ansicht, daß alle sozialen und rechtlichen Systeme im Grunde „den gleichen immerwährenden Problemen gegenüberstehen", wie ζ. B. dem der endgültigen Beilegung von Konflikten. Unter diesem funktionalen Aspekt verlieren manche Gegensätze zwischen „primitivem" und „modernem" Recht an Gewicht. So sei ζ. B. auch die Annahme, daß „private" Delikte in primitiven Gesellschaften gegenüber „öffentlichen" Verbrechen überwögen, einseitig übertrieben worden. Ebenso sei die „group responsibility" bei primitiven Völkern gegenüber der individuellen Verantwortung nur gradweise stärker entwickelt als bei uns. Auch R. H. Lowie (1950) meint, es gäbe keine absoluten Unterschiede zwischen dem „primitiven" und „modernen" Recht. Allerdings regele ersteres mehr verwandtschaftliche als territorial-staatliche Verhältnisse, und insofern werde nicht zwischen „privaten" und „öffentlichen" Unrechtshandlungen unterschieden. Da öffentliche Gewalten weitgehend fehlen, nimmt die Selbsthilfe einen weit größeren Raum ein. „Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob irgendwo für das gesamte Ausmaß möglicher Übertretungen völlige Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen, d. h. gemeinschaftlichen (communal), im Gegensatz zu individuellen oder verwandtschaftlichen Interessen herrscht". Ein gemeinschaftliches Interesse an der Sühnung von Rechtsbrüchen ist mit Sicherheit stets da gegeben, wo eine Lokalgruppe geschlossen auf Vergehen seitens einer anderen reagiert. Allerdings sind solche „Gemeinden" bei primitiven Völkern häufig nach verwandtschaftlichen Prinzipien organisiert, so ζ. B. wenn eine „Sippe" in einem Dorfe zusammensiedelt. Die „Sippensolidarität" bezeichnet Leonhard Adam (1958) geradezu als ein „Wesensmerkmal des primitiven Rechts, das in den meisten höheren Rechtsformen f e h l t . . . Die Solidarhaftung der Sippe erstreckt sich bis auf Körperverletzung und Tötung, das Blutrachesystem ist auf ihr aufgebaut." Vergehen i n n e r h a l b einer Gruppe sind also von Vergehen zwischen v e r s c h i e d e n e n Gruppen sorgfältiger zu unterscheiden, als es gemeinhin geschieht. Ersteren steht man in primitiven Gesellschaften oft ganz hilflos gegenüber, da es niemanden gibt, der „von Rechts wegen" gegen den Täter einschreiten kann. Das gilt vor allem für Vergehen innerhalb einer V e r w a n d t s c h a f t s g r u p p e (Familie, Sippe), deren Ahndung die Mitglieder dieser Gruppe nicht oder nur zögernd betreiben, weil sie das „Rechtsgut" des sozialen Friedens und Gleichgewichts innerhalb der Gruppe höher werten als die weitere Kon-
flikte nach sich ziehende „Bestrafung" des Missetäters. Diese wird in solchen Fällen häufig übernatürlichen Mächten anheimgestellt (vgl. ζ. B. Schapera in: Journ. of the Roy. Anthr. Institute 85, 1955). Im übrigen hat aber Eva Lips darauf hingewiesen, daß Verstöße gegen die „öffentliche" Ordnung eines nach verwandtschaftlichen Prinzipien organisierten Rechtsverbandes auch schon bei Völkerschaften mit aneignender Wirtschaftsform und „klassenloser" Gesellschaftsordnung (Sammlern und Jägern, Erntevölkern) bisweilen sogar ein förmliches Verfahren auslösen (Speerordale bei Australiern, Ring- und Faustkämpfe sowie Singstreite bei den Eskimo,· Büffelpolizei bei den Prärieindianern), meist jedoch ein durch die öffentliche Meinung sanktioniertes Vorgehen der Gruppenautoritäten oder auch einzelner. „Die öffentliche Meinung bedient sich der das Recht erzwingenden menschlichen Organe nur als ihres sichtbaren A r m e s . . . Diese öffentliche Meinung ist nichts Diffuses oder Molluskenhaftes, sondern sie äußert sich ganz k o n k r e t . . . " (Eva Lips 1958). Bei Fehden zwischen verschiedenen Gruppen wird nach den Schuldumständen, nach Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Täters im allgemeinen nicht gefragt; wesentlich ist in der Regel allein der äußere durch die Tat angerichtete Schaden (vgl. Lowie 1921, 1950; II. Cairns 1935). Fraglos dominiert in diesen Fällen bei der Vergeltung das Motiv der Rache, die nach Sidney Hartland „in einigen Gesellschaften (nicht immer den niedrigsten)" so weit geht, daß man den Verbrecher selbst über seinen Tod hinaus verfolgt, indem man ihm die üblichen Begräbnisriten versagt. Besonders Marett (1936) hat auf den übernatürlichen Charakter zahlreicher Sanktionen in primitiven Rechtsordnungen hingewiesen. Wegen seiner sakralen Eigenart sei das primitive Recht grundsätzlich menschlicher Einwirkung entzogen und daher — theoretisch wenigstens — unveränderlich. Das hebt auch Lowie hervor, der zugleich auf den Ostrazismus und andere psychologisch wirkende „Strafen" der „öffentlichen Meinung" aufmerksam macht, denen in den homogenen Intimgruppen primitiver Gesellschaften besonderes Gewicht zukommt (Lowie 1921, 1950. Hartland 1924.) Im Gegensatz dazu will Radcliffe-Brown als „Recht" nur das gelten lassen, was von „org a n i s i e r t e n legalen Sanktionen" geschützt wird; „in diesem Sinne haben einige einfache Gesellschaften kein Recht, obwohl alle Bräuche (customs) haben, die von Sanktionen unterstützt werden." Abgesehen von rein definitorischen Fragen stellt sich hier das grundsätzliche Problem, was die Menschen in primitiven Gesellschaften veranlaßt, rechtliche Regeln zu
Ethnologische Forschungen befolgen, die von keiner staatlichen Gewalt erzwungen werden können. Sidney Hartland antwortete darauf, der „Wilde" werde „allseitig von den Sitten seines Volkes eingeengt", und er sei,, in die Fesseln einer unvordenklichen Tradition gebunden . . . Diese Fesseln akzeptiert er als etwas Selbstverständliches, und er versucht niemals, auszubrechen." Im Widerspruch zu dieser Theorie führt Hartland selbst dann aber zahlreiche Fälle von Rechtsbrüchen bei primitiven Völkern an. Auch Lowie (1921) meinte zunächst, bei primitiven Völkern gehorche man „den ungeschriebenen Gesetzen des gewohnten Brauches viel bereitwilliger als unseren geschriebenen Gesetzesregeln, oder besser gesagt, man gehorcht ihnen spontan". Unter dem Eindruck von Malinowskis Forschungen (vgl. unten C1 a) hat Lowie (1950) diese These widerrufen: Wenn auch den ethisch fundierten Regeln der eigenen Gruppe unter vorwiegend psychologischem Zwang eher gehorcht werde als von außen her auferlegten Gesetzen, so sei doch anderseits nicht zu verkennen, daß „der soziale Zwang mit den gewaltigsten Trieben fertig werden muß: Sexualität, Hunger, Raubsucht . . . " Von einer „automatischen" oder „spontanen" Unterwerfung des primitiven Menschen unter die ihm auferlegte soziale Ordnung könne also nicht die Rede sein. Llewellyn und Hoebel haben die Untersuchung von Rechtsbrüchen und Konflikten in primitiven Gesellschaften geradezu zum methodischen Prinzip der ethnologischen Rechtsforschung erhoben (vgl. unten C 1 d). Im Gegensatz zu einer rein normativen Betrachtungsweise des Rechts fordern diese Autoren, das auf einen Rechtsbruch reagierende t a t s ä c h l i c h e Verhalten der Betroffenen zu untersuchen, um zu erfahren, welche der zahlreichen Regeln des sozialen Lebens als wirkliche „Rechtsregeln" aufgefaßt werden. Gegen diese einseitige Hervorhebung abgeleiteter Sanktionsnormen gegenüber den primären Ordnungsgeboten hat allerdings Malinowski (1942) schwerwiegende Einwände erhoben. 0. Monographische Darstellungen von Verbrechen und Strafe bei Naturvölkern 1. Einzelne
Völker und
Stämme
a) Ozeanien u n d A u s t r a l i e n . Bronislaw Malinowski entwickelte seine Theorie des primitiven Rechts aus eigenen Beobachtungen bei den Bewohnern der Trobriand-Inseln in Nordwest-Melanesien. Mit dieser Methode der „stationären Feldforschung" leitete er eine neue Phase der ethnologischen Rechtsforschung ein, die durch empirische Untersuchungen e i n z e l n e r Völker und Stämme gekennzeichnet ist. In seinem
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Buche „Crime and Custom in Savage Society" (1926) berichtet Malinowski, daß die TrobriandInsulaner sich keineswegs „automatisch" ihren Sitten- und Rechtsgeboten unterwerfen. Vielmehr weicht ihr tatsächliches Verhalten häufig von den „idealen" Normen ab. Nach Malinowskis Ansicht besteht ihr Recht — und das der Primitiven überhaupt — im wesentlichen aus gegenseitigen Verpflichtungen (obligations), deren Verletzung durch den Entzug der Gegenleistung und andere wirtschaftliche, soziale und psychologische Sanktionen geahndet werde. Demgegenüber spielen „negative Verbote" eine vergleichsweise geringe Rolle, „noch ist das ganze primitive Recht Strafrecht". Desungeachtet schildert Malinowski selbst im zweiten Teil des genannten Buches eine ganze Reihe von Rechtsbrüchen, auf die durchaus nicht nur mit moralischem Zwang, sondern eindeutig mit strafähnlichen Selbsthilfeakten oder sogar mit der autoritären Gewalt des Häuptlings reagiert wird. Bei Exogamie- und Ehebruch werden die Täter bisweilen öffentlich beschuldigt und dadurch zum Selbstmord getrieben, der bei den Trobriand-Insulanern als eine Art Selbstbestrafung, aber auch als Anklage gegen die Verursacher des Selbstmordes gilt. Letztere sind dann oft der Blutrache von seiten der Angehörigen des Selbstmörders ausgesetzt, die allerdings in diesen und anderen Fällen durch eine Buße abgelöst werden kann. Als todeswürdige Kapitalverbrechen galten bei den Trobiandern vor allem Beleidigung und anmaßendes Verhalten gegenüber dem Häuptling. Als ein wichtiges Mittel zur Rechtsdurchsetzung stand ihm die Zauberei zur Verfügung, mit der er auch kollektive Strafen (Dürre- und Regenzauber) über ganze Gemeinden verhängen konnte. Umgekehrt konnten seine Untertanen aber auch gegen Willkürakte des Häuptlings einschreiten. So beobachtete Malinowski ζ. B., wie ein Häuptlingssohn, der sich die Stellung des rechtlichen Nachfolgers (nach dem Mutterrecht der Neffe des Häuptlings) anmaßte, durch öffentliche Schmähung exiliert wurde. Die „heilsame Furcht vor Strafe und Vergeltung" ist nach Malinowski „unentbehrlich für jede gesittete Gesellschaft" (1926, S. 93). Damit widerspricht er selbst seiner zuvor geäußerten Ansicht: „Die Androhung von Zwang und Furcht vor Strafe berühren den Durchschnittsmenschen nicht, ob ,wild' oder .zivilisiert'..." (1926, S. 13). Auf diese Widersprüche in Malinowskis Auffassungen und das Unzureichende seiner Obligationstheorie hat vor allem Hoebel (1954, S. 193 ff.) hingewiesen (vgl. unten C 2). Jan Hogbin, ein Schüler Malinowskis, untersuchte auf der Insel Wogeo bei Neuguinea die soziale Reaktion auf das Verbrechen, besonders auf Ehebruch und Diebstahl. Theoretisch werden
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diese Vergehen dort in jedem Falle streng verurteilt, praktisch hängt aber sehr viel davon ab, ob das Unrecht innerhalb der Gruppe oder an einem Fremden begangen wurde, welche soziale Stellung der Verbrecher und der Geschädigte einnimmt, wie stark die reagierenden Personen geistig und materiell vom Vergehen berührt werden und von zahlreichen anderen Umständen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Pospisil (1958) auf Grund rechtsethnologischer Forschungen bei den Kapauku-Papuas im Innern von West-Neuguinea. Die Kapauku kennen eine Anzahl abstrakt formulierter Rechtsnormen, denen die Rechtspraxis jedoch in vielen Fällen nicht folgt, ζ. B. wenn dies politisch inopportun erscheint. Im Falle eines Inzestvergehens konnte Pospisil sogar verfolgen, wie althergebrachtes Recht durch die Autorität einer leitenden Persönlichkeit außer Kraft gesetzt und neues Recht eingeführt wurde, das sich langsam gegen den Widerstand der öffentlichen Meinung durchsetzte. Die rechtlichen Sanktionen der Kapauku beschränken sich nach Pospisil keineswegs auf den physischen Zwang, den manche Juristen und Rechtsethnologen zur Definition des Rechts für unentbehrlich halten, sondern in vielen Fällen werden „Ehrenstrafen", wie öffentlicher Tadel und darauf folgender sozialer und wirtschaftlicher Boykott nächst der Todesstrafe für gravierender gehalten als Körper- und Vermögensstrafen. Die „Rechtsprechung" durch die Führer der einzelnen Gemeinwesen stützt sich dementsprechend nicht auf Gewaltandrohung, sondern auf Überredungskünste, die in erster Linie das soziale Gleichgewicht wiederherstellen und nicht zur Erfüllung abstrakter Strafnormen anhalten sollen. Sehr eingehend hat Roland M. Berndt in seinem Buche „Excess and Restraint" (1962) alle Aspekte der sozialen Kontrolle und Konflikte, der Aggressionshandlungen und der rechtlichen Verfahrensweisen bei ethnischen Gruppen im östlichen Hochland von Neuguinea untersucht. In diesen Gesellschaften wird auf aggressives, kämpferisches Verhalten der größte soziale Wert gelegt. Entsprechend stehen dort erfolgreiche Krieger, Kopfjäger und Kannibalen im höchsten Ansehen. Nach Berndt wird die Aggressivität bei diesen Gruppen weder durch eine überstrenge Kindererziehung und dadurch verursachte „Frustrationen" hervorgerufen, noch ist sie als Ausdruck eines „abweichenden Verhaltens" zu verstehen. Vielmehr werden alle Arten der Aggressivität bei Kindern durch eine bewußte Erziehung gefördert und entsprechend legen sich auch Erwachsene in ihrem sexuellen Verhalten und in anderen Formen der physischen Aggression kaum irgendwelche Hemmungen auf. Das Verhältnis zwischen den Ehepartnern wie gegenüber anderen Sippenfremden wird von einem tiefgehenden Antagonismus, von Furcht und emo-
tioneller Unsicherheit bestimmt, die sich in gewaltsamen sexuellen Exzessen (u. a. in gruppenweisen Vergewaltigungen), in Blutfehden, kannibalistischen Orgien (häufig verbunden mit Leichenschändung), in Schadenszauber und anderen aggressiven Handlungen entlädt. Methodisch gibt Berndt der Schilderung einzelner Fälle den Vorzug, übersieht dabei jedoch nicht die Bedeutung „idealer Normen" selbst in dieser anarchistischen Gesellschaft. Vor allem werden auch hier dem aggressiven Verhalten bei Ehebruch, Zauberei, physischer Gewalt, Kannibalismus usw. verschiedene sittliche Maßstäbe angelegt je nach dem, ob es sich um Mitglieder der eigenen Gruppe oder um Fremde handelt. Gegenüber letzteren schwankt das Verhältnis ständig zwischen friedlichen und feindlichen Beziehungen. Die Zauberei stellt eine der wichtigsten Maßnahmen dar, um von Fremden zugefügtes Unrecht zu vergelten. Innerhalb der eigenen Gruppe ist sie streng verpönt, wird aber dennoch als individuelles „Strafmittel" häufig verwandt. Im übrigen reagiert die Gruppe als solche auf Vergehen, die innerhalb ihres Kreises verübt wurden, um so schwächer, je s c h w e r e r das Vergehen beurteilt wird — aus Furcht davor, die Solidarität der Gruppe zu schwächen. Irgendeine zentrale Autorität fehlt in diesen Gruppen vollständig, es gibt lediglich leitende Persönlichkeiten, die um ihren Einfluß ständig rivalisieren. Erst unter modernen Einflüssen entstanden aus den traditionellen Männerhäusern, in denen alle „öffentlichen" Angelegenheiten beraten wurden, informelle „Gerichtshöfe" zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Gruppen. Für die Bewohner der Insel Jap (Mikronesien) hat David M. Schneider (1957) ebenfalls gezeigt, daß Art und Schwere der Strafe wesentlich davon abhängen, in welchem sozialen Zusammenhang ein Vergehen begangen wurde. Im Gegensatz zum Brudermord, der als interne Sippenangelegenheit betrachtet wird, berührt der Vatermord die Häupter der übrigen Sippen eines Dorfes, die entsprechende Sanktionen verhängen, d. h. den Täter ausstoßen. Auch der Inzest ruft auf Jap lediglich „diffuse Sanktionen in der Form von Mißbilligung und Meidung" hervor, da er unter den Angehörigen der gleichen Familie oder Sippe begangen wird. Statt Strafen setzen übernatürliche Sanktionen ein: die Ahnengeister verursachen den Tod eines Sippenmitgliedes — nicht notwendigerweise den Tod eines am Inzest Beteiligten — und üben auf diese Weise gleichsam kollektive Vergeltung an den Lebenden. Über die „Rechtsverletzung bei den australischen Eingeborenen" liegt eine eingehende monographische Studie von Harasser (1936) vor, die auch methodisch und theoretisch von großem Interesse ist. Entsprechend ihrem ärmlichen
Ethnologische Forschungen materiellen Besitz spielen die Eigentumsdelikte bei den Australiern eine geringe Rolle. Dagegen nehmen die Vergehen gegen die bei manchen Stämmen einfachen, bei anderen aber außerordentlich verwickelten Regeln des Geschlechtsund Familienlebens (exogamc Verwandschaftssysteme) einen breiten Raum ein. In dieser „Rechtssphäre" glaubt Harasser bei allen australischen Stämmen „moralische Grundlagen" vorzufinden, „die weniger nach Stämmen als individuell variieren. Da diese Feststellungen sich auch auf die primitivsten Stämme [der Australier] beziehen, müssen wir sie [schlechthin] als primitive Züge rechtlichen und moralischen Denkens und daher als Anfänge des Begriffes der strafbaren Handlung ansehen." Dagegen weisen die durch Zauberhandlungen verübten Vergehen große Unterschiede nach den einzelnen „Kulturkreisen" der australischen Eingeborenenstämme auf. „Die Zauberei ist also das Produkt einer Entwicklung", folgert Harasser, die in den einzelnen Teilen des Kontinents verschieden verlaufen sei. Jedenfalls geht aus diesen Unterschieden deutlich hervor, welchen Schwankungen die Verbrechensauffassung selbst zwischen relativ eng benachbarten Stämmen unterliegen kann. Welche Schwierigkeiten sich aus abweichenden Anschauungen über Verbrechen und Strafe zwischen völlig verschiedenen Kulturen ergeben, zeigt Elkin in einem Aufsatz über die moderne Gerichtspraxis der Weißen, der die australischen Eingeborenen Verständnis- und hilflos ausgeliefert sind. Dagegen bestehen nach Morris (1955) zwischen Neuseeländern weißer Hautfarbe und den Maori, die kulturell den Europäern weitaus näher stehen als die australischen Eingeborenen, berechtigte Hoffnungen auf eine gegenseitige Verständigung über die grundlegenden Werte gesellschaftlichen Zusammenlebens. Allerdings sind auch die Maori in der Situation des sozialen Umbruchs, der Desorganisation ihrer dörflichen Gemeinden und Verwandtschaftsverbände anfälliger für gewisse Verbrechen als die weiße Bevölkerung. Dabei spielen anscheinend auch gewissen traditionelle Wertvorstellungen, ζ. B. die geringere Bewertung des Privateigentums, eine Rolle. b) Asien. Tibet. Diskrepanzen zwischen den meist schriftlich fixierten Rechtsauffassungen der Hochkulturen und denjenigen unterworfener oder teilweise assimilierter primitiver Stämme reichen selbstverständlich weit in die Geschichte zurück. So versuchte etwa der Kaiserliche Mandschu-Hof im Jahre 1733 „Regeln der Bestrafung von Tibetern" festzulegen, denen das tibetische Volksrecht nur sehr bedingt folgte. Entgegen dem Bestreben, die zentrale Autorität bei Kapitalverbrechen einzuschalten, hielten die Tibeter in der Landschaft A-mdo bis in die
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jüngste Zeit am System der Selbsthilfe durch direkte Aktion, der Vermittlung über die zu zahlende Buße („Lebensgeld") und der Verhandlung vor einem von beiden Parteien bezahlten Richter fest. Die Blutfehde zwichen kollektiv haftenden Gruppen war bei den Tibetern von A-mdo bis vor kurzem ebenso im Schwange wie die Beraubung der Karawanen fremder Stämme, die als ehrenvolles Tun galt (Yü Li 1950). I n d i e n , Ceylon, I n d o n e s i e n . Nach Sachchidananda (1957) funktioniert das alte System der Strafrechtspflege noch heute in vielen Siedlungen der Munda-Stämme im nordöstlichen Indien. Alle Rechtsfälle außer Totschlag werden zunächst vor das Oberhaupt der Verwandtschaftsgruppe gebracht und nötigenfalls vor dem Dorf-Panchayat (Fünferrat) weiterverhandelt. Bei Streitfällen zwischen den Bewohnern verschiedener Dörfer ist der Parha panchayat, gebildet aus den Vertretern mehrerer Dörfer, zuständig. In diesen Gerichtshöfen werden heutzutage moderne Verfahren der Rechtspflege übernommen. In einer eingehenden kriminologischen Studie über zentralindische Primitivstämme hebt Elwin (1943) die Notwendigkeit sozialanthropologischer Untersuchungen für die Ausübung einer modernen Justiz über Eingeborene hervor. So werden ζ. B. manche zur Straftat provozierenden Handlungen von den europäischen Richtern ganz anders beurteilt als von den Eingeborenen selbst. Aber auch zwischen den einzelnen Stämmen bestehen erhebliche Unterschiede in der Bewertung und Häufigkeit von Delikten. Auf Grund von Verbrechensstatistiken vergleicht Elwin die Mord- und Selbstmordrate bei den benachbarten Stämmen der Maria und Muria: „Die Muria unterscheiden sich von den Maria darin, daß bei ersteren die Eifersucht in erstaunlichem Maße fehlt. Sie fühlen sich nicht an Eigentum und persönlichen Besitz gebunden; ihre bürgerlichen und sozialen Instinkte, ihre Güte und Freundlichkeit sind stark entwickelt." Abgesehen von diesen sozialpsychologischen Gründen beleuchtet Elwin auch das Verhalten aller Beteiligten bei Fällen von Mord, Selbstmord und anderen Vergehen. In einer quantitativ-soziologischen Untersuchung über „Verbrechen und Aggression" in Ceylon betont Wood (1961) die Bedeutung der Sozialstruktur, vor allem aber des Verhältnisses zwischen dem objektiven sozialen Status und den subjektiven Aspirationen und Wertvorstellungen für das Verständnis von Mord, Selbstmord und anderen „abweichenden Verhaltensweisen". Die Verbrechens- und Selbstmordsoziologie wird durch derartige Untersuchungen auf die „relativistische" und „funktionalistische" Betrachtungsweise der modernen Ethnologie und Social Anthropology gelenkt.
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Auf der Insel Sumba (Indonesien) stellte Versluys (1947/48) ebenfalls wichtige Zusammenhänge zwischen der Strafrechtspflege und der Sozialstruktur fest, indem beispielsweise die Beurteilung des Diebstahls wesentlich von der Stellung des Delinquenten in der Familie und seinem sozialen Status (Adliger, Freier oder Sklave) in der Gesamtgesellschaft abhängt. c) A f r i k a . In der Sozialstruktur liegende Spannungen, hervorgerufen durch die widerstreitenden Prinzipien von materilinearer Deszendenzrechnung bei virilokaler Residenzordnung, führen bei den Agni (Elfenbeinküste) zu ähnlichen erbrechtlichen Auseinandersetzungen wie auf den Trobriand-Inseln. Diese Streitigkeiten zwischen Neffe und Mutterbruder über den Erbteil des an sich nicht erbberechtigten Sohnes verschärften sich unter den modernen Bedingungen der Anbauwirtschaft für den Gelderwerb (Köbben 1954). Religiöse Anschauungen bestimmen in Westafrika bis in die Gegenwart die strafrechtliche Praxis. So werden bei den Adangme im heutigen Ghana rituelle Eidschwüre bei den Göttern oder Ahnengeistern geleistet, um den Tod des Missetäters bzw. Geldbußen bei Ehevergehen und Eigentumsstreitigkeiten zu erzwingen. Diese, von einem mythischen Mord und Racheakt hergeleitete Sitte erweist sich als sehr wirksam, um in dieser Gesellschaft, die ursprünglich ohne weltliche Autoritäten (Häuptlinge) auskam, die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Allein der Priester, der sich mit dem Eidschwörenden in die Bußzahlungen teilt, kann vom Eide lösen und übt auf diese Weise die Rechtspflege aus (Huber 1959). Im Königreiche Aschanti (Ghana) beruhte die Jurisdiktion des Sippenvorstehers ebenfalls auf religiöser Grundlage: er galt als Vertreter der Ahnengeister, die durch ihn den Urteilsspruch fällten. Die gesamte Gemeinschaft lebte in Furcht vor sakralen Sanktionen. Im übrigen machte man bei den Aschanti nach Rattray (1956) einen Unterschied zwischen Sippenangelegenheiten (fiesem) und Delikten, die den Eingriff einer höheren Autorität notwendig machten (oman a k y i w a d i e = Sünden oder Verbrechen gegen Stammestabus). Bestimmte Vergehen, von denen normalerweise die Stammesautoritäten keine Notiz nahmen, konnten nur verfolgt werden, wenn der Geschädigte willentlich ein Tabu brach, dadurch die gesamte Gemeinschaft gefährdete und die Autoritäten zum Handeln zwang. Es erfolgte dann eine öffentliche Untersuchung und Schlichtung des Vergehens. In typisch hochkultureller Weise beanspruchte die zentrale Stammesautorität, der König der Aschanti, für sich das ausschließliche Recht, „das Messer zu handhaben", d. h. die Todesstrafe zuzufügen. Entsprechend war die Vendetta untersagt; an die
Stelle der Selbsthilfe traten forensische Mittel, um Streitigkeiten beizulegen. Zu den o m a n a k y i w a d i e wurde der Mord als Vergehen gegen die Stammesgewalt, die alleine „das Messer führte", angesehen. Der Mörder mußte in einem ordentlichen Gerichtsverfahren abgeurteilt werden, damit nicht der Geist des Getöteten den Häuptling verfolgte. Die Absicht der Tötung war auch ohne Ausführungshandlungen strafbar, daher wurde genau nach den Motiven der Tötung geforscht und auch zwischen zufälliger Tötung durch einen Unglücksfall und absichtlicher Tötung unterschieden. Dem Morde gleichgesetzt wurde der Geschlechtsverkehr mit Mädchen vor ihrer ersten Menstruation und mit Schwangeren (mit Ausnahme des Ehemannes). Auch der Suizid wurde als Kapitalverbrechen angesehen, wenn er ohne erkennbares Motiv oder, um den Folgen eines Unrechts zu entgehen, begangen wurde, nicht dagegen, wenn der Selbstmörder sich der schimpflichen Ergebung in die Hand des Feindes entziehen, wenn er den verstorbenen Ehemann oder die Ehefrau ins Land der Geister begleiten oder wenn er seine Ehre wiederherstellen wollte. Der für schuldig befundene Selbstmörder verletzte mit seiner Tat ebenfalls das Prärogativ der Zentralgewalt, „das Messer zu führen"; seine Leiche wurde zur Strafe enthauptet und nicht am heiligen Begräbnisplatz bestattet. Es fand für ihn keine Trauer statt, und der Häuptling hatte das Recht, sein Eigentum zu konfiszieren. Ein gewöhnlicher Ehebruch galt als Diebstahl und wurde nicht als Verbrechen angesehen. Dagegen verletzte der Ehebruch mit einer Frau des Königs die kosmische Ordnung ebenso wie der Beischlaf auf bloßer Erde die Mutter-Erde-Gottheit. Auch der Inzest wurde als Verletzung der sakralen Sphäre bei den Aschanti geahndet. Übernatürliche Sanktionen wurden auch bei anderen Verbrechen wirksam; die empfindlichste Strafe bestand nach Rattray jedoch in der Verspottung des Missetäters, da jeder empfindlich gegen einen „schlechten Namen" war. Eine vergleichende Studie über den Mord und Selbstmord bei verschiedenen afrikanischen Stämmen hat Bohannan (1960) herausgegeben. Diese Untersuchung, an der mehrere namhafte Afrikanisten mitgearbeitet haben, zeigt ebenfalls deutlich, wie sich kulturelle und sozialpsychologische Unterschiede auf die Auffassung und Häufigkeit von Verbrechen auswirken. Bohannan (1957) selbst hat bei den Tiv in Nigeria zahlreiche Rechtsfälle und die ihrem Rechtswesen zugrunde liegenden Auffassungen studiert. Zweck des Gerichtsverfahrens bei den Tiv ist nicht die Aburteilung eines Falles nach abstrakten Normen, sondern die Wiederherstellung des sozialen Friedens und Gleichgewichts durch einen Schieds-
Ethnologische Forschungen Spruch, dem grundsätzlich die betroffenen Parteien zustimmen müssen. Im Gegensatz zu Bohannan (1957) kommt Gluckman (1955) zu dem Ergebnis, daß der Rechtsprozeß bei den Rotse in Rhodesien im wesentlichen mit unseren Ausffassungen übereinstimmt. Auch Gluckman analysiert zahlreiche Rechtsfälle, in die stets nicht nur die unmittelbar betroffenen Individuen, sondern auch die mitunter weitverzweigten Familien verwickelt sind. „Die Normen des rechtlichen Verhaltens, an denen das Verhalten der Parteien gemessen wird, um zu sehen, ob sie recht oder unrecht gehandelt haben, sind die ,des vernünftigen, gewöhnlichen Mannes'." Ebenso gibt es Stereotypen von „Übeltätern"; das Recht wird also auch hier nicht an abstrakten Normen, sondern an imaginären Persönlichkeitsbildern gemessen, obwohl die Rotse einen klaren Rechtsbegriff (mulao) entwickelt haben. Über Verbrechen und Strafe bei dem südafrikanischen Volk der Tswana (Betschuanen) unterrrichtet Schaperas „Handbook of Tswana Law and Custom" (1955). Die wichtigsten Vergehen, die vor den Eingeborenengerichtshöfen verhandelt werden, sind solche gegen die Person (Verleumdung und obszöne Beschimpfung, Körperverletzung, Vergewaltigung, Totschlag, Kindestötung und Abtreibung), gegen Familienrechte (Ehebruch, Entführung), gegen das Eigentum (unbefugtes Betreten und Beschädigung, Diebstahl), gegen die Stammesautoritäten (Ungehorsam gegenüber dem Häuptling, Verschwörung, Tributverweigerung, Ordnungsübertretungen usw.) und schließlich Zauberei und andere „unnatürliche Vergehen" wie Inzest und Bestialität. Viele Vergehen ziehen bei den Tswana einen magischen Schaden nach sich, weshalb sich der Delinquent abgesehen von Vermögens-, Körperoder Todesstrafen besonderen Reinigungszeremonien unterziehen muß. Der Verbrecher, der sich ins Gehöft der Mutter oder der Frau des Häuptlings retten kann, bevor die Strafe vollzogen wird, genießt dort Asyl und ist von jeder Strafe befreit, da diese Handlung als ein Zeichen vollkommener Unterwerfung unter den Häuptling gilt. Auch an zahlreichen anderen Beispielen läßt sich die Kulturbedingtheit der Deliktsauffassungen verdeutlichen. So wird ζ. B. die Körperverletzung bei den Tswana mit der Zahlung eines oder mehrerer Ochsen an den Häuptling geahndet, weil nämlich alle Stammesmitglieder dem Häuptling „gehören" und daher jeder Angriff auf einen seiner Untertanen als Verletzung seines „Eigentums" aufgefaßt wird. Außerdem hat allein der Häuptling das Recht, Blut zu vergießen (Schapera 1950, 1943). Bei den Sukuma (Tanganjika) wurden Kriminalfälle ebenfalls von dem obersten Gerichtshof
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des Stammeshäuptlings abgeurteilt, der seine Stellung als überparteilicher Außenseiter (external arbiter) nach Cory (1954) wesentlich seinen richterlichen Funktionen verdankte. Außer ihm entschieden auch die Dorfältesten und Sippenvorsteher Rechtsfälle, doch gab es keinen Instanzenzug. Der Gerichtshof des Stammeshäuptlings urteilte ausschließlich über Mord, Hochverrat, Körperverletzung, Zauberei und Viehdiebstahl. Mordfälle wurden allein nach dem Schadenserfolg abgeurteilt, Motive und mildernde Umstände nicht berücksichtigt. Todesstrafen wurden auf der Stelle vollzogen; das Vermögen des Verurteilten fiel an den Häuptling, bei besonders schweren Verbrechen (ζ. B. Ehebruch mit Frauen des Häuptlings) auch das der Verwandten des Täters. Der Hof des Häuptlings genoß und gewährte auch bei den Sukuma besonderen Schutz. Schlechtes Benehmen vor dem Gerichtshof wurde mit Schlägen oder der Konfiszierung von Vieh bestraft. Wer das Gericht mit Waffengewalt bedrohte, wurde sofort durch die Leibwächter des Häuptlings getötet. In anderen Fällen, ζ. B . bei Mord, konnte die Todesstrafe durch die Flucht in den Hof des Häuptlings und die Zahlung von Wergeid abgewehrt werden. Bei Zahlungsunfähigkeit konnte der Mörder sich zum Sklaven des Häuptlings machen, indem er eines seiner Autoritätssymbole zerstörte und sich damit gleichsam außerhalb des Rechtes stellte. Auch bei den Dschagga am Kilimandscharo (Tanganjika) mußte sich nach Gutmann (1926) der Totschläger zum Häuptling retten, „um Affekthandlungen der geschädigten Sippe zu entgehen". Zwischen Mord und fahrlässiger Tötung wurde hier ebenfalls kein Unterschied gemacht, wohl aber ließ man Notwehr als Strafausschließungsgrund gelten. Die Tötung durch symbolische Zauberhandlungen wurde bei den Dschagga (wie bei vielen anderen Naturvölkern) ebenso schwer geahndet wie der Mord durch Brachialgewalt. Schwere Körperverletzungen (Verlust eines Auges, Beines oder Armes) wurden ebenso bestraft wie Totschlag und vom Häuptling abgeurteilt, leichte Körperverletzungen (ζ. B. der Verlust eines Zahnes) dagegen von einem Ratskollegium älterer Männer mit einer jährlich an den Geschädigten zu leistenden Bußzahlung belegt. Auch in anderen Fällen wurden ältere Männer mit der Beilegung von Streitigkeiten beauftragt. Im übrigen bestand bei den Dschagga das Bestreben, Rechtshändel „im Hause", d. h. ohne Wissen des Häuptlings, beizulegen, und es galt sogar als Verstoß gegen die guten Sitten, Zivilsachen unmittelbar vor den Häuptling zu bringen. Auch Strafsachen suchte man häufig vor ihm zu verheimlichen. Wurden ihm Vorfälle hintertragen, die in seine Zuständigkeit fielen, konnte
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Ethnologische Forschungen
er eine Sühnezahlung für die Prozeßhintertreibung fordern. Er berief sich dazu auf das öffentliche Interesse an der Abschreckung durch Strafen, da anders die Rechtsmoral bei der Jugend nicht aufrecht erhalten werden könne. Gutmann hebt hervor, daß das Häuptlingstum die früher allein gültigen Prinzipien der Sippensolidarität und der Vergeltung abschwächte und zur überparteilichen, „objektiveren" Rechtsfindung führte. Bei dem nilotischen Hirtenvolk der Nuer (südlicher Sudan), welches in eine Unzahl von Sippen, Abstammungslinien und Familien zerfällt, gibt es dagegen überhaupt keine mit Zwangsgewalt ausgerüsteten Personen oder Institutionen, die öffentliche Strafen verhängen könnten. Lediglich die „Leopardenfell-Häuptlinge" erfüllen gewisse Funktionen als Gewährer von Asyl, als Unterhändler zwischen sich befehdenden Verwandtschaftsgruppen und bei Ritualen, die von Blutschuld reinigen sollen. Alle Vergehen — mit Ausnahme der Zauberei — werden bei den Nuem als Störungen des sozialen Gleichgewichts aufgefaßt, das zwischen den betroffenen Gruppen durch Vergeltung oder Entschädigung (Blutrache, Viehbußen oder Wergeid) wiederhergestellt werden muß. Dabei erkennen die Nuer genau festgelegte Verhaltensnormen und subjektive Rechte (cuong) an, gegen die durch Rechtsverletzungen (duer) verstoßen werden kann. Um sein Recht durchzusetzen, greift der Nuer zur Selbsthilfe, unterstützt von den kollektiv handelnden und haftenden Angehörigen seiner Verwandtschaftsgruppe. An weiteren Sanktionen nennt Howell (1954): soziale Mißbilligung und Unbeliebtheit, Verlust der Achtung der Nachbarn und religiöse Sanktionen. Die Wirksamkeit dieser Sanktionen hängt von der Stellung der betreffenden Personen zueinander im Gefüge der Sozialordnung ab. Trotz des Prinzips der objektiven Schadenshaftung wird bei den Nuern zwischen zufälliger Tötung, Totschlag im offenen Kampf aus berechtigter Selbsthilfe und heimtückischem Mord unterschieden. Das letztgenannte Verbrechen wird moralisch streng verurteilt, nicht dagegen die Tötung im Vollzug der Blutrache. Ebenso wird unterschieden zwischen hinterlistigem Diebstahl und der gewaltsamen Wegnahme von Vieh, um berechtigte Ansprüche durchzusetzen. Die Widerherstellung des gestörten sozialen Gleichgewichts stellt bei den Nuern wie bei vielen anderen ethnischen Gruppen mit segmentärer Sozialstruktur das oberste Prinzip der Rechtspflege dar (Howell 1954). Bei den Arusha im nördlichen Tanganjika besteht ein System der Dichotomie, das vom Stamm bis zur letzten sozialen Untereinheit stets zwei Gruppen in Opposition zueinander setzt, zwischen denen Rechtsstreite ausgehandelt
werden. Je nach der Art des Vergehens und der relativen Stellung der Litiganten im Rahmen der gesamten Sozialstruktur variiert die Form der materiellen oder moralischen Unterstützung, die den Streitenden gewährt wird. Diese haben sich an „Fürsprecher" oder „Ratgeber" der jeweils zuständigen sozialen Einheit zu wenden, die für die Beilegung des Falles sorgen (Gulliver 1961). d) A m e r i k a . Über den Rechtsbruch in den altamerikanischen Hochkulturen liegt eine detaillierte Untersuchung von Trimborn (1936/37) vor, in welcher er das materielle Strafrecht im Inkareich, bei den Chibcha in Kolumbien und im aztekischen Dreibund von Mexiko vergleichend darstellt. Trimborn geht sowohl der „ursächlichen Abhängigkeit des Rechtes von der Gesamtkultur" nach wie auch der „historischen Schichtung" oder dem „Übergang von tiefkultureller zu hochkultureller Rechtsgesinnung", die sich an diesem Beispiel besonders gut verfolgen läßt. Vor allem ist zu erkennen, wie sich im staatlich geübten „reinen Strafrecht" der altamerikanischen Hochkulturen, das die Partikularrechte der lokalen Gemeinden überlagerte, immer mehr ein psychologischer Schuldbegriff durchsetzte, wenngleich die Erfolgshaftung in zahlreichen Überbleibseln fortbestand. So wurde ζ. B. noch nicht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschieden, und nur bei den Azteken bildete sich der Begriff der Strafmündigkeit heraus. Allenthalben wurden jedoch erschwerende oder mildernde Tatumstände anerkannt, wie ζ. B. der Rückfall bzw. die tätige Reue. Die Solidarhaftung behauptete sich in verschiedenem Grade, es machte sich jedoch eine Tendenz zur Individualisierung der Strafe bemerkbar, die schrittweise von der gebilligten Selbsthilfe in die Hände des Staates und seines Behördenapparates überging. Die mit dem Staatsaufbau verbundene ständische Gliederung hatte eine ungleiche Behandlung des Täters zur Folge; der Adel war deutlich gegenüber anderen Klassen bevorrechtet (vgl. aber Uribe de Fernandez 1954/55). In einer speziellen Untersuchung über „Straftat und Sühne in Alt-Peru" (1925) ging es Trimborn darum, den Gegensatz zwischen dem Strafrecht der lokalen Clangenossenschaften (ayllu) und dem zentralen Inkastaat in seiner kulturhistorischen Abfolge herauszuarbeiten. Als eine Funktion der Inka-Herrschaft entwickelten sich ganz neue Straftatbestände wie Hoch- und Landesverrat, Verstöße gegen das Verwaltungsrecht, Amtsdelikte usw. Die Autonomie der Clanhäupter ließen die Inka im wesentlichen unangetastet; schwere oder überlokale Delikte wurden jedoch nicht mehr von ihnen, sondern von der Reichsgewalt abgeurteilt, wobei sich ein Instanzenzug herausbildete. Um die Befriedung und den Ge-
Ethnologische Forschungen horsam der unterworfenen Stämme zu kontrollieren, sandten die Inka geheime Beamte, sog. „Allesseher" (tucuricuna) aus, die u. a. alle Vergehen gegen die Staatsgewalt an den Hof des Inka berichteten, wo eine Art von Kriminalstatdstik geführt wurde. Kürzlich hat S. F. Moore (1958) das Strafrecht der Inka erneut untersucht und Trimborns Auffassungen kritisiert, obgleich sie selbst zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Besonders hebt sie hervor, daß Vermögensstrafen im Inka-Reich eine ganz geringe Rolle spielten, da der Privatbesitz wenig entwickelt war. Im Anhang zu ihrem Buch veröffentlicht Moore ausführliche Listen von verbotenen Handlungen und ihren Strafen nach alten spanischen Quellen. Über die Auffassungen von Verbrechen und Strafe bei einem südamerikanischen primitiven Bodenbauvolk, den Kariben am Barama-Fluß hat Gillin berichtet. Bei diesem Stamm unterscheidet man zwischen Vergehen gegen Menschen und gegen geistige Mächte; letztere werden „automatisch" von ihnen geahndet. Im allgemeinen sind Rechtsstreite Angelegenheit der unmittelbar Beteiligten; die Allgemeinheit schreitet nur gegen hartnäckige Friedensstörer ein. Die Kollektivverantwortung der Verwandtschaftsgruppen ist nur schwach ausgeprägt. Als schwerste Vergehen werden Totschlag, Vergiftung, Zauberei, Diebstahl und Ehebruch angesehen. Nach Gillin wird bei den ersten beiden Vergehen deutlich zwischen vorsätzlicher und zufälliger Verursachung unterschieden. Die Kariben rechnen zufällige Tötung oder Vergiftung zur großen Zahl von natürlichen Unglücksfällen, die den Menschen treffen können. „Wenn jemand einen anderen zufällig tötet oder vergiftet, handelt er lediglich als unbewußter Agent der geistigen Mächte . . . und kann nicht bestraft werden." Bei vorsätzlichen Handlungen dagegen kann der Geschädigte den Täter vergiften, verzaubern oder ihm Gewalt antun. Wenn alle diese Mittel versagt haben, kann der Rächer „kanaima" werden: er verläßt dann seine Familie und Freunde, fastet im Busch und weiht sein ganzes Leben der Vergeltung. Ganz im Gegensatz zu dieser individualistischen Auffassung von Verbrechen und Strafe steht die Einstellung der Tlingit an der nordamerikanischen Pazifikküste: „Theoretisch gab es kein Verbrechen gegen ein Individuum. Der Tod eines Individuums durch Mord, der Verlust von Eigentum durch Diebstahl oder die einem Clanmitglied zugefügte Schande waren Schädigungen des Clanes, und der Clan forderte aus Rache ein Äquivalent", welches vom Range des Geschädigten und des Delinquenten abhing. Folgerichtig „gab es keine Bestrafung innerhalb des Clanes für Mord, Ehebruch oder Diebstahl. Ein Clan bestrafte seine Mitglieder nur, wenn seine Ehre
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geschändet wurde. Verbrechen dieser Art waren Inzest, Hexerei, Heirat mit einem Sklaven und Prostitution" (Oberg 1934). Dagegen herrschte bei den Ojibwa in Minnesota ein ausgeprägter Individualismus, der durch ihre Lebensweise als Sammler, Fischer und Jäger in losen „Banden" und Einzelfamilien begünstigt wurde. Es gab bei diesen Ojibwa keinerlei politische Autoritäten. Lediglich Zauberer übten einen informellen Einfluß über andere aus. Auch die einzelnen Individuen bedienten sich meist zauberischer Mittel, um einen Gegner krank zu machen oder zu töten. Häufig genügte schon die Androhung der Zauberei, um eine wirksame soziale Kontrolle über mögliche Übeltäter auszuüben. Auf schwere Vergehen, wie Mord, reagierten die nächsten Verwandten auch mit physischer Gewalt, indem sie den Mörder zu töten versuchten. Es bestand jedoch keine Verpflichtung zur Blutrache. Irgendwelche Organe der Rechtspflege gab es bei diesen Ojibwa nicht. Erst in europäischer Zeit traten „Häuptb'nge", bewährte ältere Männer, auf, die Verträge mit den Weißen abschlossen. Nach und nach übernahmen sie auch gewisse richterliche Funktionen. Im gleichen Maße verfielen die übernatürlichen Sanktionen. Bisher konnte kein anderes System der informellen Kontrolle bei den Ojibwa eingeführt werden (Brown 1952). Auch bei den Skagit am Puget-Sund im heutigen Staate Washington lockerten sich die traditionalen Mechanismen der sozialen Kontrolle mit dem Auftreten der Weißen. Zwischen Ehepartnern und Verschwägerten bestanden dort früher bereits Spannungen, hervorgerufen unter anderem durch die Furcht vor den bösartigen Geistern der „Fremden", die jedoch durch das Zusammenwohnen in Großfamilienhäusern, durch die Autorität des Familienältesten, durch Austauschbeziehungen und wechselseitige Besuche latent gehalten wurden und erst in der Akkulturationsphase in oft schweren physischen Aggressionsakten ausbrachen (Collins 1952). Beim nordamerikanischen Prärie-Stamm der Cheyenne-Indianer haben die bereits genannten Autoren Llewellyn (Jurist) und Hoebel (Ethnologe) gemeinsam zahlreiche Rechtsfälle untersucht und eine dem amerikanischen case-law entsprechende Theorie des primitiven Rechts entwickelt (vgl. oben B). Während diese Arbeit theoretische Überlegungen mit Feldforschungen zu verbinden sucht, stützt sich Königs Monographie über den „Rechtsbruch und sein Ausgleich bei den Eskimo" (1923—25) auf die Auswertung von Literaturquellen. Die Eskimo vertreten ausschließlich das Prinzip der Erfolgshaftung; das subjektive Verschulden oder Unzurechnungsfähigkeit werden nicht anerkannt. Sogar gegen Tiere und leblose
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Gegenstände kann sich die „ungerichtete Rache" wenden. Es gibt aber auch verschiedene Formen von mehr oder weniger geregelten Ausgleichshandlungen: 1. Die Blutrache, die meist nur zwischen einzelnen Individuen und ihren nächsten Angehörigen auSgetragen wird, da das Stammesgefühl schwach entwickelt ist. 2. Der Zweikampf wird entweder als Faust- oder Ringkampf oder als Singstreit ausgetragen. Letzterer ist eine den Eskimo eigentümliche Form der Beilegung von Konflikten: Im Kreise von Zuschauern verspotten sich die Gegner gegenseitig mit Hohngesängen. 3. Die Buße (Komposition) tritt bei dem geringen Besitz der Eskimo kaum in Erscheinung. 4. „Hausjustiz", die der Familienvater gegenüber mißliebigen Hüttenbewohnern ausüben kann (ζ. B. Vertreibung aus der Hütte). 5. In seltenen Fällen wendet sich die Stammesoder Ortsgemeinschaft gegen notorische Rechtsbrecher, wobei der Strafvollzug meist einem einzelnen aufgetragen wird. In einer späteren Untersuchung hat König (1929) auch die eurasiatischen „Polarvölker" in eine vergleichende Rechtsstudie einbezogen. Besonders auffällig ist, daß bei den Tschuktschen, Jukagiren und Korjaken in Sibirien die Buße stärker als bei den Eskimos hervortritt, d. h. es werden zum Ersatz für den zugefügten Schaden materielle Werte (Rentiere) oder ein Mensch hergegeben. Auch sonst zeigen sich charakteristische Unterschiede bei der Ahndung von Rechtsbrüchen je nach dem sozialkulturellen Gefiige des betreffenden Volkes. 2. Vergleichende
monographische
Darstellungen
Die monographische Methode hat auch in einigen zusammenfassenden und vergleichenden Darstellungen Eingang gefunden. So fügte bereits Lowie (1921) seinen allgemeinen Ausführungen über einzelne Aspekte des primitiven Strafrechts einige Einzelabhandlungen über Verbrechen und Strafe bei den Australiern, Ifugao (Philippinen), Eskimo, Prärie-Indianern, Polynesiern und afrikanischen Stämmen an. Ähnlich verfährt Hoebel (1954) in seinem Werk „The Law of Primitive Man", wo er aus den Rechtsverhältnissen bei fünf verschiedenen Stämmen eine Theorie des primitiven Rechts entwickelt, die sich im wesentlichen auf Konfliktsfälle stützt (vgl. oben B). Abschließend sei noch betont, daß die vergleichende ethnologische Verbrechens- und Strafrechtsforschung noch in den Anfängen steckt, besonders was die vergleichende Kriminologie i. e. S. anbetrifft (vgl. Dostal). Eine Fülle von Material ruht bisher noch unausgewertet in allgemeinen Werken über primitives Recht (vgl. ζ. B. Schultz-Ewerth u. Adam), aber auch in zahlreichen Monographien über einzelne Stämme
und Völker. Es wird die Aufgabe der zukünftigen ethnologischen Rechtsforschung und der EthnoKriminologie sein, diese Literaturquellen auszuwerten, ebenso aber auch unsere Kenntnisse über Verbrechen und Strafe bei primitiven Völkern durch Feldforschungen zu erweitern, solange dazu noch Gelegenheit besteht. Monographien Α. H. P o s t : Grundriß der ethnologischen Jurisprudenz. 1894/95. R. H. L o w i e : Primitive Society. 1921. 8. H a r t l a n d : Primitive Law. 1924. B. G u t m a n n : Das Recht der Dschagga. (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, hrsg. v. Felix Krüger, Bd. 7) 1926. B. M a l i n o w s k i : Crime and Custom in Savage Society. 1926. S. R. S t e i n m e t z : Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe. 2. Aufl. 1928. E. S c h u l t z - E w e r t h und L. A d a m (Hrsg.): Das Eingeborenenrecht. 1929/30. 2 Bde. H. T r i m b o r n : Auffassung und Formen der Strafe auf den einzelnen Kulturstufen. 1931. R. T h u r n w a l d : Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts. 1934 (Die menschliche Gesellschaft, Bd. V). H. C a i r n s : Law and the Social Sciences. 1935. A. H a r a s s e r : Die Rechtsverletzung bei den australischen Eingeborenen. 1936. Κ. N. L l e w e l l y n und Ε. A. H o e b e l : The Cheyenne Way: Conflict and Case Law in Primitive Jurisprudence. 1941. V. E l w i n : Maria Murder and Suicide. 1943. A. S. D i a m o n d : Primitive Law. 2. Aufl. 1950. R. H. Lowie: Social Organisation. 1950. A. S. D i a m o n d : The Evolution of Law and Order. 1951. H. Cory: The Indigenous Political System of the Sukuma. 1954. P. P. H o w e l l : A Manual of Nuer Law. 1954. E. A d a m s o n H o e b e l : The Law of Primitive Man. 1954. M. G l u c k m a n : The Judicial Process amongst the Barotse of Northern Rhodesia. 1955. I. S c h a p e r a : A Handbook of Tswana Law and Custom. 2. Aufl. 1955. D e r 8.: Government and Politics in Tribal Societies. 1956. R. S. R a t t r a y : Ashanti Law and Constitution. 2. Aufl. 1956. P. B o h a n n a n : Justice and Judgment among the Tiv. 1957. V. W. T u r n e r : Shism and Continuity in an African Society — A Study of Ndembu Life. 1957. S. F a l k Moore: Power and Property in Inca Peru. 1958. L. P o s p i s i l : Kapauku Papuans and Their Law. 1958. (Yale University Publications in Anthropology, 64). P. B o h a n n a n (Hrsg.): African Homicide and Suicide. 1960. M. G l u c k m a n : Custom and Conflict in Africa. 3. Aufl. I960. R. M. B e r n d t : Excess and Restraint. Social Control among a New Guinea Mountain People. 1962. M. G l u c k m a n : Order and Rebellion in Tribal Africa. 1963. Zeitschriftenaufsätze Η. K ö n i g : Der Rechtsbruch und sein Ausgleich bei den Eskimo. Anthropos. 18/19 (1923/24), S. 484—515, 771—792; 20 (1925), S. 276—315. H. T r i m b o r n : Straftat und Sühne in Alt-Peru. Zeitschrift für Ethnologie. 57 (1925). H. K ö n i g : Das Recht der Polarvölker. Anthropos. 24 (1929). A. R. R a d c l i f f e - B r o w n : Artikel „Primitive Law". Encyclopedia of Social Sciences. 9 (1933), S. 202—6. D e r s . : Artikel „Social Sanctions". Ebd. XIII (1933), S. 631—4.
Ethnologische Forschungen — Forensische Psychologie
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FORENSISCHE
erschienen sind. Seither hat die Psychologie eine in raschem T e m p o u n d nach den verschiedensten R i c h t u n g e n hin voranschreitende E n t w i c k l u n g g e n o m m e n . I m Laufe dieser E n t w i c k l u n g waren die B e m ü h u n g e n der Forschung ebensosehr darauf konzentriert, der Eigenart ihres schwerfaßlichen Gegenstandes angemessene Methoden zu entwickeln wie einen ausgedehnten Kenntnisbestand zu erarbeiten. Dabei war es eine notwendige Durchgangsphase, daß die verschiedenen möglichen Betrachtungsweisen seelischer Wirklichkeit eine Zeitlang m i t Schärfe u n d sogar Ausschließlichkeit geübt u n d erprobt wurden. In dieser Zeit zerfiel die Psychologie i n eine Mehrzahl v o n „Schulen". Diese Phase i s t j e d o c h seit mehreren Jahrzehnten vorüber. S e i t d e m h a t a u c h die Psychologie „ d e n sicheren Gang der Wissenschaft angetreten", u m einen Ausdruck K a n t s zu verwenden. D i e Vielfalt der inzwischen entwickelten Verfahren u n d der unübersehbare Ertrag jahrzehntelanger, überaus
PSYCHIATRIE
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Psycho-
pathologie
FORENSISCHE PSYCHOLOGIE I. EINLEITUNG A . Psychologie und Recht Die Begegnungen zwischen der Welt des Rechtes und der v o n der Psychologie erfaßten Wirklichkeit können u n d müssen auf vielerlei verschiedenen E b e n e n geschehen. U m aber das Verhältnis der beiden Sphären zueinander nicht v o n Grund auf zu verkennen, m u ß man sich ständig ihre Wesensverschiedenheiten vor A u g e n h a l t e n : Das R e c h t ist ein Reich der Normen, die psychische Wirklichkeit eine Welt v o n Fakten. D e m g e m ä ß ist die Psychologie eine TatsachenWissenschaft. Die Geburtsstunde der einzelwissenschaftlichen Psychologie wird konventionellerweise auf das Jahr 18G0 datiert, in welchem G. Th. Fechners „ E l e m e n t e der Psychophysik"
RÜDIGER SCHOTT
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Forensische Psychologie
fruchtbarer Forschungsarbeit hat eine Aufgliederung des Gesamtgebietes in eine Mehrzahl von Disziplinen erforderlich gemacht, so daß der Begriff Psychologie heute schon eine ganze Gruppe von Fächern bezeichnet. Die DiplomPrüfungsordnung für Studierende der Psychologie schreibt eine Prüfung in 9 psychologischen Fächern (und einer Reihe von außerpsychologischen Fächern) vor. Eine literarische Repräsentation des gegenwärtigen Standes des Faches und seines Umfanges in deutscher Sprache stellt das „Handbuch der Psychologie" dar, das seit 1959 in 13 gewichtigen Bänden erscheint. Es liegt auf der Hand, daß zwischen dieser ausgedehnten und vielgliederigen Wissenschaft vom menschlichen Erleben, Stellungnehmen und Verhalten und seinen individuellen wie sozialen und kulturellen Bedingungen einerseits und der Welt des Rechtes andererseits viele Berührungspunkte bestehen. Die höchste Ebene der Begegnung ist die der Gesetzgebung. Die Rechtsordnung wendet sich an den Menschen und muß in gewissem Umfang auch seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten Rechnung tragen. Das gilt vor allem für das ausgedehnte und sich immer weiter ausdehnende „sekundäre System" (Freyer) des positiv "gemachten" Rechts. Die Einzelentscheidungen dieser positiven Rechtsordnung sollten, soweit irgend möglich, so beschaffen sein, daß sie den in der Natur des Menschen gelegenen Verhaltenstendenzen entsprechen und ihnen nicht zuwiderlaufen. Die hier sich bietenden Möglichkeiten sind exemplarisch aufgezeigt fiir den Bereich der Straßenverkehrsordnung bei Undeutsch (1958). Die Möglichkeiten der empirischen Psychologie, hier mitzusprechen, sind naturgemäß sehr viel geringer für den Kernbereich des überkommenen Rechtes, der sich auf einen aller rechtlichen Regelung vorgegebenen sozial-ethischen Urbestand von Werten gründet. Doch kann auch für dieses zentrale Rechtsgebiet psychologische Tatsachenforschung belangvoll werden für die Auffindung der Grenze rechtlicher Möglichkeiten. Hierzu führt R. Lange (1961), der gewiß nicht in den Verdacht des Psychologismus geraten kann, sehr treffend aus: „Es ist die soziale Aufgabe der Norm, des Rechtsgesetzes, die Spannung zwischen Sein und Sollen zu zeigen und zu bewahren . . . Aber das Spannungsgefüge zwischen Sollen und Sein zerspringt, die sittenbildende und -erhaltende Kraft des Rechts erlahmt, wenn die Normen nur noch als unverständliche Härte, als Willkür, als Verewigung historischer Dogmen, als bedingungslose Übernahme abgestorbener religiöser oder moralischer Tabus erscheinen" (S. 407). Als Beispiel für die Möglichkeit, von Seiten der Psychologie Gesichtspunkte für die Strafgesetzgebung beizusteuern, können die Diskussionsbei-
träge dienen, die von psychologischer Seite zum Entwurf eines Strafgesetzbuches (E1960 bzw.1962) geliefert worden sind (Thomae 1961, Hofstätter, Hochheimer). Sehr viel wichtiger werden die Ergebnisse kriminalpsychologischer Forschung, wenn es darum geht, das Gesetz auszurichten auf bestimmte Tätertypen, die wegen ihrer Gefährlichkeit mit großer Präzision und Zuverlässigkeit erfaßt werden müssen. So kann ζ. B. das sogenannte Gewohnheitsverbrecher-Gesetz vom 24. X I . 1933 ganz und gar als Ergebnis kriminal-psychologischer Erkenntnisse gewertet werden. Ein weiterer Erfolg kriminologischer Forschung ist die Herausarbeitung der Erscheinungsformen des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers in den §§ 20 a und 42 e StGB. Die Erfahrungen mit der akuten Alkoholkriminalität haben im sogenannten Rauschdelikt des § 330 a, die Erkenntnisse über die chronische Rauschgift-Kriminalität im § 4 2 c ihren Niederschlag gefunden. Auch die Novelle zum StGB vom 19. X I I . 1952 (§ 42 m: Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßnahme sichernder Art auch gegenüber dem unzurechnungsfähigen Täter) baut auf kriminologischen Erkenntnissen auf. Gerade aber am Beispiel des Verkehrsstrafrechtes kann gezeigt werden, daß nur ausgedehnte tatsachenwissenschaftliche Vorarbeit verhindern kann, daß der Gesetzgeber zur Abwehr bestimmter Gefahren (Unfälle) einfach blindlings einen Bombenteppich von Strafandrohungen abwirft, durch den auch der an sich rechtstreue und gutwillige, aber menschlicher Fehlsamkeit unterliegende Verkehrsteilnehmer getroffen wird, „so daß in der Tat heute jeder, der sich ans Steuer eines Wagens setzt, mit einem Fuß im Gefängnis steht", wie der Berichterstatter des Rechtsausschusses des Bundesrates in einer Diskussion über das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs zugegeben hat, während alles darauf ankäme, die ganze Schwere der Strafandrohung zu konzentrieren auf einen sich sowohl in hohem Maße gefährlich als auch schwer schuldhaft verhaltenden speziellen Kreis von Fahrern. Die Möglichkeiten der Begegnungen und Ergänzungen zwischen Psychologie und Recht auf der gesetzgeberischen Ebene abschließend, kann Maurach zitiert werden, der mit eingehender Begründung ausführt, „daß auf zahlreichen Gebieten die kriminologische Vorarbeit nicht mehr fortgedacht werden kann, ohne Zweck und Wirkung des Strafrechts ernstlich zu gefährden" (S. 31). Sehr viel anders sind die Aufgaben des Psychologen, wenn er als Sachverständiger in ein gerichtliches Verfahren einbezogen wird. Die Bestimmung der grundsätzlichen Prozeßrolle des Sachverständigen in der deutschen StPO ist verunglückt. Doch ist bereits aus den Motiven
Forensische Psychologie zur Strafprozeßordnung (1873) und zur Zivilprozeßordnung (1874) zu entnehmen, daß er Gehilfe des Richters ist. So umschreibt ihn auch die allgemeine Meinung. Mit der Übernahme dieser Prozeßrolle übernimmt der Sachverständige die Verpflichtung, im Rahmen der geltenden Gesetze im Hinblick auf die aus ihnen sich für den konkreten Fall ergebenden Fragen tätig zu werden. Alle bei ihm evtl. vorhandenen reformatorischen Absichten und Überzeugungen muß er bei der Erledigung seines Gutachtenauftrages außer acht lassen. Daraus können sich für den einzelnen Sachverständigen mitunter quälende Konflikte ergeben, worauf an verschiedenen Stellen dieses Beitrages noch hinzuweisen sein wird. Eine ausführliche Darstellung des Sachverständigenrechts gibt Jessnitzer. B. Forensische Psychologie Alle wissenschaftlichen Verfahren und Erkenntnisse, die die Fächergruppe Psychologie dem Sachverständigen für die Erfüllung seiner mannigfaltigen Aufgaben in Prozessen zur Verfügung stellen kann, sind zusammengefaßt in jenem Teilgebiet der angewandten Psychologie, das als forensische Psychologie bezeichnet wird (von forum = Markt, Gericht). Die sinngleiche deutsche Bezeichnung lautet zutreffend „gerichtliche Psychologie". Die Weite ihres Aufgabenbereiches hat Bader aufgezeigt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die forensische Psychologie „alles umfaßt, was zur psychologischen Durchdringung der Rechtspflege — und eben nicht nur der Strafrechtspflege — erforderlich ist" (S. 448). Dies ist der wissenschaftliche Rahmen einer forensischen Psychologie. In der gerichtlichen Praxis konzentriert sich die Tätigkeit des psychologischen Sachverständigen auf die fachkundige Mitwirkung bei der Sachverhaltsfeststellung und bei der Würdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten. Ehe nun in die sachlichen Erörterungen eingetreten werden kann, ist noch ein Wort über die fachliche Provenienz des Sachverständigen erforderlich. In der Literatur (R. Lange, S. 413 f.) wie in der Rechtsprechung (BGHSt [1955] 7, 82—86 und 2 StR 330/59 vom 19. VIII. 1959 hinsichtlich der Begutachtung von minderjährigen Zeugen; BGH NJW 1959, 2315 und 4 StR 214/59 vom 29. VII. 59 hinsichtlich der Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit bei psychisch gesunden Tätern) besteht Ratlosigkeit bezüglich der Kompetenzen des psychiatrischen Sachverständigen einerseits und des psychologischen Sachverständigen andererseits, obwohl hierüber Bohne 1949 bereits alles Wesentliche beigebracht hat. Er führt aus: „Daß diese Frage überhaupt diskutiert werden konnte, überrascht zunächst, hatte aber darin seinen verständlichen Grund,
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daß die Gerichte jahrzehnte-, ja man kann sogar sagen jahrhundertelang in Sachen, die die Körperlichkeit und Psyche von Personen betrafen, ausschließlich auf medizinische Sachverständige angewiesen waren. . . . Es fragt sich nur, ob nicht inzwischen die Zeit gekommen ist, diese gerichtliche Gutachtertätigkeit auf naturwissenschaftlichem Gebiet, die seit einer Reihe von Jahren einen fast alle Gebiete naturwissenschaftlicher Forschung umfassenden Umfang angenommen hat, wenigstens in 3 Fachgebiete aufzuteilen und s p e z i e l l aus- und vorgebildeten Gutachtern zuzuweisen: das Gebiet der gerichtlichen Medizin, das Gebiet der naturwissenschaftlichen Kriminalistik, das die Spurenforschung mit physikalischen und chemischen Mitteln betreibt, and das Gebiet der psychologischen Begutachtung der am Verfahren beteiligten Personen, vor allem der Zeugen, aber auch des Beschuldigten" (Sp. 9/10). Es ist schwer verständlich, daß die Unklarheit über die Kompetenzen der beiden Fächergruppen ζ. T. noch heute besteht. Dabei liegt offen zutage, daß die Ausbildung des Psychiaters auf das kranke Seelenleben ausgerichtet ist und auf diesem Gebiet auch seine beruflichen Erfahrungen liegen, während die Ausbildung des Psychologen auf das normal gesunde Seelenleben ausgerichtet ist und auch seine berufliche Erfahrung auf diesem Gebiet liegt. Bei Fächern, die durch planmäßige Lehrstühle an sämtlichen Universitäten vertreten sind und für die es eigene akademische Abschlußexamina gibt, kann schließlich Sachkunde nur derjenige beanspruchen und „nach der Erfahrung des Lebens" (RGSt 61 [1928], 273) auch nur derjenige tatsächlich haben, der auf dem betreffenden Fachgebiet ein ordnungsgemäßes Studium, ein akademisches Abschlußexamen und berufliche Praxis aufzuweisen hat. Als psychologischer Sachverständiger kann deshalb nur gelten, wer Psychologie als Hauptfach studiert, in diesem Fache ein Abschlußexamen abgelegt und berufliche Praxis erworben hat. Das ist beim Mediziner allgemein, aber auch beim Facharzt für Psychiatrie im allgemeinen nicht der Fall, weshalb er auch die Funktion eines psychologischen Sachverständigen nicht übernehmen kann. Besonders kraß wird die Situation beleuchtet durch den Umstand, daß in der akademischen Ausbildung des Mediziners ein auch noch so kurzes Studium der Psychologie nicht vorgeschrieben ist und demzufolge diese Disziplin auch kein Prüfungsfach ist, während umgekehrt jeder Diplom-Psvchologe eine sich über mehrere Semester erstreckende Ausbildung im Fach Psychopathologie hat und in diesem Fach in der Diplom-Hauptprüfung vom zuständigen Ordinarius für Psychiatrie einer eingehenden Prüfung unterzogen wird. Nach Bohne „kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dieser normale Ablauf
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psychischer Funktionen . . . in das Fachgebiet des Psychologen und nicht des Psychiaters gehört, mag der Psychiater auch, um die Grenzen seines Gebiets erfassen zu können, vom Normalen seinen Ausgang genommenen haben, wie der Pathologe als Grundlage seines Forschungsgebiets von der normalen Anatomie und Histologie auszugehen hat. Aber wie in diesem letzten Fall niemand den Pathologen als Sachverständigen in rein anatomischen, histologischen und entwicklungsgeschichtlichen Fragen proklamieren wird, so wenig kann dies hinsichtlich der Bewertung einer Zeugenaussage durch den Psychiater zulässig sein" (Sp. 13). Das gleiche güt natürlich für die Untersuchung und Begutachtung des Beschuldigten, sofern er dem breiten Bereich der empirischen Norm angehört. Π. DIE MITWIRKUNG DES PSYCHOLOGEN BEI DER SACHVERHALTSAUFKLÄRUNG Der psychologische Sachverständige kann an der Klärung des Sachverhalts mitwirken durch Begutachtung des „subjektiven Personalbeweises" (K. Peters). Die Aufgabe des Psychologen ist dabei regelmäßig die Begutachtung der Richtigkeit der Bekundungen der Zeugen oder des Beschuldigten. Dabei sind zwei grundsätzlich verschiedene Fälle möglich. Es kann sein, daß die befragte Person erklärt, sie wisse nichts von der Sache, nach der sie gefragt wird. Dann können die Verfahren der Spurensymptomatologie eingesetzt werden. In einer anderen Gruppe von Fällen macht die befragte Person positive Angaben über den Gegenstand der Befragung. Dann können die Verfahren der Aussagepsychologie angewendet werden. A. Spurensymptomatologie Mit Hilfe der spurensymptomatologischen Verfahren kann die Bekundung eines Menschen überprüft werden, er habe mit einem bestimmten Vorgang, Ereignis, Sachverhalt nichts zu tun und wisse auch nichts davon. Von praktischer Wichtigkeit wird die Überprüfung einer solchen negativen Bekundung vor allem im Falle des Beschuldigten, der die Täterschaft leugnet. Psychologische Grundlage der spurensymptomatologischen Verfahren ist die Erfahrung, daß Ereignisse, die den betreffenden Menschen etwas „angehen", die ihn „betreffen", die „personbedeutsam" sind, „nicht spurlos an ihm vorübergehen", wie eine geläufige Redewendung heißt, in der die Lebenserfahrung ihren Niederschlag gefunden hat. In der Tat ist es schlechterdings unvorstellbar, daß etwa die Tötung eines Menschen keine Spur in der Psyche des Täters hinterlassen würde. Für andere schwere Straftaten gilt das
gleiche, und es gilt mehr oder minder für alle Straftaten, die zumindest insofern „personbedeutsam" sind, als mehr oder minder weitreichende Straffolgen mit einschneidenden Folgen für die bürgerliche Existenz des Täters an sie geknüpft sind. Eine persönliche Bedeutsamkeit ist schließlich auch für den Zeugen eines gerichtlich verfolgten Vorganges gegeben, insofern die wahrheitswidrige Behauptung, von der Sache nichts zu wissen, eine Falschbekundung vor Gericht ist, die eine mit Strafe bedrohte Handlung darstellt (§§ 153—156 StGB). Faßbar werden die Spuren der erlebnismäßigen Verbundenheit des Befragten mit dem erfragten Ereignis in irgendwie auffallenden Reaktionen bei Berührung des verheimlichten Wissens in der Befragung. Da aber selbstverständlich derjenige, der fälschlich im Verdacht steht, der Täter zu sein oder von einer Sache zu wissen, ebenso auffällige Reaktionen zeigen kann wie derjenige, der tatsächlich der Täter ist oder von einer Sache weiß, muß in der Ausgestaltung eines spurensymptomatologischen Untersuchungsverfahrens sehr sorgfältig darauf Bedacht genommen werden, daß nur derjenige an den kritischen ( = tatbezüglichen oder sachverhaltsbezüglichen) Stellen der Befragung auffällige Reaktionen zeigen kann, der in Wahrheit der Täter oder Mitwisser ist. Dies geschieht dadurch, daß man zwischen harmlose und unverfängliche Reize in undurchsichtigem Wechsel „kritische" Reize einstreut, die anscheinend auf den erfragten Komplex hindeuten bzw. ihm entnommen sind. Diese anzüglichen Reize bestehen aber in Wahrheit aus zwei heterogenen Gruppen: solchen, die dem interessierenden Komplex entnommen sein könnten bzw. entnommen zu sein scheinen ( = unspezifische kritische Reize) und solchen, die tatsächlich dem interessierenden Komplex entnommen sind ( = spezifische kritische Reize). Wenn nun regelmäßig im Versuch besondere Auffälligkeiten der Reaktion gerade bei den spezifischen kritischen Reizen auftreten, so folgt daraus zwingend, daß der Untersuchte Einzelheiten aus dem Tatkomplex weiß. Der Versuch zeigt nur, was einer von der Sache weiß, gibt jedoch keine Auskunft darüber, auf welchem Wege er dieses Wissen erworben hat. Darum muß einer solchen Untersuchung vorausgehen eine Befragung über alle Einzelheiten, die dem Untersuchten von der erfragten Sache bekannt sind, und eine Erkundung, auf welchem Wege er diese Kenntnisse erlangt hat.Daraus ergibt sich auch, daß eine spurensymptomatologische Untersuchung den größten Wert hat, wenn sie ganz am Anfang der Befragung des Verdächtigen steht. Je mehr ihm von dem bisherigen Ermittlungsergebnis bekanntgegeben worden ist, um so schwieriger ist es, eine solche Untersuchung so anzusetzen, daß ihre Ergebnisse eindeutig interpretierbar bleiben.
Forensische Psychologie Die Konzeption dieser Untersuchungsverfahren stammt von M. Wertheimer und J. Klein. Beide sind Schüler des Prager Kriminalwissenschaftlers Hans Gross gewesen. Sie haben im Jahre 1904 ihre Gedanken in einer im Telegrammstil gehaltenen Programmschrift vorgelegt. Von der Vielzahl der für Zwecke spurensymptomatologischer Untersuchung in Frage kommenden Verfahren haben zwei eine größere Bekanntheit erlangt: der Assoziationsversuch und die Aufzeichnung körperlicher Begleiterscheinungen emotionaler Erregung. 1. Der Assoziationsversuch Wundt hat auf Anregung Galtons (1879) ein einfaches Experiment in die deutsche Psychologie eingeführt, das hernach als „Assoziationsexperiment" bezeichnet worden ist. Es besteht darin, daß die Versuchsperson auf ein ihr vom Versuchsleiter genanntes Wort so rasch wie möglich mit dem nächsten ihr einfallenden Wort zu antworten hat. 1901 regte Eugen Bleuler an der Psychiatrischen Klinik in Zürich Assoziationsuntersuchungen an. C. G. Jung und Riklin veröffentlichten 1904 die ersten Ergebnisse dieser Untersuchungen. Will die Versuchsperson einen Komplex verheimlichen und wird dieser in der Untersuchung berührt, so verrät sich die Versuchsperson unweigerlich durch auffällige Reaktionen auf die spezifischen Reize. Die Auffälligkeit kann bestehen 1. in verlängerter Reaktionszeit, 2. in inhaltlicher Auffälligkeit, sei es, daß die Antwort direkt komplexhaltig ist ( = inhaltlicher Selbstverrat), sei es, daß sie aus dem Rahmen des Gewohnten fällt (auffällig, absurd, sinnlos oder ähnliches ist), 3. in schlechter Reproduktionsleistung. Man verwendet gewöhnlich eine Reihe von 100 Reizwörtern. Ist der Reaktionsversuch durchgeführt, so läßt man die Versuchsperson hernach noch einmal angeben, womit sie auf jedes einzelne Reizwort geantwortet hat. Dabei versagt mitunter die Erinnerung. Die Stellen, an denen unrichtig oder mangelhaft reproduziert wird, berühren in der Regel einen Komplex. Über Einzelheiten des Verfahrens unterrichtet Wertheimer (1933). Es ist selbstverständlich, daß das Ergebnis eines solchen Versuches erst dann sichere Schlüsse zuläßt, wenn eine Vielzahl gleichsinniger Symptome zu verzeichnen ist. 2. Die Aufzeichnung körperlicher Begleiterscheinung Körpervorgänge, deren regelmäßiger Zusammenhang mit seelischen Vorgängen — insbesondere affektiver Natur — lediglich konstatiert und registriert werden kann, die folglich zwar einen faktischen, aber psychologisch undurch14
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sichtigen Bezug auf Seelisches haben, werden nach einem terminologischen Vorschlag von Jaspers als „körperliche Begleiterscheinungen des Seelischen" bezeichnet (S. 214). Die Erforschung der Affekte auf dem Wege über ihre Äußerung in körperlichen Begleiterscheinungen war ein zentrales Anliegen der Ausdruckspsychologie von Wundt. Das ist kein historischer Zufall, sondern die Konsequenz eines säkularen Programms der Psychologie. Denn gesetzt, Descartes hat recht, dann konnte ein moderner Psychophysiker zu der Auffassung gelangen, die „BegleitVorgänge der Seelenzustände", vor allem die Begleitvorgänge der Affekte, müßten zuerst und methodisch am reinsten im Bereich der körperlichen Innerlichkeit zu fassen sein. Darum sieht Wundt, der von Haus aus Physiologe ist, den lebenswichtigen Innendienst der Blutzirkulation und der Atmung als das zentrale Gebiet des Ausdrucks an. Von ihm stammt das „allgemeinste psychophysische Prinzip der Ausdrucksbewegungen": „Mit jeder Veränderung psychischer Zustände sind zugleich Veränderungen physischer Korrelatvorgänge verbunden" (S. 90). Von den unwillkürlichen körperlichen Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge sind bisher genauer untersucht vor allem der Blutdruck, die Pulsfrequenz, der Atmungsverlauf und die galvanische Hautreaktion (gemessen als Widerstandsänderung). In gleichem Sinn wie die bisher besprochenen körperlichen Begleiterscheinungen lassen sich auch die von Rohracher 1943 entdeckten Mikrovibrationen des menschlichen Körpers auswerten. Ihre Frequenz liegt zwischen 7 und 11 Schwingungen pro Sekunde, ihre Größe (Amplitude) beträgt beim gesunden erwachsenen Menschen im Zustand möglichster Entspannung 1—5 Mikron. Es wird angenommen, daß die Ursache der Mikrovibrationen in ständig vorhandenen Mikrokontraktionen der Muskulatur zu suchen ist. Da sich psychische Spannungen in Muskelspannungen auswirken, war zu vermuten, daß die Amplitude der Mikrovibrationen zur objektiven Feststellung psychischer Spannungszustände geeignet ist. Diese Vermutung hat sich inzwischen in einer Reihe von Untersuchungen bestätigt (Rohracher 1958). Es lag nahe, die Tatsache, daß es unwillkürliche und daher nicht zu unterdrückende Manifestationen der jeweiligen affektiven Zuständlichkeit in der Sphäre der Körperlichkeit gibt, für spurensymptomatologische Zwecke dienstbar zu machen. So beschäftigte sich Münsterberg bereits 1908 mit der Frage nach der Möglichkeit, galvanische Hautwiderstandsmessungen zur Beurteilung der subjektiven Wahrhaftigkeit von Bekundungen zu nutzen. Benussi (1914) arbeitete sehr sauber eine spezielle Atmungssymptomatik der Lüge heraus,
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das Quotientengesetz, wonach der durchschnittliche Wert der Quotienten „Inspiration: Exspiration" der Atemzüge vor der Aussage im Falle ihrer Wahrhaftigkeit größer ist als der durchschnittliche Quotientenwert der Atemzüge nach der Aussage; im Falle der Lüge kehrt sich dieses Verhältnis um. Dieses Quotientenverhältnis ist das für die Entscheidung in Anspruch genommene Symptom. Wenn bei den ersten Atemzügen nach einer Aussage die Einatmung im Verhältnis zur Ausatmung verlängert ist, so ist nach Benussi Lüge zu vermuten. Eine Nachuntersuchung von Klemm h a t ergeben, daß die Sicherheit des Kriteriums vor allem von dem Aufbau des Verhörs abhängt. Je mehr die Fragen sich auf selbständige Einzelzüge des kritischen Sachverhalts beziehen oder durch sachfremde Fragen unterbrochen werden, um so reiner und deutlicher prägt sich das Benussi-Kriterium aus. Für die Zwecke einer graphischen Aufzeichnung der Auswirkungen der Affekte auf Pulsfrequenz u n d Blutgefäßvolumen entwickelte Angelo Mosso seinen Plethysmographen. Cesare Lombroso war der erste, der experimentell der Frage nach den Zusammenhängen zwischen Blutdruckhöhe und Pulsfrequenz einerseits und psychischen Vorgängen andererseits nachging. Münsterberg diskutiert in seinem bereits erwähnten Buch auch die Verwendbarkeit von Blutdruck- und Pulsfrequenzkurven für die Beurteilung der Aussagen von Zeugen und Beschuldigten. Im Jahre 1915 griff W. M. Martson, ein Schüler Münsterbergs, die Frage erneut auf. Er berichtet über einige sehr erfolgreiche Versuche. Für die Anwendung der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse in der kriminalistischen Praxis kam es selbstverständlich darauf an, ein höchstmögliches Maß an diagnostischer Sicherheit zu gewinnen. Das ließ sich dadurch erreichen, daß man eine Mehrzahl von unwillkürlichen körperlichen Begleiterscheinungen gleichzeitig registrieren und graphisch aufzeichnen ließ. Das Gerät, das dies leistet, wurde „Polygraph" (Mehrfachschreiber) genannt und wird umgangssprachlich — allerdings nicht zutreffend — als „Lügendetektor" bezeichnet. Ein erstes, allerdings ausschließlich medizinisch-diagnostischen Zwekken dienendes Gerät dieser Art wurde etwa 1906 nach den Plänen des englischen Internisten Sir James Mackenzie von S. Shaw in Lanceshire erbaut. Der erste ausschließlich für kriminalistische Zwecke bestimmte Polygraph wurde 1921 von Larson konstruiert. Eine technisch in vielfacher Hinsicht verbesserte Fortführung des LarsonPolygraphen stellt das von L. Keeler 1926 konstruierte Gerät dar. Geräte dieser Art werden heute von den verschiedensten Firmen serienmäßig in großer technischer Vollkommenheit hergestellt.
Die Untersuchung mit dem Polygraphen liefert nur einwandfreie Ergebnisse, wenn der Untersuchte über die Arbeitsweise des Gerätes genau informiert ist, sich freiwillig der Untersuchung unterzieht und sich instruktionsgemäß ruhig verhält. Einer mißbräuchüchen Anwendung des Gerätes ist daher schon aus technischen Gründen ein Riegel vorgeschoben. Die Einzelheiten der Durchführung und Auswertung einer Untersuchung mit dem Polygraphen können den Büchern von Inbau und Reid, Lee und Leonard entnommen werden. Aus den vorliegenden Erfahrungsberichten ergibt sich, daß das Gerät bei sachkundiger Versuchsdurchführung und Auswertung außerordentlich zuverlässige Ergebnisse bringt. Die Kurvensymptomatik ist auch für den Täter selbst so anschaulich u n d überzeugend, daß Geständnisse nach einer derartigen Untersuchung häufig sind. In einem deutschen Material (des US Crime Laboratory in Frankfurt) legten am Ende der Untersuchung 68% der nach der gezeigten Symptomatik als Täter Bezeichneten ein Geständnis ab. Der praktische Wert der Verwendung des Polygraphen liegt vor allem auf kriminaltaktischem Gebiet. Mit seiner Hilfe ist sehr schnell festzustellen, ob sich der Täter unter den verdächtigen Personen befindet. Daraus ergibt sich dann, ob die weitere Ermittlungstätigkeit sich auf den nach der Symptomatik der polygraphischen Untersuchung Tatverdächtigen konzentrieren kann oder weiter nach dem Täter gesucht werden muß. In Deutschland ist die Verwendung des Polygraphen im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Verfahrens nach der Entscheidung BGHSt [1954] 5, 333—338 nicht zulässig. Eine Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung würde hier zu weit führen; sie enthält eine Fülle falscher Annahmen und fehlerhafter Schlußfolgerungen. B. Aussagenpsychologie Während spurensymptomatologische Untersuchungen in erster Linie auf den Beschuldigten gemünzt sind, h a t man bei der aussagepsychologischen Fragestellung in erster Linie die Aussage des Zeugen im Sinne, obwohl die für die Beurteilung der Zeugenaussage gültigen Gesichtspunkte bei nur geringfügigen Modifikationen mit bestem Erfolg auch für die Beurteilung der Einlassung des Beschuldigten angewandt werden können. Um die Jahrhundertwende setzte die experimentelle Erforschung der Psychologie der Aussage machtvoll ein. Binets Buch über dieSuggestibilität (1900) und Sterns Abhandlung „Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt" (1903) stehen am Anfang einer langen Reihe von Experimentaluntersuchungen, die dem Unerwachsenen verschiedener Altersstufen, ver-
Forensische Psychologie schiedener Schichten, beider Geschlechter galten, die die Aussagen über Bilder, örtlichkeiten, Zeitdauer, Vorgänge, Gegenstände prüften, die Erinnerungstreue und -untreue in ihrer Abhängigkeit von äußeren und inneren Bedingungen studierten, den Einfluß der Aufmerksamkeit, des Intereesses, der Suggestion usw. untersuchten. Das Interesse der damaligen Forscher war dabei vorwiegend ein allgemeinpsychologisches und konzentrierte sich auf die Frage nach der Leistungsfähigkeit des menschlichen Aussagevermögens. Das Ergebnis der ersten Untersuchungen wurde von Stern prägnant zusammengefaßt in dem berühmt gewordenen Satz: „Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme" (1902, S. 327). Bei der Auswertung der Ergebnisse dieser Untersuchungen für die Bewertung von Zeugenaussagen spielten zudem übertriebene Vorstellungen von der Krisenhaftigkeit der psychischen Entwicklung in der Phase der Pubeszenz eine Rolle, wie sie sich ergaben teils aus der Rekapitulationstheorie Stanely Halls, teils aus der Belletristik jener Tage, in der mit Vorliebe die Nöte und die Probleme des Jugendalters behandelt wurden (Näheres hierzu bei Undeutsch 1954, S. 17). Die Berührung der damaligen Psychologengeneration mit der forensischen Praxis war eine höchst einseitige. Stern bezeugt in seinem klassischen Werk (1926): „Von selbst sind die Ermittlungsbehörden und Gerichte so gut wie nie darauf gekommen, Sachverständige zu laden; es waren fast immer nur Verteidiger, welche die Ladung veranlaßten" (S. 70). Ebenso schreibt Mönkemöller (1930): „Wenn der psychologische oder psychiatrische Sachverständige in Sachen der Psychologie der Zeugenaussage in den Gerichtssaal gerufen wird, dann hat er so gut wie ausnahmslos den Verteidiger als den Mann zu begrüßen, der sein Erscheinen veranlaßt h a t " (S. 110). Der psychologische Sachverständige bekam daher nicht nur jahrzehntelang nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt aus der Gesamtheit der wirklich verhandelten Fälle zu sehen, sondern zudem einen Ausschnitt, der in keiner Weise als repräsentativ für die Gesamtheit der Fälle angesehen werden konnte, vielmehr in sehr spezieller Weise vorausgelesen war. Aus alledem wird es verständlich, daß die damalige Psychologengeneration (W. Stern, 0 . Lipmann, K. Marbe, M. Döring u. a.), aber auch der Psychiater Mönkemöller in einer Erschütterung des Vertrauens in die Zeugenaussage ihre Hauptaufgabe erblickten. Es breitete sich von daher eine Front unüberwindlicher Skepsis gegenüber den Aussagen von Kindern und Jugendlichen aus. Lipmann (1905): „Auf alleinige Bekundung von Kindern darf eine Verurteilung nicht stattfinden." Alsberg (1913): „Nur ein 14·
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kleiner Teil von kindlichen Zeugen sagt die Wahrheit." Mönkenmöller (1930): „Und immer soll man die Mahnung Schneickerts beherzigen, daß den Kindern, wenn sie Hauptbelastungszeugen sind — und das sind sie in Sittlichkeitsprozessen fast immer —, nicht allzuviel Glauben geschenkt werden darf und daß man sich davor hüten soll, lediglich auf eine bloße Kinderaussage hin eine Verurteilung auszusprechen, falls nicht der objektive Tatbestand unabweisbar dazu drängt" (S. 406). Stern selbst schrieb zu Beginn dieser Epoche (1903): „Daß so die Aussagepsychologie mit einer wesentlich destruktiven Leistung anhebt, ist fraglos; und viele, namentlich Praktiker, welche wohl diese eine, zunächst sich aufdrängende Wirkung beachten, sehen daher in derartigen wissenschaftlichen Untersuchungen geradezu eine verhängnisvolle Bedrohung praktisch-positiver Kulturbetätigung; vor allem scheint die Anzweifelung des Objektivitätswertes der normalen und gutgläubigen Zeugenaussage die forensische Wahrheitsfindung und damit überhaupt eine fruchtbare Durchführung des Strafprozesses illusorisch zu machen. Aber wenn irgendwo, so dürfen wir gerade bei der Aussageforschung der Hoffnung leben, daß das unserem ersten Aufsatz vorgesetzte Motto sich bewähre. So sehr die Forschung destruktiv zu wirken scheint, während sie am Werke ist, so sicher werden ihre schließlichen Ergebnisse zu neuem Aufbau führen; sie werden an Stelle der diskreditierten Beurteilungskriterien neue und zuverlässigere setzen" (S. 48). Sterns Erwartungen erfüllten sich jedoch vorerst nicht. „Positive Beurteilungskriterien der Aussage" (S. 49) wurden von älteren Forschern auf dem Gebiete der Aussagepsychologie nicht erarbeitet. Sie geriet damit in einen schwer erträglichen Widerspruch zur Realität. Sachverständige mit großer forensischer Erfahrung wiesen mit aller Klarheit auf diesen Mißstand hin. So schrieben ζ. B . Müller-Hess und Nau im J a h r e 1930: „Häufig sind daher Fälle bekannt geworden und auch im eigenen Tätigkeitsbereich wiederholt vorgekommen, in denen gemeingefährliche Sittlichkeits Verbrecher straffrei ausgingen und somit nicht unschädlich gemacht werden konnten, weil die Gerichte, auf Grund einseitiger und übertriebener Bewertung psychologischer Experimente und Verallgemeinerungen gewisser Bedenken gegen die Wahrheitstreue der Zeugenaussagen, sich nicht entschließen konnten, trotz schwerster Verdachtsmomente ein Urteil zu fällen" (S. 49). Der von Stern erhoffte „neue Aufbau" der Aussagenspychologie auf Grund „neuer und zuverlässigerer", „positiver Beurteilungskriterien" erfolgte erst nach dem zweiten Weltkrieg, als durch die vermehrte Zuziehung psychologischer Sachverständiger ein umfangreiches und vielgestaltiges Erfahrungsmaterial für die Wissenschaft-
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liehe Durchdringung und Auswertung zur Verfügung stand (Undeutsch 1954). In welcher Richtung war zu suchen, wenn man „positive Beurteilungskriterien" finden wollte ? In den Anfängen der Aussagenpsychologie war das Augenmerk der Forschung vor allem auf die Leistungsfähigkeit menschlicher Aussagetüchtigkeit gerichtet. Diese Frage hat ein gewisses allgemeinpsychologisches Interesse. Für die Praxis ist sie nur in Ausnahmefällen von Bedeutung. Für die überwiegende Mehrzahl der Sittlichkeitsverbrechen gilt, daß sie einerseits vom Alltagsgeschehen deutlich abgehoben und andererseits in ihrem Ablauf so einfach und übersichtlich zu sein pflegen, daß sie an die Aussagetüchtigkeit nur sehr geringe Anforderungen stellen, wie sie normalerweise von jedem Kind erfüllt werden können. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit menschlichen Aussagevermögens wird erst akut, wenn über allerlei Nebenumstände Äußerungen gemacht oder verlangt werden. Diese sind aber glücklicherweise für die Aufklärung des Tatherganges in der Mehrzahl der Fälle von ganz untergeordneter Bedeutung. Anders liegen die Verhältnisse allein in den Fällen, in denen die Richtigkeit und Zuverlässigkeit einer Wiedererkennung in Frage steht. Übrigens ist die Aussagetüchtigkeit der Menschen in Wahrheit gar nicht so schlecht, wie es nach den ersten experimentellen Untersuchungen auf diesem Gebiet den Anschein hatte. Bei einer Nachprüfung der Ergebnisse ζ. Β von M. Zillig (1928) haben wir feststellen können, daß nicht nur ihr Zahlenmaterial zu gering war, sondern auch, daß ihr methodische Fehler unterlaufen waren, bei deren Vermeidung sich nicht annähernd ein so ungünstiges Ergebnis einstellt wie das von ihr berichtete (Gondolatsch 1958). Viel Beachtung schenkte man der Entwicklungsphase, in der sich der Zeuge befindet. Aber wie soll man aus ihr bindende und klare Rückschlüsse auf die Richtigkeit einer bestimmten Aussage ziehen können ? Der Zusammenhang zwischen Entwicklungsphase und Aussagegestaltung ist ein sehr verwickelter, vielgliedriger und vager. Die intraindividuelle Variabilität im Entwicklungstempo sowie in der Ausgeprägtheit des Auftretens einzelner phasenspezifischer Züge ist außerordentlich groß. Bei einer von uns durchgeführten Wiederholung der jugendpsychologischen Untersuchungen von A. Busemann aus den frühen zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts hat sich zudem ergeben, daß die Jugendentwicklung heute in einem weit weniger ausgeprägten Auf und Ab und daher auch weit weniger problemhaft verläuft als damals (LeuschkeSimonis 1959, S. 190, 195 ff., 204). Auch die Erforschung der Persönlichkeit des Zeugen ist für die entscheidende Frage, ob eine von ihm gemachte bestimmte Aussage der Wahrheit entspreche, wenig hilfreich. So können etwa
sexuelle Vorerfahrungen sowohl gegen als auch — wie schon Stern (1926, S. 27) erkannte—für die Glaubhaftigkeit einer Bekundung sprechen. Die Rede von der (generellen) Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit eines Menschen geht von einer längst überwundenen statischen Vorstellung vom Charakter des Menschen aus. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat zwingend zu einer dynamischen Konzeption der Persöhnlichkeit geführt. Statt vieler sei dafür Thomae zitiert, der selbst maßgeblich an der Entwicklung dieser Konzeption beteiligt war: „In Wirklichkeit aber ist die normale Persönlichkeit kein ruhendes Gebilde, von dem man Teile ablösen oder das man aus Teilen zusammensetzen könnte. Sie ist ein sich bewegendes, der Veränderung unterworfenes Ganzes, das nur in seiner Bewegtheit, in seiner Gespanntheit zwischen Gegenwart und Zukunft, in der Art und Weise seiner aktuellen Auseinandersetzung mit der Welt, in seiner Reibung an der Situation und in seinem Getragensein von der Situation völlig begriffen werden k a n n . . . Die eben skizzierte Grundvorstellung von der Persönlichkeit führt mit innerer Konsequenz zu einer mehrgliedrigen Beurteilung. Die Aussage über einen oder einige Charakterzüge als solche wirkt hier nichtssagend. Es bedarf der Einbettung jeder einzelnen Aussage in das ,Feld' der inneren und äußeren Kräfte" (1954, S. 51 f.). Gerade bezüglich der Wahrhaftigkeit muß man sich vor statischen Vorstellungen hüten: so als habe jeder Mensch ein ein für alle Mal feststehendes Quantum davon. Darum ist die gerichtsübliche Frage nach der Glaubwürdigkeit eines Menschen gegenstandslos. Es kann ein Mensch im allgemeinen wahrheitsliebend sein, im konkreten Fall aber sieht er sich veranlaßt, die Unwahrheit zu sagen. Es kann auch umgekehrt jemand recht verlogen sein; im konkreten Falle aber sieht er sich veranlaßt, die Wahrheit zu sagen. Es können auch Teile der Aussage wahr, andere unwahr sein usw. Das Sprichwort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" mag zwar eine im Alltagsleben beherzigenswerte Maxime enthalten, für die Aufklärung von Verbrechen mit Hilfe von Zeugenaussagen gibt es jedoch keine brauchbare Handhabung. Diese Einsicht findet sich mit aller wünschenswerten Klarheit bereits bei Lipmann (1933); sie war nur leider wieder in Vergessenheit geraten: „Es handelt sich für den Sachverständigen letzten Endes immer nur um die Begutachtung der Glaubwürdigkeit einer Aussage, und das, was etwa für die Aussagetüchtigkeit, die Aussagegewissenhaftigkeit, die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, also über die Zeugnisfähigkeit der Person des Zeugen angeführt werden kann, ist nur Material — und durchaus nicht immer das allein ausschlaggebende Material — für die Begutachtung der
Forensische Psychologie Aussage; denn kein Mensch irrt sich oder lügt immer, und jeder Mensch irrt sich oder lügt manchmal, und es handelt sich ja nur darum, ob er im vorliegenden Falle geirrt oder gelogen hat" (S. 1041). Die Erforschung der Motivlage ist wichtig, aber auch sehr schwierig. In nicht wenigen Fällen kann ein Konflikt zwischen dem Beschuldigten und dem „Anzeigenden" oder dem Belastungszeugen eruiert werden. Aber für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Bekundungen ist damit wenig gewonnen. Denn wir erhalten keinen Aufschluß darüber, ob der Konflikt zur Veranlassung geworden ist, eine Falschbezichtigung in Szene zu setzen, oder ob es nur Veranlassung war, etwa Belastendes mitzuteilen, das andernfalls verschwiegen worden wäre. Von anderen Motiven läßt sich Entsprechendes dartun. Die Geschichte der Aussage muß so weit wie möglich erforscht werden, das Aussageverhalten soll man sorgfältig studieren. Überall sind Hinweise gegeben, die berücksichtigt werden müssen. Aber klare und eindeutige Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit einer Bekundung sind auch von diesen Aspekten her nur in Ausnahmefällen möglich, wie aus Raummangel jedoch nicht näher dargetan werden kann. Alle aufgeführten Aspekte sind geeignet, je einen Beitrag zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Bekundung zu liefern. Sie erlauben jedoch zumeist nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse. Sie sind um deswillen nicht wertlos. Man wird im konkreten Fall alle diese Wege beschreiten müssen. Beschränkt man sich aber auf sie, so bleibt man im Vorfeld der Aussagebeurteilung stehen. Eine bündige Entscheidung über den Wahrheitsgehalt einer bestimmten Bekundung ist von hier aus nicht möglich. Einer Beantwortung dieser Frage ist die frühere Generation der Sachverständigen, der andere als die bisher besprochenen Kriterien nicht zur Verfügung standen, daher auch konsequenterweise ausgewichen: Lipmann (1925): „Die Frage, ob der Zeuge überhaupt willens ist, seiner Zeugnispflicht ,nach bestem Wissen und Gewissen' zu genügen; diese Frage haben wir bei der Erörterung der Zeugnisfähigkeit ausgeschaltet bzw. als bejaht vorausgesetzt. Das Urteil über die Glaubwürdigkeit muß dem Richter überlassen bleiben, da dies nicht mehr eine Frage der psychologischen Wissenschaft, sondern der Menschenkenntnis ist" (S. 115). Stern (1926): „Die Aufgabe des Psychologen kann nur darin bestehen, die Möglichkeit von Aussageirrtümern aufzuzeigen und ihre Wahrscheinlichkeit abzuwägen" (S. 123). Gruhle (1931) äußerte in einer Anmerkung zu einem RG-Urteil die Meinung: der Sachver-
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ständige dürfe „sich niemals auf die Frage einlassen, ob einem Zeugen im speziellen Einzelfall geglaubt werden kann, denn auch die geübte Menschenkenntnis eines Sachverständigen kann den konkreten Sachverhalt im Einzelfall nicht immer so überschauen, daß er sich über die subjektive Wahrhaftigkeit hic et nunc ein Urteil erlauben kann" (S. 1494; sinngleich 1955, S. 31f.). Derselbe 1955: „Der Gutachter kann nur die gesamte Persönlichkeit des Kindes oder des Jugendlichen, den Entwicklungsgrad und dabei natürlich auch die Glaubwürdigkeit, Gewissenhaftigkeit, Sorgsamkeit u. dgl. beurteilen... Es kann sich dabei aber immer nur um einen Analogieschluß handeln, ζ. B. in der Art: da das Kind häufig durch Wichtigtuerei, Lügereien u. dgl. auffiel und sich bei der Untersuchung als sehr begabt, temperamentvoll, phantasiereich, leicht erregbar erweist, bestehen berechtigte Zweifel, ob man auf dieses Kindes Aussage allein bauen darf. Der Sachverständige ist niemals in der Lage, sagen zu können, ob ein Kind im speziellen Fall wirklich gelogen hat" (S. 32). Richtig daran ist zweifellos, daß die Beweiswürdigung zu den Rechten und Pflichten des Tatrichters gehört. Die Verantwortung für diese Aufgabe überträgt das Gesetz nur ihm (§§ 155 II. 244 II, 261, 264 StPO). Andererseits sieht das gleiche Gesetz vor, daß der Richter für die Erfüllung dieser seiner Aufgabe die Hilfe von Sachverständigen in Anspruch nehmen kann und soll, deren Aufgabe es ist, „dem Gericht den Tatsachenstoff zu unterbreiten, der nur auf Grund besonders sachkundiger Beobachtung gewonnen werden kann, und das wissenschaftliche Rüstzeug zu vermitteln, das die sachgemäße Auswertung ermöglicht" (BGH NJW 1955, S. 840). In einer RG-Entscheidung (JW 1939, 283) heißt es zum gleichen Thema: „Unter diesen Umständen durfte nichts unversucht bleiben, was geeignet gewesen wäre, die Beweisfrage zu klären und dem Gericht die Kenntnisse zu übermitteln, die es zur Beurteilung der Beweislage befähigen. Die Entscheidung selbst kann dem Gericht freilich nicht abgenommen werden; es ist auch nicht der Sinn der Einholung eines psychologischen Gutachtens, daß das Gericht von dem seelenkundlichen Sachverständigen eine fertige Meinung über die Glaubwürdigkeit der Kinder unterbreitet erhält. Für den Tatrichter wertvoll sind vielmehr die Gründe, aus denen der Sachverständige die Kinder oder eines von ihnen für glaubwürdig hält oder nicht" (S. 284). Ein Sachverständiger aber, der über den Wahrheitsgehalt einer konkreten Aussage keine zuverlässigen Angaben machen kann, leistet dem Gericht bei der Würdigung des Beweiswertes einer Zeugenaussage keine nennenswerte Hilfe, sondern läßt es im entscheidenden Punkte im Stich.
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Die entscheidenden Kriterien zur Beurteilung des Wahrheitsgehaltes einer Bekundung müssen auf anderen als den bisher besprochenen Gebieten liegen. Das einzige Tatsachenmaterial, das wir bei Sittlichkeitsverfahren in der Hand haben, sind zumeist die Aussagen und ihre E n t wicklung. Nichts lag daher näher, als die entscheidenden positiven Beurteilungskriterien hier zu suchen. Es werden damit auch keine gerichtsfremden Gesichtspunkte in die Beurteilung von Aussagen hineingetragen, vielmehr entspricht gerade dieses Vorgehen sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch der Praxis unserer Gerichte, wie sich in einer hiesigen Untersuchung sämtlicher Strafverfahren wegen Sittlichkeitsverbrechens aus drei OLG-Bezirken während eines bestimmten Zeitraumes (M = 1000) gezeigt h a t (Matthes). Was jedoch bisher fehlte, war der systematische Ausbau dieses Verfahrens. Diese Arbeit wurde im wesentlichen in dem Jahrzehnt nach dem Ende des 2. Weltkrieges geleistet (Undeutsch 1954, 1957). Methodisch geht man dabei so vor, daß man zuverlässig wahre und gewiß unwahre Aussagen — im Idealfall bei der gleichen Person — miteinander vergleicht. Als gesichertes Ergebnis aus breiter forensischer Erfahrung wie aus der wissenschaftlichen Untersuchung kann heute folgendes gelten: 1. Die wahrheitsgemäße Schilderung eines realen Vorganges ist gekennzeichnet durch Konkretheit, Anschaulichkeit, Detailreichtum, innere Stimmigkeit und Realistik. Hinzutreten kann Originalität, die das individuelle Gepräge des Tatgeschehens erkennen läßt. Diese Züge zeigen sich in (scheinbar) belanglosen Nebenumständen: Lydia T. (11; 11 J . ) : ,,. . . und da setzte er sich hin, und da hob er mich hoch, und da sagte er: ,Setz Dich auf meinen Schoß.' Da sollte ich mich — wenn der so sitzt, da sollte ich die Beine breit so tun. Und da er mich hochgehoben, hab ich alle beide auf die Seite getan. Und da sagt er: ,So nicht.' Und da hab ich es wieder getan. Und das dritte Mal h a t er mich das andere Bein rübergezogen..." Christel S. (9; 10 J . ) : „Ich habe eben vergessen zu sagen, daß er manchmal einen Steigbügel länger gemacht h a t und den auf der anderen Seite kürzer machte, so daß man dann ein Bein länger herunterhängen hatte und das andere so etwas k r u m m machen mußte. Dann konnte er gut an die ,Mösch' drankommen." Sie zeigen sich oft nicht minder in der Schilderung des zentralen Tatgeschehens. Erhöhten Beweiswert h a t eine Aussage dann, wenn das behauptete Geschehen in einer so charakteristischen Weise geschildert wird, wie es nur derjenige vermag, der es selbst, und zwar als Partner, erlebt h a t .
2. Die höchste Qualität erreicht eine Aussage, wenn sie nicht nur das äußere Tatgeschehen schildert, sondern von den in der betreffenden Situation aktuellen psychischen Vorgängen einiges aufscheinen läßt: Heidemarie M. (12; 10 J . ) : „Einmal war ich klein — ich weiß nicht mehr, wann das war —, da h a t t e er mir so einen kleinen Hund mitgebracht. Ich weiß auch nicht mehr genau, wie alt ich war. Und da meinte er: ,Du m u ß t den Schwanz nehmen und damit rumspielen' (sollte ihn in die Scheide einführen). Da hab ich das getan. Da h a t mich meine Mutter bei erwischt, und da hab ich Schläge bekommen. Und da h a t er gesagt: .Heidemarie, so was t u t man nicht, das ist unanständig', h a t er vor meiner Mutter gesagt. Und da hab ich sie dafür bekommen I Aber ich hatte ja noch keinen Verstand . . . " Hier wird in kindlicher Weise das heuchlerische und scheinheilige Verhalten des Vaters zum Ausdruck gebracht. Ein anderes Beispiel: Rosemarie J . (12; 11 J.) wohnt im gleichen Hause wie der Angeklagte. Zwischen diesem und der Familie der Zeugin besteht ein gespanntes Verhältnis, sie grüßen einander nicht. Der konkrete Anlaß ist aber bereits der Vergessenheit anheimgefallen. — Eines Tages hilft er — entgegen den sonstigen Gepflogenheiten — dem Mädchen, dessen Rad in den Keller zu tragen. Als sie nach oben geht, um den Schlüssel zu ihrer Kellertür zu holen, r u f t er ihr nach: „Gehst Du schon rauf, R o s i ? " (Eine solche, an sich harmlose, aber nachträglich bedeutungsvolle Bemerkung würde im Falle einer erfundenen wahrheitswidrigen Beschuldigung gewiß nicht enthalten sein.) Als sie wieder runterkommt, hilft er ihr noch, die Kellertür aufzuschließen. Als das 3-Minuten-Licht ausgeht, u m a r m t er das Mädchen, betastet es am ganzen Leib, auch an Brust und Gesäß. Er sagt dabei: „Rosi, ist Dir auch so schlecht?" Die Zeugin erzählt weiter: „Herr G. japste so und röchelte ganz komisch. Dabei sagte er: ,Ich bin verrückt geworden'." Dieser Satz spiegelt deutlich die seelische Verfassung des Angeklagten nach der Tat wider, die Reaktion auf sein abwegiges Verhalten: Es kommt ihm zum Bewußtsein, daß er sich an einem Kinde vergriffen h a t , noch dazu an einem, das im gleichen Hause wohnt und mit dessen Familie er auf gespanntem F u ß lebt. Eine derart vielsagende und charakteristische Äußerung kann von einem Kinde schlechterdings nicht erfunden werden. Die 17jährige Edeltraud R. erwähnte in ihrer polizeilichen Vernehmung beiläufig: „Unmittelbar vor dem Geschlechtsverkehr sagte mein Vater jedesmal zu mir: ,Du kannst Dich ja freuen, daß ich damals meine Unterschrift nicht gegeben habe, sonst wärst Du ja in die Erziehungsanstalt
Forensische Psychologie gekommen. Dafür kannst Du mir jetzt den Gefallen tun.'" Hier wird eine Argumentationsweise von höchster Spezifität mitgeteilt, wie sie gerade wegen ihrer unverkennbaren Lebensechtheit und Prägnanz von einem gewöhnlichen Sterblichen schlechterdings nicht erfunden werden kann. Aber auch das Durchschimmern eines seelischen Vorganges beim Zeugen kann in gleicher Weise aufschlußreich und beweiskräftig sein: Margarete S. (14; 11 J.): „Hat er Dir gesagt, Du dürftest das niemandem erzählen?"—„Ja, das hat er mal gesagt, ob meine Mutter das wüßte. Und da habe ich das so aufgefaßt, ob sie von dem Fühlen, nicht. Und da hat er aber gesagt, das wäre wegen dem Geld gewesen." Das Mädchen berichtet hier von einem Mißverständnis: daß es die besorgte Frage des Täters, ob die Mutter davon wüßte, auf die unzüchtigen Berührungen bezogen hatte, während er in dem Augenblick meinte, daß er ihr für gelegentliche kleine Besorgungen Geld gegeben hätte. Ein solches Mißverständnis wäre natürlich nicht möglich gewesen, wenn nicht tatsächlich unzüchtige Handlungen stattgefunden hätten. Wenn das Kind aber wahrheitswidrig behaupten würde, es sei unsittlich berührt worden, würde es nicht in der Lage sein, seine Erzählung mit einem derart speziellen Detail, wie es dieses erwähnte Mißverständnis ist, auszustatten. 3. Ebenso aufschlußreich ist es, wenn ein Mädchen einen in Phasen gegliederten Entwicklungsverlauf seiner Einstellung zum Täter schildern kann. Erika R. (12; 10 J.), Hilfsschülerin, berichtet: Nach ihrem Eintritt in die Hilfsschulklasse habe sie zunächst eine Zeitlang von irgendwelchen Verfehlungen des Lehrers nichts gewußt. Nach einiger Zeit habe sie dann gehört, daß die anderen sagten, der Lehrer wäre ein „Schwein". Sie fährt fort: „Ich wußte nicht warum. Erst hinterher, als er das bei mir auch machte, wußte ich, weshalb sie sagten, er wäre ein Schwein." Das Kind berichtet hier — auf seine Weise — von einem ganz spezifischen „Aha-Erlebnis", das es schlechterdings in dieser Weise nicht gehabt haben könnte, wenn der Lehrer sich nicht eines Tages auch ihm gegenüber unkorrekt verhalten hätte. Hätte es dieses „Aha-Erlebnis" aber nicht gehabt, so wäre es allenfalls in der I.age gewesen, von ähnlichen unzüchtigen Berührungen zu sprechen wie einige seiner Klassenkameradinnen, es wäre aber nicht imstande gewesen, diese Erzählung mit einem so bedeutsamen wie charakteristischen psychologischen Moment auszustatten. Bei länger währenden „Verhältnissen" ist es wichtig, ob aus der Darstellung der Zeugin die nie fehlende Entwicklung einer solchen Beziehung mit ihrer spezifischen Dynamik und ihrer Steigerungstendenz erkenntlich wird. Hat eine
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Zeugin mehrere Verhältnisse gehabt, so kommt alles darauf an, ob sie in der Lage ist, das individuelle Gepräge jeder einzelnen und insbesondere derjenigen Beziehung überzeugend und unverwechselbar herauszuarbeiten, die Gegenstand des laufenden Verfahrens ist. 4. Verhältnismäßig häufig ist in den Darstellungen der Zeugen die Rede von mißglückten Sexualhandlungen oder vom Auftreten unvorhergesehener Schwierigkeiten, vom Überraschtwerden, von plötzlichem Abbruch der begonnenen Handlungen. Gerade durch ihren fragmentarischen Charakter treten diese Schilderungen in einen unverkennbaren Gegensatz zu den aus Renommiersucht oder Wunschphantasie oder zur Ablenkung der Verdachts vom wahren Täter vorgebrachten Falschbeschuldigungen. 6. Hohen Symptomwert haben auch spontane Verbesserungen der eigenen Aussage. Von den Aussagen der 17jährigen Edeltraud R. wurde bei der ersten polizeilichen Vernehmung u. a. protokolliert: „Dann faßte er meine Hände und hielt sie mit einer Hand fest. Mit der anderen Hand zog er mir die Hose herunter. Dann führt er mit mir den Geschlechtsverkehr aus." In der Vernehmung am folgenden Tage sagte sie: „Die Aussagen, die ich in meiner gestrigen Vernehmung machte, entsprechen der Wahrheit, und ich halte sie in allen Teilen aufrecht. Ich habe lediglich zu berichtigen, daß mein Vater bei den ersten beiden Malen . . mir nicht den Schlüpfer auszog, sondern den Geschlechtsverkehr durch eines meiner Hosenbeine hindurch mit mir ausführte. — Als mein Vater den Geschlechtsverkehr zum dritten Male, und zwar in meinem Zimmer auf meinem Bett, mit mir vollzog, da zog er mir meinen Schlüpfer aus." Eine solche nachträgliche Berichtigung wäre ganz sinnlos, wenn ohnehin nur Erdichtetes vorgebracht würde. Im Gegenteil müßte ein solcher (falscher) Zeuge befürchten, daß der von ihm erstrebte Eindruck der Sicherheit dadurch verlorenginge. 6. Einen ähnlichen Symptomwert haben Präzisierungen. So erzählt die 17jährige Käthe M.: „Da hat er meine Hand so gekriegt — gerissen richtig —, ich sollte da auch a n f a s s e n . . . " Hier wird für den Außenstehenden sichtbar, wie der Zeugin ein Hergang anschaulich vor Augen steht, für dessen Schilderung während des Sprechens eine zunehmende Präzisierung gelingt, für die gar kein Bedürfnis vorhanden wäre, wenn nicht eine Anschauungsgrundlage der Zeugin mit aller Deutlichkeit gegeben wäre. 7. Auch wenn der Zeuge allerlei Unvorteilhaftes über seine eigene Rolle in der betreffenden Situation eingestehen muß, seine Darstellung eine Reihe von Selbstbelastungen enthält, ist darin eine Gewähr dafür zu erblicken, daß er keine Phantasiegebilde auftischt, denn in der
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Phantasie ·— zumindest in den Phantasien, die anderen erzählt werden — pflegt sich der Berichterstatter eine vorteilhaftere Rolle auszusuchen. 8. Mitunter kommt es vor, daß die Belastungszeugen schon gleich selbst (scheinbar) entscheidende Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Darstellung miterwähnen. Sieglinde P. (17. ): „Als mein Vater mich von dem Jungen wegholte, sagte er zu mir, ich könnte ruhig überall erzählen, daß er mit mir schon geschlechtlich verkehren würde. Kein Mensch würde mir das glauben, weil ich schon so viel erlebt hätte." Sofern es sich nicht um ganz durchtriebene und dabei hochintelligente Zeugen handelt, wird man diesen Umstand uneingeschränkt positiv werten dürfen. Denn wer darauf aus ist, für seine Lügereien Glauben zu finden, wird selbstverständlich nicht selbst schon die (nach Meinung der Laien) entscheidenden Einwände vorbringen, da er ja befürchten müßte, damit sich und seine Aussage um allen Kredit zu bringen. 9. Schließlich ist das Merkmal der Konstanz ein weiteres wichtiges Kriterium für den Wahrheitsgehalt einer Bekundung. Es ist dabei nicht an gleichbleibende Formulierungen (Stereotypen) gedacht, die eher verdächtig wären, als vielmehr an das Gleichbleiben des geschilderten Vorganges bei verschiedenen Befragungen. Von besonderer Bedeutung ist hier, wenn etwa verschiedene Vorkommnisse jeweils durch bestimmte Einzelheiten oder sogar eine Mehrheit von Einzelheiten charakterisiert werden und sich dadurch von anderen, ähnlichen abheben und nun über lange Zeit hinweg die Zuordnung der relevanten Details zu den einzelnen Vorgängen in immer gleicher Weise vorgenommen wird. Derartiges kann nur gelingen, wenn die einzelnen Vorkommnisse dem Zeugen, noch deutlich voneinander abgehoben, in aller Anschaulichkeit vor Augen stehen. Umgekehrt darf freilich aus dem Fehlen dieses Merkmals noch nicht auf das Fehlen einer realen historischen Basis der Aussage geschlossen werden; dies kann vielmehr einfach auf Mängeln der Aussagetüchtigkeit beruhen. Auch ist gerade beim Vergleich mit Protokollen früherer Aussagen zu beachten, daß diese nur einen Bruchteil des Gesagten wiedergeben, auch diesen zuweilen nicht korrekt und nicht mit den Worten des Zeugen oder des Beschuldigten. Treten bei späteren Darstellungen Erweiterungen auf, so erklären sich diese zumeist daraus, daß infolge der wiederholten Besprechung der Vorgänge die anfängliche Scheu, über derart peinliche Dinge zu sprechen, allmählich abnimmt, wodurch der Bericht ausführlicher und umfangreicher wird; auch sind die späteren Befragungen (in der psychologischen Exploration, in der Hauptverhandlung usw.) — gestützt auf die bereits vorliegenden
Informationen — häufig umsichtiger und detaillierter. Das Merkmal der Konstanz bezieht sieb nur darauf, daß das, was an positiven Angaben einmal gemacht worden ist, auch späterhin im wesentlichen in gleichbleibender Weise geschildert wird. Wenn über das bisher Vorgebrachte hinaus Ergänzungen gemacht werden, so verliert dadurch die Darstellung nicht an Konstanz. Sind in einer Aussage einige der genannten Kriterien vorhanden, so ist damit in aller Regel gewährleistet, daß sie selbsterlebte reale Vorkommnisse zum Inhalt hat. Es kann sich dann aber die weitere Frage ergeben, ob der Zeuge diese Vorkommnisse gerade mit diesem Beschuldigten erlebt hat. Auch dafür gibt es wieder Kriterien. Wenn nicht nur Unzuchtshandlungen als solche berichtet werden, sondern die Situationen, in denen sie stattfanden, und die Begleitumstände (wie die erwähnten örtlichen und zeitlichen Verhältnisse) Bezug haben auf die Lebensumstände und -gewohnheiten des Beschuldigten, dann kann auch die wahrheitswidrige Übertragung ausgeschlossen werden. Je weniger die Aussage sich auf Schilderung von Sexualhandlungen beschränkt, die irgendwo im luftleeren Raum und ohne zeitliche Dimensionen stattgefunden haben sollen, je mehr sie vielmehr durch das ganze Rahmengeschehen und durch Erwähnung psychischer Reaktionen auf breiter Front mit der individuellen Lebenssphäre des Beschuldigten verwoben ist, mit um so größerer Sicherheit kann der Nachweis geführt werden, daß kein anderer als der Beschuldigte der Täter ist. Bei wahrheitswidrigen Bekundungen fehlen die vorstehend besprochenen Qualitäten regelmäßig (Beispiele bei Undeutsch 1947, S. 211—213, 214). Die genannten Kriterien setzen den Sachverständigen sogar in den Stand, aus einer Aussage die der Wahrheit entsprechenden und die ihr zuwiderlaufenden Partien herauszusondern. Die Analyse der Aussage unter den besprochenen Gesichtspunkten ist ein Verfahren, das in der Mehrzahl der Fälle für sich allein schon den Wahrheitsgehalt einer Auseage zu erweisen vermag, und zwar auch dann, wenn alle anderen (üblicherweise berücksichtigten) Umstände (Charakter, soziales Milieu, Lebenswandel, Motivlage usw.) das denkbar ungünstigste Bild ergeben. Es interessiert im Rahmen des Gerichtsverfahrens nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen — ein fiktiver, statischer Begriff —, sondern einzig und allein die Glaubhaftigkeit seiner konkreten, hic et nunc gemachten Aussagen zur Sache. Die Erfahrung lehrt, daß wahrheitsgemäße Angaben gemacht werden auch von beliebig schlecht beleumdeten, verwahrlosten, verlogenen Zeugen aus ungünstigen Milieuverhältnissen usw. In diesem Zusammenhang verdienen einige Sätze aus einer unveröffentlichten
Forensische Psychologie BGH-Entscheidung der Verborgenheit entrissen zu werden: „Es war auch zulässig, einen Zeugen für glaubwürdig zu halten, aber ihm nicht in allen Einzelheiten seiner Aussage zu folgen; auch umgekehrt war es zulässig, die Aussage eines im allgemeinen unzuverlässigen Zeugen (wie hier eines Verbrechers) trotzdem im Einzelfall als Belastung zu verwerten, wenn seine Aussage dem Gericht im Einzelfall als glaubwürdig erscheint" (2 StR 56/54, 2. IV. 54). Es bleibt somit in jedem Einzelfall konkret zu prüfen, ob die vorliegende Aussage der Wahrheit entspricht. Die dafür entscheidenden Kriterien liegen in ihrer Qualität. Wenn es nunmehr gelungen ist, die von Stern erhofften „positiven Beurteilungskriterien der Aussage" (1903, S. 48) herauszuarbeiten und mit ihrer Hilfe den von ihm erhofften „neuen Aufbau" (S. 49) der Aussagenpsychologie zu vollziehen, so kann dies nicht ohne Folgen für die Methodik der Begutachtung von Aussagen bleiben. Um nämlich eine Aussage zu gewinnen, die auf die vorstehend aufgeführten Kriterien hin untersucht werden kann, ist eine hochentwickelte Vernehmungs- bzw. Explorationstechnik erforderlich. Auf der Exploration zur Sache muß daher das Schwergewicht jeder derartigen Untersuchung liegen. Eine kunstgerecht durchgeführte Exploration hat oftmals eine Veränderung der Aussage zur Folge. Die Aussage wird wahrheitsgemäßer: sei es, daß sie ehrlicher wird bezüglich des eigenen Verhaltens (indem das tatsächliche Maß an eigener Zustimmung, Mitwirkung oder gar Initiative zugegeben wird) — nicht nur Beschuldigte haben Geständnisse abzulegen! — und damit die Schuld des Täters auf ihr wahres Maß zurückgeführt wird, sei es, daß die Aussage erweitert wird, daß in der vertraulichen Atmosphäre der psychologischen Exploration Dinge zur Sprache kommen, die bisher verschwiegen, um keinen Preis kundgetan worden sind (und weiterhin verschwiegen worden wären) — aus Scham, aus Furcht vor Nachteilen —, die aber in Wahrheit zumeist die wesentlichsten Punkte des ganzen Verfahrens sind. Es liegt auf der Hand, daß der psychologische Sachverständige in bestimmten Fällen allein schon mit der Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage den entscheidenden Beitrag zur Aufklärung des Tatherganges leistet. In jedem Fall aber erbringt eine sachverständig durchgeführte „Exploration zur Sache" einen stark erweiterten aussagepsychologischen Symptombestand und damit verbesserte und reichhaltigere Grundlagen für die Beurteilung der Aussage. Es ist daher sehr sinnvoll und durch die forensische Erfahrung gerechtfertigt, wenn der Bundesgerichtshof in einer Grundsatzentscheidung erklärt, daß stets, wenn die Aussage eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen die Hauptgrundlage der Verurteilung
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bildet, ein Sachverständiger zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage zuzuziehen sei (BGH [1955] 7, S. 82—86). Die Aufgabe des psychologischen Sachverständigen ist bei allem Wandel in den Grundanschauungen, wie er hier aufgezeigt worden ist, naturgemäß die gleiche geblieben: den Wahrheitsgehalt der Aussage zu beurteilen. Sie ist aber beim heutigen Stande unseres Könnens erweitert insofern,, als der Psychologe dazu berufen ist, an der Gewinnung einer möglichst wahrheitsgemäßen Aussage mitzuwirken. Der Erfolg seiner Tätigkeit im Strafprozeß liegt aber nicht mehr allein darin, unzuverlässige Aussagen als solche zu erweisen und damit die Gefahr der Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen abzuwehren, sondern seine Tätigkeit wird sehr oft auch den Wahrheitsgehalt der Beschuldigung nachweisen können und dadurch dazu beitragen, daß einerseits der Mensch, dem ein Unrecht widerfahren ist, der Opfer eines Verbrechens geworden ist und daher wahrheitsgemäße Angaben macht, Glauben findet und zu seinem Recht gelangt und andererseits der Schuldige seine gerechte Strafe findet, der Sühne und der Besserung zugeführt wird. Es ist eine Überzeugung, daß mit den hier vorgetragenen Erkenntnissen sowohl dem Recht und der Gerechtigkeit als auch der Kriminalpolitik besser gedient ist, als das früher möglich war. II. DIE PERSÖNLICHEN VORAUSSETZUNGEN DER SCHULDHAFTIGKEIT
Nach unantastbaren ethischen Grundsätzen darf Strafe nur verhängt werden, wo persönliche Schuld vorliegt, und darf das Maß der Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten. Wird auf dieser Basis das Strafrecht aufgebaut, so setzt das zudem voraus, daß persönliche Schuld festgestellt und gewogen werden kann. Eine Konsequenz für die Abfassung des Gesetzes ist es, daß es Bestimmungen über die Schuldausschließung enthalten und die Schuldausschließungsgründe vollständig aufführen muß. Den Inhalt des strafrechtlichen Schuldvorwurfs hat der Große Strafsenat in dem denkwürdigen Beschluß vom 18. II. 1952 in die Worte gefaßt: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können" (BGHSt [1952] 2, 200). Es sind demnach zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um gegenüber dem Täter wegen seines objektiv rechtswidrigen Verhaltens vom Boden des Strafrechts aus einen Schuldvorwurf erheben zu können: 1. Die Möglichkeit zur Erkenntnis der Rechtswidrigkcit der Tat („das Unrecht der Tat einzusehen"), 2. die Möglichkeit,
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sie zu unterlassen („nach dieser Einsicht zu handeln"). Fehlt eine dieser beiden Voraussetzungen — aus welchem Grunde auch immer —, so kann ex definitione ein strafrechtlicher Schuldvorwurf nicht erhoben werden. Die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit können aus sehr verschiedenen Gründen fehlen. A. Der Ausscliluß der Verantwortlichkeit beim Jugendlichen K i n d e r (unter 14 Jahren) gelten schlechthin als für ihre Taten nicht verantwortlich (§ 1 Abs. 3 JGG). Ein J u g e n d l i c h e r (14—17 Jahre) ist nach § 3 Satz 1 JGG verantwortlich, „wenn er ζ. Z. der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln". 1.
Unrechtseinsicht
Voraussetzung ist zunächst, daß der Jugendliche ein sicheres Gefühl für den Unterschied zwischen Spiel und Ernst, für den Ernst sittlicher Forderungen erworben hat (BGH Goltd. Arch. 1956, S. 345 bei Herlan). Hinzu muß noch treten, daß die Normen für den jugendlichen Menschen Realitätswert erhalten haben durch Integrierung der sozial und kulturell definierten Wertordnungen in die tieferen Schichten der Persönlichkeit. Um darüber hinaus als Rechtsnorm begriffen zu werden, bedarf es der Übertragung in die gesellschaftliche Sphäre. Sie hat zur Voraussetzung das Verstehen einer Bindung an eine das Persönliche überragende Ordnung. Unsere Rechtsordnung findet ihre Formung im wesentlichen im Gesetz. Für die die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründende Einsichtsfähigkeit kommt es selbstverständlich nicht auf die Kenntnis des Gesetzestextes an. Erforderlich ist nur, daß der Jugendliche das als Norm erlebt und empfindet, was im Gesetzbuch niedergelegt ist, daß in ihm sich irgendwie die Wertung des Gesetzes widerspiegelt. K. Peters hat hierzu näher ausgeführt: „Eine solche Verbindung setzt voraus, daß der Jugendliche in die dem Gesetze eigene Welt eingetreten ist. Die Welt des Gesetzes ist der soziale Bereich . . . Von einem Gesetzesverständnis kann erst dann die Rede sein, wenn der Mensch nicht nur aus einem Ich, sondern bewußt aus der Welt des sozialen Ganzen lebt und in dessen Ordnung steht. Er muß das Handeln und Tun auf die weitere Umwelt hin wenigstens beziehen können" (S. 217). Eine solche Haltung ist für den jungen Menschen keineswegs selbstverständlich. Sie ist erst der Ertrag der sozialen Reifung. Das Problem des Hineinwachsens des Jugendlichen in die Rechtsordnung und in den Gesetzesbereich bedarf noch eingehender ent-
wicklungspsychologischer Forschung. Sehr gute Beobachtungen und Überlegungen hierzu hat K. Peters zusammengestellt. Nach ihm kommen dem Rechtsverständnis des Jugendlichen vor allem solche Situationen und Gesetze nahe, in denen sich unmittelbar der Bezug zum Menschen erweist. Unter diesem Blickwinkel sind zwei Gruppen von Gesetzen zu unterscheiden. Zu der ersten Gruppe gehören diejenigen, bei deren Verletzung unmittelbar eine Person betroffen wird. Die zweite Gruppe umfaßt diejenigen Bestimmungen, in denen nur ein Personenverband oder eine unpersönliche Ordnung betroffen wird. Daraus erklärt sich die immer wieder zu beobachtende Tatsache, daß sich der Jugendliche des strafrechtlichen Gehalts der Hehlerei und der Fundunterschlagung gar nicht recht bewußt ist. Der Besitzbegriff ist dem Jugendlichen eher verständlich als der Eigentumsbegriff. Besitz ist offenbar ein früher erlebtes Rechtsverhältnis als das Eigentum. Dementsprechend sprechen die den Besitz erfassenden Rechtsbestimmungen den Jugendlichen eher an als die nur auf das Eigentum — das abstrakte Recht — bezogenen Vorschriften. Die Beurteilung des Eigentumsverhältnisses gelingt dem Jugendlichen oftmals noch nicht recht. Das Verstehen des Unpersönlichen tritt erst auf einer späteren Stufe der Entwicklung ein. Daher ist dem Jugendlichen auch noch nicht die Rechtssphäre der Gesamtpersönlichkeit klar. Das wirkliche Begreifen des Staates, seiner Organisation, und das Verstehen der juristischen Person fehlt den Jugendlichen noch. Daher setzt sich der Jugendliche ohne große Bedenken über die Rechte der Allgemeinheit, der Anstalten und der Körperschaften hinweg. Der Jugendliche wird vom Gesetz insoweit noch gar nicht oder nur schwach angesprochen. Es fehlt ihm das lebendige Gegenüber. Es ist für den Erwachsenen erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit der Jugendliche beispielsweise Urkunden fälscht. Der Jugendliche erlebt die Rechtsordnung von der natürlichen und sittlichen Seite her. Es fehlt ihm noch das Verständnis für vorwiegend formale Bestimmungen. Bloße Ordnungsvorschriften berühren den Jugendlichen weniger als den Erwachsenen. Dort, wo der Erwachsene noch die Ordnungsfunktion erkennt, sieht der Jugendliche nicht den Sinn, und er empfindet daher auch nicht die bindende Kraft. 2.
Steuerungsfähigkeit
In der Regulierung der Intensität der Antriebsgeschehnisse vollzieht sich im Laufe des menschlichen Lebens ein bedeutungsvoller Wandel. In Kindheit und früher Jugend läuft das Geschehen vorwiegend als ein auf die jeweilige Situation bezogenes ab, es besteht ein „Gefälle" vom derzeitigen Zustand zu einem Gleichge-
Forensische Psychologie wichtszustand des Subjekts hin. Diese Art der Regulierung der Antriebsintensität läßt sich auch als Funktion einer „impulsiven" Antriebsformierung kennzeichnen. Wie Thomae (1960) gezeigt hat, ist für diese Art der Regulierung charakteristisch, daß trotz oder gerade wegen der Tiefe der Betroffenheit des Erlebenden ein Überblick über die Gesamtsituation erschwert ist. Deshalb sind es nur Teilaspekte der Situation, die überhaupt erfaßt und begreifbar werden. In impulsiven oder „es"-zentrierten Regulationen kommen bestimmte, an Teilaspekten, insbesondere „lockenden" oder auffordernden Aspekten der momentanen Situation orientierte Gerichtetheiten zum Durchbruch. Für den erwachsenen Menschen ist kennzeichnend, daß bei ihm die Regulation der Intensität der Antriebsgeschehnisse mehr unter der regulativen Macht einer Instanz steht, welche die Belange dieses individuellen Ichs über den derzeitigen Zustand und über die nächste Zukunft hinaus sichern möchte. Der Faktor der Intensitätsregulierung, der durch diese Tendenz zur Sicherung der eigenen Persönlichkeit auf möglichst weite Sicht gekennzeichnet ist, wird von Thomae (1960) als „prospektives Ich" bezeichnet, als Inbegriff der an bestimmten Gegebenheiten und Erfordernissen, Geboten und Normen orientierten Kontrollinstanz innerhalb der Persönlichkeit, während Rothacker die Bereiche der Lenkung und Kontrolle des eigenen Verhaltens unter der Bezeichnung „Personschicht" und „IchFunktion" zusammenfaßt. Das Charakteristische der als prospektiv bezeichneten Regulationen ist die Einbeziehung eines möglichst großen Umkreises an Informationen über die künftige Situation in die Bewältigung der derzeitigen Situation. Diese Form der Regulierung wird auch als „Überformung" des Verhaltens bezeichnet. Es ist weiter von Bedeutung, wie weit die überformende Instanz an bestimmten überpersönlichen Werten und Normen orientiert ist. Unter den dargelegten Gesichtspunkten ist für die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit im Einzelfall zu fragen, wie weit bereits eine funktionelle Dominanz des „prospektiven Ichs" gegenüber der situativen Intensitätsregulierung sich herausbilden konnte. Diese Ausführungen zeigen, wie wenig Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit voneinander getrennt werden können. Dem heutigen Wissensstand vom menschlichen Antriebsleben würde es mehr entsprechen, die Einsichtsfähigkeit in das Unrecht der Tat als eingelagert in den Vorgang der Regulierung der Intensität der Antriebsgeschehnisse — als Orientierung der überformenden Instanz an bestimmten überpersönlichen Werten und Normen — zu betrachten. Ihre Trennung im Gesetzestext entspricht der Rechtstradition und hat dort den guten Sinn zu
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verhindern, daß die Verantwortungsreife einseitig intellektualistisch verstanden wird. In der gerichtlichen Praxis wird über die Voraussetzungen des § 3 JGG nicht selten rein formelhaft und recht oberflächlich entschieden. B. Affekt
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei seelischen Erkrankungen im Sinne der klinischen Psychopathologie, bei abnormen (psychopathischen) Persönlichkeiten und bei Neurosen liegt außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der forensischen Psychologie und soll deshalb hier unerörtert bleiben. (-> Psychopathologie). Da das Gegenstandsgebiet der Psychologie das Seelenleben des geistig-seelisch normal gesunden Menschen ist, interessiert hier nur die Frage, ob es bei diesem ausnahmsweise vorübergehend extreme psychische Verfassungen geben kann, in denen eine der beiden Voraussetzungen der Schuldfähigkeit fehlt oder erheblich vermindert ist. Daß dies in Zuständen höchster affektiver Erregung der Fall sein kann, ist die Überzeugung vieler forensisch tätiger Psychiater und aller auf diesem Gebiet durch Veröffentlichungen hervorgetretenen Psychologen (Undeutsch 1954, 1957; Thomae 1961, Heiss 1962). Psychiatrische Literatur 0 . B u m k e : Lehrbuch der Psychiatrie, 1924, S. 350. R. M i c h e l : Gerichtliche Psychiatrie, 1931, S. 103. G. A s c h a f f e n b u r g : im Hdb. d. gerichtl. Psychiatrie, hrsg. v. A. H o c h e , Bd. 3, 1934, S. 19 und 21. A. H o c h e : Hdb. d. gerichtl. Psychiatrie, hrsg. v. A. H o c h e , Bd. 3, 1934, S. 300ff., 394. Γ. M e g g e n d o r f e r : Lehrbuch der Psychiatrie v. B l e u e r , 8. Aufl. 1949, S. 431. H.-J. R a u c h in P o n s o l d s Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 1950, S. 67. A. L a n g e l ü d d e k e : Gerichtliche Psychiatrie, 1950, S. 29. R e i c h a r d t : Allgemeine und spezielle Psychiatrie, 1955, S. 45 und 672.
Außerdem seien die Spezialabhandlungen von Klineberger, Mikorey, Donalies, Seelig, Boening, Witter genannt. Dieser Standpunkt ist daher auch eingenommen worden in dem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, das der Großen Strafrechtskommission zur Frage der Schuldfähigkeit erstattet worden ist (1958, S. 123—126). Der wissenschaftliche Nachweis kann auf verschiedenen Ebenen erbracht werden. Die erste Ebene bildet die allgemeine Lebenserfahrung, die jedermann mit sich selbst wie mit seinen Mitmenschen machen kann. Diese lehrt, daß der Mensch in Zuständen höchster Angst oder Wut Besonnenheit und Beherrschung verliert, Dinge tut, die aus dem Impuls des Augenblicks heraus entsprungen sind und gar nicht oder wenig in seine längerfristige Lebensplanung und zu
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seinem normalen Verhalten passen. Man sagt dann, er habe „den Kopf verloren", er sei „blind" vor Wut oder gar „außer sich geraten". Dann „gehen ihm die Gäule durch" usw. Thomae (1960) ist bei der phaenomenologischen Analyse von Selbstbekundungen seiner Gewährsleute über das seelische Geschehen in Situationen, in denen ein Konflikt zwischen verschiedenen Verhaltenstendenzen besteht („multivalente Situationen"), auf eine Reaktionsform gestoßen, die er als impulsive oder „es"-zentrierte Regulation der Intensität des Antriebsgeschehens bezeichnet. Diese Reaktionsform ist typisch für das Antriebsgeschehen in Zuständen hoher Affektivität. Aus den Schilderungen seiner Gewährsleute ergibt sich, daß in solchen Fällen der Überblick über die Gesamtsituation verlorengeht, nur Teilaspekte der Situation erfaßt und begreifbar werden, es findet sich nur eine einseitige Aktivierung des Informations- und Reaktionspotentials, es kommen bestimmte, an Teilaspekten, insbesondere „lockenden", „bedrängenden" oder „auffordernden" Aspekten der momentanen Situation orientierte Gerichtetheiten zum Durchbruch. Ein situativ bedingtes „Gefalle nach einer bestimmten Handlung hin erhält durch Ausschaltung prospektiv orientierter Hemmungsund Ausgleichsfaktoren immer stärkeres Gewicht. Solche Formen der Reaktion, die durch eine stark partiell gerichtete Orientierung des Geschehens gekennzeichnet sind, laufen der IchKontrolle zuwider, worunter eine Instanz verstanden wird, die an bestimmten Normen und Ordnungen orientiert ist und die Belange der Gesamtpersönlichkeit auf möglichst weite Sicht zu sichern versucht. Speziell affekt-psychologische Untersuchungen stammen aus dem Arbeits- und Schülerkreis von K. Lewin. Erstmals wurde von Dembo das affektive Geschehen als kausal-dynamisches Problem gestellt und in Angriff genommen. Sie versuchte 1930 unter Zugrundelegung des von Lewin aus der mathematischen Topologie entwickelten Begriffssystems „dynamischer Grundbegriffe", die Frage nach den Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten des Ärgeraffektes zu klären. Mit Hilfe unlösbarer Aufgaben gelang es ihr, aus der Darstellung der Ziel- und Feldfluchtgeschehnisse das dynamische Charakteristikum der erzielten Ärger-Affekte als stärkere Konfliktspannung nachzuweisen, aus der dann auch Ersatzhandlungen, irreale Lösungsversuche und die „Zerstörung der meisten Grenzen im Gesamtfeld" im Sinne einer Homogenisierung, Primitivierung mit Sinnzerfallserscheinungen usw. verständlich werden. Helm (aus dem Berliner Arbeitskreis von Gottschaidt) untersuchte das intellektuelle Geschehen, speziell die Probleme des Findens von Lösungen im affektiv-erregten Zustand. Er verglich das
Denkhandlungsgeschehen an ein und demselben Aufgabenmaterial bei zwei Gruppen von Versuchspersonen, von denen die eine, die als Kontrollgruppe diente, sich in einer normalen, konfliktfreien Situation befand, während die andere die Versuchsgruppe bildete, die diese Aufgaben in einer affektiv stark belasteten Situation zu lösen hatte. Die Versuchspersonen betrachteten die ihnen gestellten Aufgaben als bedeutungsvolle Untersuchungsserie, mit deren Hilfe eine „Intelligenzerfassung" auf verschiedenen Leistungsgebieten vorgenommen wurde. Der Vergleich der beiden Gruppen ergab deutliche Unterschiede sowohl der dynamisch-affektiven Abläufe als auch des Leistungsverhaltens. In dynamisch-affektiver Hinsicht erschienen im Gegensatz zu den relativ stetigen Zielbemühungen der Kontrollgruppe die affektiv-gespannten Zielbemühungen der Versuchsgruppe sporadischer, aber auch forcierter. Das Ausmaß der Ausweichformen (wie etwa Variations- oder auch Abbruchtendenzen, Ersatz- oder Vorschubhandlungen oder sonstige irreale Verhaltensweisen) war bei den affektiv-gespannten Versuchspersonen viel größer. Sie waren auch durchweg leichter zu entmutigen. Nicht minder deutlich waren die Unterschiede im Leistungsverhalten der beiden Gruppen. Für den Fortgang des Denkgeschehens war in jedem Fall die Vororientierung am Materialfeld wesentlich mitbestimmend. In der affektiven, konfliktgespannten „Lebenslage" war diese durchweg bedeutend unbestimmter und oberflächlicher, so daß meist sachgerechte Vorordnung und funktionale Ausrichtung im Gegensatz zum „neutralen" Leistungsverhalten fehlten. Die Bewältigung der Aufgabe erfordert einzelne charakteristische Umformungsphasen. Unter affektiv-konfliktgespannten Umständen fehlte ein solches zielgerichtetes Umstrukturieren mehr oder weniger. Die Materialgegebenheiten wurden in ihren Verwendungsmöglichkeiten sehr eingeengt, so daß sich häufig ein blindes Probierverhalten ergab mit nicht selten ausgesprochen sinnleeren Geschehensphasen oder verkrampftes Bemühen um als sinnlos erkannte Konstruktionsversuche. Häufig war also die Disponibilität über die Materialteile in der konf'iktgespannten „Lebenslage" durch affektive Bedeutungssetzungen (Störcharakter mancher Teile) oder durch Fixierungen an sinnlose Teilkonstuktionen eingeengt. Zerfallserscheinungen des Denkgeschehens in Form von Hemmungen und Verwirrungen waren dann in gesteigertem Maße zu beobachten. Zwischen den jeweiligen Formen des affektiven Konfliktgeschehens und den Formen des Leistungsverhaltens ließen sich funktionale Zusammenhänge aufweisen. Je weniger die Versuchspersonen affektiv gespannt und entmutigt waren, um so intensiver waren die Zielbemühun-
Forensische Psychologie gen und um so besser die Denkleistungen. Je mehr die affektive Spannung gradweise anstieg, um so deutlicher waren Ausweichtendenzen und Zerfallserscheinungen des Denkgeschehens mit entsprechend niedrigem Leistungsniveau. Der mehr und mehr homogene Geschehensverlauf bei affektivem Denkhandeln kann dynamisch als eine Destruktion der psychophysischen Funktionssysteme angesehen werden, die den Denkprozessen zugrunde liegen. Das bekundet sich dann im Zerfall der Ordnungsstrukturen des Denkablaufs, wie sie im sinnlosen Probieren oder in zusammenhanglosen Einzelbetätigungen gegeben sind, so daß sich an Stelle einer logischen Entwicklung des Denkhandelns eine Summe sachlich unverbundener Geschehensstücke ergibt. Auch der Verlust der Disponibilität, das Auflösen einzelner Bereichsgrenzen, die relative Zähflüssigkeit und Unbeweglichkeit des Denkprozesses unter hohem Spannungsdruck sprechen für die Annahme gehemmter Regulationen im psychophysischen System. Eine Erklärung für diese Tatsache findet sich in dem zunehmend besser erforschten physiologischen Mechanismus der affektiven Erregungen. Klinische und experimentelle Beobachtungen haben allmählich die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Hirnstamm und Hirnrinde, speziell Frontalhirn, Thalamus und Hypothalamus, und deren Bedeutung für das psychische Geschehen, insbesondere für den physiologischen Mechanismus der emotionellen Erregungen, aufgeklärt. Die experimentellen Feststellungen beziehen sich 1. auf die Entfernung des Großhirns bzw. der Großhirnrinde oder Entfernung von Hirnwindungen, 2. auf Reizversuche im Zwischenhirn und 3. auf Beobachtungen der elektrischen Potentiale bestimmter Hirnstellen unter besonderen experimentellen Bedingungen. Das Ergebnis dieser Forschungen, über die H. v. Wyss (1955) berichtet, ist in Kürze, daß Hirnrinde und Hirnstamm, als Substrat auch für den Mechanismus der emotionellen Erregungen, als eine Einheit betrachtet werden müssen. Daraus wird verständlich, daß unter normalen Lebensbedingungen, welche eine affektive Reaktion hervorrufen, das Zusammenspiel zwischen subcorticaler und corticaler Erregung augenblicklich in Erscheinung tritt. W. v. Wyss hat schon vor Jahren mehrfach die Auffassung vertreten, daß die bei den heftigen Affekten der Wut und der Furcht zu beobachtenden Steigerungen der Atmung und des Blutkreislaufes im Zusammenhang mit der Spannung der Muskulatur mit dazu beitragen, die emotionelle Erregung zu steigern (1931, 1938, 1955, S. 29). Die Verbindung polygraphischer Aufzeichnung vegetativer Reaktionen mit EEG-Aufzeichnungen hat schließlich den Beweis dafür erbracht, daß Rückkoppelungserscheinungen auftreten von den Veränderungen der vegetativen Funktionen
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während des Affektes auf die Tätigkeit des Cortex (Daxrow 1950). Die Vielfalt von Mechanismen für die homeostatische Regulation des Gehirns, welche anscheinend oft unter den gleichen Bedingungen parallel und auf die gleichen Ziele hin arbeiten, scheinen eine vielfache Sicherung seines Gleichgewichtszustandes zu gewährleisten. Auf Grund der Hypothese, daß im Normalzustand diese Mechanismen dazu dienen, corticale Erregung zu regulieren und zu beenden und sich selbst erhaltende, zirkuläre, fortdauernde und wiederkehrende Erregungsverläufe in der Großhirnrinde zu verhüten, ist es begreiflich, daß im Zustand hochgradiger Erregung dieselben Mechanismen die Funktion des Cortex beeinträchtigen und, wie schon Hughlings Jackson in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gesagt hat, die subcorticalen Funktionen cortical von der Kontrolle lösen mögen. Auf Grund dieser und vieler übereinstimmender und ergänzender neurophysiologischer Befunde hat Darrow den Affekt als einen Zustand funktionaler Dekortisation bezeichnet (1935, 1950). Der Affekt stellt eine Reaktion aus den stammesgeschichtlich älteren Gehirnteilen dar, bei der die Führung durch den Cortex verlorengegangen ist. Solche Reaktionen heißen Primitivreaktionen (Kretschmer). Um psychologisch das Wesen der Primitivreaktionen verstehen zu können, muß man sich vor Augen halten, daß die menschliche Persönlichkeit mehrere — stammesgeschichtlich verschieden alte — „Schichten" in sich schließt, die insofern als relativ selbständige Aktionssysteme anzusehen sind, als zwar das jeweils höhere nur zu funktionieren vermag unter Mitbeteiligung der niederen, die jeweils tieferen aber in Aktion zu treten vermögen ohne Mitbeteiligung der höheren. Als PrimitivTeaktion bezeichnet man eine verständlich motivierte Reaktion auf ein Erlebnis, bei der die tieferen (genetisch älteren, elementaren) Schichten der Persönlichkeit führend sind und bei der es an einer wirksamen Überformung durch die höheren (genetisch späteren) Schichten fehlt. Kennzeichnend für sie ist, daß die Beantwortung einer Lage von den tieferen Schichten in eigener Regie übernommen wird. Zielsetzung und Ablaufsart werden durch die stammesgeschichtlich älteren Schichten bestimmt, in denen die Triebe und die elementaren Bedürfnisse beheimatet sind samt den ihnen zugehörigen Gefühlen (E. Rothacker: das „animalisch emotionale Es"). Diese archaische Schicht unserer Persönlichkeit ist gattungseigentümlich, anonym, unkultiviert, geschichtslos. Irgendwelche Normen oder Standards der Gesellschaft vermögen in diese Schicht nicht einzudringen. Die der „Personenschicht" eigentümlichen Funktionen des Urteilens, des Stellungnehmens, der selbstentscheidenden Steuerung des Verhaltens kommen dabei nicht zum
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Zuge: sei es, daß infolge eines elementaren Aufund Ausbruchs der dynamischen Tiefe der Persönlichkeit die Antwort so schnell und unmittelbar gegeben wird, daß die Kontrollinstanz der Ichfunktion gar nicht erst in Aktion treten kann; sei es, daß die Ichfunktion zwar auf den Plan tritt, ihre Antwort aber zu spät, zu zögernd, zu schwach, kurz: zu unvollkommen zu erfolgen scheint, so daß eine selbständige Reaktion der unteren Schichten mit elementarer Wucht ausgelöst wird und eine Änderung der Lage herbeiführt. Der erste Fall führt zu Primitivreaktionen vom Typ der Explosivreaktion, der zweite zu einer Kurzschlußreaktion. Wenn es zu einer solchen Verselbständigung der Vitalschicht der Persönlichkeit kommt, sind immer elementarste Bedürfnisse bzw. Hauptanliegen der Persönlichkeit betroffen und befinden sich in einem Zustand höchster dynamischer Gespanntheit. Daraus resultiert die hohe Affektgeladenheit derjenigen Zustände, in denen es beim Menschen zu Primitivreaktionen kommt. Daher hat sich für derartige Reaktionen in der Kriminalwissenschaft wie in der Rechtsprechung der Ausdruck „Affekttat" eingebürgert. Die heute aus der Psychologie und Physiologie der affektiven Erregung bekannten Fakten machen Meinungsverschiedenheiten darüber, ob äußerster Affekt die Fähigkeit eines Menschen zu vernünftiger Überlegung und zu entsprechender Überformung der tieferliegenden Schichten entspringenden Antriebe beeinträchtigen oder sogar vorübergehend aufheben kann, unmöglich, denn das muß heute als naturwissenschaftlich erwiesene und in ihrem Wirkungsmechanismus durchschaute Tatsache hingenommen werden. Mit Recht schreibt der Strafrechtler R. Lange, „daß das Recht wie seine Interpreten nicht dekretieren, sondecn nur feststellen kann, was Schuldfähigkeit ist, und sich dabei der Hilfe des Sachverständigen bedienen muß" (1961, III). Nach dem geltenden Recht fallen derartige affektive Erregungszustände unter den Begriff der „Bewußtseinsstörung" (§ 51 StGB). Ein so dehnbarer und rein symptomatisch zu verstehender Begriff wie der der Bewußtseinsstörung ist in den Gesetzestext aufgenommen worden, um die Garantie zu geben, daß jede Beeinträchtigung des psychischen Geschehens, die geeignet ist, die Fähigkeit der Einsicht in die Rechtswidrigkeit der Tat oder die Fähigkeit, die rechtswidrige Tat zu unterlassen, erheblich herabzusetzen oder auszuschalten, bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit berücksichtigt wird — und zwar unabhängig davon, ob ihr Krankheitswert beizumessen, ob sie körperlich bedingt, oh sie von Dauer oder nur vorübergehend ist. E. Mezger hat diesen Begriff vor der Großen Strafrechtskommission wie folgt erläutert. „Hier handelt es sich um ein einzelnes psychisches Störungssymptom, über dessen kau-
sales Werden das Gesetz nichts sagt" (Umdruck R 26 = Anl. 4 z. Niedersehr, üb. d. 43. Sitzung am 10. VII. 1956, S. 6). „Wo das Bewußtsein gestört ist, sind genetische Erwägungen gar nicht mehr nötig, denn da schafft dieses Merkmal an sich schon einen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit" (S. 28). Daß hochgradiger Affekt die Schuldfähigkeit ausschließen oder erheblich vermindern kann, ist herrschende Lehre in der Strafrechtswissenschaft. Dafür einige Belege — ohne Anspruch auf Vollständigkeit: E. M e z g e r : im Leipziger Kommentar zum StGB, 7. Aufl1953/54, S. 332; H. M a y e r : Strafrecht (Allgemeiner Teil), 1653, S. 227; A. S c h ö n k e : Strafgesetzbuch. Kommentar 1952, § 5 1 , 2 la; E . M a u r a c h : 1954, S. 380; D. O e h l e r : 1956, S. 5.
Auch seitens der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat diese Erfahrungstatsache Anerkennung gefunden: OGHSt. 1949, 1, 370f.; 1950, 3, 19—24, 80—90, 121—134. BGH 1 StR 365/52 vom 19. 12. 1952 (MDB 1953, 146); BGHSt. 1953, 3, 199; BGHSt. 1954, 6, 329; BGH 2 StR 365/54 vom 18. 1. 1955; 4 StR 552/54 vom 21. 4. 1955 ( N J W 1955, 1077); 5 StR 91/55 vom 19. 4. 1955 (Goltd. Arch. 1956, 26—28).
Am ausdrücklichsten und unter eingehender Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Argumenten hat sich der BGH mit dieser Frage befaßt in seiner Entscheidung BGHSt. 11 (1958), 20—26. Er hat darin den Rechtssatz aufgestellt: „Eine Bewußtseinsstörung im Sinne des § 51 S t G B kann bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter auch dann gegeben sein, wenn er an keiner Krankheit leidet und sein Affektzustand auch nicht von sonstigen Ausfallserscheinungen (wie ζ. B. Schlaftrunkenheit, Hypnose, Fieber oder ähnlichen Mängeln) begleitet ist." Die gegenwärtige Fassung des § 51 hat nicht auszuschließen vermocht, daß einige Sachverständige — ζ. Β. H. Gruhle (1930, S. 78; 1953, S. 84—87; 1953, S. 337; 1955, S. 22) und W. Villinger (Lehrbuch d. Psychiatrie, hrsg. v. E . Beuler, 9. Aufl. 1955, S. 507) — den Gesetzestext dahin verstanden haben, daß das Fehlen von Einsichts- und Hemmungsfähigkeit nur unter bestimmten — den im Gesetz genannten — Umständen zum Ausschluß strafrechtlicher Verantwortlichkeit führe, während in Wirklichkeit der Gesetzgeber überzeugt war (und sein konnte), in seiner Typisierung alle Zustände genannt zu haben, in deren Gefolgschaft schwere Störungen der Einsichts- oder der Hemmungsfähigkeit auftreten können. Die Große Strafrechtskommission hat es als eines ihrer wichtigsten Anliegen bei den Beratungen zu den Problemen der Zurechnungsfähigkeit und der verminderten Zurechnungsfähigkeit angesehen, eine solche, den Grundge-
Forensische Psychologie danken des Schuldstrafrechts verletzende Fehlinterpretation mit der Neufassung unmöglich zu machen. In diesem Sinne heißt es in den Leitsätzen von Kammergerichtspräsident Dr. Skott, dem einen der beiden Referenten der Großen Strafrechtskommission zum Thema „Zurechnungsunfähigkeit und verminderte Zurechnungsfähigkeit" (Umdruck R 69 = Anlage 8 zur Niederschrift üb. d. 43. Sitzung d. Großen Strafrechtskommission am 10. VII. 1956): „Hieraus erhellt, wie notwendig es ist, auf eine einwandfrei erschöpfende Formulierung bedacht zu sein. Die Vorschrift muß so gefaßt werden, daß sie zur Exkulpierung jedes nur denkbaren Falles der Unzurechnungsfähigkeit ausreicht, sonst kann sie ihren Zweck nicht erfüllen" (S. 3). Vgl. auch die oben genannte Niederschrift S. 41. In dem Entwurf eines Allgemeinen Teiles eines Strafgesetzbuches (1958) ist deshalb in den §§ 23 (Schuldfähigkeit, wegen seelischer Störungen) und 24 (verminderte Schuldfähigkeit) unter den Ausnahmezuständen — deutlicher als bisher — von einer „vorübergehenden Bewußtseinsstörung" die Rede. Hierzu wird in der Begründung ausgeführt: „Als dritte Gruppe erwähnt der Entwurf die vorübergehenden Bewußtseinsstörungen. Durch das Beiwort .vorübergehend' soll darauf hingewiesen werden, daß hier diejenigen Bewußtseinsstörungen gemeint sind, die nicht schon unter die erste oder zweite Gruppe fallen. Länger dauernde Bewußtseinsstörungen werden stets von der ersten oder zweiten Gruppe erfaßt. Unter die dritte Gruppe gehören also die nicht auf Krankheit oder auf schwerer Abartigkeit beruhenden Bewußtseinsstörungen. Die dritte Gruppe erlangt ihre Bedeutung vor allem für die Bewußtseinsstörung aus nichtkrankhaften schweren Affekten, aus nichtkrankhafter Trunkenheit, Schlaftrunkenheit, Übermüdung und aus Hypnose" (S. 29). Gegen diese Fassung hat alsdann die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde Bedenken erhoben. Sie hat stattdessen vorgeschlagen den Begriff einer „Bewußtseinsstörung von Krankheitswert". Im Ε 1959 II behielten die §§ 23 υ. 24 allerdings noch die gleiche Fassung wie im Ε 1958. Eine Unterkommission der Großen Strafrechtskommission beschäftigte sich alsdann erneut auf einer Sitzung am 15. 1.1960 im Bundesjustizministerium mit der Frage der verminderten Schuldfähigkeit. Als Ratgeber wurden allein psychiatrische Sachverständige zugezogen (K. Schneider, E. Kretsehmer, Villinger und Ehrhardt). Diese plädierten begreiflicherweise für eine Fassung des Begriffes der Bewußtseinsstörung. die ihren fachlichen Kategorien entsprach. Tm Ε 1960 wurde dann statt des Zustandes einer „vorübergehenden Bewußtseinsstörung" der Zustand einer „krankhaften seelischen Störung", „gleichwertigen Bewußtseinsstörung" eingeführt (§5 24
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und 25). Nach den dazu gegebenen Erläuterungen des federführenden Sachbearbeiters des Bundesjustizministeriums Schwalm steht fest, daß auch mit dieser Formulierung allein die nicht-krankhaften Bewußtseinsstörungen gemeint sein sollen: „Dadurch, daß der Begriff .gleichwertig' an den Begriff des Krankheitswertes anschließt, wird aber nicht etwa der Akzent vom Psychologischen auf das Biologische verlagert. Denn schon bisher und erst recht in Zukunft ist der Begriff des Krankheitswertes, wie sich aus seiner Gegenüberstellung zum Begriff der Krankhaftigkeit ergibt, gerade denjenigen seelischen Störungen vorbehalten, die sich nicht unter die Begriffe der Krankheit und der Krankhaftigkeit bringen lassen" (S. 50). „Der Entwurf hat die Möglichkeit offenlassen wollen, daß es, wie für das geltende Recht angenommen wird, rein seelisch bedingte, nicht krankhafte Bewußtseinsstörungen gibt, insbesondere rein seelisch bedingte Affekte. Allerdings hat die Rechtsprechung immer wieder betont, daß nichtkrankhafte Affekte nur in seltenen Ausnahmefallen zu einer Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit führen können. Meist ist dann zugleich ein konstellativer Faktor mit im Spiel. Der Entwurf räumt aber die Möglichkeit ein, daß ein solcher Faktor nicht immer gegeben zu sein braucht" (ebd.). Die häufig geäußerte Befürchtung, bei Aufführung der Bewußtseinsstörung ohne Einschränkung im § 24 tendiere die Psychologie zu einer Ausdehnung der Exkulpation, ist längst durch die forensische Erfahrung widerlegt: In den vom BGH entschiedenen Verfahren 4 StR 214/69 und 4 StR 250/59 N J W 1959, S. 2315 hatte der psychiatrische Sachverständige die Möglichkeit völliger Unzurechnungsfähigkeit nicht auszuschließen vermocht, während die Heranziehung eines psychologischen Sachverständigen (des Verf.s) zu dem Ergebnis führte, daß in beiden Fällen volle Zurechnungsfähigkeit nachgewiesen werden konnte. 1. Die Hauptformen
der
PrimHioreaktionen
Unter den Primitivreaktionen, die zu einer Straftat führen können, sind kriminologisch besonders bedeutsam die von Kretsehmer unterschiedenen Arten der „Explosivreaktion" und der „Kurzschlußhandlung". Explosivreaktionen sind elementare motorische Entladungen starker Affekte. „Die psychische Spannung wird zu groß und macht sich wie ein Gewitter in einer akuten Krise Luft, ob sie nun Nutzen oder Schaden stiftet" (S. 248). Der Täter wird von der Affektaufwallung überrumpelt: er weiß wenige Minuten davor noch nicht, daß und wie die Tat geschehen wird. Die Reihe solcher explosiven Affektentladungen reicht vom blinden Weglaufen über exzessive Schimpfereien bis zu schwersten Gewalttaten. Zur Erhellung der
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Genese einer solchen affektiven Explosion wird man häufig über das unmittelbar auslösende Erlebnis hinausgreifen müssen. Sie sind zumeist das Ergebnis einer lange währenden affektiven Entwicklung unter dem Einfluß der Summation gleichsinnig wirkender Erlebnisreize. „Der seelische Druck ist schon lange da, und das rezente Erlebnis ist nur der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt" (S. 249). Kurzschlußhandlungen sind demgegenüber komplizierte Handlungen. „Die Handlung zusammen mit dem affektiven Antrieb, der sie herbeiführte, bildet ein in sich geordnetes, sinnvolles Ganzes, aber sie ist von der übrigen Persönlichkeit abgespalten, sie ist ein Teilstück für sich" (S. 250). Für sie ist kennzeichnend, „daß . . . der . . .impuls nicht mehr durch das Filter der Gesamptersönlichkeit gegangen ist, sondern direkt auf die Psychomotilität durchgeschlagen und so die Handlung erzeugt hat, die für den . . .affekt allein die nächstliegende und doch für die Gesamtpersönlichkeit die sinnloseste war. Dies nennen wir Kurzschluß" (S. 261). Solche Handlungen können am Ende einer längeren affektiven Entwicklung stehen, wenn der Täter in eine für ihn zunehmend unerträglicher werdende Lebenslage geraten ist, die unaufhaltsam auf eine Krise zutreibt, aus der er aber trotz ehrlichen Suchens keinen vernünftigen Ausweg zu finden weiß. Auch bei Kurzschlußhandlungen der letztgenannten Art kann Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit gegeben sein, dann nämlich, wenn die höheren Schichten der Persönlichkeit sich gegenüber den übermächtigen Antrieben aus der Vitalschicht nicht durchzusetzen vermochten. In solchen Fällen sind die höherschichtigen Funktionen noch aktionsfähig, sie können sogar von den in Aufruhr befindlichen seelischen Tiefenschichten in Dienst genommen werden, sie haben jedoch infolge der affektiven Bewußtseinseinengung nicht genügend Bewegungsfreiheit, sie ge»Winnen keinen Überblick über die Gesamtheit der objektiv vorhandenen, rechtlich zulässigen oder gebotenen Möglichkeiten zu einer Lösung aus der unerträglich gewordenen Lage, oder wenn sie ihn haben, fehlt es ihnen an Kraft, das Verhalten auf einen der zulässigen Wege zu lenken, weil es ihnen an Gewicht gegenüber der erdrückenden Macht der entfesselten Tiefenschichten fehlt. Diesem Umstand trägt eine RG-Entscheidung vom 15. 5.1939 (HRR 1939, Nr. 1435) Rechnung, in der es heißt: „Eine die Zurechnungsfähigkeit ausschließende Bewußtseinsstörung oder krankhafte Störung der Geistestätigkeit . . . ist nicht schon dann ausgeschlossen, wenn sich der Täter seines Handelns bewußt gewesen ist oder sein Tun gewollt hat. Entscheidend ist vielmehr, ob er fähig gewesen ist, sein Handeln . . . v e r n u n f t g e m ä ß zu wollen und seine Entschließungen
n a c h v e r s t a n d e s m ä ß i g e r E i n s i c h t zu bestimmen" (Sperrungen von mir). Es kommt also entscheidend darauf an, ob der Täter unter den obwaltenden Umständen in der Lage gewesen ist, „vernünftigen Erwägungen Raum zu geben" (RGSt. 63 [1930], 49). Ich habe die in solchen Fällen sich herausbildende Motivlage als „Affekttunnel" bezeichnet. Dieses Bild umfaßt drei Wesensmerkmale der hier ins Auge gefaßten seelischen Verfassung: 1. das Hindrängen in eine bestimmte Richtung wie eine bestimmte Form der Reaktion auf die multivalente Situation, 2. die weitgehende Abdeckung eines Großteils der umgebenden Realität, zu der auch übergreifende Ziele und Normen gehören, 3. die Festlegung auf die eingeschlagene Richtung. Thomae spricht bei einer derartigen inneren Verfassung von einem „steinernen Ring" von Affekten, emotionalen Regungen, Einstellungen usw. (1960, S. 223f.) und fährt fort: „Diese Regungen und Einstellungen ihrerseits determinieren, solange sie in der geschilderten Form andauern, den Gang aller Überlegungen und Empfindungen, sie bestimmen das Ausmaß und die Richtung der Überlegungsvorgänge — und damit das Bedeutsamkeitsprofil wie die spezifische Relativierung bzw. Abdrängung aller normativen Regungen . . . " (S. 223). 2. Kriterien des
Ausnahmezustandes
Welche Kriterien sind dafür vorhanden, daß die psychische Verfassung des Täters zur Zeit der Tat derart war, daß für ihn die Primitivreaktion unvermeidb'ch — und daher schuldfrei — war? Es ist dafür sowohl das auslösende Erlebnis als auch der Boden, auf den es fiel, in Betracht zu ziehen. Es kann Situationen geben, die praktisch jeden Menschen „aus der Fassung bringen", die zur Folge haben, daß er „den Kopf verliert". Dann treten, da er als Gesamtpersönlichkeit aktionsunfähig geworden ist, die tieferen Schichten gewissermaßen vikariierend ein und führen von sich aus und in ihrem Stil eine Lösung herbei. Von dieser Art sind aber die meisten Fälle nicht, die in der forensischen Praxis auftreten. Sondern zumeist ist eine Mehrheit gleichsinnig wirkender und einander steigernder Erlebnisreize gegeben. Oft genug geht dem eine lange Vorgeschichte voraus, während welcher sich beim Täter immer mehr Konfliktstoff angesammelt hat, so daß das auslösende Erlebnis, für sich genommen, vielleicht gar nicht einmal besonders schwer, sondern nur der „Tropfen" zu sein braucht, der das Faß zum Überlaufen bringt, oder der „Funken", der ins Pulverfaß fällt. Mit Recht heißt es daher auch in der Entscheidung BGHSt 11 (1958), 20—26: „Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß es, wie auch
Forensische Psychologie der vorliegende Fall beweist und die Lebenserfahrung bestätigt, nicht von ungefähr bei einem Menschen zu plötzlichen Affektausbrüchen, gewissermaßen wie zu einem Blitzschlag aus heiterem Himmel kommt, sondern daß diesem Ereignis in der Regel eine längere Entwicklung und Vorgeschichte vorausgeht. Sie ist der Aufklärung durch Zeugen auch nach der Tat in der Regel noch zugänglich." Damit weist der BGH das — bei der Frage der Schuldhaftigkeit ohnehin unpassende kriminalpolitische — Bedenken zurück, es könne sich allzu leicht und ganz unkontrollierbar ein Täter darauf berufen, er habe in einem Zustand höchster Erregung und demgemäß völligen Ausschlusses gehandelt. Es kann mancherlei an zusätzlichen Faktoren hinzutreten. Oft ist es Alkoholgenuß. Nicht selten gehen mangelnder Schlaf, unregelmäßige und ungenügende Ernährung der Tat voraus, so daß der Reiz auf eine geschwächte, zermürbte körperliche Gesamtverfassung trifft, auf die übrigens auch der Alkohol natürlich viel folgenreicher wirkt als auf einen ausgeruhten, gut genährten und kräftigen Organismus. Die Menschen unterscheiden sich zudem auch konstitutionell bezüglich der affektiven Erregbarkeit wie bezüglich der Durchsetzungsfähigkeit und der Widerstandsfähigkeit der kontrollierenden und steuernden Instanz. Besonders gefährdet sind weiche, im allgemeinen gutartige, nachgiebige, „lammfromme", dabei mit einem empfindlichen Selbstwertgefühl ausgestattete Menschen, denen es an einer normalen Entladungsund Durchsetzungsfähigkeit fehlt, bei denen sich daher die Affekte stauen, so daß es zu einer gefährlichen Akkumulation der Reize kommen kann. Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit ist immer in strengster Ausrichtung auf die konkrete seelische Lage des konkreten Täters zu stellen. Es ist gleichgültig, ob „man" oder ein anderer an Stelle des Täters in der Lage gewesen wäre, ein hinreichendes Maß an Einsicht und Bremsung aufzubringen. Es geht vielmehr allein um die Frage, ob dieser Mensch mit seiner Lebensgeschichte in dieser konkreten Situation es konnte! Für die Beantwortung der Frage, wann eine Tat als nicht zurechenbarer Ausbruch der Primitive chichten der Persönlichkeit zu gelten hat, gibt es keine ausnahmslos gültigen Kriterien. Hier ist stets sehr vieles in Betracht zu ziehen. 1. Wenn eine Tat nicht nur aus dem Rahmen des auf Grund der bisherigen Lebensführung des Täters zu Erwartenden herausfällt, sondern vielleicht sogar in auffallendem Widerspruch zu sein em bislang gezeigten und bewährten Charakter steht, wenn sich die Tat also wie ein Fremdkörper in der bisherigen Lebensgeschichte des Täters ausnimmt, dann muß das auf jeden Fall 15
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Veranlassung sein, die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu prüfen; es kann darüber hinaus auch schon ein Anzeichen dafür sein, daß diese Tat insofern persönlichkeitsfremd war, als sie unter Umgehung des Filters der Personenschicht vor sich gegangen ist. „Persönlichkeitsfremd" in diesem Sinne ist eine Tat selbst dann, wenn eine entsprechende charakterliche Prädispostion oder eine seit langem in Gang befindliche komplexhafte Entwicklung in Richtung auf die Tat nachweisbar ist. — Aus der Beziehung des Kriteriums der Persönlichkeitsadäquanz darf nicht umgekehrt der Schluß gezogen werden, wo diese gegeben sei, könne Unzurechnungsfähigkeit nicht in Betracht kommen. 2. Wichtige Aufschlüsse über die geistig-seelische Verfassung des Täters zur Zeit der Tat können sich aus einer Analyse des Tatgeschehens ergeben. Rothacker hat darauf aufmerksam gemacht, daß in Fällen unkontrollierten und uneindämmbaren Affaktausbruchs nicht einfachhin eine Primitivform, sondern eine „Trümmerform" des Verhaltens vorliegt, bei der die Gesamtperson ein „Vabanquespiel" treibt, „denn sie schaltet hier nicht nur die Ichkontrolle aus, sondern auch noch die Regulationen des Es. Kaum mehr die emotionale, ja nicht einmal mehr die unterhalb derselben liegende vitale Tiefenperson agiert hier noch in ungetrübtem Zustand. Es liegt ein Desperadoverhalten der Gesamtpersönlichkeit vor, das bis in die animalische Schicht hinunterreicht. Selbst diese ist hier mit einer Sturmwelle zu vergleichen, die alle Dämme überrennt" (S. 132). Und eben dieser Sachverhalt wird in typischen Fällen im äußeren Verhalten, während und nach der Tat sichtbar. Bricht das Tatgeschehen, wie es für Explosivreaktionen typisch ist, abrupt hervor, ermangelt es der Vorbereitung, wird es planlos in Szene gesetzt, wird blind und selbst unzweckmäßig drauflosgehandelt, so kann das auf fehlende Beteiligung der denkenden und willentlich steuernden Funktionen hinweisen. Das besonders, wenn der Täter in der Tatausführung seiner selbst nicht schont, vielleicht selbst ernsthaften Schaden erleidet. Auch wenn die Tat ausgeführt wird, obwohl mit Sicherheit damit gerechnet werden kann, daß noch während der Tat, spätestens aber unmittelbar danach die Entdeckung derselben und die Ergreifung des Täters erfolgen wird, offenbart sich darin ein Mangel an Voraussicht, der unter allen Umständen Beachtung verdient. Spezifisch für ausgeprägte Affekthandlungen ist es, wenn der Handlungsablauf in seiner Intensität und Dauer im wesentlichen nur von der inneren Affektdynamik abhängt und nicht durch einen äußeren Erfolg determiniert ist. Solche Reaktionen sind in erster Linie als Ausdrucksbewegung zu bewerten, von denen Klages sagt, daß sie „ihren
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Sinn in sich selbst" tragen. Sobald bzw. erst wenn die Wallung, deren Ausdruck die Handlung ist, abgeklungen ist, wird aufgehört — unabhängig davon, ob der äußere Erfolg nicht oder schon längst eingetreten ist. Aber wiederum ist hier zu sagen, daß die aufgeführten Merkmale für sich allein keine bindenden Schlüsse zulassen. Es kann in besonderen Fällen trotz bemerkenswerter Planlosigkeit, Unzweckmäßigkeit, Kurzsichtigkeit und Unvorsichtigkeit der Vorbereitung und Ausführung der Tat Zurechnungsfähigkeit gegeben sein. — Umgekehrt schließen aber auch äußerlich unauffälliges und selbst planvolles, routiniertes und raffiniertes Vorgehen sowie erhaltene Erinnerung an das Geschehen noch nicht die Annahme der Unzurechnungsfähigkeit aus. Denn es kann an dem erforderlichen Hemmungsvermögen gefehlt haben. Das ist auch in zahlreichen Entscheidungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt (RG, JW 1938, Nr. 7; RGSt. [1930] 63,64; [1934] 67, 149; HRR 1939, Nr. 1435; BGHSt. [1951], 1, 384f.; BGH MDR 1953, 596; BGH 4 StR 216/53 vom 2. 7.1953; BGH, VRS 55, 49; BGH 2 StR 365/54 vom 18.1.1955). 3. Zuweilen können Augenzeugen Angaben über das Ausdrucksverhalten vor, während und nach der Tat machen, aus denen der Fachmann äußerste Erregung und Erschütterung des ganzen Organismus bis in die vegetative Sphäre hinein diagnostizieren kann. 4. Handlungen und Äußerungen des Täters in der Zeit vor der Tat können wichtige Hinweise geben darauf, daß er einem Zustand auswegloser Verzweiflung entgegentrieb. Hier ist besonders zu achten auf panikartige Handlungen (Flucht ins Ausland, zur Fremdenlegion usw.; Veräußerungen von Hab und Gut; Brandlegung) wie auch auf Selbsttötungsabsichten. 5. Auch das Verhalten unmittelbar nach der Tat kann sehr aufschlußreich sein. Wenn die Straftat im Zustand des Außersichseins, der Gelähmtheit der kontrollierenden und dirigierenden Funktionen geschehen ist, dann pflegt unmittelbar danach völlige Erschöpfung Platz zu greifen. Wird dem Täter erst nachträglich bewußt, was er angerichtet hat, und widersprach die Tat dominanten Wertgerichtetheiten der Person, so ist die Reaktion darauf häufig sehr heftig und überzeugend: Erschütterung, Reue, Selbstvorwürfe bis zurtätlichenSelbstvernichtung, ehrliches Sühnebedürfnis sind anzutreffen. Solche Täter machen keinerlei Versuche zur Spurenverwischung oder zur Flucht, stellen sich nicht selten gleich nach der Tat der Polizei, sind geständig, schonen allenfalls noch wahrheitswidrig den Mittäter. — Aber auch hier gilt wiederum, daß im umgekehrten Falle nicht ohne weiteres auf das Vorhandensein strafrechtlicher
Zurechnungsfähigkeit geschlossen werden darf. Gerade der Schock, der eintritt, wenn dem Täter zum Bewußtsein kommt, was er getan hat, wenn ihm die Tragweite seiner Handlung aufgeht, kann schlagartig ernüchternd wirken, so daß er von nun an zu kühler Überlegung fähig ist. BGH. Urt. 5 StR 74/55 vom 8. 3.1956: „Daß der Angekl. trotzdem voll zurechnungsfähig gewesen sei, begründet das Urteil vor allem auch damit, wie er sich verhielt, als er die Zeugin A. erkannte. Daraus, daß der Angekl. unmittelbar, nachdem er die Zeugin niedergeworfen hatte, um sie zu vergewaltigen, ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, daß er wisse, was er habe tun wollen, daß dies Unrecht sei, und daß er sich nunmehr, nachdem er erkannt war, durch die Flucht vor Anzeige und Bestrafung von weiterem Tun habe abhalten, also hemmen lassen, folgert die Strafkammer, daß er die Einsicht und das Hemmungsvermögen auch schon beim Niederwerfen der Zeugin besessen habe. Diese Schlußfolgerung ist zu beanstanden. Gerade das Erkennen der Zeugin hat, wie das Urteil ergibt, einen so starken Eindruck auf den Angekl. gemacht, daß die Strafkammer hätte prüfen müssen, ob etwa dieser Eindruck den Angekl. stark ernüchtert hat, so daß aus seinem Verhalten nach Erkennen der Zeugin ein Rückschluß auf sein Erkenntnis- und Hemmungsvermögen vor diesem Zeitpunkt bedenklich ist." 6. Schließlich vermag wesentliche Aufschlüsse über seine innere Verfassung zur Zeit der Tat der Täter selbst zu geben. Seine Darstellung bedarf selbstverständlich sorgfältigster Analyse, um zu einem fundierten Urteil über deren Glaubhaftigkeit zu gelangen. (Die hierfür in Betracht kommenden Gesichtspunkte sind in dem 'Abschnitt über Aussagepsychologie behandelt.) Von besonderem Interesse ist hier die Frage, inwieweit er in der Lage ist, von dem Geschehen ein einigermaßen vollständiges und klares Bild zu geben. Gerade bei hochgradiger Einengung des Bewußtseins und erst recht bei Bewußtseinstrübung wird das Tatgeschehen oft nur unvollständig apperzipiert, auch können partielle Erinnerungsausfälle auftreten. C. Irrtum Auch ohne daß sich der Täter in einem Ausnahmezustand befindet, kann eine Grundvoraussetzung strafrechtlicher Schuld, die Einsicht in die Rechtswidrigkeit seines Tuns, fehlen. Der Täter kann infolge eines Mangels in der Ausbildung oder momentanen Ausprägung des subjektiven Normengefüges (sozial-kulturelle Persönlichkeit, prospektives Ich, Personenschicht usw.) daran gehindert sein, die Rechtswidrigkeit seines Tuns zu erkennen, und es daher — irrtümlicherweise — für erlaubt halten. Wenn ihm
Forensische Psychologie ein solcher Irrtum nicht vorzuwerfen ist, bildet er einen Schuldausschließungsgrund. Die Lehre vom schuldausschließenden oder schuldvermindernden Irrtum ist im geltendenStrafrecht nicht verankert, liegt aber in der Konsequenz jedes Schuldstrafrechts. Da ohne sie nicht auszukommen war, ist sie vom Großen Strafsenat des BGH in seinem Beschluß BGHSt 2 (1952), 194ff. praeter legem entwickelt worden. Der Entwurf 1960 bringt eine sehr eingehende Regelung der verschiedenen Fälle, in denen der Täter über das, was er tut, oder über die rechtliche Bewertung seines Tuns irrt (§§ 19—21, 40 Abs. 2, 41 Abs. 2). Allerdings ist für den Schuldausschluß wegen Irrtums ebenso wie für den Schuldausschluß wegen mangelnder Verantwortungsreife (§ 3 JGG) oder wegen eines psychischen Ausnahmezustandes (§ 51 StGB) nicht schon ausreichend, daß dem Täter ein Bewußtsein von der Rechtswidrigkeit seines Tuns fehlte, sondern allein, ob er auch bei Anwendung der Sorgfalt, die nach der Sachlage objektiv zu fordern war und die er auch nach seinen persönlichen Verhältnissen anwenden konnte, nicht zu erkennen in der Lage war, daß er Unrecht tat. Je nach dem Maß, in dem es der Täter an der zu fordernden Anspannung des Gewissens hat fehlen lassen, wird der Schuldvorwurf gemindert und die Möglichkeit begründet, nach den gleichen Grundsätzen Strafmilderung eintreten zu lassen, wie sie im Falle der verminderten Zurechnungsfähigkeit nach § 51 Abs. 2 StGB vorgesehen sind. Es liegt im Wesen des Schuldstrafrechts, daß alle diese Formen und Stufen des Irrtums zugunsten des Täters berücksichtigt werden müssen. Denn für das Schuldstrafrecht ist der Ausgangspunkt des Schuldvorwurfs der Sachverhalt, wie er in der Vorstellung des Täters besteht (BGHSt 3,12; BayOLG NJW 1955,1,1848; BGH 28. XI. 52 — 4 StR 23/50). Die Anforderungen an die zuzumutende Anspannung des Gewissens sind individuell abzustufen: „In jedem Fall kann die Entscheidung nur unter Berücksichtigung der gerade dem Handelnden eigenen Gaben, Fähigkeiten und Einsichten getroffen werden" (BGHSt 3, 358). BGH J R 1954,188: „Mit der Anwendung eines allgemeinen Maßstabes würde der Gedanke der Vorwerfbarkeit aufgegeben. Fälle solcher Art . . . setzen die besonders sorgfältige, strenge Prüfung der Täterpersönlichkeit . . . voraus." Daraus ergibt sich die Forderung: „Der Tatrichter . . . wird sich besonders bei der Feststellung des inneren Tatbestandes aller erreichbaren Beweismittel bedienen müssen, um eine sichere Überzeugung von den mit der Ausführung der Tat verfolgten Absichten der Angekl. und ihren Vorstellungen von dem Unrechtsgehalt ihres Vorgehens zu gewinnen" (BGH 28. XI. 52 — 4 StR 23/50). 15·
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Es wird daher nicht selten die Zuziehung eines Sachverständigen geboten sein. Da es sich bei dieser Fragestellung in der Regel um Täter handeln wird, bei denen Zweifel an ihrer geistigen und seelischen Normalität nicht bestehen, fällt die Begutachtung zur Frage der persönlichen Unvermeidbarkeit fehlenden Unrechtsbewußtseins eindeutig und ausschließlich in den Kompetenzbereich des Psychologen. In einer Entscheidung des OLG Hamm vom 15. VI. 56 — 2 Ws 46/56 heißt es: „Ob dieses zutrifft, kann ohne Anhörung eines Psychologen nicht geklärt werden. Es sind zwar Fälle denkbar, wo es dem Richter nicht an der genügenden Sachkunde fehlt, von sich aus zu entscheiden, ob ein solcher Irrtum vermeidbar gewesen wäre oder nicht. Im vorliegenden Falle reicht die Sachkunde eines Richters aber nicht hin. Wie bei den mitangeklagten Ärzten die gleiche Frage nur mit Hilfe eines Psychologen geklärt werden konnte, so ist auch bei dem Beschwerdeführer eine Klärung nur mit solcher Hilfe möglich." Die Prüfung der Frage, ob ein persönlich unvermeidbarer Mangel an Unrechtsbewußtsein vorgelegen hat, m. a. W. ob der Täter in seiner konkreten, auf die begangene tatbestandsmäßigrechtswidrige Handlung bezogenen Lage das Unrecht eben dieses seines Tuns zu erkennen in der Lage war, hat sich nach folgenden Richtungen hin zu erstrecken: 1. auf die Art des verletzten Strafgesetzes, 2. auf die Täterpersönlichkeit, 3. auf alle wesentlichen Tatumstände. Die ausschlaggebenden Gesichtspunkte einer Prüfung nach diesen Punkten sind nachzulesen bei Undeutsch 1964. m . DIE REIFEENTSCHEIDUNG NACH § 105 JGG Ohne Zusammenhang mit der Frage nach dem Maß der Schuld ist die Frage, ob auf die Straftat eines heranwachsenden (18—20 Jahre alten) Täters materielles Jugendstrafrecht oder allgemeines Strafrecht anzuwenden ist. Nach § 105 Abs. 1 JGG hat der Jugendrichter auf Heranwachsende das materielle Jugendstrafrecht anzuwenden, wenn „1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand; oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt". Übersieht man die bisher (seit Oktober 1953) mit dieser Regelung in der jugendrichterlichen Praxis gemachten Erfahrungen, so scheinen sie überwiegend negativ zu sein.
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Die Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende wird von den Richtern mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit praktiziert. Nach einer Untersuchung von Kühling (200 in einer Hauptverhandlung abgeurteilte Fälle im Amtsgerichtsbezirk Hannover in den Jahren 1953—1955) schwankte der Prozentsatz der Anwendung von Jugendstrafrecht zwischen 26% und 69%. In dem Material von Eickemeyer (952 im Jahre 1958 auf Grund einer mündlichen Verhandlung gefällte Urteile gegen Heranwachsende des Amtsgerichts Düsseldorf) schwankte der Prozentsatz zwischen 68 und 91%; bei einem Richter, der ausschließlich Verkehrsdelinquenten abzuurteilen hatte, betrug der Prozentsatz nur 32%. Schaffstein teilt mit, daß 1955 vom Jugendschöffengericht Hannover in 21% der Fälle Jugendstrafrecht angewandt wurde, vom Jugendschöffengericht Braunschweig dagegen in 77%. Beschränkt man sich nicht auf die auf Grund einer Hauptverhandlung abgeurteilten Fälle, sondern bezieht auch die Heranwachsenden mit ein, deren Taten in einem Strafbefehls- oder Strafverfügungsverfahren geahndet wurden, so ergeben sich noch krassere Unterschiede. So berichtet Sieverts, daß Jugendstrafrecht im Jahre 1955 in Bayern bei 14%, in Hamburg dagegen bei 44% der verurteilten Heranwachsenden angewandt worden ist. Dabei hat zwischen den einzelnen Amtsgerichtsbezirken in Niedersachsen der Prozentsatz für die Anwendung von Jugendstrafrecht zwischen 10 und 90% geschwankt. Nach Schaffstein hat das AG Hannover 1955 nur in 4% aller Einzelrichtersachen Jugendstrafrecht angewandt; es hat also offenbar in sehr weitem Umfang vom Strafbefehl Gebrauch gemacht. Das AG Oldenburg dagegen hat in 92% der Fälle Jugendstrafrecht angewandt. Von den vom AG Düsseldorf im Jahre 1958 abgeurteilten 3160 Heranwachsenden ist in 14% der Fälle Jugendstrafrecht angewandt worden, 27% haben einen Strafbefehl erhalten (Eickmeyer). Wie sich zeigt, ist die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht besonders häufig im Bereich der leichten Kriminalität. Das ist gewiß nicht durch den Reifestand dieses Täterkreises gerechtfertigt, vielmehr die Folge einer unglücklichen gesetzlichen Regelung der summarischen Verfahren ohne Hauptverhandlung. Sowohl eine Strafverfügung als auch ein Strafbefehl kann nur erlassen werden, wenn das Erwachsenenstrafrecht angewandt wird (§ 109 Abs. 2 JGG, in Verbindung mit § 79 Abs. 1 JGG). Das Bagatellverfahren des Jugendstrafrechts, die jugendrichterliche Verfügung des § 75 JGG ist auf Heranwachsende nicht anwendbar (§ 109 Abs. 1 JGG). Gerade bei der kriminalitätsstarken Altersgruppe der Heranwachsenden besteht aber das dringende Bedürfnis, Übertretungen und leichtere Ver- I
gehen in summarischen Verfahren zu ahnden, um eine Arbeitsüberlastung der Jugendgerichte zu verhindern. Dies gilt besonders im Hinblick auf die zahlreichen Verkehrsdelikte. Aber auch bei den Heranwachsenden, die auf Grund einer Hauptverhandlung verurteilt wurden, zeigte sich deutlich eine Tendenz zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht bei geringfügigeren Delikten. Weiter konnte festgestellt werden, daß die Gründlichkeit, mit der die Persönlichkeitsforschung betrieben wurde, einen beträchtlichen Einfluß darauf hatte, wie häufig Jugendstrafrecht angewandt wurde (Eickmeyer). Kühling fand, daß die vom Gericht in den Urteilen schriftlich niedergelegte Begründung für die Reifeentscheidung nach § 105 JGG in vielen Fällen sehr dürftig ist. In der Entscheidung BGH LM Nr. 5 zu § 105 JGG ( = MDR 1954, 694f. = NJW 1954, 1617) wird demgegenüber verlangt: „Der Ablehnung des Jugendstraf rechts auf Heranwachsende muß eine ins einzelne gehende, rechtlich nachprüfbare tatsächliche Würdigung des Täters und seiner Tat zugrunde liegen; die bloße Wiederholung der Gesetzesworte genügt nicht." Bei der Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Heranwachsenden, wie sie für die Entscheidung nach §105 Abs. 1 Nr. 1 JGG gefordert wird, handelt es sich nicht nur um eine rein pragmatische Entscheidung, sondern um eine mit Hilfe eines in der Beurteilung Heranwachsender erfahrenen Sachverständigen vom Richter selbständig zu treffende Reifeentscheidung, wie es in dem BGH-Urteil JZ 1959, 185 heißt. Die Zuziehung eines Sachverständigen ist auch deshalb ratsam, weil in dem engen Rahmen der notwendig mehr förmlichen gerichtlichen Vernehmung nur bestimmte Ausschnitte aus der Persönlichkeit des Angekl. in Erscheinung treten (vgl. BGHSt 7, 82 ff.). In der Regel ist die Begegnung zwischen dem Richter und dem Heranwachsenden zudem erstmalig und vor allem sehr kurz. Bei der Untersuchung von Eickmever hat sich ergeben, daß vor dem AG Düsseldorf in den Einzelrichterterminen bis zu 25 Fälle an einem Tag anstanden. Wie sich aus den vorliegenden Untersuchungen ergibt, werden Sachverständige aber nur selten beigezogen. Nach dem Material, das Bresser vorgelegt hat, wurden im Jahre 1954 nur in 5,4% seiner Fälle Sachverständige zur Beurteilung des Reifegrades nach § 105 JGG hinzugezogen. Kühling berichtet, daß in seinem Material (AG Hannover 1953—1955) Sachverständigengutachten zur Frage des §105 JGG lediglich bei 4,5% der Angekl. eingeholt worden sind. In dem Material von Eickmeyer (AG Düsseldorf 1958) sind in 4,1% der Fälle Gutachten erstattet worden. Aus der Bewährungshilfe-Statistik aus dem Jahre 1960 ergibt sich, daß für diese Gutachteu
Forensische Psychologie 1959 in 4,6% der Fälle Psychiater, in 1,5% der Fälle Psychologen zugezogen worden sind. Für 1960 sind die entsprechenden Zahlen 3,8 und 1,3%. Da für die Reifeentscheidung eine Orientierung an der normalen Entwicklung erforderlich ist, bringt für diese Begutachtungsfrage allein der Psychologe die erforderlichen Fachkenntnisse und die entsprechende Erfahrung mit. Die Kriterien für die Beurteilung des Reifegrades nach § 105 Abs. 1JGG sind seit Einführung des JGG 1953 in der Literatur mehrfach behandelt worden (Illchniann-Christ, Schmitz, Suttinger, Undeutsch 3955, Villinger u. a.). Die Kriterien müssen dem Gang der normalen Entwicklung entnommen werden. Darum ist die Ausgangsfrage: Was spielt sich insgesamt an psychischer Entwicklung während der Phase der Adoleszenz ab ? Denn alles dies wird man bei der Entwicklungsdiagnose ins Auge fassen müssen. Der Beginn dieser Phase läßt sich noch an naturgesetzlich bestimmte Entwicklungsgegebenheiten knüpfen, nämlich an die qualitative Vollendung der geschlechtlichen Reifung an den akzessorischen Geschlechtsmerkmalen. Diese ist bei uns zulande im Falle gesunder Entwicklung durchschnittlich mit 157 2 Jahren bei den Mädchen und mit 16,0 Jahren bei den Jungen gegeben (Bober u. Scholz, 1944). Das Ende dieser Phase ist dagegen viel schwerer anzugeben und vorwiegend nur im Hinblick auf die soziale Stellung und Reife zu bestimmen. Dabei bietet sich unter vielerlei Gesichtspunkten die Vollendung des 21. Lebensjahres als geeigneter Termin an. — Die vom Gesetz gezogene Altersgrenze zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden verläuft somit mitten durch diese Phase. Soviel zur zeitlichen Abgrenzung. Nun die entwicklungspsychologische Charakterisierung: Die starke Inanspruchnahme durch die stürmische Entwicklung in der Pubeszenz ist vorüber. Eine Dominantenbildung innerhalb der Lebensdynamik tritt ein, wobei der Dominanz einer Grundrichtung relative Dauerhaftigkeit zukommt. Das ist gleichbedeutend mit der Entdeckung und Verteidigung einer „Wesensmitte". Mit der weiteren Durchstrukturierung der Persönlichkeit wird eine gewisse Ordnung innerhalb der Antriebssphäre errreicht. Insbesondere das sexuelle Triebbegehren wächst hinein in umfassendere Funktionskreise und gewinnt damit sowohl an spezifischer Ausrichtung als auch an Gegengewichten. Insgesamt tritt eine gewisse Distanzierung von den jeweils aktuellen Antrieben ein. Dadurch wird die Herausbildung einer „Instanz" gefördert, die verantwortlich Stellung nimmt, planend und steuernd wirksam wird. Ein eigenständiges Verhältnis zur Wertwelt reift heran. Eine Auswahl unter den verschiedenen Wertgebieten tritt ein. Die Bereitschaft zur innerlich bejahten Übernahme von Aufgaben
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und sozialen Funktionen erwacht. Der Schaffensdrang, die Freude an selbstgesetzter Arbeit bricht durch. Auch der Arbeit an sich selbst ist nun der Boden bereitet. Die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Selbstgestaltung, die — je nach dem Niveau der Persönlichkeit — mehr oder minder weitgestreckte Ziele verfolgt, ist herangereift. Aber solches Wachstum vollzieht sich nicht einfachhin in sich und für sich. Der Mensch steht in einem sozialen Feld; und die soziale Umwelt des Heranwachsenden ist bereits eine andere als die des Jugendlichen. Seine berufliche Stellung ist zumeist besser, seine Erwerbsverhältnisse sind günstiger als beim Jugendlichen. Es weitet sich der soziale Horizont: neben Familie und Gruppe treten umfassendere und reicher gegliederte soziale Gebilde in den Gesichtskreis des jungen Menschen, Gebilde, in denen er eine zunehmend größere Rolle zu spielen beginnt, so daß ein größerer Anteil von Verantwortung an ihrer Erhaltung, ihrem Funktionieren und ihrer Ordnung auf ihn entfällt und auch von ihm aus erlebbar wird. Damit erhält das Hineinwachsen in die Rechtsordnung des Volkes und in den Gesetzesbereich eine entscheidende Förderung. Und wie die Gemeinschaft, so wirkt — von dieser nicht trennbar — die Kultur mit ihren Regulationssystemen und Wertgebieten auf den jungen Menschen ein und prägt ihn mit dem „Königsrecht des Geformten". So führt einfach schon der Lebensvollzug als solcher zu einer weiteren funktionellen Durchformung der Persönlichkeit und leistet einen wesentlichen Teil der in diesem Lebensabschnitt vollzogenen Reifung zum Erwachsenen. Die im Laufe der Jahre sich einstellende Wiederholung des Vollzugs gleicher oder ähnlicher Tätigkeiten erhöht die Sicherheit und Vollkommenheit des Vollzugs. Die wachsende Erfahrung mit sich selbst, aber auch mit den außerpersönlichen Gegebenheiten (der Mitmenschen, des Apparats usw.) bringt zunehmende Realitätsangepaßtheit mit sich und verbessert in jedem Fall die eigene Position im Daseinskampf. Und das sind Entwicklungsfortschritte, die sich einstellen, auch wenn das autochthone Wachstum der psychischen Funktionen bereits weitgehend abgeschlossen ist. Es sind mehr Vorgänge der Umlagerung, der Akzentverschiebung, der Verfestigung als eigentliche Wachstumsvorgänge. Diese Ausreifung befähigt aber den jungen Menschen zu zunehmend erfolgreicherem Einsatz seiner Mittel. Daher ist eine Verbesserung der Lebenssituation auch möglich bei Menschen, deren Entwicklungspotenz gering zu veranschlagen ist. Denn ein Teil der weiteren Entwicklung kann weitgehend von äußeren Faktoren und dem fortgesetzten Lebensvollzug selber hergeleitet werden. Jede Verbesserung der jeweiligen — inneren wie äußeren — Ausgangssituation im Lebenskampf kann einen
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Wechsel der vorherrschenden Daseinstechniken (Thomae) bedingen, einen Übergang zu sozial höherwertigen Techniken im Streben nach Erfüllung der persönlichen Anliegen und damit ein echtes Stück sozialer Reifung bringen. Wenn nun an Entwicklungsgeschehen alles das, wovon wir soeben gesprochen haben, und vieles andere, wovon wir nicht haben handeln können, in einem Maße, wie wir es beim normal entwickelten 18jährigen oder älteren Menschen vorzufinden gewohnt sind, eingetreten ist, dann — so bestimmt es der Gesetzgeber — soll der junge Mensch dem allgemeinen Strairecht unterstehen. Wenden wir uns kurz der 2. Bestimmung des § 105 I zu, die die Anwendung jugendrichterlicher Maßnahmen vorschreibt für solche Straftaten Halbwüchsiger, die eine offensichtliche Jugendverfehlung darstellen. Im Einzelfall ist es gar nicht einfach zu entscheiden, ob es sich bei der Straftat eines Halbwüchsigen um eine „Jugendverfehlung" handelt oder nicht. Mit Recht heißt es in der Entscheidung BGH LM Nr. 5 zu §105 JGG: „Auch die Frage, ob es sich bei den Taten des BeschwF. um bloße Jugendverfehlungen handelt, kann nur auf Grund einer eindringenden und umfassenden Würdigung der äußeren Tatumstände sowie der Beweggründe des Täters abschließend beurteilt werden." Konkret ist bei der angezogenen Vorschrift Nr. 2 vor allem zu denken: a) an die typischen Jugendtorheiten und Streiche (falsche Namensangabe, grober Unfug, unbefugte Kraftfahrzeugbenutzung, Körperverletzungen, Tierquälerei usw.); b) an strafbare Handlungen, die aus einer übergroßen Gefühls- oder Stimmungsabhängigkeit erwachsen sind (die bekannten Heimwehdelikte, aber auch primitive Racheakte, Beleidigungen u. ä.); c) an Diebstähle. Der Diebstahl ist ja das Hauptdelikt der Jugendlichen. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu denken an Handlungen, die aus Abenteuerlust, Geltungsdrang oder einem falsch verstandenen Gemeinschaftsgeist entstanden sind; d) an gewisse Sexualdelikte nach §176 Nr. 3 StGB (Unzucht mit Kindern) und u. U. an gewisse homosexuelle Handlungen (nach § 175 und 175a Nr. 1), aber auch Delikte, die ihrem äußeren Bild nach bereits gefährlich in der Nähe der Notzucht stehen, die ζ. B. aus bloßer Schaulust ausgeführt werden. Als „Jugendverfehlung" können in dieser Gruppe vor allem diejenigen angesehen werden, die Ausdruck einer dranghaften und ungerichteten Sexualität sind, die den jungen Menschen gleichsam — zumeist plötzlich — überfällt. Solche Handlungen sind meistens gekennzeichnet durch Abruptheit, Massivität und fehlenden personalen Bezug. Aber es kann praktisch auch jedes andere Delikt auch einmal in der Form einer Jugendverfehlung auftreten.
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Forensische Psychologie —
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Freiheitsdelikte
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FREIHEITSDELIKTE A . Begriff Als Delikte gegen die persönliche Freiheit lassen sich nur solche bezeichnen, bei d e n e n der Angriff gegen das Rechtsgut der persönlichen Freiheit (nicht gegen die Freiheit des Vermögens oder E i g e n t u m s ) Zentralpunkt der T a t ist, u n d zwar derjenigen Freiheit, die d e m Menschen ohne Rücksicht auf seine Stellung i n der Sozialordn u n g zusteht, so daß N ö t i g u n g des Bundespräsidenten (§ 83 Abs. 2 StGB), eines B e a m t e n (§ 114) u n d Parlamentsnötigung (§ 106) nicht hierher gehören. Anderenfalls m ü ß t e n zahlreiche Delikte wie e t w a Raub, Erpressung, bei denen der A n griff gegen die persönliche Freiheit nur Mittel z u m Zweck ist, unter die Freiheitsdelikte fallen. D a s geltende deutsche Strafgesetzbuch enthält i m 18. A b s c h n i t t (Verbrechen u n d Vergehen wider die persönliche Freiheit) einmal eine Reihe v o n Delikten, die ihren Schwerpunkt nicht i n der Freiheitsbeeinträchtigung, sondern i m Angriff g e g e n die Familie (§ 235 — Muntbruch — ) oder die Sittlichkeit (§§ 236, 237 — E n t f ü h r u n g zur U n zucht — ) haben. Andererseits i s t der Hausfriedensbruch i m geltenden Strafgesetzbuch i m 7. Ab-
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Freiheitsdelikte
schnitt („Verbrechen und Vergehen wider die öffentlichte Ordnung") geregelt, obgleich nach überwiegender Auffassung im In- und Ausland der Angriff gegen das Hausrecht dem Angriff gegen die persönliche Freiheit jedenfalls sehr nahesteht. (Wegen der systematischen Stellung des Hausfriedensbruchs im ausländischen Recht vgl. Kielwein, Materialien II Bes. Teil S. 309). Der Entwurf eines deutschen Strafgesetzbuches (E 1962) regelt im 6. Titel (§§ 163 bis 172) als „Straftaten gegen die persönliche Freiheit" Freiheitsberaubung, erpresserischen Kindesraub, Verschleppung, politische Verdächtigung, Bedrohung, Nötigung und Hausfriedensbruch. Von ihnen ist die „politische Verdächtigung" kein Freiheitsdelikt; ihre Zusammenstellung mit der Verschleppung erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte und der Gemeinsamkeit in der Art der Gefährdung des Opfers. Sie wird hier mitbehandelt, weil sie sich in andere Deliktsgruppen systematisch nicht einordnen läßt. Der„Menschenraub" des § 234 StGB hat in Deutschland praktisch schon lange keine Rolle mehr gespielt (vgl. Schwalm Nschr. Bd. VI S. 250); er ist daher in den Entwurf nicht aufgenommen worden und wird auch hier nicht behandelt. Zur Erörterung stehen also die erwähnten in den §§ 163 bis 172 Ε 1962 geregelten Delikte. B. Statistisches Sämtliche hier behandelten Delikte spielen statistisch keine wesentliche Rolle. In den Jahren 1934 bis 1936 und 1950 bis 1955 lagen die Gesamtverurteilungen in der Bundesrepublik wegen Freiheitsberaubung zwischen 196 (im Jahre 1936) und 256 (im Jahre 1955). Wegen erpresserischen Kindesraubes gab es höchstens fünf Verurteilungen im Jahr. Die Straftatbestände der Verschleppung und politischen Verdächtigung sind erst im Jahre 1951 in das Strafgesetzbuch eingeführt worden, die Verurteilungen nach §§234a, 241a StGB erreichen noch nicht einmal 10 im Jahr; etwas höher sind die nach dem Berliner Freiheitsschutzgesetz, insbesondere die wegen politischer Verdächtigung. Sie betragen in den fünf Jahren 1954 bis 1958: 56, 84, 100, 50, 12. Nötigung und Bedrohung wurden in den Jahren 1950 bis 1953 nur gemeinsam ausgewiesen; die Verurteilung wegen beider zusammen liegt in diesen vier Jahren zwischen 1444 im Jahre 1950 und 2288 im Jahre 1952; in den übrigen hier herangezogenen Jahren sind verurteilt wegen Nötigung 1031 Personen im Jahre 1934, 1089 im Jahre 1935, 833 im Jahre 1936, 1421 im Jahre 1955; wegen Bedrohung sind verurteilt 1614 im Jahre 1934,1843 im Jahre 1935,1388 im Jahre 1936, 525 im Jahre 1955. Etwas höher liegen die Verurteilungen wegen Hausfriedensbruchs, und zwar in den Jahren 1934 bis 1936 zwischen 2780 im Jahre 1936
und 3821 im Jahre 1935; in den Jahren 1950 bis 1955 zwischen 2745 im Jahre 1950 und 5450 im Jahre 1955 bei ständig steigender Tendenz. C. Die einzelnen Delikte 1. Vorsätzliche Freiheitsberaubung, Verschleppung und politische Verdächtigung a) Schon der Strafrahmen des § 239 StGB deutet auf die große Variationsbreite des Delikts hin. Die Strafe für die einfache F r e i h e i t s b e r a u b u n g (wer vorsätzlich und widerrechtlich einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise des Gebrauches der persönlichen Freiheit beraubt) liegt zwischen 5 DM Geldstrafe und fünf Jahren Gefängnis. Freiheitsberaubungen, die mehr als eine Woche dauern, und solche mit schweren Folgen (schwere Körperverletzung oder Tod des der Freiheit Beraubten) werden grundsätzlich mit Zuchthaus bis zu zehn bzw. fünfzehn Jahren bestraft. Ähnlich liegt es im Entwurf, der für die einfache Freiheitsberaubung Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren, Strafhaft oder Geldstrafe vorsieht, für besonders schwere Fälle Gefängnis von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, und für Freiheitsberaubung, die mit grausamer oder unmenschlicher Behandlung verbunden ist, grundsätzlich Zuchthaus von zwei bis zu fünfzehn Jahren. Den Rädelsführer oder Hintermann einer Gruppe, der die Freiheitsberaubung vieler Menschen mit unmenschlicher Behandlung bewirkt, bestraft der Entwurf mit Zuchthaus von fünf bis zu zwanzig Jahren. Die bei weitem häufigste Strafe für einfache vorsätzliche Freiheitsberaubung ist die Geldstrafe; in Deutschland sind etwa zwei Drittel bis drei Viertel aller wegen Freiheitsberaubung ausgesprochenen Strafen Geldstrafen. Schon das zeigt, daß die meisten Fälle zur unteren Kriminalität gehören; sie gehen teilweise nicht über bloßen Studentenulk hinaus, grenzen oft auch an erlaubte Selbsthilfe. Das Grundrecht der persönlichen Freiheit steht unter dem Vorbehalt des Gesetzes (Grundgesetz Art. 2 Abs. 2, Art. 104). Sowohl die Strafgesetze und die Strafprozeßordnung als auch die verschiedenen Gesetze des Bundes und der Länder, die die Unterbringung gefährdeter Jugendlicher, ansteckend Kranker, Geisteskranker, Geistesschwacher, Rauschgift- und Alkoholsüchtiger sowie die vorübergehende polizeiliche Festnahme zwecks Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung regeln, enthalten Ermächtigungen zu Eingriffen in die persönliche Freiheit. Auch das Züchtigungsrecht der Eltern und Lehrer rechtfertigt in seinem Rahmen Handlungen, die den äußeren Tatbestand des § 239 StGB erfüllen (BGH NJW 1953, 1440). Bei vielen Freiheitsberaubungen handelt es sich nur um Überschreitung von Be-
Freiheitsdelikte fugnissen, die durch derartige Bestimmungen gegeben sind. Soweit Beamte in Ausführung der ihnen übertragenen Aufgaben ihre Befugnisse überschreiten, kommt Freiheitsberaubung im Amt in Betracht. Aber auch der Nichtbeamte kann sich im Zusammenhang mit den erwähnten Bestimmungen der Freiheitsberaubung schuldig machen, indem er die unrechtmäßige Handlung eines Beamten unterstützt, sich Amtsbefugnisse anmaßt, Beamte durch Irreführung zu ungerechtfertigten Handlungen veranlaßt oder schließlich über die auch dem Nichtbeamten gegebenen Befugnisse hinausgeht. Kriminologisch wichtige Gemeinsamkeiten lassen sich in diesen Fällen kaum feststellen. Einige Besonderheiten gelten aber für die Freiheitsberaubungen, deren sich Kriegsgefangene in östlichen Gefangenenlagern gegenüber ihren Kameraden sowie in der Nazizeit Häftlinge gegen Mithäftlinge in Konzentrationslagern schuldig gemacht haben, und für die Verschleppungen aus Westberlin oder der Bundesrepublik in das sowjetisch besetzte Gebiet. Lagerinsassen haben gegenüber ihren Mitgefangenen vielfach dadurch Freiheitsberaubungen begangen oder dazu geholfen, daß sie ungerechtfertigte Verschärfungen der Haft (Dunkelarrest u. ä.) oder ungerechte „Verurteilungen" (in den sowjetischen Kriegsgefangenlagern meist zu 26 Jahren Arbeitslager) herbeiführten. Das haben sie dadurch bewirkt, daß sie bei ihnen übertragenen Vernehmungen falsche Geständnisse von den Gefangenen erpreßten oder gar nicht abgegebene Geständnisse protokollierten oder sich für Verhandlungen als Zeugen zur Verfügung stellten und dabei Unrichtiges bekundeten. Die Täter, die selbst Gefangene waren, gehörten an sich zu einer Gruppe, die sich gegenüber der östlichen bzw. Nazi-Lagerleitung in Abwehrstellung befand. Sie haben sich auf die Seite ihrer natürlichen Feinde geschlagen und ihre Kameraden verraten. In den östlichen Kriegsgefangenenlagern fühlte sich ein Teil der Täter (meist alte Kommunisten) innerlich zugehörig zu der örtlichen Lagerleitung und dem fremden Staat (Sowjetunion, Jugoslawien), dessen Ideologie sie verhaftet waren. Die feindliche Gruppe, der gegenüber sie an sich unmoralische Mittel ideologisch oder gefühlsmäßig für zulässig erachteten (vgl. Heintz S. 7), war für sie nicht die östliche Lagerleitung, sondern die Gruppe ihrer Kameraden, und zwar insbesondere solche Kameraden, die von der östlichen Propaganda als besonders gefährlich oder verabscheuungswürdig angesehen wurden (alte Nationalsozialisten, Offiziere bestimmter Rangstufen, Angehörige bestimmter militärischer Einheiten). Dabei spielte gelegentlich auch das Gefühl eine Rolle, daß die Mitgefangenen, die für den Täter den Nationalsozialismus oder die deutsche Wehr-
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macht verkörperten, an dem Unheil mitschuldig wären, das den Täter betroffen hatte (Sündenbockidee). Für die übrigen Lagertäter lassen sich gemeinsame Motive kaum feststellen. Vielfach befanden sie sich an der Grenze einer gesetzlich anerkannten Notstandslage, wenn zu den Entbehrungen und Qualen, die alle dulden mußten, Sonderbelastungen hinzukamen, wie schwächliche Konstitution oder besondere Einschüchterungsmaßnahmen seitens der örtlichen Lagerleitung. Vielfach erwiesen sie sich nur als zu schwach, um der Versuchung zu widerstehen, sich auf Kosten ihrer Kameraden Vorteile zu verschaffen. Die Frustrationslage (über das Verhältnis von Frustration und Aggression vgl. Heintz und die dort S. 5 angeführten Titel; ferner für die Konzentrationslager Tadeuß Grygier) für sich allein vermag nicht zu erklären, warum einzelne Gefangene zu Kameradenschindern wurden, während die große Mehrheit zusammenhielt und sich gegenseitig unterstützte. b) Bei der V e r s c h l e p p u n g (StGB § 234a — für Berlin zum Teil verschärfte Sonderregelung im Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit vom 7. 6.1951 —), die vielfach mit Freiheitsberaubung in Idealkonkurrenz steht, handelt es sich zum Teil um ähnliche Tätergruppen wie bei den zuletzt erörterten Arten der Freiheitsberaubung. Wegen Verschleppung wird nach § 234 a StGB bestraft, wer einen anderen durch List, Drohung oder Gewalt in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Strafgesetzbuchs verbringt oder veranlaßt, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält, von dort zurückzukehren, und dadurch der Gefahr aussetzt, aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in seiner beruflichen oder wirtschaftlichen Stellung empfindlich beeinträchtigt zu werden. Normalstrafrahmen für die Verschleppung ist Zuchthaus von einem bis zu fünfzehn Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Der Tatbestand im Entwurf ist demgegenüber nicht wesentlich verändert; die Strafe beträgt hier Zuchthaus von zwei bis zu fünfzehn Jahren, in minder schweren Fällen Gefängnis von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Die Verschleppung zerfällt in Gewaltverschleppung und Listverschleppung. Gewaltverschleppung, meist mit Hilfe von Kraftfahrzeugen begangen, nachdem das Opfer betrunken gemacht oder betäubt ist, kommt sehr selten vor, Listverschleppung war etwas häufiger. Listmittel waren ζ. B.: die Behauptung, ein Angehöriger oder guter Freund liege schwer erkrankt in der sowjetisch besetzten Zone oder im Sowjetsektor
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Freiheitsdelikte
von Berlin, dem Opfer solle eine Arbeitsstelle verschafft werden, wobei zum Teil verschwiegen wurde, daß sich die angebliche Arbeitsstelle, an die sich der Täter mit dem Opfer begab, im sowjetisch besetzten Gebiet befand, das Opfer könne sich wichtige Papiere oder sonstiges wichtiges Eigentum in der Nähe der Zonen- oder Sektorengrenze abholen; es sind aber auch Fälle vorgekommen, in denen lediglich das Opfer überredet wurde, ein Theater, Kino oder Tanzlokal im sowjetisch besetzten Gebiet zu besuchen, wobei die Behauptung, dort werde bestimmt nicht kontrolliert, aufgestellt wurde. In den meisten Fällen wurde dann schon vorher die Volkspolizei verständigt, die das Opfer in Empfang nahm; sehr häufig wirkte erheblicher Leichtsinn des Opfers dabei mit. Seit Errichtung der Berliner Mauer haben diese Listverschleppungen ganz erheblich abgenommen. Auch die Verschleppung wird zum Teil von überzeugten Kommunisten aus ideologischen Gründen begangen oder auch von Angehörigen der „Volkspolizei", denen diese Taten dienstlich befohlen sind. Hierzu gehören auch Fälle, in denen der Täter wirkliche oder vermeintliche Angehörige westlicher Geheimdienste den sowjetischen oder sowjetzonalen Dienststellen in die Hände spielt. Soweit solche politischen Motive nicht vorliegen, sind die Beweggründe der Täter sehr verschieden. Bei der Mehrzahl der Täter handelt es sich um Personen, die von den sowjetischen oder sowjetzonalen Machthabern unter Druck gesetzt werden, weil sie selbst oder in Haft befindliche Angehörige wirklich oder angeblich Delikte (kriminelle oder politische) begangen haben. Als Lohn für die Verschleppung wird dem Täter in diesen Fällen Straflosigkeit oder Entlassung seines Angehörigen zugesagt. Hier ist die Lage des Täters unter Umständen notstandsähnlich; Notstand im Sinne der §§62, 54 StGB liegt aber kaum je vor. Es fehlt in aller Regel entweder an der Unverschuldetheit der Notstandssituation oder an der Gegenwärtigkeit der Gefahr für Leib oder Leben für den Täter oder einen Angehörigen, oder aber es läßt sich die Gefahr auf andere Weise abwenden. Weiter finden sich unter den Tätern Spione (Staatsdelikte), die zum Teil für beide Seiten arbeiten. Bei dem Rest der Täter handelt es sich meist um eigensüchtige Motive; der Täter begeht die Tat, um die für die Verschleppung ausgesetzte Belohnung zu erhalten, um sich in den Besitz der Wohnung oder von Vermögensstücken des Opfers zu setzen, um das Opfer als unbequemen Zeugen auszuschalten oder weil es ihm sonst unbequem ist (in einem Fall hat der Täter einen zunächst in seine Wohnung aufgenommenen Sowjetzonenflüchtling verschleppt, um ihn wieder
loszuwerden), um sich der Frau oder dem Freund des Opfers ungestört nähern zu können (in einem Fall hat eine Frau auf diese Weise den Freund einer anderen Frau, mit der sie ein lesbisches Verhältnis unterhalten hatte, verschleppt); schließlich aus Haß- oder Rachegefühlen gegen das Opfer. c) Wegen der Art der Gefahr, der das Opfer durch die Tat ausgesetzt wird, hängt, wie bereits dargelegt, die p o l i t i s c h e V e r d ä c h t i g u n g eng mit der Verschleppung zusammen. Nach § 241a StGB wird bestraft, wer einen anderen der oben bei der Verschleppung bezeichneten Gefahr politischer Verfolgung durch eine Anzeige oder Verdächtigung oder dadurch aussetzt, daß er eine Mitteilung über ihn macht oder übermittelt. Da es sich bei der politischen Verdächtigung überwiegend um Taten handelt, die im sowjetisch besetzten Gebiet selbst begangen werden, ist die Ausgangslage der Täter vielfach eine andere als bei der Verschleppung. Bei der Eigenart des totalitären Systems kann die vom Gesetz umschriebene Gefahr auch durch wahre Strafanzeigen oder wahre Angaben gelegentlich von Zeugenvernehmungen in bezug auf Delikte herbeigeführt werden, die auch im Rechtsstaat bestraft werden (etwa Landesverrat oder Wirtschaftsdelikte), und zwar mit Rücksicht auf die Art der Reaktion in totalitären Staaten. Für Bewohner des sowjetisch besetzten Gebietes lassen sich aber solche Anzeigen oder Mitteilungen oft nicht oder kaum vermeiden. Dem trägt der Entwurf dadurch Rechnung, daß § 167 Abs. 1 Satz 2 gewisse Verdächtigungen bereits aus dem Tatbestand herausnimmt und daß § 167 Abs. 2 eine besondere Notstandsregelung für diese Delikte bringt. Nach §167 Abs. 1 Satz 2 Ε 1962 sind von der Bestrafung ausgenommen „wahre Angaben bei einer Vernehmung, es sei denn, daß der Täter diese selbst veranlaßt oder sich ihr freiwillig gestellt hat oder daß er in seiner Aussage über den Gegenstand der Vernehmung hinausgeht". „Erstattet der Täter eine wahre Anzeige oder macht er eine wahre Mitteilung, um eine Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, so handelt er ohne Schuld, wenn ihm nach den Umständen, insbesondere unter Berücksichtigung des Verhaltens des Betroffenen, nicht zugemutet werden kann, die Gefahr hinzunehmen" (§ 167 Abs. 2 Satz 1). Anders als bei der Verschleppung kommt bei der politischen Verdächtigung nicht nur echter Notstand verhältnismäßig häufig vor, sondern auch die Fälle, in denen sich der Täter in einer notstandsähnlichen Lage befunden hat, treten stärker in den Vordergrund. Daneben gibt es aber auch hier Taten, die aus ähnlichen Motiven begangen werden wie bei der Verschleppung. Verschleppung und politische Verdächtigung können auch zusammentreffen.
Freiheitsdelikte 2. Erpresserischer
Kindesraub
Er spielt, wie unter Β dargelegt, in Deutschland kaum eine Rolle; die Täter werden charakterisiert durch Gewinnsucht in Verbindung mit besonderer Skrupellosigkeit (-»- Erpressung). 3. Bedrohung Die Strafvorschrift gegen Bedrohung dient dem Schutz des Gefühls der Rechtssicherheit. Nach § 241 StGB wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen anderen mit der Begehung eines Verbrechens bedroht. §169 Ε 1962 gestaltet die Vorschrift wesentlich um. Nach § 169 wird wegen Bedrohung mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr, mit Strafhaft oder Geldstrafe bestraft, wer einen anderen mit einem Verbrechen oder mit einem Vergehen, das mit einer Gewalttätigkeit oder mit Gefahr für Leib oder Leben oder für Sachen von bedeutendem Wert verbunden ist, in einer Weise bedroht, die geeignet ist, ihn in Angst oder Schrecken zu versetzen. Meist will der Täter die angedrohte Straftat wirklich begehen; er hat nur nicht oder noch nicht den Mut dazu. Es kommt aber vor, daß der Täter nichts weiter als drohen will. Ihm kommt es dann nur darauf an, das Opfer zu erschrecken oder einzuschüchtern. Soll die Bedrohung das Opfer dazu veranlassen, etwas zu tun, zu dulden oder zu unterlassen, so wird sie zur Nötigung. 4. Nötigung Wegen Nötigung wird nach § 240 StGB mit Gefängnis oder Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft, wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Bei der Nötigung handelt es sich um einen sogenannten „offenen Tatbestand". Das in der Nötigung enthaltene Unrecht ist nicht derartig typisiert worden, daß es ein Indiz der Rechtswidrigkeit bildet, das nur durch besondere Rechtfertigungsgründe entkräftbar wäre. Das liegt in der Natur des Delikts, das sich einer solchen Typisierung entzieht. Deshalb bestimmt Absatz 2 des § 240 StGB, wann die Nötigung rechtswidrig ist. Sie ist es, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Auch § 170 Ε 1962 hat die Nötigung als offenen Tatbestand ausgestaltet. Er enthält in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Nr. 7 und Abs. 2 gegenüber dem geltenden Recht eine stärkere Vertatbestandlichung der Drohung und stellt der Gewalt gewaltähnliche Mittel gleich. Nötigungsmittel
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sind nach § 170 Gewalt oder „gefährliche Drohung". Eine solche ist nach § 1 1 Abs. 1 Nr. 7 : Drohung mit Gewalt, mit einem Verbrechen oder Vergehen, mit einer Ordnungswidrigkeit, deren Begehen für einen anderen ein empfindliches Übel ist, mit der Herbeiführung eines Strafverfahrens oder einer anderen behördlichen Maßnahme und mit der Offenbarung einer ehrenrührigen oder die soziale Geltung schmälernden Tatsache. Der Gewalt steht nach § 11 Abs. 2 gleich, wenn der Täter bei dem Opfer ohne dessen Willen Hypnose anwendet oder mit einem betäubenden, berauschenden oder anderen Mittel auf dessen Körper ohne dessen Willen einwirkt, um ihn bewußtlos oder sonst zum Widerstand körperlich unfähig zu machen. Mit der Gleichstellung will der Entwurf der Tendenz der bisherigen Rechtsprechung, den Gewaltbegriff im Interesse gerechter Ergebnisse immer mehr zu vergeistigen, entgegenkommen, ohne den Gewaltbegriff selbst auf einen Umfang auszudehnen, der mit dem Sprachgebrauch nicht mehr vereinbar erscheint. Die Strafe beträgt nach § 170 Ε 1962 Gefängnis von einem Monat bis zu drei Jahren, Strafhaft oder Geldstrafe, bei besonders schweren Fällen, für die der Entwurf (§ 171) Beispiele bringt (wenn der Täter mit einem Verbrechen droht, wenn er bei der Tat seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger gröblich mißbraucht, [wegen Nötigung im Amt -> auch Amtsdelikte], oder wenn die Tat zur Folge hat, daß der Genötigte oder derjenige, den das angebotene Übel treffen soll, sich tötet oder zu töten versucht), Gefängnis von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Schon, daß der Gesetzgeber sich veranlaßt gesehen hat, aus der Nötigung einen „offenen" Tatbestand zu machen, weist auf die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen hin, die kriminologisch keine gemeinsamen Ansatzpunkte bieten. Von besonderem Interesse sind aber zwei Fallgruppen, in denen beiden die Rechtsordnung das Ziel, das der Täter erstrebt, nicht mißbilligt oder ihm sogar einen Anspruch auf Erlangung dieses Zieles gibt, es aber trotzdem nicht dulden kann, daß der Täter das Ziel durch Gewalt oder gefährliche Drohung erreicht. Es handelt sich um die Nötigung von Arbeitswilligen während eines Streiks und die Nötigung zur Durchsetzung begründeter zivilrechtlicher Ansprüche. Über Nötigung zwecks Erlangung ungerechtfertigter Vermögensvorteile -> Erpressung. a) Bei dem S t r e i k werden Streikposten aufgestellt. Ihre Aufgabe ist es, an die Arbeitswilligen heranzutreten und zu versuchen, sie gütlich zum Anschluß an den Streik zu überreden. Streikposten pflegen sich am Eingang zur Fabrik aufzustellen, um die Arbeitswilligen abzufangen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Häufig werden Passierscheine für diejenigen ausgegeben,
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Freiheitsdelikte — Fürsorge
die mit Genehmigung der Gewerkschaft Notstandsarbeiten ausführen; diese Passierscheine werden dann von den Streikposten kontrolliert. Das alles ist zulässig. Es liegt aber Nötigung vor, sobald die Streikposten denjenigen, die keine Passierscheine haben und sich auch nicht zum Anschluß an den Streik überreden lassen, durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt den Eingang zur Fabrik verwehren (Heinitz S. 3 ff). Solche Täter handeln in Übereifer für die von ihnen vertretene Sache, oft sind sie sich des Unerlaubten ihres Handelns gar nicht bewußt. b) Bei der Nötigung zur Durchsetzung eines Rechts ist der Zweck rechtlich gebilligt, und auch das zur Durchsetzung des Rechts angedrohte Übel ist häufig mindestens wertneutral. Trotzdem kann es verwerflich sein, ein solches Übel zu einem solchen Zweck anzudrohen. Von den in § 11 Abs. 1 Nr. 7 Ε 1962 genannten Druckmitteln spielen in diesem Zusammenhang die Drohung mit der Herbeiführung einer Strafanzeige oder einer anderen behördlichen Maßnahme und die Drohung mit der Offenbarung einer ehrenrührigen Tatsache eine Rolle. Die Drohung mit einer Strafanzeige zur Durchsetzung eines Rechts ist in der Regel dann verwerflich, wenn keine innere Beziehung zwischen dem durchzusetzenden Recht und dem Sachverhalt besteht, auf den sich die Androhung des Übels bezieht (BGHSt 5, 254, 258). Der Betrogene (und zu seinen Gunsten ein Dritter) darf nicht nur eine Schadensersatzklage, sondern auch eine Strafanzeige wegen Betruges für den Fall androhen, daß der Betrüger den angerichteten Schaden nicht wiedergutmacht. Hingegen darf etwa ein Handwerker, dem der Lehrherr seiner Tochter Bezahlung einer Reparaturarbeit schuldet, dem Lehrherrn nicht androhen, ihn wegen Mißbrauchs seiner Tochter zur Unzucht anzuzeigen, wenn er die Forderung nicht fristgemäß bezahlt. Die Androhung, das Opfer durch ö f f e n t l i c h e Mitteilungen bloßzustellen, ist in der Regel auch dann rechtswidrig, wenn der Anspruch, dessen Erfüllung der Täter durch die Androhung erstrebt, auf dem Sachverhalt beruht, den öffentlich mitzuteilen er androht (BGHSt 6, 254, 261). Es liegt auf der Hand, daß derartigeNötigungen sehr häufig vorkommen, ohne zur Anzeige zu gelangen. Vielen dieser Täter kann man nur schwer das Verwerfliche ihrer Handlungsweise klarmachen. Diese Erfahrung machen häufig Rechtsanwälte, denen ihre Mandanten derartige Drohungen gegen den Prozeßgegner ansinnen. 5.
Hausfriedensbruch
Die Regelung des Hausfriedensbruchs weicht im Entwurf (§ 172 Ε 1962) wesentlich vom geltenden Recht ab, vor allem wird der Schutz des
Hausfriedens stärker von dem des Gemeinschaftsfriedens, dem die Abschriften gegen Landfriedensbruch dienen, abgegrenzt. Bestraft wird, und zwar nur auf Antrag, mit Gefängnis von einem Monat bis zu einem Jahr, mit Strafhaft oder mit Geldstrafe, wer in eine Wohnung, einen Dienst- oder Geschäftsraum, ein anderes befriedetes Besitztum, ein Schiff oder ein Verkehrsmittel gegen den Willen des Berechtigten eindringt oder sich auf die Aufforderung des Berechtigten daraus nicht entfernt. Schwerere Strafe (Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren oder Strafhaft), und zwar auch ohne Strafantrag, trifft den Täter, wenn die Tat dadurch begangen wird, daß bei einer Zusammenrottung mehrere mit vereinten Kräften eindringen. Täter des Hausfriedensbruchs sind häufig Personen, die ein Recht auf die Räume geltend machen, in die sie eindringen, ζ. B. der Vermieter, der dem Mieter gekündigt hat, ohne daß dieser auszieht; der getrennt lebende Ehegatte, der die Räume für sich in Anspruch nimmt oder sich Sachen daraus holen will. Soweit der Tatbestand dadurch erfüllt wird, daß der Täter, der zunächst mit dem Willen des Berechtigten in die Räume gekommen ist, sich auf dessen Aufforderung nicht entfernt, handelt es sich vielfach um Hausierer oder Vertreter, die dem Berechtigten eine Versicherung oder eine Zeitschrift aufschwatzen wollen, bei Diensträumen um Querulanten. Dringt der Täter ein, um zu stehlen, so begeht er nur Einbruchsbiebstahl; der Hausfriedensbruch steht zu diesem in Gesetzeseinheit. Entwurf eines Strafgesetzbuchs (E 1962). Bundestagsvorlage Bonn 1962. Materialien zur Strafrechtsreform. 2. Band: Rechtavergleichende Arbeiten. II. Besonderer Teil. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission. VI. Band: Besonderer Teil, Bonn 1958. W. N i e s e : Streik und Strafrecht 1954. T. Grygier: Oppression. London 1954. M e i ß i n g e r : Grundfragen des Streikrechts. Betrieb 1954 S. 783. P. H e i n t z : Einige theoretische Aufsätze zu einer Soziologie der kriminellen Angriffe gegen die Person. Sonderheft der MschrKrim. zum 4. Congrfes international de defense sociale 1956 in Milano. E . H e i n i t z : Nötigung, Aufruhr und Landfriedensbruch bei Streikausschreitungen. JR 1956, S. 3ff. ELSE KOFFKA
FÜßSORGE A. Geschichtlicher Bück blick Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war Armut, d. h. das Unvermögen, sich und seinen unterhaltsberechtigten Angehörigen den notwendigen Lebensbedarf zu schaffen, Ordnungswidrigkeit. Armenpflege war polizeiliche Gefahrenabwehr, um die aus einer Not und Hilfsbedürftigkeit entstehenden Unzuträglichkeiten für die Sicherheit und sittlichen Zustände der
Fürsorge Gesellschaft zu beseitigen. Sie war den Armenverbänden als öffentlich-rechtliche Verpflichtung auferlegt. Der Arme war lediglich Objekt ihres Tätigwerdens und konnte nur mit der Gewährung des Notdürftigen rechnen. Weil seine ordnungswidrige Existenz als mehr oder weniger selbst verschuldet erachtet wurde, verlor er darüber hinaus alle öffentlichen Bürgerrechte, ζ. B. das Wahlrecht. Erst die letzten Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende und insbesondere die Jahrzehnte unseres Jahrhunderts brachten die Abkehr von dieser abwertenden Einschränkung. Im Zeitalter der Industrialisierung und der „Gründerjahre" setzte sich die Erkenntnis durch, daß Armut, Krankheit und Gefährdung breitere Volksschichten befallen konnten, ohne das Recht zu geben, sie mit „Bettlern, Landstreichern und anderem liederlichen Gesindel" gleichzusetzen. Von daher ist das Werk der Sozialversicherung, ausgelöst durch die kaiserliche Botschaft vom 1 7 . 1 1 . 1 8 8 1 , zu verstehen, die Milderung der strengen Grundsätze der Armenfürsorge durch Verfeinerung ihrer Handhabung im Sinne einer aufbauenden, auf dauernde Beseitigung der Hilfsbedürftigkeit gerichteten Fürsorge oder beginnend mit der Zeit des 1. Weltkrieges ζ. B. die Bemühungen um die Opfer des Krieges (VO. über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge vom 8. 2. 1919 und Reichsversorgungsgesetz vom 1 2 . 5 . 1 9 2 0 ) , die Arbeitslosen (AVAVG vom 16. 7.1927) und die Opfer der Geldentwertung (Klein- und Sozialrentner). Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg und im Zeichen einer gewandelten verfassungsrechtlichen Ordnung wurde die Bahn frei für entscheidende sozialreformerische Maßnahmen: Zum Schutze der Jugend ergingen das Jugendgerichtsgesetz vom 16. 2 . 1 9 2 3 (RGBl. S. 135), das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt vom 9 . 7 . 1 9 2 2 (RGBl. I, 633); für die Fürsorge wurde die Verordnung über die Fürsorgepflicht (RFV) vom 13. 2 . 1 9 2 4 (RGBl. I, 100) mit den Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge (RGr.) vom 4 . 1 2 . 1 9 2 4 (RGBl. I, 765) erlassen. Die R F V brachte aber, ungeachtet ihrer fortschrittlichen Gesamtkonzeption, nicht den Rechtsanspruch auf Fürsorge, sondern beließ es bei dem Reflexrecht des Hilfsbedürftigen gegenüber der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung der Fürsorgeverbände zum Tätigwerden. Die Bejahung des Rechtsanspruchs ist unserer Zeit und ihren Verfassungsprinzipien vorbehalten geblieben. Nachdem Verwaltungsgerichte der Länder vorausgegangen waren, hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmt gewordenen Entscheidung vom 24. 6.1954 ( N J W 1954, 1541) deren Urteilsfindung bestätigt, allerdings mit anderer Begründung. Es gründet seine Bejahung des subjektiv-öffentlichen Rechts nicht so sehr auf
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einzelne Verfahrens- oder Verfassungsvorschriften, sondern stellt in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht ab auf das neue Bild vom Menschen und auf seine Beziehungen zum Staat und der Gesellschaft, auf ein Menschenbild, das unserer Verfassung zugrunde liegt und sich in den verschiedensten Einzelbestimmungen widerspiegelt, ohne daß man deswegen eine dieser Einzelbestimmungen als die entscheidende Rechtsgrundlage zu verwenden braucht. Die R F V ist in der Folgezeit wiederholt geändert worden, zuletzt insbesondere durch die 3. VO. zur Vereinfachung des Fürsorgerechts vom 11. 5 . 1 9 4 3 (RGBl. I, 301), die 4. VO. zur Vereinfachung des Fürsorgerechts vom 9 . 1 1 . 1 9 4 4 (RGBl. I, 323), das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 2 3 . 7 . 1 9 5 3 (RGBl. I, 700), das Gesetz über die Änderung und Ergänzung fürsorgerechtlicher Bestimmungen (FürsRÄndGes) vom 20. 8 . 1 9 5 3 (RGBl. I, 967) und durch das Körperbehindertengesetz vom 27. 2.1957 (RGBl. I, 147). Ebenso sind die oben zitierten RGr. in der Fassung vom 1 . 8 . 1 9 3 1 (RGBl. I, 441) zuletzt geändert worden durch das FürRÄndGes., das Gesetz zur Änderung des Kindergeldgesetzes vom 1 3 . 1 2 . 1 9 5 5 (BGBl. I, 841) und durch das Gesetz zur Änderung der RGr. vom 4. 7.1957 (BGBl. I, 693). Daneben sei schon hier neben dem genannten Körperbehindertengesetz verwiesen auf die VO. über den Ersatz von Fürsorgekosten vom 3 0 . 1 . 1 9 5 1 (BGBl. 1,154), die VO. zur Durchführung des § 8 Abs. 1 Buchstabe g der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 12. 4.1954 (BGBl. I, 94), die VO. über die Hilfe zur Erwerbsbefähigung und Berufsausbildung in der öffentlichen Fürsorge vom 20. 12. 1956 (BGBl. I, 1009), das bereits zitierte Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mit der 1. DVO vom 2 8 . 1 2 . 1 9 5 4 (BGBl. I, 523) und der 2. DVO vom 5. 7.1955 (BGBl. I, 402). Weiterhin gehört hierher das Gesetz über die Tuberkulosehilfe (THG) vom 23. 7.1959 (BGBl. I, 513), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften vom 25. 4 . 1 9 6 1 (BGBl. I, 65), obwohl es kraft ausausdrücklicher Bestimmung (§ 33) keine Leistungen im Sinne der R F V gewährt, i. V. mit der VO zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten vom 1 . 1 2 . 1 9 3 8 (RGBl. I, 1721) — ab 1 . 1 . 1 9 6 2 Bundesseuchengesetz vom 18. 7.1961 (BGBl. I, S. 1012) — und mit dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen vom 26. 6 . 1 9 5 6 (BGBl. I, 599). Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß an die Stelle des an sich in der R F V geregelten Fürsorgelastenausgleichs, der die Rechtsbeziehungen der Fürsorgeverbände untereinander regelt, ein öffentlich-rechtlicher Vertrag praktisch aller Fürsorgeverbände der B R einschließlich West-Berlins, die sogen. Fürsorge-
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Fürsorge
rechtsvereinbarung (FRV) i. d. Fassung vom 3. 6.1949 getreten ist. Sie regelte nicht nur den Kostenersatz zwischen Fürsorgeverbänden, sondern sieht auch eine Schiedsgerichtsbarkeit zur Regelung von Streitigkeiten zwischen Fürsorgeverbänden (heute: Träger der Sozialhilfe) vor. Die finanziell gesehen sehr wichtige Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise der Bund unter dem Gesichtspunkt der Kriegsfolgenhilfe Finanzhilfe leistet, braucht nicht besonders behandelt zu werden, da zum Verständnis der Aufgabenstellung nicht unbedingt erforderlich. B. Das Bundessozialhillegesetz (BSHG) vom ' 30. 6.1961 (BGBl. I, 81511.) Der 2. Deutsche Bundestag hatte im Januar 1957 der Bundesregierung aufgetragen, ihm eine Vorlage über die Neuregelung des Rechts der öffentlichen Fürsorge zuzuleiten. Dementsprechend ist dem 3. Deutschen Bundestag im April 1960 der Entwurf eines Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) — Drucksache Nr. 1799 — zugegangen, der vom Bundestag in der verkündeten Form angenommen ist und am 26. April 1961 die Zustimmung des Bundesrates gefunden hat. Das BSHG ist gem. § 153 am ersten Tage des auf die Verkündung folgenden elften Kalendermonats, d. i. der 1. 6.1962, in Kraft getreten. Hinsichtlich der Aufgabenerfüllung unterscheidet es, wie die FRV, 2 Träger, den örtlichen Träger der Sozialhilfe, d. s. die kreisfreien Städte und die Landkreise, die das Gesetz als Selbstverwaltungsangelegenheit durchführen, und den überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der vom Land bestimmt wird. (Die Ausführungsgesetze der Länder zum BSHG haben darüber Bestimmung getroffen. Die überörtlichen Träger sind, wie nach altem Recht, entweder staatliche Behörden — Landessozialämter — oder kommunale Körperschaften — Landschaftsverbände, Landeswohlfahrtsverbände usw. — unterschiedlicher Organisationsform). Bei beiden Trägern können die Länder bestimmen, daß und inwieweit die Landkreise bzw. überörtlichen Träger nach unten delegieren und dabei Weisungen erteilen können. Widerspruchsbescheide nach der VerwGerO sind dabei vom gesetzlichen Aufgabenträger zu erlassen (§ 10 i. V. mit § 96). Entsprechend dem Gewicht, das, ungeachtet der geringeren Zahl der sie angehenden Personen, die Fürsorge und nunmehr die „Sozialhilfe" neben Versicherung und Versorgung beanspruchen darf, sind alle Sozialhilfen, also auch die Tbc-Hilfe und die Fürsorge für Körperbehinderte, in einem Gesetz zusammengefaßt, um, wie die Begründung zum Gesetz hervorhebt, von einer einheitlichen Grundkonzeption ausgehen zu können.
Das Gesetz ist evolutionär, d. h., es bildet so weit wie möglich auf den bewährten Grundlagen des Fürsorgerechts fort, geht aber überall dort, wo notwendig, darüber hinaus, um eine den heutigen sozialen Anschauungen entsprechende Sozialhilfe zu entwickeln. Seine beherrschenden Grundsätze sind folgende: 1. Die uns umgebende verfassungsrechtliche Wirklichkeit stellt die Neuordnung unter das Gebot, daß die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechtsstaat ist. Ausgehend von den Grundrechten auf Leben und auf Achtung der Würde des Menschen bezeichnet daher § 1 Abs. 2 als die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfe soll ihn soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben (Hilfe zur Selbsthilfe); hierbei muß er nach seinen Kräften mitwirken. 2. Der von den Verwaltungsgerichten begründete Rechtsanspruch auf die Pflichtleistungen der Fürsorge wird bekräftigt. Er kann nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden. Über Form und Maß der Sozialhilfe ist nach pflichtmäßigem Ermessen zu entscheiden, soweit im Einzelfall das Ermessen nicht ausgeschlossen ist (§ 4). 3. Nicht minder wird bestätigt der Grundsatz des sogen. Nachranges (Subsidiarität), d. h., die Allgemeinheit tritt mit ihren Leistungen so lange nicht ein, als der Hilfesuchende selbst oder andere Personen oder Stellen die Hilfe beschaffen können. Neu ist, daß auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen anderer Stellen, auf die jedoch kein Rechtsanspruch besteht, nicht deshalb versagt werden dürfen, weil das BSHG entsprechende Leistungen vorsieht (§ 2). 4. Desgleichen wird an dem Grundsatz der Individualisierung nicht gerüttelt, d. h. Art, Form und Maß der Hilfe richten sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Person des Empfängers, nach der Art seines Bedarfs und nach den örtlichen Verhältnissen. Neu ist das Wahlrecht, das dem Hilfsempfänger hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zustehen soll, soweit seine Wünsche angemessen sind und keine unvertretbaren Mehrkosten entstehen, und schließlich, daß er auf seinen Wunsch in einer Einrichtung untergebracht werden soll, in der er durch Geistliche seines Bekenntnisses betreut werden kann (§3). 6. Die Sozialhilfe bedarf keines Antrages, sie setzt ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen der Notstand bekannt wird (§ 5). 6. Das Gesetz hat aus der alten Kannvorschrift der vorbeugenden Hilfe eine Sollvorschrift gemacht und aus der Tbk.-Hilfe den Begriff der nachgehenden Hilfe ebenfalls als Sollvorschrift übernommen, um sowohl dem Hilfesuchenden
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Fürsorge selbst zu dienen als auch um die wirtschaftliche Verwendung öffentlicher Mittel sicherzustellen
(§6).
7. Das Gesetz wünscht schließlich, daß bei der Gewährung der Sozialhilfe die besonderen Verhältnisse in der Familie des Hilfesuchenden berücksichtigt werden, um ihre Kräfte zur Selbsthilfe anzuregen und den Familienzusammenhang zu festigen (§ 7). 8. Das Gesetz sieht als Formen der Sozialhilfe abweichend von § 10 RGr. in dieser Reihenfolge vor: Persönliche Hilfe, Geldleistung oder Sachleistung. Damit soll der vielfach wichtiger und bedeutsamer als Geld- oder Sachleistung darzubietende persönliche Ansatz gegenüber dem Hilfesuchenden zum Ausdruck kommen, der besonders in seiner Beratung in Fragen der Sozialhilfe selbst und in sonstigen sozialen Angelegenheiten bestehen kann, soweit diese nicht von anderen Stellen oder Personen wahrgenommen und auch nicht von den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege wahrgenommen wird (§ 8). Gerade im Hinblick auf den gefährdeten Menschen leuchtet ohne weiteres ein, welche große Bedeutung der persönlichen Hilfe zukommt. 9. Ob der erneute, parlamentarisch heftig umkämpfte Versuch, in § 10 und § 93 das Verhältnis zur freien Wohlfahrtspflege zu normieren, gelungen ist und der Verfassungsbeschwerde der Stadt Dortmund u. a. (vgl. ND 1962 S. 120 und 1963 S. 118) bzw. dem Antrag des Landes Hessen u. a. auf Feststellung der Nichtigkeit von Vorschriften des B S H G (vgl. ND 1962 S. 325) entgeht, mag dahingestellt bleiben. Das Gesetz läßt zunächst die Stellung der Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sowie der Verbände der freien Wohlfahrtspflege als Träger eigener sozialer Aufgaben und ihre Tätigkeit zur Erfüllung dieser Aufgaben unberührt. Die Träger der Sozialhilfe sollen mit ihnen bei der Durchführung des Gesetzes zusammenarbeiten und dabei ihre Selbständigkeit in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben achten. Die Zusammenarbeit soll auf wirksame Ergänzung zum Wohle des Hilfesuchenden gerichtet sein. Wird die Hilfe im Einzelfalle durch die freie Wohlfahrtspflege gewährt, sollen die Träger der Sozialhilfe von eigenen Maßnahmen absehen; dies gilt nicht für Geldleistungen. Die Träger der Sozialhilfe können allgemein an der Durchführung ihrer Aufgaben die Verbände der freien Wohlfahrtspflege beteiligen oder ihnen die Durchführung solcher Aufgaben übertragen, wenn sie damit einverstanden sind. Dem Hilfesuchenden gegenüber bleiben sie allerdings verantwortlich (§ 10). Nach § 93 Abs. 1 S. 2 sollen die Träger der Sozialhilfe eigene Einrichtungen nicht neu schaffen, soweit geeignete Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können.
10. Das Gesetz sieht grundsätzlich von einer Verpflichtung zum Kostenersatz ab, um der Sozialhilfe endgültig den diskriminierenden Charakter zu nehmen. Das entspricht dem Rechtsanspruch auf die Pflichtleistungen der Sozialhilfe und der Überlegung, daß auch andere Sozialleistungen ohne Ersatzpflicht gewährt werden. Eine Ersatzpflicht besteht nur noch dann, wenn jemand nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialhilfe an sich selbst oder seinen unterhaltsberechtigten Angehörigen durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat oder wenn bei der Hilfe zum Lebensunterhalt der Empfänger der Hilfe und sein Ehegatte später zu erheblichem Einkommen oder Vermögen gelangen ( § 9 2 i. V. mit § 148 — Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge — und § 149 — Evakuierte, die noch weiter privilegiert sind). Das Gesetz führt in § 1 Abs. 1 als Arten der Sozialhilfe die Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen auf. Dadurch soll zum Ausdruck gebracht werden, daß er, so wichtig im Einzelfall auch die Gewährung des notwendigen Lebensunterhalts ist und so sehr auch die Hilfen in besonderen Lebenslagen darauf aufbauen, diese für sehr viel wichtiger hält und sich deshalb bemüht hat, sie über das geltende Recht hinaus so umfassend wie möglich zu normieren, ohne der Gefahr zu erliegen, jeden nur denkbaren Tatbestand besonderer Lebenslage zu erfassen. 1. Hilfe zum Lebensunterhalt Aus dem Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt sei im Hinblick auf den hier besonders interessierenden Personenkreis nur folgendes hervorgehoben: Als Grundsatz gilt, daß Hilfe zum Lebensunterhalt nur dem zu gewähren ist, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen beschaffen kann. Bei nicht getrennt lebenden Ehegatten sind beider Einkommen und Vermögen zu berücksichtigen. Ebenso ist bei hilfsbedürftigen minderjährigen unverheirateten Kindern, die im Haushalt ihrer Eltern oder eines Elternteiles leben, das Einkommen und Vermögen der Eltern oder eines Elternteils zu berücksichtigen (§ 11 Abs. 1). Bei an sich nicht hilfsbedürftigen Menschen, die einzelne für ihren Lebensunterhalt erforderliche Tätigkeiten nicht verrichten können, kann Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt werden mit der Möglichkeit, von ihnen einen angemessenen Kostenbeitrag zu verlangen (§ 11 Abs. 2). Hier handelt es sich, wie die Begründung zur Regierungsvorlage hervorhebt, um persönliche Hilfe im Rahmen des Lebensunterhalts, ζ. B . bei Personen, die nicht mehr
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Fürsorge
selbst einkaufen, ihre Mahlzeiten nicht mehr zubereiten oder die erforderliche Körperflege nicht mehr selbst betreiben können. Zum notwendigen Lebensunterhalt, der außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen durch laufende Leistungen (sogen. Regelsätze, § 22) oder einmalig gewährt wird (§ 21 Abs. 1), gehören besonders Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperflege, Hausrat, Heizung sowie Bedürfnisse des täglichen Lebens und schließlich in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt (Besuchsreisen zu Angehörigen) und eine Teilnahme am kulturellen Leben (Zeitung, Kino, Theater usw.). Bei Kindern und Jugendlichen ist der besondere, vor allem der durch das Wachstum bedingte Bedarf zu berücksichtigen (§ 12). Nach Lage des Einzelfalles können die Regelsätze über- und unterschritten werden. Inhalt und Aufbau der Regelsätze sowie ihr Verhältnis zum Arbeitseinkommen werden durch Rechtsverordnung bestimmt, die der BMI im Einvernehmen mit dem BAM und BFM mit Zustimmung des Bundesrates erläßt. Das ist geschehen durch die V. 0. zur Durchführung des §22 BSHG (Regelsatzverordnung) vom 20.7. 1962 (BGBl. I, S. 315). Der Höhe nach werden die Regelsätze durch die zuständigen Landesbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenshaltungskosten und örtlicher Unterschiede festgesetzt. Ein Mehrbedarf von 20% des maßgebenden Regelsatzes ist bei Personen über 65 Jahren, bei Personen unter 65 Jahren, die erwerbsunfähig i. S. der gesetzlichen Rentenversicherung sind, und bei werdenden Müttern anzuerkennen, soweit nicht im Einzelfall ein höherer Bedarf besteht (§ 23 Abs. 1). Dasselbe gilt für Personen, die mit 2 oder 3 Kindern unter 16 Jahren zusammenleben und allein für deren Erziehung und Pflege sorgen; bei 4 oder mehr Kindern erhöht sich der Mehrbedarf auf 40 v. H. des maßgebenden Regelsatzes (§ 23 Abs. 2). Ein Mehrbedarf in angemessener Höhe ist für Erwerbstätige, vor allem solche anzuerkennen, die trotz beschränktem Leistungsvermögen einem Erwerb nachgehen (§ 23 Abs. 3). Die Mehrbedarfszuschläge werden ggf. nebeneinander gewährt (§ 23 Abs. 4). Bei erwerbstätigen Blinden ist ein Mehrbedarf in Höhe des Erwerbseinkommens anzuerkennen, wenn es 50,— DM nicht übersteigt; übersteigt es diesen Betrag, beträgt der Mehrbedarf 50,—DM zuzüglich 25 v. H. des 50,— DM übersteigenden Erwerbseinkommens (§ 24 Abs. 1). Zum Lebensunterhalt gehören ferner die erforderlichen Kosten einer Bestattung (§ 15). Nach ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung — bisher war es eine Frage verständnisvoller Praxis — können nunmehr auch die erforderlichen Kosten übernommen werden, um die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine angemessene Alterssicherung
oder auf ein angemessenes Sterbegeld zu erfüllen (§ 14). Ähnliches gilt für nach § 315 a RVO krankenversicherungspflichtige Rentenantragsteller (§ 13). Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung gehört auch ein angemessenes Taschengeld dazu, um die durch die Anstaltsversorgung nicht gedeckten kleinen Bedürfnisse des täglichen Lebens bestreiten zu können, es sei denn, daß seine bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für den Hilfeempfänger nicht möglich ist (§ 21 Abs. 3). Bei Blinden in Anstaltspflege ist es auf das Doppelte zu bemessen (§ 24 Abs. 2). Der Bundestag hat sich den immer wieder vorgetragenen Wünschen von Vertretern der Fürsorge für Nichtseßhafte und Gefährdete nicht verschlossen und bestimmt, daß bei der Gestaltung der Hilfe zum Lebensunterhalt für einen Nichtseßhaften anzustreben ist, ihn auf Dauer seßhaft werden zu lassen (§ 17). Damit sind nunmehr alle Voraussetzungen für planmäßiges Handeln aller an der Fürsorge für Nichtseßhafte und Gefährdete beteiligten Stellen geschaffen worden. Erfreulich ist die Konsequenz, den Rechten, dem Rechtsanspruch des Hilfesuchenden und Hilfeempfängers Pflichten entsprechen zu lassen. Der Hilfesuchende hat bei der Feststellung seines Bedarfs mitzuwirken, soweit ihm dies zuzumuten ist. Der Hilfeempfänger hat Änderungen seiner Verhältnisse, besonders hinsichtlich seiner Einkommens· und Vermögensverhältnisse, unverzüglich dem Träger der Sozialhilfe mitzuteilen (§ 115). Wie nach bisherigem Recht muß jeder Hilfesuchende seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einsetzen, wenn er nicht durch Verweigerung zumutbarer Arbeit seines Anspruchs verlustig gehen will, wie bereits nach altem Recht durch das Grundsatzurteil des Β. V. G. vom 23.11.1960 entschieden. Der Träger der Sozialhilfe hat darauf hinzuwirken, daß der Hilfesuchende sich um solche Arbeit bemüht und Gelegenheit zur Arbeit erhält. Dies hat insbesondere im Zusammenwirken mit den Dienststellen der Bundesanstalt zu geschehen (§ 18). Dem, der keine Arbeit finden kann, soll nach Möglichkeit Arbeitsgelegenheit geschaffen werden. Die angebotenen Arbeitsgelegenheiten brauchen nicht gemeinnützige und zusätzliche Arbeit zu bedeuten. Ist sie es jedoch, dann kann der Träger der Sozialhilfe entweder Arbeitsentgelt oder Hilfe zum Lebensunterhalt und daneben eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen gewähren (§ 19). Wenn es darum geht, einen Hilfesuchenden wieder an Arbeit zu gewöhnen oder seine Bereitschaft zur Arbeit zu prüfen, dann soll ihm dazu eine angemessene Tätigkeit angeboten werden. In diesem Falle erhält der Hilfesuchende nur die Regelsatz-
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Fürsorge Unterstützung zuzüglich einer angemessenen Entschädigung für Mehraufwendungen (§ 20). Dieser Einsatz der Arbeitskraft wird nur bei der Hilfe zum Lebensunterhalt vorausgesetzt. Bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen ist die Arbeit, das arbeits- oder beschäftigungstherapeutische Bemühen Bestandteil der Hilfe unter dem Aspekt der Befähigung, der Wiedereingliederung oder der Wiederbefähigung. Die Weigerung, zumutbare Arbeit zu leisten, zieht den Verlust des Anspruchs auf Hilfe nach sich. Wer trotz Belehrung sein unwirtschaftliches Verhalten fortsetzt, muß sich die Einschränkung der Hilfe bis auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche oder auf Hilfe in einer Anstalt oder einem Heim gefallen lassen. Das Gleiche (ohne Anstaltsunterbringung) gilt für den, der sich ohne berechtigten Grund weigert, sich einer beruflichen Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung zu unterziehen oder der seine Arbeitsstelle ohne wichtigen oder ohne berechtigten Grund aufgegeben hat. Nach Möglichkeit ist dabei eine Schädigung von unterhaltsberechtigten Angehörigen oder anderer mit ihm in Haushaltsgemeinschaft lebender Hilfeempfänger zu vermeiden (§ 25). Die Unterbringung in einer Arbeitseinrichtung ist beibehalten worden, obwohl eine derartige Zwangsmaßnahme als eine nicht unbeträchtliche Belastung der Sozialhilfe angesehen werden kann und der Gedanke naheliegen würde, Sanktionen, die über das oben gekennzeichnete Maß hinausgehen, dem Strafgesetzbuch zuzuweisen, das schon jetzt entsprechende Tatbestände kennt (vgl. §§ 170b und d, 361 Nr. 3, 4, 5, 7 und 8 StGB). Daß § 20 R F V vielfach allein durch sein Vorhandensein gewirkt hat, um Wohlverhalten zu erreichen, ist kein überzeugendes Argument, ebensowenig wie der Hinweis, daß der Richter nach den Vorschriften des Freiheitsentziehungsgesetzes von 1956 Herr des Verfahrens ist und demgemäß alle rechtsstaatlichen Garantien gegen mißbräuchliche Handhabung bietet. Der nunmehr vom Bundestag beschlossene § 26 stellt die Unterbringung in einer Arbeitseinrichtung unter folgende Bedingungen: „Weigert sich jemand trotz wiederholter Aufforderung beharrlich, zumutbare Arbeit zu leisten und ist es deshalb notwendig, ihm oder einem Unterhaltsberechtigten lfd. Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren, so kann seine Unterbringung zur Arbeitsleistung in einer von der zuständigen Landesbehörde als geeignet anerkannten abgeschlossenen Anstalt nach den Bestimmungen des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen . . . angeordnet werden. E r ist vor der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens auf die Möglichkeit der gerichtlichen Anordnung schriftlich hinzuweisen. . . . " . Bei Personen unter 18 Jahren oder, 16
HdK, 2. Aufl., Bd. I
wenn die Anstaltsunterbringung eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde, kommt eine Unterbringung nicht in Betracht. Während des Anstaltsaufenthaltes ist die Bereitschaft zu stärken, den Lebensunterhalt für sich und die Unterhaltsberechtigten durch Arbeit zu beschaffen. Ggf. soll die Ausbildung zu einem angemessenen Beruf oder zu einer sonstigen angemessenen Tätigkeit angestrebt werden. Wenn schließlich noch gesagt wird, daß die Vollstreckung einer — doch wohl einschlägigen — Freiheitsstrafe oder einer mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregel der Sicherung und Besserung (vornehmlich wohl die Arbeitshausunterbringung) der Unterbringung in einer Arbeitseinrichtung vorgehen, erhebt sich die Frage, ob damit der Grundsatz des ne bis in idem genügende Sicherung erfährt. Dies erscheint als nicht zweifelsfrei. Auf jeden Fall werden es sich die zuständigen Träger der Sozialhilfe angelegen sein lassen müssen, den zuständigen Landesbehörden nur solche Einrichtungen nachzuweisen, die nach Einrichtung und personeller Besetzung in der Lage sind, die vom Gesetzgeber vorausgesetzten Leistungen zu erbringen. Dies wird nicht ganz leicht sein. Es ist denkbar, daß neben solchen Anstalten, die echten Freiheitsentzug garantieren, mit Hilfe der freien Wohlfahrtspflege auch solche zur Verfügung stehen, die bei mögb'chst geringer Beschränkung der persönlichen Freiheit dem Untergebrachten ein Höchstmaß von Gelegenheit bieten, zu einer verantwortungsbewußten Lebensführung zurückzufinden. 2. Hilfe in besonderen
Lebenslagen
§ 27 faßt alle Arten der Sozialhilfe zum Lebensunterhalt zusammen und enthält die eigentlichen Neuerungen des B S H G . Die Hilfen in besonderen Lebenslagen sind 1. Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage (§ 30), 2. Ausbildungsbeihilfe (§§ 31 ff.), 3. vorbeugende Gesundheitshilfe (§ 36), 4. Krankenhilfe (§ 37), 5. Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen (§38), 6. Eingliederungshilfe für Behinderte, d. s. Körperbehinderte oder von einer Körperbehinderung bedrohte Personen, Blinde, von Blindheit bedrohte oder nicht nur vorübergehend hochgradig sehschwache Personen, hörgeschädigte Personen, sprachgeschädigte Personen, Personen, deren geistige Kräfte schwach entwickelt sind. Anderen Personen mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung kann Eingliederungshilfe gewährt werden (§§ 39 ff. i. V. mit §§ 123 ff.), 7. Tuberkulosehilfe (§§ 48ff. i. V. mit §§ 127 ff.),
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Fürsorge
8. Blindenhilfe zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen (§ 67), 9. Hilfe zur Pflege (§§ 68ff.). 10. Hilfe zur Weiterführung des Haushalts (§70f.), 11. Hilfe f ü r G e f ä h r d e t e (§§72ff.), 12. Altenhilfe (§ 75). Für eine Übergangszeit vom 1. bis 30. 6.1962 ist § 6 Abs. 1 Buchstabe d RGr. („bei Minderjährigen Hilfe zur Erziehung zu körperlicher, geistiger und sittlicher Tüchtigkeit") in Kraft geblieben. Die hier genannte Hilfe galt so lange noch als Hilfe in besonderen Lebenslagen (§ 153 Abs. 4 i. V. mit Art. XII Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des RJWG vom 11. 8. 1961 — BGBl. I, S. 1193). Ab 1. 7.1962 gehört dieser Aufgabenbereich in das JWG vom 11. 8. 1961 (BGBl. I, S. 1206). In anderen besonderen Lebenslagen, die denkbar sind, kann Hilfe gewährt werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Wenn auch auf die Darstellung der einzelnen Hilfen, mit Ausnahme der Hilfe für Gefährdete, verzichtet werden muß, sind doch die wesentlichen Voraussetzungen hinsichtlich der Hilfen darzulegen. Hilfe wird gewährt, soweit dem Hilfesuchenden, seinem nicht getrennt lebenden Ehegatten und, wenn er minderjährig und unverheiratet ist, auch seinen Eltern die Aufbringung aus dem Einkommen und Vermögen nicht zuzumuten ist (§ 28). Zum Einkommen gehören alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert unter Abzug der auf das Einkommen entrichteten Steuern, der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung einschl. der Arbeitslosenversicherung, gesetzlich vorgeschriebener oder nach Grund und Höhe angemessener Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen und der sogen. Werbungskosten. Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates Näheres über die Berechnung des Arbeitseinkommens, besonders aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und aus selbständiger Arbeit durch Rechtsverordnung bestimmen (§ 76). Das ist geschehen durch die VO. zur Durchführung des § 76 BS HG vom 28.11.1962 (BGBl. I, S. 692). Zweckbestimmte Leistungen auf Grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften sind nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient (§77); Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege bleiben außer Betracht, es sei denn, daß sie die Lage des Empfängers so günstig beeinflussen, daß daneben Sozialhilfe ungerechtfertigt wäre. Ähnliches gilt für nicht auf rechtlicher oder sittlicher Pflicht beruhende Leistungen Dritter (§ 78). Während diese Bestimmungen das gesamte Gebiet der Sozialhilfe beherrschen, sind bei Hilfen in besonderen Lebenslagen besondere Einkommens-
grenzen vorgesehen. Dem Hilfesuchenden und seinem nicht getrennt lebenden Ehegatten ist die Aufbringung der Mittel nicht zuzumuten, wenn während der Dauer des Bedarfs ihr monatliches Einkommen zusammen eine Grenze nicht überschreitet, die gebildet wird aus einem Grundbetrag in Höhe des doppelten Regelsatzes für einen Haushaltsvorstand, den Kosten der Unterkunft und einem Familienzuschlag von 80,— DM für den nicht getrennt lebenden Ehegatten und für jede bisher überwiegend unterhaltene oder unterhaltsberechtigt werdende Person. Bei einem minderjährigen, unverheirateten Hilfesuchenden wird die Grenze für das Gesamteinkommen des Hilfesuchenden und seiner Eltern gebildet durch einen Grundbetrag in Höhe des doppelten Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes, die Kosten der Unterkunft und einen Familienzuschlag von 80,— DM für einen Elternteil, wenn die Eltern zusammenleben, sowie für den Hilfesuchenden und jede bisher überwiegend unterhaltene oder unterhaltsberechtigt werdende Person. Die Länder und, soweit nicht landwirtschaftliche Vorschriften entgegenstehen, auch die Träger der Sozialhilfe sind nicht gehindert, für bestimmte Arten der Hilfe in besonderen Lebenslagen einen höheren Grundbetrag und einen höheren Familienzuschlag zugrunde zu legen (§79 i. V. mit V. O. über die Änderung der Familienzuschläge vom 19. 2. 1964 — BGBl. I, 132.). In bestimmten Fällen erhöht sich der Familienzuschlag (§80) oder der Grundbetrag (§ 81 i. V. mit der VO. der Bundesregierung zur Durchführung des § 81 Abs. 1 Nr. 1 BSHG vom 20. 7.1962 — BGBl. I, S. 513). Das die maßgebende Einkommensgrenze übersteigende Einkommen ist in angemessenem Umfang in Anspruch zu nehmen, wobei individualisierend zu verfahren ist (§ 84 Abs. 1). Hinsichtlich des einzusetzenden Vermögens ist es im wesentlichen beim bisher schon geltenden Recht geblieben (§ 88 i. V. mit der VO. des BMI zur Durchführung des § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG vom 20. 7.1962 — BGBl. I, S. 514). Wie ersichtlich, ist des nichtseßhaften Menschen nicht besonders Erwähnung getan. Der Gesetzgeber hat es wohl mit Recht abgelehnt, die Nichtseßhaftigkeit als eine besondere Lebenslage zu normieren, weil, abgesehen von der Schwierigkeit, den nichtseßhaften Menschen begrifflich zutreffend zu erfassen, Nichtseßhaftigkeit, d. h. das Nichtvorhandensein einer örtlichen Bindung, zunächst und letztlich nur ein spezielles Tatbestandsmerkmal individueller Hilfebedürftigkeit ist, der mit einer u. a. auch darauf gerichteten Hilfe zu begegnen ist. In der Tat sind viele Nichtseßhafte nach Seßhaftmachung nur noch solche Hilfesuchende oder Hilfeempfänger, die der Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Hilfe in besonderen Lebenslagen bedürfen, wie sie sich entsprechend dem Einzelfall nach dem oben wieder-
Fürsorge gegebenen Katalog ergeben kann. Darüber, daß trotzdem hinreichende Garantien für eine planmäßige und intensive Nichtseßhaftenfürsorge gegeben sind, wird bei der Verteilung der Aufgaben auf die Träger der Sozialhilfe zu sprechen sein. Dafür ist aber mit der Normierung der Hilfe für Gefährdete als einer Hilfe in besonderer Lebenslage ein seit mehr als 40 Jahren geäußerter Wunsch in Erfüllung gegangen und einer wohlverstandenen fürsorgerischen Bewahrung der Weg geöffnet. Die R F V hatte die Fürsorge für Gefährdete weder hinsichtlich des Begriffs „Gefährdeter" noch hinsichtlich des materiellen Gehaltes der Hilfe besonders normiert. Trotzdem hatte die Fürsorge immer wieder mit Menschen aller möglichen Gefährdungserscheinungen und -grade zu tun. Sie leistete auch tatsächlich Hilfe für Gefährdete und stand in der Erfüllung ihrer Pflichten nicht nur unter den vom BS HG bestätigten Prinzipien jeden fürsorgerischen Handelns, sondern hatte auch die Möglichkeit, um ggf. sogar mit dem Mittel des Zwanges zu resozialisieren, um wieder Wohlverhalten unter Einsatz aller sozialpädagogischen und sozialhygienischen Mittel zu erreichen. Die öffentliche Fürsorge (nunmehr Sozialhilfe) wie die Strafrechtspflege kannten bzw. kennen den gefährdeten, den sozialschwierigen oder den geradezu sozialfeindlichen Menschen und haben sich wechselweise — sei es, daß die anfänglich sich bemühende Fürsorge (Sozialhilfe) ihn in den Bereich der Strafrechtspflege „entläßt", sei es, daß die Strafrechtspflege ihn an die Fürsorge (Sozialhilfe) „abgibt" — immer wieder mit ihm zu beschäftigen. Der Strafrichter hat Tatbestände abzuurteilen, deren Urheber eine Verhaltensweise an den Tag gelegt haben, mit der auch die Fürsorge (Sozialhilfe) fertig zu werden bemüht sein muß. Wenn der Strafrichter die Verletzung der Unterhaltspflicht (§ 170b StGB) und die Vernachlässigung eines Kindes ( § 1 7 0 d StGB) zu ahnden hat, dann steht vor ihm vielleicht der haltlose, arbeitsscheue, trunksüchtige oder unwirtschaftlich sich verhaltende Vater oder Erzeuger, die hwG-treibende Mutter, die „unordentlich" lebende Prostituierte (darunter die Autobahn-Pr. als neuer Typl), der Herumtreiber, kurzum ein Mensch, der für sich und seine Kinder immer erneut öffentliche Hilfe in Anspruch genommen hat und nimmt. Das gleiche gilt für die Tatbestände des § 3 6 1 Nr. 3—8 S t G B : Landstreichen, Betteln, Unzucht, Arbeitsverweigerung und Obdachlosigkeit, bei denen die dem Richter zusätzlich in die Hand gegebene Möglichkeit, als Maßregel der Sicherung und Besserung die Unterbringung in einem Arbeitshaus auszusprechen, um den Täter zur Arbeit anzuhalten und ihn an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu 16·
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gewöhnen ( § § 4 2 a Nr. 3, 42d, 42f — 1 StGB), vielfach nicht verschlägt. Hierher gehören auch die Verstöße gegen Maßnahmen zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten (§ 327 StGB), das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 2 3 . 7 . 1 9 5 3 (BGBl. I, 700) und ab I . 1 . 1 9 6 2 das Bundesseuchengesetz vom 18. 7. 1961. Auch vor dem Hintergrund dieser Tatbestände stehen Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes „hilfebedürftig" sind: Der aus verschiedensten Ursachen entwurzelte und zum Landstreicher und Bettler Gewordene, die Prostituierte, der Arbeitsscheue oder Arbeitsentwöhnte, der Obdachlose, der seinem Zustand trotz zur Verfügung stehender Hilfe nicht abzuhelfen bereit ist, der Kranke, der seuchenhygienische Anordnungen mißachtet und seine Mitmenschen gefährdet. An ihnen kann die Fürsorge (Sozialhilfe) nicht vorübergehen, weil auch selbstverschuldete Not hilfebedürftig macht und die Organe der öffentlichen Fürsorge (Sozialhilfe) — anders als die freie Wohlfahrtspflege, die es in der Hand hat, ob und wann sie helfen will; sie ist aber nicht zuletzt in der Hilfe für die Gefährdeten der unentbehrliche Partner und vielfach Initiator neuer Methoden I — von ihrer Pflicht zum Eintreten nicht entbindet. Als Inhalt der Hilfe hat der Gesetzgeber bestimmt, daß Personen, die das 20. Lebensjahr vollendet haben und die dadurch gefährdet sind, daß sie aus Mangel an innerer Festigkeit ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft nicht führen können, Hilfe gewährt werden soll (§ 72 Abs. 1 i. V. mit Art. X I I Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des R J W G vom I I . 8 . 1 9 6 1 — BGBl. I, S. 1139 —). Ein Rechtsanspruch ist demnach nicht ausgebildet, weil, wie die Begründung zur Regierungsvorlage zutreffend hervorhebt, dessen Geltendmachung selten in Betracht kommen wird und die Voraussetzungen für den Anspruch im einzelnen auch nicht genügend bestimmbar sind. Wichtig ist, daß die Hilfe in allen notwendigen Fällen überhaupt ermöglicht wird und die allgemeine Fassung der Bestimmung die erforderliche Abgrenzung zu der Hilfe für andere Personen vornimmt, die aus sonstigen Gründen einer Eingliederungshilfe anderer Art bedürfen. Aufgabe der Hilfe ist es, den Gefährdeten zu einem geordneten Leben hinzuführen. Hierbei kommt vor allem die Gewöhnung an regelmäßige Arbeit in Betracht. Sofern der Gefährdete nicht seßhaft ist, ist anzustreben, daß er auf Dauer seßhaft wird (§ 72 Abs. 2). Die Aufgabe lediglich in dieser allgemeinen Form anzusprechen, erscheint wohlbegründet. Gefährdung äußert sich, wie darzustellen versucht worden ist, so vielfältig, daß es als ausgeschlossen bezeichnet werden muß, alle nur denkbaren Tatbestände zu erfassen. Trotzdem dürfte die Rückgewinnung einer wie immer ge-
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Fürsorge
arteten Lebensordnung vermittels mannigfachen therapeutischen Bemühens, bei der die Arbeitsgewöhnung nicht entbehrt werden kann, und die Seßhaftmachung unsteter Gefährdeter die Aufgabe zureichend umreißen. Die Hilfe wird ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen gewährt (§ 72 Abs. 3), weil, wie die Begründung zur Regierungsvorlage zutreffend herausgestellt hat, diese Hilfe eine im wesentlichen persönliche Hilfe in Gestalt von Beratung und sozialpädagogischer Betreuung ist, der gegenüber die Geldleistung in den Hintergrund tritt. Einkommen und Vermögen des Hilfebedürftigen selbst und der bürgerlich-rechtlich Unterhaltspflichtigen schließen Gefährdung i. S. §68 Abs. 1 nicht aus (Beispiel: Die sexuell verwahrloste reiche Erbin). Vielfach kann der Gefährdung nur durch die Herausnahme des Gefährdeten aus seiner Verstrickung in Unordnung begegnet werden. Wenn andere Hilfen nicht ausreichen, soll ihm daher geraten werden, sich in die Obhut einer Anstalt, eines Heimes oder einer gleichartigen Einrichtung zu begeben (§ 73 Abs. 1). Man beachte, wie der Gesetzgeber den starren Anstaltsbegriff aufgelockert hat, um den Träger der Sozialhilfe anzuregen, sich um eine differenzierte Gestaltung der Hilfe schon von der reinen Unterbringung her zu bemühen. Daß die in der jeweils ausersehenen Einrichtung zu gewährende Obhut vielseitig sein muß und beträchtliches Fingerspitzengefühl erfordert, versteht sich nach der Aufgabenstellung von selbst. Sosehr nach den bisherigen Erfahrungen der Praxis zu hoffen ist, daß der freiwillige Eintritt in eine Einrichtung mit der im Einzelfall gebotenen Aufenthaltsdauer die Mehrzahl der Fälle ausmacht, kann nicht übersehen werden, daß es Menschen gibt, die zu schwach sind, um sich einordnen zu können. Hier taucht das Problem der zwangsfürsorgerischen Bewahrung auf, nicht als Maßnahme polizeilicher Gefahrenabwehr, sondern vielmehr als ein Stück mitmenschlicher Verantwortung zum Wohle eines Hilflosen. Gefährdetenhilfe als sozialpädagogische Maßnahme verträgt im extremen Falle nur solche Tatbestandsmerkmale und nur solche Verfahrensgrundsätze, die Kennzeichen des Rechtsstaates sind und bleiben. Freiheitsentzug und Aufenthalt in einer geeigneten Anstalt, in einem geeigneten Heim oder in einer geeigneten gleichartigen Einrichtung, die zudem von der zuständigen Landesbehörde als solche anerkannt sein müssen, kann vom Gericht nach den Verfahrensvorschriften des FEG vom 29.6.1956 nur dann angeordnet werden, wenn der Gefährdete besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist u n d verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt ist u n d die Hilfe nur stationär wirksam gewährt werden kann. Nur wenn der Richter von dem Vorliegen
dieser 3 Voraussetzungen durch erschöpfende Gutachten von Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern usw. überzeugt werden kann, wird er dem auf zwangsweise Unterbringung antragenden Träger der Sozialhilfe folgen können. Spätestens 6 Monate nach Rechtskraft seiner Anordnung hat der Richter von Amts wegen über die Fortdauer der Unterbringung zu entscheiden. Der Leiter der Anstalt usw. kann — bei Mitteilung an das Gericht — den Gefährdeten vorübergehend in einer geeigneten Familie unterbringen, wenn dies geboten ist, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Anstalt usw. noch vorliegen (§ 73 Abs. 2 und 3). Richter und Sozialarbeiter werden in den kommenden Jahren zu beweisen haben, daß auch die mit Freiheitsentzug verbundene bewahrende Fürsorge Wohltat und Hilfe ist. Voraussetzung ist jedoch, daß der oben erwähnte Antrag des Landes Hessen n. a. auf Feststellung der Nichtigkeit von Vorschriften des BSHG, soweit er sich gegen § 73 Abs. 2 und 3 BSHG richtet, der Abweisung durch das Bundesverfassungsgericht verfällt. Nach der vom Antragsteller gegebenen Begründung tastet die Zulassung einer Freiheitsentziehung, die weder dem Schutz der Allgemeinheit noch dem Schutz des Betroffenen vor sich selber dient, noch der Allgemeinheit eine wirtschaftliche Belastung erspart, das Grundrecht der persönlichen Freiheit in seinem Wesensgehalt an und verstößt damit gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 i. V. mit Art. 19 Abs. 2 GG. Zu den typischen und charakteristischen Merkmalen der überkommenen Normen, die das Recht auf Freiheit der Person schützen oder einen Eingriff in dieses Recht zulassen, gehöre es, daß die persönliche Freiheit nur im Interesse des Gemeinwohls — sei es zu dessen Schutz (Freiheitsstrafen, Unterbringung), sei es zu dessen Nutzen (Verteidigung, Arbeitspflicht) — oder zum Schutz des Betroffenen selber (Geisteskrankheit) eingeschränkt werden kann. Das Gemeinwohl spiele hier jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Weder die Abwehr einer drohenden Gefahr noch die Vermeidung wirtschaftlicher Belastungen für die Allgemeinheit seien Ziel des Freiheitsentzuges. Der Schutz des Gefährdeten vor sich selber könne nach anderen Vorschriften erreicht werden. Menschenfreundliches Interesse, daß alle Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft ein geordnetes Leben führen, reiche nicht aus. Eine Freiheitsentziehung aus solchem Grunde sei mit dem in einem freiheitlichen, demokratischen Staat überlieferten Maß staatlicher Eingriffe in die persönliche Freiheit nicht vereinbar, taste vielmehr den Wesensgehalt des Grundrechts an. Dessenungeachtet sei aber die Regelung des § 73 Abs. 2 und 3 auf jeden Fall mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 10, 103, 117) unvereinbar und deshalb nichtig.
Fürsorge Soweit zu übersehen, haben die Träger der Sozialhilfe angesichts des schwebenden Verfahrens auf die Einbringung von Anträgen gem. § 73 Abs. 2 u. 3 verzichtet und vertrauen darauf, daß Gefährdete sich ggf. freiwillig in die Obhut einer Anstalt usw. begeben. Wird die Hilfe in einer Anstalt usw. oder durch Unterbringung in einer Familie gewährt, hat der Gefährdete als Ausnahme von dem Grundsatz des § 72 Abs. 3 aus seinem Einkommen und Vermögen zu den Kosten des Lebensunterhalts in angemessenem Umfang beizutragen (§ 74). Dem oben wiedergegebenen Antrag des Landes Hessen ist insoweit zuzustimmen, als es tatsächlich möglich ist, gefährdeten Menschen nach anderen Vorschriften vor sich selber zu helfen. Es handelt sich da vor allem um den seuchenhygienische Anordnungen mißachtenden, seine Mitmenschen gefährdenden und sich nicht einordnenden Tuberkulose- und Geschlechtskranken. Der sogen, asoziale Offentuberkulöse, der beharrlich und gegen jede Vernunft immer wieder ärztliche Vorschriften mißachtet und Heilverfahren entweder nicht antritt oder vorzeitig abbricht oder aus Heilverfahren am laufenden Bande wegen Disziplinlosigkeit entlassen werden muß, in seiner sonstigen persönlichen und wirtschaftlichen Lebensführung liederlich ist, ist der Schrecken aller an der Bekämpfung der Tuberkulose beteiligten Stellen. Nach § 64 BSHG können die Hilfe zu seinem Lebensunterhalt bis auf das Unerläßliche eingeschränkt und die Sonderleistungen ganz oder teilweise versagt werden, solange er trotz schriftlichen Hinweises auf diese Folgen sein Verhalten fortsetzt. Wenn dieses Mittel nicht verschlägt, bleibt gegenüber dem „asozialen Offentuberkulösen", den man als haltlosen Trinker, disziplinlose Prostituierte usw. erlebt, nur noch der Ausweg der Internierung in einer abgeschlossenen Krankenanstalt oder einem abgeschlossenen Teil einer Krankenanstalt, die der Amtsrichter wiederum nach den Verfahrensvorschriften des o. a. Freiheitsentziehungsgesetzes i. V. mit dem Bundesseuchengesetz vom 18. 7.1961 anordnet. Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. 7.1953 (BGBl. I, 700), das an die Stelle alten Reichsrechts und in der Nachkriegszeit ergangener Ländergesetze und -Verordnungen getreten ist, ist in erster Linie ein Seuchenbekämpfungsgesetz und kennt demgemäß ebenfalls das äußerste Mittel der Zwangsinternierung in einem Krankenhaus, ausgesprochen durch den Amtsrichter, und strafrechtliche Sanktionen (§ 18). Der Gesetzgeber hat jedoch, nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen der Jahre nach 1954, erkannt, daß die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten sich nicht in Maßnahmen der Verhütung, der Kontrolle Infektionsverdächtiger und der raschen Behandlung erschöpfen kann,
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sondern auch seelische und soziale Nöte der Menschen in Betracht ziehen muß. Er verweist insoweit auf die Eigenständigkeit der Fürsorgeverbände (jetzt: Träger der Sozialhilfe) und der Jugendämter (§ 2 Abs. 2), die ihrerseits wiederum die Zusammenarbeit mit der freien Wohlfahrtspflege suchen und pflegen, soweit gerade diese über geeignete Einrichtungen offener u. geschlossener Gefährdetenfürsorge verfügt. An Syphilis leidende Personen rekrutieren sich häufig aus dem Kreise streunender, hwG-treibender Mädchen und Frauen, die persönlich und sozial gesehen oft sehr beunruhigende Gefährdungssituationen offenbaren und sich aus eigener Kraft nicht aus der Verstrickung in Unordnung lösen können oder nicht einmal wollen. Sofern nur die geringste Hoffnung besteht, es könne gelingen, sie nicht nur medizinisch zu heilen, sie im Falle der Schwangerschaft bei rechtzeitiger Erfassung gesunde Kinder gebären zu lassen und zu resozialisieren oder zu rehabilitieren, ist es angezeigt, sie zur Sicherung der Fortführung der Behandlung in der Zeit zwischen den Kuren und während der Fortführung der Behandlung in einem Heim unterzubringen, das im Hinblick auf die Behandlung wie auch die Resozialisierung beide Voraussetzungen erfüllt. Das wird in aller Regel eine Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege sein, der es gegeben ist, durch eine den ganzen Menschen erfassende kombinierte medizinisch-sozialpädagogische Betreuung wiederaufzurichten und auf die Rückkehr in eine wieder selbst zu bewältigende Lebensordnung zurückzuführen, öffentliche und freie Fürsorge haben hier eine besonders enge Zusammenarbeit zu pflegen, um das Ziel zu erreichen. Sofern die Gefährdung eindeutig auf Geisteskrankheit, Epilepsie, Suchtkrankheit oder Schwachsinn (die schwachsinnige Prostituierte I) beruht, bieten ggf. die Unterbringungsgesetze der Länder die Möglichkeit, die Unterbringung der Kranken in einer Anstalt usw. auch gegen ihren Willen durch den Richter anordnen zu lassen, sofern der Kranke nicht bereits entmündigt ist oder unter Pflegschaft wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen steht und vom Vormund (Pfleger) mit Zustimmung des Vormundschaftsrichters untergebracht wird (§ 1800 BGB.) Hinsichtlich des nichtseßhaften Menschen, der nicht in jedem Falle gefährdet zu sein braucht, trotzdem aber oft genug besonderen Gefährdungen ausgesetzt oder aus Mangel an innerer Festigkeit erst zum Nichtseßhaften geworden ist, sei auf ein Rundschreiben des BMI vom 22.7.1953 — 5159 —1634/53 (GMB1. S. 366ff.) hingewiesen, das auch im Zeichen des BSHG noch Bedeutung beanspruchen kann und deshalb nachstehend im Auszug wiedergegeben wird: „ . . . Als Ergebnis von Beratungen mit den beteiligten Fachkreisen und unter Berücksichti-
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Fürsorge
gung der Anregungen der Länder gebe ich die nachstehenden Richtlinien über die Fürsorge für Nichtseßhafte empfehlend bekannt. Die Richtlinien sollen insbesondere dazu dienen, eine gleichmäßige Handhabung der Fürsorge für Nichtseßhafte zu ermöglichen und eine Angleichung der Fürsorgemaßnahmen auch zwischen den Ländern zu erleichtern. Nur dadurch wird es sich vermeiden lassen, daß eine besondere Belastung gerade der Fürsorgeverbände oder der Länder entsteht, die bemüht sind, den Nichtseßhaften nachhaltige Hilfe angedeihen zu lassen . . . Aufgabe der Fürsorgeverbände ist es, die hilfsbedürftigen Nichtseßhaften zu erfassen und ihnen diejenige Hilfe anzubieten, die zur Behebung ihrer Notlage erforderlich ist. Dabei finden die Hilfeleistungen ihre Grenze dort, wo die dargebotene Hilfe abgelehnt wird. Zwangsmaßnahmen kommen nur in den gesetzlich ausdrücklich zugelassenen Fällen (ζ. B. § 20 RFV — jetzt § 26 BSHG) in Betracht. Es hat sich in zahlreichen Fällen gezeigt, daß vor allem diejenigen Personen, die keinen festen Wohnsitz begründen konnten und daher ihren Aufenthaltsort immer wieder wechseln mußten, der Gefahr eines sozialen Abgleitens in besonderem Maße ausgesetzt und dieser Gefahr vielfach auch erlegen sind. Dies gilt insbesondere auch für Jugendliche und für Frauen. Die Art der zu gewährenden Hilfe wird sich daher bei diesen Personen zunächst darauf zu richten haben, daß diese Gefahr beseitigt wird. In Übereinstimmung mit den beteiligten Fachkreisen bin ich der Ansicht, daß es hierzu erforderlich ist, diese Nichtseßhaften zunächst einmal in geeignete Einrichtungen aufzunehmen und nach Prüfung aller Umstände diejenige Art der Hilfe auf weite Sicht ins Auge zu fassen, welche am geeignetesten ist, die Einfügung des Nichtseßhaften in ein normales Leben sicherzustellen. . . . Wo solche Aufnahmeeinrichtungen trotz vorhandenen Bedürfnisses, ζ. B. an besonders verkehrsreichen Orten, nicht vorhanden sind, werden sie, wenn nur so die Fürsorge für Nichtseßhafte wirksam gewährt werden kann, zu schaffen sein. Besonders bei Jugendlichen können die richtige Wahl der Hilfe und ihre rechtzeitige Gewährung von entscheidender Bedeutung für die gesamte weitere Entwicklung des Jugendlichen und seine Eingliederung in das Berufs- und Wirtschaftsleben sein. . . . Nach den Erfahrungen der Fachkreise kann eine Förderung des Wanderns nicht Ziel der Fürsorgemaßnahmen sein. In der Mehrzahl der Fälle geht der Wunsch der Nichtseßhaften auch gar nicht dahin, im Bundesgebiet umherzuziehen; er richtet sich vielmehr darauf, die Möglichkeit zu finden, an einem festen Ort wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen. Bei denjenigen aber, deren Wandertrieb noch besteht, sollte angesichts der
Gefahren des Umherziehens versucht werden, auch in ihnen den Wunsch nach Seßhaftigkeit wachzurufen und ihnen die äußeren Voraussetzungen dafür zu schaffen . . . Als besonders wichtige Arten der Hilfe für Nichtseßhafte kommen nach den bisherigen Erfahrungen vor allem die nachstehenden in Betracht: Bei Alten und Gebrechlichen: Einweisung in Altersheime, Siechenheime usw. Bei Kranken und Süchtigen: Einweisung in entsprechende Krankenanstalten. Bei Arbeitsfähigen: Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern zur Vermittlung geeigneter Arbeit oder, soweit dies nicht möglich ist, Anweisung angemessener Arbeit gemeinnütziger Art oder Gewährung von Unterstützung gegen Leistung solcher Arbeit (§ 19 RFV — jetzt: §§ 18,19 BSHG); gleichzeitig Beschaffung von Unterkunft in Zusammenarbeit mit den Wohnungsbehörden. Bei wandernden Familien und nichtseßhaften Müttern mit Kindern notfalls vorübergehend getrennte Unterbringung, bis die Eltern oder ein Elternteil Arbeit bzw. Unterkunft gefunden haben. Bei jugendlichen Nichtseßhaften — unter Berücksichtigung der besonderen landesrechtlichen Bestimmungen —; in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern Rückführung in die eigene Familie oder, soweit dies nicht möglich oder angebracht ist, Unterbringung in geeigneten Familien, Heimen oder Jugendgemeinschaftswerken; gleichzeitig Beschaffung geeigneter Arbeit, ggf. Vermittlung in Lehr- oder Anlernstellen oder in Grundausbildungslehrgängen durch die Arbeitsämter. Aufnahme von Nichtseßhaften in Einrichtungen der Wandererfürsorge oder ähnliche Einrichtungen, in denen die Hilfsbedürftigen entsprechend den Bestimmungen der §§ 7 RGr., 19 RFV — jetzt: §§ 18,19 BSHG — zur Leistung geeigneter Arbeit herangezogen werden. Gegebenenfalls können diese Einrichtungen mit den genannten Aufnahmeeinrichtungen verbunden werden. Aufnahme von Nichtseßhaften, insbesondere der ziellos Wandernden, in die Arbeiterkolonien und sonstigen Einrichtungen, die der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß dienen. Einweisung in Arbeitsanstalten, wenn die Voraussetzungen des §20 RFV (jetzt: §26 BSHG) gegeben sind. Unterbringung in die Einrichtung der Gefährdetenfürsorge. Bei Verstoß gegen die Strafgesetze (ζ. B. Landstreicherei, Müßiggang und Arbeitsschau nach § 361 StGB) kommen Meldung an die Polizei oder Strafanzeige in Betracht.
Fürsorge 3. Zusammenarbeit
mit der freien
Wohlfahrtspflege
Für die Frage der Durchführung der Fürsorge für Nichtseßhafte wird die Zusammenarbeit mit der freien Wohlfahrtspflege von besonderer Bedeutung sein. Gerade hieraus wird sich — wie schon früher bei der Wandererfürsorge — der beste Nutzen für eine wirksame fürsorgerische Tätigkeit finden lassen. In den bisherigen Beratungen kam die Bereitschaft von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege zur weitgehenden Hilfe für die Nichtseßhaften zum Ausdruck. Dies gilt sowohl für die Betreuung der Nichtseßhaften wie auch für die Schaffung und Erhaltung der erforderlichen Einrichtungen. . . . . . . Bei der Fürsorge für Nichtseßhafte handelt es sich um eine Pflichtaufgabe der Fürsorge, der bei den augenblicklichen Verhältnissen eine besondere Bedeutung zukommt. Wenn schon hiernach die zur Durchführung dieser Fürsorge erforderlichen Mittel bereitgestellt werden müssen, so ergibt sich diese Notwendigkeit ganz besonders auch bei Berücksichtigung der Folgen der Nichtgewährung einer rechtzeitigen und wirksamen Hilfe. Es wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß einmal versäumte Gelegenheiten — vom menschlichen Schicksal der Nichtseßhaften ganz abgesehen—zu finanziell weit höheren Belastungen führen, als sie eine rechtzeitige wirksame Hilfeleistung mit sich bringt. Es muß daher vermieden werden, daß die Nichtseßhaften der Gefahr der Verwahrlosung erliegen, ihren sittlichen Halt verlieren, straffällig werden oder sich schwere gesundheitliche Schäden zuziehen. Die hieraus erwachsenden Aufwendungen müssen fast ausnahmslos aus öffentlichen Mitteln getragen werden. Wenngleich ein rechnerischer Nachweis im einzelnen dafür nicht zu erbringen ist, so wird doch nirgends bestritten, daß diese Kosten diejenigen Mittel weit übersteigen, die bei sofortiger und nachhaltiger Hilfe durch die Fürsorge aufzuwenden sind. Alle für die Bereitstellung der erforderlichen Mittel zuständigen Stellen sollten daher, sowohl im Interesse der Hilfsbedürftigen wie auch unter dem Gesichtspunkt einer wirklich zweckentsprechenden Verwaltung öffentlicher Mittel, die Durchführung der Pflichtaufgaben der öffentlichen Fürsorge zugunsten der Nichtseßhaften ermöglichen..." In Ergänzung dazu hat die Konferenz der für das Fürsorgewesen zuständigen Länderminister (Senatoren) die ebenfalls noch bedeutsame „Vere i n b a r u n g der L ä n d e r ü b e r die D u r c h f ü h r u n g der N i c h t s e ß h a f t e n f ü r s o r g e vom 29. 5.1956" angenommen: „Die Länder wirken in ihrem Bereich auf dem Gebiete der Nichtseßhaftenfürsorge über die Bundesrichtlinien vom 22. Juli 1953 hinaus auf die
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Durchführung folgender Maßnahmen in der landesrechtlich zulässigen Weise hin: 1. Oberstes Ziel ist, die Nichtseßhaften zu erfassen, sie individuell zu betreuen, um sie seßhaft zu machen, und die Nichteingliederungsfähigen oder -willigen einer ihnen angemessenen Betreuung zuzuführen. Die Länder unterstützen dieses Ziel, soweit es nicht durch eine anderweitige Regelung sichergestellt ist, im Wege der Bereitstellung entsprechender Mittel. 2. In den Einrichtungen, die die Betreuung von Nichtseßhaften (gleich welcher Bezeichnung) vornehmen, soll die Gewährung von Leistungen, wie Übernachtung, Verpflegung usw., von der Gegenleistung irgendwelcher Arbeit für das Heim oder sonst gemeinnütziger Arbeit abhängig gemacht werden (§ 19 R F V — jetzt: §§ 18, 19 BSHG —). Für die Heranziehung zur Arbeit müssen im Zusammenwirken mit den Arbeitsämtern und den Gemeinden geeignete Mittel und Wege gefunden werden. 3. Die genannten Einrichtungen verfolgen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten das Ziel der Seßhaftmachung der Wanderer. Die arbeitsund eingliederungsbereiten Wanderer sind bei der Arbeitssuche tatkräftig zu unterstützen. Die Stellen, die sich mit der Fürsorge für Nichtseßhafte befassen, halten zu diesem Zweck engen Kontakt mit den Arbeitsämtern und, soweit erforderlich, auch mit den Wohnungsämtern. Die Länder sollen bei den zuständigen Stellen der Arbeitsverwaltung darauf hinwirken, daß die Arbeitsämter den Nichtseßhaften besondere Aufmerksamkeit zuwenden. 4. An arbeitsmarktpolitisch geeigneten Stellen sollen Auffang- und Sichtungsstationen mit unverfänglicher Bezeichnung errichtet werden. Träger sollen möglichst die Landesfürsorgeverbände oder Verbände der freien Wohlfahrt sein. Ihre Aufgabe ist es, die Maßnahmen, die zur Wiedereingliederung notwendig sind, einzuleiten. 5. Neben den Auffang- und Sichtungsstellen sollen Wohnheime für Arbeitsfähige und Arbeitswillige sowie ausreichende Arbeitseinrichtungen für die nichtseßhaften Menschen eingerichtet werden, die erst an ein geordnetes Leben gewöhnt werden müssen, ehe ihre Arbeitsvermittlung möglich wird. Nicht mehr Arbeitsfähige sind in geeigneten Heimen unterzubringen. 6. Für nichtseßhafte Jugendliche sind besondere Heime bereitzustellen. Die Auswahl der zur Betreuung vorgesehenen Personen muß sehr sorgfältig erfolgen. Zusätzlich ist ein intensiver Betreuungsdienst durchzuführen. 7. Mit allen Betreuungsstellen für Nichtseßhafte arbeiten die Polizeidienststellen in äußerlich zurückhaltender Form vertrauensvoll zusammen. Ziel muß sein, die wirklich Kriminellen festzustellen und sie der für sie geeigneten Behandlung zuzuführen."
Fürsorge
248 4. Zuständigkeit
der Träger der
Sozialhilfe
Für die Gewähr der Leistungen der Sozialhilfe ist örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfesuchende tatsächlich aufhält. Bei der Gewährung von Ausbildungshilfe kommt es als Sonderregelung grundsätzlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltspflichtigen an, dessen Haushalt der Auszubildende vor Beginn der Ausbildung angehört hat (§§ 97, 98). Der örtliche Träger ist auch sachlich zuständig, d.h., er hat die zu gewährende Hilfe als die ihm obliegende zu leisten, sofern nicht nach Bundes- oder nach Landesrecht der überörtliche Träger sachlich zuständig ist (§ 99). Der Gesetzgeber hat hinsichtlich der Zuweisung von Aufgaben an den überörtlichen Träger weitgehend das geltende Bundesrecht übernommen und Anregungen der Praxis verwirklicht. § 100 weist ihm solche Aufgaben zu, die wegen ihrer überörtlichen Bedeutung und wegen der mit ihnen verbundenen hohen Kosten zur Sicherung einer wirksamen Hilfe in die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers gelegt werden müssen. Der überörtliche Träger ist sachlich zuständig für die Hilfe in besonderen Lebenslagen für die unter B, 6 genannten Behinderten, soweit ihnen ein Rechtsanspruch zuerkannt ist, für Geisteskranke, für Personen mit einer sonstigen geistigen oder seelischen Behinderung oder Störung, für Epileptiker und Suchtkranke, wenn die Behandlung, der Zustand oder das Leiden dieser Personen den Aufenthalt in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung erfordert (§ 100 Abs. 1 Nr. 1). Er ist weiter sachlich zuständig für die Versorgung Behinderter mit Körperersatzstücken, größeren orthopädischen und größeren anderen Hilfsmitteln (§ 100 Abs. 1 Nr. 2), für die Tuberkulosehilfe (§100 Abs. 1 Nr. 3), für die Blindenhilfe — d. i. Blindengeld (§ 100 Abs. 1 Nr. 4) — und für die Hilfe für Gefährdete, wenn die Gefährdung den Aufenthalt in einer Anstalt usw. erfordert (§ 100 Abs. 1 Nr. 5). Schließlich ist er außer für die Ausbildungshilfe zum Besuch einer Hochschule (§ 100 Abs. 1 Nr. 7) sachlich zuständig für die Hilfe zum Lebensunterhalt oder in besonderen Lebenslagen in einer Anstalt usw., wenn die Hilfe dazu bestimmt ist, Nichtseßhafte seßhaft zu machen (§ 100 Abs. 1 Nr. 6). In den Fällen der Nr. 1, 3, 5 und 6 erstreckt sich die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers auf alle Leistungen, die dem Hilfeempfänger für seine Person nach dem BSHG gleichzeitig zu gewähren sind, sowie auf die erforderlichen Bestattungskosten (§ 100 Abs. 2) Die bislang freiwillig gewährte Sozialhilfe für Deutsche im Ausland ist nunmehr den überörtlichen Trägern ausdrücklich zugewiesen worden (§ 119). Über ihre gesetzlich festgelegte sachliche Zuständigkeit hinaus sollen die überört-
lichen Träger zur Weiterentwicklung von Maßnahmen der Sozialhilfe, vor allem bei verbreiteten Krankheiten, beitragen; hierfür können sie die erforderlichen Einrichtungen schaffen oder fördern (§ 101). Der Gesetzgeber hat es angesichts der Bedeutung, die der Sozialhilfe jetzt und in Zunkunft beizumessen ist, für angezeigt erachtet, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß bei der Durchführung des BSHG Personen beschäftigt werden sollen, die sich hierfür nach ihrer Persönlichkeit eignen und in der Regel entweder eine ihren Aufgaben entsprechende Ausbildung erhalten haben oder besondere Erfahrungen im Sozialwesen besitzen (§ 102). Durch die Zuweisung der Hilfe für Nichtseßhafte und für Gefährdete in die sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe hat der Gesetzgeber Vorsorge getroffen, daß beide Hilfen in planmäßiger Zusammenarbeit von örtlichem und überörtlichem Träger wirksam angesetzt und planmäßig vollzogen werden können. Die entscheidende Beteiligung des Richters und seine Beherrschung des Verfahrens in Fällen notwendiger und verfahrensrechtlich zulässiger Eingriffe in die Freiheitssphäre des einzelnen verbürgen die unabdingbaren rechtsstaatlichen Garantien. Sache der Sozialarbeiter wird es sein, den Gesetzesauftrag im Sinne eines sich ständig nach den neuesten Erkenntnissen richtenden sozialpädagogischen und -therapeutischen Bemühens zu erfüllen und demjenigen nachhaltig zu helfen, der der Hilfe bedarf. Er steht dabei im partnerschaftlichen Verhältnis zur freien Wohlfahrtspflege mit ihren Spitzenzusammenschlüssen von reich und breit gegliederten Einzelwerken offener Hilfen und solcher in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen. Diese Spitzenzusammenschlüsse sind: Arbeiterwohlfahrt, Hauptausschuß e. V., Deutscher Caritasverband e. V., Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband e. V., Deutsches Rotes Kreuz, Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. Da es hier nicht darauf ankommen kann, sämtliche Tätigkeitsbereiche der freien Wohlfahrtspflege darzustellen, sei nur darauf verwiesen, daß sie eine Fülle von Einrichtungen und Maßnahmen unterhält, die der Hilfe für die nichtseßhaften und gefährdeten Menschen dienen: Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat, Heime für Strafentlassene und sittlich Gefährdete und Verwahrloste, Erziehungsheime, Heime bzw. Heilstätten für Suchtgefährdete, Beratungsstellen, Einsatz von hauptund ehrenamtlichen Helfern usw. Diese Maßnahmen im Verein mit den Veranstaltungen der öffentlichen Hand garantieren den Vollzug des Gesetzes.
Fürsorge — Gaunersprache 5. Beziehungen der Träger der Sozialhilfe untereinander; Sozialhilfe für Ausländer und Staatenlose Die Frage der Kostenerstattung zwischen den Trägern der Sozialhilfe ist unter weitgehender Übernahme des Vertragsrechtes der FRV. mit Vereinfachungen, die der Praxis gerecht werden, gelöst worden (§§ 103 ff.). Personen, die nicht Deutsche i. S. des Art. 116 Abs. 1 GG. sind und die sich im Geltungsbereich des BSHG (Bundesrepublik einschl. Land Berlin, § 162) tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Krankenhilfe, Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen, Tuberkulosehilfe und Hilfe zur Pflege nach dem BSHG zu gewähren; wer sich in den Geltungsbereich des Gesetzes begeben hat, um Sozialhilfe zu erlangen, hat keinen Anspruch. Im übrigen kann Sozialhilfe gewährt werden, sofern dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Rechtsvorschriften, nach denen außer den genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu gewähren ist ( vgl. ζ. B. § 19 des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. 4. 1951 — BGBl. I, 269 —, das Gesetz über die Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Fürsorge für Hilfsbedürftige nebst Schlußprotokoll vom 17.3.1953 — BGBl. II, 31 — und das Gesetz zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 und zu dem Zusatzprotokoll zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 15. 5.1956 — BGBl. II, 563 —), bleiben unberührt. Durch Rechtsverord-
GAUNERSPRACHE a) Die Bezeichnungen . G a u n e r s p r a c h e ' oder auch „ V e r b r e c h e r s p r a c h e ' sind dadurch üblich geworden, daß sich recht lange Zeit fast ausschließlich die Kriminologie anstatt der Philologie mit dieser sprachlichen Erscheinung befaßt hat. Beide Bezeichnungen zielen auf den Sprecherkreis, sagen aber gar nichts aus über das Wesen dieser .Sprache'. Die Philologie hatte anfangs von der Kriminologie den Terminus .Gaunersprache' übernommen, schmolz ihn aber bald mit ein in die älteste und wieder aufgenommene Bezeichnung .Rotwelsch'. Sie hat sich im wesentlichen nur in der Sprachwissenschaft eingebürgert. Neben ihr steht als einigermaßen gleichbedeutend in Süd- und Westdeutschland sowie in den benachbarten deutschen Sprachgebieten außerhalb der Bundesrepublik der Terminus .Jenisch'.
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nung mit Zustimmung des Bundesrates kann der BMI bestimmen, daß außer den genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu gewähren ist oder gewährt werden soll. A. E l s t e r : Landstreicher, Bettler, Vagabunden. HwbKrim. Bd. 2, S. 114ff. H. E i s e r h a r d t : Verwahrung, Bewahrung. HwbKrim. Bd. 2, S. 972 ff. R. S i e v e r t s : Wanderfürsorge. HwbKrim. Bd. 2, S. 1040ff. S t e i g e r t a h l : Die gemeinlästigen Leute, Asoziale, Sozialschwierige und Gefährdete. MechrKrim. 38 (1955) Heft 1—2.
Besserungs- und Bewahrungsanstalten. HwbKrim. Bd. 1, S. 143 ff. H. M u t h e s i u s : Bundesrechtliche Grundlagen der öffentlichen Fürsorgepflicht. 5. Aufl. 1957. H. M u t h e s i u s (Hrsg.): Fürsorge und Sozialreform. Gesamtbericht über den deutschen Fürsorgetag 1955. 1956. Die Neuordnung des Fürsorgerechts als Teil einer Sozialreform. Gesamtbericht über den deutschen Fürsorgetag 1957. 1958. Die Fürsorge in der gewandelten Welt von heute. Neue Aufgaben — Neue Wege. Gesamtbericht über den deutschen Fürsorgetag 1959. 1960. H. A c h i n g e r u. a. (Hrsg.): Neue Wege der Fürsorge. Festgabe für Muthesius. I960. H. K l e i n k o w s k i : Das Arbeitshaus in theoretischer und praktischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitshauses in Nordrhein-Westfalen. Diss. Münster. 1960. Schriften der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenfürsorge, Bethel bei Bielefeld: Was wird aus uns ? Das Problem der Nichtseßhaftenfürsorge im Lande Nordrhein-Westfalen. 2. Aufl. 1956. Jedem seine Chance. 1957. Woher ? Wohin ? 1957. Unstet und flüchtig. 1962. Was folgt daraus ? 1963. Bundestagsdrucksache 1799 vom 20. 4. 1960. G o t t s c h i c k : Das Bundessozialhilfegesetz. 2. Aufl. 1963. W Y N E K E N KOBUS
Er hat sich im Gegensatz zu .Rotwelsch' auch im Volksmund erhalten und behauptet. Die philologische Terminologie ist der kriminologischen unzweifelhaft vorzuziehen, da , Rotwelsch' oder ,Jenisch' ohnehin jenen besonderen und der Umgangssprache fremden Wortschatz einschließt, der von Berufsverbrechern, ihnen Verbundenen oder Nahestehenden, aber auch von der sogenannten Halbwelt benutzt wird. Denn der Wortschatz der ,Gauner' oder ,Verbrecher' stellt keineswegs eine einzigartige Besonderheit dar, die etwa ohne Berührung oder ohne Verwandtschaft mit sonstigem Sonderwortgut der deutschen Sprache ist. Vielmehr stimmt dieser Wortschatz weitgehend überein mit demjenigen aller Gruppen, die am Rand der Gesellschaft leben oder aber durch ihren Lebenslauf mit der Landstraße verbunden, d. h. zeitweilig oder völlig nichtseßhaft sind. Darin sind also ζ. B. Hausierer,
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Gaunersprache
Markt- und Meßreisende, Schausteller, Viehhändler, Wandermusikanten u. dgl. einbegriffen. Die Vertreter dieser Berufsgruppen, denen in früheren Zeiten auch saisonweise auswärts arbeitende Gewerbe wie Maurer, Hausschlächter u. dgl. zugesellt werden müssen, können nun keineswegs als ,Gauner' oder ,Verbrecher', ja nicht einmal als ,Jenische' (d. h. als sozial gesunkene Fahrende) angesehen werden. Hans Gross meinte: „Selbstverständlich kennt nicht jeder Verbrecher, auch nicht jeder Gewohnheitsverbrecher die Gaunersprache, aber wer sich der Gaunersprache bedient, ist zuverlässig ein Gauner." Diese Erkenntnis samt ihrer grob verallgemeinerten Folgerung muß heute nach den Ergebnissen der Germanistik auch von der Kriminologie zurückgewiesen werden. Die Verdienste von Gross um die Einführung von Kriminalisten und Juristen in das Rotwelsch werden dadurch nicht verkleinert. Sein Ausspruch kennzeichnet aber nur noch eine heute bereits historisch gewordene Etappe der Rotwelsch-Forschung. Ohne etwa genauere Kenntnis des Forschungsganges fällt es schwer, die Gesichtspunkte zu gewinnen und zu wägen, unter denen noch heute eingehende Vertrautheit mit dem Rotwelsch kriminologisch fruchtbar und wertvoll sein kann. Im übrigen hat erst das Aufhellen der Entwicklungsgeschichte den Schlüssel zu Spracherscheinungen im Rotwelsch gegeben, die noch andauernd wirksam werden. Die Wissenschaft übersieht heute einen Wortbestand des Rotwelsch, der von 1342 bis zur Gegenwart führt. Selbstverständlich ist dieser Wortschatz zeitlich und gruppenmäßig geschichtet, aber dennoch weist er wiederum gleichbleibende Wesentlichkeiten auf. Dabei ist es sehr bezeichnend, daß nahezu alle zwischen 1342 und 1547 durch Akten oder in sprachlich orientierten Sammlungen festgehaltenen Rotwelsch-Ausdrücke nahezu nichts von einem Berufsverbrechertum nach jetziger Vorstellung erkennen lassen, sondern nur eine nach unseren Begriffen geradezu ungeheuerliche Bettlerplage grell beleuchten. Die dann leider erst wieder 1687, aber bereits als umfängliche Wortlisten einsetzenden Quellen zeigen aber schon ein wesentlich anderes Bild. Mit zunehmender Häufigkeit bringen sie auch Ausdrücke aus den Bereichen des Diebstahls, des Einbruchs und des räuberischen Überfalls. Diese manchmal schon zu kleinen Wörterbüchern anwachsenden Sammlungen dienten bereits dem praktischen Gebrauch bei Polizei- und Gerichtsbehörden. Die meisten davon wurden auch jeweils sofort durch den Druck verbreitet. Ohne Zweifel entsprachen sie einem Bedürfnis des vernehmenden Beamten. Man muß bedenken, daß bis auf eine verschwindende Minderheit alle erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich allmäh-
lich verlierenden Berufsgauner, unter denen vornehmlich fahrende Gelegenheits- und Bagatell-Kriminelle verstanden werden müssen, Analphabeten waren. Vorwiegend sprachen sie auch irgendeinen ländlichen Dialekt. Mundart mit Rotwelsch gemischt war nun tatsächlich für die meisten Beamten nur mit Hilfe eines zweckmäßigen Büchleins zu verstehen. Es kam der kriminologischen und philologischen Durchforschung des Rotwelsch sehr zugute, daß sich ihr ein Mann widmete, der Kriminalist, Linguist und Kulturhistoriker in einer Person war: F. B. C. Ανέ-Lallemant (1809—1892). Er war Jurist und Leiter der Lübecker Polizei. In seiner vierbändigen Studie über „Das Deutsche Gaunerthum" (Leipzig 1858—62) publizierte er auch ein etwa 1760 Wörter behandelndes Rotwelsch-Wörterbuch, das im Gegensatz zu allen vorher erschienenen Rotwelsch-Glossaren erstmals auch durch etymologische und gegenständliche Erläuterungen dem Sprachforscher etwas zu bieten hatte. Seine Anregungen wirkten sich kriminologisch fruchtbar aus bei Hans Gross, philologisch bei Friedrich Kluge. Was Gross in den ersten Auflagen des „Handbuch für Untersuchungsrichter" über die .Gaunersprache' verlautbarte, ist in gewissem Sinn klassisch zu nennen. Was Kluge in „Rotwelsch, Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der verwandten Geheimsprachen" 1901 an Materialien wieder abdrucken ließ, ist zwar Torso geblieben, hat aber doch die weitere Forschung entscheidend angeregt. Die oben erwähnte Feststellung, daß der Wortschatz der .Gaunersprache' nichts Isoliertes und Einzigartiges ist, hatte eigentlich Kluge schon im soeben zitierten Titel seines unvollendeten Werks unmißverständlich ausgesprochen. Daraus und aus der durch Ανέ-Lallemant formulierten, aber unbeachtet gebliebenen Erkenntnis, das Gaunertum umfasse „das verbrecherische Proletariat aller Stände", zog Erich Bischoff — ein Semitist — 1916 den Schluß, das Rotwelsch stelle eine Klassensprache dar. Die gleiche Einstellung nahm auch die nichtdeutsche Philologie zu ihren ,Gauner-' oder .Geheimsprachen' an; in Frankreich betrachtet man die Argots durchaus als ein „signum de classe". Diese Wertung beseitigte in Verbindung mit dem über die historische Entwicklung des Gaunertums Bekannten viele vermeintliche Schwierigkeiten, die bis dahin die zutreffende Beurteilung der Entstehung und Einstufung des Rotwelsch und seiner Sprecherkreise verhindert hatten. Da das Rotwelsch stark mit jiddischen und in Süddeutschland auch etwas mit zigeunerischen Wörtern durchsetzt ist, hatte man ζ. B. bis auf Bischoff stets geschlossen, das beweise die ehemals enge Verflechtung des angeblich hervorragend kriminell disponierten Judentums und Zigeuner-
Gaunersprache turns mit dem deutschen Berufsverbrechertum. Nunmehr Schloß man richtig, daß die beiden ursprünglich nichtdeutschen Gruppen lediglich das Medium der Landstraße mit den Berufsverbrechern der Vergangenheit, d. h. den asozialen oder abgesunkenen deutschen Fahrenden, gemeinsam gehabt hatten: die Juden durch ihren Kaufmannsberuf — denn als Fernhändler treten sie in die Geschichte der Ottonenzeit ein — und die Zigeuner durch ihre herkömmliche Nomadenweise. Auch die relative Geringfügigkeit der auf zigeunersprachliche Wurzeln zurückgehenden Rotwelsch-Wörter ließ sich nun historisch begründen: erst seit 1417 konnten deutsche Fahrende Zigeunern begegnen. Vorher hatten diese Nomaden niemals deutschen Boden betreten. Zu engerer Verbindung kam es nie zwischen den sehr eigenständigen Kindern Indiens und den von ihnen insgeheim oder offen abgelehnten ,Jenischcn'. Es ist also zu unterstreichen, daß die Landstraßen des Mittelalters das sprachliche Sammelbecken geliefert haben, in dem sich dann bis in die Neuzeit hinein das Rotwelsch erhielt und immer wieder regenerierte. Das Rotwelsch sollte füglich als ,Landstraßensprache' bezeichnet werden, wenn man schon, auf solche Sammelbezeichnung nicht verzichten will. Sieht man es als Kind der Straße an, dann wird einem auch sofort klar, weshalb heute die niedrigste Umgangssprache der Großstadt sozusagen das moderne Rotwelsch bildet: der Asphalt ist an die Stelle der Landstraße getreten. Deshalb kann es auch nicht wundernehmen, wenn der Philologe beim Durchmustern des Wortbestandes der angeblichen Neuschöpfung ,Teenager- und Twensprache' bis auf ein paar alberne Papierdeutsch-Wörter durchaus nur altvertrautes Rotwelsch findet. Dabei ist nochmals daran zu erinnern, daß selbstverständlich in dieser sogenannten .Teenagersprache' genauso wie in der ,Dirnensprache', der .Kundensprache', der ,Hausierersprache', usw. jeweils gruppenmäßige Vokabelbesonderheiten vorkommen. Sie sind einfach durch den wechselnden Interessenkreis sozusagen technisch bedingt: ein .Freier' oder ein .Stubben' ist nur für die Dirne von Bedeutung, eine ,Schaffe' nur für den Teenager, und ein ,Tantel' kann den Hausierer nicht interessieren, wohl aber den .Ganoven'. Sprachgeschichtlich mögen übrigens diese an sich belanglosen Verschiedenheiten früher dank des immer wieder ausgleichenden Bandes der Landstraße und des gemeinsam erlebten Strafvollzugs kaum hervorgetreten sein. Doch ist die heutige Nuancierung des Wortschatzes je nach dem Interessen- oder Berufskreis der Rotwelschsprecher kriminologisch nicht ohne Bedeutung. Denn wenn es auch durch die sehr starke Rotwelsch-Färbung der großstädtischen Asphalt-
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sprache nicht mehr möglich ist, allein aus ihrem Gebrauch auf Zugehörigkeit zu Gaunerkreisen zu schließen, so kann andererseits der sprachlich geschulte Kriminologe allein aus dem Wortschatz, aus der Ausdrucksweise eines Vernommenen auf seinen Verkehr, auf sein Milieu manchmal sehr ins einzelne gehende Schlüsse ziehen. Der jugendliche Erpresser, der seine Opfer unter Homosexuellen sucht, hat einen andern „Zungenschlag" als etwa der halbwüchsige Kraftfahrzeugdieb. Es gibt oft rotwelsche Ausdrücke, die nur in einer einzigen Ganovenclique am Ort gebraucht werden. Die Bedeutungsbreite derselben Rotwelsch-Wörter wechselt oft von Stadt zu Stadt. Wer diese Nuancierungen beherrscht, findet in ihnen mit einigem Glück nicht selten recht aufschlußreiche Indizien. Kriminalpsychologisch ist es ebenso reizvoll wie ergebnisreich, das Rotwelsch auch heute noch etwas zu berücksichtigen. Wie bereits gesagt wurde, setzt sich der Wortschatz des alten und auch des modernen Rotwelsch aus Deutschem, Jiddischem und etwas Zigeunerischem zusammen. Die Bemerkung, daß weder das Jiddische noch die Zigeunersprache auch nur den geringsten gaunersprachlichen Charakter zeigen, sollte heute eigentlich überflüssig sein. Doch mag hier noch einmal unterstrichen werden, daß es sich beim Jiddischen um eine sogenannte deutsche Nah-, Neben- oder Beisprache handelt, die über eine ausgebreitete Literatur verfügt, und daß die Zigeunersprache (Romani) ein von den Zigeunern aus ihrer indischen Heimat mitgebrachter Sanskritabkömmling ist. Beiden Sprachen oder vielmehr den Trägern beider Sprachen kann und darf es nicht negativ angerechnet werden, daß die deutschen Fahrenden ihr Rotwelsch daraus bereichert haben, um seinen geheimsprachlichen Charakter zu verstärken. Völlig unsinnig aber ist es, daß schlecht unterrichtete Kriminalisten sowohl das Jiddische wie das Romani als ,Gaunersprache' schlechthin bezeichnet haben. Die zeitliche Schichtung des rotwelschen Wortschatzes läßt sich am deutlichsten durch das Ausscheiden seines veralteten deutschen Bestandes, d. h. durch dessen Ersetzen durch jiddische oder auch zigeunerische Wörter, veranschaulichen. Die schon 1450 nachweisbare Bezeichnung ,Breitfuß' = Gans ist ζ. B. in Süddeutschland seit wenigstens 1726 durch das zigeunerische ,Papin' = Gans ersetzt. Das sehr alte deutsche .Flossart' = Wasser scheint sich zwar in der abgeänderten Bedeutung von Suppe, Regen o. dgl. bis in die Neuzeit erhalten zu haben, ist aber sonst durch jiddisch .Majim' oder zigeunerisch .Pani' viel öfter vertreten. Dies .Pani' ist in der recht entstellten Form ,Poy' sogar in die Geheimsprache der Händler von Breyell (Kr. Kempen) eingedrungen. Frühzeitig sind auch Synonyme und hybride Bildungen nachweisbar.
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Gaunersprache
,Schref' = Hure von 1510 ist gut deutsch (mhd. ,schreffe' = Spalte), aber in ,Schrefenboß' = Hurenhaus, Bordell — gleichfalls 1510 belegt — steckt schon jiddisch ,Bajis' = Haus. Damit konkurriert damals aber schon ,Sonnenboß' = Hurenhaus, denn jiddisch ,Sona' (scharf gesprochen wie mit Z) = Hure. In völliger Verkennung der eigentlichen Bedeutung hat das seit 1945 nochmals aus dem Osten importierte ,Sona' als mißverstandener ,Zahn' = Mädchen, Freundin in der Asphaltsprache der Halbstarken eine merkwürdige Renaissance erfahren! Bs bleibt allerdings schwer, einen auch nur annähernden Zeitpunkt für die massive Übernahme jiddischer und — in geringerem Umfang — zigeunerischer Wörterins Rotwelsch anzugeben. Der Dreißigjährige Krieg mag solche Zäsur gebracht haben; sie ist aber sprachgeschichtlich mangels Belegen nicht nachweisbar. Es scheint jedoch vertretbar zu sein, wenn man sagt, daß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Jiddisches und Zigeunerisches in rotwelsclien Wortlisten eindrucksvoll hervorzutreten beginnt. Was damals übernommen wurde, hat sich großenteils auch bis heute im Wortschatz halten können. Von bekannten und allgemein gebräuchlichen Rotwelsch-Wörtern entstammen dem Jiddischen u. a.: ,Ganove' oder besser ,Ganeff' = Dieb (jiddisch gannaw, Mehrzahl gannowim);,Kalle' = Freundin, Braut, in Berlin volksetymologisch entstellt zu , Kahle' = Kleine (jiddisch kalla); .Kassiber' = (heimlicher) Brief (jiddisch kossaw = geschrieben); ,kochem' = klug, gescheit (jiddisch chochom); ,Schern' = Name, Leumund (jiddisch schem); ,Sore' = Diebsgut (jiddisch sechoro = Ware); ,Sorof' = Schnaps, Branntwein (jiddisch soroph = gebrannt); ,Gallach' = Pfarrer (jiddisch gallach); ,Kluft' = Kleidung (jiddisch keliphas= Schale); ,Kies'= Geld (jiddisch kis = Beutel); ,Massel' = Glück (jiddisch masol = Glücksstern); ,Schlamassel' = Unglück (jiddisch schlimm masol); ,Macker' = Freund, Bekannter (jiddisch makor); ,Mosser' = Verräter, Schwätzer (jiddisch mosser); ,Nutte' = Dirne (jiddisch niddo = unreines Weib); ,Mamser' = Bastard (jiddisch mamser); ,naß' = gratis, umsonst (jiddisch noso = bekommen, erhalten); ,lau' = nein, nichts (jiddisch lo); ,Lehm' = Brot (jiddisch lechem); ,tafsen' = verhaften (jiddisch taphsen); ,Tantel' = Nachschlüssel, Dietrich (jiddisch dal = Tür, rotwelsch ,Tole' = Vorhängeschloß, Schloß, von jiddisch tolo = gehängt); tatsächlich ist das heutige ,Tantel' auch eine sehr abgeschliffene Form des alten rotwelschen ,Daltel', ,Taltel' u. ä., das also ursprünglich einfach Türschloß bedeutet hat; ,Knast' = Strafe (jiddisch knas = Geldstrafe); .Dalles' = Armut (jiddisch dallus). Besonders stark mit Jiddisch durchsetzt war zumindest früher die Ausdrucksweise der Falschspieler. Daß das berüchtigte Kümmelblättchen
auf jiddisch .gimmel' = drei zurückgeht, ist ja allgemein bekannt. Daß eines der ältesten Rotwelsch-Wörter, nämlich ,Gauner', aus dem Jiddischen übernommen ist und ursprünglich nur Falschspieler bedeutet hat, ist kriminalgeschichtlich nicht uninteressant. Das bereits 1490 belegte ,Juonner' = Spieler ist nichts anderes als das jiddische ,jowen' = Grieche. Bekanntlich galten die Griechen recht früh schon als raffinierte Falschspieler. Gauner — richtiger ist die ältere Schreibung Jauner! — entspricht mithin völlig dem französischen ,Grec' = Grieche, Falschspieler, Bauernfänger. Das Zigeunerische im Rotwelsch tritt viel weniger in Erscheinung. Soweit es dem Kriminologen überhaupt bekannt wird, läßt sich diese Kenntnis gegenwärtig wohl nur noch in Südwestdeutschland einigermaßen erwerben. Dort haben die ,Jenischen', die letztlich nicht nur sozial abgesunkene Fahrende der Neuzeit, sondern auch Nachkommen alter Korbflechter-, Steinguthändler- und Hausiererfamilien umfassen, aus gelegentlicher näherer Verbindung mit Zigeunern auch manches von derem Wortgut übernommen. Mit einiger Überspitzung könnte man sagen, daß diese zigeunersprachlichen Einsprengsel ein Kennzeichen des süd- und südwestdeutschen Jenisch sind. Auch das Zigeunersprachliche beweist den konservativen Zug, das sozusagen Altväterische im Rotwelsch: so enthält das gut untersuchte Jenisch der Schweiz noch relativ viel Zigeunerisches, obwohl die Schweiz schon seit Jahrzehnten nicht mehr über Zigeuner verfügt. Einige Beispiele für die Entlehnung aus dem Romani bieten die Rotwelsch-Worte: .Tschuri' = Messer (zig. tschuri); .Tschick' = Zigarrenstummel (zig. tschik = Abfall); ,Drom' = Straße, Weg (zig. drom); ,Schuckel' = Hund (zig. dschuklo); ,durkern' = wahrsagen (zig. durkew); ,ΜοΓ = Wein (zig. mol); ,piro' = frei (zig. piro): hiervon übrigens rotwelsch ,Bierzeddel' = Strafanstalts-Entlassungsschein (1847 in Berlin belegt); ,Stadl' = Hut (zig. stadi); ,Lil' = Paß, Dokument (zig. Iii = Brief); ,Lowe'= Geld (zig. lowo = Geldstück, Mehrzahl lowe); ,Klisto' = Polizist, Gendarm (wird meist als synomym mit zig. klisto = Reiter aufgefaßt, doch ist Ableitung von zig. klyestos = Zange wahrscheinlicher); ,Lubni' = Dirne, Hure (zig. lubni). Es hängt selbstverständlich mit dem bereits angedeuteten Wesen des Rotwelsch als einer Geheimsprache, als eines auf abgegrenzte Gruppen beschränkten Verständigungsmittels zusammen, daß sich seine ursprünglich fremden Bestandteile zäher und widerstandsfähiger gegen Worterneuerung erweisen als seine aus deutscher Wurzel gekommenen Ausdrücke. Die beigebrachten jiddischen und zigeunerischen Wörter sind für Uneingeweihte unverständlich, soweit sie nicht
Gaunersprache zufällig volksetymologisch bildhaft zu sein scheinen. Aber ,Windfang' = Mantel, .Wetterhahn' = Hut, .Langling' = Wurst, oder .Blasius' = Wind waren schließlich auch für jeden einigermaßen gewitzten Außenstehenden durchschaubar und wurden somit nach und nach unbrauchbar und ungebräuchlich. Über die letzte Entwicklungsstufe des Rotwelsch, in der wir uns jetzt befinden, läßt sich wenig oder nichts sagen. Erst bei Vorliegen neuer und neuester Glossare lassen sich die allgemeinen Tendenzen ausdeuten. Aber dann ist meistens schon wieder ein anderer Status wirklich aktuell. Doch darf heute schon festgestellt werden, daß ein von manchen Philologen nach 1945 befürchtetes Eindringen niedrigster Anglismen und Amerikanismen ins Rotwelsch nicht eingetreten ist; auch von Slawismen ist nichts zu merken. In dieser Hinsicht ist das Rotwelsch weit spröder als etwa die großstädtische Umgangssprache der Jugendlichen. Dadurch ist auch jetzt noch immer jene kleine Differenz im Wortschatz des Halbstarken und des echten Ganoven gegeben, die kriminologisch auswertbar sein kann. b) Unter Zinken versteht man gemeinhin einfache graphische Zeichen, die von Landstreichern und Bettlern, gelegentlich wohl auch von eingeweihten Fahrenden als Mitteilungs- und Nachrichtenmittel unauffällig an Häuserwänden oder andern geeigneten Plätzen angebracht werden. Vornehmlich geben die Zinken kurz Auskunft über Verhalten und Gebefreundigkeit von Hausbewohnern — dann sind sie meistens nahe der Haustür gekritzelt — oder über die Gesamtsituation eines Dorfs insgesamt, etwa daß dort ein Polizeibeamter ansässig ist oder daß darin Bettel nicht geduldet wird: dann sind die entsprechenden Zeichen meistens irgendwo am Ortseingang zu finden. Das Interesse für die Zinken — das Wort bedeutet lediglich Zeichen, Signum — hat entsprechend ihrer wachsenden Bedeutungslosigkeit stark nachgelassen. Ihre Geschichte und Entwicklung läßt sich nicht weit zurückverfolgen, wie das ja in der Natur des Gegenstands liegt. Die frühesten Wiedergaben von Zinken stammen auch erst aus den Jahrzehnten nach der kirchlichen Reformation. Damals wähnten manche Obrigkeiten, straff durchorganisierten katholischen „Mordbrenner-Banden" auf der Spur zu sein. Sie sollten angeblich ein ganzes System von „Zeichen" entwickelt haben, um in vollendeter Aufgabenteilung zwischen Vorbereitenden und Ausführenden sich einander die Objekte ihrer Brandstiftungen kenntlich zu machen. Selbstverständlich bekannten auch die so gräßlich gefolterten Wiedertäufer von Münster (1533—35), ihren Plan zur Ausrottung der Christenheit durch ein System geheimer „Teken" (Zeichen) unterbaut zu haben. Die vier ihnen
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durch die Tortur abgepreßten Zeichen erweisen sich aber noch heute bis auf eins als gewöhnliche Verständigungszinken Fahrender über Weiterwandern oder Treffpunkte. Als Grundform aller Zinken des fahrenden Volks ist der grob gezeichnete Pfeil anzusehen. Die Pfeilspitze gab den nachkommenden Freunden die Richtung an, in die man sich gewendet hatte; am anderen Pfeilende konnte man durch Strichelchen u. dgl. leicht andeuten, in welcher Stärke man voraus gewandert war, ob man die Kinder bei sich hatte u. ä. mehr. Neben diesen sozusagen allgemeinen Zinken gab es auch eine Art individueller Zinken, die gewissermaßen die Visitenkarte höherer Stände ersetzten. Jeder „berühmte" Fahrende zeichnete gern irgendwo sein den Freunden bekanntes Zeichen an; ein beigesetztes Datum gab den Tag des Durchpassierens an, ein ferneres Datum vielleicht den Tag, an dem man sich zukünftig wieder am gleichen Orte würde treffen können. Geheimzeichen waren die Zinken bereits dadurch, daß ihre Bedeutung vorwiegend nur jeweils dem kleinen Kreis bekannt war, der sich konventionell ihrer bediente; schon eine fremde Wandergruppe oder Gaunerclique konnte ja nie die richtige Deutung finden. Die Zinken dürfen also keineswegs als eine Art von graphischem Äquivalent des Rotwelsch betrachtet werden, das immerhin der Mehrzahl aller Fahrenden gemeinsam war. Ihre an sich etwas kümmerliche Entwicklung ist auch sicher nicht nur durch den Wunsch nach geheimen Verständigungszeichen gefördert, sondern auch durch das Analphabetentum fast aller Fahrenden einfach erzwungen worden, das eine reguläre gaunerische Geheimschrift eben unmöglich machte. Übrigens unterstreicht es die bereits hervorgehobene Zurückhaltung der Zigeuner gegen das deutsche Landstreichertum, daß sie ihr eigenes traditionelles Verständigungsmittel bis in die Neuzeit beibehielten: sie malten niemals Zinken, sondern legten unauffällige Richtungsweiser aus kleinen Steinen, Blättern u. dgl. an den Straßenrand. Von dem früheren ausgebreiteten System allgemeiner und individueller Zinken — wenn anders die etwas phantastischen Mitteilungen darüber überhaupt völlig auf Wahrheit beruhen — sind heute nur sehr kümmerliche Reste geblieben, die übrigens auch alles andere als eindeutig sind. Zwar ist ein Gitter immer als Warnung vor etwas äußerst Unangenehmem ausdeutbar; aber schon eine ausgestreckte Hand mit einigen Kreisen darin mag ebensogut bedeuten, daß man dort ein paar Geldstücke erhält oder aber ein paar Scheiben Brot. Jedenfalls hat das nahezu restlose Verschwinden der passionierten Landstraßenwanderer auch die Zinken schon bald völlig verlöschen lassen. Während ζ. B. um 1930 in fast jedem Dorf unschwer die ganze Reihe der
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Gaunersprache — Geldfälschung
konventionellen Zinken neben den Haustüren zu sammeln war — das fing oft schon auf dem Ortsschild selber an —, findet jetzt der aufmerksamste Forscher nur mit größter Mühe und vereinzelt noch dergleichen. Belgien und Ostfrankreich sollen nach glaubwürdigen Mitteilungen in der Hinsicht dem Kriminologen noch einige Ausbeute gewähren, desgleichen Italien und Spanien. In Deutschland aber darf das Gebiet der Zinken wohl berechtigt schon der Kriminalgeschichte zugewiesen werden. F . K l u g e : Botwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der verwandten Gehelmsprachen. I. Rotwelsches Quellenbuch. 1901. (Mehr nicht erschienen.) A. S i e g f r i e d : Zwanzig J a h r e Fürsorgearbeit für die Kinder des fahrenden Volkes. 1947. (Zentralaekretariat Pro Juventute). B . R a p p : SCHUM. Veröffentlichungen des Vereins für Pfälzische Ktrchengeschichte. I V (1952), Sonderdruck. 8. A. W o l f : Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. 1956. A. D i e c k : Die Musikanten von Sievershausen im Solling. Neues Archiv für Niedersachsen 9 (1957), S. 138. H. A r n o l d : Vaganten, Komödianten, Fieranten und Briganten. 1958. S. A. W o l f : Aus dem Wortschatz des Schweizer Jenischen. 0 . J . (1958). D e r s . : Großes Wörterbuch der Zigeunersprache (romani t5iw). Wortschatz deutscher und anderer europäischer Zigeunerdialekte. I 9 6 0 . D e r s . : Jiddisches Wörterbuch. Wortschatz des deutschen Grundbestandes der jiddischen (Jüdisch-deutschen) Sprache. 1962. S. L a n d m a n n : Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache. 1962. A. D i e c k : Die Wandermusikanten von Salzgitter. 1962. S I E G M U N D A. W O L F
GELDFÄLSCHUNG 1. Begriff und
Geschichte
a) Geldfälschung ist die Fälschung oder Verfälschung von Metall- oder Papiergeld ( = Münzen oder Banknoten). Geld ist jedes von einem Staat oder einer durch ihn dazu ermächtigten Stelle als Wertträger beglaubigte, zum Umlauf im öffentlichen Verkehr bestimmte Zahlungsmittel (RG 58, 255). Münzen und Banknoten behalten ihre Eigenschaft als Geld so lange, bis sie außer Kurs gesetzt, d. h. durch staatlichen Willensakt aus dem Zahlungsmittelumlauf endgültig herausgenommen werden. Werden Goldmünzen auf Grund staatlicher Maßnahmen währungspolitischer Art nicht mehr zu dem vom Ausgabestaat festgelegten Nennwert in Zahlung gegeben, so beweist das nicht, daß sie durch staatlichen Willensakt endgültig aus dem Zahlungsmittelumlauf herausgenommen worden wären (BGH 5 S t R 428/57, mit Hinweisen auf Urteile ausländischer Gerichte). In der Bundesrepublik Deutschland ist nur die Deutsche Bundesbank Notenbank. Sie ist als ermächtigte Stelle dazu berechtigt, Geld heraus-
zugeben (Art. 88 GG, § 14 des Ges. über die Deutsche Bundesbank v. 2 6 . 7 . 5 7 , BGBl. I, 745). Nach dem Gesetz vom 8. 7.1950 über die Ausprägung von Scheidemünzen (BGBl. I, 323) werden Münzen zu 1, 2, 5, 10 und 50 Dpf., 1, 2 und 5 DM in Auftrag und für Rechnung des Bundes unter Aufsicht des Bundesfinanzministers in den Münzstätten der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg geprägt und durch die Deutsche Bundesbank ausgegeben. Ausländisches Geld wird in vielen Staaten wie inländisches Geld gegen Fälschungen und Verfälschungen geschützt. Wegen der internationalen Bedeutung des Geldwesens gilt das Weltrechtsprinzip (§4, Abs. 3, Nr. 7 StGB), d.h.,der inländische Staat unterstellt jedes Geldverbrechen seiner Gerichtsbarkeit, auch wenn ausländisches Geld im Ausland gefälscht wurde. Begehungsort, Staatsangehörigkeit des Täters und Herausgeber des geschützten Geldes spielen im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung keine Rolle. Geschütztes Rechtsgut ist der internationale Geldsortenverkehr, nicht etwa das staatliche Münzregal. b) Die G e s c h i c h t e des Falschgeldes ist fast so alt wie die der Münzen selbst, welche für den europäischen Kulturkreis um 700 v. Chr. beginnt. Falschgeldherstellung und -Verbreitung ist schon frühzeitig Gegenstand der Gesetzgebung. Zur Zeit Solons (640—nach 561 v. Chr.) wurde den Falschmünzern die Todesstrafe angedroht. Die Sullanische Gesetzgebung strafte in der Lex Cornelia testamentaria nummaria die Geldverbrechen als Urkundendelikte. In der nachkonstantinischen Zeit wird die Falschmünzerei als ein Eingriff in staatliche Befugnisse betrachtet (ein Verzeichnis der kaiserlichen Gesetze gegen Falschmünzerei in: Paulys Real-Enzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. 2. Bearb., hrsg. von Wissowa, Kroll u. a., ab 1894. VI, S. 1976). Es wurden schon verschiedene Techniken angewandt, zunächst der Guß mit minderwertigem Metall. Als Form dienten dabei Stücke gebrannten Tons, in die man im Weichzustand echte Münzen abgedrückt hatte. Die Gußformen bildeten gewöhnlich Rollen, in welchen zu gleicher Zeit eine größere Anzahl von Münzen gegossen werden konnte. Weiter war das Prägeverfahren üblich, wobei ein Kupferkern dünn mit Gold oder Silber überzogen wurde. Diese Technik, bereits zu Solons Zeiten bekannt, wurde von den Römern übernommen,die sie an die Gallier weitergaben. Das altdeutsche Recht sieht in dem Falschmünzer den Schädling an Staat, Kirche und den Armen. Als Täter kommt vor allem der Münzmeister in Frage, der mit echtem Stempel untergewichtige Münzen oder Münzen aus Metall minderen Wertes herstellt. Der Falschmünzer
Geldfälschung wurde nach karolingischem und dem älteren angelsächsischen Recht mit Handabhauen bestraft. Das jüngere angelsächsische und das jütische Recht bestraften ihn mit dem Tode. Wer falsche Münzen besaß, wurde nach angelsächsischem Recht als Fälscher betrachtet. Auch im deutschen Mittelalter wurde der Verbreiter falschen Geldes wie der Fälscher bestraft. Im 13. Jahrhundert kam die Strafe des Siedens für den Fälscher auf und später der Feuertod. Der Verbreiter konnte milder bestraft werden als der Fälscher, insbesondere wenn nicht der Besitz größerer Beträge falschen Geldes nachzuweisen war. Die Constitutio Criminalis Carolinae kennt drei Münzverbrechen (Art. 111): Die Herstellung und Verbreitung falscher Münzen, das Verfälschen echter Münzen und die Münzverringerung. Die letztgenannten Delikte wurden mit Leib- oder Geldstrafe bedroht, die Falschmünzerei und die Verbreitung falscher Münzen mit dem Feuertode. Aber die schweren Strafen konnten nicht verhindern, daß im 16. Jahrhundert die Münzverbrechen mehr und mehr um sich griffen und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreichten. Begründet waren die Mißstände in der Organisation des Münzwesens und in der Technik der Prägung. Die Münzgerechtsame, ursprünglich in der Hand des Königs, war an Herzöge, Bischöfe, Grafen und Städte vergeben. Diese verpachteten die Gerechtsame zumeist an einen Unternehmer, der sich gegen einen Pachtzins verpflichtete, die Münze einzurichten, das Personal zu stellen und nur Münzen bestimmter Sorten zu schlagen. Trotz vielfältiger Sicherungen besonders bestellter Aufsichtspersonen aus der Verwaltung und der Überwachung durch den Münzwardein, blieb den Münzmeistern Gelegenheit genug, sich zu bereichern. Sie prägten für sich Münzen aus minderwertigem Metall, überzogen Bleiplatten mit dünnem Goldblech und schlugen daraus „Goldmünzen" oder schlugen heimlich fremde Münzen nach. Die Falschmünzer arbeiteten ζ. T. sehr geschickt. So kamen um 1480 in den Niederlanden falsche Goldgulden in den Verkehr, die einen gut vergoldeten Kupferkern hatten, der von einem dickeren Goldreifen umgeben war. So waren sie am Strich (dabei wurde die Münze mit der Kante über den Probierstein gezogen, um zu erkennen, ob sie nicht nur oberflächlich versilbert bzw. vergoldet war) nicht als falsch zu erkennen. Auch der Klang verriet sie nicht. Verschiedene Flugblätter, die um 1481 in Ulm und Augsburg gedruckt wurden, berichteten ausführlich über diese Fälschung. Die Produkte der bis ins 17. Jahrhundert angewandten Prägetechnik boten auch Gelegenheit zu Münzverbrechen, die heute praktisch kaum noch eine Rolle spielen, das Kippen und das Wippen. Da die Münzen nicht bis an den Rand
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ausgeprägt waren, konnte man ihn abschneiden (frühnhd. kippen) und sich so einen Gewinn verschaffen. Einfacher war es, Münzen, deren Gewicht über dem Durchschnitt lag, durch Wägen (Wippen) auszusondern und einzuschmelzen. Da die Gewichte von Münzen gleicher Sorten stark schwankten, wurde auf die Weise der Wert der umlaufenden Münzen verringert. Als sich auch die Inhaber der Münzregale etwa ab 1600 dieser Methoden bedienten oder die Münzpächter durch hohe Pachtsummen zumindest indirekt dazu veranlaßten, kam es in den Jahren 1618—23, der Kipper- und Wipper-Zeit, in Deutschland zu einer Inflation. Die Münzverringerung wurde aber auch dann noch ausgiebig betrieben, als die verbesserte Prägetechnik das einfache Beschneiden der Münzen nicht mehr zuließ. Solange die herausgegebenen Münzen Kurantmünzen waren, d. h. solche, deren Metallwert dem Kurswert entsprach, war dieses Geschäft lohnend. Als im absolutistischen Staat die Münzhoheit Bestandteil der Staatsgewalt geworden war, wurde die Falschmünzerei als Eingriff in staatliche Regalien betrachtet, während ein Teil der Kriminalgesetzgebung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder die Idee des Verbrechens gegen öffentliche Treue und Glauben in den Vordergrund rückt. War bis zur Neuordnung des Münzwesens im 17. Jahrhundert häufig genug der Münzer selbst als Falschmünzer in Erscheinung getreten, so treten jetzt mehr und mehr andere Personen als Falschmünzer auf, einzeln und in Banden organisiert. Eine besondere Chance ergibt sich aus dem aufblühenden Handel mit fernen Ländern mit kaum bekannten Geldsorten. So stellte 1683 der herzogliche Münzmeister zu Braunschweig eine große Menge geringhaltiger Guldenstücke eines angeblichen Prinzen zu Japan zum Vertrieb nach Rußland her und wurde deshalb zu 10000 Taler Strafe verurteilt. Um 1792 wurden in Birmingham falsche Piaster für den Handel nach China erzeugt. Als die Banknote zu Anfang des 18. Jahrhunderts im größeren Umfang als Zahlungsmittel in Europa eingeführt wurde, ergab sich ein neues Betätigungsfeld für Fälscher. Um die Mitte dieses Jahrhunderts wurden in England die ersten Banknotenfälscher festgestellt, die bald viele Nachfolger finden. 1820 wird ζ. B. aus Dänemark berichtet, daß eine 49 Kopf starke Bande als Hersteller und Verbreiter falscher Banknoten festgenommen und bestraft wurde. Die bei 11 Personen erkannte Todesstrafe wurde in Staupbesen und lebenslängliche Zwangsarbeit gemildert. London war zu dieser Zeit ein Eldorado für Falschmünzer, die durch die lückenhafte Gesetzgebung begünstigt wurden. Hier wurde auch ausländisches Geld im größten Umfang gefälscht. Die technische Entwicklung zeigte immer neue Möglichkeiten zur Fälschung von Banknoten
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und Münzen. Die Lithographie (1797) bot sich wegen der Leichtigkeit, mit der eine Vorlage auf den Stein übertragen werden konnte, für die Fälschung von Noten an. Vor allem wurde dieses Verfahren in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Fälschung von Zins- und Gewinnanteilscheinen benutzt, die drucktechnisch nicht so geschützt waren wie die Banknoten, aber wie diese im Zahlungsverkehr behandelt wurden. Fälscher und Verbreiter stellten dabei noch den Umstand in Rechnung, daß diese Coupons vom Empfänger weniger genau geprüft wurden, da es sich um geringere Werte handelte. Stieber weist schon 1860 auf die Anwendung der Daguerreotypie (1837) und der Galvanoplastik (1839) bei der Geldfälschung hin. In den sechziger Jahren waren bereits kolorierte Photographien von Banknoten und solche Falschmünzen im Umlauf, die mit Hilfe des galvanoplastischen Verfahrens in einer Weise hergestellt waren, wie sie noch heute üblich ist. Eine technisch diffizile Art der Münzverfälschung kam um die Mitte des Jahrhunderts in den Blickwinkel der deutschen Polizei, das „George-Plateroon". Dabei wurden Rand, Avers und Revers von großen Silbermünzen säuberlich abgesägt, diese auf eine Zinnplatte gelötet und so der Silberkern gewonnen. Die Arbeitsweise war in England schon um 1700 bekannt. Das Delikt der Münzverfälschung erlebte jetzt in Deutschland eine letzte Blüte: Die zahlreichen im Umlauf befindlichen Münzsorten — einmal schlug jedes Land seine eigenen Münzen, zum andern galten noch Münzen aus der Zeit Friedrichs des Großen — boten hinreichend Material an geringwertigen Münzen, die versilbert oder vergoldet einem Silber- oder Goldstück ähnelten. Nach dem Übergang der Münzhoheit auf das Deutsche Reich im Jahr 1871 wurde die Zahl der Münzsorten zwar verringert, bis 1816 wurden aber noch etwa 400 verschiedene Goldmünzen geprägt. Erst mit der Aufgabe der Goldwährung entfiel eine wesentliche Voraussetzung für die Münzverfälschung im Sinne einer Werterhöhung. Von nun an beherrschten bei Münzen die Totalfälschungen das Feld.
2. Das geltende Recht Die im 8. Abschnitt des StGB zusammengefaßten Tatbestände haben im wesentlichen die §§ 121—124 des preuß. StGB von 1851 zum Vorbild. Der Entwurf von 1962 bringt die Tatbestände, die der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Geldverkehrs dienen, mit den Urkundenstraftaten im zweiten Titel des vierten Abschnittes „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung" unter. a) Die H e r s t e l l u n g von Falschgeld, das ist das Nachmachen oder die Verfälschung von inoder ausländischem Metall- oder Papiergeld in der Absicht, das Produkt als Geld in den Verkehr zu
bringen, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bedroht (§ 146 StGB). Die Nachbildung muß so sein, daß im gewöhnlichen Verkehr eine Täuschung des Publikums eintreten kann. Die Veränderung von verrufenem Geld ist auch eine Nachahmung, brauchte deshalb nicht besonders erwähnt zu werden. Insofern ist der Wortlaut des § 146 nicht folgerichtig. Der Entwurf (§ 312, Abs. 1 Nr. 1) führt diesen Sonderfall der Nachahmung auch nicht mehr auf. Verfälschung ist die Veränderung von echtem Geld, um ihm den Anschein eines höheren Wertes zu geben. Inverkehrbringen heißt, das Geld so in Umlauf setzen, daß es ohne weitere Einflußnahme durch den Täter von Hand zu Hand weiterwandern kann. Vollendet ist das Delikt mit der Herstellung verwechslungsfähiger Nachahmungen oder Verfälschungen in der Absicht des Inverkehrbringens. Das Inverkehrbringen gehört nicht zum Tatbestand. Als Vorbereitungshandlung wird die Anfertigung oder Anschaffung von Stempeln, Siegeln, Stichen und Platten oder anderen zur Anfertigung von Metall- oder Papiergeld dienlichen Formen mit Strafe bedroht (§ 151 StGB). Die Anschaffung oder Anfertigung muß zum Zwecke der Begehung eines eigenen oder als Beihilfe zu einem fremden Münzverbrechen geschehen. Im Entwurf 1962 werden die Vorbereitung der Fälschung von Geld und die Vorbereitung der Fälschung von Wertzeichen und Ausweisen zusammengefaßt (§ 318). Bei freiwilligem Rücktritt vom Versuch der Geldfälschung bleibt die Vorbereitungshandlung bestehen, eine Strafbarkeit nach § 151 entfällt nicht. Anders der Entwurf (§ 318, Abs. 2 u. 3), der ausdrücklich Straffreiheit bei tätiger Reue vorsieht. b) Die V e r b r e i t u n g von Falschgeld wird wie die Herstellung bestraft. Verbreitung bedeutet das Inverkehrbringen nachgemachten oder verfälschten Geldes durch den Täter, der das Geld ursprünglich ohne die Absicht des Inverkehrbringens hergestellt hat oder durch den Täter, der sich wissentlich falsches Geld verschafft hat (§147 StGB); sowie das Verschaffen falschen Geldes im Auslande und seine Einfuhr zum Zwecke der Verbreitung (§ 147 StGB). c) Das A b s c h i e b e n von Falschgeld, d. i. die Weitergabe von falschem oder verfälschtem Gelde, das der Täter gutgläubig als echt empfangen hat, dann aber als falsch erkennt und als echt weitergibt, wird mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft (§148 StGB). Der Entwurf (§ 314) sieht die Bestrafung des Mittelsmannes ausdrücklich vor und erweitert den Strafrahmen. d) M ü n z v e r r i n g e r u n g und das Inverkehrbringen verringerter Münzen (§ 150 StGB) wird mit Gefängnis bestraft: Echte kursfähige Münzej werden mit beliebigen technischen Mitteln ge
Geldfälschung wichtsmäßig verringert und vom Verringerer in Verkehr gebracht ( = Kippen). Der Täter bringt gewohnheitsmäßig oder im Einverständnis mit dem Verringerer verringerte Münzen in den Verkehr ( = Wippen). Beide Tatbestände sind ζ. Z. im Hinblick auf die inländischen Münzsorten von geringem praktischem Interesse (von 1950 bis 1960 zwei Verurteilungen aus § 150). Im Entwurf ist der Wortlaut der einschlägigen Bestimmung (§ 313) dem der über Geldfälschungen (§ 312) angepaßt. e) Den Banknoten g l e i c h g e s t e l l t e W e r t p a p i e r e führt § 149 auf. Es sind auf den Inhaber lautende Schuldverschreibungen, Banknoten, Aktien oder deren Stelle vertretende Interimsscheine oder Quittungen sowie die zu diesen Papieren gehörenden Zins-, Gewinnanteils- und Erneuerungsscheine, welche von einem Staate oder von einer zur Ausgabe solcher Papiere berechtigten Stelle ausgestellt sind. Der Entwurf (§ 316) bezieht auch den Reisescheck in den Kreis der Papiere ein, die strafrechtlich wie Banknoten geschützt sein sollen. Reiseschecks, zuerst 1891 von der American Express Company ausgegeben (Ameco-Schecks), haben in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg im deutschen Zahlungsverkehr erheblich an Bedeutung gewonnen. f) Der Notwendigkeit, Falschgeldverbrechen möglichst nicht zur Ausführung kommen zu lassen, werden einige B e s t i m m u n g e n überwiegend v e r h ü t e n d e n C h a r a k t e r s gerecht. Die Unterlassung einer Anzeige von einem geplanten Münz verbrechen (§§ 146 u. 147 StGB) ist — sofern der Anzeigepflichtige von dem Vorhaben eines Münzverbrechens zu einer Zeit, zu welcher die Verhütung des Münzverbrechens möglich war, Kenntnis hatte — mit Strafe bedroht (§ 139 StGB). Als Übertretung wird bestraft: die Anfertigung von Stempeln, Siegeln, Stichen, Platten und anderen Formen, welche zur Herstellung von Metalloder Papiergeld oder dem Papiergeld gleichzuachtenden Papieren dienen können, sowie deren Weitergabe ohne schriftlichen Behördenauftrag (§ 360, Ziff. 4 StGB); das Abdrucken dieser Stempel usw. sowie die Weitergabe solcher Abdrucke ohne schriftlichen Behördenauftrag (§ 360, Ziff. 5 StGB); die Herstellung oder Verbreitung von Drucksachen oder Abbildungen, welche in der Form oder Verzierung dem Falschgeld verwechselbar ähnlich sind („Blüten"), und die Herstellung von Druckformen, die zur Herstellung von „Blüten" dienen können (§ 360, Ziff. 6 StGB). Der Täter muß diese Übertretungen ohne jeden weiteren Fälschungsvorsatz begangen haben. Eine entsprechende Bestimmung in bezug auf Münzen enthält die VO. des Reichsfinanzmi17
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nisters über die Herstellung von Medaillen und Marken vom 2 7 . 1 2 . 1 9 2 8 (RGBl. I, 1929, S. 2). In ihr ist vorgeschrieben, wie Medaillen gestaltet werden sollen, damit sie nicht mit Geldmünzen verwechselt werden können. g) Die E i n z i e h u n g der in § 151 S t G B aufgeführten Druckformen und des Falschgeldes ist zwingend vorgeschrieben, auch wenn die Verfolgung oder Verurteilung einer bestimmten Person nicht stattfindet (§ 152 StGB). Die im § 360 Ziff. 4—6 aufgezählten Druckformen und die damit hergestellten Abdrucke können ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse eingezogen werden.
3. Die Tat a) Die Methoden der F a l s c h g e l d h e r s t e l l u n g zielen im allgemeinen darauf hin, mit möglichst geringem Aufwand Falsifikate zu erzeugen, die ohne besondere Prüfung als echt durchgehen. Die zur Herstellung falscher Münzen angewendeten Verfahren sind zahlreich, sie stellen aber nichts anderes als Variationen von drei Grundverfahren dar: Das Gußverfahren, das galvanoplastische Verfahren, das Prägeverfahren. Zum Guß gehören Formen und Metalle oder Legierungen mit nicht zu hohem Schmelzpunkt. Das Metall soll dem der echten Münze im Aussehen nach Möglichkeit ähneln. Die Formen werden in der Hauptsache aus Gips, aber auch aus Metall und seltener aus Lehm oder Formsand angefertigt. Auch Holzformen wurden schon verwendet. Gipsformen sind schnell verbraucht. Sie erlauben auch nur die Verwendung von Metallen oder Legierungen mit einem Schmelzpunkt unter 400°. Da sie aber ohne besondere Sachkunde hergestellt werden können, werden sie häufig benutzt. Metallformen (Kokillen) sind, wenn zum Guß Metalle oder Legierungen mit verhältnismäßig niedrigem Schmelzpunkt Verwendung finden, unbegrenzt haltbar. Die Nachahmung der Rändelung oder der Randbeschriftung stellt für die Fälscher ein besonderes Problem dar, das zwar auf verschiedene Art und Weise gelöst werden kann, aber doch nur selten gelöst wird. Im Gußverfahren hergestellte Fälschungen sind deshalb regelmäßig am unsauberen Rand zu erkennen. Weitere Merkmale sind unscharfe Prägebilder, dumpfer Klang und ein von der echten Münze abweichender Farbton. Das galvanoplastische Verfahren ist zur Wiedergabe feinster Einzelheiten gut geeignet und bietet sich deshalb für die Münzfälschung an. Als Metall wird vom Fälscher regelmäßig Kupfer gebraucht, da es sich am leichtesten und schnellsten niederschlägt. Soll das Galvano als Prägematrize verwendet werden, wird Nickel vorgezogen. Die Galvanoplastiken der zu fälschenden Münzen sind nur verhältnismäßig
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dünne Folien, die auf einen Kern passender Größe gebracht werden müssen. Als Kern dienen Metallscheiben mit einem entsprechenden Durchmesser. Sind die Galvanos auf den Kern gebracht und ist der Rand hergestellt, erhält der kupferne Rohling einen Metallüberzug aus Silber (galvanisch oder in Form der Sud- bzw. Anreibeversilberung). Die im galvanoplastischen Verfahren hergestellten Münzen zeigen zwar meist ein origninalgetreues Gepräge, sind aber am unsauberen Rand und vor allem am Klang zu erkennen. Das Prägeverfahren ist die Methode der Wahl, da hier vom Verfahren her kein Unterschied gegenüber den echten Münzen besteht. Die Prägung erlaubt auch, für die Fälschung ein Metall zu benutzen, das dem der echten Münze weitgehend gleicht. Es gibt nicht viele Fälscher, welche die Verwendung eines verhältnismäßig harten Metalles anstreben, da einige technische Schwierigkeiten, die vor allem in der Herstellung geeigneter Werkzeuge liegen, zu überwinden sind. Das Schneiden von Stahlstempeln erfordert besondere Kenntnisse und Fertigkeiten. Andere Verfahren, die Stempel herzustellen, sind einfacher, führen aber auch nicht zu guten Ergebnissen. Auch der prägende Fälscher wird nur selten mit der Gestaltung des Münzrandes fertig, wenn dieser Arabesken oder eine Randschrift aufweist, während die Herstellung einer Randriffelung mit verhältnismäßig einfachen Geräten möglich ist. Der Rand verrät aber auch hier am ehesten die Fälschung. Außer den Massivprägungen, das sind solche, bei denen die Münze aus einem Stück Metall angefertigt ist, werden im Prägeverfahren auch Vorder- und Rückseite der Münze unter Verwendung von Kupfer- oder Messingblechen hergestellt, die dann wie Galvanos weiterverarbeitet werden. Die fertigen Exemplare weisen die gleichen Mängel wie die Galvanos auf. Wenn es auch technisch nicht möglich ist, eine Münze so nachzumachen, daß keine Unterschiede zwischen der echten und der falschen Münze festzustellen sind, so können im Prägeverfahren doch ausgezeichnete Falsifikate hergestellt werden. Die Fälschung von Banknoten erfordert aufs Ganze gesehen mehr handwerkliches Können als die Fälschung von Münzen, insbesondere, wenn Druckverfahren angewendet werden. Es gibt aber auch Methoden, die mit einfachen Mitteln die Herstellung einer wenn auch primitiven Fälschung ermöglichen. Die am häufigsten gebrauchten Verfahren lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen: Herstellung von Fälschungen unter Verwendung von Teilen echter Noten; Herstellung durch Handzeichnung; Herstellung durch Photographie oder Photokopie; Herstellung im Flachdruck-, Hochdruck- oder Tiefdruckverfahren.
Bei der Herstellung von falschen Noten unter Verwendung von Teilen echter werden einmal die echten Noten so aufgespalten, daß Vorder- und Rückseite voneinander getrennt und unter Verwendung einer entsprechenden Handzeichnung, Fotokopie oder ähnlicher „Ersatzstücke" zu zwei Noten ergänzt werden. Zum andern können eine größere Zahl echter Noten (etwa zehn) so zerschnitten werden, daß die Teile unter Verwendung von Klebstreifen zusammengefügt eine Note mehr ergeben. Diese Fälschungen heißen „Systemnoten", da sie nach einem bestimmten System zerschnitten und zusammengesetzt werden müssen. Das Zeichnen einer falschen Note erfordert weniger eine künstlerische Begabung als die Qualitäten eines technischen Zeichners. Die großen Linien der Vorlage werden durch eine Pause oder durch eine Schablone auf geeignetes Papier übertragen. Dieses Gerippe wird mit entsprechenden Farben nachgezogen und die Zeichnung freihändig vervollständigt. Bei Handzeichnungen handelt es sich gewöhnlich nur um wenige Exemplare, die von einem Fälscher in Umlauf gesetzt werden. Die Herstellung von mehr als 300 handgezeichneten 50-DM-Noten durch einen Zeichner in der Zeit von 1950 bis 1954 ist eine Ausnahme. Die Photographie oder Photokopie erfordert geeignete Geräte, aber keine besonderen Fertigkeiten. Das Photopapier wird aufgespalten oder abgeschmirgelt, damit das Falschstück nicht zu dick wird. Die Reproduktionen werden koloriert. Die Druckverfahren erlauben die Herstellung guter Fälschungen, wenn der Fälscher über die erforderlichen Fertigkeiten und Einrichtungen verfügt. Es ist erstaunlich, daß immer wieder Fälscher auftreten, die allein sämtliche Arbeiten von der Herstellung der Druckformen bis zum Ausdrucken verrichten. Die Herstellung der Druckformen ist dabei der schwierigste Arbeitsgang. Beim Flachdruck kann das Bild manuell, mit Hilfe eines Umdrucks oder durch ein fotomechanisches Verfahren auf den Druckformträger (Lithographiestein, Zink, Aluminium, Bibzw. Trimetallplatten) übertragen werden. Auch Hoch- und Tiefdruckformen können völlig manuell angefertigt werden. Es ist aber nicht möglich, auf diese Weise brauchbare Druckformen für eine Banknotenfälschung herzustellen. Die Anfertigung von Farbauszügen durch Abpausen des Originals, wie sie beim Flachdruck noch angängig ist, ist der Möglichkeit, im Hoch- und im Tiefdruckverfahren feinste Linien und Punkte wiederzugeben, nicht entsprechend. Die Herstellung guter Druckformen setzt die photographische Übertragung der Zeichnung des Originals voraus. Dazu werden von Vorder- und Rückseite der Banknote Aufnahmen gemacht und davon Vergrößerungen hergestellt. Die Vergrößerungen
Geldfälschung dienen als Grundlage für die Herstellung der Farbauszüge, die entweder durch Pausen oder durch Abdecken der Linien und Punkte gleicher Farbe und Abschwächen des übrigen Bildes erzielt werden. Die Farbauszüge werden photographisch wieder auf das Originalformat gebracht und auf die Druckplatte kopiert, die dann hoch- oder tiefgeätzt wird. Nicht selten versucht der Fälscher, die Schwierigkeiten dieses Arbeitsprozesses dadurch zu umgehen, daß er einem graphischen Betrieb den Auftrag gibt, Klischees für einen Reklamedruck anzufertigen, in dem die Banknote oder Teile der Banknote in natürlicher Größe erscheinen. Aufträge von Ausländern an inländische Druckereien über die vollständige Herstellung ausländischer Banknoten zeugen nur von der Naivität der „Besteller". Ein auf der gleichen Linie liegendes, aber sorgfältig geplantes und mit Hilfe gefälschter Urkunden erfolgreich durchgeführtes Unternehmen stellt die portugiesische Banknoten-Affäre dar. 1925 spiegelte ein Konsortium von Betrügern einer englischen Druckerei einen Auftrag der Verwaltung von Angola über den Druck von 580000 Noten zu 500 Escudos mit Erfolg vor. Das Papier, welches zur Herstellung falscher Noten benutzt wird, stimmt selten mit dem der echten annähernd überein. Daß es speziell für die Fälschung hergestellt wird, kommt kaum vor. Der Fälscher begnügt sich durchweg mit einem Papier, das in bezug auf Stärke, Griff und Klang etwa dem der echten Noten entspricht. Zur Imitation der Wasserzeichen, Textilfäden, Metalldrähte oder -folien, Melierfasern und anderer Besonderheiten, mit denen das Papier einer echten Banknote ausgestattet wird, um eine Fälschung zu erschweren, sind ζ. T. überraschend einfache, aber zweckmäßige Verfahren erdacht. Die zum Druck erforderlichen Pressen sind zwar durch primitive Geräte zu ersetzen, gute Druckplatten können aber auch nur in entsprechenden Pressen eine größere Zahl völlig einwandfreier Drucke liefern. Ein guter Druck läßt aber keineswegs den Schluß zu, daß er in einer Druckerei oder entsprechend einer Druckerei eingerichteten Werkstatt hergestellt wurde. Der Fälscher legt häufig Wert darauf, die zum Druck notwendigen Geräte möglichst klein zu halten oder leicht zerlegbar zu konstruieren, um sie besser verstecken zu können oder solche Geräte zu benutzen, deren Besitz unverfänglich ist, die aber doch in kurzer Zeit für die Falschgeldherstellung eingerichtet werden können. Da mit selbstgebauten Geräten größere Auflagen in kurzer Zeit nicht angefertigt werden können, bemühen sich die Organisatoren von Fälscherbanden, Druckereibesitzer für ihr Vorhaben zu gewinnen, vollständig eingerichtete Werkstätten anzumieten oder selbst solche Werk17*
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stätten einzurichten und die notwendigen Fachleute zu kaufen. Die Herstellung von Banknoten im Druckverfahren wird neben der Falschgeldverbreitung und der Ermittlungstätigkeit in dem vom Generalsekretariat der Internationalen kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) 1954 herausgegebenen Film „Falschgeld und seine Bekämpfung" gezeigt. Die Herstellung falscher Münzen und Noten stellen die Filmreihen „Die Herstellung falscher Münzen I — I I I " und „Die Herstellung falscher Noten I — I I I " dar, die von H.-H. Huelke und H. Lücke im Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen 1955—56 hergestellt wurden (für den Hochschulunterricht bearbeitet und veröffentlicht durch das Institut für den Wissenschaftlichen Film, Göttingen — wissenschaftliche Füme C 715—720/1956). b) Die V e r b r e i t u n g kleinerer Mengen Falschgeld erfolgt in der Regel dadurch, daß mit dem Falschstück Einkäufe oder kleinere Dienstleistungen bezahlt werden. Dabei kommt es dem Verbreiter nicht auf die Ware oder die Dienstleistung, sondern auf das Wechselgeld an. Da das Mitführen mehrerer Falschstücke gefährlich ist, arbeiten auch zwei Personen zusammen, von denen nur eine als Käufer auftritt, die andere das „Depot" hat und die gekaufte Ware und das Wechselgeld übernimmt. Bevorzugt werden kleinere Läden, Kioske, Stände auf Märkten, kurz solche Geschäfte, in denen eine kritische Überprüfung des Geldes in der Regel unterbleibt. Das Einzahlen von Falschgeld durch den Verbreiter an Zahlstellen, die mit kundigen Kassierern besetzt sind, wird nur selten gewagt, ist aber schon notwendiger Teil eines wohlüberlegten und gut vorbereiteten Absatzplanes gewesen. Ausländisches Falschgeld wird verpfändet, in Hotels, Bars und Wechselstuben umgesetzt. Dabei kommt dem Verbreiter zugute, daß der Empfänger häufig die ausländische Note oder Münze nicht genau kennt. So ist es auch erklärlich, daß Phantasienoten („Geld" nicht existierender Staaten, Spielgeld) ihre Abnehmer finden, wenn sie nur den Anschein ausländischen Geldes erwecken. Ganz allgemein ist festzustellen, daß vor allem in Jahren wirtschaftlichen Wohlstandes der nicht geschulte oder gewarnte Empfänger von Banknoten oder Münzen diesen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt, um auch nur mittelmäßige und sogar schlechte Fälschungen als solche zu erkennen, selbst wenn es sich um Fünfzig- oder Hundertmarkscheine handelt. Hier spielen intellektuelles Unvermögen nur selten, psychische Hemmungen oder Situationszwang fast immer eine Rolle. Bemerkenswert ist, daß einige Verbreiter auch über längere Zeit bestimmte Stellen zum Absatz der Falschstücke bevorzugen, ζ. B . Wochenmärkte, Lichtspieltheater, Tabakwarengeschäfte, Automaten.
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Geldfälschung
Den kurzen Weg von der Werkstatt in den Geldumlauf geht nur das in kleineren Mengen handwerklich hergestellte Falschgeld. Hier ist der Fälscher zumeist auch Verbreiter, wobei ihm von Angehörigen oder schon bei der Herstellung mitwirkenden guten Freunden Beistand geleistet wird. Die Falschstücke werden häufig umgesetzt, sobald sie fertiggstellt sind, weil der Fälscher in Geldnot ist. Umsichtige Fälscher stellen erst die ganze Auflage her, vernichten alle zur Herstellung notwendigen Geräte und Materialreste oder verbergen sie zumindest sorgfältig und beginnen erst dann mit der Verbreitung. Das ist auch in der Regel die Arbeitsweise der industriellen Fälscher. Das hergestellte Falschgeld — es handelt sich nicht selten um Millionenbeträge — wird auf Lager gelegt, bis die Auflage ausgedruckt ist, und dann erst an den Großverteiler gegeben. Dieser setzt es in mehreren Partien an die Verteiler ab, und von denen geht es mit oder ohne Zwischenhandel an die Verausgaber. Der Preis für das Falschgeld steigt dabei von etwa 5% bis auf 40% des Nennwertes. Die Vertriebsorganisation ist nur selten eng mit der Herstellerbande verbunden. Sie kann ad hoc aufgebaut werden oder bereits für andere Zwecke, ζ. B. für den Rauschgifthandel, bestehen. Auch Banken wurden schon, mit oder ohne Wissen der verantwortlichen Personen, in den Vertrieb von Falschgeld eingeschaltet. Hauptabsatzgebiet ist das Land, dessen Geld gefälscht wurde, ganz gleich, wo es hergestellt ist. Nur Banknoten begehrter Währungen (ζ. B. US-Dollar) werden im größeren Umfang in vielen Ländern verbreitet. Da sich genug Leute finden, die als Endverteiler Falschgeld aufkaufen, konnte auch eine besondere Art des Betruges gedeihen; Nepper zeigen Interessenten echte Banknoten als Falschgeld vor und behaupten, größere Mengen beschaffen zu können, lassen sich einen Vorschuß geben und verschwinden damit oder übergeben dem Käufer ein Päckchen, das Papierstücke entsprechender Größe enthält. Dieses Geschäft ist schon im größten Ausmaße betrieben. 1871 wurden in New York mehrere Schwindelfirmen aufgedeckt, die sich erboten, für 6 Dollar gefälschte Noten im Wert von 100 Dollar zu übersenden; natürlich nur gegen Vorauskasse. Bei einer dieser Firmen sollen etwa 10000 Briefe von Leuten eingegangen sein, die auf diese Weise reich werden wollten. Schwindler, die angeblich eine Maschine erfunden haben, mit der Banknoten auf die einfachste Art und Weise fabriziert werden können, hat u. a. Liebermann von Sonnenberg beschrieben. Sie haben ihre Vorgänger in den Kesuv- oder Kesefpflanzern (Silbergeldmachern) des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Einzelgänger und Banden können auf benachbarte Tätigkeitsgebiete ausweichen, wenn es
lukrativer oder auch gefahrloser erscheint. In Zeiten der Lebensmittel- und Konsumgüterbewirtschaftung werden Bezugsberechtigungen gefälscht. Außer Kurs gesetzte Goldmünzen, die als Kapitalanlage betrachtet und gesucht werden, im Bankverkehr Schalterware genannt, sind nach dem zweiten Weltkrieg für Fälscherbanden ein beliebtes Objekt geworden. Der Absatz solcher Münzen ist selbst über Bankinstitute möglich gewesen. Da ihr Handelswert nicht allein vom Feingehalt, der von den Falsifikaten immer innegehalten und auch übertroffen wird, abhängig ist, sondern auch vom Münzbild, liegt hier Betrug vor. Die Fälscher, die solche als Thesaurierungsmittel gesuchten Goldmünzen im großen Umfang herstellen, sind nicht mit jenen zu verwechseln, welche alte Münzen, die kunsthistorischen oder numismatischen Wert haben, nachahmen. 4. Die Täter
Die Zahl der wegen Münzverbrechen und -vergehen jährlich Verurteilten ist verhältnismäßig gering (s. die Tabellen), sie ist meist geringer als die Zahl der Mörder und Totschläger. Die Statistik weist über diese kleine Gruppe (Kriminalitätsziffern von 1932 bis 1936 — §§ 146, 147 zwischen 1,55 und 0,43; von 1954 bis 1960 — — §§ 146—152 — ausgenommen das Jahr 1958 mit 0,8, auf das unten noch besonders eingegangen wird, zwischen 0,3 und 0,1) nur wenig Besonderes aus. Bemerkenswert ist der Anteil der Vorbestraften. Er lag von 1932 bis 1939 immer über 50%, er ist nach dem Kriege etwas geringer geworden, liegt aber noch über dem Anteil der Vorbestraften an der Gesamtzahl der Verurteilten. Ob sich unter den Vorbestraften eine größere Zahl von Personen befindet, die wegen Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld bereits bestraft sind, bedarf noch einer Untersuchung. Das übersehbare Material aus der Zeit nach der Währungsreform kann wegen der kurzen Zeitspanne nicht als repräsentativ angesehen werden. Die kriminalpolizeiliche Praxis geht insbesondere bei den Ermittlungen nach unbekannten Herstellern davon aus, daß einige der einschlägig Bestraften früher oder später ihre Tätigkeit auf diesem Gebiet wieder aufnehmen. Berücksichtigt man, daß einmal die einschlägigen Straftatbestände die unterschiedlichsten Handlungen umschreiben und daß zum andern schon unter den Begriff „Hersteller" Personen zusammengefaßt werden, welche auf die verschiedenste Art und Weise tätig geworden sind, so kann man nicht erwarten, daß die Verurteilten, die hinter den von der Statistik ausgewiesenen Zahlen stehen, einen besonderen Typ darstellten. a) H e r s t e l l e r im technischen Sinne sind nur ein Teil der wegen Falschgeldherstellung ver-
Geldfälschung urteilten Personen. Aber auch diese eingeengte Gruppe läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. Die oft aufgestellte, aber dadurch nicht beweiskräftiger gewordene Behauptung, Falschgeldhersteller rekrutierten sich vor allem aus den einschlägigen Berufsgruppen, wie Graveure, Lithographen, Buchdrucker, Photographen, ist nicht begründet. Über die Hälfte der Fälscher bedient sich ohnehin solcher Verfahren, die keine besonderen Fachkenntnisse voraussetzen, sie gießen Münzen, zeichnen, photokopieren. Unter denen · die sich qualifizierter Verfahren bedienen, wie Prägung und Druck, befindet sich manch einer, der von seinem Beruf her nicht die dazu notwendigen Fertigkeiten mitbringt und doch die technischen Schwierigkeiten, nicht selten auf eine verblüffende Art und Weise, überwindet. Zu einer Bande gehören allerdings regelmäßig Fachleute, die gemeinsam oder getrennt an der Herstellung der Falsifikate arbeiten; über und neben sich die Initiatoren, Organisatoren, Geldgeber, Verbindungsleute, Helfer und Helfershelfer, die juristisch alle als „Hersteller" betrachtet werden. Trifft auch die Behauptung, daß die Fälscher sich in der Hauptsache aus den einschlägigen Berufsgruppen rekrutieren, nicht zu, so lehrt doch die Erfahrung, daß die Masse der Falsifikate von Angehörigen der erwähnten Berufe hergestellt wird. Die meisten handwerklich arbeitenden Falschgeldhersteller bringen es zu nichts, die Zahl ihrer Produkte ist gering, über kurz oder lang werden sie ermittelt, oder sie geben auf, weil das Verbreiten mehr Nerven und Kraft kostet als die Herstellung. Ausnahmen bestätigen die Regel. Über die Zahl der Frauen unter den Herstellern im technischen Sinne gibt die Statistik keine Auskunft. Ihr Anteil an Münzdelikten überhaupt bewegt sich um den Prozentsatz, der den Anteil der Frau an der Gesamtkriminalität ausweist (s. T a b e l l e 1). Unter den 266 beim Landeskriminalpolizeiamt Niedersachsen bis 1960 namentlich erfaßten Falschgeldherstellern, die nach 1946 in der Bundesrepublik tätig waren, befinden sich neun Frauen, von denen aber nur drei als selbständige Falschgeldhersteller angesprochen werden können. Die anderen waren nur als Gehilfen, vor allem ihrer Ehemänner, tätig. Jugendliche Fälscher sind verhältnismäßig selten (s. T a b e l l e 1). Der Anteil der Vierzehnbis Achtzehnjährigen an den Münzdelikten ist vor dem Kriege recht gering gewesen. Von 1950 bis 1960 schwankt ihr Anteil stark. Diese Schwankungen können nicht als Symptome gewertet werden, der Zufall spielt hier eine größere Rolle, wie der ungewöhnlich große Anteil von Jugendlichen an der Verurteiltenziffer des Jahres 1958 zeigt. Er ergibt sich, wie die sprunghafte Steigerung der Zahl der Münzdelikte gegenüber 1957 überhaupt, aus einer besonderen Situation. Im
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Herbst 1967 wurden aus Anlaß der Bundestagswahl Zehnmarkschein-Blüten mit Propagandatexten eingeschleust, die im verhältnismäßig geringem Umfang auch als Zahlungsmittel verwendet wurden. Diejenigen, welche die Vorderund Rückseite darstellende Blüten zusammenklebten oder auch nur entsprechend zusammenfalteten, um sie als echtes Geld in den Verkehr zu bringen, wurden als Falschgeldhersteller bestraft (s. dazu OLG Hamm, 22. 5. 58, 2 J s 414/58: N J W 1958, S. 1504), und zwar in der Mehrzahl erst im Jahre 1958. Daß sich mit dieser Art „Fälschung" gerade Jugendliche befaßten, ist erklärlich. Die wenigen Jugendlichen, die sich sonst als Hersteller betätigen, sind meist Gehilfen älterer Täter. b) Noch weniger als die Hersteller haben die V e r b r e i t e r Gemeinsames. Soweit sie nicht auch selbst herstellen, sind es in vielen Fällen Angehörige und Freunde des Herstellers, und hier sind auch die Frauen entsprechend beteiligt. Die Verteiler, welche im Dienst einer Bande arbeiten oder Angehörige einer Bande sind, rekrutieren sich zum Teil aus den Reihen internationaler Rauschgifthändler, Trickund Taschendiebe. Der Anteil der Frauen an der Zahl der wegen Abschiebung verurteilten Personen ist überdurchschnittlich hoch (s. T a b e l l e 2). Dem allzumenschlichen Bestreben, einem Schaden auszuweichen, mag von Frauen unbedenklicher stattgegeben werden, vielleicht ist der Mann beim Abschieben aber auch gewitzter oder hat bessere Gelegenheiten dazu. Da hier mit einer beträchtlichen Dunkelziffer gerechnet werden muß, berechtigt die Statistik nicht zu einer hinreichend gesicherten Aussage. Die Beteiligung der Jugendlichen unter 18 Jahren an der Verbreitung und der Abschiebung ist nicht bedeutend. c) M o t i v der Hersteller ist in den meisten Fällen Gewinnsucht. Bei vielen Fälschern, insbesondere bei den handwerklichen, muß als auslösendes Moment die wirtschaftliche Notlage, in der Regel durch Arbeitslosigkeit bedingt, hinzukommen, wie die Entwicklung der Münzdelikte von 1932 bis 1936 und von 1950 bis 1960 zeigt (s. T a b e l l e 1). Bei manchen handwerklichen Fälschern spielt die Gewinnsucht keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Lust am Basteln und am Nachahmen ist primär, das geglückte Inverkehrbringen der Falschstücke bedeutet ihnen vor allem Bestätigung ihres Könnens. Die industrielle Fälschung aus Gewinnsucht steht mit den wirtschaftlichen Verhältnissen des Emissionslandes nicht in einem so klaren Verhältnis. Einerseits kann eine einmalige Situation (wie ζ. B. in der Bundesrepublik kurz nach der Währungsreform) zu Massenfälschungen Anreiz geben, andererseits die unveränderlich stabile
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Geldfälschung Währung eines Landes, wie die der USA, wo von 1947—1955 386 verschiedene Fälschungsklassen festgestellt wurden und von Juli 1958 bis Januar 1959 Falschgeld im Werte von 1419114 Dollar angehalten ist. Eine Übersicht über die von 1950 bis 1960 entdeckten größeren Fälschungen und über die von den Fälschern angewandten Methoden wurde auf der IV. Internationalen Falschgeldkonferenz gegeben. Verliert das Geld seine Qualität als allgemein anerkanntes Tauschmittel, wie die Reichsmark nach 1945, wird es gar nicht oder nur im geringen Umfang gefälscht. Industrielle Fälschungen aus politischen Gründen können von der Regierung eines Landes oder von einzelnen Personen veranlaßt werden (Fälschung der Kontinentalwährung während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1776, Assignatenfälschungen durch die Gegner der französischen Revolution, FoucWs Fälschungen englischer, österreichischer und russischer Banknoten, die Fälschung russischer Banknoten durch die polnische Nationalregierung während des Aufstandes 1862/63 und später durch polnische Emigranten, die Fälschung von 1000-FrankenNoten durch den ungarischen Minister Windischgrätz 1925, die Fälschung englischer Banknoten während des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und die Vorbereitung zur Fälschung von französischen Francs für die algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) im Jahre 1960). Beruf und soziale Stellung der Falschgeldhersteller und -Verbreiter sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Vom Landstreicher, der seine Gerätschaften zum Gießen von Fünfzigpfennigstücken in den Taschen mit sich führt, über den Handwerker, Kaufmann, Bankier, Geistlichen bis zum Herzog, der auf seinen Gütern verschiedene Falschmünzerwerkstätten unterhält, sind alle Schichten vertreten. Falschgeld fand sich sowohl in den Taschen kleiner Strolche als auch im Gepäck vornehmer Damen aus adeligen Häusern. Und fast immer war der Wunsch, auf leichte Art und Weise zu Gelde zu kommen, die Triebfeder zum Handeln. Geldfälschungen aus politischen Gründen können auch dem gewinnsüchtigen Fälscher eine günstige Gelegenheit bieten, Falschgeld im größten Umfange herzustellen und zu verbreiten. Er kann sich dabei noch ein patriotisches Mäntelchen umhängen, das ihm das Finden von Helfern erleichtert. Ein Beispiel dafür sind die Fälschungen russischer Rubel im Anschluß an die Ereignisse von 1862/63. Drei Jahrzehnte wurde Europa von falschen russischen Banknoten überschwemmt, und es wird berichtet, daß die umlaufenden falschen Noten die echten sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität übertroffen haben. Den Hauptanteil an diesen Fälschungen hatten in den sechziger Jahren die polnischen Emi-
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granten, von denen bis 1867 32, darunter mehrere hervorragende Führer des Aufstandes und auch Geistliche in Frankreich, England und Belgien, wegen Falschgeldherstellung und -Verbreitung gerichtlich bestraft wurden. 5.
Bekämpfung
Von seltenen Ausnahmefällen abgesehen, ist der Nennwert des umlaufenden Falschgeldes im Vergleich zum Bargeldumlauf gering. Er ist zwar nicht selbst zu ermitteln, der Wert der im Laufe eines Jahres angehaltenen Falsifikate ist aber praktisch der Pegel für den Falschgeldumlauf. In der Bundesrepublik ist seit der Währungsreform der Nennwert des angehaltenen Falschgeldes ständig zurückgegangen. 1950 wurden in der Bundesrepublik allein 136000 falsche Noten über insgesamt 1,14 Millionen DM festgestellt (Bargeldumlauf in der Bundesrepublik 1949: 7 Mrd. DM), 1968 waren es nur noch 819 falsche Banknoten und 8540 falsche Münzen mit einem Gesamtwert von 60800 DM, 1963 453 falsche Banknoten und 5569 falsche Münzen im Gesamtwert von 37840 DM bei einem Bargeldumlauf von rund 24 Milliarden DM. Das sind Umsätze, die keine besonderen Maßnahmen erfordern. Gute Fälschungen, die im großen Umfang vertrieben werden, können die Notenbanken jedoch zum Aufruf und zur Einziehung der betreffenden Note oder Münze und zur Ausgabe einer neuen zwingen. Aber selbst der geringere Falschgeldumlauf wirkt sich störend im Handel und im Geldverkehr der Banken aus. Vor allem gibt es immer eine Vielzahl von Geschädigten, weil vom Staat oder von den Notenbanken kein Ersatz für Falschstücke geleistet wird. Betroffen ist dabei vor allem die Geschäftswelt, aber auch bei der Post und der Bahn werden Falschstücke häufig erst spät erkannt. a) Im Rahmen der O r g a n i s a t i o n der Bekämpfung von Münzverbrechen schafft eine Stelle, welche den Falschgeldumlauf beobachtet, wesentliche Voraussetzungen für das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden. Die zweckmäßige Einrichtung ist von Stieber in seinem „Praktischen Lehrbuch der Criminal-Polizei" schon 1860 skizziert: „Die Verfolgung der Banknotenfälscher muß bei einer bestimmten Behörde centralisiert werden und jedes vorkommende Falsificat muß so schnell als möglich an diese Behörde eingereicht werden. Dort muß zunächst festgestellt werden, ob das Falsificat zu einer bereits bekannten Fabrik gehört, oder ob dasselbe eine neue Fabrik repräsentiert. Alle Falsificate einer und derselben Fabrik müssen eine bestimmte Nummer erhalten und in eine Liste eingetragen werden." In Preußen war zwar schon nach dem Gesetz vom 24.2.1850 (Ges. Sammlung S. 57) die Königl. Hauptverwaltung der Staatsschulden
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Geldfälschung
damit beauftragt, die Fälschung aller als Geldzeichen umlaufenden Papiere, welche gesetzlich in den öffentlichen Kassen angenommen werden mußten — das waren bei weitem nicht alle im Umlauf befindlichen Banknoten —, zu verfolgen. Aber erst durch Ministerialerlasse vom 17. 4.1876 und vom 5.11.1876 wurde die kriminalpolizeiliche Falschgeldabteilung beim Polizeipräsidium in Berlin zur Sammelstelle aller auf die VerÜbung und Entdeckung von Papiergeldfälschungen bezüglichen Nachrichten bestimmt. Nach der Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 9.5.1876 (RZB1. 1876 S. 260) wurden alle Reichs- und Landeskassen verpflichtet, falsche deutsche Reichsmünzen anzuhalten. Diese Anhaltepflicht wurde auf die Reichsbanknoten ausgedehnt (Bundesratsbestimmungen vom 30.11. 1876, Just. Min.Bl. 1877 S. 54). Die Direktion der Preußischen Staatsmünze wurde zur amtlichen Prüfungsstelle für Geldmünzen, das Reichsbankdirektorium zur amtlichen Prüfungsstelle für Reichsbanknoten bestimmt. Die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden wurden angewiesen, den Prüfungsstellen Mitteilung von der Einleitung und dem Fortgang von Strafverfahren gegen Münzdeliquenten zu machen und Falschstücke an sie abzuliefern. Damit waren die organisatorischen Voraussetzungen für die Beobachtung und Erfassung des Falschgeldumlaufs geschaffen. Sie sind bis heute im wesentlichen unverändert geblieben. Für die Bundeskassen ist die Anhaltepflicht jetzt durch den Erlaß der Bundesregierung über die Behandlung nachgemachten, verfälschten, verdächtigen, beschädigten oder abgenutzten Bargeldes vom 28.5. 1952 (GMB1. S. 160) festgelegt. Die Anhaltepfücht der Landeskassen ergibt sich aus der Reichskassenordnung v. 6. 8.1927, Anl. V, § 30, Abs. 4 (Reichsministerialblatt S. 357) bzw. aus landesrechtlichen Bestimmungen. Für die Kassen der Gemeinden mit mehr als 3000 Einwohnern ist in der Anlage 6 zu § 30 Abs. 4 der Verordnung über das Kassen- und Rechnungswesen (KuRVO) vom 21.11.1938 (RGBl. I, 1583 ff.) die gleiche Verpflichtung gegeben. Nach § 36 des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank vom 26.7.1957 (BGBl. I, 1957 S. 745) haben die Deutsche Bundesbank und alle Kreditinstitute nachgemachte oder verfälschte Banknoten und Münzen (Falschgeld), als Falschgeld verdächtige Banknoten und Münzen sowie unbefugt ausgegebene Gegenstände der in § 35 genannten Art (Geldzeichen — Marken, Münzen, Scheine oder andere Urkunden, die geeignet sind, im Zahlungsverkehr an Stelle der gesetzlich zugelassenen Münzen oder Banknoten verwendet zu werden, — oder unverzinsliche Inhaberschuldverschreibungen) anzuhalten.
Für Privatpersonen besteht keine gesetzliche Verpflichtung, Falschgeld anzuhalten. Wenn Falschgeld erkannt und angehalten wird, ist jedermann auf Grund des § 127 Abs. 1 StPO berechtigt, den unbekannten Einzahler festzuhalten und ihn der Polizei zu übergeben. Die Staatsanwaltschaften sollen Münzen oder Noten, bei denen der Verdacht besteht, daß sie gefälscht sind, der Prüfungsstelle übersenden (§92 StPO, Nr. 212 der Richtlinien für das Strafverfahren). Die Polizeibehörden sind ebenfalls gehalten, Falschgeldstücke oder vermutliche Falschgeldstücke der Prüfungsstelle zu übersenden. Hier werden die Banknoten und Münzen begutachtet, klassifiziert und registriert. Die Gutachten geben Auskunft über die Herstellungsart, das benutzte Material, den bisher festgestellten Umfang der Verbreitung, die Fälschungsklasse bei Banknoten bzw. den Fälschungstyp bei Münzen, gegebenenfalls auch über Fälscher oder Verbreiter, die bereits festgestellt sind. Die Kennzeichen neuer Fälschungen werden in einem Merkblatt zusammengestellt, das den in einem Verteilerplan festgelegten Interessenten übersandt wird. Seit dem 1.1.1962 ist nur noch die Deutsche Bundesbank Prüfungsstelle, nachdem die Falschgeldstelle beim Bayerischen Hauptmünzamt ihre Tätigkeit einstellte. Die Zentralisierung der "kriminalpolizeilichen Bekämpfung von Falschgelddelikten blieb vorerst auf die Länder beschränkt. Die große Zahl der Fälschungen nach dem ersten Weltkrieg veranlaßte die Reichsbank und das Berliner Polizeipräsidium, ihre Dienststellen, die mit der Erfassung und Bekämpfung des Falschgeldwesens betraut waren, räumlich zusammenzulegen. Erst 1930 wurde angesichts der Bemühungen auf internationaler Ebene entsprechend dem Vorschlag der Deutschen kriminalpolizeilichen Kommission durch einstimmigen Beschluß sämtlicher deutscher Länder die Deutsche Zentralstelle zur Bekämpfung von Geldfälschungen beim Polizeipräsidenten in Berlin errichtet (Bek. vom 21. VIII. 1930 — Deutsches Kriminalpolizeiblatt Nr. 738 vom 11.11.1930). Die Aufgaben dieser Zentralstelle gingen 1937 an das Reichskriminalpolizeiamt über (Erl. v. 16. 7.1937 — RMBliV. S. 1152) und liegen jetzt dem Bundeskriminalamt ob (Ges. über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes v. 8. 3.1951 — BGBl. I, S. 165). Sie bestehen in der Sammlung und Auswertung aller einschlägigen Meldungen und sonstigen Unterlagen über bekannte und unbekannte Täter; der Zusammenarbeit mit der Bank deutscher Länder, der Durchführung des Dienstverkehrs mit ausländischen Polizei- und Justizbehörden, der internationalen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit. Zu dem Zweck werden folgende K a r t e i e n und S a m m l u n g e n unterhalten:
Geldfälschung Namenskartei, in der alle wegen Herstellung oder Verbreitung von Falschgeld überführten oder verdächtigen Personen des In- und Auslandes registriert sind; Kartei über letzte Besitzer von Falschgeld; Lichtbildkartei der Personen, die wegen Falschgelddelikten erkennungsdienstlich behandelt worden sind; Kartei über Falschgeldklassen und -typen; Sammlung echter und gefälschter Banknoten und Münzen; Sammlung der Erkennungszeichen echter und gefälschter Banknoten und Münzen aller Währungen (Revue Contrefaqons et Falsifications). Die Landeskriminalämter haben für ihren Bereich die gleichen Aufgaben wie das Bundeskriminalamt und unterhalten die entsprechenden Karteien und Sammlungen. Der Verkehr mit dem Ausland wird aber nur vom Bundeskriminalamt geführt, das die Aufgaben der Zentralstelle wahrnimmt, die nach Art. 12 und 13 des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzer vom 20. 4.1929 (RGBl. 1933 II, 913, 914) von jedem Vertragsteilnehmer zu errichten ist. Die Organisation der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit zur Bekämpfung des Falschgeldwesens wurde mit der Gründung der „Internationalen Zentrale zur Bekämpfung von Geldzeichenfälschungen" eingeleitet, die auf dem Internationalen Polizeikongreß zu Wien 1923 im Wege freier Vereinbarung der Mehrzahl der dort vertretenen Polizeibehörden beschlossen wurde. Dieser Beschluß wurde von den Mitgliedern der auf diesem Kongreß gegründeten Internationalen kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) ausgeführt und die Zentralstelle bei der Bundespolizeidirektion in Wien eingerichtet. Hier konnte man auf Material zurückgreifen, das ein 1922 bei dem Verband Österreichischer Banken und Bankiers gegründetes Büro zur Bekämpfung falscher Wertpapiere besaß. Die von diesem Büro herausgegebene zweisprachige Zeitschrift „Erkennungszeichen echter und gefälschter Banknoten und anderer Werte" wurde 1924 als Organ der IKPK bestimmt und erschien in drei Ausgaben (deutsch, französisch, holländisch) als Beilage der „Internationalen öffentlichen Sicherheit". Diese polizeilichen Maßnahmen zur internationalen Bekämpfung des Falschgeldwesens mußten Stückwerk bleiben, solange die strafrechtliche Würdigung der Münzdelikte in den beteiligten Staaten erhebliche Unterschiede aufwies. Solche Unterschiede waren vor allem in bezug auf den strafrechtlichen Schutz ausländischen Geldes vorhanden. Unter dem Eindruck der Fälschung französischer Franken durch ungarische Nationalisten im Jahre 1925 richtete Frankreich unter den 5.6.1926 an den Generalsekretär des Völker-
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bundes ein Schreiben, in dem die Schaffung einer internationalen Konvention gegen Geldfälschung und zunächst eine engere Zusammenarbeit der Gerichts- und Polizeibehörden der verschiedenen Staaten vorgeschlagen wurde. Nach längeren Vorarbeiten trat am 9. 4.1929 die Staatenkonferenz zur Bekämpfung der Falschmünzerei in Genf zusammen. 35 Regierungen waren vertreten, eine Abordnung der IKPK nahm an den Verhandlungen teil. Das Ergebnis war das Internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 26. 4.1929 (RGBl. 1933 II, S. 913, 914). Das Abkommen bezeichnet u. a. die einzelnen strafwürdigen Handlungen, welche die Herstellung und die Verbreitung von Falschgeld sowie vorbereitende Handlungen umfassen (Art. 3). Alle einschlägigen Handlungen, die in verschiedenen Ländern begangen sind, sollen grundsätzlich als selbständige strafbare Handlungen angesehen werden (Art. 4 in Verbindung mit den Auslegungsbestimmungen des Protokolls). Ausländische Verurteilungen wegen Falschmünzerei sollen zur Feststellung des strafschärfenden Rückfalls herangezogen werden, soweit ausländischen Verurteilungen überhaupt rückfallbegründende Kraft beigelegt wird (Art. 6). Das ausländische Geld wird dem inländischen hinsichtlich des zu gewährenden Schutzes unabhängig von der Bedingung der Gegenseitigkeit gleichgestellt (Art. 5), die vertragschließenden Teile werden verpflichtet, in ihrer Gesetzgebung dem Tatort und der Staatsangehörigkeit der Täter bei Falschgelddelikten keine Bedeutung beizumessen (Art. 8 u. 9). In jedem Land sollen die Ermittlungen auf dem Gebiet der Falschmünzerei von einer Zentralstelle in die Hand genommen werden. Diese Stelle soll mit den Stellen, denen die Ausgabe von Geld obliegt, mit den Polizeibehörden des eigenen Landes und mit den Zentralstellen der anderen Länder in enger Beziehung stehen (Art. 12). Der Geschäftsverkehr der Zentralstellen der einzelnen Länder untereinander soll unmittelbar sein (Art. 13). Sie sollen sich untereinander über die wesentlichen Vorkommnisse auf ihrem Gebiet unterrichten (Art. 14). Die Vertreter der Zentralstellen sollen unter Zuziehung von Vertretern der Ausgabebanken und der beteiligten Zentralbehörden zu gemeinsamen Tagungen zusammentreten (Art. 15). Solche Tagungen haben 1931 in Genf, 1935 in Kopenhagen, 1950 in Den Haag und 1961 in Kopenhagen stattgefunden. Durch das Abkommen werden weiter Rechtshilfepflichten für die Vertragsteilnehmer begründet. Gemäß Art. 10 sind die einschlägigen strafbaren Handlungen ohne weiteres als Taten, welche die Auslieferung begründen, in alle Auslieferungsverträge eingeschlossen, die zwischen den vertragschließenden Parteien bereits be-
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stehen oder in Zukunft beschlossen werden. Die Übermittlung der Rechtshilfeersuchen soll möglichst im Wege des unmittelbaren Verkehrs zwischen den Gerichtsbehörden, gegebenenfalls durch Vermittlung der Zentralstellen, erfolgen (Art. 16). Nach dem zum Abkommen gehörigen Protokoll ist das innere Recht der vertragschließenden Teile für die sachlichen Voraussetzungen, unter denen Rechtshilfe geleistet werden kann, maßgebend. Das Abkommen, dem das Deutsche Reich 1923 beitrat (BGBl. 1933 II, S. 913), brachte in bezug auf die deutsche Strafgesetzgebung nichts Neues, wirkte aber als Stimulans in bezug auf die Einrichtung einer deutschen Zentralstelle für die Bekämpfung von Falschgelddelikten. Das Abkommen ist nach Auffassung der Bundesregierung im Verhältnis sowohl zu den während des zweiten Weltkriegs neutralen Staaten wie grundsätzlich auch zu den Staaten wirksam, gegenüber denen der Kriegszustand eingetreten war. Seine Anwendung kommt im Verhältnis zu 27 Staaten in Betracht (Liste dieser Staaten in den Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten v. 15.1.1959, Anhang III).
sur les Contrefa^ons et Falsifications —• Office d£16gu6 ä La Haye"). Diesem Büro oblag es, namens und im Auftrage der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) Fälschungen, insbesondere von Geld, zu identifizieren, Gutachten über Falsifikate und Herstellungsmittel zu erstatten und die Zeitschrift „Contrefa^ons et Falsifications" („Counterfeits and Forgeries") herauszugeben. Die Zeitschrift erscheint in zwei Teilen. Teil I behandelt die Fälschungen, Teil II, auch in deutscher Sprache mit dem Titel „Erkennungszeichen echter und gefälschter Banknoten und Münzen", die im Umlauf befindlichen gültigen Zahlungsmittel. Die Aufgaben dieses Büros wurden am 1.11.1962 vom Generalsekretariat der I. Κ. P. 0 . — Interpol in Paris übernommen.
Der Forderung, ein „internationales Amt" einzurichten, wurde nur insofern Rechnung getragen, als der Art. 15 u. a. sagt, daß die Errichtung eines solchen Amtes den Gegenstand der Beratungen einer der im Sinne dieses Artikels zu haltenden Konferenzen bilden könne. Es wurde aber eine im Schlußakt enthaltene Empfehlung angenommen, die besagte, daß vorerst das internationale Büro in Wien mit Unterstützung der Vertragsmächte seine Tätigkeit fortsetzen solle. Die Mitglieder der IKPK wurden bei der 6. Tagung (Wien 1930) aufgefordert, sich bei ihren Regierungen dafür zu verwenden, daß diesem Büro die im Art. 14 der Konvention vorgesehenen Mitteilungen gemacht werden. Hierbei blieb es bis zum zweiten Weltkrieg. Nach der Neugründung der IKPK im Jahre 1946 wurden die Aufgaben einer internationalen Zentralstelle vom Internationalen Büro der IKPK (jetzt Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation — Interpol) übernommen. Die 3. Internationale Konferenz zur Bekämpfung von Falschgeld empfahl am 16. 6.1950 in Den Haag unter Hinweis auf die Bestimmung des Artikels 15 des Genfer Abkommens, daß dieses Büro als internationale zentrale Instanz von Falschgeldsachen regelmäßig unterrichtet wird.
b) Die E r m i t t l u n g e n können im E i n z e l f a l l durch Mitteilungen über geplante Geldfälschungen in Gang gebracht werden. Sie kommen der Polizei in der Hauptsache von Vertrauensleuten oder von Inhabern oder Angehörigen graphischer Betriebe zu, an die manchmal besonders von Ausländern mit erstaunlicher Offenheit herangetreten wird. Die zu treffenden Maßnahmen ergeben sich aus den Regeln der Kriminaltaktik. Auf die Erfassung der Geräte, des Materials und gegebenenfalls der halbfertigen oder fertigen Falsifikate ist besonderer Wert zu legen. Eine gewissenhafte Durchsuchung aller in Frage kommenden Räume ist notwendig. Die Ermittlungen nach den Herstellern und Verbreitern von Falschgeld, das bereits im Umlauf gebracht wurde, werden durch die Auswertung des in den Karteien der Zentralstellen erfaßten Materials erleichtert. Wird Falschgeld in größeren Mengen angeboten, kann es gelingen, einen Vertrauensmann in den Handel einzuschleusen. Gewohnheiten der Endverteiler, das Falschgeld an bestimmten Plätzen abzusetzen, ermöglichen es, kleinere Personenkreise zu unterrichten und zur Mithilfe zu gewinnen. Die polizeiliche Arbeit kann finanziell durch Fahndungsbeihilfen von der zuständigen Landesbank oder der Bundesbank unterstützt werden. Die Bundesbank behält sich vor, an Privatpersonen, die zur Ermittlung der Hersteller falscher deutscher Banknoten oder Aufdeckung einer Falschgeldwerkstatt beigetragen haben, eine Belohnung zu zahlen. Bei falschen deutschen Münzen ist dafür der Bundesminister der Finanzen zuständig.
Am 17. 9.1946 wurde zwischen dem niederländischen Minister der Justiz und dem Präsidium der IKPK eine Übereinkunft geschlossen, auf Grund derer beim Justizministerium — Polizeiabteilung — in Den Haag eine Dokumentationsstelle für Fälschungen und Verfälschungen eingerichtet wurde („Organisation Internationale de Police Criminelle — Service de documentation
Das Herstellungsmaterial für falsche Noten und Münzen ist der Deutschen Bundesbank zu übersenden (Nr. 212 der Richtlinien für das Strafverfahren). Ob schwer zu transportierendes Material übersandt werden soll, wird im Einzelfall entschieden. Gegebenenfalls wird ein Sachverständiger von der Prüfungsstelle entsandt. Es wird festgestellt, ob Platten, Formen und Roh-
Geldfälschung material zur Herstellung bereits angehaltener Falschstiicke verwendet wurden. Im übrigen ist die Untersuchung etwa gesicherter Spuren oder von Material Sache der Kriminaltechnik. Dazu gehört insbesondere die Untersuchung von Mikrospuren, von Material, das zur Herstellung von Fälschungsgeräten diente, und von Werkzeugspuren, die bei dieser Herstellung entstanden. Bei allen Landeskriminalämtern und bei den größeren Kriminalpolizeidienststellen gibt es besonders ausgebildete Beamte (Falschgeldsachbearbeiter), die mit den Ermittlungen betraut werden. Nach den Richtlinien für das Strafverfahren (Nr. 209) soll die Bearbeitung von Münzstrafsachen auch einem bestimmten Staatsanwalt übertragen werden, der die Besonderheiten dieser Delikte kennt. Heindl's Bemerkung (in „Der Berufsverbrecher", 6. Aufl. 1928), daß die im Großen betriebene Falschmünzerei in vielleicht 50% der Fälle entdeckt und bestraft, während die im Kleinen, vorsichtig und ohne Komplizen betriebene nie entdeckt wird, trifft zumindest für die Nachkriegszeit nicht zu. Die Erfolgsziffern liegen höher. Falschmünzer, die für sich allein arbeiten, sind häufig nicht so vorsichtig, als daß sie nicht doch eines Tages gefaßt würden. c) Unter den v o r b e u g e n d e n M a ß n a h m e n spielt der technische Schutz der Banknoten und Münzen die hervorragende Rolle. Drucktechnisch einfache Banknoten und einfache Münzen reizen eher zur Fälschung an als die gut ausgeführten Noten oder Münzen. Die qualifizierte technische Sicherung dient in erster Linie den Banken und nicht dem Publikum, das nur zu oft mit verhältnismäßig einfachen Nachahmungen („Eindrucksfälschungen") getäuscht wird. Die Unterrichtung des in Banken und Kassen beschäftigten Personals über die im Umlauf befindlichen Geldsorten, insbesondere über die ausländischen Werte und ihre häufigsten Fälschungen durch die Merkblätter der Deutschen Bundesbank und die Zeitschrift „Contrefagons et Falsifications", erschwert den Absatz und trägt zumindest zum schnellen Anhalten des Falschgeldes bei. Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften oder die Verteilung von Handzetteln zur Warnung des Publikums und für Fahndungszwecke können Fälscher und Verbreiter zur Einschränkung und auch zum Einstellen ihrer Tätigkeit veranlassen. Solche Veröffentlichungen sind Sache der Landeskriminalämter, die sich im Einzelfall mit der Deutschen Bundesbank ins Einvernehmen setzen. Mit entsprechend aufgemachten Berichten über die Festnahme von Falschmünzern in den Tageszeitungen und in der graphischen Fachpresse kann die Aufmerksamkeit des Publikums geweckt und können Hinweise für künftiges zweckmäßiges Verhalten gegeben werden.
267 Monographien
P. C o l q u h o u n : Ueber Londons Polizey besonders in Bezug auf Verbesserungen und Verhütungsmittel der Verbrechen. 1800. J. E. H i t z i g : Geschichte der Zerstörung einer Fabrik falschen Preuß. Papiergeldes in England im Jahre 1821 und der deshalb in Berlin und London geführten Untersuchungen. 1827. L i e b e r m a n n v o n S o n n e n b e r g : Geldfälschungen, ihre Bekämpfung und ihre Verhütung. I n : Kriminalistik im Zahlungsverkehr. 1933. H. D ü r r : Münzfälschertum. Verbrecher, Verbrechen und Strafe im deutschen Strafrecht bis zur Mitte des 1Θ. Jahrhunderts. Diss. Erlangen 1946. H. L ü c k e : Die Geldfälschung als Gruppendelikt. Eine kriminalsoziologische Untersuchung an Hand der Geldfälschungskriminalität nach der Währungsreform vom 21. β. 1948. Diss. Bonn 1959. A. D i e f f e n b a c h e r : Counterfeit Gold Coins. Goldmünzen unter der Lupe — Erkennungsdienst. 1963. Zeitschriftenaufsätze J . G r a f : Die Münzverfälschungen im Altertum. Numismatische Zeitschrift 35 (1903), S. 1. W. F. H e s s e l i n k : Die portugiesische Banknotenaffaire. Ein raffinierter Banknotenschwindel von phantastischem Ausmaß. ArchKrim. 105 (1939) S. 1. R. S v e e n : Ein neues Verfahren der Falschgeldherstellung, erfunden von einem norwegischen Falschmünzer. ArchKrlm. 109 (1941) S. 7. H. G r ü n e r t : Banknotenfälschungen 1 Polizei-Rundschau 3 (1949) S. 217. D e r s . : Hartgeldfälschungen. Polizei-Rundschau 5 (1951) S. 17. O. S c h ü t z : Aus der Tätigkeit eines Falschmünzers. Pol. 5 (1951) S. 184. D o l i : Geldfälschungsdelikte. NJW 1952, S. 289. H. B o r g a r d s : Lehrreiche Bilanz aus zwei Münzverbrechen. Krim. 7 (1953) S. 172. Th. M o m m s e n : Geldfälschungen und ihre Verhütung in Deutschland und Amerika. Pol. 7 (1953) S. 66. W. W o l f f : Falschgelddelikte und ihre Bearbeitung. Deutsche Polizei (1953) S. 95. R. M ä u l e : Falsches Geld — kurzes Glück. Krim. 8 (1954) S. 82. D e r s . : Falschgeldherstellung — von der technischen Seite gesehen. Die Neue Polizei 8 (1954) S. 136. M. S i c o t : Finanzbrigade gegen Geldfälscherbanden. RIPC 9 (1954) S. 66 u. 98. O . E i g e n b r o d t u. M ü l l e r : Der Banknotenfälscher Peglow. Krim. 9 (1955) S. 405 u. 451. J . K l e y e r : Ein genialer Banknotenfälscher. Krim. 9 (1955) S. 65. F. C. V. v o n M a g i u s : Der versuchten Geldfälschung überführt, von den Geschworenen freigesprochen! RIPC 10 (1955) S. 43. W. T h o m s e n : Strafbare Handlungen mit Reiseschecks. Krim. 9 (1955) S. 212. U. E. B a u g h m a n n : Der Einzelgänger. RIPC 11 (1956) S. 137. H. M ü l l e r : Die Fälscherwerkstatt im Schuhschrank. Pol. 8 (1956) S. 13 u. 39. D e r s . : Die Automatenfalle. Deutsche Polizei (1956) S. 136 J. N e p o t e : Der Kampf gegen die Fälschung. RIPC 11 (1956) S. 72. W. W o l f f : Spektralanalyse überführt Münzverbrecher: Krim. 10 (1956) S. 445. B. M a r i b i a n c a G a r c i a : Geldfälschung macht sich nicht bezahlt. RICP 12 (1957) S. 52. J. W. K a l t e n b o r n : Besichtigung des Fälschungs-Museums der IKPO. RIPC 12 (1957) S. 71. Ξ . M o l e n k a m p : Dlefalschen staatlichen Banknoten über 2.50 Gulden. RIPC 12 (1957). S. 14. H. M ü l l e r : Falsche Sovereigns. Krim. 11 (1957) S. 22.
Geldfälschung — Genocidium
268
W . U l l r i c h : Münzen und Falschmünzerei im Lichte der geschichtlichen Entwicklung. Die Neue Polizei 11 (1957) S. 58. J . W. K a l t e n b o r n : Internationaler Meister im Geldfälschen. RIPC 14 (1959) S. 209. Έ. M a r t i n : Papier-Analyse, Eine Arbeitsmethode zur Herkunftsermittlung unbekannter Papiereorten. Iii PC 14 (1959) S. 162 u. 193. H. P o t s c h e r n i c k : Frau als Falschmünzerin. Krim 13 (1959) S. 82. J . W. K a l t e n b o r n : Die Fälschung niederländischer Dividendencoupons. ItJPC 15 (I960) S. 154. H. M ü l l e r : Falsche Sovereigns. Krim 15 (1961) S. 208. D e r s . : Millionengeschäfte mit falschen Sovereigns. Öffentl. Sicherheit 26 (1961) Nr. β, 8. 7. D e r s . : . . . und Falschgeldkuriositäten. Öffentl. Sicherheit 27 (1962) Nr. 5, S. 2. R. A m m : Banknotenfälscher sind keine „Gentlemanverbrecher". öffentl. Sicherheit 27 (1962) Nr. 5, S. 1. Sammelwerke und Gesetzestexte Illustrierter Anzeiger über gefälschtes Papiergeld und unächte Münzen, (später „Illustrierter Anzeiger für Contor und Bureau"). Nach amtlichen Quellen hrsg. von Adolf Henze. Ab 1865. Kriminalstatistik für 1932—1936 (Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 448, 478, 507, 577), für 1950—1960 (Statistik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 110, 129, 158, 172, 210, 229, 251 „Bevölkerung und Kultur". Reihe 9: Rechtspflege 1959 und I960). Die internationale Zusammenarbeit auf kriminalpolizeilichem Gebiet. Handbuch herausgegeben von der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission. 2. 1934. Bekämpfung des Falschgeldunwesens. Bundeskriminalamt Wiesbaden 1954. Entwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) mit Begründung — Bundesratsvorlage —. 1962. IV. Internationale Falschgeldkonferenz. Kopenhagen. 29. August bis 1. September 1961. RIPC 17 (1962) S. 1. K. E r n s t : Die Wiegendrucke des Kestner-Museums. Neu bearbeitet und ergänzt von Christian v. Heusinger. 1963 = Bildkataloge des Kestner-Museums Hannover. IV. HANS-HEINRICH HUELKE
GENOCIDIUM (VÖLKERMORD) 1.
Rechtslage
Genocidium oder Völkermord ist nach der „Convention on the prevention and punishment of the crime of genocide" ein Verbrechen nach internationalem Recht („crime under international law"). Die Konvention wurde am 9. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen einstimmig und ohne Stimmenthaltung angenommen und ist am 12. Januar 1951 in Kraft getreten. Nach Artikel II der Konvention werden als Genocidium „die folgenden Akte verstanden, in der Absicht begangen, ganz oder teilweise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche zu zerstören: 1. das Töten von Mitgliedern der Gruppe; 2. die schwere körperliche oder geistige Schädigung von Mitgliedern der Gruppe; 3. die überlegte Schaffung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die sie — ganz oder teilweise — physisch zu zerstören bestimmt sind; 4. Maßnahmen, die zum Ziele
haben, Geburten in der Gruppe zu verhüten; 5. Zwangsüberführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe". Nach Artikel III wird als strafbar bezeichnet 1. Völkermord, 2. „conspiracy" zur Begehung von Völkermord, 3. direkte und öffentliche Aufforderung zu dem Verbrechen, 4. der Versuch des Verbrechens, 5. Täterschaft und Teilnahme („complicity"). Nach Artikel IV sollen die Täter ohne Rücksicht darauf bestraft werden, „ob sie verfassungsmäßig verantwortliche Regierende („constitutionally responsible rulers"), öffentliche Beamte („public officials") oder Privatpersonen sind". Die Vertragschließenden verpflichten sich nach Artikel V, in Übereinstimmung mit ihrer Verfassung die erforderlichen Strafgesetze zu schaffen. Gemäß Artikel VI soll die Aburteilung durch das zuständige Gericht des Tatorts oder — sofern die rechtlichen Möglichkeiten hierfür geschaffen sind — durch ein internationales Strafgericht erfolgen. Nach Artikel VII soll Völkermord nicht als politisches Verbrechen im Sinne der Auslieferungsgesetze und -vertrage angesehen werden. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Konvention durch Gesetz vom 9. August 1954 (BGBl. II, 729) beigetreten. Zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen hat sie § 220 a dem Strafgesetzbuch eingefügt; im Entwurf 1962 finden sich die §§ 478f. 2. Begriff
und
Erscheinungsformen
Unter Genocid wird allein die physische Vernichtung einer Gruppe verstanden; der Entwurf sah dagegen noch den Schutz einer Minorität gegen ihre kulturelle Vernichtung vor; die endgültige Konvention hat einen solchen Schutz nicht übernommen. In der Konvention werden auch nur nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen genannt; die Einbeziehung von politischen, auch wirtschaftlichen, wirtschaftlich-sozialen Gruppen wurde von der Mehrheit abgelehnt. Daher fällt ζ. B. die physische Vernichtung von Mitgliedern einer Partei nicht unter die Bestimmungen. Gedacht ist vor allem an Gruppen, denen das Individuum durch Geburt angehört, was durch die — wie anerkannt wurde — problematischen, unklaren, sich überschneidenden oder sich deckenden Worte „national", „ethnisch", „rassisch" präzisiert werden soll. Zur physischen Vernichtung wird nicht die mit Gewalt oder anderen Mitteln bewirkte Aussiedlung einer Gruppe aus ihrer Heimat (Vertreibung, expulsion, forcible transfer) gerechnet; nur die das Aussterben der Gruppe fördernde Zwangsüberführung von Kindern einer Gruppe in ein anderes Kollektiv wird nach der ausdrücklichen Bestimmung der Konvention vom Begriff Genocidium (Völkermord) umfaßt.
Genocidium Das Motiv der Täter muß sein, die Fortsetzung der Existenz der geschützten Gruppe zu unterbinden; bei dem Gehilfen genügt es, daß er das Motiv des Täters kennt. Die für den Völkermord erforderliche „Absicht" des Täters ist bei einem Verteidigungskrieg nicht gegeben; ob und inwieweit sie bei einem Angriffskrieg vorliegt, ist Tatfrage. Der Konventionsentwurf enthielt die Bestimmung, daß Gesetzesbefehl („command of the law") oder der Befehl eines Vorgesetzten („superior orders") Völkermord nicht rechtfertigt. In der Debatte wurde u. a. betont, daß Völkerrecht, ζ. B. ein internationaler Vertrag, Landesrecht bricht; die Entscheidung der einschlägigen Rechtsfragen wurde jedoch letztlich den jeweiligen Gerichten überlassen. Einzelne, wohl die wichtigsten Erscheinungsformen des Völkermordes werden von dem üblichen Tatbestand des vollendeten oder versuchten Mords oder Totschlags erfaßt. Die Schaffung eines neuen Tatbestands ist daher insoweit nicht erforderlich gewesen; die in den nationalen Gesetzen für Völkermord vorgesehene Strafe — ζ. B. lebenslängliches Zuchthaus — kann aber den sonst anwendbaren Strafrahmen überschreiten. Gewisse Erscheinungsformen des Völkermords, beispielsweise geburtenverhütende Maßnahmen wie Trennung der Geschlechter, Verbot der Eheschließung oder des Geschlechtsverkehrs, Abtreibungsgebote, Sterilisierung u. dgl., auch die Entfernung von Kindern der Gruppe brauchen jedoch keinem vorhandenen Straftatbestand zu entsprechen oder fallen jedenfalls nicht unter den Tatbestand eines Tötungsdelikts; in diesen Fällen wird zukünftiges, noch nicht keimendes Leben unterbunden. Völkermord wird in aller Regel von einem Kollektiv, besonders dem Staat selbst, an einem Kollektiv begangen. Völkermord kann aber auch schon von einem einzelnen an einem einzelnen begangen werden, sofern der Einzeltäter im Opfer nicht das Individuum, sondern vorzugsweise den Angehörigen einer Gruppe und damit die Gruppe treffen will und seine Tat als Beispiel und Vorspiel weiterer eigner oder fremder Taten gedacht ist. 3. Geschichtliche
Beispiele
In der Präambel der Konvention wird auf die „Erkenntnis" verwiesen, „daß in allen Perioden der Geschichte Völkermord der Menschheit schwere Verluste zugefügt hat". Einige Beispiele: Aus der biblischen Geschichte, ζ. B. Moses IV, 21, 31. und 33. Kapitel, Moses V, 2. und 3. Kapitel, Josua 6., 8., 10. und 11. Kapitel; Samuel II, 8. Kapitel, ergibt sich die — gewiß nicht nur israelische — Praxis des Völkermords im da-
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maligen Orient. Anlaß war Landhunger, Furcht vor Revanche und religiöser Fanatismus. Wo es ein Volk auf die Entscheidung der Waffen ankommen ließ und besiegt wurde, wurde es schonungslos vertilgt, und die Religion heiligte die Politik der Ausrottung. „Wenn du einer Stadt nahst, sie zu bekriegen, rufe sie an: Zum Frieden! Befriedet sie sich dir aber nicht, macht sie Krieg mit dir und du engst sie ein, und Er dein Gott gibt sie in deine Hand, dann sollst du all ihr Männliches schlagen, mit der Schneide des Schwerts, jedoch die Weiber, die Kleinen und das Vieh und alles, was in der Stadt ist, all ihr Plündergut, sollst du dir erbeuten . . . So tue allen Städten, sehr entfernt von dir, jedoch von den Städten dieser Völker, die Er dein Gott dir als Eigentum gibt, sollst du keinen Hauch leben lassen, nein, Bannes sollst du sie bannen: den Chetiter, den Amoriter, den Kanaaniter, den Prisiter, den Chiwwiter und den Jebussiter, dies, damit sie nicht all ihren Greueln, die sie ihren Göttern taten, euch gleichtun lehren und ihr Ihm eurem Gotte euch versündigt", Moses V, 20. Kap. In Indien und China war es nicht anders. Ζ. B. berichtet Ashoka, Kaiser von Indien (272—232), der Nachwelt in einer Steintafel von 100000 Gefallenen, 150000 Kriegsgefangenen und 400000 erschlagenen Feinden. Vom alten Rom kennen wir Catos „ceterum censeo Carthaginem esse delendam". 146 v. Chr. wurde das vom Senat beschlossene Todesurteil über Stadt und Volk vollstreckt. Im ersten Mithridatischen Krieg (88. v. Chr.) erließ dagegen Mithridates VI Eupator den sog. Blutbefehl von Ephesus, in dem die Vertilgung sämtlicher „Italiker", derer man im Krieg mit Rom habhaft wurde, angeordnet wurde. Die gegen das Christentum gerichteten Edikte Diokletians aus den Jahren 302—304 zielten auf einen Völkermord; sie verfügten zunächst die Konfiskation des kirchlichen Eigentums, erklärten die Christen für unfähig zur Bekleidung von öffentlichen Ämtern und verboten die Freilassung christlicher Sklaven; das zuletzt ergangene Edikt ermächtigte die Beamten zur äußersten Strenge, was zu grausamen Ausschreitungen, freilich nicht zu einer — von Diokletian gewünschten — allgemeinen Verfolgung Anlaß gab. Der Islam strebte Universalität an. Mittel seiner Verbreitung sollte der Eroberungskrieg sein, der zum „Heiligen Krieg" mit der Devise erklärt wurde: „Tötet für den Weg Gottes die, so euch töten wollen; bekämpft sie, bis die Versuchung aufgehört und die Gottesreligion gesiegt hat." Im christlichen Europa führten die Sachsenkriege Karls des Großen, veranlaßt durch die Interessen des Fränkischen Reichs und der
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Genocidium
Kirche, zum Blutgericht von Verden und zur Androhung der Todesstrafe bei Unterlassung der Taufe, wozu Massenaussiedlungen kamen. Die Kreuzzüge waren mit Völkermord im Orient verbunden. Nach der Erstürmung Jerusalems 1099 wurden alle Sarazenen und Juden niedergemetzelt. Die Berichte ergehen sich in apokalyptischen Bildern vom Blute der Erschlagenen, das bis an das Gebiß der Pferde gereicht habe. Auch die Kreuzfahrten des Deutschen Ordens in den Osten waren nicht frei von schweren Bluttaten. 1282 ereignete sich die „Sizilianische Vesper". Im 12. und 13. Jahrhundert raste der Mongolensturm des Dschingis-Khan und seiner Nachfolger über Rußland und Ungarn; Timurlenk (1336—1405) führte seine Reiterscharen durch Mittelasien, Persien, Ost- und Mittelrußland, Indien, Mesopotamien, Syrien und Kleinasien; seine Siege wurden durch Pyramiden gefeiert, die er aus den Schädeln der gemarterten Bevölkerung errichten ließ. Religiöser Völkermord war u. a. auch die gegen die Hugenotten gerichtete Bartholomäusnacht (1572), für die Gregor X I I I . ein Tedeum anordnete, und die Verfolgung der protestantischen Waldensergemeinden durch Spanien. Mit den Kreuzzügen begannen die Pogrome gegen die Juden, die die Taufe verweigerten. Schon 1065 wurde ein von den Franzosen gegen die Mauren in Spanien unternommener Krieg mit der Ermordung aller angetroffenen Juden eröffnet. Besonders die beiden ersten Kreuzzüge führten vorzugsweise am Rhein und an der Donau zu grausamen Verfolgungen. Peter von Cluny schrieb an Ludwig V I I . : „Was nützt es, in entfernten Gegenden die Feinde des Christentums aufzusuchen, wenn die gotteslästerlichen Juden, weit schlimmer als die Sarazenen, in unserer Mitte ungestraft Christum und die Sakramente schmähen dürfen." Spätere Pogrome fanden besonders 1298 in Bayern und Österreich und 1320 in Frankreich statt, teilweise unter dem Eindruck der Pest, für die die Juden verantwortlich gemacht wurden. 1391 veranlaßte der Erzbischof von Sevilla einen „Heiligen Krieg" gegen die Juden mit der Parole: „Tod oder Taufe"; die getauften Juden wurden später durch die Inquisition verfolgt. Das erste antijüdische Massaker in Osteuropa erfolgte 1648 besonders in der Ukraine durch Chmielnicki; weiterer Völkermord wurde 1656 in Polen begangen. Die Zahl der getöteten Juden wird auf 100000—675000 geschätzt. Der Zarismus und dann die Weißen Armeen im Kampf gegen die bolschewistische Revolution veranstalteten weitgreifende Pogrome gegen die Juden, besonders in der Ukraine. Die Kolonialgeschichte Amerikas, Afrikas, Asiens und Australiens liefert viele Beispiele. Mit der kulturellen Vernichtung des Reichs der
Azteken in Mexiko und der Inkas in Peru verbanden sich blutige Greuel. Die nordamerikanischen Indianer wurden während der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts systematisch ausgerottet. Das Ottomanische Reich verfolgte aus religiösen Gründen die Christen; türkische Massaker an Armeniern und Juden haben aus religiösem Fanatismus und Rassenhass noch 1817, 1840, 1895, 1896 und 1902 stattgefunden. 1895 wurden 30000 Armenier getötet, 1896 in der sog. „türkischen Bartholomäusnacht" in Konstantinopel 6000. In unserem Jahrhundert wurde die Teilung von Indien und Pakistan Anlaß zu völkermörderischen Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Hindus, die Millionen an Menschenleben kosteten. 4. Nationalsozialistische
Verbrechen
Die Konvention der Vereinten Nationen wurde durch die nazistischen Verbrechen 1933 bis 1945 veranlaßt. Einige Zitate genügen. „Mit den Juden . . . muß so oder so Schluß gemacht werden. Ich werde den Juden gegenüber grundsätzlich nur von der Erwartung ausgehen, daß sie verschwinden. Sie müssen weg . . . Man hat uns in Berlin gesagt: Liquidiert sie selbst. Wir müssen die Juden vernichten, wo immer wir sie treffen" (Hans Frank). „Unter entsprechender Leitung sollen im Zug der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen unter Trennung der Geschlechter werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaus anzusprechen ist" (Reinhard Heydrich anläßlich der sog. Wannseekonferenz). „Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur so weit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen" (Heinrich Himmler). Das offizielle Motiv der Ausrottungen war rassisch-biologisch. Der „arischen Rasse", der sich jedenfalls die „Führerelite" zugehörig fühlte, schrieb man gute Eigenschaften und
Genocidium damit alle Kulturschöpfungen der Geschichte zu. Alle anderen „Rassen" wurden als minderwertig betrachtet. Gegenpol der „arischen Herrenmenschen" war vor allem der jüdische „Untermensch". Der zahlenmäßige Umfang der Ausrottungen kann nur geschätzt werden. Nach Reitlinger wurden zwischen 4194200 und 4581200 Juden, nach einem anglo-amerikanischen Komitee 5721500 Juden ermordet; hinzu kommen mehrere Millionen Zigeuner, Polen, Russen u. a. 5. Staatlicher und „privater"
Genocid
Es ist kriminologisch kein Anlaß, zwischen staatlichem und „privatem" Genocid zu unterscheiden. Vorsätzliche Delikte werden — abgesehen etwa von demonstrativen Taten von Überzeugungstätern, von Taten aus masochistischem Strafbedürfnis und von Zwangshandlungen — in der Erwartung begangen, das Tun werde nicht verfolgt und verurteilt, ζ. B. weil die Tat unentdeckt bleibe. Bei staatlichem Völkermord folgt die Erwartung der Straflosigkeit aus Gesetz und Befehl der Machthaber, aber auch bei „privatem" Völkermord setzen die Täter in der Regel gesellschaftliche oder staatliche Duldung voraus, so mit Recht auch v. Hentig „Das Verbrechen" II, 191 ff. im Hinblick auf Pogrome und Lynchjustiz. „Ich hätte große Lust", zitiert v. Hentig einen Staatsanwalt, „die Lyncher unter Anklage zu stellen, aber leider würde keine Grand Jury sie verurteilen. Ich höre, daß der Prediger . . . die Mob-Aktion gelobt hat." Auch die übrigen seelischen und sozialen Faktoren der Tat stimmen bei staatlichem und „privatem" Völkermord überein; im Fall staatlichen Völkermords haben die aktuellen und potentiellen „privaten" Völkermörder die Staatsmacht legal oder illegal erlangt und mißbrauchen sie für ihre Zwecke; auch die Tätervarianten — Drahtzieher, Handelnde, Zuschauer usw. — sind in beiden Fällen vertreten.
6.
Gruppenpsychologie
Menschen leben in Gruppen. Wesensmerkmal jeder Gruppe ist das „Wir"-Gefühl, durch das sie sich von anderen distanziert. Die Eigengruppe —• „in-group" — hat die Tendenz, die eigenen Mitglieder gleich zu bewerten, wogegen sie die Fremdgruppe — „out-group" — abwertet; ihre Mitglieder sind minderwertig. Jede Gruppe zeigt und zeugt Eigen-Liebe und Fremden-Haß. Der Fremdenhaß verstärkt wieder die „Wir"-Gefühle. Das Spannungsverhältnis zwischen „in-" und „out-group" kann alle Grade menschlicher Ablehnung aufweisen; extrem ist der Gegensatz Freund—Feind mit einem Kampf auf Leben und Tod; die Ermordung der Fremdgruppe hebt die Spannung auf.
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Der Extremfall der Gruppendistanzierung wird in der Regel dadurch herbeigeführt, daß eine Gruppe ein Bekenntnis oder die Erkenntnis eines Welt- und Menschenbildes und einer Geschichtsauffassung übernimmt, die absolute Gültigkeit für sich beanspruchen, sei es, daß sie offenbart, durch Glaube oder wissenschaftliche Beweise evident erscheinen. Nach Heraklit (Fragment 102) „ist für Gott alles schön, gut und gerecht; aber die Menschen wähnen, das eine sei Unrecht und das andere Recht". Besonders im Kielwasser Zarathustras, der auch unsere Religionen und Philosophien stark beeinflußt hat, pflegen „die Menschen" ein dualistisches Weltbild: Gott und Teufel, Christ und Antichrist, Gut und Böse, Geist und Materie usw. Kraft der Gewißheit des Glaubens oder des vermeintlichen Wissens fühlt sich die „Wir"Gruppe als „auserwählt"; sie meint allein im Besitz der Wahrheit zu sein. In Schwarz-WeißMalerei wird der „in-group" das Positive, der „out-group" das Negative zugeschrieben. Wir finden diese Haltung bei allen monotheistischen Religionen mit den ihnen zugehörigen monoethischen Geboten und Verboten; sie sind zwangsläufig als Weltreligionen gedacht, die die fremden und falschen Götter und ihre Anhänger zu überwinden aufgerufen sind. Beispielsweise schlug nach errungener staatlicher Anerkennung die von den Christen erbetene Toleranz schnell in schroffe Intoleranz gegenüber den Nichtchristen um. Firmicus Maternus ζ. B. verlangte die gewaltsame Ausrottung der „Heiden"; selbst die innerhalb des Christentums aufkommenden Glaubensüberzeugungen, ζ. B. der Gnosis, werden verfolgt; Augustin forderte die leibliche Bestrafung der „Ketzer". Die Säkularisierung der religiösen Vorstellungen beginnt früh; mit der Idee der Weltreligion verbindet sich die des Weltreichs; die Idee des Imperiums und des „Reichs" macht sich selbständig. Zur Idee der Stufenfolge der Reiche und des Endreichs vgl. Daniel 2, 37 ff. Zur Weltherrschaft fühlten sich viele, vielleicht alle Völker „auserwählt"; ein Sendungsbewußtsein mit ihm angepaßter Politik finden wir im Imperium Romanum, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, bei den Spaniern, Engländern, Franzosen, Russen usw. Noch Hegel vertritt das — angeblich wissenschaftliche — Geschichtsbild, daß es in jeder Epoche ein „weltgeschichtliches Volk" gebe, das als Träger des allgemeinen Geistes ein absolutes Recht habe, gegen das die Geister der anderen Völker rechtlos seien. Mit Gobineau beginnt der Versuch einer rassenwissenschaftlichen Erklärung der Weltgeschichte; er war mit einem pervertierten Darwinismus — Liquidierung der minderrassigen Völker durch angeblich „natürliche Auslese" — verbunden. Rassismus war auch eine politische Waffe des Imperialismus eines Cecil Rhodes oder
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Genocidium
Carl Peters. Im Marxismus wird Religion, Nation, Rasse durch die Klasse ersetzt; das Proletariat hat heute nach der „wissenschaftlichen" Überzeugung der Marxisten das historische Recht auf seiner Seite; die Arbeiterklasse repräsentiert das Gute, das Kapital das Böse. Das Glaubens- und Wissensschema ist sich durch die Jahrtausende hindurch ziemlich gleichgeblieben. 7.
Tätertypen
Es lassen sich verschiedene Tätertypen von Völkermördern unterscheiden. Es gibt ebensowenig „den" Völkermörder, wie es „den" Betrüger, „den" Brandstifter usw. gibt. Das Kollektiv der Täter, die Gruppe, die „Masse", die bei Völkermord in aller Regel in Erscheinung treten, ist nie die Alleinursache der Kriminalität; das Kollektiv aktualisiert wie etwa auch der Alkohol („der Wein erfindet nichts, er schwatzt bloß aus", Schiller) die potentielle Kriminalität eines Menschen, legt sie frei und enthemmt sie, erzeugt sie aber nicht. Man wird auch nicht Gangster durch einen gang, sondern schließt sich dem gang an und bleibt sein Mitglied, weil er einer inneren Neigung entgegenkommt. a) Der Kreis der „Gläubigen" umfaßt diejenigen, die nicht nur zufällig kraft Geburt oder kraft des Satzes „cuius regio eius religio", sondern aus freien Stücken sich zu einem Glauben an eine absolute Wahrheit bekennen oder die von der Richtigkeit einer wissenschaftlichen These — siehe Abschn. 6 — überzeugt sind. Sowohl das Bekenntnis wie die Überzeugung wurzelt — dem Individuum in der Regel unbewußt — in konstitutionellen, psychischen und sozialen Faktoren. An Theorie und Praxis des Völkermords sind Paranoiker und Psychopathen, etwa — nach Kurt Schneider — die Selbstunsicheren, die Gemütskalten und die Fanatiker beteiligt. Die Neurotiker spielen eine hervorragende Rolle, Menschen, die auf Wunsch- und Triebversagungen empfindlich reagieren, mit einem wirklichen oder vermeintlichen Unglück oder einer Niederlage — seien sie privat oder allgemein — nicht fertig werden und ihre Ich-Schwäche, ihre Minderwertigkeitskomplexe, Angst- und Schuldgefühle durch Hordenbildung und Aggressivität nach außen kompensieren — sei es durch eine Weltanschauung krankhaft religiöser, politischer usw. Vorurteile mit Klischees eines billigen Pharisäertums, Herren- und Untermenschkonzeptionen, Sündenbocktheorien, Dolchstoßlegenden usw., sei es durch die kriminelle, die Selbstwertgefühle stützende Tat aus Lebensneid. Hitlers „Mein Kampf" war die Weltanschauung eines sozial Gescheiterten, der Gott auf den Knien dankt, daß ein Krieg ausbricht; der Nazismus war das Kraftmeiertum vorzugsweise kleinbürgerlicher Schichten, die den verlorenen Krieg und die Ver-
letzung ihres nationalen Sendungsbewußtseins nicht bewältigten und auf ihre wirtschaftliche und soziale Verkümmerung nach Art vieler Krimineller reagierten. Glaube oder wissenschaftliche Überzeugung werden von wenigen Menschen selbständig erworben; mehr werden von ihnen magnetisch angezogen; die meisten übernehmen sie durch soziale Einflüsse, besonders Erziehung und Propaganda. Der Außeneinfluß wächst mit dem Maß der Suggestibilität eines Menschen. Glaube und Überzeugung steuern den Menschen, gleichgültig, wie sie erworben wurden. b) Da staatlicher Völkermord sich einer Einkleidung in Gesetz und Befehl bedienen kann, wird eine weitere Gruppe von Völkermördern durch „Formalisten" gebildet. Hierunter werden Anhänger einer formalen Ethik verstanden, die Erfüllung der Pflicht um der Pflicht willen fordert, „unangesehen der Zwecke, die durch solche Handlungen bewirkt werden können" (Kant). Die „Pflicht" wird durch den Gesetzesbefehl umschrieben. „Denn da das Volk . . . als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muß, so kann und darf es nicht anders urteilen als das gegenwärtige Oberhaupt es will" (Kant). „Der . . . Jurist sucht das Gesetz . . . (wenn er, wie er soll, als Beamter der Regierung verfährt) nicht in seiner Vernunft, sondern im . . . Gesetzbuch. Die Verordnungen machen allererst, daß etwas recht ist, und nun nachzufragen, ob auch die Verordnungen selbst recht sein mögen, muß von den Juristen als ungereimt geradezu abgewiesen werden. Es wäre lächerlich, sich dem Gehorsam gegen einen äußeren und obersten Willen darum, weil dieser angeblich nicht mit der Vernunft übereinstimmt, entziehen zu wollen. Denn darin besteht eben das Ansehen der Regierung, daß sie den Untertanen nicht die Freiheit läßt, nach ihren eigenen Begriffen, sondern nach Vorschrift der gesetzgebenden Gewalt über Recht und Unrecht zu urteilen" (Kant). „Alle materialen Moralsysteme, d. h. die nach einem Zweck der Pflicht außer der Pflicht selbst suchen, . . . sind in dem Grundirrtum allen Dogmatismus verstrickt" (Fichte). „Formalisten" werden vorzugsweise durch Erziehung geschaffen, sei es durch die propagierte und geübte Doktrin eines autoritär-militärischen Staates, sei es durch ein Elternhaus, das Subordination der Kinder fordert. Dem Doktrinär einer formalen Ethik fehlt nicht ein sadistischmasochistischer Zug. c) Glaube und Weltanschauung kann — dem Individuum bewußt — bloße „Ideologie" sein. Hiermit ist der Kreis der „Nutznießer" umschrieben. Der zynische Mißbrauch von Ideen ist ζ. B. bei Kriegen nicht ungewohnt. Gruppenmord ist nicht nur im Zug „idealer" Bestrebungen erfolgt, ζ. B. im Zeichen einer „Befriedung" der
Genocidium Welt durch Imperium und „Reich", einer „Zivilisierung" der kolonialen Völker durch den „weißen Mann", im Zeichen der Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft oder aus „Pflichterfüllung". Es sind auch Ursachen erkennbar, wie sie sonst für Verbrechen bezeichnend sind, ζ. B. Bereicherungswille, Neid, Geltungsdrang, Herrschsucht, Sadismus. Hinter dem Völkermord steht dann die Befriedigung realer Interessen und Bedürfnisse. Wirklicher oder vermeintlicher Mangel erklärt weitgehend das Streben nach Geld oder Sexus, obgleich nicht jeder, der Not empfindet, stiehlt oder notzüchtet, und deswegen weitere — besonders konstitutionelle und psychische —· Kausalfaktoren zur Erklärung der Kriminalität herangezogen werden müssen. Ähnliches gilt für den Raub- oder Sexualmord. Auch das Blutbad des Völkermords kann wägbare Vorteile bringen, ζ. B. die Landnot eines Nomadenvolks in biblischen Zeiten beseitigen und die Rückeroberung des Landes durch den Besiegten verhüten. Wer an der „Endlösung der Judenfrage" mitwirkte, konnte lediglich seine berufliche und soziale Existenz, sein Fortkommen im Auge haben. Der Sadist benützt den Glauben oder die Wissenschaft anderer als Feigenblatt für seine Perversion. „Bot"—fragten RadbruchGwinner, Geschichte des Verbrechens, S. 28 — „nicht der Kreuzzug für die sozial Verfemten und wirtschaftlich Minderbemittelten einen fruchtbaren Boden krimineller Betätigung?" Die Antwort der Annalen von Würzburg — aaO. S. 30 — lautet: „Der eine hatte dies, der andere das Begehren. Manche waren gierig nach Neuem, andere zwang die Armut und dürftiges Hauswesen. Diese alle heuchelten Gotteseifer, aber sie waren nur eifrig, die Last ihrer großen Bedrängnis abzuwerfen." d) Andere sind mißbrauchte Werkzeuge des kriminellen Geschehens; sie teilen weder den Glauben oder die Überzeugungen der Gruppe, noch nehmen sie eigenen Vorteil wahr. Sie handeln wider besseres Wissen, ihrem Gewissen und ihren Interessen entgegen. In diesen Fällen werden die Täter von den Gläubigen, Formalisten und Nutznießern politisch und sozial terrorisiert; es liegt ein reines Gewaltverhältnis vor, das die zwischenmenschliche Beziehung nicht nur zu den Opfern, sondern auch den Werkzeugen in bloße Sachbeziehungen verwandelt. Ihre Zahl darf freilich auch im totalitären Staat des 20. Jahrhunderts nicht überschätzt werden. Für den NS-Staat ließ sich jedenfalls bisher trotz umfangreicher Untersuchungen des gesamten Aktenmaterials, darunter zahlreicher Akten der SS- und Polizeigerichte, kein einziger Fall nachweisen, in dem die Verweigerung der Mitwirkung am Völkermord zu einer Bestrafung geführt hätte. Die Nachteile bestanden allein in Personalaktenvermerken, in Beförderungssperren, in Versetzungen, in Ur18
HdK, 2. Aull., Bd. I
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laubsentzug u. dgl. Ein ernstlicher Terror, eine Drohung mit Tod oder Freiheitsentziehung war nicht erforderlich, da es genügend Gläubige, Formalisten und Nutznießer gab. e) Hinzu kommen Mitläufer und Zuschauer; sie sind an den Gewaltakten selbst nicht als Täter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt; sie wissen aber um sie, ohne sich zu distanzieren — räumlich oder sachlich. Ihr Verhalten ist kriminologisch Landfriedensbruch oder ihm verwandt, mag auch der Straftatbestand dem Wort nach nicht erfüllt sein. 8.
Organisation
Bei Beteiligung einer großen Zahl von Tätern und Gehilfen an einem Verbrechen ist eine Arbeitsteilung erforderlich; zu ihr gehört auch die Einräumung leitender und planender Stellungen. Auf Räuberbanden und „gangs" ist zu verweisen. Die Räuberbanden kannten in der Regel einen „Räuberhauptmann", ferner „Anbringer", „Baldower", „Zinker", die eigentlichen Räuber, Schmieresteher, Scherfenspieler (Hehler), Herbergsväter, die „Kochemer", wozu der Kreis von „Wissenden" gerechnet wurde. Viele Tatbeiträge waren daher lediglich mittelbar. Das Wort des „Schreibtischmörders" Eichmann: „Wir hatten mit keinerlei Greuel etwas zu tun, sondern hatten unsere Arbeit auf anständige Art und Weise bearbeitet" gilt in gleicher Weise für die Organisatoren, das technische und kaufmännische Personal moderner „gangs", „criminal syndicates", „Crime Incorporated", „Murder Incorporated" (Barnes-Teeters, New Horizons in Criminology, 2. Auflage, 29 ff.). „Der Verbrechenstrust begeht keinen Mord aus Leidenschaft, Erregung, Eifersucht, persönlicher Rache oder einem ähnlichen Motiv, das zu privatem, unorganisiertem Mord Anlaß gibt. Er tötet unpersönlich und allein aus Geschäftserwägungen. Kein Gangster darf auf eigene Initiative töten; jeder Mord muß von den Leitern an der Spitze angeordnet werden. Der Verbrechenstrust legt Wert darauf, daß Mord eine geschäftliche Angelegenheit ist, die von den Chefs in ihren Konferenzen organisiert und diszipliniert durchgeführt wird" (aaO. S. 31). Die staatliche Organisation eines Völkermords unterscheidet sich von den „gangs" nur dadurch, daß die Justiz und besonders die Verwaltung systematisch eingeschaltet werden können; vgl. Reichsjustizminister Thierack an Bormann: „Unter dem Gedanken der Befreiung des deutschen Volkskörpers von Polen, Russen, Juden und Zigeunern und unter dem Gedanken der Freimachung der zum Reich gekommenen Ostgebiete als Siedlungsland für das deutsche Volkstum beabsichtigte ich, die Strafverfolgung gegen Polen, Russen, Juden und Zigeuner dem Reichsführer-SS
Genocidium — Gerichtliche Medizin
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zu überlassen. Ich gehe hierbei davon aus, daß die Justiz nur in kleinem Umfang dazu beitragen kann, Angehörige dieses Volkstums auszurotten. Zweifellos fällt die Justiz jetzt sehr harte Urteile gegen solche Personen, aber das reicht nicht aus, um wesentlich zur Durchführung des oben angeführten Gedankens beizutragen". 9.
Unrechtsbewußlsein
Das Unrechtsbewußtsein (der Gewissensinhalt) ist für die Tätertypen verschieden. Das „Gewissen" ist nicht allgemein-menschlich und angeboren, sondern ein Produkt der jeweiligen Umwelt; es variiert mit Zeit und Raum, was die vergleichende Religions-, Moral- und Kulturgeschichte beweist. Auch in jeder Gesellschaft gibt es verschiedene „Gewissen", wie die Garantie der Gewissensfreiheit zeigt. Die Wertvorstellungen einer Gruppe, ζ. B. einer Subkultur, können herrschend werden, so daß auch Völkermord seinen Gläubigen und den Formalisten im Gegensatz zu seinen Nutznießern und seinen Werkzeugen rechtens erscheint, die Unterlassung von Völkermord dagegen Gewissensbisse hervorruft. Politische Parallelen, die freilich nicht unter den Begriff des Völkermordes fallen, liegen nahe. Robespierre, nach Danton „Polizeisoldat des Himmels", erklärte: „Die Revolutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei. Erbarmen mit den Royalisten, so rufen gewisse Leute; Erbarmen — mit Bösewichtern? Neinl Nur dem friedlichen Bürger gebührt von Seiten der Gesellschaft Schutz. In einer Republik sind nur die Republikaner Bürger; Royalisten und Fremde sind Feinde. Die Unterdrücker der Menschheit bestrafen ist Gnade; ihnen verzeihen ist Barbarei." Nach Trotzki „kann und muß man erklären, daß wir im Bürgerkrieg die Weißgardisten vernichten, damit sie nicht die Arbeiter vernichten. Folglich besteht unsere Aufgabe nicht in der Vernichtung, sondern in der Erhaltung von Menschenleben. Da aber um die Erhaltung der Menschenleben mit der Waffe in der Hand gekämpft werden muß, so führt das zur Vernichtung von Menschenleben — ein Rätsel, dessen dialektisches Geheimnis schon der alte Hegel erklärt hat, um nicht noch ältere Weise anzuführen". Hegel spukt auch in dem Gewissen der Formalisten. „Der Staat ist rechtlich durch keine Schranke gebunden; selbst brutale Gewaltakte würden, wenn sie in der Form des Gesetzes aufträten, formellrechtlich für Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen verbindlich sein" (Georg Meyer).
10.
Aufgaben
des
Kriminalrechts
Kriminalrechtliche Veranstaltungen können jedenfalls gegenüber Gläubigen („Andersgläubigen") und Formalisten (die übrigen Täter
sollen hier unerörtert bleiben) nicht als Schuldstrafe begründet werden, da diese eine Einheit der Ethik, ein für alle Beteiligten gleiches Gewissen (con-scientia, Ge-Wissen, gemeinsames Wissen um Gut und Böse, Gebote und Verbote) voraussetzt. Ein — die moralische Schuld ausklammerndes — Recht im Stil einer Sozialen Verteidigung kann dagegen kriminalpolitische Maßnahmen ergreifen; sie sind auch geboten. Das Verfahren dient — spezial- und generalpräventiv — der Konfirmierung der materialen Werte, vor allem der Toleranz, die Völkermord ausschließen, und — spezialpräventiv — der Konformierung der Täter mit ihnen. Die Politik der „re-education" steht u. a. im Kampf gegen Vorurteile, gegen autoritäre Haltungen, gegen formale Moralen. Wie immer statuiert das Kriminalverfahren und der Urteilsvollzug nur ein Exempel an einzelnen; die Maßnahmen stellen — schon im Hinblick auf die auch bei Völkermord sehr hohe Dunkelziffer — lediglich einen Teil der gegenüber der Gesamtgesellschaft notwendigen Sozialpädagogik dar. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. 1049. Law Reports of Trials of War Criminals, selected and prepared by the United Nations War Crimes Commission. 1949. P. N. D r o s t : The Crime of State. Bd. I: Humanicide. Bd. II: Genocide. 1959. G. R e i t l i n g e r : Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939—1945. 1961. R. H i l b e r g : The Destruction of European Jews. 1961. v a n D a m / G i o r d a n o (Hrsg.): KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten. 1962. R. H e n k y s : Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. 1964. FRITZ BAUER
GERICHTLICHE MEDIZIN Als spezifisches Forschungsgebiet der gerichtlichen Medizin gilt die Lehre vom gewaltsamen Tod; zusätzlich pflegt man im Rahmen dieses Faches die medizinische Spurenkunde zu behandeln, den unerwarteten Tod aus natürlicher Ursache, der selbstverständlich auch vom Pathologen erforscht wird, Fragen der gerichtlichen Geburtshilfe (insbesondere Abtreibung und Kindestötung), Teile der Verkehrsmedizin, insbesondere Blutalkoholfragen, bis zu einem gewissen Grade auch die Sexualdelikte und schließlich die forensische Toxikologie. Während man in der sonst geläufigen Medizin auf Grund der Vorgeschichte (Anamnese) und des Befundes Diagnosen stellt und sich danach überlegt, wie man dem Kranken helfen kann, liegt es im Wesen der gerichtsmedizinischen Denkweise, daß man versuchen muß, gewissermaßen die unbekannte Vorgeschichte zu diagnostizieren; man erhebt den Befund und muß sich danach Gedanken darüber machen, welche Vorgänge sich vor dem Ableben abgespielt haben.
Gerichtliche Medizin 1. Medizinische
Spurenkunde
Senkrecht herabfallende B l u t s t r o p f e n hinterlassen im allgemeinen einen runden Blutfleck; tropfte das Blut aus einer gewissen Höhe (etwa, 1 m), so findet man in der Umgebung des Blutfleckes mehr oder minder zahlreiche punktförmige Bluttropfen, sog. Sekundärtropfen, auch wenn nur ein einziger Tropfen herabgefallen ist. Tropft Blut schräge auf eine Unterlage, so entstehen sog. Uhrzeigerfiguren, der Zeiger weist auf die Richtung hin, aus der das Blut getropft hat. Spritzt Blut aus dem Arm eines Menschen, der beim Gehen die Arme hin und her bewegt, so werden die entstandenen Zeigerfiguren abwechselnd nach der einen und nach der anderen Sichtung hinweisen. Betrachtet man Blutstraßen, wie sie beim Ausfließen von Blut aus Wunden oder aus Mund und Nase entstehen und kreuzen sich diese Blutstraßen, so wird die später entstandene vielfach durch die zuerst entstandene Straße knickförmig in ihrer Richtung abgelenkt. Mehrere Jahre altes angetrocknetes Blut hat mitunter keinen bräunlichen, sondern einen grünlichen Farbton. Von den c h e m i s c h e n Methoden zum B l u t n a c h w e i s ist die empfindlichste die Benizidinreaktion, sie ist so empfindlich, daß ihr negativer Ausfall die Abwesenheit von Blut beweist; sie ist aber nicht spezifisch, sie ist positiv bei gewissen Chemikalien, so bei Formalin, aber auch bei Fliegenschmutz. Lange nicht so empfindlich, aber recht spezifisch ist die Leukomalachitgrünprobe. Ein völlig einwandfreier Blutnachweis muß auf histochemischem Wege vorgenommen werden, ζ. B. durch die Acetonhaeminprobe; man kann auch mikrospektroskopisch untersuchen. Hat man wenig Material, so wird man nach positivem Ausfall der Leukomalachitgrünprobe sofort auf die Bestimmung der B l u t a r t übergehen; hier ist die klassische Methode die Praezipitinreaktion, auch Uhlenhuth'sche Probe genannt. Spritzt man ein Kaninchen einige Zeit mit einem bestimmten Tiereiweiß, so bildet das Tier in seinem Blutserum Abwehrstoffe (Praezipitine), die in Gestalt eines weißlichen Ringes ausfallen, wenn man diejenige Eiweißlösung zum Serum hinzugibt, mit der das Versuchstier behandelt worden ist. Man stellt auf diese Weise ein Anti-MenschenSerum, Anti-Rinder-Serum, Anti-Schweine-Serum usw. her. Die Reaktionen sind empfindlich und spezifisch; man muß jedoch wissen, daß es Verwandte chaftsreaktionen gibt, so zwischen Gans und Ente, Hase und Kaninchen und auch zwischen Mensch und Menschenaffe; diese zuletzt genannte Verwandtschaftsreaktion wird jedoch praktisch keine große Rolle spielen; an weiteren Unterscheidungsmöglichkeiten wird gearbeitet. Speziell zum Nachweis von Menschenblut hat sich neuerdings der Antiglobulintest durchgesetzt; er 18*
275
hängt zusammen mit der Bluteigenschaft D im Rahmen der Unterteilung des Rh-Systems (siehe weiter unten und Abschn. 7); er ist spezifisch und gleichfalls recht empfindlich. Die Reaktionen zur Bestimmung der Blutart haben alle insofern eine Fehlerquelle, als in manchem Textilgewebe Beimischungen enthalten sind, die die Reaktion stören und ein positives Resultat vortäuschen; dies gilt auch für einige der neuen Waschmittel, ζ. B. Rei. Substratkontrollen sind erforderlich, also Untersuchung von Stellen des Textilgewebes, an denen Blut nicht vorhanden ist. Treten solche Störungen auf, so kann man versuchen, sie durch geeignete Maßnahmen zu vermeiden. Untersucht man F i n g e r n a g e l s c h m u t z , so findet man mitunter auch dann Blut, wenn der Betreffende tatsächlich nicht von außen her mit Blut in Berührung gekommen ist, ζ. B. nach besonders intensiver Säuberung der Fingernägel. Ist an einem Asservat Menschenblut nachgewiesen worden, so wird man die B l u t g r u p p e bestimmen; man kann auf diese Weise mitunter widerlegen, daß das Blut von dem betreffenden Menschen selbst stammt. Ist in diesem Zusammenhang eine Leiche vorhanden, so darf man nicht vergessen, eine Gruppenbestimmung des Leichenblutes zu veranlassen; dies kann später kaum noch nachgeholt werden. Hat ζ. B. ein Verdächtiger die Blutgruppe Α (etwa 40% der Menschen) und findet man an seinen Kleidern Blut der Gruppe Β (etwa 12% der Menschen), weist das Blut des Getöteten gleichfalls die Gruppe Β auf, so liegt darin ein wertvolles Indiz für seine Täterschaft. Bekannt sind die klassischen Blutgruppen: 0 = 42% der Menschen, A = 40%, Β = 12% und AB = 6 % . Diese Blutgruppen lassen sich am eingetrockneten Blut mit moderner Technik in den meisten Fällen eindeutig bestimmen; allergeringste Blutmengen reichen jedoch nicht aus, man braucht einen Blutfleck ungefähr von der Größe der Hälfte eines Pfennigstückes. Ist das Textilgewebe gut durchblutet, so kann u. U. auch eine einzige durchblutete Textilfaser ausreichen, um die Blutgruppe zu bestimmen, doch wird dies nicht immer gelingen. Die Differenzierung der Untergruppen Ax und A2 kann zumindest versucht werden. Wir kennen außerdem als geläufige Bluteigenschaften die Faktoren Μ und Ν (Faktorentypus M: 30% der Menschen, Faktorentypus N: 20% und Faktorentypus MN: 50%). Geläufig sind weiterhin die Unterteilungen des Rh-Systems; diese Bluteigenschaften werden CC Cc cc, DD Dd dd, EE, Ee und ee genannt; es gibt auch die kompliziertere Benennung nach Wiener: Rj, R2, R', R " usw. Wichtig zu wissen ist, daß die Darstellung der Faktoren Μ und Ν und der Eigenschaften CDE/cde am Blutfleck nicht immer und meist auch nur bei frischen Blutflecken zu gelingen pflegt; es ist besser, wenn man sich vorläufig nicht auf die eben
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Gerichtliche Medizin
genannten Unterscheidungsmöglichkeiten verläßt. Neben einer Anzahl von sonstigen Bluteigenschaften (P/p, K/k, F y a / F y b usw.) haben neuerdings die im Serum nachzuweisenden Haptoglobine Bedeutung erlangt, insbesondere für den Ausschluß der Vaterschaft; es ist zu erwarten, daß es gelingen wird, sie auch im Blutfleck nachzuweisen, doch sind die Forschungen nach dieser Richtung hin noch nicht abgeschlossen. Es scheint so, daß es gelingen wird, auch einige Serumeigenschaften des Blutes im Blutfleck nachzuweisen (Gm und Haptoglobine); doch kann Endgültiges hierüber noch nicht berichtet werden (weiteres über Blutgruppen siehe unten Abschn. 7). Man hat auch G e s c h l e c h t s u n t e r s c h i e d e in der morphologischen Gestalt der Kerne der weißen Blutkörperchen im Blut vorgefunden; das Vorhandensein trommelschlegelähnlicher Anhänge in größerem Prozentsatz (Drumstickfiguren) weist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß es sich um weibliches Blut handelt. Darstellung und Auszählung dieser Figuren ist auch im eingetrockneten Blut unter Anwendung einer diffizilen Technik meist möglich. Man wird auch bestrebt sein, das A l t e r von eingetrocknetem Blut zu erkennen. Das in ihm enthaltene Kochsalz wandert nach Eintrocknung langsam in das umgebende Textilgewebe und kann hier nachgewiesen werden; je breiter der Rand des nachweisbaren Kochsalzes im Textilgewebe, desto älter der Blutfleck. Findet man mikroskopisch im angetrockneten Blut glykogenhaltige Zellen, so weiß man praktisch, daß es sich um Mens t r u a t i o n s b l u t handelt; die Deckzellen der Scheide sind glykogenhaltig, man ist auch dabei, biochemische Methoden auszuarbeiten. Menstruationsblut pflegt nicht zu gerinnen, man untersucht auf Vorstufen des Produktes der Blutgerinnung, des Fibrin. Bei Aufklärung von Sexualdelikten ist der Nachweis von S p e r m a im Textilgewebe wichtig; er beruht auf der mikroskopischen Darstellung der Samenfäden; war der betreffende Mann unfruchtbar, so sind auch chemische Nachweismethoden im Gebrauch. Auch im Spermafleck können die Substanzen der klassischen Blutgruppen bestimmt werden, und zwar noch sicherer als im Blut. Voraussetzung ist jedoch, daß es sich um einen Menschen handelt, der Blutgruppensubstanz in den Körperflüssigkeiten ausscheidet. Den Ausscheider bezeichnet man mit S (Sekretor), den Nichtausscheider mit s. Ob jemand zum Typus S oder s gehört, läßt sich durch Untersuchung des Speichels auf Vorhandensein von Blutgruppensubstanzen feststellen. Untersuchung von Spermaflecken hinsichtlich ihrer Blutgruppeneigenschaft ermöglichen es vielfach, bestimmte Männer als Täter auszuschließen.
Neuerdings ist auch über den Spurennachweis von Milch gearbeitet worden (Frauenmilch oder Kuhmilch?). Tierhaare haben ein breites Mark, M e n s c h e n h a a r e ein sehr schmales oder überhaupt kein Mark. Diese Unterscheidung ist im Mikroskop leicht zu treffen. Aus der mikroskopischen Struktur eines Haares und aus seiner Farbtönung heraus zu entscheiden, ob es von einem bestimmten Menschen stammen muß, ist kaum möglich; mitunter ist die Feststellung zu verantworten, daß ein vorgefundenes Haar von einem bestimmten Menschen n i c h t stammen kann; doch muß man auch hier vorsichtig sein, denn auch beim gleichen Menschen kommen recht verschiedene Haartönungen vor; zu berücksichtigen ist auch die Möglichkeit vorangegangener kosmetischer Prozeduren; daß ein Haar mit Wasserstoffsuperoxyd gebleicht wurde, ist durch die sog. Diazoreaktion nachweisbar. Ist ein Haar dunkel gefärbt worden, so zeigt der Querschnitt im Mikroskop eine dunkle Rinde mit hellem Kern, während sonst die Verhältnisse ungefähr umgekehrt liegen. Ist an einem aufgefundenen Haar mikroskopisch die Wurzel nachweisbar, so dürfte es ausgerissen worden sein; war es ausgefallen, so erkennt man statt der Wurzel nur einen Kolben. Ist die Wurzel vorhanden und ist das Haar verhältnismäßig frisch, so kann durch Untersuchung auch das Vorhandensein des sog. Geschlechtschromosoma festgestellt werden, in diesem Falle würde das Haar nicht von einem Manne, sondern von einer Frau stammen. Ob ein Haar vor kurzem abgeschnitten wurde, erkennt man leicht im Mikroskop; war ein Haar lang und wurde es längere Zeit hindurch intensiv gekämmt, so erkennt man eine Auffaserung an der Spitze. Zur Klassifizierung von Tierhaaren bedient man sich am besten einschlägiger Atlanten.
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Geschlechtserken-
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Gerichtliche Medizin A. S c h i f f e r l i : Unspezifische Reaktionen durch Beschmutzungen bei der ABO-Gruppenbestimmung in Blutflecken mittels des Mischagglutinationsverfahrens. Med. Diss. Heidelberg 1964. Zeitschriftcnaufsätze W. B o l t z und U. P l o b e r g e r : Der encymatische Nachweis kleinster Mengen menschlichen Ejakulates in der forensischen Praxis. ArchKrim. 117 (1956) S. 17. R. B u d v Ä r i : Über eine neue Methode der Blutgruppenuntersuchung in Blutflecken mittels Agglutininelotion. DZ Ger Med. 54 (1963) S. 24. E. B u r g e r : Störung der Praezipidinreaktion durch moderne Waschmittel und Verhinderung dieser Störung. ArchKrim. 117 (1956) S. 140. D. D. D z h a l a l o v : Möglichkeit des Spermanachweises in Abdrücken von Samenflecken (russisch). Sud.-med. Ekspert 4 (1961) S. 36. A. F i o r i : Detection and Identification of Bloodstains. In Γ. Lundquist: Methods of Forensic Science I (1962), S. 243. F. J . H o l z e r und Ε. M a r b e r g e r : Zur mikroskopischen Geschlechtsbestimmung an Leichenteilen. DZGerMed. 46 (1957) S. 242. I. J u n g w i r t h : Eine Schnellmethode zur artspezifischen Differenzierung menschlichen Blutes. DZGerMed. 45 (1956) S. 257. S . S . K i n d : Absorbtion-elution grouping of dried blood stains on fabrics. Nature 187 (1960) S. 789. H. K l e i n und Ε. L a c k o v i c : Zum Spurennachweis von Milch. Beitr. z. gerichtl. Med. 22 (1961) S. 173. I. K l o s e : Störungen der Blutartbestimmungen durch Eigenheit des Substrates und deren Vermeidung. DZGerMed. 52 (1961/92) S. 267. H. L e i t h o f f und I. L e i t h o f f : Neue Ergebnisse immun, elektrophoretischer Untersuchungen des menschlichen Samenplasmas. Med. Welt 1962 S. 181. L. C. N i c k o l l s , M. P e r e i r a : Α study of modern methods of grouping dried blood stains. Med. Sei. and the law 2 (1902) S. 2. O. P r o k o p : Die menschlichen Blut- und Serumgruppen. Genetik, Beitrag 2, Jena 1963. F. S c h l e y e r : Beziehungen zwischen der Nachweisbarkeit des Geschlechtschromatins in den Oberhautzellen und dem Leichenalter. Schweiz. Z. Pathol, u. Bakteriol. 20 (1954) S. 280. E. W e i n i g : Eine Methode zur Altersbestimmung von Blut- und Spermaflecken. DZGerMed. 43 (1954) S. 1. 2. Der
Tod
und
seine
scheinungen,
Feststellung,
Leichener-
Todeszeit
Jeder Mensch stirbt daran, daß das Gewebe nicht mehr den zum Leben erforderlichen Sauerstoff erhält; dies ist sowohl die Folge des Herzstillstandes als auch des Sistierens der Atmung (Atemlähmung). Einzelne Gewebe überleben allerdings. Die Regenbogenhaut des Auges reagiert noch 2 bis 4 Stunden lang auf Medikamente, die Flimmerhaare an der Oberfläche des Atmungskanals schlagen zunächst weiter, die Samenfäden in den Samenblasen zeigen noch lange Beweglichkeit, die Muskulatur bleibt erregbar, wenn man sie mechanisch reizt, und zwar 2 Stunden lang, mitunter auch viel länger. Die einzelnen Gewebsarten sind gegenüber Sauerstoffmangel verschieden empfindlich. Am empfindlichsten ist das Gehirn, seine Zellen sterben am schnellsten ab. Auch wenn einzelne Gewebsarten überleben, so ist es in
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solchen Fällen doch nicht mehr möglich, das Leben des ganzen Körpers zurückzurufen; man pflegt praktisch den Eintritt des Todes nach dem Sistieren von Atmung und Kreislauf festzustellen, auch wenn diese oder jene Gewebsart bei Anstellung von Spezialuntersuchungen noch Leben zeigen sollte. Die Gefahr des sogen. S c h e i n t o d e s ist erheblich übertrieben worden. In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg wurde allerdings ein solcher Zustand einwandfrei beobachtet und beschrieben; es ist auch vorgekommen, daß bei Flüchtlingstransporten am Ende des 2. Weltkrieges hier und da ein Todesfall zunächst zu Unrecht festgestellt wurde, und zwar infolge zu oberflächlicher Untersuchung. Stirbt jemand im Krankenhaus oder auch in seiner Wohnung nach vorangegangener Krankheit, die den Eintritt des Todes voraussehen ließ, und kann der Arzt trotz sorgfältiger Beobachtung Herztätigkeit und Atmung nicht mehr feststellen, so ist er berechtigt, den Eintritt des Todes zu konstatieren. Stirbt aber jemand aus voller Gesundheit heraus und ist ärztliche Behandlung nicht vorangegangen, so muß größte Sorgfalt bei der Feststellung des Todes empfohlen werden; man wartet am besten, bis sich die ersten Totenflecken am Halse zeigen, die schon 20 Minuten nach Eintritt des Todes auf zutreten pflegen; sie gelten als untrügliches Zeichen für den Eintritt des Todes. Der Tod muß amtlich durch die L e i c h e n s c h a u festgestellt werden. In Süddeutschland haben wir die sogen. Bezirksleichenschau; für einen bestimmten Bezirk werden ein Leichenschauer und ein Stellvertreter bestellt, es handelt sich meist um Ärzte; doch ist im Bereiche des früheren Landes Baden die Laienleichenschau sehr verbreitet; früher wurden hier Ärzte als Leichenschauer gar nicht bestellt. Charakteristisch für die Bezirksleichenschau ist, daß der Tod vom zuständigen Leichenschauer festgestellt werden muß, der je nach den Bestimmungen des Landes eine Anzeigepflicht hat; so muß er jeden Verdacht auf einen nicht natürlichen Tod der zuständigen Behörde, meist der Staatsanwaltschaft, melden. In Norddeutschland, namentlich im Bereich des früheren preußischen Staates, haben wir die allgemeine Leichenschau; jeder Arzt ist gleichzeitig Leichenschauer und kann unabhängig von jeder Bezirkseinteilung den Tod in allen Fällen feststellen, zu denen er zugezogen wird, und den Leichenschauschein ausstellen. Eine Vereinheitlichung des Leichenschaurechtes wäre erwünscht. Der Vorzug zu geben wäre der Bezirksleichenschau, weil hierbei eine Anzeige der verdächtigen Fälle besser gewährleistet ist. Kommt ein nicht natürlicher Tod in Frage, so gehört es zu den Aufgaben des zugezogenen Arztes, diejenigen Befunde zu erheben, die Rückschlüsse auf die T o d e s z e i t erlauben. Man verlange nicht vom Arzt, daß er die in Betracht
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kommende Todeszeit sofort nennt; der Arzt der Praxis wird nur selten mit Fragen der gerichtlichen Medizin befaßt, man kann nicht erwarten, daß er die einschlägigen Zahlen im Kopie hat; es genügt, wenn er die in Betracht kommenden Befunde erhebt; Rückschlüsse hinsichtlich der Todeszeit können später von Ärzten mit Fachkenntnissen gezogen werden. Die meisten Menschen sterben mit offenen Augen, die Hornhäute der Augen pflegen nach einer s / 4 Stunde zu betrocknen und sind dann nicht mehr völlig durchsichtig. Waren die Augen geschlossen, so tritt die Betrocknung erst nach 24 Stunden ein. Nach dem Tode kühlt der Körper ab; mißt man die Temperatur des Mastdarmes, so pflegt man bei stubenwarmer Außentemperatur nach dem Tode etwa 4 Stunden lang einen Temperaturrückgang um je 1° C zu beobachten; in den nächsten Stunden geht das Ausmaß des Temperaturabfalles etwas zurück; hat vor dem Tode Fieber bestanden, so muß man mit der Möglichkeit von postmortalen Temperaturerhöhungen rechnen. Beim Befühlen des Körpers pflegt man eine Abkühlung der unbekleideten Hände und des Gesichtes schon nach 1 bis 2 Stunden festzustellen, nach 4 bis 5 Stunden auch eine Abkühlung der bekleideten Körperteile. Hat der Kreislauf ausgesetzt, so sackt das Blut in den Gefäßen der Schwere nach nach unten; dadurch füllen sich die Gefäße unter der Haut der tiefer liegenden Körperteile, sie wird rot; auf diese Weise kommen die T o t e n f l e c k e n zustande. Drückt man mit dem Finger auf die Haut im Bereiche der Totenflecke, so preßt man das Blut aus den Gefäßen unter der Haut heraus, sie blaßt im Bereiche des Fingerdruckes ab und rötet sich wieder nach einiger Zeit (hypostatische Totenflecke); sie entstehen meist zuerst am Halse, und zwar schon 20 bis 45 Minuten nach dem Tode. Nach etwa 8 bis 10 Stunden lassen sie sich nicht mehr völlig wegdrücken, die Haut blaßt nur noch etwas ab: diese Änderung des Verhaltens kommt so zustande, daß die roten Blutkörperchen sich auflösen und das Serum rot färben (Hämolyse); das blutfarbstoffhaltige Serum tritt aus den Gefäßen aus und verfärbt das Gewebe der Haut; ist dies geschehen, dann läßt sich der Totenfleck nicht mehr fortdrücken, man spricht nunmehr von Diffusions-Totenflecken. Nach dem Tode wird die Muskulatur des Körpers starr ( T o t e n s t a r r e ) . Über die biochemischen Einzelheiten der Entstehung dieser Starre ist man sich immer noch nicht ganz klar. Die Starre pflegt von oben nach unten fortzuschreiten; sie beginnt im Kiefergelenk, und zwar nach 2 bis 4 Stunden; bis sie sich auf den ganzen Körper ausgedehnt hat, vergehen 6 bis 8 Stunden. Löst man ein totenstarres Glied gewaltsam, so bildet sich die Starre wieder, wenn 7 bis 8 Stunden seit dem Tode vergangen sind, später nicht mehr. Die
Lösung erfolgt in der gleichen Reihenfolge, und zwar nach etwa 48 Stunden; bis sie in allen Körperteilen spontan gelöst ist, pflegen 3 bis 4 Tage zu vergehen; bei hohen Außentemperaturen muß man mit einem schnelleren Ablauf rechnen. Ausnahmsweise beginnt die Totenstarre auch in den unteren Gliedmaßen und schreitet nach oben fort, nach unseren Erfahrungen besonders dann, wenn der Kopf der Leiche tief und die Füße höher lagen. Findet man eine Leiche vor, bei der die Lerchenstarre überall ausgebildet ist, jedoch nicht im Bereiche der oberen Gliedmaßen, so ist der Schluß berechtigt, daß früher jemand bei der Leiche war und vielleicht versucht hat, durch Ziehen an den Armen den scheinbar Schlafenden zu wecken. Unter kataleptischer Totenstarre versteht man eine sofort nach dem Tode auftretende Starre, die den Körper in der Stellung fixieren würde, in der er sich bei Eintritt des Todes befand; sie kommt vor, ist aber äußerst selten; man tut gut, mit dieser Erscheinung in derPraxis zunächst nicht zu rechnen. Im Rahmen der L e i c h e n z e r s e t z u n g unterscheidet man zwischen Autolyse, d. h. Zersetzung des Gewebes durch die im Körper noch wirksamen Fermente (ζ. B. saure Erweichung der Magenschleimhaut), und den Erscheinungen der Fäulnis und der Verwesung. Die Fäulnis, die auf Entziehung von Sauerstoff beruht und durch das Auftreten von Bakterien bedingt wird, herrscht in der ersten Zeit vor, später stehen Verwesungsvorgänge im Vordergrund; das Gewebe oxydiert hierbei und zerfällt zundrig. Bei der Fäulnis entsteht ein als widerlich empfundener Gestank, bei der Verwesung ein nicht ganz so unangenehmer Modergeruch. Die Fäulniserscheinungen beginnen meist mit Grünfärbung der Bauchhaut und einem Sichtbarwerden der Blutadern auf der Haut als schmutzig-blaurote Stränge. Durch die Fäulnisgase wird der Leib aufgetrieben; ist eine verstorbene Frau schwanger gewesen, so kommt es vor, daß die Gebärmutter durch die sich entwickelnden Fäulnisgase in der Bauchhöhle nach außen zu ausgestülpt wird; vielleicht wirkt manchmal auch eine Totenstarre der Gebärmuttermuskulatur mit; späterhin liegt die Frucht zwischen den Beinen der verstorbenen Frau (Sarggeburt), was manchmal zu unberechtigten abenteuerlichen Vorstellungen Anlaß gibt. Bis die Weichteile einer Leiche im Erdgrab verschwunden sind, vergehen 2 bis 4 Jahre. Die Bänder und Knorpel pflegen nach 3 bis 4 Jahren zerstört zu sein. Sind 5 und mehr Jahre vergangen, so findet man meist nur noch das Skelett vor; ist aus den Knochen auch das Fett verschwunden, so pflegen 5 bis 10 Jahre vergangen zu sein; kann man die Knochen durchbrechen, sind sie verwittert, und haben sie eine poröse Oberfläche, so mögen seit dem Tode etwa 50 Jahre vergangen sein.
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Liegen Leichen in feuchter Erde, etwa im Wasser oder in nicht durchlässigem Lehmboden, so kommt es zu einer eigenartigen Umbildung des Körperfettes, die auf einer Verbindung der Fettsäuren mit Calzium und Kalium zu beruhen scheint; das F e t t wird seifig, es treten charakteristische Knötchen auf, auch die Muskulatur kann in dieser Weise umgewandelt werden (Fettwachsbildung, Adipocire). Fettwachsbildung in der Muskulatur beobachtet man im allgemeinen erst nach 3 Monaten, Umbildung der tiefen Muskeln in Fettwachs meist erst nach 1 J a h r . Unter besonderen Umständen, so bei warmer Wasssertemperatur oder in Fällen, in denen die Haut der Leiche infolge zufälliger Einwirkungen, wie Schiffschraubenverletzungen, ausgedehnt abgelöst wird, kann man eine Fettwachsbildung in großem Umfange auch viel früher beobachten, etwa nach 6 Wochen. Fällt die Fäulnis aus und kommt es gleich nach dem Tode zu Verwesungserscheinungen, ζ. B . wenn die Leiche im Winde schnell austrocknet, so entsteht eine sogen. M u m i f i k a t i o n . Die Haut bleibt erhalten und trocknet bräunlich ein, die Gesichtszüge können kenntlich sein, man kann unter Umständen Verletzungen erkennen; eine Mumifikation kann künstlich zwecks Konservierung der Leiche durch Eingießen geeigneter Flüssigkeiten herbeigeführt werden. Es ist eigenartig, daß es in bestimmten Grüften nicht zur Fäulnis der Leichen, sondern zur Mumifikation kommt; man denkt an radioaktive Einwirkungen; doch sind die Verhältnisse noch nicht genauer erforscht worden. Leichen von Menschen, die vor dem Tode mit den jetzt üblichen Antibiotika behandelt wurden (Penicillin und ähnliche Medikamente), gehen langsamer in Fäulnis über, wahrscheinlich infolge Behinderung des Bakterienwachstums.
abhängig; es ist vorgekommen, daß schon 7 bis 8 Tage nach dem Tode Puppenhülsen an den Leichen zu finden waren. Weitere Leichenverletzungen können durch Ratten oder auch Katzen zustande kommen; Füchse verschleppen manchmal Leichenteile; Ameisen können in kurzer Zeit Weichteile vernichten und einen Schädel oder eine Kindesleiche skelettieren.
Die moderne Forschung ließ es sich angelegen sein, durch biochemische Untersuchung der Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten und der Gewebe genauere Anhaltspunkte für die Todeszeit zu gewinnen; doch sind die Forschungen noch nicht so weit vorgeschritten, daß sich die Ergebnisse in der Praxis verwerten lassen; auch sind die Laboratorien für diese Untersuchungen nicht überall eingestellt.
3. Leichenuntersuchungen unter gerichtsmedizinischen Fragestellungen
An der Zerstörung der Leichen kann der T i e r f r a ß erheblichen Anteil nehmen. Fast unmittelbar nach dem Tode können Fliegen ihre Eier in den Nasenöffnungen, Mundwinkeln und Augenwinkeln ablegen; bis lebende Maden ausgekrochen sind, vergehen etwa 10 Stunden; haben sich die Maden verpuppt, so sind meist 10 bis 14 Tage vergangen, findet man nur noch Puppenhülsen, sind also die Fliegen ausgekrochen, so pflegen weitere 7 bis 8 Tage vergangen zu sein. Die Metamorphose der Fliegenlarven ist allerdings nicht unerheblich von der Außentemperatur
Obwohl es sich hier um einen botanischen Vorgang handelt, sei erwähnt, daß das Chlorophyll der Gräser schwindet, wenn Gras vom Licht etwa eine Woche lang abgeschlossen wird (sogen. Etoilieren der Gräser); stellt man fest, daß die Grasdecke, auf der eine Leiche gelegen hat, abgeblaßt ist, so kann man schließen, daß die Leiche an dieser Stelle wohl mindestens 1 Monat gelegen hat. G. D o t z a u e r : Idlomuskulärer Wulst und postmortale Blutung bei plötzlichen Todesf&llen. DZGerMed. 4Θ (1968) S. 761. L. F e d e r h e n : Leichenwesen, In: Der Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes. 1963. S. 691. G. F ü n f h a u s e n und O. P r o k o p : Über die postmortale Pupillenreaktion auf pharmakologische Heize. DZGerMed. 49 (1959/60) S. 181. B. M u e l l e r : Zur Frage des Beginns einer umfangreichen Fettvachsbildung an der Leiche und zur Schätzung der Todeszeit. ArchKrim. 127 (1961) 8. 35. V. M. P a l m i e r i und G. R o m a n o : Das Choleglobin als grünes Leichenhämopigment. DZGerMed. 46 (1957/58), 8. 42. W. R e i m a n n : Zur Frage der frühzeitigen Lelchenwachsbildung. Wissensch. Z. der Universität Halle-Wittenberg 3 (1953/54) S. 459. F. S c h l e y e r : Postmortale klinisch-chemische Diagnostik und Todeszeitbestimmung mit chemischen und physikalischen Methoden. 1958. K. S e l l i e r : Todeszeitbestimmung durch Extrapolation von Temperaturabfallkurven. Acta Med. leg. soc. 11 (1958) S. 279. H. J . W a g n e r : Die Beeinflussung postmortaler physikalisch-chemischer Vorgänge durch Antibiotika und Sulfonamide. DZGerMed. 53 (1963), S. 95.
Gerichtliche Leichenöffnungen haben nicht nur zum Ziele, die Todesursache festzustellen; man muß vielmehr auch versuchen, an Hand der Leichenbefunde den Tathergang zu rekonstruieren. Vielfach kennt man die Fragestellungen noch nicht, die später auftreten; daher ist es erforderlich, alle Befunde, auch anscheinend belanglose, genau zu beschreiben. Bei Verkehrsunfällen wird man mitunter späterhin gefragt, durch welchen Teil des Kraftwagens der Verstorbene umgeworfen wurde, ob ein Rad über ihn hinübergegangen ist und wo; man wird Abdrücke von Reifenprofilen, die an der Haut oder an den Kleidern kenntlich sind, beschreiben und photographieren lassen müssen. Die gerichtsmedizinische Untersuchung beginnt nicht an der Haut, sondern mit einer Beschreibung der Kleider; man muß darauf achten, daß
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sie vorgelegt und, falls erforderlich, für weitere Untersuchungen beschlagnahmt werden. Die Leichenöffnung schließt bei der gerichtlichen Sektion mit dem vorläufigen und bei einfach gelagerten Fällen mit dem endgültigen Gutachten. Wir pflegen zunächst kurz zu schildern, was bekannt ist, und zwar unter Benutzung der Akten oder von Mitteilungen, die uns vom Gericht oder von der Polizei gemacht werden; dann äußern wir uns über den Gesundheitszustand des Verstorbenen, danach werden etwaige Verletzungen geschildert; schließlich wird mitgeteilt, welche Verletzungen den Tod herbeigeführt haben. Ist ein abschließendes Gutachten erforderlich, so muß man das Ergebnis der Ermittlungen, die inzwischen durchgeführten histologischen und etwaigen chemischen Untersuchungen berücksichtigen. Um weitere Ermittlungen zu fördern, ist es unter Umständen auch Aufgabe des Gutachters, Verdachtsmomente zu äußern, doch muß dabei deutlich zum Ausdruck kommen, daß es sich eben nur um Verdachtsmomente und nicht um bewiesene Schlußfolgerungen handelt. Die gerichtliche Leichenöffnung wird von der Staatsanwaltschaft beantragt und vom Amtsgericht durchgeführt; zugegen ist der Richter, das Protokoll führt ein Urkundsbeamter, er kennt meist die medizinischen Ausdrücke nicht. Es wird gern gesehen, wenn das Protokoll inoffiziell von einer einschlägig versierten Sekretärin des Gerichtsarztes niedergeschrieben wird. Die Leichenöffnung muß von zwei Ärzten durchgeführt werden, von denen einer der zuständige Gerichtsarzt ist (§§ 86, 87, 88, 89 StPO). Es wird vielfach als notwendig empfunden, auch andere Möglichkeiten einer behördlichen Sektion zu schaffen, ohne daß der verhältnismäßig große Apparat einer gerichtlichen Leichenöffnung aufgeboten werden muß. Der Richter ist häufig durch andere dringende Obliegenheiten verhindert, ein Referendar, der als Richter kraft Auftrages fungieren kann, steht vielfach nicht zur Verfügung. Man hat immer wieder die Einführung von sog. Verwaltungssektionen gewünscht, etwa derart, daß sie bei unklaren Todesfällen, deren Klärung aus rechtlichen oder gesundheitspolizeilichen Gründen zweckmäßig ist, von der Polizei oder dem Gesundheitsamt angeordnet und ohne den Aufwand einer gerichtlichen Sektion durchgeführt werden können. In Österreich gibt es schon seit alter Zeit sanitätspolizeiliche Sektionen, ebenso im Lande Hamburg, auch in der DDR sind sie eingeführt. Es kommt häufig vor, daß Berufsgenossenschaften, Versorgungsämter oder auch private Unfallversicherungen Leichenöffnungen zur Klärung der Todesursache oder eines etwaigen Kausalzusammenhanges zwischen Unfall und Tod herbeiführen; sie sind allerdings nur mit Zustimmung der Angehörigen statthaft. Das Feuerbestattungsgesetz gibt gleichfalls die Mög-
lichkeit einer behördlichen Sektion bei unklaren Todesfällen und schließlich § 32 Abs. 4 des Bundesseuchengesetzes, sofern die Klärung der Todesursache sanitätspolizeilich wichtig erscheint. Praktisch wird von der Möglichkeit einer Herbeiführung einer Feuerbestattungssektion oder einer Sektion bei Verdacht des Vorliegens einer ansteckenden Krankheit nur wenig Gebrauch gemacht, es sei denn, daß sich örtlich besondere Verhältnisse ausgebildet haben. In der Zeit der zunehmenden Spezialisierung wird es immer seltener, daß die Ärzte der Gesundheitsämter, sofern ihnen nicht ein besonders ausgebildeter Gerichtsarzt zur Verfügung steht, die Technik der Leichenöffnung beherrschen. Man geht daher manchmal so vor, daß man in geeigneter Weise ausgebildete Obduzenten (Ärzte der Institute für gerichtliche Medizin, u. U. auch Pathologen) mit der Wahrnehmung der gerichtsärztlichen Sektionstätigkeit für gewisse Bezirke im Rahmen der Tätigkeit der Gesundheitsämter durch Vertrag oder durch Ministerialerlaß bestellt. Bei Beurteilung von K a u s a l z u s a m m e n h ä n g e n wird man berücksichtigen müssen, daß im Strafrecht und auch im Zivilrecht dieser Zusammenhang mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden muß. Dreht es sich um einen Kausalzusammenhang im Rahmen der Unfallversicherung oder der Versorgung von Angehörigen von Kriegsteilnehmern, so genügt für den Nachweis Wahrscheinlichkeit. Bei Sektionen für private Unfallversicherungen gibt es eine Aufteilung der Kausalität derart, daß der Anteil der Einwirkung von Krankheiten, die mit dem Unfall nichts zu tun haben, prozentual abgezogen wird; die Versicherungssumme wird entsprechend gekürzt; bei Meinungsverschiedenheiten entscheidet eine sog. Ärztekommission, wodurch manchmal schwierige Prozesse vermieden werden. E x h u m i e r u n g e n sind nach § 87 Ziff. 3 StPO vorgesehen; sie werden mit Zustimmung der Angehörigen auch nicht selten von Berufsgenossenschaften herbeigeführt. Die Erfahrung lehrt, daß bei Exhumierungen vielfach mehr herauskommt, als erwartet wurde, auch verspricht eine toxikologische Untersuchung namentlich beim Vorliegen einer Vergiftung mit Metallgiften noch langp Zeit nach dem Tode Erfolg. Manchmal müssen auch aufgefundene L e i c h e n t e i l e untersucht werden. Hierbei ist es wichtig, alle Messungen und Beschreibungen vorzunehmen, die geeignet sind, eine Identifizierung des Opfers herbeizuführen. Man kann aus einzelnen Knochen nach bestimmten Formeln die ungefähre Länge des Verstorbenen berechnen. Findet man das Becken oder auch das Brustbein, so ist vielfach eine Geschlechtsdiagnose möglich, auch können Knochen wertvolle Hinweise auf das Lebensalter des Betreffenden geben. Bei L e i c h e n -
Gerichtliche Medizin Z e r s t ü c k e l u n g e n unterscheidet man aktive und passive. Zu einer aktiven Leichenzerstückelung kommt es manchmal nach Sexualdelikten auf sadistischer Grundlage, ζ. B. Versuch des Abschneidens einer weiblichen Brust, Herausschneiden des Herzens. Solche Vorfälle sind jedoch ziemlich selten. Etwas häufiger ist der Versuch der passiven Leichenzerstückelung, sie geschieht, um die Leiche des getöteten Opfers zu beseitigen (ζ. B. Auseinanderteilen des Körpers mit der Kreissäge, Versenken der einzelnen Leichenteile nach Verpackung an verschiedenen Stellen eines Flusses). Wenn man nach Abschluß der Leichenöffnung eine Rekonstruktion vornimmt, so muß man sich nach Möglichkeit darüber schlüssig werden, ob ein natürlicher Tod (meist in Form eines unerwarteten Todes aus natürlicher Ursache), eine Selbsttötung oder eine gewaltsame Tötung unter Beteiligung eines anderen vorliegt. Es gibt kaum eine Krankheit, die nicht einmal einen u n e r w a r t e t e n T o d a u s n a t ü r l i c h e r U r s a c h e auslösen könnte. Geht die Todesursache vom Gehirn aus, so kommt eine Hirnblutung (sog. Schlaganfall) in Frage und bei jüngeren Menschen eine Zerreißung einer erweiterten kleinen Schlagader am Hirngrunde (Aneurysma am Hirngrunde). Die häufigste Ursache des unerwarteten Todes ergibt sich aus Erkrankungen der Herzens; es handelt sich um Verstopfungen oder Lichtungsverengerungen der durch Aderverkalkung veränderten Kranzschlagadern des Herzens, die das Herz mit Blut versorgen. Wird Partien der Herzmuskulatur auf diese Weise sauerstoffhaltiges Blut entzogen (Herzinfarkt), so kommt es vielfach zum plötzlichen Herztod. Manchmal, aber nicht immer, gehen Beschwerden voraus; der Betreffende klagt über Druckgefühl in der Brust (Angina pectoris), das mitunter mit heftigen Schmerzen verbunden ist, die oft in den linken Arm, manchmal auch in die obere Bauchgegend ausstrahlen, so daß zunächst Vergiftungsverdacht entsteht. In anderen Fällen ist ein Blutsturz der Anlaß zum Tode, das Blut kann kommen aus tuberkulös veränderten Lungen oder auch aus Krampfadern, die sich an der Speiseröhre bei Leberveränderungen bilden können, oder auch aus einem blutenden Magengeschwür. Eine geläufige kriminalistische Regel, von der es natürlich Ausnahmen gibt, geht dahin, daß das Vorhandensein von sehr viel Blut am Sterbeort eher für einen natürlichen Tod als für einen Mord spricht. Ein befruchtetes Ei siedelt sich in Ausnahmefällen nicht in der Gebärmutter, sondern im Eileiter an. Wird dies nicht rechtzeitig bemerkt, oder werden die entstandenen Beschwerden mißdeutet, so platzt die Eiblase, und die Frau verblutet in die Bauchhöhle; manchmal entsteht fälschlich der Eindruck, es habe sich um eine Abtreibung gehandelt. Manchmal wird der unerwartete Tod aus natürlicher
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Ursache auch mit Unfällen in Verbindung gebracht. Bei Verkehrsunfällen kommt es nicht selten zur Gewalteinwirkung auf die Herzgegend, hierdurch wird eine Herzerschütterung oder Herzquetschung ausgelöst (Commotio oder Contusio cordis), die mitunter etwas später den Tod herbeiführen kann, und zwar unter Verhältnissen, wie sie beim Herzinfarkt geläufig sind. Manchmal wird eine Herzerschütterung nur dadurch gefährlich und führt zum Tode, daß zusätzlich schwere krankhafte Veränderungen der Kranzschlagadern bestehen, die mit dem Unfall nichts zu tun haben. In solchen Fällen kann es durchaus vorkommen, daß das Ergebnis der Begutachtung für die Staatsanwaltschaft, für die Berufsgenossenschaft oder für eine private Unfallversicherungsgesellschaft, je nach den Rechtsanforderungen an den Kausalzusammenhang, verschieden ist. Bezüglich des S e l b s t m o r d e s (siehe unten Abschn. 4) sei vom kriminalistischen Standpunkt aus erwähnt, daß man einen kombinierten Selbstmord, einen erweiterten, einen simulierten und einen dissimulierten Selbstmord kennt. Beim kombinierten Selbstmord werden mehrere Tötungsarten nebeneinander angewandt (ζ. B. Einnahme von Ε 605, Versuch des Durchschneidens der Speichenschlagader, Versuch des Halsduichschneidens, untauglicher Versuch, sich aufzuhängen, Stich in die Bauchhöhle nach der Herzgegend zu, aber schließlich dann doch Tod infolge Vergiftung durch Ε 605). Beim erweiterten Selbstmord nimmt der Selbstmörder u. U. denjenigen in den Tod mit, der dazukommt und in guter Absicht versucht, die Selbsttötung zu verhindern. Beim simulierten Selbstmord hat der Täter das Bestreben, die Tötung zu seinem eigenen Schutz als Selbstmord erscheinen zu lassen (nachträgliches Aufhängen eines erdrosselten Opfers oder Hineindrücken der Schußwaffe in die Hand des Toten). Beim dissimulierten Selbstmord besteht das Bestreben, die Selbsttötung als Unglücksfall erscheinen zu lassen, etwa um der Familie die Schande des Selbstmordes zu ersparen und ein kirchliches Begräbnis zu erreichen oder auch um eine Versicherung zur Hergabe der Versicherungssumme zu bewegen; es ist auch vorgekommen, daß der Selbstmord getarnt wurde aus Wichtigtuerei oder auch aus Rache, um andere der Tötung zu verdächtigen.
K. H ä n d e l : Gerichtliche Leichenöffnung. Krim. 11 (1957) S. 290. G. H a n s e n : Der gerichtlich-medizinische Unterricht in Hinsicht auf die gültigen Gesetze über das Leichenschauwesen. Dtsch. Ges. Wes. 15 (I960) S. 91. G. H. H e n n i n g e r : Zur Bedeutung der gerichtlichen Leichenöffnung für die Verbrechensaufklärung. ArchKrim. 125 (1960) S. 44. H. K ö s t l i n : Private Unfallversicherung, in: Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, hrsg. von H. Bürkle de la Camp und B. Rostock. 1955. S. 53.
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4. Gewaltsame
Todes- und
Yerletzungsarten
S t i c h - u n d S c h n i t t v e r l e t z u n g e n werden verursacht außer durch Dolche, Messer, Scheren usw. durch Glassplitter und scharfe Blechkanten, ζ. B. durch die geöffnete Klappe des Handschuhkastens im Kraftwagen. Bei den Todesursachen stehen im Vordergrund Blutungen nach innen und außen und Infektionen. Besonders dann, wenn der Einwand der Notwehr gemacht wird, wird die Frage der H a n d l u n g s f ä h i g k e i t nach Empfang einer Verletzung wichtig. Bei Schädigungen des Gehirns durch Stichinstrumente (es ist bemerkenswert, daß keineswegs besonders starke Küchenmesser ziemlich leicht durch den Schädel hindurchgehen können) kann die Handlungsfähigkeit erhalten bleiben, wenn nur Regionen verletzt werden, die feststellbare Funktionen nicht auslösen, wie ζ. B. das Stirnhirn. Nach Stichen in den Brustkorb entsteht vielfach ein Pneumothorax (Luftansammlung zwischen Lunge und Brustwand) ; der Spalt zwischen Lungenfell und Brustfell steht unter negativem Druck. Wird er eröffnet, so sinkt die Lunge zusammen und atmet nicht mehr. Er kommt zur Kurzatmigkeit, die jedoch die Handlungsfähigkeit nicht aufhebt; ist die Lunge selbst verletzt worden, so tritt nach einiger Zeit schaumiges Blut aus Mund und Nase. Ist der Brustkorb auf beiden Seiten verletzt, so kann ein doppelseitiger Pneumothorax resultieren; beide Lungen sinken zusammen, der Betreffende ist nicht mehr handlungsfähig und kommt in kürzester Zeit ums Leben. Wird jedoch die Entstehung eines Pneumothorax auf einer Seite oder beiden Seiten dadurch verhindert, daß alte Verwachsungen zwischen Lunge und Brustwand bestehen, etwa als Folge einer alten Tuberkulose mit Rippenfellentzündung, so braucht es nach Stichverletzungen im Bereiche beider Brusthälften weder zur Handlungsunfähigkeit noch zum Tode zu kommen. Nach Verletzungen des
Herzens dauert es eine Weile, bis aus der Verletzung, die sich bis zu einem gewissen Grade zusammenzieht, nach innen oder außen so viel Blut ausgespritzt ist, daß der Betreffende zusammensinkt. Ein junger Mann, der einen Herzstich in die rechte Kammer erhalten hatte, ging noch 7 m, bevor er zusammenbrach (Beobachtung aus der letzten Zeit). Die Wand der Vorhöfe des Herzens enthält nur wenig Muskulatur; Stichverletzungen im Bereiche der Vorhöfe ziehen sich nicht zusammen; eine Handlungsfähigkeit pflegt bei diesen Verletzungen nicht mehr zu bestehen. Ist das Bauchfell verletzt, so kommt es meist zum sogen. Bauchfellschock; der Betreffende sinkt zusammen, er kann meist nicht mehr aufstehen, auch nicht fortlaufen und nicht angreifen. Ganz seltene Ausnahmen mögen vorkommen. Handlungsunfähigkeit bedeutet nicht auch Unfähigkeit, die Verletzung zu überleben; auch wenn nach Bauchverletzungen Darmschlingen verletzt sind, kann die Verletzung überlebt werden, wenn sie von chirurgischer Seite nach nicht allzu langer Zeit verschlossen wird. Bei Untersuchung einer Stichverletzung wird häufig die Frage gestellt, ob man etwas über das Ins t r u m e n t aussagen kann. Bezüglich der Gestalt der Wunde in der Haut und dem Querschnitt des Stichinstrumentes besteht keine genaue Relation. Wird ein rundes Instrument, etwa eine Rundpfeile, in die Haut eingestoßen, so entsteht kein rundliches Loch, sondern ein Spalt, entsprechend der sogen. Spaltbarkeitsrichtung der Haut. Ist ein Messer benutzt worden, so kann die Stichwunde kürzer sein, als das Messer breit ist; die Haut zieht sich späterhin etwas zusammen; die Verletzung kann aber auch länger sein, als der Breite des Instrumentes entspricht; vielfach wird bei Stichverletzungen nicht nur zugestochen, sondern auch geschnitten (Stich-Schnitt-Verletzung), besonders wenn der Betreffende Abwehrbewegungen macht. Der Stichkanal kann etwas länger sein, als der Länge der Messerklinge entspricht, die Haut wird eingedrückt; ein weiteres Mißverhältnis kann bei Bruststichen durch die Atembewegungen zustande kommen. Die Gestalt eines Instrumentes kommt mitunter dann gut zum Ausdruck, wenn die Stichverletzung in feste Organe hineingeht, in die Leber, in die Nieren, in Knorpel und Knochen. Man kann die Darstellung des Stichkanals mitunter mit Erfolg so versuchen, daß man ihn mit Röntgenbrei ausfüllt und das betreffende Organ in geeigneten Ebenen einer Röntgenuntersuchung unterzieht. War das Tatwerkzeug ein „Sägemesser", wie es vielfach im Haushalt benutzt wird, so zeichnet sich an durchtrenntem Knorpel vielfach ein entsprechendes Relief ab, kenntlich bei Schräglichtbeleuchtung. Bei S e l b s t m o r d e n durch Schnittverletzungen beobachtet man nicht so selten, als man glauben sollte, Selbst-
Gerichtliche Medizin tötungen durch Halsschnitt; außer einem Messer wird nicht selten eine Rasierklinge benutzt, manchmal auch eine Glasscherbe. Ist der Betreffende Rechtshänder, so wird er das Instrument an der linken Halsseite ansetzen; manchmal stellt er sich dabei vor dem Spiegel, strafft die Haut mit der linken Hand, schneidet aber häufig nicht entschlossen zu, sondern verletzt die Haut zunächst einmal oder mehrere Male oberflächlich; so entstehen die sogen. P r o b i e r s c h n i t t e . Dann erst schneidet er kräftig zu; es kommt vor, daß Kehlkopf und Speiseröhre durchschnitten werden; die Stichverletzung verläuft meist von links oben nach rechts unten. Da der Halsschnitt im Stehen durchgeführt wird, werden die Blutstraßen zuerst nach unten laufen; sobald der Betreffende niedergesunken ist, werden sie nach hinten zu verlaufen. Ist der Halsschnitt von anderen beigebracht worden, so werden die Probierschnitte fehlen; etwa dazwischenliegende Kleidungsstücke, ein Schal oder ein Mantelkragen, werden dann mitverletzt; auch ist die Schnittrichtung nicht einheitlich; sie kann hin und her wechseln. Daß ein Selbstmörder bei Beibringung des Halsschnittes in den Knochen der Wirbelsäule hineinschneidet, ist noch nicht beobachtet worden; stellt man hier Scharten fest (etwa bei der Exhumierung), so ist dies ein Beweis für Beibringung der Verletzung von fremder Hand. Das Aufschneiden der sogen. Pulsschlagader (Arteria radialis) ist relativ häufig; auch hier wird nicht sofort zugeschnitten, es resultieren häufig parallel verlaufende oberflächliche Probierschnitte, die Schlagader wird oft nicht getroffen, manchmal werden nur die Sehnen verletzt. Nur selten führt eine Durchtrennung der Speichenschlagader zum Tode; sinkt der Blutdruck ab, so kontrahiert sich das Gefäß und wird durch ein Gerinsel geschlossen; sind aber bei älteren Menschen die Gefäße verkalkt, so können sie sich nicht kontrahieren, der Tod wird unter diesen Umständen auch nach Durchschneiden der Speichenschlagader eintreten. Wer sich das Leben durch einen Herzstich nehmen will, hat eine Abneigung, die Kleider mit zu verletzen; die Haut wird freigelegt, höchstens wird noch das Hemd durchstochen. Bei Frauen scheint vielfach die Neigung zu bestehen, die weibliche Brust bei Herzstichverletzungen zu schonen; das Instrument wird so angesetzt, daß es zwar das Herz erreichen kann, aber nur den Rand der Brust trifft. Auch bei Selbstmordverletzungen des Herzens beobachtet man vielfach mehrere Stichverletzungen in der Herzgegend, einige sind oberflächlich, die zuletzt entstandene erreicht das Herz. Nimmt sich jemand in Gegenwart anderer das Leben, etwa durch Herzstich, so fehlen Probierstiche; der Täter müßte in diesem Falle fürchten, daß ihm die Waffe entwunden wird. Man sollte auch daran denken, daß Menschen sich u. U. selbst Stich-
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und Schnittverletzungen beibringen, aber zu Unrecht behaupten, andere hätten dies getan (vorgetäuschte Überfälle in politisch unruhigen Zeiten); man muß an der Leiche bzw. am Lebenden ausprobieren, ob der Betreffende wirklich in der Lage war, mit dem Instrument die jeweilige Körperregion zu erreichen; gefährliche Verletzungen wird sich der Betreffende in solchen Situationen nicht beibringen. Ist ein Stichinstrument verbogen, so kann dies daran liegen, daß es auf Knochen stieß; die Verbiegung kann auch so zustande gekommen sein, daß es nachher auf den Boden fiel. Die Verbiegung betrifft in beiden Fällen aber nur die Spitze. Ist ein Messer in der Mitte der Klinge verbogen, so kann dies ein gewisser Hinweis dafür sein, daß der Gestochene durch Drehung des Körpers eine Abwehrbewegung machte; es wird sich dann kaum um einen Selbstmord handeln können, vielmehr ist eher der Schluß berechtigt, daß die Beibringung der Verletzung von fremder Hand erfolgte; man muß allerdings ausschließen, daß der Verletzte zu einer Zeit, in der sich das Instrument im Körper befand, hingefallen ist. Ein Hineinlaufen in ein Stichinstrument ist im allgemeinen nur glaubhaft, wenn der Knauf das Instrumentes irgendwo fixiert wurde, ζ. B. wenn jemand gegen eine Wand lehnt und das Instrument mit dem Knauf auf die Brust gesetzt hat; ein Hineinstürzen wäre möglich, wenn jemand auf dem Boden liegt und den Knauf des Intrumentes entweder auf seine Brust oder auf den Fußboden aufgestützt hat. K . B o s c h : Über Stich- und Schnittverletzungen durch Messer mit geformten Schneiden. DZGerMed. 54 (19Θ3) S. 273. B. M u e l l e r : Mord oder Selbstmord durch Stich? ArchKrim. 122 (1958) S. 107. B. M u e l l e r , A . E r b a c h u. F. K a t h u d a : Untersuchungen über die Darstellung von Stichkanälen in den Organen durch Röntgenuntersuchung. Zacchla 22 (1959) S. 2. J . R a u s c h k e : Beitrag zur Erkennung von Scherenstichverlctzungen. DZQerMed. 45 (1956) S. 53.
Verletzungen durch s t u m p f e u n d h a l b s c h a r f e G e w a l t : Als Instrumente kommen Äxte, Knüppel, Latten usw. in Frage, fernerhin das Herabfallen von Gewichten oder Lasten. Zur Einwirkung stumpfer Gewalt kommt es auch durch Sturz, ζ. B. bei Verkehrsunfällen (siehe unten Abschn. 5). Wirkt auf die Haut eine nicht sehr starke stumpfe Gewalt ein, so entsteht eine H a u t a b s c h ü r f u n g (Excoriation); die oberste Schicht der Haut, die Hornschicht, geht ab; man sieht sie manchmal, seidenpapierartig zusammengeknittert, neben der Verletzung liegen; die Anordnung der abgeschilferten Hautfetzen gestattet manchmal Rückschlüsse auf die Richtung, aus der die Gewalt eingewirkt hat; nach einiger Zeit entstehen im Bereiche der Hautabschürfung Blutpunkte, die Blutpunkte fließen zusammen, das Blut trocknet ein, die Wunde wird durch einen
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Blutschorf geschlossen; dieser Schorf fällt ab, nachdem sich die Oberhaut neu gebildet hat, und zwar nach etwa einer Woche; eine weitere Woche hindurch ist mitunter noch eine Delle zu erkennen, alsdann ist die Verletzung abgeheilt, ohne eine Narbe zu hinterlassen. War die Gewalteinwirkunjf stärker, so resultiert eine Blutung unter der Haut (Suffusion, laienhaft b l a u e r F l e c k genannt); es ist bekannt, daß die Farbe dieser bläulichen Flecke späterhin ins Violette, ins Grüne und dann ins Gelbe überschlägt und daß erst dann der Fleck verschwindet; diese Farbänderung entsteht einmal dadurch, daß die Blutschicht im Verlaufe des Abtransportes des Blutes dünner wird und weiterhin durch chemische Umänderung des Blutfarbstoffes; Zeitschätzungen aus Farbveränderungen können nur mit sehr großer Vorsicht getroffen werden, allgemeine Angaben sind nicht möglich; der Farbwechsel scheint bei kleineren Blutungen schneller vor sich zu gehen, langsamer bei größeren Blutungen, besonders dann, wenn sie tiefer liegen; es muß bemerkt werden, daß die sog. blauen Flecke mitunter erst 12 oder 24 Stunden nach der Gewalteinwirkung zutage treten; eine Untersuchung gleich nach dem Vorfall ist mitunter ergebnislos, während man einen Tag später die Spuren der Gewalteinwirkung deutlich wahrnehmen kann (wichtig bei Untersuchungen nach Schlägereien oder nach Überfällen auf Frauen). War die Gewalteinwirkung auf die Haut eine erhebliche und lag dicht unter der Haut Knochen, ζ. B. bei der Kopfschwarte und bei der Haut über dem Schienbein, so kommt es zur Entstehung einer sog. P l a t z w u n d e ; die Haut ist aufgeplatzt, die Ränder sind unregelmäßig und geschürft; sie können in Ausnahmefällen aber auch gerade sein, so daß man diese Platzwunde mit einer Schnittwunde verwechseln kann; zieht man die Wundränder auseinander, so erkennt man am Grunde der Platzwunde sog. Gewebsbrücken; sie kommen so zustande, daß Sehnen und kleine Gefäße durch die stumpfe oder halbscharfe Gewalt nicht durchtrennt werden, sondern stehenbleiben; würde es sich um eine Schnittwunde handeln, so wären auch diese Gebilde durchtrennt worden; das Vorhandensein von Gewebsbrücken ist daher ein Zeichen dafür, daß es sich um die Einwirkung einer stumpfen oder halbscharfen Gewalt gehandelt hat, eine Schnittwunde ist auszuschließen. Wird mit der K a n t e eines Instrumentes auf die Kopfschwarte geschlagen, so entspricht die Länge der Wunde meist der Kantenlänge (Kante der Rückseite einer Axt, Kante eines Besens); Gewebsbrücken fehlen oft. Kommen mehrere Gewalteinwirkungen auf den Kopf in Betracht, so ist es notwendig, die Kopfschwarte genau zu untersuchen; findet man hier eine Verletzung oder Blutung, so weiß man, daß an dieser Stelle eine stumpfe Gewalt eingewirkt hat; man soll
sich nicht auf die Schädelbrüche allein verlassen, sie entstehen nicht immer am Orte der Gewalteinwirkung. Man unterscheidet direkte und indirekte S c h ä d e l b r ü c h e , die direkten liegen im allgemeinen am Orte der Einwirkung der stumpfen Gewalt, bei den indirekten ist dies meist nicht der Fall. Die direkten Schädelbrüche sind manchmal lochartig in den Schädel eingesprengt (Lochbrüche), dieses Loch kann der Gestalt des Instrumentes entsprechen, es braucht aber nicht immer so zu sein; diese direkte Schädelverletzung ist manchmal von zirkulären Bruchlinien umgeben (Äquatorialbrüche). Bei Einwirkungen stumpfer Gewalt wird auch der Gesamtschädel deformiert, er ist elastisch, die Deformation geht wieder zurück; dabei entstehen jedoch mitunter Bruchlinien, die senkrecht zur Gewalteinwirkung verlaufen (Meridionalbrüche); die Brüche des Schädelgrundes (Basisfrakturen) sind fast immer indirekte Schädelbrüche; der Schädelgrund ist weniger widerstandsfähig als das Schädeldach, daher kommt es hier häufiger zu indirekten Schädelbrüchen. Mitunter erkennt man am Schädel mehrere Bruchliniensysteme; ergibt sich bei der Untersuchung, daß sich Bruchlinien kreuzen, so erkennt man vielfach, daß hierbei eine Bruchlinie aufhört, wenn sie auf eine andere auftrifft. Man kann daraus schließen, daß die Bruchlinie, die an der anderen aufhört, später entstanden ist, und auf diese Weise unter Umständen auch feststellen, welches Bruchliniensystem früher zustande kam. Manchmal beobachtet man, daß um das Hinterhauptsloch des Schädels herum Bruchlinien verlaufen ( R i n g b r u c h der Schädelbasis); oft ist auch die Umgebung dieser Schädelöffnung ausgesprengt; dieser Ringbruch entsteht so, daß eine schwere stumpfe Gewalt entweder auf die Scheitelhöhe einwirkt und den Schädel in die Wirbelsäule hineinpreßt oder daß jemand mit so großer Gewalt auf die Gegend des Steißes fällt, daß sich die Wirbelsäule gewissermaßen in den Schädel hineinspießt. Ausnahmsweise kann dieser Ringbruch auch entstehen, wenn der Kopf des Betreffenden extrem nach rückwärts gebeugt wird und der Betreffende nach hinten überfällt; der Ringbruch entsteht dann durch Abscherung. Bei direkten Knochenverletzungen durch Äxte zeichnen sich mitunter die Scharten der Schneide im Knochen ab, so daß eine Identifizierung des Instrumentes erfolgen kann. Bei stumpfen Gewalteinwirkungen auf den Kopf (auch wenn ein Schädelbruch nicht entstanden ist) werden mitunter arterielle Gefäße der harten Hirnhaut verletzt oder Blutadern der weichen Hirnhaut durchgerissen; es kommt in solchen Fällen zu einer Blutung zwischen dem Schädelknochen und der harten Hirnhaut ( e p i d u r a l e s H a e m a t o m ) oder zwischen den beiden Hirnhäuten, sog. s u b d u r a l e s H a e m a t o m ; diese Blutungen
Gerichtliche Medizin sind dadurch bemerkenswert, daß nach der Gewalteinwirkung mitunter zunächst nichts zu merken ist; der Verletzte fühlt sich halbwegs wohl; nach einer halben Stunde oder auch nach viel längerer Zeit treten Kopfschmerzen auf, der Betreffende legt sich nieder und wird mitunter nach Stunden tot aufgefunden; Todesursache ist der Druck der langsam entstandenen Sickerblutung auf das Gehirn. Den Ärzten der Krankenhäuser gegenüber wird vielfach betont, man solle bei Einlieferung eines Betrunkenen auch daran denken, daß er verletzt sein könnte; läßt man dies außer acht und veranlaßt man sofort den Abtransport des Betrunkenen, so kommt es vor, daß er vielleicht einen Tag später tot zu Hause im Bett aufgefunden wird; Todesursache ist dann vielfach eine der eben beschriebenen Blutungen im Bereiche der Hirnhäute; manchmal schließt sich an diese Feststellungen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den betreffenden Arzt an. Wird der Brustkorb komprimiert, so entstehen vielfach Serienrippenbrüche zu beiden Seiten des Brustbeines oder im Bereiche der Achselhöhlenlinie; bei jungen Menschen kommt es auch vor, daß die Rippen trotz einer heftigen Gewalteinwirkung auf den Brustkorb intakt bleiben. Trotzdem resultieren Rißverletzungen von Herz und Lungen. Wirkt auf das Herz eine stumpfe Gewalt ein, so kommt es zur Erschütterung oder Quetschung des Herzens, diese Gewalteinwirkung löst mitunter einen unerwarteten Herztod aus, der vielfach ebenso verläuft wie ein tödlicher Herzinfarkt (siehe oben). Bei Gewalteinwirkungen auf den Bauch kommt es nicht selten zu Einrissen in Milz und Leber und danach zu einer tödlichen Blutung in die Bauchhöhle; der Darm wird vielfach an der Stelle verletzt, an der er wenig beweglich und an der Wirbelsäule fixiert ist; es handelt sich hier um die Gegend des Zwölffingerdarmes und um die Gegend des oberen Dünndarmes. Sind Knochenbrüche entstanden, so entsteht die Gefahr einer F e t t e m b o l i e , namentlich bei Brüchen des Beckens und der langen Röhrenknochen; aus dem verletzten Knochenmark wird Fett in die Blutbahn eingeschwemmt, es bleibt in den Haargefäßen der Lungen stecken und kann den Kreislauf so erschweren, daß der Tod eintritt (pulmonale Fettembolie); sind die Fetttröpfchen zum großen Teile durch die Haargefäße der Lungen durchgepreßt worden oder besteht eine abartige Verbindung zwischen beiden Herzhälften, so gelangen die Fetttröpfchen in die Haargefäße des Gehirns und verursachen hier Absterbeherde, mitunter auch kleine punktförmige Blutungen; der Verletzte wird müde, schläft ein und stirbt (cerebrale Fettembolie). Zu einer tödlichen Fettembolie kann es auch dann kommen, wenn an zahlreichen Stellen stumpfe Gewalten auf das Fettgewebe der Haut einge-
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wirkt haben, ζ. B. nach schweren Mißhandlungen. Findet man im Bereiche des Kopfes die Spur einer Gewalteinwirkung, so ist es notwendig, die Lage dieser Verletzungsstelle genau zu beachten; wird jemand niedergeschlagen, so wird die Verletzung im allgemeinen in der Gegend oberhalb der H u t k r e m p e liegen; fällt jemand hin und verletzt sich hierbei die Kopfschwarte, so liegt die Verletzung in der Gegend der Peripherie des Kopfes, also in der Gegend der Hutkrempe oder unterhalb. Wird jemand tot auf der Straße aufgefunden und stellt man eine oder mehrere Verletzungen in der Gegend der Scheitelhöhe fest, so wäre es weit verfehlt anzunehmen, daß es sich hier um die Folge eines Sturzes vielleicht nach Alkoholwirkung handeln könne; bei einem derartigen Sturz müssen die Verletzungen in der Gegend der Peripherie des Kopfes liegen und nicht im Bereiche der Scheitelhöhe. Ist jemand von einem Kraftwagen angefahren, umgeschleudert worden und ist er dabei mit dem Kopf gegen einen Baum oder einen Randstein der Straße gestoßen, so kann auch eine Verletzung im Bereiche der Scheitelhöhe zustande kommen; dann muß aber auch ein Baum oder ein Randstein in der Nähe sein. Stürzt sich jemand in selbstmörderischer Absicht aus dem F e n s t e r , so gibt er sich im allgemeinen dabei einen gewissen Schwung und wird dannn in einer gewissen Entfernung von der Hauswand aufgefunden; wird aber jemand mit Gewalt aus einem Fenster geworfen, so wird er versuchen, sich vorher festzuklammern, und liegt dann meist dicht an der Hauswand; dies gilt auch, wenn es sich um einen Unfall durch Fenstersturz handeln sollte. G. D o t z a u e r : Die Bedeutung des Herzinfarktes in der Unfallversicherung. Hefte z. Unf. Heilk. 75 (1963) S. 23. H. H o f f m a n n : Herzinfarkt am Steuer. Hefte z. Unf. Heilk. 75 (1963) S. 29. W. J a n s s e n : Experimentelle Untersuchungen zur Beziehung zwischen Tatwerkzeug und Platzwunde unter besonderer Berücksichtigung von Kantenverletzungen. DZGerMed. 54 (1963) S. 240. B. M u e l l e r : Herztod und Unfall. Hefte z. Unfallheilk. 52 (1956) S. 16. H. P a t s c h e i d e r : Zur Entstehung von Kingbrüchen des Schädelgrundes. DZGerMed. 52 (1961) S. 13. Sturz oder Hieb. ArchKrim. 127 (1961) S. 107. H . P l ü g g e , H. W e i c k e r u. V. P a e s l a c k : Herz und Kreislauf im Zusammenhang mit Unfällen. In: Das ärztl. Gutachten im Vers. Wes., hrsg. von A. W. Fischer, R. Herget u. G. Molineus, 1955. II. S. 661. Κ. A. R o s e n k r a n z u. E. F r i t z e : Herzinfarkt und Brustkorbtrauma. Hefte z. Unf. Heilk. 75 (1963) S. 29.
E r s t i c k u n g : Ein Tod durch E r s t i c k u n g kommt zustande, wenn dem Gewebe der notwendige Sauerstoff entzogen wird; eigentlich ist daher jeder Tod ein Erstickungstod; denn man stirbt entweder infolge Versagens des Kreislaufes oder infolge Atemlähmung. Gerichtsmedizinisch pflegt man jedoch nur dann vom
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Erstickungstod zu sprechen, wenn die Sauerstoffzufuhr m e c h a n i s c h behindert wurde, etwa durch Kompression von Kehlkopf oder Luftröhre, durch Verstopfen des Kehlkopfes durch Speiseteile, ζ. B. durch Wurstpellen, durch Einatmung von Blut oder von erbrochenen Speisemassen, Versperrung der Luftwege durch ein verschlucktes Gebiß oder Kompression des Brustkorbes durch schwere Lasten oder Verstopfung der Luftwege durch Hineingeraten in Sand oder Häcksel usw. Der Verlauf des Ers t i c k u n g s t o d e s ist folgender: Zunächst Unruhe und heftige Atmung, dann Krämpfe, dann ein Zustand, bei dem das Herz schlägt, aber die Atmung sistiert (Stadium der Apnoe), danach Eintritt von eigenartigen tiefen Atemzügen, bei denen der Unterkiefer nach vorne geschoben und manchmal der Körper leicht gekrümmt wird; man nennt diese Atmung Schnappatmung oder terminale Atmung, man erklärt ihr Zustandekommen durch Reizung des Atemzentrums infolge Kohlensäureüberladung. Die Diagnose des E r s t i c k u n g s t o d e s an der Leiche ist nicht einfach. Die Befunde sind nicht sehr charakteristisch: man findet flüssiges Blut im Herzen und in den großen Gefäßen, Blutungen in den Augenbindehäuten und manchmal in der weißen Haut der Augen, an der Oberfläche der inneren Brustdrüse (sofern noch vorhanden), an der Oberfläche von Herz und Lungen, manchmal auch in der Schleimhaut des Kehlkopfes; die inneren Organe sind sehr blutreich, besonders die Leber, die Milz dagegen ist bei frischen Leichen meist blutarm; doch liegen die Verhältnisse so, daß die Milz einige Zeit nach dem Tode infolge der eintretenden Blutsenkung wieder blutreich wird. Diese Befunde reichen zur Diagnose des Erstickungstodes allein nicht aus, hinzukommen muß vielmehr die Feststellung der Erstickungsursache : Man muß schauen, ob man Fremdkörper in den Luftwegen feststellen kann oder ob Spuren am Halse auf Erhängen, Erdrosseln oder Erwürgen hinweisen; erfolgte ζ. B. die Erstickung unter weichen Bedeckungen (Einpacken von Kindern in Kissen), so wird es nicht möglich sein, eine Erstickungsursache nachzuweisen; man muß die nicht nachweisbare Erstickungsursache gewissermaßen dadurch ersetzen, daß man einen unerwarteten Tod aus natürlicher Ursache durch genaue mikroskopische Durchmusterung aller in Betracht kommenden inneren Organe nach menschlichem Ermessen ausschließt; man darf also in solchen Fällen nicht vergessen, bei der Leichenöffnung von allen wichtigen Organen Material zur feingeweblichen Untersuchung einzulegen. Von den Erstickungsarten sind kriminologisch besonders bedeutsam das Erhängen, das Erdrosseln und das Erwürgen. Beim E r h ä n g e n finden wir die Strangmarke, sie hegt in typischen
Fällen dicht unterhalb des Kinns, steigt in der Gegend des Nackens nach hinten zu an und wird hier meist auch schwächer; manchmal drückt sich hier auch der Knoten des Strangwerkzeuges ab; erfolgte das Erhängen in einer doppelten Schnur, so finden wir auch eine doppelte Strangmarke. Der Mechanismus des Eintrittes des Todes beim Erhängen ist nur teilweise ein eigentlicher Erstickungstod; der Zutritt der Luft in die Luftwege wird dadurch behindert, daß das Strangwerkzeug das Zungenbein mit dem Zungengrund nach hinten drückt, so daß sich der Zungengrund an die hintere Rachenwand anlegt; zusätzlich werden die beiden großen Halsschlagadern komprimiert, so daß sauerstoffhaltiges Blut nicht bis zum Gehirn vordringen kann; allerdings führen noch zwei kleine Schlagadern, die Wirbelsäulenschlagadern, dem Gehirn Blut zu, doch reicht diese Blutmenge zur Versorgung des Gehirns nicht aus; außerdem werden diese beiden Schlagadern durch das Strangwerkzeug gleichfalls an einer Stelle komprimiert, an der sie nicht innerhalb der Wirbelsäule verlaufen. Die Kompression der Halsschlagadern führt in Sekunden zur Bewußtlosigkeit; sie genügt auch allein, um den Tod herbeizuführen, auch wenn es zum eigentlichen Erstickungstod gar nicht kommen würde. Man findet beim Erhängten unter der Haut in der Gegend der Strangmarke der Erwartung entgegen meist keine Blutungen; dies ist leicht dadurch zu erklären, daß das Strangwerkzeug zwar kleine Gefäße in den Weichteilen des Halses zerquetscht, es kann aus ihnen aber nicht bluten, weil sie durch den Strang komprimiert werden. Findet man Blutungen in der Nähe der Strangfurche, so können sie so entstanden sein, daß der Betreffende gleich nach dem Tode abgeschnitten wurde, so daß es zu kleinen Nachblutungen kommen konnte. Hing aber der Verstorbene noch in der Schlinge, so muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß er zuerst gedrosselt oder gewürgt und nachträglich aufgehängt wurde; man wird dann also Verdacht auf die Beteiligung eines Dritten äußern müssen. Nach E r d r o s s e l n wird die Drosselmarke an beliebiger Stelle des Halses vorgefunden; sie verläuft im großen und ganzen horizontal; geschah das Drosseln kontinuierlich bis zum Eintritt des Todes, so wird man Blutungen im Bereiche der Drosselmarke im Unterhautgewebe des Halses nicht vorfinden; wurde aber das Drosseln hier und da unterbrochen und die Drosselschlinge nachgelassen, so kann es zu Blutaustritten kommen. Die Vorgänge beim E r w ü r g e n sind verhältnismäßig kompliziert; es handelt sich zunächst um eine Kompression des Kehlkopfes oder der Luftröhre, nur selten kommt es dabei zu Brüchen des Zungenbeins oder des Kehlkopfskeletts; weiterhin können beim Würgen die Halsschlagadern komprimiert werden. Daraus
Gerichtliche Medizin kann, wie erwähnt, in kurzer Zeit Bewußtlosigkeit resultieren; längere Kompression der Halsschlagadern genügt, um den Tod herbeizuführen. Nun befinden sich an der Teilungsstelle der Halsschlagadern zu beiden Seiten des Kehlkopfes unwillkürliche Nervenknoten (Glomus caroticum); wir wissen, daß die Reizung dieser Knoten u. U. reflektorisch zu einer so starken Blutdrucksenkung führt, daß dies eine Ohnmacht und sogar den Tod herbeiführen kann. Welcher dieser Mechanismen beim Erwürgungstode im einzelnen mitgewirkt hat oder ausschlaggebend war, ist nachträglich schwer feststellbar; man wird in jedem Falle nicht nur die Halshaut genau untersuchen und beschreiben müssen, sondern auch die Halsmuskulatur Schicht für Schicht freilegen und prüfen müssen, ob hier Blutungen in der Tiefe vorhanden sind; man muß darauf achten, ob in der Gegend der Teilungsstelle der Halsschlagadern Blutaustritte zu erkennen sind. Beim Erhängen handelt es sich meist um S e l b s t m o r d , doch ist dies nicht immer der Fall; untersucht man einen Hängenden, so muß man sich überlegen, wie er in die Schlinge hineinkommen konnte; ist dies nicht ersichtlich, so darf man sich nicht mit der Annahme eines Selbstmordes beruhigen. Wenn die Füße des Hängenden den Boden berühren oder wenn er sich in kniender oder sitzender oder schrägliegender Stellung befindet, so schließt dies einen Selbstmord nicht aus; wie oben erwähnt, genügt zur Herbeiführung der Bewußtlosigkeit eine Kompression der Halsschlagadern; dies wird schon dadurch erreicht, daß sich jemand in die Schlinge hineinfallen läßt oder sich liegend im Bett herunterwälzt, nachdem er vorher eine Schlinge geknüpft hat. Man wird in solchen Fällen Anlaß haben, genau zu untersuchen, ob sich nicht doch Anhaltspunkte vorfinden, die gegen Selbstmord sprechen. U n f ä l l e durch Erhängen kommen vor, namentlich bei Kindern, die in ihrem Kinderwagen angegurtet sind; sie bekommen es mitunter fertig, die Gurte so zu verdrehen, daß ein Erhängungstod zustande kömmt; es ist auch vorgekommen, daß Frauen, die Wäsche aufhängen wollten und sich auf einen Schemel vor die Wäscheleine stellten, beim Umkippen des Schemels in die Leine gerieten und sich auf diese Weise aufhängten; es gibt auch ein Aufhängen in offener Schlinge, zum Eintritt des Todes genügt die Kompression der Haischlagadern durch die offene Schlinge. Morde durch Erhängen sind sehr selten; sie lassen sich meist nur durch Überraschung oder an Ohnmächtigen durchführen; wir haben es einmal erlebt, daß eine Frau ihren betrunkenen, im Bett liegenden Mann aus dem Bett warf, nachdem sie vorher eine Schlinge um den Hals gelegt und sie am Bettpfosten festgeknüpft hatte. Etwas häufiger sind Vorfälle, bei denen die Tötung auf andere Weise,
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ζ. B. durch Erwürgen oder Erdrosseln, erfolgt und bei denen der Täter versucht, durch nachträgliches Aufhängen einen Selbstmord vorzutäuschen. Wer einen Ohnmächtigen oder Toten aufhängen will, pflegt so vorzugehen, daß er dem Betreffenden eine Schlinge um den Hals legt, ihn in der Schlinge zu einem geeigneten Aufhängungspunkt schleift, das freie Ende des Strangwerkzeuges über einen Baumast wirft oder über eine geöffnete Tür legt und dann den Körper hochzieht ; ihn so hoch zu ziehen, daß der Betreffende frei schwebt, wird meist nicht gelingen; die Füße werden meist noch am Boden bleiben. Findet man bei der Untersuchung eines Tatortes Schleifspuren, findet man neben der Strangmarke noch eine Drosselmarke oder Würgemale und erkennt man insbesondere am hölzernen Aufhängepunkt eine tiefe Rille, so ist man sicher, daß an dieser Stelle von einem anderen eine Last hochgezogen wurde; es kann sich hier also nicht um einen Selbstmord durch Erhängen handeln. Die Beschaffenheit des Holzes am Aufhängepunkt wird vielfach nicht beachtet, weder von Kriminalisten noch von Ärzten, es wäre gut, wenn beide Berufsgattungen auf diese Verhältnisse achten würden. Beim Erdrosseln handelt es sich meist um Mord, doch kommen auch S e l b s t m o r d e durch Erdrosseln vor; die Schlinge wird zunächst locker um den Hals geknotet, danach steckt der Selbstmörder einen Knebel in die Schlinge, dreht damit die Schlinge fest und legt den Knebel am Kinn fest; es kommt auch vor, daß die Schlinge fest angezogen und noch schnell ein Knoten geschürzt wird, ehe die Bewußtlosigkeit eintritt, oder daß das Drosselwerkzeug durch schnelles Anlegen zahlreicher, sich überdeckender Touren festgehalten wird. Ergibt sich die Frage, ob das Anziehen einer Drosselschnur oder auch ein Aufhängen vor oder nach dem Tode erfolgte, so wird es wichtig sein, den Gehalt gewisser Blutbeimengungen, insbesondere der Phosphor-Lipoide, getrennt im Rumpfblut und im Kopfblut zu bestimmen; beim Erstickungstode werden diese Blutbestandteile aus den Blutspeichern des Bauches ausgepresst, ihr Anteil im Blut von Erstickten ist erhöht. Erfolgte die Erstickung durch Erdrosseln oder Erhängen während des Lebens, so wird das Rumpfblut mit dem vermehrten Anteil an Phosphor-Lipoiden nicht mehr in das' Blut des Kopfes übertreten können, weil die Halsschlagadern komprimiert sind. Stellt man also eine Differenz zwischen dem Gehalt des Rumpfblutes und des Kopfblutes an Phosphor-Lipoiden fest und ist der Gehalt dieser Bestandteile im Rumpfblut höher, so ist dies ein recht sicheres Zeichen dafür, daß die Erhängung oder Erdrosselung w ä h r e n d des L e b e n s erfolgte. Ein Erwürgungstod als Selbstmord ist bisher nicht beobachtet worden; man weiß, daß etwa ein Geisteskranker es fertigbringt, sich bis
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zur Bewußtlosigkeit zu würgen, dann läßt aber die Kraft der würgenden Hand nach, der Betreffende wird zum Bewußtsein zurückkehren; der Erwürgungstod ist so gut wie immer eine Tötung von fremder Hand. S t . P. B e r g : Eine für Erhängung charakteristische vitale Reaktion. DZGerMed. 41 (1952) S. 148. H. K l e i n : Mikroskopische Beobachtungen an Würgemalen. DZGerMed. 45 (1956) S. 17. B . M u e l l e r : Tierexperimentelle Studien über den Erstikkungstod, insbesondere über Erdrosseln und Erwürgen. DZGerMed. 5 1 (1961) S. 377. B . M u e l l e r und K . B o s c h : Krümmungsverlauf von Nagelabdrücken bei Würgespuren und Griffrichtung. Beitr. gerichtl. Med. 2 1 (1960) S. 191. A. P o n s o l d : Erstickung (Tagungsreferat). DZGerMed. 51 (1961) S. 333. J . R a u s c h k e : Über den Eintritt der Bewußtlosigkeit bei atypischer Erhängung. DZGerMed. 46 (1957) S. 206. W. W e i m a n n u. H. S p e n g l e r : Der Selbstmord durch Erdrosseln und seine Unterscheidung vom Mord. ArchKrim. 117 (1956) S. 23 und 118 (1956) S. 71.
E r t r i n k e n : Es handelt sich um eine Abart des Erstickungstodes; die Luftwege werden durch das eindringende Wasser verlegt. Der Ertrinkungsvorgang spielt sich in 3 bis 5 Minuten ab, manchmal dauert er auch länger, und zwar wenn es den Ertrinkenden gelingt, sich nach Untertauchen wieder eine Weile über Wasser zu halten. Im Rahmen des Stadiums der Unruhe schlägt der Ertrinkende um sich, er ruft um Hilfe, sinkt unter, kommt häufig noch einmal nach oben, um dann erst endgültig abzusinken. Der weitere Verlauf entspricht dem Erstickungsvorgange (siehe oben). Die D i a g n o s e des Ertrinkungstodes an der Leiche stützt sich nicht unwesentlich auf eine eigenartige Beschaffenheit der Lungen; die Ertrinkungsflüssigkeit wird eingeatmet; in den Lungenbläschen bleibt aber die sog. Residualluft; aus dem Gemisch zwischen Luft und Flüssigkeit entsteht Schaum, es kommt zu einer erheblichen Aufblähung der Lungen; sie sind weich, Fingereindrücke bleiben bestehen, schneidet man die Organe ein, so sinken sie in ziemlich kurzer Zeit zusammen; es entleert sich nicht viel Schaum (Ertrinkungslunge, Hyperaerie, trockenes Oedem, Ballonnement). Zusätzlich findet man an der Oberfläche verwaschene größere rötliche Verfärbungen; es handelt sich hier eigentlich um die punktförmigen Blutungen an der Lungenoberfläche beim Erstickungstode, die dadurch größer und verwaschen werden, weil die Lunge erheblich gebläht ist. Ist diese Ertrinkungslunge vorhanden (sie muß von erfahrenen Obduzenten diagnostiziert werden), so spricht dies in hohem Maße für das Vorliegen eines Ertrinkungstodes, wenn nicht Wiederbelebungsversuche vorangegangen sind; hierdurch kann ein Zustand der Lungen hervorgerufen werden, der der Ertrinkungslunge sehr ähnlich ist. Sind Verwachsungen zwischen Brustwand und Lungen vorhanden, so verhindert dies
u. U. das Zustandekommen der Ertrinkungslunge; man wird auch zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Ertrinkungslunge einige Zeit nach dem Tode zurückgeht; ihr Fehlen spricht daher nicht gegen einen Ertrinkungstod; man wird daher noch nach anderen diagnostischen Merkmalen suchen müssen. Eine extreme Füllung des Magens mit Wasser, manchmal so stark, daß Einrisse der Schleimhaut resultieren, beweist einen Ertrinkungstod; doch findet man auch beim regelrechten Ertrinkungstod mitunter kaum Flüssigkeit im Magen. Wichtig ist unter diesen Umständen der Nachweis von Ertrinkungsflüssigkeit in den Lungenbläschen; die Gewässer in Mitteleuropa enthalten kleine Lebewesen, die von einem Kieselpanzer umgeben sind (Kieselalgen, Diatomeen); entnimmt man größere Lungenpartien aus der Nähe der Oberfläche, 30 oder 50 g, zerstört man die organische Substanz durch Kochen in Schwefelsäure und Salpetersäure, so bleiben nur noch die Kieselpanzer der Diatomeen übrig, die man nach Zentrifugieren mikroskopisch feststellen kann; sie sind so eigenartig gebaut, daß sie mit Zellen des menschlichen Körpers nicht verwechselt werden können. Wir wissen allerdings, daß auch nach dem Tode Flüssigkeit bis in die Lungenbläschen vordringen kann, allerdings nur dann, wenn die Wassertiefe 3 bis 4 Meter beträgt oder wenn der Körper in heftiger Strömung flottiert. Nun ist bekannt geworden, daß die Ertrinkungsflüssigkeit mit den Diatomeen während des Ertrinkungsvorganges auch in die Blutbahn vordringt und in den großen Kreislauf gelangt; untersucht man umfangreichere Partien von blutreichen Körperorganen, etwa Leber, Niere oder Hirnsubstanz in der Gegend des Hirngrundes, nach der gleichen Methode, so findet man die Diatomeen auch hier, ebenso in nach besonderer Technik angefertigten Schnittpräparaten; neuere Untersuchungen haben ergeben, daß sie sich auch gut im Knochenmark nachweisen lassen; es ist daher möglich, auch an hochgradig in Fäulnis übergegangenen Leichen durch diese Methode bedeutsame Hinweise für das Vorliegen eines Ertrinkungstodes zu gewinnen, natürlich nur unter der Voraussetzung, daß das betreffende Gewässer auch Diatomeen enthält. Die Gebirgsflüsse enthalten vielfach nur so wenige Diatomeen, daß dies zum Nachweis des Ertrinkungstodes nicht ausreicht. Voraussetzung für die Diagnose des Ertrinkungstodes durch Anwendung dieser Methode ist ferner, daß in der betreffenden Gegend in Organen von Leichen Nichtertrunkener unter Anwendung der geläufigen Technik Diatomeen nicht aufzufinden sind, was man von Zeit zu Zeit kontrollieren sollte; es gibt mitunter Luftströmungen, die zahlreiche Diatomeen enthalten, die bei der Atmung in die Lungen aufgenommen werden; auch können Organe von Menschen Diatomeen
Gerichtliche Medizin enthalten, die mit Kieselgurstaub bei der Arbeit zu tun hatten. Entsprechende Erkundungen werden erforderlich sein, ehe man den Diatomeenbefund in den Organen des großen Kreislaufes wesentlich bewertet. Wenn man die Leiche eines Erwachsenen aus dem Wasser zieht, der gefesselt oder mit Steinen beschwert ist, so spricht dies an sich nicht gegen S e l b s t m o r d ; es kommt vor, daß Selbstmörder ins Wasser springen, nachdem sie sich vorher der Sicherheit wegen gefesselt oder mit Steinen beschwert haben. Personen, die durchaus sterben wollen, bringen es auch fertig, sich in flachen Gewässern mit einer Tiefe von 30 oder 60 cm zu ertränken, sie halten den Kopf so lange unter Wasser, bis es zur Bewußtlosigkeit kommt. Findet man bei einer Wasserleiche Blutungen unter der Haut oder Kratzer in der Halsgegend oder sonst am Körper, so muß man untersuchen, ob diese Verletzungen durch Treiben im stark strömenden Wasser entstanden sein können; ist dies nicht der Fall, so würde allerdings ein Hinweis auf die Beteiligung eines Dritten gegeben sein; man wird dann besonders darauf achten, ob man auch sonst noch Spuren für eine vorangegangene Gewalteinwirkung vorfinden kann. Neben dem eigentlichen Ertrinkungstod ist ein abgekürzter Ertrinkungstod bekannt (Badetod, Tod im Wasser, Reflextod); die Betreffenden sinken beim Aufenthalt im Wasser meist unbemerkt und schnell unter, manchmal machen sie schwache Abwehrbewegungen und stoßen einen krächzenden Schrei aus, manchmal gehen sie sogar unter, obwohl sie im Wasser standen und Boden unter den Füßen hatten; in solchen Fällen findet man keine Ertrinkungslungen; wenn man Diatomeen nachweisen kann, so sind sie meist nur in den Lungen, aber kaum im großen Kreislauf nachzuweisen; wenn in Großstädten gemeldet wird, an einem warmen Sonntag seien wiederum eine ganze Anzahl von Menschen beim Baden ertrunken, so handelt es sich hier meist nicht um den eigentlichen Ertrinkungstod, sondern um den besprochenen Badetod. U. J a n i t z k i : Zur Frage der Sicherheit dee DiatomeenNachweises beim Ertrinkungstod. Arch. Krim. 134 (1964) S. 24. Y. M i k a m i u. Mitarb.: Experimental study and practice on the detection of vegetative planktons in the bone marrow of the drowned dead body. Acta Med. Okayama 13 (1859) 8. 259. B. M u e l l e r : In welchen Gewäseern besteht die Möglichkeit der Diagnose des Ertrinkungstodes durch Diatomeennachweis? Zacchia 34 (1959) S. 1. D e r s . : Zur Frage des Vorkommens von Diatomeen in Organen von Leichen, die nicht im Wasser gelegen haben. DZGer-Med. 54 (1963) S. 267. W. N e u g e b a u e r : Mord durch Ertrinken. Krim. 13 (1959) S. 63 und 115. F. P e t e r s o h n : Diatomeenbefunde bei Wasserleichen. DZGerMed. 54 (1963/64) S. 376. H. l i e h : Zur Spezifität der sog. Ertrinkungslunge. DZGerMed. 54 (1963) S. 45. 19
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Y. S h i n z a w a u. Mitarb.: Studies on the number and distribution of diatoms contained in the drowned and notdrowned corpse, specially in lungs. Jap. J. Legal Med. 11 (1957) S. 320. W . U . S p i t z : Diagnose des Ertrinkungstodes durch den Diatomeennachweis in Organen. DZGerMed. 54 (1963) S. 42. H. S u y a m a : Study'on determination of drowning in the seawater. On the diatoms essential on determination of drowning and the change of its shape in the decomposition method. Nagasaki Med. J. 29 (1954) S. 84 und 30 (1955) S. 36. L. T a m a s k a : "Über den Diatomeennachweis im Knochenmark der Wasserleichen. Zacchia 24 (1961) S. 263. F. T h o m a s und Mitarb.: Die gerichtsmedizinische Diagnose des Ertrinkungstodes. J. forens. Sei. 8 (1963) S. 1.
N a h r u n g s e n t z u g : Vorwürfe, nach welchen Menschen verhungert sind, werden manchmal erhoben, wenn Mißstände in Gefängnissen oder Lagern eingerissen sind; es ist ganz vereinzelt auch vorgekommen, daß Ärzte beschuldigt wurden, durch übertriebene Fastenkuren oder ähnliche Maßnahmen Gesundheitsschädigungen oder gar den Tod von Patienten herbeigeführt zu haben. Bei akutem Nahrungsentzug hört das subjektive Hungergefühl auf, wenn die ersten Tage überstanden sind. Beim sog. H u n g e r s t r e i k von Häftlingen wird der Arzt rechtzeitig eine künstliche Fütterung durch den Schlauch nach vorher eingeholter Erlaubnis des zuständigen Richters einleiten müssen, wenn Acetongeruch auftritt und der Häftling trotz entsprechender Vorstellung nicht zu bewegen ist, spontan Nahrung zu sich zu nehmen. Der Arzt, der die Leichen von Menschen untersucht, die infolge Nahrungsentzug verstorben sein sollen, wird daran denken müssen, daß der Tod bei bestehender Entkräftung auch infolge einer intercurrenten Erkrankung, etwa einer Lungenentzündung oder eines Magendarmkatarrhs, eintreten kann; wichtig ist, daß man krankhafte Zustände ausschließt, die zur Auszehrung geführt haben könnten, etwa bösartige Geschwülste oder Blutkrankheiten oder grobe Störungen der Drüsen mit innerer Sekretion, insbesondere des Hirnanhanges, die mitunter auch Veränderungen im Zwischenhirn hervorrufen. Es wird notwendig sein, daß man bei der Untersuchung derartiger Leichen von allen in Betracht kommenden Organen reichlich Material zur mikroskopischen Untersuchung entnimmt. Einwirkung von K ä l t e : Erfrierungen einzelner Körperteile werden kriminologisch im allgemeinen keine Rolle spielen, es sei denn, daß im Kriege eine Selbstverstümmelung in Frage kommt. Es ist bemerkenswert, daß Erfrierungen im Bereiche der unteren Gliedmaßen auch bei Tauwetter zustande kommen können, ζ. B. wenn der Betreffende bei nicht intaktem Schuhwerk längere Zeit im Schmelzwasser stehen mußte. Eine U n t e r k ü h l u n g des ganzen Körpers führt unmittelbar zum Tode; es ist nicht notwendig, daß Frostwetter herrscht. Tempera-
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turen um + 6 ° C haben bereits tödliche Unterkühlungen veranlaßt. Insbesondere sind die Menschen gefährdet, die vorher Alkohol getrunken hatten; Alkoholgenuß führt zu einer Erweiterung der Hautgefäße; wenn die blutreiche Haut auskühlt, so ist eine Kompensation oft nicht mehr möglich, es kommt zum Eintritt des Todes; dies pflegt schon bei einer Innentemperatur des Körpers von + 2 5 ° C der Fall zu sein. An der Leiche fallen oft hellrote Totenflecke und hellrotes Blut auf, die Affinität des Sauerstoffs zum Hämoglobin wird bei niedriger Temperatur größer, das Hämoglobin ist bei Unterkühlung nicht mehr in der Lage, den Sauerstoff an das Gewebe abzugeben. Auffällige und spezifische Veränderungen findet man bei Unterkühlung an der Leiche nicht; es ist wichtig, einen natürlichen Tod mit hinreichender Sicherheit auszuschließen. In gegenwärtiger Zeit tritt die Frage der Unterkühlung an den Gerichtsmediziner vielfach dann heran, wenn Saufkumpane jemand, der mitgetrunken hatte, auf der Straße liegenlassen, statt alles daranzusetzen, ihn nach Hause oder sonst irgendwohin in die Wärme zu bringen. V e r b r e n n u n g e n und V e r b r ü h u n g e n : bei Verbrühungen kann es nicht zu Versengungen der Haare kommen, weil die Temperatur des kochenden Wassers im allgemeinen nicht mehr als 100° C betragen kann; sieht man von diesem Unterschiede ab, so sind die Folgen die gleichen; wir kennen den 1. Grad der Verbrennung oder Verbrühung als Hautrötung, den 2. Grad als Blasenbildung, den 3. Grad als Verschorfung und den 4. Grad (kommt für die Verbrühung nicht mehr in Frage) als Verkohlung. Wesentlich für die Gefährlichkeit ist der Umfang der Schädigung; auch bei ausgedehnten Verbrennungen 1. Grades, die 3 0 % der Körperoberfläche übersteigen, kann der Tod resultieren. Die Folgen der Hitzeeinwirkung gehen dahin, daß es infolge Durchlässigkeit der Gefäßwände zu einem erheblichen Abfluß der Flüssigkeit aus den Gefäßen kommt, dadurch wird das Blut eingedickt und der Kreislauf erheblich erschwert; der Tod in diesem Stadium (auch Verbrennungsschock genannt) kann heutzutage durch sinnvolle Maßnahmen, wie Flüssigkeitszufuhr durch Infusionen, meist abgewehrt werden. Die entstandenen Wundflächen sind gegen Infektionen sehr empfindlich; im Zeitalter der Antibiotika (Penicillin usw.) gelingt es aber meist, auch dieser Gefahr Herr zu werden. Ziemlich machtlos ist die ärztliche Kunst jedoch noch gegen die Giftwirkung (Intoxikation), die durch abgestorbene Gewebspartien ausgelöst wird; sie führt zu hohem Fieber mit Nieren-, manchmal auch Leberstörungen und hat nicht selten den Tod zur Folge. Wenn in diesem oder jenem Falle gegen Ärzte oder Laienbehandler Vorwürfe nach der Richtung erhoben werden, sie hätten eine
festgestellte Verbrennung zu leicht genommen und damit den Tod eines Menschen verursacht, so wird man bei der Begutachtung mitunter feststellen müssen, daß der behandelnde Arzt in therapeutischer Beziehung zu wenig aktiv war; es ist aber kaum jemals möglich, Kausalzusammenhang zwischen dieser Unterlassung und dem Tode mit der im Strafrecht erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festzustellen, weil die oben geschilderte Intoxikation ärztlich nur unvollkommen zu beeinflussen ist und trotz bester ärztlicher Behandlung immer nur 70 bis 8 0 % der Verunglückten durchkommen, sofern die Schädigung ziemlich ausgedehnt war. Wird eine v e r k o h l t e L e i c h e aufgefunden, so muß man berücksichtigen, daß auch nach dem Tode infolge Hitzeeinwirkungen Verletzungen entstehen können: unter der Haut bildet sich Dampf, sie kann aufplatzen, vereinzelt kann es auch nach dem Tode zu Blasenbildungen kommen; der entstehende Dampf hebt die Oberhaut blasenförmig ab, der Blaseninhalt enthält allerdings kein Eiweiß; die Haut ist auch bei stark verkohlten Leichen vielfach noch an Stellen erhalten, an denen die Kleider fest anliegen, so bei Frauen im Bereiche des Hüfthalters und des Büstenhalters; im Bereiche des Schädels können Knochenbrüche dadurch entstehen, daß der sich im Inneren entwickelnde Dampf den Schädelknochen zum Platzen bringt; es kommt auch vor, daß der Schädel aufbricht, so daß das Gehirn ζ. T. austritt. Die Verdampfung im Inneren des Schädels führt manchmal dazu, daß das hier befindliche Blut an einer Stelle zwischen harter Hirnhaut und Knochen zusammengedrängt wird, sog. B r a n d h a e m a t o m ; es unterscheidet sich von einer vital entstandenen Blutung dadurch, daß Verdrängungserscheinungen am Gehirn fehlen, wie man sie fast immer bei vital entstandenen Blutungen beobachten kann. Die Röhrenknochen dehnen sich ungleichmäßig aus, sie können auseinanderbrechen; wurden an diesen Stellen durch die Hitze auch die Weichteile entfernt, so kann das entsprechende Glied neben der Leiche liegen ( S e l b s t a m p u t a t i o n ) . Wirkt auf die Muskulatur Hitze ein, so gerinnt das Eiweiß, sie zieht sich zusammen, und zwar die Beugemuskulatur mehr als die Streckmuskulatur; so kommt es, daß man bei verkohlten Leichen mitunter feststellt, daß die Beine angewinkelt sind und die Arme gebeugt vor dem Gesicht gehalten werden; manchmal ist auch nur ein Arm erhoben (sog. F e c h t e r s t e l l u n g ) ; es handelt sich hier um postmortale Erscheinungen, die mit dem Verhalten des Betreffenden vor dem Tode n i c h t in Verbindung gebracht werden können. Werden bei der F e u e r b e s t a t t u n g Leichen in den Verbrennungsofen geschoben, in welchem eine Temperatur von etwa 1000° C besteht, so kann man
Gerichtliche Medizin unter Umständen beobachten, daß aus dem oben beschriebenen Grunde die Beine angehoben und die Arme gebeugt werden; es handelt sich hier um eine gut erklärbare postmortale Erscheinung. Nach Auffinden einer verkohlten Leiche ergibt sich die Frage, ob der Tote in lebendem Zustand in das Feuer hineingeriet oder ob er zu dieser Zeit bereits verstorben war. Es ist nicht selten, daß Täter, die einen Menschen umgebracht haben, nachher versuchen, die Spuren ihrer Tat dadurch zu verwischen, daß sie die Leiche mit brennbarer Flüssigkeit übergießen und anzünden oder daß sie das Haus, in dem sie die Leiche zurückließen, in Brand setzten; hierfür wird das Wort M o r d b r a n d gebraucht. Es ist bekannt, daß es im allgemeinen nicht gelingt, die Leiche eines Erwachsenen auf diese Weise zu vernichten; es bleibt zum mindesten ein deutlich erkennbares Torso zurück; eine völlige Vernichtung kommt nur zustande bei Entstehung von Stichflammen oder beim Abbrennen ganzer Häuserreihen, ζ. B. nach Bombenangriffen, oder wenn eine Leiche lange Zeit hindurch immer wieder mit brennbarer Flüssigkeit Übergossen und dabei noch mechanisch zerstört wird. Leichen neugeborener Kinder in gewöhnlichem eisernem Ofen zu verbrennen, ist möglich, wenn längere Zeit hindurch geheizt wird; man findet später nur noch kalzinierte Knochenpartikelchen, an denen meist Einzelheiten nicht mehr zu erkennen sind. Untersucht man eine verkohlte Leiche oder ein Leichentorso, so wird man bei der äußeren Besichtigung danach trachten, Hautpartien vorzufinden, die noch intakt sind; man muß etwaige Kleiderreste vorsichtig entfernen; findet man hier in Reihen angeordnete Brandblasen, so spricht dies für vitale Verbrennung; sind die Gefäße unter der Haut in dieser Körperregion mit geronnenem, d. h. infolge Hitze koaguliertem Blut gefüllt, und liegt diese Stelle nicht innerhalb der Blutsenkung (Hypostase), so weiß man, daß sich bei Einwirkung der Hitze noch pulsierendes Blut an dieser Stelle befand, es handelt sich hier gleichfalls um ein Zeichen für vitale Verbrennung. Atmet jemand im Feuer, so wird er Ruß bis in die Lungenbläschen einatmen; findet man ihn hier bei mikroskopischer Untersuchung oder auch in feinen Verzweigungen der Luftröhrenäste, so ist dies gleichfalls ein Zeichen für v i t a l e s V e r b r e n n e n , ebenso wenn die Schleimhaut der feinen Luftröhrenäste in allen Teilen der Lunge ausgefaserte Deckzellen aufweist (Hitzeeinwirkung auf die Schleimhaut). Bei fast jedem Brande entsteht Kohlenmonoxyd; weist man es chemisch bis zu einem gewissen Prozentsatz (etwa 20 bis 3 0 % Kohlenoxydhaemoglobin) im Herzblut oder im Blut in den Blutadern am Hirngrunde nach, so ist dies gleichfalls ein Zeichen für vitale Verbrennung; in die ober19·
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flächlichen Hautgefäße, aber nur in diese, kann das Kohlenmonoxyd auch durch die Haut hindurch eindringen. Bei mikroskopischer Untersuchung der Lungen verbrannter Leichen kann man in den kleinen Gefäßen verflüssigtes Fett vorfinden; dies ist kein Zeichen vitaler Reaktion. Echte Fettembolien, die auf vorangegangene Einwirkung stumpfer Gewalt hinweisen würden, lassen sich mitunter von diesen „Pseudofettembolien" abgrenzen. M. A l l g ö w e r u. J . S i e g r i s t : Verbrennungen. 1057. B . M u e l l e r : Fragliches vorsätzliches Verbrennen der Ehefrau im Kraftwagen. ArchKrim. 120 (1957) 8.165 u. 121 (1958) S. 25, 75 u. 143. F. P e t e r s o h n : let das Vorhandensein von Kohlepartikeln in den Luftwegen von Brandleichen als Zeichen der vitalen Reaktion zu werten ? DZGerUed. 49 (1959) S. 147. W. S c h o l l m e y e r : Selbstmord durch Verbrennen, zugleich experimenteller Beitrag zur Frage der Brennbarkeit menschlicher Körpergewebe. ArchKrim. 128 (1961) S. 16. H. J . "Wagner: Das Erkennen und Verhalten von fettanfärbbaren Substanzen vor und nach Brandeinwirkung mittels histochemischer und papierchromatographischer Untersuchungen. DZGerMed. 49 (1959) S. 130.
Einwirkungen von e l e k t r i s c h e r E n e r g i e : Geht Gebrauchsstrom oder Hochspannungsstrom durch den menschlichen Körper, so entstehen an der Eintritts- und Austrittsstelle meist sog. Strommarken oder auch regelrechte Verbrennungen; bei den S t r o m m a r k e n handelt es sich um erbsengroße oder auch kleinere, scharf begrenzte, grauschwarze Partien in der Haut, die in der Mitte manchmal eine dunkle Öffnung aufweisen; bei mikroskopischer Untersuchung weisen sie Sonderheiten auf (büschelartige Ausziehung der Deckzellen), so daß es auf diese Weise mit Sicherheit möglich ist, sie von Arbeitsschwielen an den Händen zu unterscheiden. Der Hochspannungsstrom (Hochspannungsleitungen, Leitungen der Straßenbahn) führt zu einem plötzlichen Herzstillstand, der allerdings in vielen Fällen reversibel ist; das Herz fängt später wieder zu schlagen an, so daß mitunter erst die sekundären Veränderungen, insbesondere die ausgedehnten Verbrennungen und Verkohlungen, den Tod herbeiführen; gerade nach Hochspannungsunfällen ist ärztliche Einwirkung auf das Herz von großer Wichtigkeit. Gehen Schleifen des Gebrauchsstromes (meist 220 V) durch das Herz, so kommt es leicht zu der Erscheinung des Kammerflimmerns; es handelt sich hier um eine sehr gefährliche Erscheinung, die ärztlich schlecht beeinflußbar ist und in den meisten Fällen zum Tode führt; der Gebrauchsstrom ist somit eigentlich noch gefährlicher als der Hochspannungsstrom; gefährlich wird Gebrauchsstrom dann, wenn Stromstärken von über 0,1 Amp. entstehen; der Hautwiderstand beträgt aber 30000 bis 800 Ω; diese Stromstärke kommt daher meist nur zustande, wenn die Leitfähigkeit der Haut durch
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Feuchtigkeit herabgesetzt wird (Schweiß, Feuchtigkeit der Haut nach Händewaschen oder bei der Arbeit); in den Elektrizitätswerken ist ein Pol der Stromerreger geerdet; in die Häuser geht ein Stromleiter, der stromlos ist (sog. Null-Leiter), und ein anderer, der unter Spannung steht (sog. Außen-Leiter); berührt ein Mensch den nicht isolierten Null-Leiter, so ist dies ungefährlich, er ist stromlos; kommt er an den Außen-Leiter, so erhält er einen Schlag, der normalerweise ziemlich harmlos ist; ist aber die Haut feucht und sind die Füße gut geerdet (Zementfußboden ist ein guter Leiter) oder berührt die andere Hand zufällig Metall, so erhöht sich die Stromstärke so, daß es manchmal zum sofortigen Eintritt des Todes kommt. Bei der Leichenuntersuchung muß man in erster Linie feststellen, daß durch den Körper tatsächlich Strom gegangen ist ( S t r o m m a r k e n , V e r b r e n n u n g e n ) , und sodann einen natürlichen Tod durch genaue Untersuchung der Organe ausschließen, auch durch mikroskopische Untersuchung. Beim Stromtod spielt die sog. S t r o m e r w a r t u n g eine Rolle; wer auf die Einwirkung von elektrischem Strom gefaßt ist, kommt nicht so leicht ums Leben wie jemand, der durch die Einwirkung des Stromes überrascht wurde. Es sei noch bemerkt, daß der oben beschriebene histologische Befund (büschelartige Ausziehung der Deckzellen der Haut) fehlen kann, wenn die Berührung zwischen Haut und Stromleiter eine breitflächige war. Die Ausziehung ist nicht allein spezifisch für die Einwirkung von elektrischem Strom, sie kommt auch bei örtlicher Hitzeeinwirkung zustande. Im Zweifelsfalle muß man bei der Diagnose des Stromtodes darauf achten, ob man an der fraglichen Stelle von der Elektrode stammende Metallteilchen nachweisen kann (Metallisation); dies kann auf spektrochemischem, mikrochemischem und histochemischem Wege geschehen. B e i s p i e l e für elektrische Unfälle durch Gebrauchsstrom: Eine Frau setzt eine schwere Zinkwanne, die mit feuchter Wäsche gefüllt ist, versehentlich auf das Kabel der Waschmaschine; der scharfe Rand der Wanne schneidet allmählich die Isolierung des Kabels durch; die Zinkwanne gerät unter Spannung. Hebt die Frau mit nassen Händen die Wanne an, sind auch die Füße naß und steht sie auf gut leitendem Zementboden, so ist es erklärlich, daß sie tot umfällt. Ein mit Nickelhülle versehener elektrischer Kochtopf gerät unter Spannung, weil Wasser, das in den Steckkontakt eingedrungen ist, die Nickelhülle unter Strom setzt; ein Mann, der sich rasieren wollte und sich vorher die Hände gewaschen hatte, geriet mit einer Hand an die Nickelhülle des Kochtopfes, die andere feuchte Hand hatte er am Wasserhahn; er war gut geerdet und fiel tot zusammen. Unglücksfälle durch Hochspannungsstrom entstehen im praktischen Leben mitunter
dann, wenn bei technischen Bauten schwere Metallteile mit Kränen hochgezogen waren und zufällig an Hochspannungsleitungen geraten. Die Arbeiter am Fuße des Kranes gerieten unter Strom und fielen in dem von uns beobachteten Vorfall zu mehreren zusammen, teilweise waren sie tot. S e l b s t m o r d e durch elektrischen Strom sind nicht ganz selten; die Betreffenden fassen mit befeuchteten Händen an die Elektroden oder tauchen die Hände in Flüssigkeiten, die unter Strom gesetzt wurden. Zu eigenartigen Unfällen, die Aufsehen erregen, kommt es mitunter, wenn Männer versuchen, durch Elektrisieren der Genitalien Erektionen hervorzurufen. Morde durch elektrischen Strom sind sehr selten; sie wurden aus Amerika als sog. Stromfallen beschrieben; in Deutschland hat ein Fall Aufsehen erregt, bei dem ein Ehemann die im Bad befindliche Ehefrau so tötete, daß er ihr eine unter Spannung stehende Elektrode auf den Rücken setzte; die Strommarken bei der Getöteten entstanden bemerkenswerterweise an der Stelle, an der die Wasseroberfläche die Haut der Frau berührte. Einwirkungen durch S t r a h l e n , speziell durch radioaktive Strahlung haben bisher kriminologische Bedeutung noch nicht erlangt. Die Forschung über die Möglichkeiten von Strahlenschädigungen ist noch nicht in vollem Fluß. Monographien St. J e l l i n e k : Atlas zur Spurenkunde der Elektrizität. 1956. S. K o e p p e n u. F. P a n s e : Klinische Eiektropathologie. 1955. Zeitschriftenaufsätze G. A d j u t a n t i s und G. S k a l o s : Identifizierung von Strommarken durch den sog. Acroreaktions-Teet. J . forens. Med. 9 (1962) S. 101. F r . B o e m k e u. M. P i e r o t h : Zur Pathologie des elektrischen Stromtodes. Z. Path. 70 (1959) S. 1. W. C u s t e r : Über Hochspannungsunfälle. Elektromedizin 4 (1959) S. 113 u. 175. K. H ä n d e l : Zwei tödliche Unfälle durch elektrischen Strom bei autoerotischer Betätigung. Elektromedizin 4 (1959) S. 172. L. H i r t h : Ein seltener Fall von Stromtod bei autoerotischer Betätigung. DZGerMed. 49 (1959/60) S. 109. H. K l e i n : Die gerichtsmedizinische Diagnose des Stromtodes. DZGerMed. 47 (1958), S. 29. S. K o e p p e n : Erkrankungen des Herzens und des Nervensystems nach elektrischem Strom. DZGerMed. 47 (1958) S. 55. J . R i e d m ü l l e r : Gleichstromwirkung auf das menschliche Blut. Elektromedizin 4 (1959) S. 161. H. S c h a e f e r : Die Einwirkungen des elektrischen Stromes auf wichtige innere Organe. DZGerMed. 47 (1958) S. 5. W. S c h o l l m e y e r : Todesfall durch elektrischen Strom bei abwegiger sexueller Betätigung. DZGerMed. 49 (1959) S. 213. W. S c h w e r d : Über die Ausbildung von Strommarken bei der Einwirkung von Elektrizität im Wasser. DZGerMed. 49 (1959) S. 218. W. S c h w e r d u. L. l a u t e n b a c h : Mord mit elektrischem Strom in der Badewanne. ArchKrim. 126 (1960) S. 33. E. S o m o g y i , B . O r o v e c z u. J . I r ä n y i : Angaben zu dem Problem der durch elektrischen Strom begangenen Selbstmorde. DZGerMed. 52 (1961/62) S. 52.
Gerichtliche Medizin Schußverletzungen: Als Todesursachen kommen in Frage innere und äußere Blutungen, bei Verletzungen des Gehirnes unmittelbare Zerstörung der Substanz oder als Sekundärfolgen Blutungen in der Umgebung des Schußkanals sowie Infektionen, bei Bauchschüssen Bauchfellentzündungen infolge Verletzung des MagenDarm-Kanals. Bei Gehirnverletzungen resultiert meist sofortige H a n d l u n g s u n f ä h i g k e i t ; doch kommen Ausnahmen vor: Wird von einem Geschoß die sog. stumme Region des Stirnhirnes verletzt, so kann die Handlungsfähigkeit lange Zeit voll erhalten bleiben; es ist vorgekommen, daß Soldaten im Kriege mit Gehirnschüssen zu Fuß zum Verbandsplatz kamen; sie waren praktisch beschwerdefrei, obwohl aus der Wundöffnung Hirnsubstanz heraussickerte. Bei Lungenschüssen bleibt die Handlungsfähigkeit zunächst erhalten, der Verletzte wird nach und nach kurzatmig und pflegt schaumiges Blut zu speien. Trifft ein rasantes Geschoß, etwa aus einem Infantriegewehr, das Herz, so steht es zunächst reflektorisch still, der Betreffende fällt zu Boden; es kommt vor, daß das Herz einige Sekunden danch wieder zu schlagen beginnt, der Verletzte gibt Lebenszeichen von sich, wird aber nicht mehr handlungsfähig und stirbt an innerer Verblutung. Stammt das Geschoß aus einer Waffe von geringerer Durchschlagskraft oder handelt es sich um ein mattes Geschoß, so kann trotz Eröffnung einer Herzkammer Handlungsfähigkeit in ähnlicher Weise für kurze Zeit erhalten bleiben, wie dies bei den Stichverletzungen des Herzens geschildert wurde. Wird das Bauchfell verletzt, so resultiert zunächst meist Handlungsunfähigkeit. Ausnahmen kommen vor, wenn der Verletzte sich in Aufregung bzw. Wut befindet. Man unterscheidet D u r c h s c h ü s s e mit Einschuß und Ausschuß, S t e c k s c h ü s s e und S t r e i f schüsse. Es ist beobachtet worden, daß Schußverletzungen bei der Untersuchung von Lebenden oder Toten dann mitunter übersehen wurden, wenn es sich um eine kleine Schußöffnung in einem Augenwinkel oder in der Umgebung des Afters handelte. Besteht ein Durchschuß, so ist es wichtig, den E i n s c h u ß vom A u s s c h u ß zu unterscheiden, besonders wenn die Frage aufgeworfen wird, ob jemand bei Angriff oder auf der Flucht angeschossen wurde. Im allgemeinen ist die Ausschußöffnung größer als die Einschußöffnung; man erklärt dies so, daß das Geschoß, das den Körper durchsetzt, Gewebstrümmer oder Knochensplitter mitnimmt, die den Ausschuß erweitern; war aber das Geschoß matt, so wird es beim Austritt aus der Haut nur eine kleine Schußöffnung veranlassen; die Größe der Schußöffnung ist daher für die Unterscheidung von Einschuß und Ausschuß nicht maßgebend. Wenn ein Geschoß in die Haut eindringt, so wird die Haut etwas eingestülpt und die Oberhaut dabei abgeschürft;
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diese Stelle trocknet späterhin bräunlich ein, und man erkennt, daß die Schußöffnung von einem 1 bis 5 mm breiten bräunlichen Saum umgeben ist; manchmal ist dieser Saum auch etwas unterblutet (sog. Schürfsaum, Vertrocknungssaum, manchmal auch Kontusionssaum genannt); man muß sich sehr hüten, diesen Schürfsaum fälschlich für die Folge einer Pulverbeschmauchung oder einer Verbrennung zu halten; es handelt sich hier n i c h t um ein Nahschußzeichen; dieser Saum kommt bei jeder Schußentfernung vor; er ist ein Anhaltspunkt, wenn auch kein völliger Beweis für das Vorhegen eines Einschusses. In seltenen Fällen entsteht nämlich ein Vertrocknungssaum auch in der Umgebung des Ausschusses, und zwar dann, wenn ein mattes Geschoß beim Austritt aus der Haut die Oberhaut dehnt und einen Teil von ihr am Rande der Ausschußöffnung mitnimmt; dieser Saum wird als D e h n u n g s s a u m bezeichnet. Das Geschoß, das den Lauf verläßt, nimmt fast immer aus dem Inneren des Laufes Pulverrückstände oder Ölspuren mit; diese Spuren werden an der Einschußöffnung entweder an den Kleidern oder an der Haut abgestreift; es entsteht ein schwärzlicher Saum, den man als S c h m u t z r i n g bezeichnet; dieser Schmutzring ist ein s i c h e r e s Zeichen für das Vorliegen einer Einschußöffnung; ist das Geschoß durch die K l e i d e r gegangen, so darf man nicht vergessen, die Kleider zu untersuchen; man findet dann den Schmutzring nur am Textilgewebe und nicht an der Haut. Durchdrang das Geschoß zunächst Textilgewebe, so werden Fasern in die Einschußöffnung hinein verschleppt, man sieht sie manchmal bei Lupenbetrachtung, man kann sie auch im mikroskopischen Gewebsschnitt feststellen; findet man sie, so ist man gleichfalls praktisch sicher, daß es sich hier um die Einschußöffnung handelt. Durchdringt ein Geschoß den Knochen, insbesondere den Schädelknochen, so erweitert sich der Schußkanal im Knochen nach der Schußrichtung zu; gewisse Ausnahmen sind bei Schrägschüssen möglich. Fehlt bei Mantelgeschossen die Spitze (Jagdpatrone) oder ist sie abgefeilt worden (Dumdumgeschoß), so tritt im Inneren des Körpers das Blei des Geschosses aus, man beobachtet sehr weitgehende Zerstörungen des Gewebes; ein Arm, der mit einem Schuß aus einer Jagdwaffe verletzt worden war, war nach einer kürzlichen Beobachtung so zerfetzt, daß der Chirurg, der den Arm amputieren mußte, zunächst meinte, die Gliedmaße sei mit einem Beil zerkackt worden. Zum Austritt von Blei mit ähnlichen Zerstörungen des Gewebes kann es auch kommen, wenn ein Mantelgeschoß den Knochen streift und der Mantel dabei aufgerissen wird (Mantelreißer) oder wenn nach Abprallen eines Geschosses das Geschoß umgekehrt in den Körper eindringt (Gellerschüsse). Es kommt aber auch vor, daß
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Teilmantelgeschosse von Jagdgewehren Knochen, der nicht allzu fest ist, durchdringen, ohne daß das Blei verspritzt; das Geschoß wird lediglich gestaucht oder bleibt unverändert (eigene Erfahrung; kann für Untersuchung von Jagdunfällen wichtig sein). Die N a h s c h u ß z e i c h e n gestatten u. U., die Schußentfernung zu bestimmen. Wird ein Schuß abgefeuert, so entweicht der Waffe ein Feuerstrahl; eine sichtbare Brandwirkung entsteht heutzutage auch bei Nahschüssen praktisch nicht, es sei denn, daß noch Munition benutzt wurde, die als Treibmasse das alte Schwarzpulver enthält (Schwefel, Salpeter und Kohle). Weiterhin entweichen dem Lauf der Waffe unverbrannte Pulverteilchen, die sich kegelförmig verbreitern und als P u l v e r e i n s p r e n g u n g e n auf die Kleidung oder auf die Haut in der Umgebung der Schußöffnung eindringen; je moderner die Waffe, desto besser pflegt das Pulver verbrannt zu werden, desto weniger intensiv und nachhaltig der Hof der Pulvereinsprengungen; je größer die Schußentfernung, desto größer wird der Hof der Pulvereinsprengungen, desto größer wird auch der Abstand der einzelnen Einsprengungen voneinander. Dem Lauf der Waffe entweicht weiterhin Rauch, der als P u l v e r s c h m a u c h bezeichnet wird und die Gestalt eines Zwiebelkirchturmes annimmt; der um den Einschuß entstehende Pulverschmauchsaum pflegt am größten zu sein bei einer Entfernung von 4 bis 6 cm; ist sie kleiner, so wird der Pulverschmauchsaum schmäler, aber intensiver; ist die Schußentfernung größer als 4 bis 6 cm, so wird der Pulverschmauchsaum intensiv und kleiner. Handelt es sich um rasante Waffen, so erkennt man bei Nahschüssen auf gefärbtes Textilgewebe ein Abblassen der Färbung des Gewebes, dies kommt wohl dadurch zustande, daß die Textilfasern zerspringen, hierdurch wird im Textilgewebe ein anderer Farbton erzeugt. Sind Nahschußzeichen an den Kleidern oder an der Haut vorhanden, so kann man unter Benutzung der gleichen Waffe und der gleichen Munition Probeschüsse auf geeignete Medien abgeben (gleichartiges Textilgewebe, als Ersatz für Haut angefeuchtetes Filtrierpapier und für die letzten entscheidenden Schüsse vorsichtig entnommene Haut) und die Schußbilder vergleichen; man achtet auf die Ausdehnung und Intensität des Pulverschmauches, auf den Hof der Einsprengungen und auf etwaige Abblassungen des Textilgewebes; auch kommen vergleichende mikrochemische quantitative Untersuchungen auf Schmauchbestandteile in Betracht (Blei, Antimon usw.); die Ergebnisse sind natürlich nicht auf 1 oder 2 cm richtig, aber doch so sicher, daß man sie mit einiger Vorsicht verwenden kann, insbesondere zur Überprüfung der Aussagen des Täters oder der Zeugen über die Schußentfernung. Nahschußzeichen pflegen bei automatischen Repetierpistolen bis zu einer Entfer-
nung von 30 oder 40 cm zu entstehen; allgemeine Richtlinien lassen sich nicht geben, weil jede Waffe und jede Munition etwas andere Erscheinungen verursachen kann. Besondere Verhältnisse liegen bei Schüssen mit angesetzter oder fast angesetzter Mündung vor, die man als a b s o l u t e N a h s c h ü s s e bezeichnet; Pulvereinsprengungen fehlen hier meist; es findet sich ein schmaler, intensiv schwärzlicher Schmauchsaum, der manchmal der Gestalt der Mündung der Waffe entspricht; der Schmauchsaum kann auch fehlen, dann findet man aber, namentlich bei Kopfschüssen, eine Schmauchhöhle zwischen Kopfschwarte und Knochen; in anderen Fällen von absolutem Nahschuß ist die Einschußöffnung aufgeplatzt, manchmal strahlenförmig, vielleicht abhängig von der Konfiguration des Schädels, manchmal mehr strichförmig; es kommt auch vor, daß der Pulverschmauch in das Innere des Schädels eindringt und an der harten Hirnhaut oder im Schußkanal selbst sichtbar wird oder mikrochemisch nachgewiesen werden kann; die Pulvergase, die zwischen Haut und Knochen eindringen, stülpen die Haut manchmal mit solcher Gewalt vor, daß die Mündung der Waffe als sog. S t a n z v e r l e t z u n g in der Umgebung der Schußöffnung zu erkennen ist; dies alles sind die Zeichen für das Vorliegen eines absoluten Nahschusses, sie sind aber nicht immer alle vorhanden, sie können ζ. T. fehlen. Wird auf den Kopf mit einer rasanten Waffe, etwa mit einem Gewehr, aus geringer Entfernung geschossen, so wird das Innere des Schädels durch das Geschoß mit einer solchen Gewalt auseinandergerissen, daß der Schädel zerplatzt und das Gehirn in zerstückelter Form daneben liegt; wer die Verhältnisse nicht kennt, kommt mitunter nicht darauf, daß eine Schußverletzung vorliegt; man vermutet Kolbenschläge oder andere Einwirkungen von stumpfer Gewalt. Bei Steckschüssen wird man bei der Leichenuntersuchung das Geschoß herausholen müssen; dies ist manchmal nicht leicht, wenn der Schußkanal im Gewebe der Wirbelsäule endet; u. U. muß man auch bei der Leichenuntersuchung die Röntgenaufnahme zu Hilfe nehmen. Hat man das Geschoß gefunden, so kann man daraus, sofern es nicht deformiert ist, das Kaliber bestimmen und auch mitteilen, ob es sich um eine Waffe handelt, die Mantelgeschosse oder Bleigeschosse verfeuert; man kann auch die Anzahl der Züge und Felder des Laufes der Waffe auszählen. Mikrochemische Untersuchungen des Pulverschmauches können ergeben, ob es sich um Nitratmunition (altes Schwarzpulver) oder moderne Nitromunition gehandelt hat; das Zündhütchen der modernen Munition enthält Blei, das im Pulverschmauch quantitativ nachgewiesen werden kann; auch durch derartige Untersuchungen sind Rückschlüsse über die Schußentfernung möglich, ebenso durch Nachweis von Metallteilen der Patronenhülse.
Gerichtliche Medizin Sowohl bei Steckschüssen als auch bei Durchschüssen muß man bei der Leichenuntersuchung die R i c h t u n g des S c h u ß k a n a l s darstellen (horizontal oder schräge von oben nach unten oder schräge von unten nach oben usw.); diese Feststellung kann Anhaltspunkte für den Standort des Schützen ergeben; ein wichtiges Hilfsmittel zur Darstellung der Richtung des Schußkanals ist die Messung der Entfernung des Einschusses und Ausschusses bzw. der Lage des Steckgeschosses von der Fußsohle. Man kann im allgemeinen damit rechnen, daß der Schußkanal geradlinig verläuft, in besonderen Fällen kann er allerdings auch durch Ablenkung des Geschosses am Knochen gebrochen werden. S e l b s t m o r d : Wer sich das Leben durch Erschießen nehmen will, pflegt in den Kopf oder das Herz zu schießen. Wie bei Stichverletzungen besteht beim Selbstmörder eine Abneigung, durch die Kleider zu schießen, wenigstens schießt er nicht gerne durch mehrere Lagen von Kleidungsstücken. Bei Kopfschüssen wird vom Rechtshänder die rechte Schläfe oder die rechte Stirngegend bevorzugt; ist bei Frauen die rechte Kopfhälfte mit einem Hut bedeckt, so kann dies nach unseren Beobachtungen ein Anlaß dazu sein, ausnahmsweise mit der rechten Hand auch in die linke Kopfseite zu schießen; die Schußentfernung wird bei Selbstmörderschüssen meist nur einige cm betragen können, meist wird man einen absoluten Nahschuß feststellen. Beim Gebrauch automatischer Repetierpistolen kommt es vor, daß der Selbstmörder in der Lage ist, mehrere Schüsse auf sich abzugeben, doch ist Derartiges selten. Die Handlungsfähigkeit nach Herzschüssen und in ganz seltenen Fällen nach Kopfschüssen kann so weit gehen, daß der Betreffende womöglich noch in der Lage ist, die Waffe aus dem Fenster oder in einen Fluß zu werfen. Wichtig ist es, auf etwaige Spuren an der S c h u ß h a n d zu achten; wird in den Kopf geschossen, so spritzen gegen den Rücken der Schußhand feine Knochensplitterchen und Bluttröpfchen; sind sie vorhanden, so liegt ein wichtiges Selbstmordzeichen vor; beweisend sind aber nur Blutspritzer, nicht verwischtes Blut. Wurde unter Benutzung von beiden Händen geschossen und lag eine Hand über der Kammer der automatischen Repetierpistole, so wird man an der entsprechenden Handfläche Pulverschmauch vorfinden; in allen diesen Fällen ist es wichtig, daß die Hände der Leiche oder auch des noch Lebenden von einem kundigen Arzt besehen werden, bevor die Leichenfrau oder das Krankenhauspersonal die Hände reinigen. Es ist mitunter auch möglich, mikrochemisch an der Hand, die den Schuß abgab, Antimon oder Blei nachzuweisen; es sind allerdings quantitative Bestimmungen mit Kontrollen erforderlich; man muß empfehlen, die Hände der betreffenden Leiche sofort nach der Tatortbe-
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sichtigung durch Cellophanhüllen zu schützen. Ist die Waffe klein und die Hand, die sie hält, verhältnismäßig groß, so kommt es vor, daß die zurückgehende Kammer eine oder mehrere Hautabschürfungen an der Schwimmhaut zwischen Daumen und Zeigefinder der Schußhand hinterläßt. Handelt es sich um einen d i s s i m u l i e r t e n Selbstmord, so wird der Täter in Körperteile schießen, die man sonst nicht beim Selbstmord zu verletzen pflegt, etwa in den Hinterkopf, oder auch in den Rücken; es kommt auch vor, daß die Nahschußzeichen so verdeckt werden, daß der Selbstmörder durch Papier oder Brot schießt. In den letzten Jahren wurden zum Selbstmord häufiger B o l z e n s c h u ß a p p a r a t e benutzt, die zum Schlachten von Vieh bestimmt waren; es gibt auch Bolzenschußgeräte, die im Baugewerbe zum Eintreiben von Bolzen in Mauerwerk benutzt werden; hierbei kamen Unfälle zustande. Vereinzelt sind auch Morde durch Anwendung von Bolzenschußapparaten beschrieben worden; dies wurde möglich durch Ausnutzung des Momentes der Überraschung. Durch Auswertung des Schußbildes ist es möglich, die ungefähre Schußentfernung zu bestimmen. Wird von unvorsichtigen Menschen mit automatischen Repetierpistolen hantiert, so löst sich mitunter überraschend ein Schuß, obwohl das Magazin entfernt worden war; es handelt sich hier um die Patrone, die sich noch in der Kammer befand und die man vergessen hatte auszuwerfen. Jagdwaffen haben vielfach einen sog. S t e c h e r ; der Abzugshahn kann normalerweise nur schwer betätigt werden; der Schuß löst sich auch bei Erschütterung der Waffe nicht; ist aber die Waffe „gestochen" gewesen, so bricht ein Schuß auch bei einer leichten Erschütterung. Man wird daran denken müssen, daß Selbstmorde mit Jagdwaffen manchmal als J a g d u n f ä l l e getarnt werden. Dies geschieht mitunter, um der Familie eine hohe Unfallversicherungssumme zukommen zu lassen. Wird ein tödlicher Jagdunfall gemeldet, hört man nachher, daß sich der betreffende Geschäftsmann in Geldnot befand, und wird bekannt, daß er erst kurze Zeit vor dem Tode bei verschiedenen Gesellschaften Unfallversicherungen abgeschlossen hat, so sei man bei der Freigabe der Leiche vorsichtig, auch wenn vom Standpunkt der Staatsanwaltschaft aus eine strafbare Handlung nicht in Frage kommt; die in solchen Fällen vorauszusehenden zivilrechtlichen Verwicklungen erledigen sich viel leichter, wenn vor Freigabe der Leiche eine genaue Untersuchung mit Leichenöffnung vorgenommen wurde; scheut die Justizbehörde die Kosten, so übernimmt sie in derartigen Fällen vielfach die Versicherung. St. B e r g : Veränderungen der Textiloberfläche bei Nahschüssen. ArchKrim. 121 (1959) S. 5 u. 17. I. B o u r r e t , E. u. M. C o l i n : Plaies par balles Suicide avec orifices dentree atypiques. Ann. Med. leg. etc. 36 (1956) S. 300.
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Ε. B u r g e r : Untersuchungen zum Nachweis von Pulverrückständen an der Schußhand. DZGerMed. 53 (1963) 8.108. H. E l b e l : Studien zur Entstehung der Stanzverletzung hei absoluten Nachschüssen. Medizinische 1958, S. 343. B. G u m b e l : Atypischer Verlauf des Schußkanals. DZGerMed. 60 (I960) S. 244. W. J a n s s e n und Mitarb.: Verletzungen durch Bolzenschußapparate unter besonderer Berücksichtigung der Spurenmerkmale. ArchKrim. 134 (1964) S. 26. A. I. K a y s s i : A fabricated shooting incident. J. Forensic. Med. 3 (1956) S. 64. X. Luff u. A. E. R o n e t t : Über den Nachweis und die Fixierung der Geschoßwirkung von Handfeuerwaffen mittels Aldinaten. DZGerMed. 47 (1958) S. 603. T. M a r c i n k o w s k i : Spättodesfall nach einer Schußverletzung des Kopfes. Arch. med. sadowej. 8 (1956) S. 75. H. Maurer: Zwei bemerkenswerte Stanzmarken durch Dreyse-Pistolen. ArchKrim. 125 (1960) S. 24. Verletzungen durch Schußapparate. Beitr. gerichtl. Med. 21 (1961) S. 48. B. P o p i e l s k i : Ermittlung der Schußentfernung bei Serienschüssen aus automatischen Waffen. Arch. med. sadowej. 8 (1956) S. 2. M. P o r t i g l i a t t i - B a r b o s : Sull'orletto di contusione all' orifizio di usclta di colpi d'arma da fuoco. Minerva med.leg. 77 (1957) S. 127. 0. P r o k o p : Beobachtungen zur Frage der Form der Platzwunde beim absoluten NahschuG. ArchKrim. 125 (1960) S. 81. O. P r o k o p u. B. Z e r n d t : Weitere Beobachtungen zur Frage der Form der Platzwunde beim absoluten Nahschuß. ArchKrim. 126 (I960) S. 16. H. S c h i l d t : Verschließen von Geschossen aus Gas- und Schreckschußpistolen. Krim. 11 (1957) S. 430. A. S c h ö n t a g : Bestimmung der Schußentfernung durch spektrographische Spurenanalyse der Schmauchelemente Antimon, Blei und Barium. ArchKrim. 120 (1957) S. 4. A. S c h ö n t a g u. H. H a d e r s h o f e r : Einschuß oder Werkzeugschlag? ArchKrim. 122 (1958) S. 174. A. S c h ö n t a g u. R. H e i n d l : Entwicklung der Methoden zur Bestimmung der Schußentfernung. ArchKrim. 118 (1956) S. 19. H.-J. W a g n e r : Experimentelle Untersuchungen über Art und Ausmaß der Rückschleuderung von Blut und Gewebeteilen beim absoluten und relativen Nahschuß. DZGerMed. 54 (1963) S. 258. 5. Grenzgebiete und
zwischen
gerichtlicher
Medizin
Verkehrsmedizin
U n t e r s u c h u n g von im V e r k e h r e n t s t a n denen V e r l e t z u n g e n : Bs ist wichtig, daß nicht nur an der Leiche, sondern auch bei Verletzten, die sich im Krankenhaus befinden, unbedeutende, kleinere und nicht behandlungsbedürftige Verletzungen sorgfältig registriert werden; andernfalls ist es vielfach nicht möglich, die Einzelhergänge des Unfalles zu rekonstruieren. Wird jemand von einem Kraftwagen von vorne her angefahren, so erfolgt der erste Anprall vielfach so, daß die Stoßstange auf den Unterschenkel auftrifft; es resultiert eine Platzwunde, meist auch ein Knochenbruch im Bereiche des Unterschenkels; man wird nicht vergessen dürfen, die Entfernung dieser Verletzung von der Fußsohle zu messen; man kann dann u. U. diesen oder jenen Kraftwagen als Unfallwagen ausschließen, wenn die Maße zwischen der Entfernung der Verletzung von der Fußsohle und der Höhe der Stoßstange
über dem Erdboden allzu different sind. Wenn ein Fahrzeug frontal aufprallt, ist der Fahrer durch das Lenkrad bis zu einem gewissen Grade geschützt; er wird meist nicht durch die Frontscheibe nach vorne zu geschleudert, sondern prallt mit der Brust auf das Lenkrad auf; es entsteht vielfach eine Verletzung des Brustbeins, oder es kommt zu Serienrippenbrüchen. Der Beifahrer wird meist durch die Frontscheibe herausgeschleudert, er verletzt sich durch Glassplitter und zieht sich Brustquetschungen und meist auch Verletzungen des Kopfes zu (Blutungen unter der Kopfschwarte, Schädelbrüche, Hirnerschütterung, Hirnquetschung). Manchmal ist es notwendig, an Hand der Verletzungen zu rekonstruieren, wer der Fahrer und wer der Beifahrer war; hat ein alkoholischer Zustand vorgelegen, so bezichtigen sich beide mitunter gegenseitig, am Steuer gesessen zu haben; ist einer von beiden tot, so wird manchmal vom Überlebenden zu Unrecht behauptet, der Tote haben am Steuer gesessen; die eben beschriebenen Richtlinien können u. U. dazu helfen, diese Frage zu entscheiden; man wird aber berücksichtigen müssen, daß es von jeder Regel Ausnahmen gibt. Prallt ein Motorrad auf, so ist der Fahrer vielfach durch die Lenkstange geschützt; er bleibt in der Nähe des Rades liegen; der Beifahrer wird jedoch nach vorne zu abgeschleudert und meist in einiger Entfernung vom Motorrade aufgefunden; auch hier kann es gelegentlich Ausnahmen geben. Je enger der Führersitz, desto häufiger entstehen Knieverletzungen; beim Kraftrad ist die Knieverletzung vielfach einseitig, beim Motorroller, der kein entsprechendes Schutzblech hat, fehlt sie meist. Alkohol u n d V e r k e h r (Alkoholismus): Die Führung eines Kraftfahrzeuges unter Einfluß von Alkohol ist sowohl nach § 2 StVZO als auch nach §315a StGB strafbar; man gebraucht vielfach den Ausdruck „Trunkenheitsfahrt"; es wäre zu wünschen, daß diese Ausdrucksweise, die sich auch im Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch befindet, fortfällt; die meisten Menschen sind schon fahruntüchtig, ehe man ihnen bei gewöhnlicher Beobachtung Alkoholbeeinflussung anmerkt. Die Rechtsprechung verlangt vom Kraftfahrer, daß er im Vollbestiz seiner psychophysischen Leistungsfähigkeit ist; die Reaktionszeit darf nicht länger sein als sonst, die Aufmerksamkeit darf nicht gestört sein, der Fahrer braucht die Fähigkeit, Entfernungen und Geschwindigkeiten zu schätzen, insbesondere beim Überholen; der Führer eines einspurigen Kraftfahrzeuges muß Gleichgewicht halten können und mehr Gefühl für die Straßenlage haben als der Autofahrer; schon geringe Ausschläge mit den Händen bewirken beim Motorrad erhebliche Abweichungen von der Fahrrichtung; beim Fahren im Dunkeln darf die Adaption, d. h. die Anpassung
Gerichtliche Medizin des Auges an die Dunkelheit, nicht verzögert sein; es ist nicht notwendig, daß alle diese Eigenheiten durch die Alkoholbeeinflussung gestört sind; die Rechtsprechung pflegt schon dann Fahruntüchtigkeit festzustellen, wenn nur diese oder jene der besprochenen Eigenschaften vermindert ist. Nun weiß man aus sehr ausgedehnten experimentellen Untersuchungen, daß die allermeisten Menschen bei einem Blutalkoholgehalt von l°/oo Einbußen aufweisen, bei vielen beginnt die Einbuße schon bei einem Blutalkoholgehalt von 0,5°/ool der BGH hat sich auf den Standpunkt gestellt, und zwar unter gründlicher Berücksichtigung des damals vorliegenden gerichtsmedizinischen Schrifttums, daß jeder Mensch bei einem Blutalkoholgehalt von l,5°/oo u n < i mehr fahruntüchtig ist, der Führer eines einspurigen Kraftfahrzeuges schon bei l,3°/oo- Diese Grenzen sind recht hoch gegriffen; der BGH ist vorsichtig gewesen und hat Unsicherheiten, wie sie bei der Ausrechnung des Blutalkoholgehalts zur Zeit des fraglichen Vorfalles und vielleicht auch bei der Methodik einfließen könnten, mit einkalkuliert. Erstrebt wird zur Zeit eine Herabsetzung der Grenzzahl auf 0,8 bis l°/oo. allerdings als Vorbeugungsdelikt; derjenige, bei dem ein entsprechender Blutalkoholgehalt besteht, „darf nicht fahren"; die Mindestalkoholmenge, die den in Betracht kommenden Blutalkoholgehalt veranlassen kann, läßt sich unter Berücksichtigung des Körpergewichtes ungefähr errechnen und könnte der Öffentlichkeit unterbreitet werden. Es besteht die Übung, daß die Polizei bei der Sistierung eines Fahrers unter Verdacht der Alkoholbeeinflussung ihn zunächst mit Hilfe des Alcotest-Prüfröhrchens untersucht; der Betreffende muß in einen Ballon hineinblasen; färbt sich eine im Röhrchen enthaltene Kaliumbichormatlösung grün, so ist dies ein Zeichen dafür, daß die Atemluft so viel Alkohol enthält, daß eine Alkoholbeeinflussung in Betracht kommt; der Betreffende wird einem Arzt zwecks Blutentnahme und Untersuchung vorgestellt; Untersuchung und Blutentnahme sind gem. § 81a StPO duldungspflichtig. Der Polizeibeamte pflegt dem Arzt zur Blutentnahme eine sog. Venüle zu überreichen; es handelt sich um ein evakuiertes Reagenzgläschen, das mit einer Kanüle armiert ist; beim Einstechen in die Ellenbeugenblutader füllt sich das Röhrchen automatisch mit Blut; auf diese Weise kann praktisch ausgeschlossen werden, daß das Blut durch Rückstände im Entnahmeröhrchen verunreinigt wird; es muß dafür gesorgt werden, daß die Haut vor der Blutentnahme nicht mit Substanzen desinfiziert wird, die Alkohol enthalten oder die sonst die Blutalkoholbestimmung stören; man legt Wert darauf, daß die Desinfektion mit dem Mittel „Sublimat" erfolgt, das für diesen Spezialzweck besonders geeignet ist; da aber heutzutage
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in der Arztpraxis Sublimat kaum noch vorhanden ist, ist der Venüle ein in Glas eingeschmolzener Tupfer beigegeben; der Arzt bescheinigt bei der Blutentnahme, daß die Desinfektion nicht mit Alkohol oder Jodtinktur, Äther, Benzin, Zephirol oder Sägrotan erfolgt ist und daß diese Mittel vor der Blutentnahme nicht zur Reinigung und Aufbewahrung der Instrumente und Gefäße gedient haben; im Gebrauch sind auch Klebezettel mit gleichen Nummern; der Klebezettel wird vom Arzt unterschrieben, er bescheinigt, daß der Vordruck und die Venüle in seiner Gegenwart mit den vorschriftsmäßig unterschriebenen Klebezetteln versehen wurden. Auf diese Weise gelingt es, Verwechslungen nach menschlichem Ermessen vorzubeugen. Bei der ärztlichen Untersuchung wird der Allgemeineindruck beschrieben; ist jemand redselig oder zu Witzen geneigt oder böse, so ist dies ein gewisses Indiz für Alkoholeinfluß, sofern der Betroffene nicht auch sonst diese Eigenheiten aufweist; Alkoholgeruch der Atemluft beweist nur, daß der Untersuchte Alkohol zu sich genommen hat; über die Fahrtüchtigkeit sagt dieser Befund nichts aus. Wichtiger ist das Verhalten des Betreffenden beim Gehen, bei der Kehrtwendung und beim sog. Finger-Fingerund Finger-Nasen-Versuch; etwaige Unsicherheiten werden notiert. Findet der Arzt keinerlei Ausfälle, so ist dies kein Zeichen für fehlende Alkoholbeeinflussung; viele Menschen haben die Fähigkeit, sich bei der ärztlichen Untersuchung „zusammenzureißen", obwohl vorher tatsächlich Unsicherheiten vorhanden waren; der Prozentsatz derjenigen, die bei einem Blutalkoholgehalt von rund l,5°/oo nach außen hin keinerlei Symptome der Alkoholbeeinflussung aufweisen, liegt ungefähr bei 50%. Für die Blutalkoholbestimmung sind die Methode von Widmark und die Ferment- oder ADH-Methode in Gebrauch; es handelt sich um Mikromethoden; jede Mikromethode streut bis zu einem gewissen Grade; Übereinstimmungen bis in die zweite Dezimale hinein sind nicht zu erwarten; würden sie häufiger bestehen, so kann der Verdacht aufkommen, daß die Resultate der Untersuchungen angeglichen wurden. Bei guter Übereinstimmung setzt man den niedrigeren Wert ein. Es ist auch üblich, daß die Richtigkeit der Technik in gewissen Abständen durch Bestimmung einer bekannten Alkoholtestlösung überprüft wird. Die Widmark-Methode erfaßt neben dem Äthylalkohol auch andere reduzierende Substanzen, sie ist nicht spezifisch; die ADHMethode spricht nur auf Äthylalkohol an und ist praktisch spezifisch. Zwischen dem fraglichen Vorfall und der Blutentnahme wird vielfach eine gewisse Zeit liegen; da der Blutalkoholspiegel nach Erreichung des Gipfels ziemlich kontinuierlich absinkt, wird der Blutalkoholgehalt zur Zeit des Vorfalles im all-
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Gerichtliche Medizin
gemeinen höher sein als zur Zeit der Blutentnahme; der Durchschnittswert des Abfalles des Blutalkoholgehaltes je Stunde beträgt 0,170/; zum Schutze des Betroffenen wird man jedoch mit dem Durchschnittsabbau nicht rechnen dürfen; man pflegt zu seinem Schutz einen Mindestabbau einzusetzen, der 0 , l ° / o o beträgt, in manchen Gegenden der Bundesrepublik wird auch ein Abbaufaktor von 0 , 1 2 ° / o o eingesetzt. Wurde vor Erreichung des Kurvengipfels unregelmäßig getrunken oder bestehen sonst irgendwie Regelwidrigkeiten im Akloholabbau, so kommt es vor, daß der Blutalkoholwert zunächst nicht absinkt, sondern für einige Zeit auf gleicher Höhe erhalten bleibt, sog. Plateaubildung; man pflegt daher unter Umständen nicht zurückzurechnen, wenn der Gipfel der Blutalkoholkurve nahe an die Zeit des fraglichen Vorfalles heranreicht; auch beim Absinken der Blutalkoholkurve gegen den NullPunkt können Unregelmäßigkeiten auftreten, manchmal ist der Abfall ein sehr langsamer; es bestehen daher Bedenken, bei einem Blutalkoholwert von vielleicht nur O,150/00 für lange Zeit, ζ. B. für 10 Stunden, so zurückzurechnen, daß man einen Faktor von 0,1% ansetzt und dann zu einem Blutalkoholgehalt von l,5%o kommt; anders liegen die Verhältnisse, wenn man weiß, wieviel der Betreffende in der fraglichen Zeit ungefähr getrunken hat; unter diesen Umständen wäre eine solche Rückrechnung vertretbar, um festzustellen, ob die Angaben über die Trinkmenge glaubhaft sind. Hat der Betreffende kurz vor dem fraglichen Vorfall noch Alkohol zu sich genommen, und zwar in größeren Mengen (sog. Sturztrunk), so muß man damit rechnen, daß zur Zeit des Vorfalles der gesamte genossene Alkohol noch nicht ins Blut übergegangen war; man wird unter diesen Umständen genötigt sein, einen entsprechenden Satz vom errechneten Blutalkoholgehalt abzuziehen. Welchen Blutalkoholgehalt genossene Alkoholmengen im Höchstfalle unter Berücksichtigung des Körpergewichts und der Konstitution hervorrufen können, läßt sich errechnen; es gibt hierfür auch Tabellen; man muß aber berücksichtigen, daß tatsächlich der errechnete Blutalkoholgehalt nicht erreicht wird, es besteht fast immer ein sog. Alkoholdefizit; wir pflegen 10% anzunehmen, hatte der Betreffende zum Alkohol Speisen zu sich genommen, auch 20%. Wurde eine Blutprobe, ζ. B. nach Verkehrsflucht, nicht genommen, so ist man genötigt, den Blutalkoholgehalt unter Berücksichtigung der eben erwähnten Kautelen zu berechnen und der Begutachtung zugrunde zu legen. Die Erfahrung geht dahin, daß die Angaben der Betroffenen bezüglich der genossenen Alkoholmengen im Laufe der Vernehmungen widerstrebend höher werden, wenn ihnen das Ergebnis der Blutalkoholbestimmung bekannt geworden ist; dagegen
besteht die Neigung, Alkoholmengen, die kurz vor dem fraglichen Ereignis genossen wurden, zu vergrößern, mitunter wird erst in der Hauptverhandlung ein Nachtrank behauptet, also eine Alkoholaufnahme nach dem Vorfall. Falls dieser Nachtrank nicht zu widerlegen ist, wird man ihn rechnerisch unter Berücksichtigung des Alkoholdefizites einkalkulieren und abziehen müssen. Wird ein Nachtrank frühzeitig bekannt und ist zwischen Nachtrank und Blutentnahme noch nicht viel Zeit verflossen (etwa 1 Stunde), so empfiehlt es sich, im Abstand einer Stunde eine zweite Blutentnahme durchzuführen; stellt sich dabei heraus, daß der Blutalkoholgehalt der Erwartung entsprechend abgesunken ist, so ist der Nachtrank nicht glaubhaft. Wir wissen, daß nach Abschluß der Alkoholaufnahme bei halbwegs nüchternem Magen in einer halben Stunde etwa 2 /a des genossenen Alkohols in die Blutbahn hinein aufgenommen wird; bis der gesamte genossene Alkohol ins Blut übergegangen ist (soweit er eben ins Blut übergeht), vergehen 1 bis l 1 /2 Stunden; wurden zum Alkohol Speisen gegessen, so kann sich die Aufnahme des Alkohols in die Blutbahn auch auf 2 Stunden verzögern. Ermittelt man unter Benutzung der Werte, die für den Beschuldigten am günstigsten sind, für die Zeit des fraglichen Ereignisses einen Blutalkoholgehalt von l , 5 ° / o o und mehr, bei dem Benutzer eines einspurigen Kraftfahrzeuges l,3°/oo und mehr, so besteht eine sog. absolute Fahruntüchtigkeit; das Gericht pflegt weitere Einwendungen gegen die Feststellung der Fahruntüchtigkeit nicht mehr entgegenzunehmen. Liegt der Wert jedoch tiefer (relative Fahruntüchtigkeit), so muß man prüfen, ob zur Blutalkoholzahl noch weitere Anhaltspunkte hinzukommen, aus denen Fahruntüchtigkeit geschlossen werden kann. In Frage kommen der ärztliche Befund bei der Blutentnahme, das Verhalten des Betreffenden bei der Sistierung (Aussage des Polizeibeamten), das Verhalten während der Fahrt nach Beobachtungen von Zeugen (ZickZack-Fahren, Schneiden von Kurven, unvernünftige Geschwindigkeit) und schließlich auch die Art des Unfalles, sofern es zu einem solchen gekommen ist (unmotiviertes Abkommen von der Straße, Anfahren eines Baumes usw.). Bei derartigen Beurteilungen wird man sich als medizinischer Sachverständiger vor Augen halten müssen, daß die Auswertung von nicht medizinischen Befunden der freien Beweiswürdigung durch das Gericht unterliegt; wenn sich die Frage ergibt, ob ein nüchterner Kraftfahrer den Unfall bei der üblichen Aufmerksamkeit hätte vermeiden können, so ist mitunter die Zuziehung eines Kraftfahrsachverständigen erforderlich. Bei der Auswertung des Verhaltens des Fahrers vor dem fraglichen Ereignis ist zu berücksichtigen, daß
Gerichtliche Medizin nach einem etwaigen Sturztrunk der Alkohol schnell in das Blut einschießt und eine erheblichere Wirkung verursacht als sonst. Nach den Statistiken neuerer Zeit sind an Fahrten unter Alkoholeinfluß Jugendliche und jüngere Männer in einem Anteil von über 50% beteiligt; zwei Drittel von ihnen sind einschlägig vorbestraft, nicht wenige sind auch wegen alkoholbedingter Delikte anderer Art straffällig geworden; aus diesen Gründen wird vielfach empfohlen, gerade bei der Begutachtung von Jugendlichen strenge Richtlinien zugrunde zu legen. Neuerdings wird lebhaft die Frage erörtert, wieweit die vorherige Einnahme von Schlaf-, Schmerz- und Beruhigungsmitteln geeignet ist, die Wirkung von Alkohol zu verstärken. Hin und wieder werden mit mehr oder minder Reklame E r n ü c h t e r u n g s m i t t e l empfohlen; bewährt hat sich nach dem Ergebnis der vorgenommenen Nachprüfungen bisher keines. Ist ein Mensch, der an einem Unfall beteiligt war, getötet worden, so kann der Nachweis der Alkoholbeeinflussung, wenn man von versicherungsrechtlichen Gesichtspunkten absieht, für den Beschuldigten eine Entlastung bewirken. Man darf daher nicht vergessen, in Zweifelsfällen zu veranlassen, daß der Leiche Blut zur Alkoholbestimmung entnommen wird; dieses Blut darf nicht dem Herzen entnommen werden, weil im Magen befindlicher Alkohol nach dem Tode durch die Magenwand, das Zwerchfell, den Herzbeutel und die Herzwand in das Herzblut übergehen und seinen Alkoholgehalt nicht unwesentlich erhöhen kann; das Blut muß vielmehr nach Anschneiden der Oberschenkelblutader entnommen werden. Ist die Leiche in Fäulnis übergegangen, so muß unter allen Umständen nach beiden Methoden bestimmt werden; die Fäulnisprodukte erhöhen den nicht spezifischen Widmark-Wert. Man muß allerdings auch damit rechnen, daß sich nach dem Tode durch Zersetzungsvorgänge im Blut ein echter Äthylalkohol bilden kann, der geeignet ist, auch den nach der Ferment-Methode erhaltenen Wert bis zu einem gewissen Grade zu Unrecht zu erhöhen. Im Verlaufe der Fäulnis entwickeln sich auch höhere Alkohole; sind sie noch nicht vorhanden und schließt man dies durch eine entsprechende Untersuchung aus, so läßt sich allerdings nach menschlichem Ermessen eine Störung des Ergebnisses durch postmortal entstandenen Äthylalkohol ausschließen. Im ganzen muß davor gewarnt werden, aus L e i c h e n b l u t gewonnene Alkoholwerte ohne Anlegung einer besonderen Kritik ausschlaggebend zu verwerten; dies gilt besonders für Fälle, bei denen der Blutalkoholwert für die Gewährung von Hinterbliebenenrente nach Betriebsunfällen oder für die Zahlung einer Versicherungssumme entscheidend sein kann.
299 Monographien
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Gerichtliche Medizin
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6. Gerichtsmedizinische Gesichtspunkte bei der Kindestötung Die medizinischen Untersuchungen beginnen meist damit, daß die Kindesleiche vorgefunden wird; mitunter wird sie aus dem Wasser gezogen, manchmal ist sie in Parkanlagen versteckt, mitunter findet man sie, durch den Geruch aufmerksam geworden, versteckt im Kleiderschrank; manchmal befindet sie sich in der Grube eines ländlichen Abortes, manchmal, den Abfluß verstopfend, in der Röhre eines Wasserklosetts. Für die Untersuchung dieser Leiche ergeben sich folgende Fragestellungen: 1) War dieses Kind lebensfähig? 2) War es neugeboren? 3) Hat es geatmet, also gelebt? 4) Ergeben sich Anhaltspunkte für eine natürliche oder durch Geburtseinwirkungen veranlaßte Todesursache? 5) Liegt ein gewaltsamer Tod vor ? Zu 1 : Ein reifes Kind ist im allgemeinen 50 cm lang, die Ohren- und Nasenknorpel sind ausgebildet, die Fingernägel überragen die Fingerkuppen, die Zehennägel erreichen die Zehenkuppen; doch ist für die Frage der Lebensfähigkeit die vollendete Reife nicht ausschlaggebend; auch ein unreifes Kind kann getötet werden; man sieht ein Kind als l e b e n s f ä h i g an, wenn es eine Länge von mindestens 35 cm hat (sorgfältig bei gestrecktem Körper gemessen), dies entspricht einer Schwangerschaftsdauer von 7 Mondmonaten zu je 28 Tagen. Zu 2: Ein n e u g e b o r e n e s Kind ist meist mit Blut und mit Kindspech (Meconium genannt) bedeckt, das aus dem After ausgetreten ist; in den Leistenbeugen und Achselhöhlen und vielfach auch an anderen Körperstellen finden sich abgeschilferte verfettete Hautmassen, die man in der Medizinersprache als Vernix caseosa bezeichnet (Käseschmiere); am Nabel des Kindes befindet sich beim Neugeborenen die N a b e l s c h n u r , man wird bei ihrer Betrachtung darauf achten, ob sie unterbunden ist und ob das freie Ende glatt durchschnitten oder infolge Zerreißung zerfetzt ist. Bei normaler Geburt entsteht am Hinterkopf des Kindes eine Ansammlung von blutiger Flüssigkeit zwischen Kopfhaut und Knochen; es handelt sich um die sog. K o p f g e s c h w u l s t , die 24 Stunden nach der Geburt zu verschwinden pflegt; ist keine Kopfgeschwulst vorhanden, handelt es sich aber gleichwohl um ein neugeborenes Kind, so kann man daraus den Schluß ziehen, daß es sich um eine recht schnelle Geburt
gehandelt hat, vielleicht um eine S t u r z g e b u r t . Befindet sich die Kopfgeschwulst an abnormer Stelle, etwa in der Stirngegend oder im Bereiche des Gesichts oder findet man statt der Kopfgeschwulst eine Schwellung am Steiß oder die Schwellung eines Fußes, so weiß man, daß das Kind in abnormer Lage geboren wurde und schon aus diesem Grunde vermehrt gefährdet war. Zu 3 : Ob ein Kind g e a t m e t hat, läßt sich durch äußere Besichtigung der Leiche nicht feststellen. Die Entscheidung kann nur auf Grund der Leichenöffnung erfolgen. Zu einem großen Teile maßgebend ist immer noch die seit 1681 bekannte Lungenschwimmprobe, die vom Obduzenten durchgeführt werden m u ß . Fällt sie positiv aus, und handelt es sich um eine frische Leiche, so ist dies beweisend für vorausgegangene Atmung, also vorausgegangenes Leben, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß nach dem Tode nicht intensive Wiederbelebungsversuche durch künstliche Atmung vorgenommen wurden. Sind die Lungen nicht belüftet, so beweist dies nicht unbedingt das Vorliegen einer Totgeburt; namentlich bei Frühgeburten kommt es vor, daß die Luft, die sich nach dem Tod in den Lungenbläschen vorfand, wieder resorbiert wird. Man wird daher bei negativem Ausfall dieser Lebensprobe nur sagen können, daß die Leichenöffnung keine Anhaltspunkte für vorangegangenes Leben ergeben habe; stellt sich nachher durch Zufälle doch heraus, daß das Kind gelebt hat (Geständnis der Kindesmutter, Beobachtungen der Nachbarn), so widerspricht dies nicht den Sektionsbefunden. Man kennt von gangbaren Lebensproben noch die Magen-Darm-Schwimmprobe; ihr negativer Ausfall spricht nicht gegen vorangegangenes Leben, ist aber ein gewisses Indiz dafür, daß das Leben nicht lange gedauert hat; denn das Kind schluckt meist gleich nach der Geburt Luft in den Magen, findet man sie schon im unteren Dünndarm oder gar im Dickdarm, so ist dies ein Zeichen dafür, daß das Leben einige Zeit angedauert hat. Ist die Leiche in Fäulnis übergegangen, so kann nicht nur der Magen-Darm-Kanal durch Bildung von Fäulnisgasen schwimmfähig werden, sondern auch Fäulnisblasen in den Lungen können diese Organe schwimmfähig machen; der geübte Obduzent wird trotzdem aus der Anordnung der Bläschen Schlüsse ziehen können; ausschlaggebend ist in solchen Fällen mitunter das Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung; stellt man hierbei unter Benutzung einer besonderen Färbung fest, daß die Hohlräume in den Lungen von straff ausgespannten elastischen Fasern umgeben sind, so handelt es sich hier nicht um Fäulnisblasen, sondern um entfaltete Lungenbläschen. Man ist nicht berechtigt, die Öffnung einer in Fäulnis übergegangenen Kindesleiche zu unterlassen in der Meinung, daß sich vorangegangenes Leben doch nicht mehr feststellen läßt.
Gerichtliche Medizin Zu 4: Mißbildungen (Verengungen der Luftwege, grobe Defekte der Herzscheidewand, Umstellung des Abganges der vom Herz ausgehenden Gefäße, Fehlbildungen der Lunge oder des Gehirns) bedingen unter Umständen den S p o n t a n e i n t r i t t des T o d e s gleich nach der Geburt; das gleiche gilt auch für Infektionen, die in der Gebärmutter zustande kamen, insbesondere auch die Syphillis. Bei Geburten kann e s z u V e r l e t z u n g e n k o m m e n . Der durch das Becken gepreßte Kopf kann so deformiert werden, daß Einrisse im Bereiche der harten Hirnhaut resultieren, durch die die hier befindlichen großen Blutleiter angerissen werden. Todesursache ist dann eine Blutung zwischen den Hirnhäuten. Normalerwiese sind U m s c h l i n g u n g e n des Halses des Kindes durch die N a b e l s c h n u r ungefährlich; ist aber die Nabelschnur bereits verkürzt oder verkürzt sie sich infolge der Umschlingungen, so kann sich die Schlinge bei der Geburt so fest zusammenziehen, daß das Kind während des Geburtsvorganges abstirbt (Verarmung des Gehirns an sauerstoffhaltigem Blut). Vorher pflegt es noch Fruchtwasser mit seinen Bestandteilen in die Lungenbläschen einzuatmen, was man späterhin durch mikroskopische Untersuchung feststellen oder ausschließen kann. Der untersuchende Arzt wird sich davon überzeugen müssen, daß die oben angeführten Möglichkeiten eines spontanen Todes gleich nach der Geburt und eines Absterbens während der Geburt nicht vorliegen. Zu 5: Als Anzeichen einer g e w a l t s a m e n T o d e s u r s a c h e kann man vorfinden die Zeichen einer vorangegangenen Erdrosselung oder Erwürgung (siehe oben Abschn. 4); findet man Schädelbrüche, so muß man überlegen, ob sie auch durch Entgleiten aus den Händen der Mutter bei der Geburt oder durch Herabfallen des Kindes aus den Geburtswegen auf den Fußboden zustande gekommen sein können; doch wird man diese Untersuchungen erst anstellen können, wenn die Kindesmutter und ihre Darstellung der Vorgänge bekannt geworden sind. Wurde die Kindesleiche in der Jauchegrube oder im Klosett vorgefunden, so wird man mikroskopisch danach forschen müssen, ob Bestandteile der Jauche oder auch blutige Flüssigkeit bis in die Lungenbläschen eingeatmet wurden; die gleichen Untersuchungen wären durchzuführen, wenn Verdacht besteht, daß das Kind zwischen den Beinen der Mutter in der sich hier bildenden Pfütze aus Fruchtwasser und Blut ertrunken ist. Beim Auffinden der Mutter wird der Gerichtsmediziner kaum mithelfen können. Für alle Fälle wird man die Blutgruppenformel der Kindesleiche bestimmen. Vielfach wird die Polizei auf die Mutter durch anonyme Zuschriften aufmerksam oder, wenn sie vom Lande stammt, auch dadurch, daß beobachtet wurde, wie ein Mädchen an Leibesfülle zunahm, dann für einen oder mehrere
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Tage verschwand und in schlankem Zustande wieder zum Vorschein kam. Über die P s y c h o l o g i e der K i n d e s t ö t u n g ist vom medizinischen Standpunkt aus nachfolgendes zu bemerken: Zwar nicht gesetzlich, wohl aber moralisch ist jede werdende Mutter verpflichtet, das allgemein Zumutbare zu tun, um eine für das Kind nach menschlichem Ermessen gefahrlose Entbindung zu gewährleisten; sie wird sich untersuchen lassen, sei es durch den Arzt, sei es durch die Hebamme, sie wird sich, sofern sie diese Berechnung nicht von sich aus vornimmt, die voraussichtliche Zeit der Geburt sagen lassen, sie wird späterhin Kinderwäsche besorgen, sie wird sich, wenn die Zeit der Geburt heranrückt, überlegen, wo sie niederkommen kann; ist dies zu Hause möglich, so wird sie sich bei der zuständigen Hebamme vormerken lassen, andernfalls wird sie sich in einem Heim oder in einer Klinik anmelden. Die spätere Kindesmörderin tut nichts von alledem; sie versucht vielmehr, die Schwangerschaft zu verheimlichen, was in sehr vielen Fällen durch geeignetes Anziehen gelingt; auch in Arzthaushalten und Krankenhäusern ist es vorgekommen, daß niemand etwas von der Schwangerschaft des Hausmädchens bemerkt hat. Manchmal erfährt man späterhin, daß die Täterin in den ersten Schwangerschaftsmonaten erfolglos Abtreibungsversuche vorgenommen hat. Beginnen die Geburtswehen, so zieht sich die Gebärende zurück; sie berichtet wahrheitsgemäß, sie habe Leibschmerzen, sie läßt sich vielleicht auch einen Tee kochen; dann erwartet sie die Geburt; auch wenn Eltern oder Verwandte in der Nähe sind, bringt es die Gebärende unter diesen Umständen fertig, bei der Niederkunft keinen Laut von sich zu geben. Wenn die Fruchtblase springt und die Preßwehen beginnen (die Frauen sagen: Jetzt drückt es nach unten), dann ist sich praktisch jede Frau, auch wenn sie noch nicht geboren hat, darüber klar, daß jetzt das Kind kommt; trotzdem wird Hilfe nicht herbeigeholt; die Frau kommt im Liegen oder im Sitzen nieder, manchmal im Bett, manchmal auf dem Topf, manchmal auf dem Klosett sitzend. Bei der eigentlichen Tötung werden in den westlichen Gegenden Europas mehr passive Methoden bevorzugt. Die Frau bleibt nach der Entbindung u. U. zugedeckt im Bett liegen; sie schlägt die Bettdecke nicht zurück; liegt das Kind, wie meist, mit dem Gesicht auf dem Bettuch, so ertrinkt es, wie schon erwähnt, in der Pfütze, die sich zwischen den Beinen der Mutter aus dem abgegangenen Fruchtwasser und dem nachsickernden Blut bildet. Lag der Kopf nach der Seite zu, so erstickt das Kind allmählich unter der Bettdecke infolge abnehmenden Sauerstoffgehaltes der Einatmungsluft. Einige Zeit nach der Geburt pflegt die Frau einzuschlafen; wenn sie aufwacht, holt sie das inzwischen abgestorbene Kind hervor,
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sie pflegt es zu betrachten; eigenartigerweise legt sie auch Wert darauf, die Nabelschnur zu durchtrennen; sie wird sogar oft abgebunden, manchmal dann, wenn der Mutterkuchen schon geboren ist. Es mag noch bemerkt werden, daß eine Durchtrennung der Nabelschnur ohne Abbindung des Stumpfes dem Kinde im allgemeinen nichts schadet. Sobald die Lungenatmung eingesetzt hat, sinkt der Blutdruck in den Nabelgefäßen so schnell, daß sich aus der durchschnittenen Nabelschnur nur noch einige Bluttropfen entleeren; im Volksmunde ist aber vielfach zu Unrecht die Meinung verbreitet, daß die Nabelschnur unter allen Umständen unterbunden und durchschnitten werden müsse. Späterhin wird die Kindesleiche beiseite gebracht, das Zimmer wird notdürftig gesäubert, das Bett frisch bezogen, die Entbundene ruht sich vielleicht noch einen Tag aus und erscheint dann wieder zur Arbeit. Wird entdeckt, daß sie geboren hat (man kann dies durch ärztliche Untersuchung noch einige Zeit nach der Geburt feststellen), und wird das Kind späterhin vorgefunden, so pflegt die nunmehr beschuldigte Kindesmutter einzuwenden, daß das Kind tot geboren wurde. Wird ihr dies widerlegt, so liegt von ihrem Standpunkt aus die Einrede sehr nahe, sie sei am Ende der Geburt o h n m ä c h t i g geworden; eingehende Umfragen an Frauenkliniken aus der Zeit, als noch ohne Durchtrittsnarkose geboren wurde, haben jedoch ergeben, daß eine Ohnmacht kurz vor oder nach der Geburt nur unter folgenden Voraussetzungen einzutreten pflegt: bei besonders langen und schweren G e b u r t e n , bei starken B l u t v e r l u s t e n oder bei einer sog. S t u r z g e b u r t . Wenn die Entbundene in den Tagen danach wieder arbeiten konnte, wird es sich wohl um keine besonders schwere und lange Geburt gehandelt haben, auch wird der Blutverlust kein so besonders großer gewesen sein. Im Zweifelsfalle kann ein sog. Blutstatus aufgenommen werden. Hat die Kindesmutter bei ihrer Vernehmung bereits geschildert, wie die Blase sprang, wie ein Schwall von Fruchtwasser abging, wie dann Preßwehen einsetzten, wie sie merkte, daß es nach unten drückte und wie dann schließlich das Kind herauskam, so kann es sich um eine Sturzgeburt nicht gehandelt haben; man wird sie ferner praktisch ausschließen können, wenn die Kindesleiche eine deutliche Kopfgeschwulst aufwies. Gelingt es in Ausnahmefällen nicht, die Einrede der Ohnmacht gleich nach der Geburt zu widerlegen, so wird man erörtern müssen, ob eine f a h r l ä s s i g e Tötung in Frage kommt, sofern ein Gericht nicht bedingten Vorsatz annimmt. Man wird überprüfen, ob die Gebärende in der Lage war, ihrer moralischen Pflicht entsprechend, durch Rufen oder auch durch Anhalten von am Fenster Vorübergehenden Hilfe herbeizuholen. War dies möglich, so wird man vom medizinischen Standpunkt aus über-
prüfen müssen, ob das Eintreffen der Hilfspersonen nach menschlichem Ermessen den Tod des Kindes verhindert hätte. Eine vernünftige Frau, die zur Geburt hinzukommt, wird, auch wenn sie nicht als Hebamme geschult ist, die Gebärende veranlassen, sich hinzulegen; sie wird weiterhin das Kind, wenn es ausgetreten ist, aus der Lage zwischen den Beinen der Mutter herausnehmen und es neben die Mutter legen; meist wird die Hilfsperson noch die Nabelschnur durchtrennen, obwohl dies gar nicht nötig ist. Man muß sich bei der Beurteilung derartiger Fragen vor Augen halten, daß die Geburt ein natürlicher Vorgang ist. 98% der Geburten sind als normale Geburten ohne jede Kunsthilfe möglich. Da aber in unserer gegenwärtigen zivilisierten Welt praktisch keine Geburt mehr ohne Arzt oder Hebamme stattfindet (die Hinzuziehung einer Hebamme ist sogar im Reichshebammengesetz vorgeschrieben, aber die Unterlassung nicht unter Strafe gestellt), glaubt man vielfach, daß Geburten ohne fremde Hilfe nicht möglich sind. Wer öfter den Zustand von Frischentbundenen beobachtet hat, wie sie, noch bevor sie in Schlaf verfallen, das Kind betrachten und sich freuen, der wird sich davon überzeugen, daß frischentbundene Frauen normalerweise auch dann, wenn sie von der Geburt überrascht werden sollten, imstande sind, das im Angenblick Notwendigste für das Kind zu tun; es ist nur nötig, daß sie es aus der Lage zwischen den Beinen herausheben und es neben sich legen; mehr ist zunächst nicht erforderlich. Sind am Halse eines neugeborenen Kindes Spuren vorhanden, die auf Würgen hinweisen, so wird von der Kindesmutter manchmal S e l b s t h i l f e geltend gemacht. Es kommt vor, daß die Gebärende zugreift, wenn der Kopf des Kindes geboren ist; sie faßt an das Kinn oder den Unterkieferast, sie steckt auch manchmal einen Finger in den Mund des Kindes und versucht auf diese Weise, das Kind herauszuziehen, obwohl eine solche Selbsthilfe kaum nötig ist; ist erst der Kopf geboren, so erfolgt normalerweise die Geburt des Rumpfes in kürzester Zeit spontan. Hat tatsächlich Selbsthilfe vorgelegen, so resultiert mitunter eine Zerreißung der Wangenschleimhaut, wenn der Finger in den Mund gesteckt wurde; man findet auch Kratzspuren am Kinn und am Rande des Unterkiefers, aber kaum im Bereiche der Mitte des Halses; derartige Verletzungen weisen vielmehr eindeutig auf vorangegangenes Würgen hin. Daß eine Mutter das Kind auf ausgesprochen gewaltsame Weise umbringt (Zustechen mit Messer oder Schere, Zerschmettern des Kopfes u. a.), kommt vor und wird, wenn es vorkommt, gern veröffentlicht; es kann sein, daß auf diese Weise der Eindruck entsteht, als ob ein aktives, gewaltsames Vorgehen häufiger ist, als der Wirklichkeit entspricht. Psychiatrische Begut-
Gerichtliche Medizin achtung wird in solchen Fällen fast immer erforderlich sein, doch muß hinzugefügt werden, daß gewaltsames Vorgehen bei der Kindestötung allein (Zustechen mit der Schere, Zerschneiden des Kindes) noch kein Indiz für eine Geisteskrankheit ist. A. D o s a : Leberruptur bei reifen Neugeborenen, Frühgeborenen und abortierten Früchten. DZGerMed. 48 (1958/59) S. 36. J . Gerchow: Fahrlässigkeit und bedingter Vorsatz als gerichtsärztliches Problem bei Kindestötung. DZGerMed. 49 (1950/60) S. 605. Zur medizinisch-forensischen Beurteilung der minderjährigen Kindesmörderin. DZGerMed. 44 (1955/56) S. 429. Ξ. J . G o l d b a c h : Über die Berechtigung der mildernden Strafe für Kindestötung. MschrKrim. 40 (1957) S. 234. Zur forensischen Beurteilung der Kindestötung. Geb. u. Frauenheilk. 16 (1966) S. 609. J . H i r s c h m a n n u. E . S c h m i t z : Strukturanalyse der Kindsmörderin. Z. Psychother. med. Psychol. 8 (1958) S. 1. S. L a g u n a : Ungewöhnlicher Fall von Kindesmord. Arch. med. sadowej. 8 (1956) S. 58. J . Mil eins ki: Einige Probleme der gerichtlichen Medizin im Zusammenhang mit dem Kindesmord. Krim. Kazenskem Pravosodju 1967 S. 238, ref. DZGerMed. 47 (1958) S. 368. B. Mueller u. F. B a c k h a u s e n : Über die Entstehung von Sekundäreinrissen beim Durchreißen der Nabelschnur. Zacchia 1 (1955) S. 1. W. Neugebauer: Zur forensisch psychiatriechen Beurteilung der Kindestötung. ArchKrim. 121 (1958) S. 155. B e i t b e r g e r : Über den Kindsmord auf dem Lande. Die Chancen der Polizei und Justiz. ArchKrim. 116 (1956) S. 41 u. 107. K. S a u e r u. K. Z i m d a r s : Hebammengesetz vom 21.12. 38 nebst Erläuterungen und Anhang. 1939. G. S c h m i d t : Das Motiv der Kindstötung. FortschrNeurol. 21 (1953) S. 535.
7. Blutgruppen
und Vaterschaft
Auf die Bedeutung der Blutgruppen im Rahmen des Spurennachweises wurde bereits eingegangen (Abschn. 2); ihr Hauptanwendungsbereich liegt im Rahmen des Ausschlusses der Vaterschaft gemäß §§ 1717, 1591, 1592 B G B . In strafrechtlicher Beziehung spielen Vaterschaftsfragen eine Rolle, wenn einer Kindesmutter vorgeworfen wird, sie habe vor dem Richter falsch ausgesagt oder gar einen Meineid geleistet; es entspricht der Gepflogenheit, die Vereidigung einer Kindesmutter im Rahmen eines Alimentationsprozesses erst vorzunehmen, wenn eine Blutgruppenuntersuchung bzw. andere geeignete Untersuchungen stattgefunden haben. Männer, die sich dauernd der Unterhaltspflicht gegenüber dem unehelichen Kinde entziehen, wenden nach Einleitung eines Strafverfahrens gemäß §§ 170b, 361 Ziff. 5 S t G B gelegentlich ein, daß sie tatsächlich nicht der Vater des unehelichen Kindes seien; unter diesen Umständen veranlaßt die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht mitunter gleichfalls eine Blutgruppenuntersuchung. Als vor einiger Zeit eine hochschwangere Frau in der weiteren Umgebung von Heidelberg ermordet worden war,
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warf die zuständige Staatsanwaltschaft die Frage auf, welche der verdächtigten Männer als Schwängerer der Toten ausgeschlossen werden könnten. Für die Durchführung der Blutgruppenbestimmungen gelten die vom Bundesgesundheitsamt herausgegebenen R i c h t l i n i e n ; untersucht werden muß das Blut des Rindes, seiner Mutter und das des als unehelicher Vater in Anspruch genommenen Mannes, manchmal auch das eines Ausschlußzeugen. (Die Blutentnahmen sind duldungspflichtig gem. §§ 3 7 2 a ZPO, bzw. 8 1 a , 8 1 c StPO.) Die Untersuchungen erstrecken sich auf die klassischen Blutgruppen, auf die Faktoren Μ und N, auf die Unterteilungen des Rh-Systems und die Merkmale Κ und P, mitunter auch auf das System Duffy ( F y a und F y b ) ; sie sollen nach zwei verschiedenen Methoden stattfinden, deren Auswahl den Gutachtern überlassen wird. Auf die möglichen, nicht seltenen Fehlerquellen muß geachtet werden; in Frage kommt u. U. auch ein sog. i n d i r e k t e r Vaterschaftsausschluß; hierbei werden auch die Bluteigenschaften der Eltern der Frau oder die des Mannes berücksichtigt. Gründet sich ein etwaiger Ausschluß auf ein System, über das noch keine umfassenden Erfahrungen genetischer oder technischer Art vorliegen, so soll der Gutachter die Einholung eines Zweitgutachtens vorschlagen; es ist üblich, die Einholung dieses Zweitgutachtens bei Ausschlüssen auf Grund der Faktoren Μ und N, der Unterteilungen des Rh-Systems und der Eigenschaften Ρ und Κ und Duffy zu empfehlen, jedoch nicht bei Ausschlüssen auf Grund der klassischen Blutgruppen. Die Blutentnahme wird von dem zuständigen Gesundheitsamt oder einem am Ort befindlichen zur Vornahme der Bestimmungen ermächtigten Institut oder auch von dem Arzt eines Heimes, in Sonderfällen auch von einem Privatarzt durchgeführt. Das Blut muß in hinreichenden Mengen entnommen werden, was bei Kleinkindern nicht ganz einfach ist. Der Arzt, der das Blut entnimmt, ist verpflichtet, sich durch Einsichtnahme in einen Lichtbildausweis von der Identität der erschienenen Personen zu überzeugen; sie müssen dies auch, soweit sie erwachsen sind, ausdrücklich versichern; die Mutter oder diejenige Frau, die das Kind mitbringt, muß dies für das Kind bestätigen; auch müssen die erschienenen Personen durch Unterschrift bekräftigen, daß die E n t nahmegefäße in ihrer Gegenwart richtig beschriftet wurden und daß sie bzw. das Kind in den letzten 3 Monaten keine Blutübertragung erhalten haben (hierdurch können u. U. Verfälschungen der Blutgruppen zustande kommen). Außerdem soll das Entnahmeprotokoll mit dem Abdruck des linken Daumens der erschienenen Person versehen werden und, wenn es sich um Kinder handelt, mit einem Abdruck des linken Fußes. Diese Vorsichtsmaßregeln sind erforderlich,
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Gerichtliche Medizin
weil manchmal späterhin hartnäckig behauptet wird, es habe eine Personenverwechslung vorgelegen oder der als Vater in Anspruch genommene Mann habe einen guten Freund geschickt. Die in Betracht kommenden Vererbungsgesetze wurden auf Grund allgemeiner Kenntnisse über die Vererbung von körperlichen Eigenheiten ermittelt, weiterhin durch mathematisch-statistische Berechnungen, durch Untersuchung von geschlossenen Familien und durch Untersuchung von Mutter-Kind-Paaren, die gleichfalls bis zu einem gewissen Grade die Überprüfung der Vererbungsgesetze gestatten. Es gibt kaum eine Elternkombination, bei der bei Durchführung von Familienuntersuchungen nicht einmal eine Ausnahme festgestellt wurde; die Zahl dieser Ausnahmen ist jedoch äußerst gering, sie beträgt einige Promille; auf Grund des Schrifttums aufgestellte Tabellen gestatten, ihre Anzahl zu ermitteln; wieweit die Ausnahmen tatsächlich stichhaltig waren, steht dahin; bei Massenuntersuchungen kommen technische Fehler vor, man weiß auch nicht, ob die fragliche Ausnahme nicht doch auf Illegimität des Kindes beruht; überprüfen kann man Derartiges im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit nicht, dies verbietet das ethische Empfinden. Sehr auffällig ist, daß man bei Mutter-Kind-Untersuchungen (ein sehr großes einschlägiges Material befindet sich bei den Akten der Blutgruppengutachter) niemals einwandfrei nachgewiesene Abweichungen von den Vererbungsregeln gefunden hat. Die Vererbungsregeln selbst seien wie folgt dargestellt: Bei den klassischen Blutgruppen liegen die Verhältnisse so, daß Bluteigenschaften, die bei dem Kinde nachgewiesen sind, auch bei mindestens einem der Eltern vorhanden sein müssen (sog. dominante Vererbung); gehört ζ. B. ein Kind zur Gruppe A, so muß diese Eigenschaft auch im Blute der Mutter oder in dem des Vaters enthalten sein; fehlt sie bei der Mutter, so muß sie im Blute des Vaters vorhanden sein; ist dies nicht der Fall, so muß man den Betreffenden als Vater ausschließen; man weiß weiterhin, daß Kinder der Gruppe 0 niemals Eltern der Gruppe AB haben und umgekehrt. Im Rahmen der klassischen Blutgruppen wird die Gruppe Α in die Untergruppen Aj und A2 unterteilt, für die entsprechende Erbregeln bestehen; man muß allerdings berücksichtigen, daß im Blute einer Person der Gruppe Ax auch die Eigenschaft A2 enthalten sein kann. Jeder Mensch gehört zum Faktorentypus Μ oder Ν oder zum Faktorentypus MN; besteht bei einem Kinde der Faktorentypus Μ (Erbformel MM), so muß sowohl im Blute des Vaters als auch dem der Mutter die Eigenschaft Μ enthalten sein; entsprechendes gilt für den Faktor N; gehört das Blut des Kindes zum Faktorentypus MN, so muß im Blute des einen der Eltern der Faktor M, in dem des anderen der
Faktor Ν enthalten sein; beide Eltern können also nicht zum Faktorentypus Μ oder zum Faktorentypus Ν gehören. Bezüglich der MutterKind-Paare sei nebenbei erwähnt, daß es nicht vorkommen kann, daß ein Kind zum Faktor Μ und die Mutter zum Faktor Ν gehört oder umgekehrt. Die Unterteilungen des Rh-Systems werden mit CDE/cde bezeichnet (auf die andersartige Bezeichnung von Wiener wurde oben Abschn. 1 hingewiesen). Die Eigenschaft d kann zur Zeit noch nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Kommt bei einem Kinde die Eigenschaft C vor, so muß sie auch bei einem der Eltern vorhanden sein, das gleiche gilt für die Eigenschaft c. Gehört ein Kind zur Eigenschaft CC, so muß die Eigenschaft C sowohl beim Vater als auch bei der Mutter vorhanden sein; das gleiche ist der Fall, wenn das Blut des Kindes zur Eigenschaft cc gehört. Dieselben Gesetze gelten auch für die Vererbung der Eigenschaften E/e. Kommt die Eigenschaft D beim Kinde vor, so muß sie auch bei einem der Eltern vorhanden sein. Die Eigenschaften Κ und Ρ vererben sich ebenso wie die klassischen Bluteigenschaften Α und B. Der zivilrechtliche Rechtsbegriff „den Umständen nach offenbar unmöglich" ist für das Strafrecht nicht maßgebend; wir gehen so vor, daß wir der Staatsanwaltschaft oder dem Amtsgericht über die bei der hier in Betracht kommenden Elternkombination gefundenen Ausnahmen Zahlenangaben machen, etwa in der Art: Bei der hier vorliegenden Bluteigenschaftenkombination berechtigt das gewonnene Ergebnis, die Vaterschaft mit einer Sicherheit von 850:1 auszuschließen oder so ähnlich; das Gericht muß dann entscheiden, ob dieser Sicherheitsgrad zur Verurteilung der Angeklagten genügt oder nicht; wir fügen natürlich hinzu, daß man in einem Alimentationsprozeß in diesem Falle die Vaterschaft als „offenbar unmöglich" ausgeschlossen hätte. In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, daß im Serum der Menschen bestimmte durch Elektrophorese ermittelte Eiweißfraktionen vorhanden sind, die man als Haptoglobine bezeichnet. Es gibt Haptoglobine vom Typus 1 und 2, der Mensch gehört entweder zum Typus 1 oder zum Typus 1—2 oder zum Typus 2; die Vererbung ist die gleiche, wie bei den Faktoren Μ und N. Die Technik der Bestimmung ist etwas diffizil; man pflegt jetzt die Haptoglobine in den zivilrechtlichen Vaterschaftsausschluß mit einzubeziehen. Dies trifft auch auf die Serumeigenschaften Gm und Gc zu. Es gibt wahrscheinlich noch zahlreiche weitere Blut- bzw. Serumeigenschaften; die Forschung über ihre Differenzierung und Genetik befindet sich in vollem Fluß. V a t e r s c h a f t s a u s s c h l ü s s e anderer Art: Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, daß Ausschlüsse auch auf Grund der Tragzeit erfolgen können; man weiß, daß reife Kinder nicht vor
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Gerichtliche Medizin 230 bis 240 Tagen vor der Geburt empfangen worden sein können; ist festgestellt, daß das Kind bei der Geburt reif war (Tagebuch der Hebamme, Krankengeschichte der Entbindungsanstalt) und beträgt die Zeit zwischen der fraglichen Empfängnis (der Tag der fraglichen Konzeption muß allerdings feststehen) und der Geburt weniger als 230 Tage, so ist die Vaterschaft ausgeschlossen; auch für Frühgeburten sind Erhebungen und statistische Berechnungen angestellt worden, die man in der Praxis verwerten kann. Weitere Aufschlüsse über die Vaterschaft kann die e r b b i o l o g i s c h e Ähnlichkeitsu n t e r s u c h u n g ergeben, bei der zahlreiche Merkmale berücksichtigt werden, ζ. B. Farbe der Haare, der Augen, Eigenheiten der Ohrmuschel, Indices von Nase und Mund, Form des Kinnes, Art des Haaransatzes, Einzelheiten der Papillarlinienmuster und vieles andere mehr; wenn nur ein Mann als Vater in Frage kommt, führt diese Untersuchung vielfach nur zu Wahrscheinlichkeitsergebnissen; kommen zwei Männer in Betracht, so gelingt es, in nicht wenigen Fällen nachzuweisen, daß die Vaterschaft des einen sehr unwahrscheinlich und die des anderen sehr wahrscheinlich ist; diese beiden Wahrscheinlichkeiten addieren sich manchmal so, daß das Ergebnis der Untersuchung sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich verwertet werden kann; man kann auch mathematische Berechnungen über die Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit der Vaterschaft anstellen, die allerdings im einzelnen noch umstritten sind. Monographien G. B e i t z k e , H. H o s e m a n n , P . B a h r u. Ξ . S c h a d e : Vaterschaftsgutachten für die gerichtliche Praxis. 1956. P. D a h r : Technik der Blutgruppen und Blutfaktorenbestimmung. 1953. A. H a r r a s s e r : Das anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsgutachten. 1957. K. P o d l e s c h k a : Das geburtshilfliche Gutachten im Vaterschaftsprozeß. 1954. 0 . P r o k o p und G. U h l e n b r u c k : Lehrbuch der menschlichen Blut- und Serumgruppen. 1963. R . R a c e und It. S a n g e r : Die Blutgruppen des Menschen. 1958. Zeit S c h r i f t e n a u f sätze R. A. F i s c h e r : Blood-groups and population geneties. Acta genet, β (1957) S. 507. Α. H a r r a s s e r : Forensische Probleme der anthropologischgenetischen Feststellung der Vaterschaft. Acta genet, 6 (1957) S. 591. J . J u n g w i r t h u. W. S p a n n : Serologische und rechtliche Probleme der indirekten Vaterschaftsausschlüsse. DZGerMed. 49 (1959/60) S. 622. H. K l e i n : Haptoglobin, Genetik, Grundlagen und Probleme. DZGerMed. 51 (1961) S. 455. H. K l e i n u. F . K n ü c h e l : Papierelektrophoretische Bestimmung der Haptoglobingruppen des Menschen (hier weiteres Schrifttum). DZGerMed. 50 (I960) S. 278. 1. K l o s e und D. F e i s t : Familienuntersuchungen über die Vererbung der Eigenschaft Gma. DZGerMed. 62 (1962) S. 348. F. K n ü c h e l : Haptoglobin, Physiologie und Pathologie. DZGerMed. 51 (1961) S. 464. 20
HdK, 2. Aufl., Bd. I
F . L e n z : Die vermeintliche „Wahrscheinlichkeit" von Vaterschaften. Anthropol. Anz. 22 (1958) S. 45. O . P r o k o p , G . B u n d s c h u h und H . F a l k : Über einige neue Ergebnisse auf dem Gebiet der Haptoglobinforschung. DZGerMed. 61 (1961) S. 480. O. P r o k o p u. W. S c h n e i d e r : Vergleich der rechnerischen Wahrscheinlichkeit einer Vaterschaft aufgrund der Blutgruppenmerkmale mit dem Urteil des erbbiologischen Gutachtens, dargestellt an 165 Fällen. DZGerMed. 47 (1958) S. 484. O . P r o k o p , A . S i m o n u. A . R a c k w i t z : Ein seltener schwacher Al-Rezeptor „ A t w " , seine Analyse und Vererbung. DZGerMed. 50 (I960) S. 448. O. P r o k o p , H. H u n g e r u. W. D t t r w a l d : Beobachtungen über D-hemmendes Prinzip in einer Sippe. DZGerMed. 50 (1960) S. 553. V. S a c h s u. Η. H. H o p p e : Die Feststellung der Vaterschaft aufgrund blutgruppenserologischer Reaktion. DZGerMed. 60 (I960) S. 9. K. S a l i e r : Anthropologie und Vaterschaftsnachweis. Acta genet. 6 (1957) S. 581. F . S c h l e y e r u. A. W i c h m a n n : Haptoglobine, allgemeinserologische Grundlagen, eigene TJntersuchungstechnlk und Ergebnisse. DZGerMed. 51 (1961) S. 490. L. J . U n g e r and A. S. W i e n e r : Some observations on blood factors RhA, R h B and RhC of the Th-Hr blood group system. Blood 14 (1959) S. 522. Richtlinien für die Ausführung gerichtlicher Blutgruppenuntersuchungen. Bundesgesundheitsblatt 3 (I960) S. 184.
8. Sterilisierung Eine Sterilisierung oder Unfruchtbarmachung geschieht so, daß beim Manne operativ die Samenleiter und bei der Frau die Eileiter unterbunden werden; im Laufe der Zeit hatte es sich als notwendig herausgestellt, die Unterbrechung dadurch sicherer zu gestalten, daß Partien der Samenleiter bzw. Eileiter entfernt wurden. Ein Zwangseingriff dieser Art, wie er nach dem früheren Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nicht selten durchgeführt wurde, kommt nicht in Frage; einer freiwilligen Unfruchtbarmachung bei exakter ärztlicher Indikation steht nichts entgegen; nach herrschender Meinung ist § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch in Kraft, nach welchem eine Unfruchtbarmachung (oder Entfernung der Keimdrüsen oder Schwangerschaftsunterbrechung), die nicht nach den Vorschriften des früheren Gesetzes erfolgt, dann zulässig ist, wenn ein Arzt sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst zur Abwendung einer ernsten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit desjenigen, an dem er sie vornimmt, und mit dessen Einwilligung vollzieht. Nach der Ausführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 18. 7. 35 RGBl I, S. 1395 wird die ärztliche Indikation zur Unfruchtbarmachung durch eine G u t a c h t e r s t e l l e festgestellt; bezüglich dieser Gutachterstellen herrscht in der Bundesrepublik noch Rechtszersplitterung; in Ländern, in denen die Ärztekammern erhalten blieben, ist die Stelle der Ärztekammer angegliedert, in anderen Ländern, in denen die Ärztekammern aufgelöst wurden, den Gesundheitsämtern, so im früheren Lande WürttembergBaden (Nordwürttemberg-Nordbaden). Mitunter
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Gerichtliche Medizin
besteht auch keine einwandfreie landesrechtliche Regelung. Es erscheint aber dringend notwendig, die Verhältnisse klarzustellen. Nirgends sollte es dem behandelnden Arzt allein erlaubt sein, von sich aus die Entscheidung zu treffen und dann den Eingriff durchzufuhren. Auch der Wille der Frau sollte für sich allein nicht maßgebend sein; es fehlt nicht an wirksamen, der Schwangerschaft vorbeugenden Möglichkeiten. Die gesetzliche Regelung sollte dahin gehen, daß der behandelnde Arzt die Unfruchtbarmachung bei einer Gutachterstelle beantragt, der Obmann dieser Stelle sollte zwei Gutachter benennen, vielleicht einen Praktiker und einen Facharzt; sind die Gutachter der gleichen Meinung, so würde der Obmann die Durchführung der Operation gestatten; sind die Gutachter verschiedener Meinung, so sollte der Obmann die Erstattung eines Obergutachtens durch einen Krankenhausarzt, der nicht behandelnder Arzt ist, veranlassen. Nach Erstattung dieses Gutachtens würde der Obmann in seiner Entscheidung frei sein. Die Verhältnisse sind jetzt so, daß eine Unfruchtbarmachung auf diesem Wege nur verhältnismäßig selten beantragt wird; in Betracht kommen nur medizinische Indikationen (Abwendung einer ernsten Gefahr für das Leben und die Gesundheit der betreffenden Frau, jedoch nicht Gefahren für den Nachwuchs). Eine Unfruchtbarmachung aus eugenischen Gründen hat ζ. Z. in der Bundesrepublik keinerlei gesetzliche Grundlage. L. F e d e r h e n : Eugenik. In: Der Arzt des öffentl. Ges. Dienstes. 1952. S. 479«. E. W. H a n a c k : Die strafrechtliche Zulässigkeit künstlicher Unfruchtbarmachungen. Marburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Reihe A, 1959. H. N a u j o k s : Leitfaden der Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung. 1954.
9.
Kastration
Bei der Kastration werden die Keimdrüsen operativ entfernt, also bei Männern die Hoden (Entmannung) und bei Frauen die Eierstöcke; dieser Eingriff bewirkt nicht nur Unfruchtbarkeit, sondern im Laufe der Zeit auch eine Auslöschung oder Verminderung der sexuellen Fähigkeiten und Gefühle und bei Frauen ein Aufhören der Menstruation. Man weiß allerdings, daß bei kastrierten Männern die Fähigkeit, Geschlechtsverkehr durchzuführen, öfter nicht sofort nachläßt, sie wird vermindert, bleibt aber mitunter noch jahrelang erhalten. Stellt ein Arzt bei einem Eingriff fest, daß wegen einer bösartigen Geschwulst die Geschlechtsorgane entfernt werden müssen (Totalausräumung der Beckenorgane, Abtragung der Hoden), so kann er ohne vorherige Zustimmung der Gutachterstelle nach seinem Gewissen handeln, sofern der oder die Kranke vorher die Einwilligung gegeben hat; es darf aber nicht vergessen werden, diese Ein-
willigung vorher einzuholen, wenn man voraussehen muß, daß eine derartige Operation in Frage kommt. Nur wenn dies nicht vorauszusehen war und es aus ärztlichen Gründen nicht verantwortet werden kann, die Operation abzubrechen, die Einwilligung nachzuholen und aufs neue zu operieren, kann der Arzt eine Entfernung der Keimdrüsen auch ohne Einwilligung wagen (übergesetzlicher Notstand); es muß sich jedoch auch tatsächlich um einen Notstand handeln. Ist man sich über die Diagnose und die Notwendigkeit zur Entfernung der Keimdrüsen klar und ist die Durchführung des Eingriffs nicht sehr eilig, so ist die vorherige Zustimmung der Gutachterstelle erforderlich, ebenso wie bei der Sterilisation aus ärztlicher Indikation. Die Bestimmung über die Kastration von gefährlichen Sittlichkeitsverbrechern ist aufgehoben worden; sie kam in Frage, wenn die Delikte durch übergroße Sexualität ausgelöst wurden, so etwa bei Menschen, die immer wieder Notzuchtsattentate begehen. Wenn jemand immer wieder an weiblichen Kindern unzüchtige Handlungen vornimmt, so steht eine Kastration nur dann zur Diskussion, wenn diese Neigung auf übergroßer Sexualität beruht; dies ist jedoch nur selten der Fall, meist handelt es sich um Ersatzhandlungen von Männern, bei denen die Sexualität unterentwickelt ist; hier wäre eine Kastration nicht nur nutzlos, sondern schädlich; bei Homosexuellen würde sie nur dann in Frage kommen, wenn es sich um aktive Homosexuelle handelt, aber auch hier sind die Meinungen umstritten. Gesetzliche Grundlagen für die Durchführung einer Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern bestehen nicht; auch wenn man daran denkt, die Einführung einer entsprechenden Bestimmung vorzuschlagen, käme nur eine Entmannung mit Zustimmung in Frage. In Dänemark ist die Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern mit Zustimmung des Justizministeriums zulässig, wenn eine ärztliche Indikation hierfür besteht und die Betreffenden den Wunsch äußern, daß dieser Eingriff durchgeführt wird. Vom ärztlichen Standpunkt aus wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn man Derartiges auch in der Bundesrepublik zuließe, es muß aber betont werden, daß ζ. Z. jegliche rechtliche Grundlage für einen derartigen Eingriff fehlt; die Entmannung ist an sich eine schwere Körperverletzung im Sinne von § 224 StGB. L. F e d e r h e n : Eugenik. In: Der Arzt des Öffentl. Ges. Dienstes. 1952. S. 479 ff. H. Gieee: Die fachärztliche Behandlung der Sexualdelinquenten. MschrKrim. 41 (1958) S. 219. H. K ü h l e r : Zur Behandlung der sexuell Straffälligen im Ausland. MschrKrim. 38 (1955) S. 93. A. L a n g e l ü d d e k e : Die Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern. 1963. J. S a c h s : Zur Behandlung von kriminellen Psychopathen in Dänemark. MschrKrim. 38 (1955) S. 69. BERTHOLD MUELLER
Gerichtsverfassung
GERICHTSVERFASSUNG Α. Die Einteilung des Rechts Das gesamte innerstaatliche Recht kann horizontal und vertikal aufgeteilt werden. Zur horizontalen Gliederung gehören die Gebiete des materiellen Rechts. Materielles Recht sind solche Rechtsnormen, die das Verhältnis der Rechtsunterworfenen untereinander oder zum Staat der Sache nach bestimmen. Indem dieses materielle Recht, zu dem ζ. B. die drei großen Hauptgebiete des bürgerlichen Rechts, des Strafrechts und des Verwaltungsrechts gehören, der Verwirklichung bedarf, gelangen wir zur vertikalen Richtung. Die Rechtsnormen, die die Art und Weise der Rechtsverwirklichung regeln, können wir umfassend als Funktionsrecht und die Normen, die die Funktionsträger und ihre Aufgaben bestimmen, als Organisations- oder Funktionsträgerrecht bezeichnen. Das Funktionsrecht ist im Bereich der Gerichte Prozeßrecht. Es gibt an, nach welchem Verfahren in einem Rechtsfall eine Sachlage geklärt, rechtlich beurteilt und die Rechtsfolgen bestimmt werden sollen. Das Organisationsrecht ist im Bereich der Gerichte Gerichtsverfassungsrecht. Es setzt fest, welche Gerichte gebildet und welche Aufgaben ihnen zugewiesen werden sollen. Zu jedem der drei genannten materiellen Hauptgebiete gibt es besondere Verfahrensordnungen und mehr oder weniger eine besondere Gerichtsverfassung. Im folgenden wird in erster Linie der Aufbau der sog. ordentlichen Gerichte und von ihnen vornehmlich der der Strafgerichte behandelt werden. B. Einheit und Zersplitterung der rechtsprechenden Gewalt. Hauptquellen des Gerichtsverfassungsrechts Nachdem man seit der Aufklärung gemäß der Lehre Montesquieus im Staate drei Gewalten, die Legislative, die Exekutive und die Jurisdiktion, unterschied, mußte sich mehr und mehr die Anschauung von der Einheit jeder Gewalt durchsetzen. Rechtsprechung ist eine einzige Funktion, die um so weniger eine Aufsplitterung verträgt, als sie auf die Einheit des Rechts bezogen ist. Trotzdem sind wir von dem Ideal, die Gerichte in einer einzigen geschlossenen Organisation zusammenzufassen, noch weit genug entfernt. Das hängt mit der Geschichte des Gerichtswesens zusammen. Die beiden ältesten Zweige der Rechtsprechung sind die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, die heute noch als „ordentliche Gerichtsbarkeit" bezeichnet werden. Auf sie bezieht sich das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 (GVG). Erst im 19. Jahrhundert kam als Folge der Lehren von der Gewaltenteilung und vom Rechtsstaat die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf, die man 20'
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aus heute nicht mehr durchschlagenden Gründen nicht in die ordentliche Gerichtsbarkeit und auch nicht in die Justizverwaltung eingliederte. Leider ist die organisatorische Unvollkommenheit, noch begünstigt durch die unglückliche Regelung der oberen Bundesgerichte in Art. 96 Grundgesetz (GG), bis in die Zeit nach 1945 weitergeschleppt worden. Dieser Zersplitterung der rechtsprechenden Gewalt entsprechen auch die Gesetze. Als die drei wichtigsten Quellen des Gerichtsverfassungsrechts seien genannt: Art. 92—104, 70, 71, 74 Ziff. 1, 75 Ziff. 1, 20, 30, 31, 19 Abs. 4 GG, das Gesetz über die Gerichtsverfassung vom 27.1. 1877 (mit zahlreichen Änderungen) für die ordentliche Gerichtsbarkeit und die am 1. 4.1960 in Kraft getretene Verwaltungsgerichtsordnung vom 21.1.1960. Die Gerichtsverfassung der sowjetischen Besatzungszone kann hier nicht näher erörtert werden. C. Die Anpassung der Gerichteorganisation an die Verlassung und an die politischen Grundsätze 1. Die Rechtspflege
als Aufgabe
des
Staates
Die Rechtspflege ist eine der wichtigsten Friedensaufgaben des Staates. Sie ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht des Staates. Rechtspflege ist die Tätigkeit der Gerichte und gewisser Hilfspersonen und ergänzender Institutionen. Sie kann bestehen in der Rechtsprechung oder in einer den allgemeinen Rechtsverkehr sichernden und unterstützenden Tätigkeit (sog. freiwillige Gerichtsbarkeit), die ζ. B. in der Führung von Grundbüchern und anderen Registern, in der Aufnahme von Urkunden, in der Mitwirkung in Vormundschafts-, Nachlaß- und Teilungssachen besteht. Die Haupttätigkeit der Gerichte ist Rechtsprechung und besteht in der Aufklärung eines Rechtsfalls, in seiner rechtlichen Beurteilung und in der Bestimmung der Rechtsfolgen. Nach den einzelnen Zweigen der gerichtlichen Tätigkeit, die insoweit Gerichtsbarkeit genannt wird, unterscheidet man: 1. Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2. Zivilgerichtsbarkeit (streitige und freiwillige Gerichtsbarkeit, sowie Arbeitsgerichtsbarkeit als besondere Zivilgerichtsbarkeit), 3. Strafgerichtsbarkeit, einschließlich der Kontrolle über die Ordnungsstrafgewalt der Verwaltung — Zivil- und Strafgerichtsbarkeit bilden zusammengefaßt die ordentliche Gerichtsbarkeit —, 4. Verwaltungsgerichtsbarkeit (allgemeine und besondere; zur besonderen gehören die Finanzund Sozialgerichtsbarkeit).
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Gerichtsverfassung
2. Die Aufteilung
der Gerichtshoheit auf Bund und Länder Die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland hat eine Aufteilung der Gerichtshoheit, die ebenfalls Gerichtsbarkeit genannt wird, auf Bund und Länder zur Folge. Die Gerichte sind Ländergerichte, soweit das GG nicht Bundesgerichte vorgesehen hat. Zwischen der Rechtspflegeverwaltung des Bundes und den Verwaltungen der Länder besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Die Ministerien des Bundes können daher den Ländern keine Weisungen erteilen. Das gilt auch für das Verhältnis der Staatsanwaltschaften bei Bund und Ländern. Aus der Einheit des Bundesstaates aber folgt, daß die Ländergerichte mit ihrer Rechtspflegetätigkeit eine gesamtstaatliche Aufgabe wahrnehmen. Ihre Urteile und Beschlüsse gelten daher unmittelbar im ganzen Bundesgebiet. Zustellungen, Ladungen und Vollstreckungen sind unmittelbar im ganzen Bundesgebiet vorzunehmen, §§160—163 GVG. Alle Behörden einschließlich der Gerichte des Bundes und der Länder haben einander unmittelbare Amts- und Rechtshilfe zu leisten, Art. 35 GG, § 15 GVG. 3. Grenzen der Geriehtshoheit Die Gerichtshoheit von Bund und Ländern bleibt gesamtstaatlich eine Einheit und hat als solche ihre räumlichen und persönlichen Grenzen. Sie endet an den Grenzen des Bundesgebiets. Im Bereich fremder Staaten darf kein deutsches Gericht tätig werden und dort weder Verhandlungen abhalten, noch Zustellungen oder Ladungen bewirken, noch Vollstreckungen vornehmen. Nur auf diplomatischem Wege kann um Rechtshilfe oder Auslieferung ersucht werden. Innerhalb des Staatsgebietes aber erstreckt sich die Gerichtshoheit grundsätzlich auf alle Personen und Sachen, soweit nicht besondere Ausnahmen bestehen. Ausländer können von der inländischen Gerichtsbarkeit befreit sein. Diese „Exterritorialität" beruht auf allgemeinen oder vereinbarten Regeln des Völkerrechts. Exterritorialität genießen die Staatshäupter fremder Staaten, die Mitglieder der diplomatischen Vertretungen, Besatzungstruppen und Verwaltungsdienststellen der Besatzungsmächte, Konsuln dagegen nur, wenn dies besonders vereinbart ist. §§ 18—21 GVG. Die Exterritorialität erstreckt sich auch auf die Geschäftsräume und Wohnungen der Gesandten derart, daß dort Vollstreckungen, Durchsuchungen, Beschlagnahme und Verhaftungen unzulässig sind. 4. Die Idee des Rechtsstaates a) Die Lehre von der Trennung und Kontrolle der Gewalten. Ausgehend von der Aufklärung wurde die Idee des Rechtsstaates im Anschluß
an die französische Revolution und im Kampf des politischen Liberalismus gegen den Absolutismus im 19. Jahrhundert entwickelt und noch im 20. Jahrhundert auf Grund der Erlebnisse in den Diktaturen ausgebaut. Gemäß dieser Idee sollen die drei Gewalten organisatorisch voneinander getrennt werden. Die Legislative soll das Recht setzen, aber weder in die Rechtsprechung eingreifen noch Exekutivgewalt besitzen, die Exekutive soll innerhalb eines Ermessensspielraums nach den Gesetzen verwalten, und die Jurisdiktion soll neben ihrer umfassenden Befriedungs- und Schutzfunktion die Akte der Exekution auf ihre Gesetzmäßigkeit prüfen, woraus sich alsdann die Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt hat. Um den umfassenden und unparteiischen Rechtsschutz ausüben zu können, muß die Rechtsprechung unabhängig sein. Sie ist nur dem Recht unterworfen, ohne daß die Legislative ein unmittelbares Eingriffsrecht besitzt; im übrigen ist sie frei von allen Weisungen der Exekutive. Zu dieser Grundauffassung treten im 20. Jahrhundert noch zwei Gedanken. Man bemerkte neben der Exekutive noch eine weitere Funktion, die politisch leitende (regierende). Hier erhob sich das Problem, inwieweit Regierungsakte durch Gerichte nachprüfbar, „justiziabel", sein sollten. Der zweite Gedanke ist durch das Erlebnis der Diktatur bedingt. Es zeigte sich, daß nicht Gesetz gleich Recht gesetzt werden dürfe, daß vielmehr auch Gesetze politisch pervertiert werden können. Seit der Erkenntnis, daß die Möglichkeit rechtswidriger Gesetze („gesetzlichen Unrechts") nicht ausgeschlossen sei, hat man die Kontrollpflicht der Gerichte unter Zurückbesinnung auf naturrechtliche Normen immer mehr auch auf den materiellen Inhalt der Gesetze erstreckt. Das Bestreben, möglichst alle Staatsakte einschließlich der Gesetzgebung der gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen, hat man die Entfesselung der dritten Gewalt genannt. Diese Tendenz einer möglichst umfassenden gerichtlichen Kontrolle ist durch Art. 19 Abs. 4 GG legalisiert worden. Das Prinzip des Rechtsstaates ist eine der wichtigsten Garantien, die den Rechtsunterworfenen vor der Allmacht des Staates, vor Willkür und vor unmittelbaren politischen Eingriffen zu schützen vermag. Obwohl selbst kein Grundrecht, gibt doch erst dieses Prinzip den Grundrechten die notwendige Rechtsgarantie. In erster Linie setzt dieses Prinzip die westliche Welt heute von der östlichen ab. b) Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Die Rechtsgarantie ist nur dann wirksam, wenn die Rechtsprechung von aller politischen Gewalt unabhängig gemacht wird. Dies geschieht in sachlicher und persönlicher Hinsicht. Die sachliche Unabhängigkeit wird vor allem dadurch erzielt, daß die Gerichte von jeder Weisung freigestellt werden, Art. 97 Abs. 1 GG,
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Gerichtsverfassung § 1 GVG. Wegen ihrer Entscheidungen dürfen die Richter nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen und nur durch Gerichte zur Verantwortung gezogen werden, Art. 97 Abs. 2 GG, §§26, 30 DRG (Deutsches Richtergesetz vom 8. 9.1961, BGBl. I, S. 1665, in Kraft getreten am 1. 7.1962), so bei Rechtsbeugung, bei disziplinarischen Verfehlungen und bei mangelnder Verfassungstreue („politische Richteranklage") gemäß Art. 98 Abs. 2 GG (und nach verschiedenen Länderverfassungen). Keine genügende Sicherung der Rechtsprechung besteht ζ. Z. noch gegen politische Einwirkungen durch die Presse. Eine unerwünschte Einflußnahme der Presse durch öffentliche Behandlung schwebender Prozesse, durch Meinungsäußerungen zur Beweisaufnahme oder durch kritische Stellungnahme zur Verhandlungsführung ist im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern nicht verboten. Die persönliche Unabhängigkeit der Richter wird vor allem dadurch gewährleistet, daß sie auf Lebenszeit ernannt werden und gegen ihren Willen nicht versetzbar sind, soweit nicht das Gesetz selbst Ausnahmen zuläßt, und daß sie eine feste Besoldung unter Ausschluß von Gebühren erhalten, Art. 97 Abs. 2 GG, §§ 27—37 DRG. Nur bei Amts- und Landgerichten dürfen auch nicht auf Lebenszeit angestellte Richter (Assessoren) als Hilfsrichter beschäftigt werden, § 10 GVG. Diese Ausnahme dient der größeren Elastizität der Geschäftsführung und der Auswahl geeigneter Kräfte. Der Bundesgerichtshof achtet streng darauf, daß hierdurch das Prinzip nicht unterhöhlt wird. Auf Laienrichter finden diese Bestimmungen naturgemäß keine Anwendung. c) Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Um eine Auswahl der Richter im Hinblick auf den Einzelfall zu unterbinden, gilt der Grundsatz, daß Gericht und Richter für die möglichen Rechtsfälle im voraus und streng abstrakt bestimmt sein müssen. Der gesetzliche Richter in einem konkreten Rechtsfall ist derjenige, der auf Grund der abstrakten Vorausbestimmung für die Entscheidung zuständig ist. Hieraus folgt das Verbot von Ausnahmegerichten, die für einen bestimmten Einzelfall gebildet und besetzt werden. Von ihnen zu unterscheiden sind die Sondergerichte, die kraft Gesetzes für bestimmte Sachen eingerichtet werden. Sie sind als besondere Gerichte nicht verboten. Der Grundsatz der abstrakten Vorausbestimmung von Gerichten und Richtern wird in erster Linie durch eine feste und ständige Organisation von Gerichtsbehörden verwirklicht. Dies geschieht durch die verschiedenen Gerichtsverfassungen, die bestimmen, welche Gerichte einzurichten sind, welche örtliche und sachliche Zuständigkeit sie haben sollen, wie ihre Rechtsprechungskörper zu besetzen sind usw. Die
meisten Gerichte sind deshalb ständige Gerichte, die dauernd für ihre Tätigkeit bereitstehen. Daneben gibt es aber auch unständige Gerichte, wie ζ. B. in der Strafgerichtsbarkeit die Schöffenund Schwurgerichte. Gleichwohl wird auch bei ihnen der Grundsatz der abstrakten Vorausbestimmung nicht verletzt, weil auch ihre Besetzung durch Geschäftsverteilungsplan und durch vorherige Auslosung der Laienrichter abstrakt vorausbestimmt wird. Dem Grundsatz der abstrakten Vorausbestimmung dient ferner der jährlich im voraus aufzustellende Geschäftsverteilungsplan. Diese Aufgabe erfüllen die Gerichte im Wege der Selbstverwaltung; sie ist dem Einfluß der Rechtspflegeverwaltungen entzogen, §§ 22b—d, 63, 64, 117, 131,131 GVG. Aus praktischen Gründen wird dieser Grundsatz abgemildert. Die Kammern der Landgerichte und die Senate der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs können mit mehr Richtern besetzt werden, als zur Rechtsprechung in der einzelnen Sitzung zugelassen sind. Durch diese „Überbesetzung" kann die Geschäftslast besser verteilt werden. Indem aber der Vorsitzende aus den ihm zur Verfügung stehenden Richtern für eine Sitzung die Richter auswählt, ist insoweit die konkrete Person des rechtsprechenden Richters nicht abstrakt vorbestimmt, §§ 6 9 , 1 1 7 , 1 3 1 GVG. Ferner hat die Staatsanwaltschaft in Strafsachen ein begrenztes Wahlrecht, vor welches Gericht sie einen Fall bringen will, vor den Amtsrichter oder vor das Schöffengericht, vor das Schöffengericht oder vor die Strafkammer, §§ 24, Abs. 1 Ziff. 2, 3, 25 Ziff. 2 c GVG. 5. Berufsrichter
und
Laienrichter
Die Frage, ob neben Berufsrichtern auch Laienrichter in der Rechtspflege verwendet werden sollen, spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus politischen Gründen eine erhebliche Rolle. Der aufkommende Liberalismus mißtraute dem Richter als Beamten des absoluten Königs. Dazu trat die romantische Beschäftigung mit den Anfängen der Volksgeschichte und mit dem Mittelalter, wo das Volk oder ungelehrte Männer aus dem Volke Recht gesprochen hatten. Aber mit der Entwicklung des modernen, abstrakten Staates, mit der Übernahme des römischen Rechts und mit der Einrichtung der Universitäten hatte allmählich der gelehrte Richter den Volksrichter verdrängt. Eine Ersetzung des gelehrten Berufsrichters durch den Laienrichter kam im Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr in Betracht. Jedoch versprach man sich vornehmlich in Strafsachen durch Hinzuziehung von Laienrichtern eine Verbesserung der Rechtspflege und eine größere Unabhängigkeit der Gerichte von der Staatsmacht. Seitdem die Unabhängigkeit des
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Gerichtsverfassung
Berufsrichters rechtlich garantiert ist, haben die ursprünglichen Gründe für die Einführung des Laienelements an Durchschlagskraft verloren. Ob gerade die politische Unabhängigkeit durch Laienrichter besser gewahrt wird, kann bezweifelt werden. Gleichwohl ist es gerechtfertigt, an der Beteiligung von Laienrichtern festzuhalten, weniger wegen größerer Unabhängigkeit der Gerichte oder wegen einer juristischen Verbesserung der Rechtspflege, als vielmehr deshalb, weil die Anwesenheit von Laienrichtern den Berufsrichter zwingt, die Verhandlung so zu führen, daß auch der Laie der Verhandlung mit Verständnis folgen kann. Dies kommt der ganzen Verhandlung zugute. Die Beteiligung der Laienrichter entspricht auch den demokratischen Vorstellungen der Beteiligung des Volkes an den Staatsgeschäften. Für die Urteile tragen nicht nur die Juristen, sondern auch die Laienrichter die Verantwortung. Diese erkennen die Schwierigkeiten der Urteilsbildung. Sie stehen daher der Meinung des Volkes, das geneigt ist, über die Rechtsprechung kurzerhand den Stab zu brechen, kritisch gegenüber und sind auf diese Weise Mittler zwischen Volk und Rechtsprechung. Dadurch kann das Mißtrauen und die Rechtsfremdheit des Volkes gegenüber Recht und Rechtsprechung gemildert werden. Die Berufsrichter, für die eine bestimmte rechtswissenschaftliche Ausbildung vorgeschrieben ist, bleiben bei der heutigen Differenziertheit des Rechts unentbehrlich. Sie werden im Bund und in verschiedenen Ländern durch Richterwahlausschüsse gewählt, in anderen Ländern, wie vor 1945, von der Landesregierung oder den Ministerpräsidenten — unter Gegenzeichnung des Justizministers — ernannt. Über die Qualität der beiden Berufungsprinzipien läßt sich heute kaum Abschließendes sagen. 6. Die Öffentlichkeit des Verfahrens Im Kampf gegen das geheime und schriftliche Inquisitionsverfahren war das Prinzip der Öffentlichkeit des Verfahrens, das eng mit dem Grundsatz der Mündlichkeit des Verfahrens zusammenhängt, ein wichtiges politisches Anliegen des 19. Jahrhunderts. Der Strafprozeß kann leicht zu einem gefährlichen politischen Machtinstrument werden. Dieser Gefahr kann dadurch entgegengetreten werden, daß man den Prozeß sich in der Öffentlichkeit abspielen läßt. Alle für die E n t scheidung eines Verfahrens bedeutsamen Vorgänge müssen für die Öffentlichkeit wahrnehmbar sein. Deshalb konzentriert sich im Strafprozeß der gesamte Prozeßstoff in der Hauptverhandlung und muß dort mündlich vorgebracht werden. Das Prinzip der Öffentlichkeit bedeutet, Unbeteiligten die unmittelbare Gegenwart in der Verhandlung zu ermöglichen. Demgemäß be-
stimmt § 169 GVG, daß die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich sei. Die Verletzung dieses Prinzips ist nach § 338 Ziff. 6 StPO ein absoluter Revisionsgrund. Leider läßt es sich nicht leugnen, daß das Prinzip der Öffentlichkeit heute viel an Sinn verloren hat. Die Öffentlichkeit kontrolliert weniger das Verfahren, als daß sie ihr Sensationsbedürfnis befriedigt. Dennoch hat das starre Festhalten am Prinzip seinen guten Sinn. Das zeigt sich immer wieder bei Gefährdung der politischen Freiheit. Aus bestimmten Gründen kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, so bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung und der Staatssicherheit, bei Gefährdung der (sexuellen) Sittlichkeit oder bei Gefährdung eines wichtigen Geschäftsoder Betriebsgeheimnisses, § 172 GVG, sowie zum Schutz der Interessen des Angeklagten, wenn das Verfahren die Unterbringung des Angeklagten in einer Heil- oder Pflegeanstalt zum Gegenstand hat, § 1 7 1 a GVG. Jedoch ist der Urteilsspruch immer öffentlich zu verkünden, § 173 GVG. Dagegen findet aus Erziehungsgründen das Strafverfahren gegen Jugendliche unter vollem Ausschluß der Öffentlichkeit einschließlich der Urteilsverkündung statt; bestimmten Personen kann die Anwesenheit gestattet werden, § 48 Jugendgerichtsgesetz (JGG). I m Verfahren gegen Heranwachsende kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse ihrer Erziehung Hegt, § 109 J G G . I m übrigen können Personen aus sitzungspolizeilichen Gründen vom Ort der Verhandlung entfernt werden, § 176 GVG. Ist die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit oder eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses ausgeschlossen, so kann das Gericht den anwesenden Personen die Geheimhaltung zur Pflicht machen, § 174 Abs. 2 GVG. Die Presse darf über die geheimzuhaltende Tatsache nicht berichten. Die Verletzung der Geheimhaltungspflicht ist strafbar. Nach § 184b S t G B ist auch die sittlich anstößige Berichterstattung aus Verhandlungen strafbar, in denen die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit ausgeschlossen war. 7. Instamenzug
und Einheit
der
Rechtsprechung
Daß es einen Instanzenzug der Gerichte geben müsse, war nicht zu allen Zeiten ein selbstverständlicher Gedanke. In einer kleinen politischen Gruppe, wo der König oder das Volk selbst das Urteil spricht, gibt es keinen Instanzenzug. Bis in die neuere Zeit hinein kannte das deutsche Recht wie noch die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 keinen eigentlichen Instanzenzug. Als neben die Volksrichter gelehrte Richter
Gerichtsverfassung traten, die Universitäten das Recht mehr abstrakt lehrten und das Recht nicht mehr so unmittelbar erlebt wurde, kam die auch von der Carolina betätigte Übung auf, bei schwierigen Rechtsfragen die Akten an die mit gelehrten Richtern besetzten Obergerichte oder an die Rechtsfakultäten zur Einholung eines Rechtsrates zu übersenden, ein Zeichen dafür, daß sich die Rechtsanschauungen weitgehend gewandelt hatten. Aber ein Instanzenzug war dies nicht. Als sich im absoluten Staat eine Amtshierarchie entwickelte und der Staat ein mehr abstraktes Gebilde wurde, war die Zeit reif für die Einrichtung eines Instanzenzuges. Dieser abstrakte Einheitsstaat entwickelte sich nur langsam. Zunächst behielt jedes hinzuerworbene Staatsgebiet sein eigenes Recht. Der Gedanke der Rechtseinheit innerhalb eines Staatsgebietes wurde erst mit dem Ende des Absolutismus wirksam. Für die Idee der Rechtseinheit ist aber ein Instanzenzug bis zu einer einheitlichen Spitze unabdingbar. Nichts erschwert eine vernünftige Rechtsprechung so sehr, als wenn ein oberstes Gericht die verschiedensten Rechtsordnungen anzuwenden hat, einer der Hauptgründe für das Versagen des im Jahre 1495 gegründeten Reichskammergerichts. In moderner Zeit verbindet sich die Idee der Rechtseinheit mit dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit. Wie bedeutsam die Wahrung der Rechtseinheit für die Rechtssicherheit ist, hat sich nach 1945 gezeigt, als es in dem in Zonen zerrissenen deutschen Staatsgebiet kein einheitliches Obergericht gab. Die Rechtseinheit zerfällt in kurzer Frist, wenn sie nicht durch eine entsprechende Gerichtsorganisation geschützt ist. Mit der Unabhängigkeit des Richters änderte sich auch der Sinn des Instanzenzuges. Er ist nicht mehr Ausdruck einer Amtshierarchie, in der das höchste Gericht das höchste Vertrauen des Herrschers besitzt, sondern es geht darum, unter Wahrung der Rechtseinheit eine optimal richtige Rechtsprechung und damit auch Rechtssicherheit zu gewährleisten. Fehler der Rechtsprechung können dadurch entstehen, daß entweder der Sachverhalt nicht richtig erkannt oder das Recht auf den richtig erkannten Sachverhalt fehlerhaft angewandt oder unrichtig verfahren wird. Die Prozeßordnungen sehen daher die Anfechtung von Urteilen und Beschlüssen vor. Die Nachprüfung der Urteile im ganzen in sachlicher, rechtlicher und verfahrensmäßiger Hinsicht wird nur einmal gewährt. In diesem Fall heißt die Anfechtung des Urteils Berufung. Eine weitere Möglichkeit der Nachprüfung wird alsdann nur in rechtlicher und verfahrensmäßiger Hinsicht geboten. In diesem Fall heißt die Anfechtung des Urteils Revision. Demgemäß gliedert sich der Instanzenzug, soweit er Urteile betrifft, in eine Berufungs- und in eine Revisionsinstanz. Die Wahrung der
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Rechtseinheit ist wesentlich Aufgabe der Revisionsgerichte, vornehmlich der Revisionsgerichte des Bundes. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind die Gerichte in 4 Stufen aufgebaut, wobei aber der Instanzenzug selbst immer nur dreistufig ist: Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte und Bundesgerichtshof. Die Amtsgerichte sind ausschließlich Gerichte erster Instanz. Die Landgerichte sind sowohl erste als auch Berufungsinstanz, die Oberlandesgerichte sind Berufungsund Revisionsgerichte, ausnahmsweise in Strafsachen bei schweren politischen Verbrechen auch erste und letzte Instanz. Der Bundesgerichtshof ist Revisionsinstanz, ausnahmsweise bei den erwähnten politischen Verbrechen auch erste und letzte Instanz. Bei der großen Zahl höherer Gerichte mit je einer Vielzahl von Rechtsprechungskörpern (Senaten) muß für die Wahrung der Rechtseinheit Vorsorge getroffen werden. Dies geschieht beim Bundesgerichtshof dadurch, daß je ein Großer Senat für Zivil- und Strafsachen gebildet worden ist, der in Funktion tritt, wenn in einer Sache ein Zivil- bzw. ein Strafsenat von der Entscheidung eines anderen Zivil- bzw. Strafsenats abweichen will, und daß ferner die Vereinigten Senate gebildet worden sind, die entscheiden, wenn ein Zivilsenat von der Entscheidung eines Strafsenats oder umgekehrt abweichen will, § 132,136—138 GVG. An einer die Rechtseinheit zwischen ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit wahrenden Institution fehlt es einstweilen noch. Das GG hat in Art. 95 zu diesem Zweck ein oberstes Bundesgericht vorgesehen, das bisher noch nicht begründet worden ist. Will ein Oberlandesgericht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofes abweichen, so hat es die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen, §§ 120 Abs. 3, 121 Abs. 2 GVG. Dagegen gibt es keine Einrichtung, die Rechtsprechung der Senate eines Oberlandesgerichts untereinander in Einklang zu bringen. Die niederen Gerichte sind nicht allgemein an die Entscheidungen der höheren Gerichte gebunden, sondern nur in der einzelnen an das niedere Gericht zurückverwiesenen Sache, § 358 Abs. 1 StPO, § 565 Abs. 2 ZPO. D. Rechtspflegeverwaltung 1.
Allgemeines
Neben der Haupttätigkeit der Gerichte, der Rechtspflege, bedarf es zur Einrichtung, Erhaltung und Unterhaltung der Gerichte einer ausgedehnten Verwaltung. Diese Rechtspflegeverwaltung wird bei den ordentlichen Gerichten, deren Verwaltungsspitze die Justizministerien
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Gerichtsverfassung
sind, Justizverwaltung genannt. Die Rechtspflegeverwaltung hat sich jeglicher Eingriffe in die Rechtspflege selbst zu enthalten. Dies gilt insbesondere auch für die Geschäftsverteilung. Die Rechtspflegeverwaltung kann in der bürokratischen (auch monokratisch oder büromäßig genannten) Form oder in der Form der kollegialen gerichtlichen Selbstverwaltung ausgeübt werden. 2. Die bürokratische
Verwaltung
Die Justizverwaltung ist mit Ausnahme der begrenzten gerichtlichen Selbstverwaltung bürokratische Verwaltung. Abgesehen von der Unterscheidung in Bundes- und Länderjustiz verläuft der Weg der Weisung und Dienstaufsicht in den Ländern vom Landesjustizminister in zwei parallelen Zügen. Der eine Zug geht vom Justizminister über die Oberlandesgerichtspräsidenten und Landgerichtspräsidenten bis zum dienstaufsichtführenden Amtsrichter, der aber, sofern er nicht Amtsgerichtspräsident ist, nur die Dienstaufsicht über die nichtrichterlichen Beamten führt. Der andere Zug geht vom Landesjustizminister über die Generalstaatsanwälte bis zu den leitenden Oberstaatsanwälten. Das Weisungsrecht gilt nicht für die Rechtspflegetätigkeit der Gerichte. Zwischen dem Bundesjustizministerium und den Länderjustizministern besteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Die Aufgaben der Justizverwaltung sind: Vorbereitung der Gesetzgebung, Bearbeitung des Justizetats, Bereitstellung von sachlichen und persönlichen Mitteln, Behandlung der Personalsachen einschließlich der Ausbildung und Prüfung der Justizbeamten, Dienstaufsicht, Weisungen an Justizorgane, Verwaltung der Gefängnisse, Zulassung der Rechtsanwaltschaft, Bestellung zum Notar, Ernennung von Gerichtsvollziehern, Ausbildung und Einsetzung von Bewährungshelfern, Regelung des Dienstes, Ausübung des Gnadenrechts und andere mehr. 3. Die gerichtliche
Selbstverwaltung
Die gerichtliche Selbstverwaltung wird durch richterliche Kollegien, die Präsidien der verschiedenen Gerichte, ausübt. Ihre Hauptaufgabe ist die Aufstellung von Geschäftsverteilungsplänen. Hierzu gehört nicht die Ernennung des Untersuchungsrichters, der durch den Oberlandesgerichtspräsidenten bestimmt wird. E . Grundsätzliches zum Aufbau der Gerichte 1. Der Begriff des Gerichts Da heute die Rechtsprechung bis auf geringfügige Ausnahmen zu den Aufgaben des Staates gehört, sind Gerichte in weitaus überwiegendem
Maße staatliche Einrichtungen und damit Behörden des Staates. Sie sind durch Gesetze vorgeschrieben. Von den Gerichten im staatsrechtlichen Sinn, die also staatliche Behörden sind, werden unterschieden die Gerichte im funktionellen Sinn, die Rechtsprechungskörper. Diese werden bei den Amtsgerichten Abteilungen, bei den Landgerichten Kammern, bei den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof Senate genannt. Schließlich wird als Gericht auch das Gerichtsgebäude bezeichnet, in dem die Gerichtsbehörde ihren Sitz hat. 2. Sits, Bezirk und sachliche
Zuständigkeit
Das Gericht als Behörde hat seinen Sitz und seinen Bezirk („Gerichtssprengel"). Sein Sitz ist die Stadt, in der das Gerichtsgebäude oder die Verwaltung liegt. Das Gesetz kann die Bildung einzelner Rechtsprechungskörper außerhalb des Gerichtssitzes vorsehen, auswärtige oder detachierte Kammern und Senate, §§ 78, 93 Abs. 2, 116, 130 GVG. Die Gerichtsbezirke werden nach den Bedürfnissen der Rechtsprechung gebildet. Der Bezirk des jeweilig übergeordneten Gerichts umfaßt sämtliche Bezirke der untergeordneten Gerichte. Die Gerichtsbezirke sind maßgebend für die örtliche Zuständigkeit, die in den Prozeßordnungen geregelt ist. Die sachliche Zuständigkeit ist für die ordentlichen Gerichte im GVG geregelt und bezeichnet den sachlichen Aufgabenbereich des Gerichts. 3. Die innere Organisation
der
Gerichtsbehörden
Die Gerichte im staatsrechtlichen Sinn sind mit Richtern, Rechtspflegern, Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Büropersonal und Gerichtswachtmeistem besetzt. An ihrer Spitze steht ein aufsichtführender Richter, der vom Amtsgericht aufwärts Präsident genannt wird (nur bei sehr großen Amtsgerichten gibt es einen Amtsgerichtspräsidenten). Er führt die Verwaltung, nimmt daneben aber immer auch an der Rechtspflege teil. Das Gericht wird in verschiedene Rechtsprechungskörper eingeteilt, deren Zahl die Justizverwaltung nach dem Bedürfnis bestimmt. Rechtsprechungskörper können Einzelrichter und Kollegialrichter sein. Die Kollegialgerichte können nur aus Berufsrichtern oder aus Berufs- und Laienrichtern bestehen. Bei den Kollegialgerichten wird über eine Entscheidung in einem geheimen Verfahren beraten und abgestimmt. Die Leitung eines Prozesses hat der Vorsitzende. Welche Entscheidungen er allein und welche nur das Kollegium treffen kann, bestimmen die Prozeßordnungen. Für jedes Gericht ist eine Geschäftsstelle eingerichtet, die sich nach den Rechtsprechungs-
Gerichtsverfassung körpem gliedert. Sie ist mit Urkundsbeamten (Inspektoren, Sekretären), Beamten des mittleren und des gehobenen Dienstes, besetzt. Ihnen obliegen die Protokollführung, die Aufnahme von Anträgen und Klagen, die Registratur, die Ausführung von richterlichen Verfügungen u. a. Die Schreibarbeiten werden in der Kanzlei von Justizangestellten erledigt. Beamte des einfachen Dienstes sind die Gerichtswachtmeister, die insbesondere den Sitzungsund Ordnungsdienst wahrzunehmen haben. F. Auibau und Aulgaben der ordentlichen Gerichte 1. Das
Amtsgericht
Die Amtsgerichte sind die Gerichte des täglichen Lebens für die einfacheren Sachen (Streitwert in Zivilsachen bis zu 1000 DM) oder für eilige und dringliche Sachen (in Zivilsachen kein Anwaltszwang). Sie sind mit Richtern besetzt, deren Zahl die Justizverwaltung nach dem Bedürfnis bestimmt. Ihre Bezirke sind klein und jedem leicht zugänglich. In Strafsachen kann der Einzelrichter oder das Schöffengericht, in Jugendstrafsachen der Jugendrichter oder das Jugendschöffengericht tätig sein. Das Schöffengericht, ein nicht ständiges Kollegialgericht, besteht aus einem Berufsrichter und zwei Schöffen. In umfangreichen Fällen kann ein zweiter Berufsrichter hinzugezogen werden, § 29 GVG, „erweitertes Schöffengericht". Die Laienrichter üben als Schöffen während der Hauptverhandlung das Richteramt im vollen Umfang ehrenamtlich gegen Entschädigung aus, § 31, 55 GVG. Außerhalb der Hauptverhandlung trifft der Amtsrichter die Entscheidungen allein, § 30 GVG. Schöffe kann jeder Deutsche sein, bei dem nicht gesetzliche Unfähigkeit oder andere Hinderungsgründe bestehen, §§ 72—34 GVG. Der Schöffe soll das 30. Lebensjahr vollendet, mindestens 1 Jahr in der Gemeinde gewohnt haben und geistig und körperlich zu seinem Amt fähig sein. Nicht „schöffenbar" sind Personen, die infolge strafgerichtlicher Verurteilung die Fähigkeit verloren haben oder zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 6 Monaten verurteilt sind, gegen die ein Ermittlungsverfahren schwebt, das die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte oder der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge haben kann, oder welche infolge gerichtlicher Anordnung in der Verfügung über ihr Vermögen beschränkt sind. Nicht zu Schöffen sollen berufen werden: Der Bundespräsident, die Mitglieder der Bundes- oder einer Landesregierung, politische Beamte, Richter und Beamte der Staatsanwaltschaft, Notare, Rechtsanwälte, Vollstreckungsbeamte, höhere Verwaltungsbeamte, die die Landesgesetze be-
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zeichnen, Religionsdiener und Mitglieder geschlossener religiöser Orden. Ablehnen dürfen das Schöffenamt nur Personen, die schon andere besondere öffentliche Pflichten übernommen haben: Mitglieder der Parlamente, des Bundesrats oder einer zweiten Kammer, ferner Personen, die schon im Vorjahr regelmäßig zu Schöffen oder Geschworenen herangezogen waren, und Personen, die durch ihren Beruf besonders stark behindert sind, wie Ärzte, Krankenpfleger, Hebammen, Apotheker oder Gehilfen, Hausfrauen, und schließlich Personen, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, § 35 GVG. Die Schöffen werden für zwei Jahre in ihren Gemeinden gewählt und auf ihr Amt beeidigt. Sie können bestraft werden, wenn sie sich ihren Obliegenheiten entziehen, §§42, 51, 36ff., 56 GVG. Sie werden für ein ganzes Jahr im voraus ausgelost. Besonderheiten bestehen für die Auswahl der Jugendschöffen. Sie sollen in der Jugenderziehung erfahren sein. Es soll die gleiche Anzahl von Männern und Frauen gewählt werden, § 35 GVG, § 9a Jugendwohlfahrtsgesetz. In Strafsachen sind die Amtsgerichte zuständig für Übertretungen, für Vergehen, wenn nicht die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhebt oder bei politischen Strafsachen ein anderes Gericht zuständig ist (§ 74 a, 134 GVG), ferner für Verbrechen, wenn nicht die Zuständigkeit des Schwurgerichts oder des Bundesgerichtshofes begründet ist und im Einzelfall keine höhere Strafe als zwei Jahre Zuchthaus und nicht Sicherungsverwahrung zu erwarten ist oder wenn nicht die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhebt, § 24 Abs. 1 GVG. Das Amtsgericht darf auf keine höhere Strafe als zwei Jahre Zuchthaus und nicht auf Sicherungsverwahrung erkennen, § 24 Abs. 2 GVG. Der Amtsrichter entscheidet allein bei Übertretungen, bei Privatklagedelikten (§374 Abs. 1 StPO), bei Vergehen, wenn die Tat mit keiner höheren Strafe als Gefängnis von 6 Monaten bedroht ist oder wenn die Staatsanwaltschaft Anklage zum Einzelrichter erhebt und keine höhere Strafe als Gefängnis von einem Jahr zu erwarten ist, § 25 GVG. In den übrigen Fällen entscheidet das Schöffengericht, § 28 GVG. Das Jugendgericht (-> Jugendstrafrecht) ist kein besonderes Gericht, sondern eine besondere Abteilung des Amtsgerichts bzw. eine besondere Kammer des Landgerichts. Als Jugendrichter ist beim Amtsgericht der Amtsrichter für Verfehlungen Jugendlicher zuständig, wenn nur Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zu erwarten sind und der Staatsanwalt Anklage zum Einzelrichter erhebt. Der Jugenrichter darf auf Jugendstrafe von mehr als einem Jahr oder von unbestimmter Dauer nicht erkennen, § 39 JGG. Das
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Gerichtsverfassung
Jugendschöffengericht ist für alle Verfehlungen zuständig, die nicht vor ein anderes Jugendgericht gehören; es kann bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens eine Entscheidung der Jugendkammer des Landgerichts darüber herbeiführen, ob sie eine Sache wegen ihres besonderen Umfanges übernehmen will, § 40 Abs. 1, 2 JGG. Die Jugendgerichte können neben den allgemeinen Gerichten als Jugendschutzgerichte bei Straftaten Erwachsener, durch die ein Kind oder ein Jugendlicher verletzt oder unmittelbar gefährdet worden ist, sowie bei Verstößen gegen Jugendschutzbestimmungen tätig werden, § 26 GVG. Außerdem sind die Amtsgerichte allgemein für Rechtshilfeersuchen anderer Gerichte zuständig, § 167 GVG. 2. Das
Landgericht
Der Bezirk eines Landgerichts umfaßt regelmäßig mehrere Amtsgerichtsbezirke. Landgerichte sind erstinstanzliche Gerichte für bedeutendere Sachen. In Zivilsachen, in denen Anwaltszwang besteht (§ 78 ZPO), sind sie für vermögensrechtliche Streitigkeiten mit einem Streitwert über 1000 DM, ferner für Ehe- und Kindschaftssachen, in Amtshaftungsprozessen und für andere bedeutendere Sachen in erster Instanz zuständig. Daneben sind sie Berufungs- und Beschwerdegerichte. Sie sind besetzt mit einem Präsidenten, der erforderlichen Anzahl von Direktoren und anderen richterlichen Mitgliedern (Land- und Amtsgerichtsräte und Assessoren). Bei ihnen werden Zivil- und Strafkammern gebildet, §§ 59—61 GVG. Die Landesjustizverwaltung bestellt bei ihnen nach Bedürfnis Untersuchungsrichter, die die gerichtliche Voruntersuchung zu führen haben. In Strafsachen können bei den Landgerichten entscheiden: Die Strafkammern, die Jugendkammer (diese auch als Jugendschutzkammer) und das beim Landgericht gebildete nicht ständige Schwurgericht. Für die Hauptverhandlung in Strafsachen wird die große und die kleine Strafkammer unterschieden. Die große Strafkammer ist mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, die kleine Strafkammer mit einem Berufsrichter und zwei Schöffen besetzt. Wie erwähnt, können die Kammern überbesetzt, d. h. mit mehr Richtern versehen sein, als in der Sitzung beteiligt sein dürfen. Die Schwurgerichte treten für die Verhandlung und Entscheidung nach Bedarf zusammen. Sie bestehen aus drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen. Ihre Organisation entspricht nicht mehr der eigentlichen Schwurgerichtsverfassung. Nach dieser berät und stimmt die Geschworenenbank über die Schuldfrage als besonderes Gremium
und abgetrennt von den Berufsrichtern ab, während die Berufsrichter die Straffrage zu behandeln haben. Diese Schwurgerichte alten Stils sind im Jahre 1924 durch die Emminger'sche Reform beseitigt worden. Die Schwurgerichte alter Verfassung hatten sich in Deutschland nicht bewährt. Seit der Reform ist das Schwurgericht der Sache nach ein großes Schöffengericht, in dem Berufs- und Laienrichter gemeinsam und zu gleichen Rechten beraten und abstimmen, § 82 Abs. 1 GVG. Die Tagungen des Schwurgerichts werden für ein Geschäftsjahr nur der Zahl, nicht dem Tage nach vorausbestimmt. Der Oberlandesgerichtspräsident ernennt für jede Tagung den Vorsitzenden, der Landgerichtspräsident dessen Stellvertreter und die berufsrichterlichen Mitglieder und ihre Stellvertreter. Die Geschworenen werden für die Tagungen ausgelost. Der Landgerichtspräsident bestimmt den Zusammentritt des Schwurgerichts. Vor diesem erledigt der Vorsitzende der Strafkammer die dem Vorsitzenden des Schwurgerichts zugewiesenen Geschäfte, §§83—87 GVG. Außerhalb der Schwurgerichtssitzungen entscheidet die Strafkammer, § 82 Abs. 2 GVG. Als beschließende Gerichte sind die Strafkammern in der Voruntersuchung, ferner für Beschwerden gegen Verfügungen bzw. Entscheidungen des Untersuchungs-, Amtsrichters und des Schöffengerichts sowie für andere richterliche Geschäfte nach der Strafprozeßordnung zuständig, § 73 GVG. Als erkennende Gerichte sind die Strafkammern als große Strafkammern im ersten Rechtszuge für alle Verbrechen zuständig, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts, des Schwurgerichts oder des Bundesgerichtshofs gehören, und für alle Verbrechen und Vergehen, die die Staatsanwaltschaft nach § 24 Ziff. 2, 3 GVG bei hnen anklagt oder die das Amtsgericht an sie verwiesen hat. Außerdem sind sie für Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts zuständig. Über Berufungen gegen Urteile des Amtsrichters entscheidet die kleine Strafkammer, §§ 74, 76 Abs. 2 GVG. In politischen Strafsachen ist für den ganzen Oberlandesgerichtsbezirk die Strafkammer des Landgerichts am Sitz des Oberlandesgerichts zuständig, § 74 a GVG. Die Jugendkammern sind im ersten Rechtszuge für solche Jugendstrafsachen zuständig, die nach den allgemeinen Bestimmungen zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehören, und für Sachen, die sie nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht übernehmen, ferner als Jugenschutzkammern. Außerdem sind sie Berufungs- und Beschwerdegericht in Jugendsachen, § 41 JGG. Die Zuständigkeit der Schwurgerichte ist im Laufe der Zeit mehrfach eingeschränkt worden.
Gerichtsverfassung Sie erstreckt sich heute nur noch auf alle vorsätzlichen Tötungen und auf alle Verbrechen mit Todesfolge oder sonstigen schweren Folgen, § 80 GVG. 3. Das
Oberlandesgericht
Das Oberlandesgericht ist mit einem Präsidenten, Senatspräsidenten und Räten besetzt. Sein Bezirk umfaßt sämtliche Bezirke der zu ihm gehörigen Land- und Amtsgerichte. Ein Land kann ein oder mehrere Oberlandesgerichte haben. Zur Wahrung der landesrechtlichen Rechtseinheit können nach §§ 8—10 EG zum GVG Länder mit mehreren Oberlandesgerichten gewisse Sachen einem obersten Landesgericht zuweisen. Von dieser Möglichkeit hat Bayern Gebrauch gemacht und das Bayerische Oberste Landesgericht in München eingerichtet. Denselben Aufgaben diente früher das Kammergericht in Berlin. Die Rechtsprechung wird bei den Oberlandesgerichten durch die Senate ausgeübt, die in der Besetzung von drei Berufsrichtern entscheiden. Der Strafsenat, der in erster Instanz in Hoch-, Verfassungs- und Landesverratssachen tätig wird, entscheidet über die Eröffnung oder Einstellung des Verfahrens und in der Hauptverhandlung in der Besetzung von fünf Berufsrichtern. Laienrichter werden hier nicht hinzugezogen. Als Hilfsrichter dürfen nur auf Lebenszeit ernannte Richter berufen werden, also nicht Assessoren, §§115, 116, 118, 122 GVG. Für die Einrichtung des Präsidiums und die Geschäftsverteilung gelten die Bestimmungen für das Landgericht entsprechend. Es können auch auswärtige Senate gebildet werden, §§ 117, 116 Abs. 2 GVG. In Zivilsachen ist das Oberlandesgericht Berufungs- und Beschwerdeinstanz über landgerichtliche Entscheidungen, § 119 GVG. In Strafsachen ist es erste und letzte Instanz für Hoch-, Verfassungs- und Landesverratsachen, soweit sie ihm vom Bundesgerichtshof zugewiesen oder vom Generalbundesanwalt an die Landesstaatsanwaltschaften abgegeben werden. Ferner teilt es sich mit dem Bundesgerichtshof in die Revisionen in Strafsachen. Hier ist es zuständig für die Revision gegen die mit der Berufung nicht anfechtbaren Urteile des Amtsrichters, gegen die Berufungsurteile der kleinen und großen Strafkammer sowie gegen die erstinstanzlichen Urteile der großen Strafkammer und des Schwurgerichts, wenn die Revision ausschließlich die Verletzung einer landesgesetzlichen Rechtsnorm rügt. Ferner ist das Oberlandesgericht in Strafsachen Beschwerdeinstanz, soweit nicht der Bundesgerichtshof oder die Strafkammern zuständig sind. Auch hat es gewisse besondere Aufgaben durch andere Gesetze zugewiesen erhalten, ζ. B. die Entscheidungen im Klageerzwingungsverfahren oder über eine Auslieferung.
315 4. Der
Bundesgerichtshof
Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe ist für die Bundesrepublik Deutschland der Nachfolger des Reichsgerichts in Leipzig. Er ist mit einem Präsidenten und der erforderlichen Zahl von Senatspräsidenten und Bundesrichtern besetzt. Hilfsrichter sind nicht zugelassen. Um die Arbeit zu bewältigen, hat man Richter als Hilfsarbeiter ohne jede Entscheidungsgewalt hinzugezogen. Die Rechtsprechung wird von Zivil- und Strafsenaten ausgeübt. Die Senate entscheiden in der Besetzung mit fünf Mitgliedern, als beschließendes Gericht in Strafsachen außer bei Eröffnung und Einstellung des Verfahrens in der Besetzung von drei Mitgliedern. Alle Senate sind überbesetzt. Das Präsidium macht den Geschäftsverteilungsplan, der jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht wird. Die Zivilsenate sind nach Fachgebieten, die Strafsenate nach Oberlandesgerichtsbezirken eingeteilt, jedoch gibt es einen Strafsenat für politische und einen für Verkehrsstrafsachen. Der Bundesjustizminister ist ermächtigt, Senate auch außerhalb des Sitzes des Bundesgerichtshofs zu legen. Das ist mit dem Strafsenat für politische Strafsachen geschehen, der in Berlin eingerichtet ist. Der Geschäftsgang wird durch eine Geschäftsordnung bestimmt, die der Genehmigung durch den Bundesrat bedarf, §§ 123, 124, 125, 130, 131, 139, 140 GVG. In Zivilsachen ist der Bundesgerichtshof im wesentlichen Revisionsgericht gegen Endurteile der Oberlandesgerichte und im Fall der Sprungrevision gegen Urteile der Landgerichte. Von Beschwerden ist er weitgehend entlastet, § 133 GVG. In Strafsachen ist er in erster Instanz zuständig für schwere politische Straftaten, die er im Einzelfall an ein Oberlandesgericht oder ein Landgericht abgeben kann, ferner als Revisionsinstanz für Revisionen gegen Urteile der Schwurgerichte und gegen erstinstanzliche Urteile der großen Strafkammern, soweit nicht ausnahmsweise ein Oberlandesgericht zuständig ist, §§ 134, 134 a, 135 GVG. Wie bereits erwähnt, werden beim Bundesgerichtshof zur Wahrung der Rechtseinheit die Großen Senate und die Vereinigten Großen Senate gebüdet, §§ 136—138 GVG. 6. Das
Bundesverfassungsgericht
Obwohl das Bundesverfassungsgericht zu allen anderen Gerichten, also auch zu den ordentlichen, nicht im Verhältnis eines Instanzenzuges steht, ist es doch als Schlußstein des rechtstaatlichen Prinzips und als rechtsprechendes Kontrollorgan der Verfassungsmöglichkeit von Gesetzen von solcher Bedeutung, daß es nicht unerwähnt bleiben darf. In unserem Zusammenhang interessiert es uns nur als Kontrollorgan der Ver-
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Gerichtsverfassung
fassungsmäßigkeit von Gesetzen. Gerade auch im Strafrecht kann leicht die Frage entscheidend werden, ob bestimmte Rechtsnormen mit dem Grundgesetz oder dem Völkerrecht im Einklang stehen. Die Verfassung des Bundesverfassungsgerichts ist niedergelegt im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BVGG). Dieses Gericht mit dem Sitz in Karlsruhe besteht aus zwei Senaten, denen verschiedene Aufgaben zugeordnet sind. In jeden Senat werden acht Richter, drei aus der Zahl der Richter an den oberen Bundesgerichten für die Dauer ihres Amtes an diesen Gerichten, die übrigen auf die Dauer von 8 Jahren, gewählt, und zwar je nur zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat, die auch im Wechsel den Präsidenten und seinen Stellvertreter wählen, §§1, 2, 4—8, 9 BVGG. Für die Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde ist in erster Linie der erste Senat zuständig. Nach § 13 Ziff. 6 und 11 und § 90 BVGG unterscheidet man die abstrakte und die konkrete Normenkontrolle sowie die Verfassungsbeschwerde. Die abstrakte Normenkontrolle findet außerhalb eines konkreten gerichtlichen Verfahrens auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die Vereinbarkeit von Bundesoder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit dem Bundesrecht statt, § 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG. Die konkrete Normenkontrolle wird ausgeübt im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens auf Antrag eines Gerichts, wenn dieses auf Grund einer Rüge oder von Amts wegen zu der Überzeugung gelangt, daß ein Gesetz n i c h t mit dem Grundgesetz oder ein Landesgesetz n i c h t mit einem Bundesgesetz vereinbar sei, Art. 100 Abs. 1 GG. Daneben kann nach § 90 BVGG jedermann die Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung erheben, durch die öffentliche Gewalt in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt zu sein. Diese Verfassungsbeschwerde kann bei Zulässigkeit des Rechtsweges erst nach Erschöpfung des Instanzenzuges erhoben werden, es sei denn, daß dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts und die Aufteilung seiner Aufgaben auf zwei Senate bedeutet nicht nur eine starke Garantie für eine verfassungsmäßige Rechtsprechung, sondern auch für die Rechtseinheit, weil die Frage, ob Gesetze nicht mit dem Grundgesetz übereinstimmen, ausschließlich vom Bundesverfassungsgericht entschieden wird. Vor allem auch wegen seiner Überlastung hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß es nur bei nachkonstitutionellen, d. h. nach Inkrafttreten des GG erlassenen Gesetzen zur Prüfung verpflichtet
sei, bei vorkonstitutionellen Gesetzen das jeweilige Gericht in positiver und Hinsicht das volle Prüfungsrecht habe, vom Gesichtspunkt der Rechtseinheit dauern kann.
dagegen negativer was man nur be-
G. Der Aufbau der Staatsanwaltschaft Mit Ablösung des Inquisitionsprozesses durch den Akkusationsprozeß ist die Staatsanwaltschaft zugleich mit den neuen strafprozessualen Maximen im 19. Jahrhundert eingeführt worden. Die neue Idee, die ermittelnde von der urteilenden Tätigkeit zu trennen und einem Vertreter des Staates zu übertragen, stammt aus der französischen Revolution. Bei der französischen Besetzung des Rheinlandes wurde dort der procureur d'6tat auf Grund der napoleonischen Gesetzgebung eingeführt. Seitdem blieb die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft eine ständige Forderung des Liberalismus, die schließlich in den Revolutionsjahren von 1848 erfüllt wurde. Die Staatsanwaltschaft ist nicht allgemeines Vertretungsorgan des Staates. Ihre Hauptaufgabe liegt in der Durchführung des Ermittlungsverfahrens, in der Erhebung von Anklagen und in der Vertretung des Staates in der Hauptverhandlung. Daneben hat sie noch in gewissen Zivilsachen (Ehe-, Familien- und Entmündungssachen) ein begrenztes Mitwirkungs- und Aufsichtsrecht. Aufbau und Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft sind in den §§ 141 ff. GVG geregelt. Staatsanwaltschaft und Gericht sind zwar einander zugeordnet, sachlich aber getrennte Behörden. Ein Richter darf nicht die Geschäfte der Staatsanwaltschaft und umgekehrt wahrnehmen. Einem Staatstanwalt darf nicht die Dienstaufsicht über Richter übertragen werden, §§ 150,151 GVG. Er ist nichtrichterlicher Beamter. Die Staatsanwaltschaft ist eine bürokratisch aufgebaute Behörde mit einem geschlossenen Weisungsund Dienstaufsichtsweg von der ministeriellen Spitze bis zu den untersten Beamten, § 146 GVG. Zwischen Bund und Ländern besteht dagegen kein Weisungszusammenhang. Das Recht der Vorgesetzten zu Weisungen wird durch die Sache selbst begrenzt. Eine Weisung, im Falle bestehenden Tatverdachts nicht anzuklagen, wäre strafbar und unbeachtlich. Eine Weisung, auf Freispruch zu plädieren, wenn der Sitzungsvertreter von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, wäre prozeßordnungs widrig. Die Voraussetzungen zur Befähigung des Amtes eines Staatsanwalts sind die gleichen wie bei den Richtern. Die Staatsanwälte werden für ihr Amt ernannt, der Generalbundesanwalt und die Bundesanwälte auf Vorschlag des Bundesjustizministers, der der Zustimmung des Bundesrats bedarf, durch den Bundespräsidenten.
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Gerichtsverfassung—Geschichte der Strafrechtspflege Nach § 141 GVG soll bei jedem Gericht außer den Amtsgerichten eine Staatsanwaltschaft bestehen. Die Geschäfte der Staatsanwaltschaft bei den Amtsgerichten können durch Staatsanwälte oder Amtsanwälte des übergeordneten Landgerichts wahrgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof ist besetzt mit dem Generalbundesanwalt, den Bundesanwälten, Oberstaatsanwälten und anderen Hilfsarbeitern, beim Oberlandesgericht mit dem Generalstaatsanwalt, Oberstaatsanwälten, Ersten Staatsanwälten, Staatsanwälten, beim Landgericht mit dem (leitenden) Oberstaatsanwalt, Ersten Staatsanwälten, Staatsanwälten sowie Amtstanwälten. Eine Amtsanwaltschaft kann beim jeweiligen Amtsgericht eingerichtet sein, sie kann aber auch für alle oder mehrere Amtsgerichte des Bezirks bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts gebildet sein. Amtsanwälte brauchen nicht die Befähigung zum Richteramt zu haben, sondern können auch dem gehobenen mittleren Justizdienst entnommen werden. In diesem Fall dürfen sie nur in Einzelrichterstrafsachen tätig werden, während die Amtsanwälte, die die Befähigung zum Richteramt haben, in allen Amtsgerichtssachen auftreten können, §145 Abs. 2 GVG. Nach §148 Abs. 2 GVG kann das Amt eines Staatsanwalts auch ein Gerichtsassessor wahrnehmen. Sämtliche Staatsanwälte einer Staatsanwaltschaft handeln gesetzlich als Vertreter des ersten Beamten dieser Staatsanwaltschaft und bedürfen keines besonderen Auftrags, § 144 GVG. Die örtliche Zuständigkeit einer Staatsanwaltschaft bestimmt sich nach dem Bezirk des Gerichts, dem sie zugeordnet ist, § 143 Abs. 1 GVG. Diese Zuständigkeit kann in mehrfacher Hinsicht durchbrochen werden. Ein unzuständiger Staatsanwalt hat innerhalb seines Bezirks die Amtshandlungen vorzunehmen, bei denen Gefahr im Verzuge ist, § 143 Abs. 2 GVG. Außerdem kann der Generalstaatsanwalt jeden Staatsanwalt beauftragen, überall innerhalb des Oberlandesgerichtsbezirks Amtshandlungen vorzunehmen. Schließlich kann der vorgesetzte Staatsanwalt jede Sache nach seinem Ermessen übernehmen, § 145 Abs. 1 GVG. Besteht zwischen den Staatsanwaltschaften verschiedener Länder darüber Streit, welche die Verfolgung zu übernehmen hat, dann entscheidet darüber der Generalbundesanwalt, § 143 Abs. 3 GVG. Die Staatsanwaltschaft bedarf bei Wahrnehmung ihrer Aufgabe der Mitwirkung durch die Polizei. Diese hat allgemein das Recht und die Pflicht, strafbare Handlungen im ersten Zugriff zu erforschen und Strafanzeigen und Verhandlungen der Staatsanwaltschaft vorzulegen, § 163 StPO. Da die Polizei organisatorisch von der Staatsanwaltschaft getrennt ist, sollen nach § 152 GVG die Landesregierungen im Einver-
nehmen mit der Landesjustizverwaltung die Beamtenklassen bezeichnen, die als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft den Anordnungen der Staatsanwaltschaft ihres Bezirkes unmittelbar Folge zu leisten haben, ohne daß es eines förmlichen Ersuchens um Amtshilfe bedarf ( K r i m i nalpolizei, Polizei).
H. Hilfspersonen der Rechtspflege Die Hilfspersonen der Rechtspflege werden an anderen Stellen dieses Werkes behandelt, soweit sie für das Strafverfahren in Betracht kommen. Sie sollen hier nur aufgezählt werden: Die soziale Gerichtshilfe, die Bewährungshelfer, die Gerichtsvollzieher und die Rechtsanwälte. Polizei und Kriminalpolizei als Hilfsorgane der Staatsanwaltschaft sind bereits genannt worden.
J. Verfahrensrechtliche Bestimmungen Im GVG sind noch allgemeine verfahrensrechtliche Bestimmungen enthalten, die für alle Gerichtsverfahren gelten. Die §§ 156—168 regeln die Rechtshilfe, die §§ 169—183 GVG die Öffentlichkeit und die Sitzungspolizei, die §§ 184—191 GVG die Gerichtssprache und die Hinzuziehung von Dolmetschern, die §§ 192—198 die Beratung und Abstimmung in den Kollegialgerichten und die §§ 199—202 GVG die Gerichtsferien. Έ. K e r n : Gcrichtsverfassungsrecht. 3. Aufl. 1Θ59 (mit weiteren Literaturhinweisen dort § 1). S c h m i d t - R ä n t s c h : Deutsches Richtergesetz. 1962. E. K e r n : Das neue Richtergesetz. JZ 1962, S. 617ff. B. S c h m i d t : Das deutsche Bichtergesetz. JZ 1963, S. 73. WERNER HARDWIG
GESCHICHTE DER STRAFRECHTSPFLEGE 1. Die Epoche
germanischen
Rechtsdenkens
Es ist hier nicht der Ort, den vielen Rätseln und Geheimnissen nachzuspüren, die in der Zeit, die wir die Zeit des g e r m a n i s c h e n R e c h t s d e n k e n s nennen wollen, den Sinn der Ahndung von Rechtsbrüchen und Missetaten umwittern. Wollen wir das, was aus jener Zeit überliefert worden ist, verstehen, so gilt es, alle modernen Vorstellungen von staatlichem Strafen beiseite zu lassen. Der freie germanische Mensch lebte in kultischen Friedensverbänden, die ihm seine Existenz als Person gewährleisten (Haus, Sippe, Stammesverband, Völkerschaft). Götterkult ist
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Geschichte der Strafrechtspflege
zur Erhaltung des Friedens notwendig. Wer als freier Germane an diesem Frieden teilhat, befindet sich als „heilagr" („Mannheiliger") in einer religiös verstandenen Beziehung zu jedem anderen, der dieser Mannheiligkeit ebenfalls teilhaftig ist. Bricht aber jemand in den kultisch geschützten Frieden eines anderen durch Missetat und Frevel ein, so verliert er in Beziehung auf den Verletzten seine Mannheiligkeit; er wird zum „uheilagr" und setzt sich insofern außerhalb dessen, was die Götter ihm im Verhältnis zum Verletzten schützen sollen. Daher ist die vom Verletzten an ihm verübte Rache nicht gegen den Götterfrieden gerichtet; der Rächer darf den Täter bußlos erschlagen. Konnte die Rache nicht auf handhafter Tat unmittelbar vollzogen werden, so hatte die Sippe die Pflicht, im Wege der Fehde die durch die Missetat ja ebenfalls getroffene Sippenehre wiederherzustellen. Rache und Fehde sind als Selbsthilfehandlungen notwendig, weil es einen die Verfolgung und Ahndung von Rechtsbrüchen leistenden „Staat" nicht gibt. Erste Ansätze für die Entwicklung eines „staatlichen Strafrechts" glaubt man in den von Tacitus berichteten Ahndungen schwerster, weil die höchstwertigen Lebensinteressen der Allgemeinheit verletzender Freveltaten (vor allem Kriegsverrat, Fahnenflucht zum Feinde, Feigheit in der Schlacht usw.) sehen zu dürfen, die in Tötungen (wohl sakraler Art) oder Ausstoßung aus dem Kultverbande bestehen und, auf einer Thing-Entscheidung beruhend, unter priesterlicher Mitwirkung vollzogen sein dürften. Ob wir das „Menschopfer" nennen dürfen, ist recht zweifelhaft. Das höchstwahrscheinliche Vorherrschen rein kultischer Verpflichtungsgefühle würde aber auch auf einen von unserem „staatlichen Strafen" abweichenden Sinn hindeuten. Tritt an Stelle der Tötung die Ausstoßung, so führt diese „Friedloslegung" zu völliger Entpersönlichung: gerit caput lupinum. Den Wolf aber hat zu erschlagen, wer ihn trifft. Dem Friedlosen sind alle Sippenbande zerschnitten. Sein Weib ist Witwe, seine Kinder sind Waisen, sein Haus wird gewüstet. Rache läßt sich durch demütige Unterwerfung abwenden. Das erfordert bedeutende, wohl nur von der Sippe aufzubringende S ü h n e l e i s t u n g e n in Gestalt großer Vermögenswerte. Der hierdurch wiederherzustellende Frieden zwischen den Sippen gibt dem Täter, wenn er nicht schon Opfer der Fehde geworden, die Mannheiligkeit in Beziehung zum Verletzten zurück. Durch Sühneverträge mit Urfehde und Gegenseitigkeitsschwur wird die Fehde beendet. Die Fehden waren oft mit so schweren sozialen Schäden und Menschenverlusten verbunden, daß das Gemeinwesen am Zustandekommen der Sühneverträge bedeutendes Interesse hatte. Die Verfestigung der Gemeinwesen zu straffer be-
herrschten Verbänden führt zu lebhaften Bemühungen, den Abschluß von Sühneverträgen zu erzwingen. In christlicher Zeit verstärkt die Kirche durch ihren geistlichen Einfluß und durch Entwicklung eines Asylrechts die Neigung und die Möglichkeit zum Abschluß von Sühneverträgen. So entwickelt sich ein in den Volksrechten (seit dem 6. Jahrh.) sichtbar werdendes, die Bußen in zahllosen Abstufungen (Wergeid für Tötung) eingehend regelndes „ K o m p o s i t i o n e n - S t r a f r e c h t " , an dessen Durchsetzung die Obrigkeit mit dem ihr zufallenden Friedensgeld (fredus) interessiert ist. Erstarkende staatliche Herrschaft (Karolingerzeit) entwickelt aber neben dem Kompositionenstrafrecht da, wo politisch-herrschaftliche Interessen an Festigung innerer Ordnung und äußerer Ansprüche auf Macht und Einfluß durchzusetzen gewesen sind, ein an Leib und Leben gehendes „peinliches Strafrecht", wie es in der Capitulatio de partibus Saxoniae (etwa 782), " einem Siegerdiktat, das Sachsen unter Standrecht setzt, Rückfälle ins Heidentum und Angriffe auf die Kirche und die fränkische Herrschaft unter schwerste Strafe stellt" (Mitteis-Lieberich), grausam in Erscheinung tritt. Peinliche, an Haut, Haar und Leben gehende „Strafen" haben innerhalb des Sippenverbandes gegen Knechte und ehebrecherische Frauen von jeher angewendet werden können. Ob dieses Knechtsstrafrecht für die Entwicklung eines staatlichen peinlichen Strafrechts eine ausschlaggebende genetische Vorbereitung und Ursache gewesen ist, wie namhafte Forscher gelehrt haben, ist nicht ganz geklärt. Wo bedeutendere soziale Umschichtungen parallel gehen, spricht vieles dafür. Zu voller Entwicklung ist das peinliche Strafrecht in der Periode des germanischen Rechtsdenkens nicht gekommen. Die Lex Saxonum (802) schwächte die peinliche Härte der Capitulatio ab. Das Bußensystem, getragen von der Idee der Ablösung von Rache und Fehde durch Sühneleistungen an die verletzte Sippe, stellt die normale Unrechtsahndung dar, soweit Gesetzgebung und Obrigkeit die Dinge beeinflussen. Aber Rache und Fehde bleiben noch immer von der Rechtsüberzeugung mit getragene und in die Rechtsordnung mit eingebaute Selbsthilfehandlungen, deren Stunde erst nach Jahrhunderten schlagen sollte. Rache, Fehde und Sühneverträge, von den Sippen auf Grund freier Vereinbarung geschlossen, bedurften obrigkeitlicher Mitwirkung nicht. Sie sind selbst Arten eines (außergerichtlichen) „Rechtsganges" gewesen, und zwar ursprünglich und lange Zeit sicher die regelmäßige Art. Freilich, wenn ein Täter auf handhafter Tat betroffen und erschlagen wurde, so mußte der von der Tat Betroffene, der dies getan, seine Mannheiligkeit dadurch wahren, daß er das Gerüfte erhob, den Toten mit den auf das Gerüfte herbeigeeilten Schreimannen vor
Geschichte der Strafrechtspflege Gericht brachte und hier („Klage gegen den toten Mann") den Getöteten durch seinen von den Schreimannen als Eideshelfern unterstützten Eid der Tat überführte. Das gleiche Verfahren war nötig, wenn der auf handhafter Tat Betroffene nur gebunden wurde; dem „uheilagr" gegenüber war auch solche Freiheitsentziehung keine Misset a t ; aber auch hier war „Verklarung" der Sache mit Schreimannen und Überführungseid geboten, damit der gebunden vor Gericht gebrachte Täter seiner Missetat überführt, der Kläger aber von jedem Verdacht eigener Missetat (in Gestalt der Freiheitsentziehung) gereinigt wurde. Dieses H a n d h a f t v e r f a h r e n war ein (für den Kläger notwendiger) gerichtlicher Rechtsgang (wahrscheinlich seit sehr alter Zeit). Bei „übernächtiger T a t " kam es zunächst nicht in Frage. Aber auch andere als die Handhaftfälle kamen, seitdem Kirche und Obrigkeiten an sühnemäßiger Erledigung von Frevelfällen ein Interesse hatten und die Obrigkeiten mehr und mehr in der Lage waren, „Streitgedinge" zu erzwingen, zu einer Entscheidung auf Grund eines gerichtlichen Rechtsganges. Freilich diente ein solches Verfahren nicht dazu, die tatsächlichen Geschehnisse mit Hilfe rationaler Erkennungsmittel gerichtlich aufzuklären und auf Grund solcher Tatsachenerforschung die Begehung der Missetat durch den Beklagten festzustellen. Die Aufgabe der gerichtlichen Obrigkeit ist eine gänzlich andere. Sie hat, falls der Verletzte rechtsförmlich Klage erhebt und der Beklagte, um der Friedloslegung als prozessualer Ungehorsamsfolge zu entgehen, sich dem Kläger vor Gericht stellt (amtliche Ladung erst in späterer Zeit), dafür zu sorgen, daß in kultisch strengen Formen auf der Grundlage eines nicht auf Tatsachenermittlung, sondern auf Schuldfeststellung gerichteten, völlig formalen „Beweis"-Verfahrens der die Streitenden versöhnende, verbindliche Sühnevertrag zustande kommt. Die in althergebrachten feierlichen Formen erhobene Klage hat der Beklagte zu beantworten: entweder, indem er ihre Berechtigung zugibt, oder dadurch, daß er sie Wort für Wort verneint. In beiden Fällen ergeht sofort das den Sühnevertrag auferlegende Urteil, im ersten Fall als unbedingtes, im zweiten Fall als ein durch den Ausgang des Beweisverfahrens bedingtes. In einem „Beweisvertrag" geloben sich die Parteien, die „Beweis"-Anordnungen des Gerichts zu vollziehen; der Beklagte gelobt für den Fall seines Unterliegens im Beweis die Erbringung der gerichtlich festgesetzten Sühneleistung. Die Beweismittel können nur formal, d. h. so beschaffen sein, daß ihr Funktionieren unmittelbar die Richtigkeit der unter Beweis stehenden Rechtsbehauptung erhärtet: Eid, Gottesurteil, Zweikampf, Beweisformen, die den Glauben voraussetzen, daß in ihnen die Gottheit
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selbst das Rechte kundtut. Regelmäßig ist der Beklagte näher zum Beweise, und zwar zum Beweis durch Reinigungseid, den er selten allein, in der Regel mit Eideshelfern leisten muß, die eidlich bekräftigen, daß sein Eid „rein und nicht mein" sei. Wagt er die im Eid liegende Selbstverfluchung nicht, findet er nicht die erforderliche Zahl der Eideshelfer, so ist er unterlegen. Wird der Eid unter Bekräftigung durch die Eideshelfer geleistet, so ist der Beklagte kraft des Sühnevertrages frei. Eine Widerlegung des Eides durch Tatzeugen ist dem Kläger nicht gestattet. Wohl aber konnte der Kläger dadurch, daß er „Kampfklage" erhob, d. h. schon bei Klageerhebung den vom Beklagten etwa geleisteten Eid als mein schalt, dem Beklagten den Reinigungseid verlegen und alles auf den Ausgang des Kampfes stellen. Eidesunfähige Beweispflichtige hatten sich Gottesurteilen zu unterziehen; aber insofern hat die Forschung noch viel zu klären. In fränkischer Zeit steht die interessanteste Neubildung hinsichtlich der Strafrechtspflege in engem Zusammenhang mit der S t r a f f u n g d e r k ö n i g l i c h e n G e w a l t und der Ausbildung einer K ö n i g s g e r i c h t s b a r k e i t , die der König selbst ausübt oder durch seine missi dominici an seiner Statt ausüben läßt, und zwar unter amtsrechtlicher Regelung des Verfahrens und mit der Möglichkeit, nach Recht oder Billigkeit oder auch nach Maßgabe königlicher Weisungen zu urteilen. Vor allem wird nunmehr die Verbrechensverfolgung der Privatinitiative des Verletzten und seiner Sippe nicht selten entzogen. So entwickelt sich neben dem auch weiterhin herrschenden volksrechtlichen Parteiprozeß eine amtliche Verbrechensverfolgung, die sich im sog. R ü g e v e r f a h r e n eine eigene Form schafft. Die missi dominici können Rügegeschworene eidlich verpflichten, mitzuteilen, was ihnen in ihrem Bezirk an Missetaten kund geworden sei. Die eidliche Bezichtigung einer bestimmten Person durch die Rügegeschworenen macht die Klage des Verletzten überflüssig und führt zu amtlicher Vorladung des Bezichtigten vor das Rügegericht. Der unbescholtene Freie hat sich durch Eid zu reinigen; der Bescholtene oder Unfreie hat sich dem Gottesurteil zu unterziehen. Auch hier also noch keine rationale Tatsachenerforschung, sondern Verwendung formaler, unmittelbar auf die Rechtsbehauptung bezogener Beweismittel. Nur die Eruierung des Verdachts beruht auf amtlichem Vorgehen; das Auftreten eines Klägers erübrigt sich. 2. Die Epoche mittelalterlichen
Rechtsdenkens
Die Zeit, die von den Historikern als M i t t e l a l t e r bezeichnet wird, charakterisiert sich für den Strafrechtshistoriker dadurch, daß die dem germanischen Rechtsdenken entsprechenden In-
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Geschichte der Strafrechtspflege
stitutionen des Kompositionensystems, der Handhaft, des Verfahrens auf Klage mit formalen, auf Schuld und Unschuld unmittelbar gerichteten Beweismitteln in örtlich und zeitlich ungemein mannigfacher Weise zurückgedrängt werden und daß sich als Folge sozialer Umschichtungen, als Folge auch der gewaltigen politischen Umbildungen im Verhältnis von Königtum und Papsttum, Königtum und Adel und als Folge des Aufkommens der Städte und mannigfachster territorialer Gewalten das „peinliche S t r a f e n " einerseits, die a m t l i c h e V e r f o l g u n g von Verb r e c h e n mit i n q u i s i t o r i s c h e n Unters u c h u n g s m e t h o d e n andererseits mehr und mehr das Feld erobern. Das Bild dieser Entwicklung, so klar ihre allgemeinen Grundzüge feststellbar sind, ist im einzelnen außerordentlich verworren. Die Systeme, die sich aus dem Fortleben germanischen Rechtsdenkens einerseits erhalten, aus den politischen Interessen neu aufkommender Gewalten andererseits durchsetzen, zeigen sich in unausgeglichenem Neben- und Durcheinander. Es fehlt in Deutschland an einer Rechtswissenschaft, die, letztlich auf die Idee des Gerechten eingestellt, hätte steuern, leiten, warnen können. Alle Entwicklung ergibt sich aus politischen Zweckergänzungen, die mit den alten Rechtsgewohnheiten oft genug ganz unvereinbar sind und auf zähen Widerstand da stoßen, wo ein Festhalten am alten „Recht" kulturelles Bedürfnis und durchsetzbare politische Möglichkeit ist. Die Entwicklung vollzieht sich, vom Süden und Westen des Reiches ausgehend, allmählich gen Osten und Norden. F e h d e und R a c h e leben fort, keineswegs als „faustrechtliche" Gewalttaten außerhalb des als Recht Erkannten, sondern als wesentliche Bestandteile mittelalterlichen Rechts- und Verfassungszustandes. Freilich werden die Anstrengungen zu ihrer Überwindung immer intensiver. Auch bilden sich diese Selbsthilferechte selbst um: Die Fehde wird zur standesrechtlich geregelten Ritterfehde. Die Rache hält sich als Blutrache in ländlicher Abgeschiedenheit, wie etwa im friesischen Bauerntum, bis an die Schwelle der Neuzeit, wird aber im Bereich städtischen Bürgertums als Störung des in seiner sozialen Bedeutung lebhaft empfundenen Stadtfriedens schon früh verdrängt. Wergeid und B u ß e n erhalten sich ebenfalls, ändern sich aber mit dem Verschwinden der Erinnerung an das beherrschende Kompositionensystem der Volksrechte im Hinblick auf Anlaß und Ausgestaltung. Die örtlichen Unterschiede sind unübersehbar und mitunter tiefgreifend (im friesischen Recht eine Ahndung absichtlicher Tötung durch Wergeid noch im 15. Jahrh.; nach dem Sachsenspiegel (1235) Wergeidahndung nur noch bei absichtsloser Tötung, aber auch bei Notwehrtötung). Wo im übrigen Bußen für
leichte Delikte von gerichtlichen Obrigkeiten nach Art und Maß bestimmt werden, wandeln sie sich in Geldstrafen (gerichtliches Brüchenwesen) um. Im ganzen ist die Entwicklung gegen Wergeid Bußen, Sühnemöglichkeiten gerichtet. In verfahrensrechtlicher Beziehung hält sich der germanische Rechtsgang mit formeller Klage (Gerüfte) des Verletzten und mit formalen Beweismitteln mit großen örtlichen und zeitlichen Unterschieden während des ganzen Mittelalters. Freilich: die Gottesurteile verschwinden seit dem 4. Laterankonzil (1215); vom Zweikampf wollen insbesondere die städtischen Rechte bald nichts mehr wissen. Der Gedanke aber, daß niemand, er sei denn auf handhafter Tat vor Gericht genötigt, um den ihm aus altem Recht zustehenden Reinigungseid gebracht werden dürfte, erweist sich, namentlich im Bereich sächsischen Rechts, als äußerst zählebig. Aber je mehr sich aus den politischen und sozialen Bedürfnissen der Zeit inquisitorische Verbrechensverfolgung gegen eine gefährliche Massenkriminalität entwickeln muß, desto mehr dringen rationale Elemente auch in den sich noch erhaltenden alten Rechtsgang ein. Die Weiterentwicklung und sehr starke Auflockerung des Handhaftverfahrens zeigt das ebenso wie das Aufkommen des Überführungsbeweises mit echten Tatzeugen, wodurch dem Beklagten der Reinigungseid verlegt wird. Daß der Beklagte gegen solchen Überführungsbeweis seinerseits Gegentatzeugen ins Feld hätte führen können, ergeben die Quellen nicht: der alte Gedanke e i n s e i t i g e r Beweisführung des zum Beweise „Näheren" ist insofern lebendig. Übrigens ist mitunter kaum festzustellen, ob die von einer mittelalterlichen Quelle übermittelte Verfahrensgestaltung noch ein Zeugnis für einen rational umgebildeten alten Rechtsgang oder schon ein Zeugnis für den eindringenden Inquisitionsprozeß ist. Die schweren Beeinträchtigungen des sozialen Friedens, die mit den Fehden verbunden waren, haben seit jeher Gegenaktionen obrigkeitlicher Gewalten ausgelöst. Während des ganzen Mittelalters treten diese Gegenaktionen in Gestalt der G o t t e s - und der L a n d f r i e d e n in Erscheinung bis hin zum sog. „ewigen Landfrieden" von 1495, der den Fehden grundsätzlich jeden Rechtsboden entzog. Die Gottesfrieden sind aus der kluniazensischen Bewegung hervorgegangen. Pax und Treuga sind ihre Elemente. Pax bedeutet die Befriedung bestimmter Personen, Sachen und Orte, Treuga das Fehdeverbot für bestimmte Zeiten (kirchliche Feiertage, Advents-, Fastenzeit). In der Exkommunikation besaß die Kirche ein wirksames Mittel zur Durchsetzung ihrer Friedensidee. Je mehr sich an den Gottesfrieden auch weltliche Herren beteiligten, werden auch weltliche Strafen den die Regeln der Gottes-
Geschichte der Strafrechtspflege frieden Verletzenden angedroht. Schon 1082 droht der Lütticher Gottesfriede Friedlosigkeit für Freie, Handverlust (peinliche Strafe) für Unfreie an. Um 1100 treten in Deutschland an die Stelle der Gottes- die Landfrieden. Sie beruhen auf Einungen der beteiligten Gewalten und sind entweder Reichs- oder territoriale Landfrieden. Mit ihnen entsteht das p e i n l i c h e S t r a f r e c h t des M i t t e l a l t e r s zur Bekämpfung nicht nur der Fehde, sondern, thematisch weit darüber hinausgreifend, auch einer den Frieden der Landstraßen, Dörfer, Äcker ständig störenden Kriminalität, deren Träger „ l a n d s c h ä d l i c h e L e u t e " waren und sich aus den mannigfachsten sozialen Schichten als ein Verbrechertum Entwurzelter, sozial Abgesunkener, Unseßhafter rekrutierten. In diesen Landfrieden verfestigt sich der Gedanke, daß sich das Verbrechertum mit seinen Gewalttaten an Rechtsgütern der A l l g e m e i n h e i t vergreift und darum o b r i g k e i t l i c h e Reaktionen unter s o z i a l e n Zweckgesichtspunkten (Unschädlichmachung, Abschreckung) herausfordert. Aber der Kreis der mit peinlichen Strafen (vor allem Todesstrafen verschiedener, oft äußerst grausamer Vollzugsart, ferner Verstümmelungsstrafen an Hand, Fuß, Auge, Ohr und Zunge) bedrohten Taten erweitert sich mehr und mehr; dabei wird der ursprünglich bedeutsame Unterschied zwischen Freien und Unfreien eingeebnet, d. h., die an Leib und Leben gehenden, vom Henker vollzogenen und daher unehrlich machenden peinlichen Strafen treffen den Täter ohne Rücksicht auf seinen (sonst so wichtigen) Stand. Das peinliche Strafrecht der Landfrieden geht in die Rechtssatzungen der Städte und in landrechtliche Ordnungen über und bildet die Waffe für die städtischen, ländlichen und territorialen Obrigkeiten im Kampfe gegen das die Sicherheit der Landstraßen, der Dörfer und Städte bedrohende Verbrechertum. Das peinliche, obrigkeitliche Strafen übersteigert sich im Hinblick auf den räumlich oft allzu geringen Machtbereich, der dem Verbrechertum leichtes Entweichen ermöglichte, in Grausamkeit und Härte gegenüber denjenigen, an denen, in obrigkeitliche Hand gefallen, ein Exempel statuiert werden konnte und sollte. Die politische Zerrissenheit Deutschlands, die Schwäche der Zentralgewalt, die vielverschränkten Verfeindungen der territorialen und städtischen Gewalten unter einander — all dies führte dazu, daß die Fehden während des Mittelalters nicht ausgerottet werden konnten. Noch nach dem Ewigen Landfrieden von 1495 kamen sie bis tief ins 16. Jahrh. häufig vor. Aber es ist bezeichnend für die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Landfrieden, daß die Landfrieden seit dem 12. Jahrh. die Fehden als Selbsthilfemaßnahmen in Beziehung zu obrigkeitlicher Justizgewährung setzen, indem sie in den Fehden vor allem dann 21
H d K , 2. Aufl., Bd. I
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verbrecherische Störungen des Landfriedens sehen, wenn sie ohne vorgängigen Versuch, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, unternommen werden. Obrigkeitliche Justizgewährung soll die Selbsthilfe unnötig machen, allenfalls auf die echten Notwehrfälle beschränken (so der Mainzer Landfriede 1235). Aber da das Mittelalter ein überall durchgreifendes Justizwesen nicht entwickeln konnte, Justizverweigerungen keine seltene Erscheinung waren und die Stände (Fürsten, Adel, Städte) bei ihren streitigen Auseinandersetzungen (15. Jahrh.!) selbst unbekümmert zur Fehde griffen, so konnte der schöne Gedanke einer Friedensgewährung durch Justizgewährung im Mittelalter nicht realisiert werden. Dies zu unternehmen war geschichtlich den Territorialstaaten vorbehalten, die sich seit dem 16. Jahrh. aus den mittelalterlichen Territorien entwickeln sollten. Die Gottes- und Landfrieden verhalfen der „öffentlichrechtlichen Auffassung" von V e r b r e c h e n u n d S t r a f e zum Durchbruch. Das Verbrechen ist nicht mehr eine allein den Täter und den Geschädigten (bzw. ihre Sippen) angehende Angelegenheit, sondern eine den obrigkeitlich geschützten Frieden störende und damit in die Rechtsgüterwelt der „Allgemeinheit" einbrechende Verhaltensweise. Der Sühnegedanke, wie er dem „Bußenstrafrecht" zugrunde lag, verlor hier seinen Sinn; die obrigkeitlichen Reaktionsweisen mußten durch soziale Interessen bestimmt werden. Primitiv genug waren sie auf Ausrottung des Friedensstörers gerichtet. Aber diesen sozialen, obrigkeitlichen Zwecksetzungen konnten die vom Willen des Verletzten gestalteten Verfolgungsformen des alten Rechtsganges nicht genügen. So mußten, ihn allmählich verdrängend, neue Verfolgungsmethoden entwickelt werden, in denen sich das obrigkeitliche Interesse an Effektuierung des sozialen Sinnes peinlichen Strafens durchsetzen konnte. Im alten Handhaftverfahren war von jeher Blutjustiz geübt worden. Entweder wurde der Täter, auf frischer Tat betroffen und getötet, als „toter Mann" vor Gericht gebracht und verklagt, oder er wurde, wenn er gebunden dem Gericht vom Krager und seinen Schreimannen zugeführt wurde, unter Versagung des Reinigungseides, durch den Eid des Klägers und seiner Eideshelfer überführt, zum Tode verurteilt. Zu einer Erweiterung dieser Blutjustiz konnte das Mittelalter durch starke Auflockerung der an sich sehr strengen Anforderungen an die Handhaft gelangen. Man ließ das Handhaftverfahren auch bei übernächtigen Taten zu, erleichterte die Formen, die für die Zuführung des Täters zum Gericht vorgesehen waren, um den „blickenden Schein" zu realisieren, erweiterte damit das Festnahme- und Vorführungsrecht des Verletzten und entwickelte
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schließlich gegenüber „landschädlichen Leuten" das Übersiebnungsverfahren und das Verfahren auf Leumund. Aber man blieb mit alledem im Banne der Gedanken des alten Eechtsganges (formale Beweismittel: Eid). Die Zeit forderte mit stärkerer Entwicklung des peinlichen Strafens ein Verfahren, das von obrigkeitlicher Initiative betrieben wurde, die Festnahme des Verdächtigen durch obrigkeitliche Exekutionsorgane ermöglichte und zugleich auf eine mit rationalen Beweismitteln durchgeführte Aufklärung krimineller Sachverhalte gerichtet war. In der Entwicklung des I n q u i s i t i o n s p r o z e s s e s gewinnen diese Erfordernisse Gestalt. Seit dem 12. Jahrh. begegnet in den Landfrieden ein Verfolgungs- und Verhaftungsrecht der Obrigkeiten gegenüber „landschädlichen Leuten", ohne daß noch ein Unterschied zwischen handhafter und nichthandhafter Tat gemacht wurde. Räuber, Diebe, Brandstifter, Münzfälscher zu verfolgen, die Burgen von Friedensbrechern zu zerstören und die Tatverdächtigen gefänglich einzuziehen, wird Pflicht der Obrigkeiten. Die Städte, an Sicherheit der Landstraßen besonders interessiert, durch Raubritter und ihre Helfer in ihren Fernhandelsinteressen oft schwer beeinträchtigt, konnten gegen solche Widersacher, „sie sein edeln oder unedeln", zur Fehde greifen. Aber mit einer von königlicher Seite stark geförderten Entwicklung jenes obrigkeitlichen Verfolgungsund Verhaftungsrechts traten an die Stelle solcher Fehden strafprozessrechtlich zu verstehende Verfolgungsmaßnahmen, die den gleichen Effekt hatten, wenn es gelang, die Raubburg zu brechen und die des Landfriedensbruchs verdächtigen Insassen gefangen abzuführen. Aber solche Verfolgungs- und Verhaftungsrechte haben zwangsläufig auch das weitere Verfahren verändert. Den Gefangenen zum Reinigungseid zu verstatten, wäre sinnlos gewesen. Die im Übersiebnungsverfahren notwendigen Eideshelfer waren oft nicht aufzutreiben. Vor allem: es galt die kriminalistischen Sachverhalte mit ihren Verzweigungen auf eine Mehr- oder Vielzahl weiterer landschädlicher Täter zu erforschen, also rationale Aufklärungsmethoden zu entwickeln. In diesem Aufklärungsstreben lag es mehr als nahe, den verhafteten Verdächtigen nach allen Einzelheiten zu befragen. Um ihn zu Aussagen überhaupt, zum Geständnis eigener Missetat im besonderen zu zwingen, drängte sich der Gedanke an Gewaltanwendung von selbst auf. Im Bereich des Fehdewesens, der Kriegführung, j a auch politischer Auseinandersetzungen (ζ. B. innerhalb der städtischen Machtgruppen bezüglich der Besetzung des Rates) war man längst daran gewöhnt, dem Gegner gegenüber, dessen man habhaft geworden war, Gewalt zur Erzwingung erwünschter Verhaltensweisen (Lösegeld; politische Verzichtserklärungen; Mitteilung von
Helfershelfern usw.) anzuwenden. Es bedurfte keiner Phantasie und keiner Vorbilder, um dem Aufklärungsbedürfnis bei der Verbrechensverfolgung mit gleichen Gewaltmitteln zu genügen. So bürgert sich im Strafverfolgungsbereich einfach aus diesen Aufklärungsbedürfnissen die F o l t e r ein als ein Aussage-, insbesondere Geständniserpressungsmittel, also als eine Methode, die auf Sachverhaltsaufklärung gerichteten Bestrebungen der verfolgenden Obrigkeiten zweckmäßig zu erleichtem und beschleunigen. Wo in mittelalterlichen Satzungen obrigkeitliche Verhaftung von Amts wegen in Verbindung mit Sachverhaltserforschung durch Tatzeugen und durch erpreßte Geständnisse begegnet, steht der Inquisitionsprozeß in fertiger Gestalt vor uns. Wir kennen erschütternde Zeugnisse dafür, daß in Gebieten sächsischen Rechtes mit stärkerer und länger anhaltender konservativer Tradition der Gebrauch der Folter als eine dem „Recht" widerstrebende, verwerfliche neue „Gewohnheit" gebrandmarkt wurde. Aber vom 13. bis 16. Jahrh. vollzieht sich in Parallelität zur Entwicklung des peinlichen Strafensystems unwiderstehlich der Siegeszug des Inquisitionsprozesses und der Folter als seines bezeichnendsten „Wahrheits"-Erforschungsmittels. Der Schwerpunkt des Verfahrens liegt nicht mehr in den Vorgängen vor dem gehegten Gericht, sondern in den sich aneinander reihenden amtlichen Verhaftungs- und Ermittlungsmaßnahmen, deren wichtigste die im Beisein zweier Schöffen durch eine obrigkeitliche Person geleitete Folterung des Beschuldigten in der Folterkammer gewesen ist. War so das für die Überführung genügende Material „erforscht", so konnte man alten Rechtsgewohnheiten durch Veranstaltung eines „endlichen Rechtstages" vor gehegtem Gericht in alten, mehr und mehr erstarrenden Formen unbedenkliche Konzessionen machen. Der hier etwa leugnende Beschuldigte konnte unschwer durch die Schöffen, die sein Geständnis im Ermittlungsverfahren gehört hatten, überführt werden. Verurteilung und Vollzug der Strafe folgten auf dem Fuße. Bedeutungslos, wie der endliche Rechtstag für die Urteilsfindung war, wurde er seit dem 14. Jahrh. manchenorts beseitigt. Wo er sich erhielt, war er ein rein formales Schaustück für das Volk. Der Inquisitionsprozeß hat den Gedanken amtlicher Strafverfolgung und materieller Wahrheitserforschung in die Geschichte der Strafrechtspflege hineingetragen. Entwicklungsgeschichtlich stellt er also die Grundlage des modernen staatlichen Strafverfahrens dar. Aber als Kampfmittel gegen die hochgefährliche Kriminalität „landschädlicher Leute" entstanden, entbehrte er in den Jahrhunderten des Mittelalters, auch als er zum normalen Strafverfahren gegen eingesessene Stadtbürger und erbgesessene Bau-
Geschichte der Strafrechtspflege ern geworden war, aller Elemente rechtlicher Ordnung, die die Obrigkeiten zur Vorsicht und Behutsamkeit anzuhalten und die der Bewahrung unschuldig in Verdacht Geratener vor den Qualen der Verhaftung und der Folter und vor Strafe zu dienen hatten. Das Ermessen der Obrigkeiten, das über Verhaftung, Folterung, Verurteilung entschied, artete daher ständig in eine mehr und mehr als unerträglich empfundene Willkür aus. Es fehlte der Entwicklung des Inquisitionsprozesses an jeder Steuerung durch eine Rechtswissenschaft, die den Obrigkeiten die erforderliche Einsicht für eine unter rechtlichen Gesichtspunkten durchzuführende, dem Schutz der Unschuld nicht weniger als der Überführung der Schuldigen dienende Regelung des Verfahrens vermittelt hätte. Die Mißstände, die sich aus dem Fehlen aller rechtlichen Kautelen gegen obrigkeitliche Willkür entwickelten, traten im 16. Jahrh. ins Bewußtsein, als aus Italien die Kunde von dem dort durch eine traditionelle Rechtswissenschaft juristisch durchgeformten Inquisitionsverfahren nach Deutschland drang. Solche Kunde wurde durch eine eigenartige Literatur verbreitet, die die Lehren der italienischen Rechtswissenschaft gemeinverständlich darzustellen suchte und sich bemühte, gegenüber der Unwissenheit und Willkür deutscher Gerichtsschöffen die geistig-sittliche Überlegenheit der von der italienischen Rechtswissenschaft und Statutarpraxis entwickelten Lehren für eine den Schutz der Unschuld gewährleistende und dennoch wirkungsvolle Strafrechtspflege herauszustellen und die Notwendigkeit ihrer Anerkennung und Übernahme jedermann vor Augen zu führen. Der im 15. Jahrh. sich auch in Deutschland entwickelnde Juristenstand, ausgebildet zunächst an italienischen, dann auch an deutschen Universitäten, wird zum Träger der Rezeption des römischen Rechtes und der aus ihm entwickelten juristischen Wissenschaft und hat die geschulten Kräfte zur Verfügung, die die unausweislich notwendige Reform der Strafrechtspflege nach den Grundsätzen durchführen konnten, die von den Juristen Italiens entwickelt waren. Während die sog. Maximilianischen Halsgerichtsordnungen (für Tirol 1499; für Radolfzell 1506) den Inquisitionsprozeß und auch das materielle Strafrecht noch ganz im Stile der Satzungen des 14. und 15. Jahrh. behandeln, werden in der Wormser Reformation (1498), dann vor allem in der Constitutio Criminalis Bambergensis (1507) erstmalig Strafrecht und Strafprozeßrecht eingehend nach den wissenschaftlichen Grundsätzen gestaltet, in denen das Heil für Gerechtigkeit und die Garantie dafür gesehen wurde, daß die Strafe nur den Schuldigen trifft und der Unschuldige durch vorsichtige und gewissenhafte Beachtung der die Voraussetzungen für die Folter sehr eingehend normierenden Ver21*
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dachtsregeln (Indizienlehre I) schon vor der Folterung bewahrt bleibt. Die CCB, die als Werk des Bambergischen Hofrichters Freiherrn von Schwarzenberg und Hohenlandsberg angesehen werden darf, hat in einer für ihre Zeit unübertrefflichen Weise das Muster für eine Totalreform der Strafrechtspflege abgegeben, wie sie angesichts der immer stürmischer werdenden Klagen über das Elend der in den Händen rechtsunkundiger Schöffen liegenden Willkürstrafjustiz vom Freiburger Reichstag (1497/98) beschlossen worden war. So stellt denn auch die von Kaiser Karl V. auf dem Regensburger Reichstag 1532 erlassene Peinliche Gerichtsordnung (Const. Crim. Carolina) eine in vieler Hinsicht wörtliche Wiedergabe der CCB dar, deren Grundsätze und Einzelregelungen vollständig übernommen worden sind. Fragt man nach der e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h e n B e d e u t u n g der C C B u n d der CCC, so ist folgendes zu sagen: Die öffentlichrechtliche Auffassung von Verbrechen und Strafe wird restlos verwirklicht. Jedes Verbrechen ist Unrecht am Rechtsfrieden der Gesamtheit. Die Strafe gilt nicht der Genugtuung des Verletzten, sondern dem Schutze sozialer Interessen durch Abschreckung und Unschädlichmachung. Verbrechensverfolgung ist amtliche Aufgabe der Gerichtsobrigkeiten, die die Wahrheit erforschen und ein gerechtes Urteil finden sollen. Voraussetzung für die Bestrafung sind Täterschaft und Schuld. Das mittelalterliche Recht war über ein hilfloses Tasten nicht hinausgekommen hinsichtlich der Frage, wann jemandem eine Tat zugerechnet werden könne. Kinder und Geisteskranke peinlich zu strafen, nahm man keinen Anstand. Die römischrechtliche Lehre von dolus und culpa ermöglicht nun begriffschärfere Erfassung strafrechtlicher Schuldformen. Für Übeltäter, „die Jugend oder anderer Sachen halber jre synne nit haben", sollen die Rechtsverständigen jeweils feststellen, ob und wie zu strafen sei. Strafrechtliche „Tatbestände", denen eine strafbegrenzende Funktion eignet, hatte das Mittelalter nicht gekannt. Herkömmliche, aber begrifflich unscharfe Vorstellungen verbargen sich in Bezeichnungen wie Mord und Totschlag, Diebstahl und Raub, Gotteslästerung und Zauberei. Was als verbrecherisches Unrecht zu strafen sei, bestimmte aus solchen Vorstellungen heraus das Gericht, nicht das Gesetz. CCB und CCC kennen zwar die Funktion der Tatbestände, die im nullum crimen sine lege besteht, noch keineswegs. Aber die Abneigung gegen Richterwillkür führt zu genauerer Beschreibung mancher Deliktstypen und ihrer Unterschiede (Mord, Totschlag!), besonders wenn wesentliche Unterschiede in der Straffolge damit zusammenhängen (Mord: Rad; Totschlag: Schwert). Wo die Sprache
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des Gesetzgebers versagt, wird auf den Rat der Rechtsverständigen verwiesen. So insbesondere auch bei allgemeinen strafrechtlichen Fragen, wie den Grenzen der Fahrlässigkeit, dem Zusammenwirken mehrerer beim Verbrechen. Der „Versuch" wird in CCC 178 trefflich definiert, seine Bestrafung („in ejnem fall herter dann inn dem andern angesehen gelegenheit vnd gestalt der sach") vom Rate der Rechtsverständigen abhängig gemacht. Starrer Perfektionismus ist überall glücklichst vermieden. Die Mahnung, die Verschiedenartigkeit aller Fälle unter sorgsamster Beachtung aller Umstände im Auge zu behalten, insbesondere da, wo der Gesetzgeber solche Unterschiede — wie insbesondere bei Rechfertigungs- und Entschuldigungsmöglichkeiten — im einzelnen nicht behandeln kann, soll die der Rechte ungelehrten Schöffen veranlassen, durch die Rechtsverständigen das im konkreten Fall gerechte Urteil finden zu lassen. Denn es ist, wie CCC 150 tadelnd bemerkt, „je zu zeitten an den peinlichen gerichten bissher beschehen, daß die vrtheyler der vnderschied jeder sach nit hören vnd bewegen, das ist eine grosse thorheyt vnd folgt darauss dass sie sich zu vil main irren, thun den leutten vnrecht, vnd werden an jrem blut schuldig". Was nach Maßgabe „vnser Kayserlichen recht" in der CCC nicht mit peinlicher Strafe bedroht it, darf von keinem Gericht peinlich bestraft werden. Todesstrafe ist nur da zulässig, wo die CCC Todesstrafe vorsieht. Strafe ist zu verhängen „auss lieb der gerechtigkeyt vnd vmb gemeynes nutz willen" (CCC 104). Kein Gemeinnutz ohne Gerechtigkeit! Zu solcher strafenden Gerechtigkeit aber kann nur ein Verfahren führen, das mit Vorsicht und Behutsamkeit und unter genauester Beachtung der nunmehr die richterlichen Untersuchungsmaßnahmen regelnden Vorschriften geführt wird. In der Vorrede der CCC wird beklagt, daß „die meysten peinlich gericht mit personen, die vnsere Keyserliche recht nit gelert, erfarn oder Übung haben, besetzt werden". Das ist der Grund dafür, daß „an viel orten offtmals wider recht vnd gute Vernunft gehandelt, vnd entweder die vnschuldigen gepeinigt vnd getödt, oder aber die schuldigen durch vnordentliche geuerliche vnd verlengerliche handlung den peinlichen klegern vnd gemeynem nutz zu großem nachtheyl gefristet, weggeschoben vnd erledigt werden". Diesem Mißstand kann durch die CCC organisatorisch nicht abgeholfen werden; noch muß damit gerechnet werden, daß der rechtsungelehrte Schöffe weiterhin in den Strafgerichten als Urteilsfinder tätig bleibt. Aber die CCC versteht es, seine Prozeßführung und Rechtsprechung unter die Kontrolle der in Juristenfakultäten, Schöffenstühlen, landesherrlichen Ratsstuben sitzenden rechtsgelehrten Juristen zu zwingen,
indem vor allen prozeßrechtlich wichtigen Maßnahmen und bei Auftauchen von Zweifeln über prozessuale oder materiellrechtliche Fragen das Einholen des Rates dieser „Rechtsverständigen" in zahlreichen Artikeln der CCC vorgeschrieben und den Schöffen, die, im alten Willkürschlendrian fortfahrend, sich um die Normen der CCC und den Befehl zur Einholung des Rates der Rechtsverständigen nicht kümmern, nachdrückliche peinliche Bestrafung und Schadloshaltung der zu Unrecht Verfolgten und Bestraften angedroht wird. Der Strafprozeß der CCB und CCC ist der Inquisitionsprozeß. Zwar wird die private Klageerhebung nicht verboten; aber der private Kläger wird einer so gefährlichen Haftung für den Fall des Unterliegens unterworfen, daß ihm jede Lust am Auftreten als Kläger benommen wird. Außerdem hat die durch eine Klage angerufene Gerichtsobrigkeit dann doch von Amts wegen für die Wahrheitserforschung und die Durchführung des Prozesses zu sorgen. So wird das „annemen der Übeltäter von amtswegen" zur normalen, die Einleitung des Verfahrens durch Privatklage verdrängenden Prozeßeinleitungsform. Das allein hat der öffentlich rechtlichen Auffassung von Verbrechen und Strafen und den justiziellen Interessen der seit dem 16. Jahrh. zu moderner Staatlichkeit sich entwickelnden Territorien entsprochen. Indem von den Richtern die genaueste Beachtung der prozessualen Vorschriften verlangt wird, die insbesondere die mit Verhaftung und Folter verbundenen Gefahren bannen sollen, wird in den Rezeptionsgesetzen erstmalig die große Bedeutung der prozessualen Formen als Kautelen gegen Übereilung und Willkür, also als notwendige Schutz Vorkehrung für wirkliche Wahrheitsermittlung und für den unschuldig Verdächtigen anerkannt und in Funktion gesetzt. CCB 23 spricht insofern von „rechtlicher verlengerung" (nämlich des Verfahrens durch behutsame Vermeidung vorschnell ergriffener Zwangsmaßnahmen, insbesondere der Folter), „so in dieser Ordnung allein zu erfarung der Wahr-
heit und nit die vnzweiffenlichen missteter zufristen gesaczt sein". Mit den Rezeptionsgesetzen tritt die Entwicklung des Inquisitionsprozesses aus dem Zustand willkürlicher Formund Gestaltlosigkeit erstmalig in eine Epoche der Formalisierung ein, weil der Wert der „schützenden Formen" nach den trostlosen Erfahrungen der vorhergehenden Jahrhunderte klar erkannt ist. Wie die Grausamkeit der peinlichen Strafen, so wird auch die Folter als Mittel zum Geständniszwang beibehalten. Ein Verzicht auf sie wäre ein Vorgriff über 3 Jahrhunderte hinweg gewesen und lag nicht im Geiste der Zeit. Aber die alte Digestenwahrheit, daß tortura etenim res
Geschichte der Strafrechtspflege est fragilis et periculosa et quae veritatem fallet, war schon dem Klagspiegel 1497 Anlaß zur Mahnung, „synniclicher vnd fürsichtiger zu procedieren". Alles, was die italienische Rechtswissenschaft erarbeitet hatte, um die Verdachtsmöglichkeiten, die den gewagten Schritt zur Folterung rechtfertigen könnten, eingehend zu bestimmen und so prozessual bindende Voraussetzungen für den Erlaß des Folterinterlokuts zu normieren, griff Schwarzenberg in der sog. Indizienlehre auf, die in der CCB das Kernstück der prozessualen Bestimmungen darstellt und so auch in die CCC übergegangen ist. Sie ist mit ihren 23 sehr ausführlichen Artikeln das deutlichste Zeichen dafür, was Schwarzenberg von prozessualen Formvorschriften an Schutz vor willkürlichen Übergriffen voreiliger, unbehutsamer Richter erwartete. Strenge Handhabung dieser Vorschriften konnte im Grunde genommen nur solche Beschuldigten auf die Folter bringen, die heute als im Indizienbeweis überführt verurteilt werden könnten. Mißachtung dieser Vorschriften wurde mit schweren Strafen bedroht. Folterung kam nur in Frage, wenn der Beschuldigte nicht durch einen vollgültigen Zeugenbeweis überführt werden konnte. Dazu allerdings waren zwei „genügsame" (d. h. gut beleumundete, zuverlässige) Zeugen erforderlich, „die von einem waren wissen sagen", die also die Tat als solche bekunden können. Vor „unbekannten", „belohnten", „falschen" Zeugen wird dringend gewarnt (CCC 63, 64, 68). Wie Zeugen zu verhören, welche Fehler dabei zu vermeiden seien, wie auf die Art der Aussage und die Haltung des Zeugen zu achten sei, wird in CCC 71 ff. eingehend behandelt. Selbstverständlich sind die Entlastungszeugen ebenso zu beachten wie die Belastungszeugen. Auch die Indizien, auf die das Folterinterlokut soll gestützt werden können, müssen in strengem Sinne bewiesen sein. So spricht aus allen Vorschriften die Mahnung zur Vorsicht, Behutsamkeit, Exaktheit hinsichtlich der Beachtung dieser, letztlich der ratio scripta der Digesten entstammenden, erfahrungsträchtigen prozessualen Normen. Das alles soll Schutz der Unschuld involvieren; „wann es ist heyliger das der schuldig absoluiert werd, dann daz der vnschuldig verdampt wird", so übersetzte der Klagspiegel Dig. 48, 191. 5pr. („satius enim esse impunitum relinqui facinus nocentis quam innocentem damnari"). Die Rezeptionsgesetze haben aus einem gestalt- und regellosen Willkürverfahren ein Rechtsverfahren gemacht. Darin liegt ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Sie vollenden zugleich im Zeichen der Gerechtigkeit die Entwicklungsansätze, die sich in den Jahrhunderten des Mittelalters im Sinne einer öffentlichrechtlichen Auffassung von Verbrechen und Strafe gebildet und den Inquisitionsprozess mit Offizial- und Untersuchungs-
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maxime gezeitigt hatten. Die Grundlagen für die gemeinrechtliche Entwicklung der Strafrechtspflege waren damit geschaffen. 3. Das gemeine Recht Die CCC ist ein Reichsgesetz gewesen, das freilich in der sog. clausula salvatoria partikularistischen Sonderbildungen Konzessionen machte. Dem ausgezeichnet durchdachten Inhalt der CCC ist es zu danken, daß trotz der mit dem 16. Jahrh. einsetzenden Ausbildung der Territorialstaaten der Strafrechtspflege im Gebiete des Heil. Rom. Reiches Deutscher Nation eine weitgehende Gleichartigkeit gewahrt bleiben konnte. Freilich müssen nunmehr auch die vielgestaltigen Landesrechte der Territorialstaaten als Quellen für Strafrecht und Strafprozeßrecht beachtet werden. Zur Erhaltung und Förderung eines in den entscheidenden Grundlagen wesentlich gleichartigen Rechts hat die sich seit dem 16. Jahrh. entfaltende juristische Wissenschaft erheblich beigetragen, weil sie durch das der Rateinholung dienende Institut der Aktenversendung aus gleichartiger wissenschaftlicher Behandlung der strafrechtlichen Probleme einen Gerichtsgebrauch entwickeln konnte, der neben CCC und Landesrechten eine der Rechtseinheit zugute kommende Rechtsquelle wurde. Da das religiöse Zeitalter des 16./17. Jahrh. auch in der Bibel eine allgemeinverbindliche Rechtsquelle erblickte, so ergeben sich auch von hier aus Impulse für überterritoriale, einheitliche Rechtsanschauungen. In der Entwicklung der S t r a f r e c h t s w i s s e n s c h a f t lassen sich in der Epoche des gemeinen Rechts drei Stufen unterscheiden. 1. Während des 16. Jahrh. bleibt die deutsche Strafrechtswissenschaft von ihren italienischen, spanischen, französischen Vorbildern abhängig, insbesondere von Julius Clarus, Tiberius Decianus, Tiraquellus, Covarruvias, Farinacius. Die deutschen Juristen kompilieren und rezipieren weiter fremdes Gedankengut, sichern und verstärken aber schon dadurch die dem fremden Recht entnommenen, der CCC zugrunde liegenden juristischen Elemente. 2. Mit dem großen kursächsischen Juristen Benedict Carpzov (1595—1666) löst sich die deutsche Rechtswissenschaft aus fremder Bevormundung. Er wird zum Begründer einer selbstständigen deutschen Rechtswissenschaft. Für die Strafrechtspflege erlangt seine Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium (1635) autoritative Bedeutung für fast ein Jahrhundert. Sie wird durch die Spruchtätigkeit des Leipziger Schöffenstuhles, dessen Senior Carpzov gewesen ist, für das ganze deutsche Rechtsgebiet begründet. Carpzov hält noch an der vom einzelnen Deliktstypus ausgehenden empirischen Methode fest, die er von seinen Vorgängern
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(Berlich) übernahm; zu einer synthetischen, die allgemeinen Grundbegriffe von den einzelnen Deliktstypen abstrahierenden Betrachtungsweise hat er noch keinen Beitrag geleistet. Aber von der für die Praxis entscheidenden Frage aus, ob im konkreten Fall die der CCC zu entnehmende poena ordinaria zu verhängen oder ob unter Fortentwicklung der von der CCC offen gelassenen Probleme nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten die Strafbarkeit im Sinne einer poena extraordinaria (sie konnte nie Todesstrafe sein!) begründet werden könnte, hat Carpzov, ständig Praxis und Wissenschaft vereinend, die strafrechtswissenschaftlichen Einsichten ungemein vertieft und erweitert. Von den religiösen Erregungen seiner Zeit aufs tiefste ergriffen, hat Carpzov die theokratische Auffassung von Verbrechen und Strafe, die bei Reformatoren und Gegenreformatoren gleichermaßen anerkannt gewesen, zum Ausgangspunkt seines strafrechtswissenschaftlichen Denkens gemacht: die abschreckende und unschädlich machende Strafe dient der Erfüllung einer höheren Mission, der die Landesfürsten und ihre Obrigkeiten zu dienen haben: Gottes Zorn durch ernste Bestrafung der „Bösen" vom Lande abzuwenden und damit zugleich den „Frommen" (Luther) Schutz zu gewähren und Vertrauen in eine gottgefällige Übung strenger gerechter Justiz zu ermöglichen. 3. Auf der Grundlage von Carpzovs Werk beruht die weitere juristische Verfeinerung der strafrechtswissenschaftlichen Lehren in der Folgezeit. Die mit Grotius und Pufendorf erwachende Naturrechtslehre drängt zur Erarbeitung allgemeiner Rechtsgrundsätze und wirkt mit den Ideen der Saekularisierung zugleich gegen die theokratische Straftheorie Carpzovs. Die Strafrechtswissenschaft erreicht mit Kress und I. S. Fr. Böhmer im 18. Jahrh. ihren dogmatischen Höhepunkt, sieht sich aber zur grundsätzlich kritischen Einstellung gegenüber der theokratischen Strafauffassung, der Alleinherrschaft der peinlichen Strafen und dem Gebrauch der Folter noch nicht veranlaßt. In die kritische Periode führt erst der volle Bruch mit Carpzovs Autorität unter den vereinten Wirkungen der naturrechtlichen Lehren und der Aufklärung, die, von Thomasius vorbereitet, von Montesquieu und Voltaire zu einer großen geistigen Reformbewegung sich gestaltet. Zu den Entwicklungsfaktoren, die in gemeinrechtlicher Zeit auf die Strafrechtspflege Einfluß genommen haben, gehört in eigenartiger Weise das L a n d e s f ü r s t e n t u m der Territorialstaaten. Zunächst noch in Gemeinschaft mit ihren Ständen, später (nach 1648) als absolute Landesherren haben die regierenden Fürsten durch Gesetzgebungsakte das Strafrecht und Prozeßrecht fortgebildet. Das bedeutete nirgends grundsätzliche Loslösung von den mit der CCC geschaffenen
Prinzipien des Strafrechts und Verfahrensrechts. Aber hatten schon die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548, 1577 (die letzten strafrechtl. Gesetzgebungsakte des Reiches) Ergänzungen des materiellen Strafrechts der CCC gebracht, so haben die in den Ländern ergehenden P o l i z e i o r d n u n g e n diese Tendenz verstärkt und den auf Wirtschaft, Handel, Gesellschaftsordnung in Auswirkung des ius politiae Einfluß nehmenden Anordnungen der Landesherren strafrechtlich Nachdruck verliehen. Mehr und mehr ergaben sich aus den spezifisch landesfürstlichen Interessen an Stärkung und Schutz ihrer zum Absolutismus drängenden Machtstellung Verschärfungen des Strafrechts, die vom Grundgedanken des crimen laesae Majestatis her zu einer oft übertriebenen Ausdehnung des Anwendungsgebietes dieses Deliktstypus führten. Da die Landesherren schon seit dem 16. Jahrh. in Strafsachen ein B e s t ä t i g u n g s r e c h t bezüglich gerichtlicher Strafurteile in Anspruch nehmen konnten und überdies aus ihrer Verantwortung für die Justizgewährung ein J u s t i z a u f s i c h t s r e c h t entwickelten, so eröffneten sich ihnen Wege zur Beeinflussung der Strafjustiz auch im einzelnen Fall. Hieraus entstand mit zunehmender Entwicklung absolutistischer Alleinherrschaft eine o b e r s t r i c h t e r l i c h e S t e l l u n g des F ü r s t e n , dem alle wichtigeren Strafsachen zur letzten, unter richterlicher Verantwortung zu treffenden Entscheidung vorgelegt werden mußten. Von der Machtspruchpraxis in Zivilsachen, die immer nur zu gelegentlichen Eingriffen in den Gang der Justiz führte, unterschied sich diese Einrichtung dadurch, daß der Landesherr organisch dem Strafjustizkörper zugehörte, als dessen letzlich entscheidender Richter er die von den Gerichten vorgelegten Urteile schärfen, mildern oder „bestätigen" konnte. Damit aber eröffnete sich die Möglichkeit, von dem peinlichen Strafensystem von Fall zu Fall abzuweichen und im Wege der l a n d e s h e r r l i c h e n K a s u a l p r a x i s der F r e i h e i t s s t r a f e Eingang zu verschaffen, seitdem in Nachahmung der holländischen Vorbilder auch in Deutschland im 17., dann vor allem im 18. Jahrh. Zucht-, WerkSpinnhäuser entstanden waren. Es waren zunächst weder naturrechtliche noch aufklärerische Gedanken, die hier wirksam wurden, viel eher wirtschaftliche (merkantilistische) Gesichtspunkte, die für Erhaltung arbeitsfähiger Menschen sprachen, deren Arbeitskraft in jenen Häusern nutzbringend verwendet werden konnte, sofern man sie nicht auf Galeeren oder an die Karre zum Festungsbau schickte. Der I n q u i s i t i o n s p r o z e ß wird in den gemeinrechtlichen Jahrhunderten zunächst durch weitere Rezipierung der auf der Grundlage des römischen Rechts durch die italienische Rechtswissenschaft entwickelten Formen, insbesondere
Geschichte der Strafrechtspflege der Unterscheidung von General- und Spezialinquisition und der (der Genauigkeit und Kontrollierbarkeit des Verfahrens dienenden) artikulierten Verhöre, weiter formalisiert. Den Grundgedanken der Rezeptionsgesetze, insbesondere der weiterhin geltenden CCC, entsprach diese Formalisierung durchaus. Es ist für die politischen Aspekte der Prozeßrechtsgeschichte interessant, wie die Stände, solange sie sich als politische Gegenspieler der Landesherren auf der politischen Bühne halten konnten, für die Notwendigkeit der Formalisierung des Strafverfahrens eintraten, ja sogar die Anwendung der akkusatorischen Einleitungsform und den für den Zivilprozeß entwickelten Schriftsatzwechsel da, wo sie selbst als Beschuldigte in Frage kamen, in Anspruch nahmen. Die Erfolge in dieser Hinsicht waren nicht groß. Aber der unmittelbare Zusammenhang der Entwicklung des Strafprozeßrechts mit den Fragen der inneren Staatsgestaltung wird doch sehr deutlich sichtbar. Je mehr sich die landesherrliche Gewalt zum reinen Absolutismus entwickelt und die Regierung polizeistaatlichen Charakter annimmt, desto deutlicher tritt die Entwicklung des Strafverfahrensrechts in eine E p o c h e der E n t f o r m a l i s i e r u n g ein. Für leichtere Delikte entstehen abgekürzte, formlose Untersuchungsverfahren (fiskalische Prozesse). Aber auch in den peinlichen Sachen schwindet die scharfe Trennung von General- und Spezialinquisition, wird von artikulierten, formstrengen Verhören abgesehen, drängt die Entwicklung zur Erweiterung behördlichen Ermessens und Befreiung von zeitraubenden Formalien. Das ändert nichts am Prinzip, daß die materielle Wahrheit zu erforschen, also auch die der Entlastung dienenden Tatsachen zu beachten seien; aber im Hinblick auf den Weitergebrauch der Folter wird mit fortgesetzter Steigerung richterlicher Ermessensfreiheit die psychologische Stellung des Richters als Angreifer, Verteidiger, Richter in einem zu einer Unmöglichkeit, und hieraus entwickelten sich die entscheidenden Gebrechen dieses Inquisitionsprozesses polizeistaatlicher Observanz, dem alle wirksamen Kautelen zum Schutze der Unschuld fehlten (keine Rechtsmittel! Verteidigung erst nach Abschluß der Untersuchung mittels Verteidigungsschrift!). Die preuß. Kriminalordnungen von 1717 und 1805, die Const. Crim. Theresiana 1768, der Codex Juris Bavarici criminalis 1751 seien als Beispiele für diese prozeßrechtliche Entwicklung angegeben. Zur Vervollständigung des Bildes der Strafrechtspflege in gemeinrechtlicher Zeit ist der H e x e n p r o z e s s e zu gedenken, in denen der dumpfe Geist des „Hexenhammers" der Ketzerrichter Institor und Sprenger (1484) bis ins 18. Jahrh· wirkte und das fürchterlichste Beispiel
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dafür gegeben wurde, welches Unheil die Folter anzurichten vermochte, wenn man sich, von Aberglauben und Höllenangst gepeinigt, von den in der CCC vorgesehenen Kautelen freizeichnete, um diese „delicta atrocissima" zur Ehre Gottes auszurotten. Widerspruch gegen diese verbohrte Blutjustiz hat schon im 16. u. 17. Jahrh. nicht ganz gefehlt; aber die erschütternde Cautio criminalis, in der 1631 der Jesuit Friedrich v. Spee die Methode der Hexenrichter und der ihnen in die Hände arbeitenden Beichtväter schonungslos anprangerte, konnte nur anonym erscheinen. Naturrecht und Aufklärung mußten zusammenwirken, um dem Schrecken ein Ende zu machen. Aber noch im Cod. jur. Bavarici 1751 und in der Const. Crim. Theresiana 1768 stellen Zauberei und Hexerei schwer zu bestrafende Verbrechenstatbestände dar. Die letzten Hexenverurteilungen und -hinrichtungen haben 1749 (Würzburg), 1751 (Endingen, Breisgau), 1775 (Kempten) stattgefunden. 4. Die
Aufklärung
Dem Z e i t a l t e r der A u f k l ä r u n g hatte das Naturrechtsdenken, namentlich in der bei Pufendorf gewonnenen Gestalt, vorgearbeitet, indem der, vernünftigem Denken entsprechende Kanon weltlich-staatlicher Strafzwecke (Generalprävention durch Straf drohung und Strafvollzug; Spezialprävention im Sinne von Unschädlichmachung, individueller Abschreckung und „Besserung"), ausgerichtet am Satze „salus rei publicae suprema lex", weitgehend anerkannt worden ist. Es bedurfte aber des leidenschaftlichen Anstoßes zu einer nicht nur rationalisierenden, sondern auch humanisierenden Reform des Strafrechts, um das Übermaß der Todes- und Leibesstrafen zu beseitigen und zu einer P r o p o r t i o n a l i s i e r u n g von V e r b r e c h e n u n d S t r a f e n zu gelangen. Die zeitlich beliebig abstufbare Freiheitsstrafe bot sich hier als besonders geeignet an, um die konkret zu verhängende Strafe in richtige Proportion zu der sehr unterschiedlichen Schwere der Delikte zu bringen und die Todesstrafe für die schwersten Straftaten zu reservieren. Schon Christian Thomasius hatte in Fortführung Pufendorfischen Denkens in dieser Richtung gewirkt. Aber es bedurfte einer die ganze Kulturwelt Europas erfassenden geistigen Aufrüttelung, sollte der in der Grausamkeit der peinlichen Strafen und im Gebrauch der Folter fortlebende Geist mittelalterlichen Denkens durch den Geist der Humanität und durch Rückgriff auf die Forderungen der menschlichen, sich auf sich selbst besinnenden Vernunft überwunden werden. Insofern ist Montesquieu mit seinen Lettres persanes (1721) und seinem Esprit des lois (1748) der geistige Wegbereiter geworden, für dessen Ideen dann
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Geschichte der Strafrechtspflege
Voltaire im leidenschaftlichen Kampf gegen das überkommene Strafjustizwesen die öffentliche Meinung eroberte. Cesare Beccaria hat 1764 mit seinem Buch „Dei delitti et delle pene" die Forderungen der Aufklärung bezüglich einer Humanisierung der Strafrechtspflege (Beseitigung der Todes- und Körperstrafen und der Folter; vernünftige Proportion zwischen Verbrechen und Strafe; säkularisierte Gestaltung der Religions- und Sittlichkeitsdelikte usw.) zum Gemeingut aller Gebildeten Europas gemacht. Das naturrechtlich-aufklärerische Denken eroberte sich nunmehr sehr rasch nicht nur die Alleinherrschaft im Bereich der Strafrechtswissenschaft, sondern gewann auch weitgehenden Einfluß auf die Praxis, indem das den Vernunftanforderungen und den philosohpisch erfaßten Grundsätzen des Naturrechts widersprechende Gesetzesrecht weitgehend beiseite gesetzt wurde, noch bevor gesetzgeberische Reformen zu einer dem Geiste der Zeit entsprechenden Gestaltung des Strafrechts führten. Der Weg gesetzgeberischer Reformen wurde zuerst von Friedrich d. Gr. in BrandenburgPreußen beschritten. Mit seiner Thronbesteigung am 31. 6 . 1 7 4 0 begann die von den Ideen Montesquieus aufs nachhaltigste beeinflußte Reform der Strafrechtspflege in prozessualer und materieller Hinsicht. Bereits am 3. 6 . 1 7 4 0 erfolgte die Abschaffung der Folter, mit geringen Ausnahmen für das Crimen laesae Majestatis, Landesverrat und schwerste Mordtaten, Ausnahmen, die dann 1754 ebenfalls beseitigt wurden. In rascher Folge wurde von 1740 an das Strafsystem ganz nach dem Grundsatz von der Proportionalität von Verbrechen und Strafen im Sinne der Humanitätsidee der Zeit gemildert, wo immer es kriminalpolitisch sinnvoll erschien. Die (noch von Friedrich-Wilhelm I. 1720 allgemein angeordnete) Strafe des Säckens bei Kindestötung wurde 1740 durch die Schwertstrafe ersetzt; 1743 wurde die Galgenstrafe bei Diebstahl beseitigt, desgleichen die völlig sinnlose Strafe der Landesverweisung. Gegen die Selbstmordstrafen wandte Friedrich sich 1747 und 1751, gegen die „nur zu scandale und wohl noch übleren Suiten Gelegenheit gebende" öffentliche Kirchenbuße 1746. Im Wege der auf dem „Bestätigungsrecht" beruhenden oberstrichterlichen Kasualpraxis konnte der König die Todesstrafe von Fall zu Fall durch Freiheitsstrafen ersetzen, wobei schon 1756 die Gerichte angewiesen wurden, „denen condemnierten Delinquenten famam ausdrücklich zu reservieren". Die Schärfungen der Todesstrafen durch Handabhauen, Zangenreißen u. dergl. wurden beseitigt; 1749 erging die Anordnung, daß der zum Feuertod oder Rädern Verurteilte vor Vollziehung dieser Strafen vom Henker rasch und unbemerkbar zu erdrosseln sei. Die „Huren"-Strafen für unehelich Geschwängerte, die
häufig Anlaß zur Verheimlichung der Schwangerschaft und dann zur Kindestötung gaben, beseitigte eine Ordre von 1765. Fürsorgemaßnahmen für uneheliche Kinder und Mütter und andere Präventionsmaßnahmen, besonders gegenüber Bettel und Arbeitsscheu entsprachen der von Friedrich beherzigten Devise Montesquieus und Voltaires, „qu'il valait mieux empecher et pr6venir les crimes que les punir". Im ganzen wurde geraume Zeit vor dem Erscheinen des Buchs von Beccaria, einzig aus der Initiative des Königs, eine den Aufklärungsideen entsprechende Reform des Strafrechts durchgeführt mit der Folge, daß die Zahl der Hinrichtungen auf 14 oder 15 im Jahr sank und die Freiheitsstrafe (Festung, Zuchthaus, Gefängnis) zur Zentralstrafe des kriminalpolitisch an der Präventionsidee orientierten Strafensystems wurde. Der König vollzog diese grundsätzlichen Veränderungen gegen die oft zu spürenden Widerstände der Justiz und der Minister und übte mit Hilfe des „Bestätigungsrechtes" eine ständige, persönliche Kontrolle darüber aus, daß seine Intentionen und Anordnungen befolgt wurden. Diese Strafrechtsreform ist seine ganz persönliche Sache und eine seiner größten Ruhmestaten. Im strafrechtlichen Teil des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794) fanden die Grundsätze der friederizianischen Kriminalpolitik ihren Niederschlag. Dieses große Gesetzgebungswerk, an dem neben C. G. Svarez für das Strafrecht vor allem E. F. Klein federführend mitgewirkt hatte, stellt das Strafrecht ausschließlich unter den Gedanken der (General- und Spezialprävention und ist mit seinem humanen Strafensystem und der kasuistisch-reichen Differenzierung der einzelnen Straftaten nach dem Grundsatz der Proportionalität von Verbrechen und Strafe der klassische Ausdruck für die kriminalpolitischen Ideen des aufgeklärten, polizeistaatlichen Absolutismus. Das Strafprozeßrecht wurde von Friedrich d. Gr. nicht in gleich durchgreifender Weise reformiert, so bedeutsam die Abschaffung der Folter gewesen ist. Gewiß war es Friedrichs oft betontes Anliegen, daß der Strafprozeß auch dem Schutz der Unschuld dienen solle („II vaudrait mieux pardonner ä vingt coupables que de sacrifier un innocent"). Aber der polizeistaatliche Geist des Absolutismus konnte noch nicht die Gefahren sehen, die sich aus der Vereinigung der ermittelnden und richtenden Funktion, aus der eigener prozessualer Befugnisse entbehrenden Rolle des Inquisiten als eines Untersuchungsobjekts, aus der ins freieste Ermessen der Untersuchungsbehörden gestellten Anwendung von Zwangsmitteln (insbesondere Untersuchungshaft, aber auch Ungehorsams- oder Lügenstrafen), aus den geringen Möglichkeiten einer rechtskundigen Verteidigung ergeben mußten. Zwar war dem König ein unmittelbarer Geständniszwang zu-
Geschichte der Strafrechtspflege wider, und gegen den Ersatz der Folter durch andere physische Quälereien ergingen 1756 und 1766 scharfe Reskripte. Aber mit dem Problem der Lügenstrafen und mit den beweisrechtlichen Problemen wurde der König als Nichtjurist nicht fertig. Den Prozeß beherrschte ein durch keinerlei prozessuale Formen reguliertes ZweckmäßigkeitsErmessen der Behörden, die in der Erzielung des Geständnisses vielfach noch immer ihr wichtigstes Ziel sahen. Die Preuß. Krimmalordnung 1805 ist für diesen polizeistaatlichen Geist ein charakteristisches Zeichen. Nur voller Unschuldsbeweis führt zum Freispruch. Wird zwar nicht die volle Schuld, werden aber schwere Indizien ermittelt, so ist auf eine außerordentliche Verdachtsstrafe zu erkennen. Bei Indizien geringerer Schwere tritt an die Stelle des Freispruchs die sog. Entbindung von der Instanz, die jederzeitige Fortführung des Verfahrens ermöglicht. Von großer entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung wurde die Tatsache, daß Friedrich der Große der Unabhängigkeit der Gerichte, zweifellos unter dem Einfluß der Ideen Montesquieus, den Weg geebnet hat. „Machtsprüche" der Art, daß der König den Gerichten Anweisungen gab, wie ein Fall in tatsächlicher Hinsicht aufzufassen und rechtlich zu bewerten sei, hat Friedrich in seinen politischen Testamenten von 1752 und 1768 selbst als unzulässige Eingriffe in die Rechtspflege bezeichnet. In Zivilsachen haben solche Machtsprüche denn auch seit 1752 gänzlich aufgehört. In Strafsachen hielt der König an dem „Bestätigungsrecht" fest, kraft dessen er selbst mit eigener r i c h t e r l i c h e r Verantwortung das Urteil sprach. „Machtsprüche" sind diese eigenen Entscheidungen nicht gewesen, da ja mit ihnen den Gerichten keine Weisungen gegeben wurden, wie sie für ihre Entscheidungen den Fall anzusehen hätten. Als Friedrich 1779 im Zusammenhang mit dem Prozeß des Müllers Arnold in Abweichung von der auf seinen eigenen Grundsätzen beruhenden Übung dem Kriminalsenat des Kammergerichts den Befehl gab, die Richter, die nach des Königs Überzeugung dem Arnold gegenüber strafbare Rechtsbeugung begangen hatten, wegen dieses schweren Delikts schuldig zu sprechen und dabei „zum mindesten auf Cassation und Vestungsarrest" zu erkennen, wurde diese den gerichtlichen Entscheidungsihhalt (in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht) bestimmende Anweisung als ein unzulässiger, nicht zu beachtender „Machtspruch" gewertet. Der Kriminalsenat, vom Justizminister v. Zedlitz mutig und unerschrocken gestützt, weigerte sich daher, die Anweisung des Königs zu befolgen. Der König hat diese Gehorsamsverweigerung seiner „Justizbedienten" erstaunlicherweise (entgegen schweren vorangegangenen Drohungen!) nicht geahndet. Auch v. Zedlitz blieb im Amt. Der König hat damit, entsprechend
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seinen in den polit. Testamenten ausgesprochenen Grundsätzen, die Weisungsfreiheit der Gerichte als wesentlichen Bestandteil der Justizverfassung anerkannt. Das war ein bedeutender Schritt voran auf dem Wege zum Rechtsstaat. Seine Vollendung blieb dem konstitutionellen Zeitalter des 19. Jahrh. vorbehalten. Die übrige deutsche Staatenwelt ist erheblich später und nur zögernd dem Beispiel des preuß. Königs gefolgt, im allgemeinen erst dann, als durch Beccaria, Hommel und die sich mehrende Schar aufklärerisch denkender Kriminalisten die ganze Ideenwelt humaner, rationaler Kriminalpolitik zum Gemeingut aller Gebildeten geworden war. Freilich, noch 1751 versagte sich der Codex juris Bavarici criminalis, 1768 die Const. Crim. Theresiana den neuen Ideen. Aber das waren die letzten Ausklänge des mittelalterlich-theokratischen Strafrechtsdenkens. Nach und nach erfolgte die Beseitigung der Folter und die Milderung des peinlichen Strafensystems durch Zurückdrängung der Todesstrafen zugunsten der nun überall ins Zentrum des Strafensystems tretenden Freiheitsstrafe. Immerhin hat dieser Entwicklungsprozeß bis weit ins 19. Jahrh. gedauert. Bayern beseitigte die Folter unter Feuerbachs Einfluß erst 1806; in Hannover hielt sie sich bis 1822, in Gotha bis 1828. Die Entwicklung des Strafrechts wurde gestützt und gefördert durch die unter naturrechtlich-aufklärerischen Vorzeichen stehende Straftheorie, in der der Gedanke der Prävention herrschte und die sich im Hinblick auf die Bedeutung der Freiheitsstrafe zur Spezialpräventionstheorie (Stübel, v. Grolmann, E. F. Klein) entfaltete. Das entsprach völlig den Intentionen des aufgeklärten Polizeistaats, der hieraus die Richtigkeit einer Ergänzung des Vollzuges der Freiheitsstrafe durch eine Sicherungshaft von unbestimmter Dauer herleitete, ja sogar (Preuß. Zirkular-VO vom 26.2.1799) für rückfällige Eigentumsverbrecher die unbestimmte Freiheitsstrafe als solche vorsah. Mit dieser Entwicklung wurde eine gründliche Reform des Strafvollzuges notwendig. Wie die von England (John Howard) ausgehende Reformbewegung auf dem Kontinent (Wagnitz) aufgenommen wurde, ist nicht an dieser Stelle, sondern in einem besonderen Artikel darzustellen. Den straftheoretischen Lehren der Präventionisten und den kriminalpolitischen Tendenzen, wie sie im Preuß. ALR Gestalt gewonnen hatten, gehörte die Zukunft nicht, sowenig die staatsphilosophischen und politischen Ideen des aufgeklärten Absolutismus die Entwicklung des 19. Jahrh. haben bestimmen sollen. Den relativen Straftheorien, die Sinn und Zweck der Strafe in den der Staatsräson entsprechenden präventionistischen Nützlichkeitszwecken gefunden hatten, setzte Kant mit der ganzen Wucht
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seiner, von der autonomen Selbst-Bindung des einzelnen an das Gesetz der Vernunft ausgehenden, im kategorischen Imperativ der „reinen" Pflicht gipfelnden Sittlichkeitslehre mit ihrer strengen Trennung von Legalität und Moralität eine „absolute" Wiedervergeltungslehre entgegen. Nur „weil er verbrochen hat", kann der einzelne um des reinen Strafensollens willen bestraft werden. Straft der Staat, um andere als den Täter abzuschrecken, so vergeht er sich an der Idee der „Freiheit"; denn „der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt". Straft aber der Staat, um den Bestraften durch Persönlichkeitsbeeinflussung während des Vollzuges zu „bessern", so handelt er (mit heteronomem Zwang) der Idee der Freiheit ebenfalls zuwider, weil die Entfaltung der Persönlichkeit allein Sache des dem autonomen sittlichen Imperativ folgenden einzelnen ist. Die Freiheits- und Sittlichkeitssphäre des einzelnen ist absolutes Tabu für den Staat. Unter dem Einfluß dieser Kantischen Ethik hat der Kriminalist Anselm von Feuerbach (1775—1833) in seiner 1799/1800 erschienen „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts", sodann in seinem 1801 in 1. Auflage erschienenen „Lehrbuch" und endlich in seiner 1804 veröffentlichten Kritik des „Entwurfs zu einem Peinl. Gesetzbuch für die Chur-Pfalz-Bayerischen Staaten", den der Würzburger Kriminalist Kleinschrod ganz im Sinne der dem aufgeklärten Polizeistaat zugeordneten Präventionstheorie ausgearbeitet hatte, der gesamten Entwicklung des Strafrechts die für das 19. Jahrh. maßgebende Richtung gewiesen. Feuerbach ist mit diesen wahrhaft epochemachenden Schriften der Begründer der modernen Strafrechtswissenschaft geworden; zugleich hat er mit ihnen die Strafgesetzgebung des 19. Jahrh. in die Bahnen des liberalen Rechtsstaats gewiesen. Das Bayer. StGB vom 2 6 . 5 . 1 8 1 3 beruhte auf einem von Feuerbach erarbeiteten Entwurf und ist so gut wie völlig von Feuerbachs Straftheorie beherrscht, das erste wirklich moderne Strafgesetzbuch. Von ihm führt, die bedingungslose Herrschaft der Feuerbachschen Straftheorie bezeugend, die entwicklungsgeschichtliche Linie über das Preuß. StGB von 1851 zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das sich eng an das Preußische Vorbild anlehnte. So stark Kant mit seiner Ethik, seiner Freiheitsidee, seiner scharfen Trennung von Legalität und Moralität auf Feuerbach gewirkt und mit alledem den Grund dafür gegeben hat, daß Feuerbach die Spezialprävention als Sinn und Zweck staatlichen Strafens völlig verwarf, hat Feuerbach die Kantische absolute Straftheorie nicht übernommen. Feuerbachs Straftheorie ist
als Theorie vom psychologischen Zwang durchaus auch eine Präventionstheorie, freilich eine solche mit ausschließlicher Anerkennung der, mittels g e s e t z l i c h e r Strafdrohung zu realisierenden Generalprävention. Hinter dieser Lehre stand die auch von Kant vertretene liberale Staatsauffassung, die im Staat nur die Rechtsschutzanstalt sah, den Staat von allem ausschloß, was den ethischen Bezirk des einzelnen anging (daher die Ablehnung aller spezialpräventiven Vollzugsgestaltung!) und die Kompetenz des Staates darauf beschränkt, den einzelnen vor „Beleidigungen" durch andere dadurch zu schützen, daß im Strafgesetz scharf und klar bestimmte Verhaltensweisen mit entsprechender Strafe bedroht werden. Diese Strafdrohungen sollen einen psychologischen Zwang zur Unterlassung eben dieser Verhaltensweisen bewirken. Damit wird die angedrohte Strafe zu einer gesetzlichen Bedingung für die mit ihr bedrohte Handlung. Diese (so bedingte) Handlung kann der einzelne nur wollen, wenn er zugleich die Bedingung „will", die ihm aus dem (an alle gerichteten) Strafgesetz bekannt ist und bei Begehung der Handlung vor Augen steht. Mit solchem psychologischen Zwang Präventionsschutz für alle auszuüben, ist nicht nur Recht, sondern Pflicht des Staates. Der Vollzug der verwirkten Strafe ist um des Ernstes der Strafdrohung willen erforderlich, hat aber in diesem Sinne nur sekundäre Bedeutung. An Sinn und Funktion der Strafdrohung ist Feuerbachs Straftheorie allein orientiert. Indem sie eine auf scharf umrissene Tatbestände bezogene g e s e t z l i c h e Strafdrohung voraussetzt, ist sie die Grundlage für eine rechtsstaatliche, den Richter an das Gesetz bindende und damit alle naturrechtlichen, gegen das Gesetz gerichteten Wertungen des Richters ausschließende Strafrechtspflege. Von Feuerbach stammt die Prägung der Parömie: nullum crimen, nulla poena sine lege. Feuerbachs Straftheorie hat die Präventionstheorie seiner wissenschaftlichen Gegner Stübel, v. Grolmann, Kleinschrod und anderer sehr rasch völlig überwunden; auf Feuerbachs Seite stand der Geist einer Zeit, die vom Absolutismus zum konstitutionellen Rechtsstaat drängte, stand aber auch die überlegene juristische Schärfe und Klarheit der Konzeption im ganzen wie auch der einzelnen Begriffe und der tatbestandlichen Grenzen. So hat Feuerbach für ein volles Jahrhundert die Entwicklung des Strafrechts bestimmen können. Selbst noch aus der Geistigkeit des Naturrechts und der Aufklärung hervorgegangen, schließt Feuerbach die Aufklärungsepoche des Strafrechts ab, leitet er die rechtsstaatliche Entwicklungsepoche führend und maßgebend ein. 5. Reehlsstaaüich-liberale
und soziale
Epoche
Zu Beginn des 19. Jahrh. standen große strafrechtliche Kodifikationen sehr unterschiedlichen
Geschichte der Strafrechtspflege Geistes'einander gegenüber: das preuß. A L R von 1794, das Österreich. Strafgesetz über Verbrechen und Strafe von 1803, der Code pinal von 1810 und das Bayer. StGB von 1813. Wo diese Kodifikationen nicht galten, suchten die deutschen Staaten durch zahllose Einzelgesetze der Humanisierungstendenz der Aufklärung Rechnung zu tragen. Diesem Zustande des positiven Rechts gegenüber hatte die Strafrechtswissenschaft keinen leichten Stand. Das positive Recht wies neben großer Zersplitterung auch erhebliche straftheoretische Divergenzen auf. Aber die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrh. konnte weder sich noch dem das Strafrecht anwendenden Richter jene naturrechtliche Freiheit gestatten, die im 18. Jahrh. das Gesetz dem philosophischen Vernunftgebrauch untergeordnet hatte. „Gesetze" wollten jetzt als verstandesmäßig erfaßtes Naturrecht verstanden werden. In seinem generalpräventiven Strafbegriff hatte Feuerbach eine endgültige, dem Naturrecht abgelauschte Grundwahrheit gesehen, in der sich der denkende Verstand für den strafrechtlichen Bereich vollendet habe. So durfte der Gehalt der positiven Gesetze auch von der Strafrechtswissenschaft Respekt fordern, die nun mit C. G. von Wächter (1797 bis 1880) in ihre „gemäßigte positivistische" Phase eintrat. Zugleich aber ging von der zum Rechtsstaat strebenden politischen Bewegung der Zeit das Verlangen nach Kodifizierung des Strafrechts und gesetzlicher Neuregelung des Strafprozeßrechts aus. Der Einfluß des französischen Rechts ist dabei ebenso bestimmend gewesen wie das wissenschaftliche Werk Feuerbachs. Kodifizierung und Reformierung des materiellen Strafrechts führte in fast allen deutschen Staaten unter dem sich durchsetzenden Einfluß der politischen Bewegung des liberalen Bürgertums zur Anerkennung der den rechtsstaatlichen Bedürfnissen entsprechenden generalpräventiven Auffassung Feuerbachs. Deutlich spiegelt sich der Kampf dieser neuen Ideen mit den von der Allmacht des Polizeistaates ausgehenden Intentionen in der preußischen Reform wider, in der sich gegen den reaktionären Geist des Ministers v. Kamptz unter starkem Einfluß der an das Strafrecht des Code p6nal gewöhnten rheinischen Juristen das rechtsstaatlich liberale Strafrechtsdenken Feuerbachschen Gepräges durchsetzte. Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten vom 14. 4.1851 weist in mancher dogmatischen Beziehung den Einfluß des Code penal auf; aber in entscheidender straftheoretischer Beziehung ist es vom französ. Recht mit seiner rigorosen Härte nicht beeinflußt; vielmehr stellt es insoweit unter starker Zurückdrängung der Spezialprävention auf der Grundlage des „nullum crimen, nulla poena sine lege" ein gemäßigtes generalpräventives Tatvergeltungsrecht dar. Was an Feuerbachs Bayer. StGB von 1813 doktrinär
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erscheinen mußte (insbesondere die Enge der Strafrahmen), ist aufgelockert. Die Strafe sieht auf die Tat. Androhung und Vollziehung richten sich im Sinne von Abschreckung und Bewährung der Rechtsordnung an die Allgemeinheit der Staatsbürger. In der deutschen Staatenwelt vor 1867 hat sich die Entwicklung des Strafrechts in gleichen Bahnen bewegt. Die im einzelnen hier nicht interessierenden Partikular-Strafgesetzbücher, die zwischen 1838 und 1851 entstanden, weisen in den Grundzügen übereinstimmend die Merkmale eines gemäßigt generalpräventiven Tatvergeltungsrechts auf: starke Zurückdrängung der Todesstrafe (in Baden vorübergehende Abschaffung von 1849—1851), zentrale Bedeutung der von spezialpräventiven Tendenzen frei gehaltenen Freiheitsstrafen; nullum crimen sine lege. Nach 1860 nimmt die gegen die Todesstrafe gerichtete abolitionistische Bewegung zu: Sachsen hat die Todesstrafe 1868, Oldenburg schon 1858 abgeschafft. In geringen Restgebieten dieser Staatenwelt hatte die Reformbewegung nicht Fuß gefaßt, beruhte daher das Strafrecht bis 1870 auf dem gemeinen Recht der CCC, so in Mecklenburg, Lauenburg, Schaumburg-Lippe, Bremen und den Gebieten des Unterharzes. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ist die erste rechtvereinheitlichende Tat des Reichsgesetzgebers gewesen. Die unbestrittene Herrschaft der dem Preuß. S t G B von 1851 wie auch den sonstigen Landesstrafgesetzbüchern zugrunde liegenden Strafauffassung gestattete rasches Zustandekommen des R S t G B , da größere kriminalpolitische Auseinandersetzungen nicht in Frage kamen und das preuß. S t G B für die juristische Ausgestaltung ein vorzügliches Vorbild abgab. Bismarcks persönliches Eintreten für die Todesstrafe hatte die abolitionistische Bewegung vom Reiche ferngehalten. Zu einer reichsrechtlichen Vereinheitlichung des Vollzuges der die Hauptstrafe des Strafensystems darstellenden Freiheitsstrafe kam es nicht; der Vollzug blieb Ländersache. Wie er sich im 19. Jahrh. gestaltet hat, ist an anderer Stelle zu zeigen. Die jeglicher Spezialprävention abholde Einstellung des R S t G B hatte nicht nur in der seit Feuerbach traditionell gewordenen generalpräventiven Abschreckung, sondern zusätzlich auch in Hegels Vergeltungslehre ihren sicheren straftheoretischen Halt gefunden. Die Hegelianer unter den Kriminalisten (Köstlin, Abegg, Berner, Hälschner) konnten ihre, auf Hegels dialektischer Methode beruhende Vergeltungslehre entwickeln, ohne daß dies zu theoretischer Spannung mit der generalpräventiven Theorie vom psychologischen Zwang hätte fähren müssen. Aber die „Gewaltherrschaft", die diese sterile und flache, den geistigen Gehalt der Hegeischen Lehre weder ausschöpfende noch fortbildende Vergeltungstheorie im strafrechts-
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wissenschaftlichen Bereich antrat, verfestigte das Straftaxenwesen der gerichtlichen Strafzumessung, die sich allein an der Schwere der Tat ausrichtete und zur überreichlichen Anwendung kurzzeitiger Freiheitsstrafen gelangte. Die Probleme des Vollzuges der Freiheitsstrafe konnten von dieser Tatvergeltungslehre nicht gesehen werden, wie denn auch das R S t G B selbst dem Vollzuge nur spärliche und sachlich höchst fragwürdige Bestimmungen zu widmen wußte. Das Strafverfahrensrecht unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu reformieren, ist einer der wichtigsten Punkte im Reformprogramm der liberalen Bewegung der Vormärzzeit gewesen. In den süddeutschen Kammern wurden die Reformwünsche, unter denen die Einführung der Geschworenengerichte der am leidenschaftlichsten verfochtene gewesen ist, von den liberalen bürgerlichen Politikern stürmisch vorgetragen. Es ist ein Verdienst der führenden Juristen jener Zeit (K. J . A. Mittermaier, Η. A. Zachariae, Abegg u. a.) gewesen, daß sie die politische Leidenschaft durch wissenschaftliche Sachlichkeit gezügelt und gerade dadurch einen großen und maßgebenden Einfluß auf die allenthalben als notwendig erkannte Reform gewonnen haben. Die Demagogenverfolgungen, die den Karlsbader Beschlüssen (1819) folgten, sorgten dafür, daß die schweren „Gebrechen" des Inquisitionsprozesses (oben 3) weitesten Kreisen gerade des politisch regsam gewordenen Bürgertums peinlichst bekannt wurden. Nach französischem Vorbilde forderte man die Einführung der Staatsanwaltschaft, die Mitwirkung von Laienrichtern in Gestalt der französischen Schwurgerichte und Gewinnung des Urteils in öffentlich-mündlicher Verhandlung. Die wissenschaftlichen Juristen nahmen diese Forderungen weitgehend auf. Die Einführung einer die Ermittlungen im Vorverfahren nach rechtlichen Gesichtspunkten leitenden Anklagebehörde, die als Staatsanwaltschaft vom Justizministerium zu ressortieren und die polizeiliche Ermittlungsarbeit juristisch zu kontrollieren habe, wurde als das notwendige Mittel erkannt, um die urteilende Tätigkeit der Gerichte von den Vorurteilen zu befreien, die sich mit der Angriffstätigkeit im Ermittlungsverfahren zu leicht einstellen, und die Gerichte somit aus der psychologischen Überforderung zu erlösen, die die Vereinigung von Ermittlung und Beurteilung, von Angriff und Verteidigung in der richterlichen Funktion bedeutet hatte. Von selbst ergab sich damit die Zerlegung des Verfahrens in zwei, durch die Anklage verbundene Abschnitte. Erst die erhobene Anklage darf das Gericht auf den Plan rufen, das dann nach den Grundsätzen der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit in einer Hauptverhandlung das Urteil zu finden hat. Völlige Aussagefreiheit des Beschuldigten, rechtliches Gehör, Zulassung der Vertei-
digung mit selbständigen Beweisantragsmöglichkeiten, Ausgestaltung eines der Verfahrens- und Urteilsüberprüfung dienlichen Rechtsmittelwesens erschienen als die notwendigen Elemente eines „reformierten Strafprozesses". Offizialmaxime und Instruktionsprinzip sollten unberührt bleiben, die Staatasnwaltschaft durch Bindung an das Legalitätsprinzip vor politischen Opportunitätsentscheidungen beim „Ob" der Verfolgung und Anklage bewahrt bleiben. Gericht und Staatsanwaltschaft stellen bei aller Verschiedenheit der Organisation Justizbehörden mit bedingungsloser Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit dar. Die Nachahmung der französ. Schwurgerichte wurde von wissenschaftlicher Seite vielfach bekämpft, die Mitwirkung von Laienrichtern als solche aber keineswegs abgelehnt. Auf dieser so vorbereiteten Grundlage setzte sich der „reformierte Strafprozeß" um die 48er Zeit in den Landesrechten durch. Damit war für den Reichsgesetzgeber das greifbare Vorbild geschaffen. Die RStPO und das GVG von 1877/79 übernehmen die gerichtsorganisatorischen Grundsätze (Unabhängigkeit der Gerichte, gesetzlicher Richter, Laienrichter in der Form der Geschworenengerichte für Kapital-, der Schöffengerichte für geringere Delikte) und die Verfahrensprinzipien des reformierten Strafprozesses. Der Rechtsstaat hatte sich das Strafverfahrensrecht im Geiste der liberalen Reformbewegung erobert. Die strafrechtlichen Kodifikationen boten, in den Grundzügen wesentlich übereinstimmend, der Strafrechtswissenschaft die ersehnte gesetzliche Basis. Feuerbachs juristisches Lebenswerk konnte fortgesetzt werden in Herausarbeitung der allgemeinen Lehren, in Verfeinerung der strafrechtlichen Begriffe und in Gestaltung eines geschlossenen wissenschaftlichen Systems. Nicht Kritik aus philosophischen Prinzipien, sondern exakte juristische Bearbeitung des Gesetzesstoffes, Ergründung seiner juristischen Prinzipien und Erarbeitung von Allgemeinbegriffen ist das Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit im Zeitalter des wissenschaftlichen Gesetzespositivismus des 19. Jahrh. gewesen. Die historische Schule leistete daneben gründliche Quellenarbeit. Biener, Wilda, R. Loening, Brunnenmeister förderten die Einsicht in den historischen Werdegang des Strafrechts u. Prozeßrechts. In dogmatischer Hinsicht haben Hälschner und Berner, vor allem aber Karl Binding (1841 bis 1920) und Adolf Merkel Großartiges geleistet. Bindings Meisterschaft hat in seinem Werk „Die Normen und ihre Übertretung" (1871—1920) die dogmatische Arbeit aufs stärkste und fruchtbarste gefördert und beeinflußt und die Leistungsfähigkeit gesetzespositivistischer Dogmatik zum höchsten gesteigert.
Geschichte der Strafrechtspflege — Gift und Vergiftung Diese grandiose dogmatisch-juristische Arbeit nahm die dem geltenden Strafrecht zugrunde liegende generalpräventive Vergeltungslehre als solche hin. Sinn und Zweck staatlichen Strafrechts neu zu durchdenken, kam, solange der Geist des bürgerlichen Liberalismus der Zeit das Gepräge gab, nicht in Betracht. Kritische Prüfung der Leistungsfähigkeit des im R S t G B gegebenen Strafrechts unter dem Gesichtspunkt seiner effektiven Tauglichkeit im Kampf gegen die Kriminalität erschien juristischer Arbeit nicht aufgegeben, ja kaum zulässig. Aber die sozialen Strukturwandlungen die in Industrialisierung, Landflucht, Großstadtentwicklung und in Entstehung eines vierten Standes „proletarischer" Industriearbeitermassen sichtbar wurden und seit den 70er Jahren sich vollzogen, sollten das auf das Menschenbild des bürgerlichen Menschentypus liberaler Prägung zugeschnittene Strafrecht des R S t G B sehr bald grundsätzlich in Frage stellen. Daß dies seitens der Strafrechtsschaft selbst geschah, die Strafrechtswissenschaft also über das rein juristisch-dogmatische Gebiet verfeinerter Auslegungs- und Begriffsbildungsarbeit hinausgeführt und mit den großen sozialen und psychologischen Problemen der Kriminalität konfrontiert wurde, ist das historische Verdienst des großen Kriminalisten Franz von Liszt (1851 bis 1919). Er wird zum Begründer moderner Kriminalpolitik, indem er, stark beeinflußt von den grandiosen Fortschritten der Naturwissenschaften und selbst auf dem Boden eines naturwissenschaftlichen Positivismus stehend, die empirischen Bedingtheiten verbrecherischen Wesens durch Aufdeckung seiner sozialen und psychologischen Ursachen zu ergründen unternimmt und sich hierbei der statistischen und der naturwissenschaftlichen Methoden bedient. Von Binding leidenschaftlich bekämpft, hat er das überkommene Tatvergeltungsstrafrecht als kriminalitätsfördernd radikal verworfen und unter Einsatz aller Funktionsmöglichkeiten der Strafe (Generalprävention einerseits, insbes. aber auch Spezialprävention durch Abschreckung des Gelegenheitstäters, Resozialisierung des „besserungsfähigen", Unschädlichmachung des „unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers") eine an den empirischen Gegebenheiten orientierte neue Straftheorie (Vereinigungstheorie) entwickelt und eine Neugestaltung des Strafrechts durch individualisierende Bekämpfung des in seiner starken Differenziertheit zu erkennenden Verbrechertums gefordert. Im Gegensatz zur anthropologischen Verbrecherlehre Lombrosos verlangte er maßgebliche Beachtung der sozialen Ursachen des Verbrechens, sah er in „guter Sozialpolitik" die „beste Kriminalpolitik". Die Reformierung des Strafvollzuges zwecks individualisierender Erfassung der Bestraften mußte ihm ebenso dringend erscheinen
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wie die Beseitigung der kurzen, völlig sinnlosen Freiheitsstrafen einerseits (Geldstrafen; bedingte Strafaussetzung!), Ergänzung des Strafensystems durch ein System sichernder und bessernder Maßnahmen andererseits. Für den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher unverbesserlicher Art erscheint ihm die Freiheitsstrafe von unbestimmter Zeitdauer unentbehrlich. Erweiterte Liszt so das Arbeitsgebiet der „gesamten" Strafrechtswissenschaft durch Einbeziehung der Kriminalsoziologie und Kriminalbiologie, so verlangte er die Fortsetzung exakter juristisch-dogmatischer Arbeit an System und Einzelbegriffen mit gleichem Nachdruck, weil ihm das Strafrecht als die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik erschien, gerade weil er sich bewußt war, daß die Realisierung seiner kriminalpolitischen Forderungen die Macht des Staates gegenüber dem einzelnen bedeutsam steigern muß. Vor dem Leviathan-Staat aber sollte den einzelnen nicht nur das Strafrecht („magna Charta des Verbrechers"), sondern auch ein Strafprozeß schützen, für dessen Fortbildung Liszt die Verstärkung aller liberal-rechtsstaatlichen Elemente verlangte. Im sog. „Schulenstreit" brachen die juristischen und politischen Gegensätze der „klassischen" (Binding, Birkmeyer, Kahl) und der „modernen" oder „soziologischen" Richtung mit größter Schärfe auf. Darüber konnte die Notwendigkeit einer Strafrechtsreform in der sozial veränderten Welt des 20. Jahrhunderts nicht verborgen bleiben. Als Kahl sich auf empirischer Basis mit Liszt zu gemeinsamer Arbeit zusammenfand, war der Bann des Schulenstreits gebrochen. Mit dem Berliner Juristentage 1902 beginnt die von beiden „Richtungen" getragene Epoche der Reform, die in der Zeit von 1909 bis 1960 zu 10 Entwürfen für ein neues Strafgesetzbuch geführt hat. Die nähere Schilderung dieser Reformbewegung und der aus ihr resultierenden einzelnen Veränderungen des S t G B von 1871 kann an dieser Stelle nicht mehr erfolgen. E . S c h m i d t : Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. 1965 (mit weiteren Literaturhinweisen). E B E R H A R D SCHMIDT
GIFT UND VERGIFTUNG 1.
Vergiftung
„ V e r g i f t u n g e n " sind durch „ G i f t e " herbeigeführte Funktionsstörungen des lebenden Organismus, die entweder vorübergehend sind, zu dauerndem Siechtum führen oder den Tod zur Folge haben. Damit definiert Fühner die Vergiftungen als durch „Gifte" hervorgerufene Krankheiten. Hierbei bietet die Definition des Wortes „Gift" in seiner Unbestimmtheit einige Schwierigkeiten. Denn kein Stoff ist ein Gift an
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Gift und Vergiftung
sich, und fast jeder Stoff in der unbelebten und belebten Natur kann zum Gift werden, wenn er in bestimmter Weise verabreicht wird. Der Gesetzgeber versteht unter Gift (RG DStR 35, 490) „jeden Stoff, der unter bestimmten Bedingungen lediglich durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkungen die Gesundheit zu zerstören vermag." Diesem Giftbegriff liegt die Definition von F. Reuter (Kobert, Lewin) zugrunde: „Gifte sind anorganische oder organische Stoffe, die unter bestimmten Bedingungen lediglich durch chemische oder physikalisch-chemische Wechselwirkungen zwischen Stoff und Zellen des Organismus den letzteren zu schädigen oder den Tod zu verursachen vermögen." Etymologisch ist interessant, daß das Verbalnomen von „geben" im Alt- und Mittelhochdeutschen „Gift" lautet. Die alte Bedeutung „Gabe, Schenkung" hat sich nur noch im zweiten Wortteil von „Braut- und Mitgift" erhalten. Das mittelhochdeutsche „Vergeben" = „zum Verderben geben = vergiften" ist ein Euphemismus. Während die Toxikologie im weitesten Sinne sich mit der Erforschung der Wirkungsweise der Gifte zum Zwecke der Diagnostik und Therapie der Vergiftungen befaßt, behandelt die forensische Toxikologie am Lebenden und an der Leiche Fragen zur Klärung strittiger Rechtsverhältnisse im Straf-, Zivil- und Versicherungsrecht. Durch diese besondere Zielsetzung kennzeichnet sie sich als angewandte Toxikologie und umfaßt die klinische Symptomatologie, Pharmakologie, pathologische Anatomie und pathologische Physiologie sowie den Giftnachweis in chemischer, pharmakologischer und pharmakognostischer Hinsicht. Die Vergiftungen gliedern sich nach kriminologischen, gerichtsmedizinischen und sozialmedizinischen Gesichtspunkten folgendermaßen: Die a b s i c h t l i c h e n V e r g i f t u n g e n durch fremde Hand: der Giftmord, die vorsätzliche Gesundheitsschädigung durch Giftbeibringung; durch eigene Hand: der Selbstmord, die Selbstbeschädigung (Artefakt). D i e u n a b s i c h t l i c h e n V e r g i f t u n g e n durch fremde oder eigene Hand als fahrlässige oder zufällige: die gewerblichen Vergiftnugen, die ökonomischen Vergiftungen, die medizinalen Vergiftungen. 2. Giftmord Der G i f t m o r d ist kein Begriff, der in den gesetzlichen Bestimmungen verankert ist. Jedoch ist keine andere Mordtat so wie der Giftmord kriminologisch nach dem T ö t u n g s m i t t e l be-
nannt. Dies weist darauf hin, daß die Art der Tötung als etwas Besonderes und von anderen Mordtaten so Verschiedenes betrachtet wird, daß man beim Giftmord von einer „Abart" des Mordes sprechen kann (-* Tötungsverbrechen). Soweit unser Wissen in die Frühgeschichte der Menschheit hineinreicht, finden wir Spuren der bewußten Handhabung giftiger Stoffe zu kultischen und heilenden Zwecken sowie als Mordund Selbstmordmittel. Die Laut- und Gestaltlosigkeit geben dem Begriff „Gift" über die wissenschaftliche Definition hinaus noch eine Vorstellung von etwas Unheimlichem und zugleich Mächtigem. Die bei manchen Giften zu beobachtende Latenzzeit zwischen Gabe und Wirkung oder ein schleichender und unklarer Krankheitsbeginn machen das Gift als Mordmittel besonders geeignet. Da zudem in früheren Zeiten keine sicheren Giftnachweise existierten, stand im Altertum und im Mittelalter bereits auf dem Aufbewahren, dem Kauf und Verkauf der Gifte sowie auf der nichtangezeigten Kenntnis von einem Giftmord die Todesstrafe. Trotz der besseren Nachweismöglichkeiten vieler Gifte wird auch heute noch nach § 367 Abs. 1 Ziff. 3 StGB wegen Übertretung bestraft, „wer ohne polizeiliche Erlaubnis Gifte oder Arzneien, soweit der Handel mit ihnen nicht freigegeben ist, zubereitet, feilhält oder sonst an andere überläßt". Nach § 10 des „Opiumgesetzes" macht sich sogar derjenige strafbar, welcher Betäubungsmittel ohne Erlaubnis lediglich „aufbewahrt". Aus alledem ergibt sich, welche Gefährlichkeit der Gesetzgeber dem Umgang mit „Gift" auch heute noch beimißt. Das ist um so bemerkenswerter, als es bekanntlich kaum einen (jedermann zugänglichen) Stoff gibt, der nicht unter bestimmten Umständen zum Gift werden könnte (ζ. B. zuckerhaltige Speisen für Diabetiker), und andererseits keinen Stoff, der unter allen Umständen als Gift zu bezeichnen wäre. So ist ζ. B. das stark wirkende Digitoxin in kleinsten Mengen ein Herzmittel. Das Kochsalz, welches in großer Menge aufgenommen als Gift wirkt, ist in kleinen Mengen lebensnotwendig. Wenn man bedenkt, welche Fülle von (zum Teil stark) giftig wirkenden Stoffen im Haushalt und in der Landwirtschaft, in Industrie und Technik zur Verfügung stehen, so ist die gewisse Einförmigkeit bei der Verwendung von Giften als Mord- und Selbstmordmittel erstaunlich. Dies mag zum Teil darin begründet sein, daß die Wirkung „ausgefallener" Gifte nicht bekannt ist und der Täter sich nicht gern unerwünschten Überraschungen aussetzt. Wesentliche Gesichtspunkte bei der Wahl eines Giftes sind: in Selbstmordfällen die Schmerzlosigkeit und Schnelligkeit, in Mordfällen die Unauffälligkeit. Deshalb werden die allgemein bekannten Gifte und solche, die sich in Kriminalfällen „bewährt" haben, in
Gift und Vergiftung Mordfällen bevorzugt. Was man unter „wohlbekannten" und „bewährten" Giften zu verstehen hat, ist stark zeitgebunden und zudem u. a. von Beruf und Intelligenz in weitem Umfange abhängig. Auch gibt es sogenannte „Modegifte", deren Anwendung durch sensationelle Presseveröffentlichungen von Kriminalprozessen gefördert werden kann. Einen nicht geringen Anteil bei der Wahl von Mord- und Selbstmordmitteln haben auch die gute Literatur, die Schundliteratur und der Kriminalreißer in Film, Funk und Fernsehen. Nach dem geltenden Recht wird der Giftmörder als Mörder im § 211 StGB behandelt. Eine eigene Gesetzesbestimmung für den Giftmöder gibt es nicht. Bei der ersten Lesung zur Neufassung des jetzigen § 211 StGB war vorgesehen, bei der Ausführungsart neben Heimtücke, Grausamkeit und den gemeingefährlichen Mitteln noch das „Gift" ausdrücklich zu nennen. Dies ist aber bei der endgültigen Fassung des Gesetzes fallen gelassen worden. Bei vorsätzlicher Verabreichung von Gift liegt der Tatbestand des Mordes meist schon dadurch vor, daß aus „niedrigen Beweggründen" oder „heimtückisch" gehandelt worden ist. Heimtückisch handelt (nach A. Dalcke), „wer bewußt die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers zu einem unvermuteten Angriff ausnutzt, ohne daß es darauf ankommt, ob der Täter glaubte, sein Ziel an sich auch anders erreichen zu können, oder ob das Opfer der offen begangenen Tat Widerstand hätte entgegensetzen können, oder ob der Täter aus vielleicht sogar menschlich noch begreiflichen Gründen zur Tat und zu dieser Art der Tatausführung gelangt ist. Damit ist das zum Teil in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte geforderte einschränkende Merkmal, daß der Täter das Opfer durch sein Verhalten arglos gemacht oder in seiner Arglosigkeit bestärkt oder daß dieses sich — wie die Ehefrau dem Ehemann, der Patient dem Arzt usw. — arglos seiner Obhut oder Behandlung anvertraut habe oder daß der Täter irgendwie List, Falschheit oder Berechnung aufwendet, um an das Opfer heranzukommen, aufgegeben. Danach ist es also schon heimtückisch, wenn der Täter das ahnungslose Opfer hinterrücks erschießt oder im Schlafe tötet. Der Grund für die Qualifizierung einer solchen Tötung liegt darin, daß das Opfer bei einem offen gezeigten Tötungsvorhaben die Tötung durch Verteidigung oder mindestens Fluchtversuche, Hilferufe oder Gegenvorstellungen hätte abwenden können". Hiernach genügt für das Tatbestandsmerkmal der „Heimtücke" das unauffällige Beibringen von Gift. Als M o t i v könnte beim Giftmord u. a. auch Mordlust in Betracht kommen. Die Frage, ob bei protrahierter Ausführung der Tat sadistische Motive maßgebend sind, ist gelegentlich diskutiert worden.
335
In manchen Epochen der Geschichte war der Giftmord als politischer Mord im Kampf um die Macht, zur Beseitigung einzelner und schließlich zur Vernichtung unerwünschter Bevölkerungsgruppen ungemein verbreitet. Während in früheren Zeiten die „Giftmischerei" („schwarze Kunst") fast ausschließlich in der führenden Schicht beherrscht und betrieben wurde, wird das Gift heute auch in breiteren Kreisen zu Mordzwecken angewandt (Lewin). Eine gewisse Sonderstellung nehmen die Ärzte ein, deren Anteil an Giftverbrechen aller Art und zü jeder Zeit nicht unerheblich gewesen ist. Der Giftmord hat schon immer einen gleichzeitig anziehenden wie abstoßenden mystischen Zauber auf die Vorstellungskraft der Völker und die dichterische Phantasie ausgeübt. Diese Ambivalenz hat sich bis heute erhalten. So lebt die mythologische Gestalt der Medea, Tochter des Königs Äestes in Kolchis, über Euripides bis in unsere Zeit fort. In der Fachliteratur ist über den Giftmord als kriminologisches Problem relativ wenig veröffentlicht worden. Die erste „Psychologie des Giftmordes" wurde 1918 von Wulfen geschrieben. Wie dieser, so sind auch viele andere Kriminalwissenschaftler der Ansicht, daß der Giftmörder ein fest umrissener Charaktertyp sei, dessen Schwäche, Feigheit, Verlogenheit und Hinterlist ausreichend bekannt und längst typisch fixiert erscheinen. Als weitere Selbstverständlichkeit gilt ihm auch, daß der Giftmord deshalb ein typisch weibliches Verbrechen sei. Dieser Auffassung ist Herx in ihrer Monographie „Der Giftmord, insbesondere der Giftmord durch Frauen" entgegengetreten. Sie hat auf Grund eingehender kriminalbiologischer Studien überzeugend dargelegt, daß der Giftmord kein typisch weibliches Verbrechen ist. Die Frau greife nicht zum Gift, weil sie besonders feige und hinterlistig sei, sondern vor allem deswegen, weil Gift ein Mordmittel sei, dem sie physisch am ehesten gewachsen ist. Nach einer Statistik von v. Hentig benützen weibliche Mörder rund dreimal häufiger Gift als Tötungsmittel als männliche Mörder. Da jedoch viel mehr Männer Morde begehen als Frauen, so ist die absolute Zahl der Giftmörder höher als die der Giftmörderinnen. Erfmann weist in ihrem Abriß einer Phänomenologie des Giftmordes nach, daß die Beachtung, die den Giftmörderinnen geschenkt wird, (und die Nichtbeachtung der Giftmörder in Literatur und Presse, es sei denn, es handelt sich um Ärzte), nicht aus statistischen Erwägungen allein zu verstehen sei. Es scheinen tiefere, rational weniger faßbare Momente für dieses allgemeine Interesse bedeutsam zu sein. Sie sieht diese Momente in der zwiefachen Anmutungsqualität des Giftes: Einerseits der heilenden Funktion t andererseits der todbringenden
Gift und Vergiftung
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Wirkung. So seien Gifte hilfreich und bedrohlich zugleich. Deshalb führe das Bild, das man sich vom Gift mache, zu affektiven Regungen ambivalenter Art. Sie zeigte auf, daß auch das Bild der Frau zu allen Zeiten eine ähnliche ambivalente Wirkung auf die menschliche Psyche ausübe. Auf der einen Seite erscheine die Frau als Heilige, als Göttin oder als ein Wesen, das die Fähigkeit habe, andere zu den höchsten menschlichen Möglichkeiten zu führen; auf der anderen Seite gelte die Frau als gefährlich, werde zur Zauberin, zur Circe oder auch zur bösen Hexe, ja bei den romanischen Völkern verkörperte ihr Bild den Tod. So löse das Bild der Frau Gefühlsmomente widerstreitender Art in ähnlicher Weise aus wie die gefühlsbesetzte Vorstellung des Giftes und damit des Giftmordes. Dies sei wohl mit ein Grund dafür, daß die Frau als Prototyp des Giftmörders schlechthin angesehen werde. 3.
Giftbeibringung
Für die strafrechtliche Beurteilung erscheinen Vergiftungen als vorsätzliche oder fahrlässige Tötungen oder Körperverletzungen. Darüber hinaus wird das auf Einzelgefährdung tendierende Verbrechen der Beibringung von Gift — die Vergiftung im engeren Sinne — im § 229 StGB behandelt. Dieser Sondertatbestand der Vergiftung unterscheidet sich von Tötung und Körperverletzung dadurch, daß der Tod oder die Gesundheitsbeschädigung nicht eingetreten zu sein braucht und von einer versuchten Tötung dadurch, daß für den Täter nicht der Vorsatz zu töten, sondern nur die Absicht der Gesundheitsbeschädigung erforderlich ist. §229 StGB: (1) Wer vorsätzlich einem anderen, um dessen Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter 5 Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, auf Zuchthaus nicht unter 10 Jahren oder auf lebenslanges Zuchthaus zu erkennen. G i f t ist hier jeder Stoff, der unter bestimmten Bedingungen lediglich durch chemische oder chemisch-physikalische Wirkungen die Gesundheit zu zerstören vermag. Andere Stoffe sind: mechanisch wirkende Stoffe, ζ. B. zerstoßenes Glas oder zerkleinerte Haare. Die Eignung zur Gesundheitszerstörung, die das Gift haben muß, muß im Einzelfall nach Art und Menge des Giftes (Stoffes), Körperbeschaffenheit des Opfers und der Art der Anwendung gegeben sein (BGH, NJW 53, 1441). Die letzte einschlägige Entscheidung des BGH befaßt sich mit dem Begriff der Gesundheitszerstörung (BGHSt 4, 278, Urt. v. 28. 4.1953). Aus den Gründen: Der Angeklagte
hatte am 29. Sept. 52 in einen Topf mit Kaffee, den seine Vermieterin für sich zubereitet hatte, Rattengift geschüttet in der Annahme, daß sie den vergifteten Kaffee trinken werde. Der Vermieterin fiel die Färbung des Kaffees und die Bildung von Bläschen und Zusammenballungen auf, sie trank den Kaffee deshalb nicht, sondern füllte den größten Teil des in dem Topf befindlichen Kaffees in ein Glas und brachte es zur Polizei. Die Untersuchung ergab, daß der Kaffee 40 mg arsenige Säure enthielt. Nach den Feststellungen des Landgerichts genügt diese Menge, um bei Menschen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Brennen im Unterleib hervorzurufen. Eine Menge von 100—300 mg des Giftes wirkt tödlich. Der Angeklagte ist wegen versuchter Vergiftung (§§229, 43 StGB) zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Das Verbrechen der Vergiftung (§229 StGB) setzt voraus, daß das angewandte Mittel zur Gesundheitszerstörung, nicht nur zur Gesundheitsbeschädigung geeignet ist (RGSt 10, 178). Zur Gesundheitszerstörung gehört, daß wesentliche körperliche Tätigkeiten für die Dauer oder wenigstens nicht nur für vorübergehende Zeit völlig' oder mindestens in erheblichem Umfange aufgehoben werden. Nach der ständigen Rechtsprechung genügt hierzu nicht, daß das Gift seinem Wesen nach an sich zur Zerstörung der menschlichen Gesundheit geeignet ist, erforderlich ist vielmehr, daß ihm in der beigebrachten Menge sowie nach der Art der Verabreichung und nach der Körperbeschaffenheit des Opfers diese Eignung zukommt (RGSt 10, 178,180; RGJW 1893, 117 Nr. 19; DRZ 1931 Rechtspr. Nr. 775; DStrR 1936 289; OGHSt 3, 90, 92, OLG Hamm HESt 2, 292). Da das Landgericht festgestellt hat, die verabreichte Menge Arsenik sei nur geeignet, „bei Menschen" Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Brennen im Unterleib hervorzurufen, begegnet die Verneinung eines vollendeten Verbrechens der Vergiftung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Aber die Verurteilung wegen versuchten Verbrechens gegen § 229 StGB wird durch die getroffenen Feststellungen nicht getragen. Zum Vorsatz des Täters gehört es, daß er die gesundheitszerstörende Wirkung des Giftes in dem dargelegten Sinne, namentlich hinsichtlich der verabfolgten Mengen, kennt oder mindestens für möglich hält und billigt (Vgl. RGSt 24,382; RG DStrR 1936, 289; OGHSt 3, 34, 38, 90f.; OLG Hamm HESt 2, 292). In dieser Richtung läßt das angefochtene Urteil es an Feststellungen fehlen, die eine Verurteilung rechtfertigen." Der Bundesgerichtshof hat somit auch die Verurteilung wegen eines versuchten Verbrechens nach § 229 StGB verworfen. Weitere Entscheidungen des RG, BGH und der OLG, die sich mit dem Begriff des Giftes,
Gift und Vergiftung anderer Stoffe und der Gesundheitszerstörung befassen, sind: RGSt 10, 178, (Urt. v. 14.1.1884); RGSt 24, 382 (Urt. v. 9.11.1893); RGSt 53, 210 (Urt. v. 10. 3.1919); RGSt 59, 1 (Urt. v. 11.12. 1924); DStR 3, 289 (RG Urt. v. 14. 6.1936); OLG Hamm HESt 2, 292 (Urt. v. 26.3.1949); OGHSt 3, 90 (Urt. v. 27. 6.1950). B e i g e b r a c h t ist das Gift, wenn es mit dem Körper in eine derartige Verbindung gebracht ist, daß es seine gesundheitszerstörende Wirkung entfalten kann. Bloßes Einnehmen in den Mund (ohne herunterzuschlucken) ist noch kein vollendetes Beibringen (RGSt 53, 210). Ein vollendetes Verbrechen liegt nur dann vor, wenn das beigebrachte Gift nach Menge und Anwendungsform zur Gesundheitszerstörung geeignet war; andernfalls liegt ein (relativ untauglicher) strafbarer Versuch vor (DStR 3, 289). Die Bereitstellung eines giftigen Tranks kann Versuch sein (RGSt 59, 1). Auch schon die Beimengung von Gift in ein zur Zubereitung durch Kochen bereitgestelltes Essensgericht ist ein Versuch (DStR 35, 490). Außerdem poenalisiert das StGB die Verwendung von Gift als sog. g e m e i n g e f ä h r l i c h e s V e r b r e c h e n : BrunnenVergiftung und Verbreiten giftiger Sachen. § 324 (Gemeingefährliche Vergiftung); §325 (Nebenstrafen); § 326 (Fahrlässige Begehung). § 324 StGB: Wer vorsätzlich Brunnen- oder Wasserbehälter, welche zum Gebrauche anderer dienen, oder Gegenstände, welche zum öffentlichen Verkaufe oder Verbrauche bestimmt sind, vergiftet oder denselben Stoffe beimischt, von denen ihm bekannt ist, daß sie die menschliche Gesundheit zu zerstören geeignet sind, ingleichen wer solche vergiftete oder mit gefährlichen Stoffen vermischte Sachen wissentlich und mit Verschweigung dieser Eigenschaft verkauft, feilhält oder sonst in Verkehr bringt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen verursacht worden ist, mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslangem Zuchthaus bestraft. S t r a f r e c h t s r e f o r m : Der Sondertatbestand der Giftbeibringung wird voraussichtlich fallengelassen, dagegen sind folgende neue Bestimmungen im Entwurf vorgesehen: § 327 Entw. StGB (Gefährdung durch giftige Gase): (1) Wer durch Freisetzung von giftigen Gasen einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit (§147 Abs. 2 Entw. StGB) bringt, wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen (§ 338 Entw. StGB) ist die Strafe Zuchthaus nicht unter 5 Jahren, in minder schweren Fällen Gefängnis von 6 Monaten bis zu 5 Jahren. (3) Wer die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Gefängnis von 3 Monaten bis zu 5 Jahren bestraft. 22
HdK, 2. Aufl., Bd. I
337
§329 Entw. StGB (Brunnenvergiftung): (1) Wer Wasser in gefaßten Quellen, Brunnen, Leitungen oder Trinkwasserspeichern vergiftet oder ihm gesundheitsschädliche Stoffe beibringt und dadurch einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit (§ 147 Abs. 2) bringt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. (2) In besonders schweren Fällen (§ 338) ist die Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren, in minder schweren Fällen Gefängnis von einem Jahr bis zu fünf Jahren. (3) Gefährdet der Täter durch die in Absatz 1 bezeichnete Handlung sonst Körper oder Gesundheit eines anderen oder gefährdet er das Leben einer großen Zahl von Haustieren oder anderen nützlichen Tieren, die ihm nicht gehören, so ist die Strafe Gefängnis bis zu fünf Jahren. Der Versuch ist strafbar. (4) Wer die Gefahr fahrlässig verursacht, wird in den Fällen des Absatzes 1 mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 mit Gefängnis bis zu zwei Jahren, mit Strafhaft oder mit Geldstrafe bestraft. §330 Entw. StGB (Vergiftung von Lebensmitteln, Arzneimitteln und Bedarfsgegenständen): (1) Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. Gegenstände, die als Lebensmittel, Arzneimittel oder Bedarfsgegenstände in Verkehr gebracht werden sollen, so gewinnt, herstellt oder behandelt, insbesondere so vergiftet oder verderben läßt, daß ihre bestimmungsmäßige Verwendung die Gesundheit schwer zu schädigen geeignet ist, oder 2. Gegenstände als Lebensmittel, Arzneimittel oder Bedarfsgegenstände in Verkehr bringt oder dafür vorrätig hält, deren Verwendung als solche die Gesundheit schwer zu schädigen geeignet ist und dadurch einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit (§147 Abs. 2) bringt. (2) In besonders schweren Fällen (§ 338) ist die Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren, in minder schweren Fällen Gefängnis von einem Jahr bis zu fünf Jahren. (3) Wer die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. §338 Entw. StGB (Besonders schwere Fälle): Ein besonders schwerer Fall liegt bei Taten nach den §§ 320, 325 und 327 bis 331 in der Regel vor, wenn der Täter 1.) durch die Tat leichtfertig den Tod eines anderen verursacht, 2.) in der Absicht handelt, in der Bevölkerung Angst oder Schrecken zu erregen, oder 3.) als Mitglied oder im Auftrage einer Gruppe handelt, der die Begehung solcher Taten als Mittel für ihre Zwecke dient. 4.
Statistik
Überblickt man die Kriminalstatistik, so ist man erstaunt über den verhältnismäßig geringen Anteil des Giftmordes an der Gesamt-Mord-
338
Gift und Vergiftung
statistik, und es erhebt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber bei den Bestimmungen über die Todesursachenermittlung bis ins einzelne gehende Vorschriften bei Vergiftungsverdacht erlassen hat. Dies ist wohl darin begründet, daß die l a t e n t e (geheime) K r i m i n a l i t ä t als relativ hoch angesehen werden muß. Denn ein Todesfall, bei dem nicht offensichtlicher Verdacht auf ein ungewöhnliches Geschehen vorliegt, kommt im allgemeinen gar nicht zur Anzeige. Oft taucht nur früher oder später ein Gerücht auf, das sich u. U. über Jahre hält, bis es endlich zur Kenntnis der Behörde kommt. Ist erst einmal durch den Giftnachweis e i n Verbrechen aufgedeckt, so ist es erstaunlich, wie viele unerkannte weitere Giftmorde bisweilen zu Tage kommen, wenn der Lebensweg des Täters aufgerollt wird. Deshalb geben die Statistiken über den Giftmord und den Giftmordversuch sicher keine zuverlässige Auskunft. Dagegen sind die Statistiken über den Selbstmord durch Gift wohl etwas verläßlicher. Soweit die Unglücksfälle durch Gift nicht als Betriebsunfälle oder Berufskrankheiten zum Tode führen, sind sie im allgemeinen ebenfalls mit Vorsicht aufzunehmen. Hinter vielen sog. Unglücksfällen durch Gift verbergen sich Selbstmorde, die von den Angehörigen verschleiert werden. Es ist auffällig, daß die statistischen Angaben sich in den letzten Jahren ziemlich ähnlich sind. Ein Vergleich zu früheren Jahrzehnten ist deshalb nicht möglich, weil die Statistiken früher nicht so weitgehend aufgeschlüsselt waren. Um einen ungefähren Einblick in die Bedeutung der Vergiftung bei den Todesursachen zu geben, sei das J a h r 1956 herausgegriffen, da es als repräsentativ für das letzte Jahrzehnt gelten kann. Aus der Statistik der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich folgendes:
Selbstmord (Selbstverstümmelung) Selbstmord durch Schlafund s c h m e r z s t i l l e n d e Mittel 928 451 477 S e l b s t m o r d durch im Haushalt verwendete Gase 1128 570 558 S e l b s t m o r d durch andere u n d n. n. bez. f e s t e , f l ü s s i g e u. g a s f ö r m i g e M i t t e l 1043 628 415 Erhängen und Erwürgen 4193 3174 1019 Ertränken 778 345 433 Feuerwaffen und Sprengstoffe 284 277 7 Schneidende und stechende Instrumente 138 84 54 Sturz aus der Höhe 315 136 179 Überfahrenlassen 440 327 113 auf andere u. n. n. bez. Art 136 85 51 9383
Verletzungen
durch dritte Personen Vergiftungen durch
insg.
Männ. Frau.
dritte Personen außer Unglücksfällen
25
14
11
56
35
21
Überfall (Angriff) mit Feuerwaffen und Sprengstoffen Überfall (Angriff) mit schneidenden und stechenden Instrumenten
75
49
26
296
167
129
Angriff auf andere und nicht näher bezeichnete Weise Schädigungen durch Eingreifen der Polizei
11
11
—
Hinrichtung
—
—
—
463
276
187
3306
Addiert man die Zahlen der Selbstmorde durch Schlaf- und schmerzstillende Mittel, durch im Haushalt verwendete Gase und durch andere und nicht näher bezeichnete feste, flüssige und gasförmige Mittel, so ergibt sich eine Gesamtzahl von 3.099 Selbstmorden durch Gift (Männer: 1.649, Frauen: 1.450). Das besagt, daß von allen Selbstmorden bei etwa 1/3 der Fälle Gift verwendet wird. Es ergibt sich auch eindeutig, daß Männer und Frauen beim Selbstmord durch Vergiftung einen etwa gleichen Anteil haben (->• Selbstmord). Um die Anteile der akzidentellen Vergiftungen an der Gesamtzahl der Unfälle überblicken zu können, wird auf die folgende Tabelle verwiesen: Unfälle
Mord und v o r s ä t z l i c h e
6077
insg. Männer Frauen
Kraftfahrzeugunfälle im Verkehr und außerhalb des Verkehrs 12211 Sonstige Fahrzeugunfälle im Verkehr und außerhalb des Verkehrs 1642 Unfälle durch Sturz 8600 Unfälle durch Maschinen, Feuer und Explosion, durch Feuerwaffen, Werkzeuge 1572
9895
2316
1353 3656
289 4944
1143
429
62
74
3824 447
830 320
29582 20380
9202
Zwischenfälle und Komplikationen nach nichttherapeutischen und therapeutischen Eingriffen u. Maßnahmen 136 Sonstige Unfälle und Unfälle ohne nähere Angaben 4654 Vergiftungen (Unfälle) 767
Gift und Vergiftung Im einzelnen gliedern sich die Unfälle durch Gift wie folgt: Lebensmittelvergiftungen (einschließlich ohne nähere Angaben, ausschließlich b. Angabe v. Bakterien als Erreger) Alkoholvergiftungen (Unglücksfälle) Vergiftungen durch andere u. n. n. bez. feste oder flüssige Substanzen Bleivergiftungen Vergiftungen durch Leuchtgas und andere Gase und Dämpfe
32
17
15
47
42
5
169 7
110 7
59 —
512
271
241
767
447
320
Es zeigt sich eindeutig, daß der Anteil an der Gesamtzahl der Unfälle sehr gering ist und daß bei den Unglücksfällen das Leuchtgas mit anderen giftigen Gasen und Dämpfen an der Spitze steht. Ergänzend zu diesen Übersichten seien noch statistische Angaben über die Verteilung in den verschiedenen Altersklassen wiedergegeben. Besonders auffallend in der Statistik sind die hohen Zahlen der Vergiftungen zwischen dem ersten und zehnten Lebensjahr. Es ist bekannt, daß das Kleinkind für Selbstvergiftungen besonders gefährdet ist. Beim Säugling ist die Selbstgefährdung etwas kleiner, weil er nur solche Substanzen durch den Mund aufnehmen kann, die sich in seiner unmittelbaren Reichweite befinden. Die Gefahr bei den 2—4-jährigen Kleinkindern liegt darin, daß sie neugierig und entdeckungsfreudig sind, während der Geruchsund Geschmackssinn noch relativ unentwickelt ist. Deshalb werden Dinge vom Kind ohne weiteres aufgenommen, die für den Erwachsenen offensichtlich übelschmeckend sind: Putzmittel, Fleckenwasser, Mineralsäuren, Laugen, Seifen, Eisessig, Schädlingsbekämpfungsmittel u. a. 5. Giflarten
und -Wirkungen
Eine herkömmliche Einteilung der Gifte ist die in: a) Anorganische Gifte, b) Organische Gifte (Kohlenstoffverbindungen), c) Pflanzengifte, d) Tiergifte. Unter Berücksichtigung der Wirkung lassen sich die Gifte nach Fühner unterscheiden in solche nach vorzugsweiser l o k a l e r S c h ä d i g u n g am Ort der Einwirkung und solche mit vorwiegend r e s o r p t i v e r W i r k u n g , die entfernt vom Orte der Anwendung nach der „Resorption", dem Eindringen in die Körperorgane, eintritt. Der Tod bei resorptiver Vergiftung tritt häufig durch Lähmung des Atemzentrums oder durch Schädigung des Kreislaufs ein. L o k a l e W i r k u n g haben die sog. „Ätzgifte", zu denen anorganische 22·
339
und organische Säuren, Phenole, Laugen, unter den Metallsalzen Sublimat und Chlorzink, lokal reizende Gase und Dämpfe (Kampfgase) gehören. Bei den übrigen Giften tritt die r e s o r p t i v e W i r k u n g in den Vordergrund oder ist n e b e n der lokalen Wirkung vorhanden. Nach der besonders hervortretenden Wirkung auf bestimmte Organe und Systeme unterscheidet man Blutgifte, Fermentgifte, Herzgifte, MagenDarm-Gifte, Lebergifte, Nervengifte usw. J e doch hat auch diese Einteilung etwas Unbefriedigendes. Mit dem Fortschritt in der pharmakologischen und toxikologischen Forschung und mit der näheren Kenntnis der Angriffspunkte in der Zelle und den Geweben wird sich vielleicht später einmal eine Einteilung nach dem Wirkungsmechanismus ermöglichen lassen. B l u t g i f t e , a) Gifte der Blutbildungsstätten: Radioaktive Substanzen, Benzol und seine Derivate ; b) Gifte, die die Auflösung der roten Blutkörperchen verursachen (Hämolyse): Arsenwasserstoff, Kaliumchlorat, Säuren und Seifen. Sie führen meist gleichzeitig zu Blutfarbstoffveränderungen und sind daher nicht scharf zu trennen von c) den Giften, die den Blutfarbstoff verändern. Das Blut wird auffällig rot durch Kohlenoxyd (Kohlenoxydhämoglobinbildung), braun durch Kaliumchlorat, Natriumnitirit, Nitroglycerin, Nitrobenzol, Anilin (Methämoglobinbildung); desgleichen durch Arsenwasserstoff, Säuren und Laugen (Hämatinbildung). An der Spitze der Blutfarbstoffgifte, j a an der Spitze aller tödlichen Gifte überhaupt, steht das K o h l e n o x y d (Kohlenmonoxyd, CO). Kohlenoxyd tritt bei allen Verbrennungen organischen Materials in mehr oder weniger erheblicher Menge auf. Die bekannteste Kohlenoxydquelle ist das Leucht- oder Kochgas. Hier ist es in einer Konzentration von 1 0 — 1 5 % , in USA sogar über 2 0 % enthalten. Generatorgas enthält 2 2 — 3 4 % , Hochofengase 2 4 — 3 1 % , Grubenbrandgase 0 , 1 — 3 % , Auspuffgase von Verbrennungsmotoren 3 — 6 % CO. Da das Kohlenoxyd eine wesentlich höhere Affinität zum Blutfarbstoff hat als der Sauerstoff, genügen bereits geringe Konzentrationen, um schwere, häufig tödlich endende Vergiftungen herbeizuführen. Bereits bei einerRaumluftkonzentration von 0,01% wird das Gas gefährlich. Konzentrationen von 0 , 0 5 — 1 % sind lebensgefährlich. Der Tod tritt je nach der Dauer der Einwirkung bei einem Sättigungsgrad des Blutes mit CO von etwa 60—70% ein. Der Anstieg des Kohlenoxydgehalts im Blut hängt von der Atemgröße und -frequenz ab und ist daher bei körperlicher Betätigung rascher als in Ruhe. Da sich kohlenoxydhaltige Gase im Raum oft schwadenförmig und nicht immer gleichmäßig verteilen, können in besonderen Fällen auch relativ unbedeutende Gasquellen (Düsen von Gasdurchlauferhitzern) zu Vergiftungen Anlaß geben. Aus
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iO CD TO C-ψ D TO IN IN IN CtH Ο ο σι 1 35 T-IM tH C D CH O •3 CD lO Rauschgifte, Alkoholismus). L u n g e n g i f t e : Mineralsäuredämpfe, Chlor, Phosgen, Schwefeldioxyd, Ammoniak, nitrose Gase, Formaldehyd, Phenole, Senföl. Chronische Einatmung von Kieselsäure-, Asbest-, Thomasschlackenstaub. G e b ä r m u t t e r g i f t e : Zu Fehlgeburten führen: Phosphor, Blei, Salizylsäure, Chinin, Mutterkorn, Petersilie (Apiol), Sadebaum, Lebensbaum, Wermut, Rosmarin, auch manche Sexualhormone (Cyren B). Die Abortivwirkung ist meist nur ein Symptom einer Allgemeinvergiftung. A u g e n g i f t e : Sehstörungen bis zur Erblindung bei: Atoxyl, Blei, Thallium, Schwefelkohlenstoff, Trichloräthylen, Methylalkohol, Chinin, Filixextrakt (Wurmfarn). Krebserzeugende Gifte: Asbeststaub (Lungenkrebs), Arsenverbindungen, Teer (Benzpyren), Paraffin (Hautkrebs), Aromatische Aminoverbindungen (Blasenkrebs), Buttergelb (Leberkrebs). Kapillargifte: Arsenik, Brechweinstein, Kolchizin, Rizin, Senföl, Harze, Primel, Kantharidin, Bienengift. F e r m e n t g i f t e : Sie hemmen wichtige fermentative biochemische Vorgänge in der Zelle und verhindern dadurch die Bildung lebenswichtiger Stoffwechselprodukte oder ermöglichen die Anreicherung giftiger Stoffwechselprodukte: Fluorsälze, Jodessigsäure, Blausäure, chlorierte Kohlenwasserstoffe, Thiophosphorsäureester (E 605, Systox, Metasystox), DDT, HCH, Chlordan. Ε 605 (p-Nitrophenyldiäthylthiophosphorsäureester): Dieser Stoff wirkt bereits in sehr geringen Konzentrationen hemmend auf die Cholinesterase und führt somit zu einer Azetylcholinanreicherung an den Wirkungsorten dieser Cholinesterase, den motorischen Endplatten der Nerven. Hiermit stimmt im wesentlichen das Vergiftungsbild bei E-605-Vergiftungen überein. Die tödliche Dosis für einen Erwachsenen liegt bei etwa 0,3 Gramm, wenn das Mittel in konzentrierter oder verdünnter Form durch den Mund aufgenommen wird. Ε 605 wird auch durch die Haut resorbiert, die tödliche Dosis beträgt dann etwa 3 Gramm des Wirkstoffes. Bei akuter Vergiftung wird zuerst Schwächegefühl, dann Benommenheit und schließlich allgemeines Muskelzittern beobachtet, das in ein klonisches Krampfstadium mit Bewußtlosigkeit übergeht. Es bildet sich meist ein Lungenödem aus, die Speicheldrüsen sondern in großer Menge glasigen Schleim ab, selten wird echtes Erbrechen beobachtet. Beim Todeseintritt kommt es häufig zur Blasen- und Mastdarmentleerung. Die Pupillen sind außerordentlich eng. Der Zeitpunkt des Todeseintritts hängt wesentlich von der Giftmenge ab. Wird die mehrfache tödliche
Dosis aufgenommen, so kann der Tod bereits nach wenigen Minuten eintreten. Ist die tödliche Dosis nur knapp erreicht, so dauert die Vergiftung etwa V2 bis 1 Stunde, bisweilen noch länger. Bei der vorangegangenen Betrachtung von Giften unter dem Blickwinkel der Organ- oder Systemwirkung darf nicht vergessen werden, daß die Giftwirkung sehr viel komplizierter und vielfältiger ist und wir den Mechanismus bei den meisten Giften nicht genau kennen. 6. Giftmenge
und
Giftempfindlichkeit
Ob eine Substanz unter bestimmten Bedingungen als Heilmittel oder Gift wirkt, hängt von der Menge und Konzentration ab, in der es verabreicht wird. Auch die Geschwindigkeit der Zufuhr, Anwendungsform und -art sind von entscheidender Bedeutung für den Wirkungseintritt, denn diese haben einen Einfluß auf die Resorption und die Verteilung im Körper. Bei einigen Giften ist ein Schwellenwert im Blut und in den Organen bekannt. Wenn dieser nicht erreicht wird, kann die Giftwirkung ausbleiben. So kreisen zahlreiche Stoffe im normalen Organismus oder sind darin abgelagert, die zu den Giften zu rechnen sind (ζ. B. Arsen, Blei, Quecksilber, Thallium). Nur sind die Mengen so gering, daß sie praktisch keine Giftwirkung entfalten. Bei Giften, die im Körper leicht entgiftet oder schnell ausgeschieden werden, kommt es zu keiner Ansammlung. Bei schwer zersetzlichen Giften oder bei solchen mit langer Ausscheidungsdauer kann das Gift im Körper kumulieren, auch wenn es in kleinsten Dosen öfter aufgenommen wird. Nicht jeder ist gegen Gifte gleich empfindlich; auch derselbe Mensch kann zu verschiedener Zeit verschieden empfindlich sein. Deshalb verlaufen Vergiftungen qualitativ und quantitativ fast bei jedem etwas anders. Entscheidende Faktoren sind Alter, Konstitution, Disposition (Tagesrhythmik, Erkrankungen). Manche Menschen zeigen eine Ü b e r e m p f i n d l i c h k e i t (Allergie) gegen ganz bestimmte Gifte. Ist diese angeboren, so wird sie als Idiosynkrasie bezeichnet, ist sie durch Sensibilisierung infolge wiederholter Einwirkung von Giften (als Antigenen) erworben, so spricht man von Allergie. Idiosynkrasien werden gegen manche Gifte (Chinin, Jod) oder auch Nahrungsmittel (Erdbeeren, Krebse, Fische) beobachtet. Die allergische Reaktion gegen Gifte (auch Bakteriengifte und artfremde Eiweißkörper) kann bei wiederholter Zufuhr so heftig werden, daß es zu einem tödlichen anaphylaktischen Schock kommen kann. Bei häufiger Zufuhr von Giften kann eine G e w ö h n u n g eintreten. Sie kann so groß werden, daß hohe Dosen, die für den Ungewöhnten
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Gift und Vergiftung
tödlich wären, ohne stärkere Wirkung vertragen werden (ζ. B. Arzneimittelsucht, Arsenikesser). In der experimentellen Toxikologie wird die Giftigkeit von Stoffen durch Angabe einer bestimmten Dosis pro kg Körpergewicht der T i e r a r t festgelegt. Ζ. B. letale Dosis (LD), die Dosis, welche meist letalen Ausgang zur Folge hat; absolute letale Dosis (LD 1 0 0 ), Dosis bei welcher 100% der Tiere sterben; mittlere letale Dosis (LD 5 0 ), Dosis bei welcher 50% der Tiere sterben; minimale letale Dosis (LD 2 6 ), Dosis bei welcher 25% der Tiere sterben. Fatal Dose (FD), Dosis bei der 25% der Tiere überleben. Dosis tolerata (Dos. toi.), Dosis bei welcher 75% der Tiere überleben; toxische Dosis (tox. Dos.), Dosis welche meist zu erheblichen toxischen Wirkungen führt. Beim M e n s c h e n sind die therapeutisch und toxisch wirksamen Dosen meist nicht so exakt bestimmbar; jedoch ist in der Arzneiverordnungslehre auf Grund ärztlicher Erfahrungen und Experimente am Menschen bei den wichtigsten Arzneimitteln die Einzeldosis (ED) als die im allgemeinen therapeutisch wirksame Einzelgabe, die Einzelmaximal-Dosis (EMD), Tagesdosis (TD), welche in 24 Stunden zu nehmen ist, Tagesmaximaldosis (TMD), die nicht ohne besondere Gründe überschritten werden darf, festgelegt. Bei Überschreitung dieser Dosen ist damit zu rechnen, daß das Heilmittel unerwünschte giftige Wirkungen entfaltet. In der Arbeitsmedizin kennt man noch den Begriff der maximalen Arbeitsplatzkonzentration (MAK) bei giftigen Gasen oder Dämpfen in der Industrie. Die tödlichen Dosen sind beim Menschen nur durch ärztliche Erfahrung unter Einbeziehung der Vorgeschichte oder durch nachträgliche gerichtsmedizinische und toxikologische Bearbeitung zu ermitteln. Die letalen Dosen sind demgemäß, auch wenn die Vorgeschichte einigermaßen gut bekannt ist, mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Die toxikologische Erfahrung am Tier kann nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen werden. Bei manchen Giften ist dies möglich, bei den meisten nicht. Nach dem Voranstehenden ist es erklärlich, daß die tödlichen Dosen beim Menschen mit großen Schwankungen behaftet sind. Sie beziehen sich auf Erwachsene mit Durchschnittsgewicht. T ö d l i c h e D o s e n der w i c h t i g s t e n (Erwachsene): Ätzgifte LD Mineralsäuren (H 2 S0 4 , HCl, HNO s ) per os etwa 10 g Fluorwasserstoffsäure per os 5—15 g Kieselfluorwasserstoffsäure per 5-15 g 20—50 g Essigsäure per os
Gifte
Oxalsäure per os Karbolsäure (Phenol) per os Nitrose Gase
5—30 g 6-10 g 0,5—1 mg/1 Luft 1li—1 Std. Kali- und Natronlauge per os 10—20 g Salmiakgeist per os 10—30 g Metalle Quecksilber (Sublimat) per os Quecksilber (Calomel) per os Bleizucker per os Mennige und Bleiweiß per os Bariumchlorid per os Thallium per os Arsen per os B l u t - und F e r m e n t g i f t e Kohlenoxyd
Blausäure HCN per os KCN per os Bittermandeln per os Kaliumchlorat per os Nitrite per os Nitrobenzol per os Narkotika, Hypnotika Äthylalkohol per os Methylalkohol per os Luminal per os Veronal per os Phanodorm, Medomin per os Noctal, Pernocton per os Adalin per os Chloroform, Äther, Chloräthyl, Benzin, Benzol, Petroleum per os
0,5 g 2-3 g 50 g 25 g 1-5 g etwa 1,0 g 0,1-0,2 g
0,4% CO d. Atemluft n. 30 Min. 0,2% CO d. Atemluft n. 2 Std. 0,1% CO d. Atemluft n. 5 Std. 0,06 g 0,25 g 60 Stück 10—30 g etwa 2,0 g 1,0 g
100—200 g 10—100 g 4-6 g ab 5 g ab 8 g über 15 g über 20 g 20—70 g
Alkaloide Morphin und Opiate per os Atropin per os Strychnin per os Nikotin per os
1-2 g 0,05—0,1 g 0,1-0,2 g 0,06-0,1 g
Schädlingsbekämpfungsmittel Zinkphosphid per os DDT per os Ε 605, Wirkstoff per os Ε 605, Wirkstoff percutan Systox, Wirkstoff per os Systox, Wirkstoff percutan Potasan per os Metasystox per os Hexachlorcyclohexan per os Schwefelkohlenstoff
2—3 g etwa 6 g 0,3 g 3g 0,3 g 3g etwa 0,5 g über 20 g über 20 g 10 mg/1 Luft
Gift und Vergiftung 7. Giftaufnahme und
-anwendungsform
a) A u f n a h m e w e g : Grundsätzlich sind folgende Bedingungen zu beachten: D u r c h den Mund (per os): Fester Stoff (zerkaut, aufgeschlämmt oder gelöst, mit oder ohne Vehikel), flüssiger Stoff (in Substanz oder in Lösung, mit oder ohne Vehikel). Manche Gifte sind leicht flüchtig, ζ. B. Blausäure Kp. 26°, so daß sie im Mund bereits verdampfen und dadurch über die Atemwege wirken, bevor es zu einer eigentlichen Resorption im Magen-Darm-Kanal kommt. D u r c h die A t e m w e g e : Reine Gase (Kohlenoxyd, Schwefelwasserstoff, Kohlenwasserstoffe, Kampfgase, Brandgase, Inhalationsnarkotika), zerstäubte Flüssigkeiten (zerstäubte Ungeziefermittel, ζ. Β. Β 605, Systox), Dämpfe von sublimierenden oder verdampfenden anorganischen oder organischen Verbindungen (zu beachten MAK). D u r c h E i n s p r i t z u n g (Injektion): Das Gift gelangt hierbei über den Injektionsort unter Umgehung des Pfortaderkreislaufes durch schnelle Resorption unmittelbar in die Blutbahn. In jedem Falle ist die Injektionsstichstelle mit Umgebung teils in Formalin fixiert (zur feingeweblichen Untersuchung zwecks Bestimmung des Zeitpunkts der Injektion) und teils unfixiert für die Giftbestimmung zu sichern. Intravenös: schnellste Art der Giftverteilung; Gifte sind im Blut und in den am besten durchbluteten Organen, ζ. B. Gehirn, Niere und Leber zu suchen, wenn der Tod nach kurzer Zeit eingetreten ist. Intramuskulär: Resorptionszeit bei wäßriger Lösung kurz; Wirkungsbeginn nach etwa 10 Minuten; bei auftretendem Hämatom Resorptionszeit verlängert, dementsprechend ist im Hämatom manchmal noch Giftnachweis möglich. Bei öligen Depotpräparaten ist der Nachweis des Giftstoffes bis zu Tagen möglich, das öl selbst oder andere Begleitstoffe sind zuweilen bis zu Wochen nachweisbar. Subkutan: da das Unterhautzellgewebe weniger gut durchblutet ist als die Muskulatur, ist die Resorptionszeit etwas verlängert; Wirkungsbeginn nach etwa 15 Minuten; bei Lipoidlöslichkeit des Mittels besteht Aussicht, einen Teil des Giftes in der Umgebung der Einspritzungsstelle nachzuweisen. Intrakutan: kommt vor beim Testversuch zur Verträglichkeitsprüfung von Seren; Giftnachweis in der Quaddel. D u r c h die H a u t (perkutan, transkutan): Zu unterscheiden ist, ob das Gift durch die unversehrte oder durch entzündete oder mazerierte Haut eingedrungen ist. Durch die unversehrte Haut ist Resorption besonders für lipoidlösliche
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Mittel möglich, ζ. B. Mitigal bei Krätze oder Sublimatalkohol bei Filzläusen. 3 g Ε 605 forte als Hauteinreibung können für den Todeseintritt genügen. — Die entzündete oder verletzte Haut resorbiert sehr leicht; auch nimmt die durch Salben mazerierte Haut manche Gifte schneller auf. Bei unklaren Todesfällen Salbenverbände und Hautstück sichern I An Kampfstoffe denken 1 D u r c h die S c h l e i m h ä u t e : Bindehaut (conjunctival): bei Verträglichkeitstest, Kocainmißbrauch u. ä. Nasenschleimhaut: Kocain-Schnupfer (auf Kriställchen achten). Scheidenschleimhaut (vaginal): Abtreibung, Mord, sexuelle Handlung, gynäkologische Behandlung, Schwangerschaftsverhütungsmaßnahmen. Gebärmutterschleimhaut (intrauterin): Luftembolie, Intoxikation durch Abtreibungsmittel. Darmschleimhaut (rectal): Narkosemittel, bei Kranken auch an Einlauf mit Vergiftungsabsicht denken. Schleimhaut der Harnwege: Medizinalvergiftung bei Lokalanaesthesie zur Vorbereitung einer Spiegelung. b) H ä u f i g k e i t und D a u e r der A u f n a h m e : Einmalige Aufnahme: Wirkung sofort: ζ. B. Blausäure, Wirkung nach Latenzzeit: bis zu einer Stunde: ζ. B. Schlaf- und Betäubungsmittel, nach Stunden: ζ. B. Nitrose Gase, Methylalkohol, giftige Pilze, Fleischvergiftung, nach Tagen und Wochen: ζ. B. Quecksilbervergiftung, beginnende Urämie, nach Monaten und Jahren: ζ. B . radioaktive Stoffe (je nach Wirkungsmechanismus und Halbwertszeit), cancerogene Stoffe. Mehrmalige Aufnahme: Bei in Schüben verlaufenden Vergiftungen an folgende Dosierungsmöglichkeit denken, da hierdurch evtl. ein Hinweis auf den Täter gewonnen werden kann: Kontinuierlich in kleinsten Dosen bis zum Tod, kontinuierlich bis zum Ausbruch der Krankheit, in längeren oedr kürzeren zeitlichen Abständen: jeweils bis zum Ausbruch der Erscheinungen, jeweils nach Gelegenheit, unabhängig von den Erscheinungen, jeweils bis zum Ausbruch der Erscheinungen, mit Wiederbeginn nach Abklingen der Erscheinungen. Letzte Dosis: Die Ermittlung des Zeitpunktes der letzten Dosis ist wegen Verteilung und Auffindungsort des Giftes und aus kriminalistischen Gründen erforderlich. Bestehen hierüber zu Lebzeiten Unklarheiten, so kann dieser Zeitpunkt u. U. durch laufende Kontrolle des Blutspiegels oder des Urinspiegcis ermittelt werden. (Bei Arsen und Thallium ζ. B. kann das Auffinden gifthaltiger Abschnitte der Kopfbehaarung der Bestimmung des Zeitpunktes von früheren oder der letzten Dosis dienen.) 8. Giftverteilung, -abbau und
-ausscheidung
Die Giftverteilung ist davon abhängig, ob das Gift akut oder chronisch zugeführt wurde. Bei der einmaligen Zufuhr ist deren Zeitpunkt be-
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Gift und Vergiftung
sonders entscheidend. Die Verteilung kann sich innerhalb von Stunden ganz wesentlich ändern. Sie ist außer von der Wasser- und Lipoidlöslichkeit auch von der spezifischen Organaffinität abhängig. Bei der Verteilung des Alkohols im Körper sind die Verhältnisse am besten bekannt, jedoch liegen auf toxikologischem Gebiet auch für andere Gifte und Arzneimittel durch das Studium des Blut- und Urinspiegels vielfältige Erfahrungen beim Menschen vor. Bei Thallium ζ. B. sind schon nach 1—2 Tagen reichliche Mengen im Skelettsystem zu finden, die von dort über das Blut an die Ausscheidungsorgane wieder abgegeben werden. Blei, Zink, Kadmium und Barium werden im Skelettsystem lange festgehalten und können selbst noch nach Jahren — bei besonderen Stoffwechsellagen — mobilisiert werden und Krankheitserscheinungen hervorrufen. Manche organischen Gifte kumulieren leicht, da sie entweder durch chemische Bindung oder besondere Löslichkeitsverhältnisse (ζ. B. im Zentralnervensystem) verankert werden. Die Speicherung mancher Gifte kann eine endgültige sein, ζ. B. die Ablagerung von Silber in Form des unlöslichen Sulfids in der Haut. Bei Aufnahme durch den Mund ist die Leber das erste Organ, das die Gifte Stunden bis Tage festhält, sie umbaut oder abbaut. In manchen Fällen kommt es gar nicht zur Ausbildung eines regelrechten Blutspiegels der Substanz selbst, weil diese ziemlich schnell umgewandelt wird (ζ. B. bei der Evipanaufnähme per os; nur bei sehr reichlicher Zufuhr entwickelt sich ein BarbituratBlutspiegel). Bei manchen Giften (ζ. B. beim Phanodorm und Adalin) entstehen mehrere Abbauprodukte. Ihre Entstehung ist von der Schwere der Vergiftung und der allgemeinen Stoffwechsellage abhängig. Da der Giftabbau oder -umbau (zum Teil zu gepaarten Glukuronsäuren) von der Funktionstüchtigkeit der Leber abhängig ist, so ist eine krankhafte Veränderung der Leber, die bereits zur Zeit der Giftaufnahme bestanden hat, entscheidend zu berücksichtigen bei der Frage, ob eine bestimmte Menge als tödliche Dosis in Betracht kommt. Das Gift kann ausgeschieden werden mit Harn, Kot, Atemluft, durch Haut (Schweiß), Haare und Nägel. Ob ein Gift oder ein Stoffwechselprodukt schnell oder langsam ausgeschieden wird, ist wesentlich von Art, Menge und zeitlicher Dosierung des Giftes abhängig. Besonders ausschlaggebend ist, ob das Gift selbst die Nierentätigkeit stört (ζ. B. Barbitursäuren, Quecksilber) oder ob zum Zeitpunkt der Giftaufnahme eine chronische oder akute Nierenerkrankung vorgelegen hat. Nach einmaliger Aufnahme werden manche Gifte über Tage ausgeschieden (ζ. B. nach einer therapeutischen Dosis von Bromsalzen). Nach
einer akuten, nicht tödlich ausgelaufenen Thalliumvergiftung ist das Gift bisweilen, noch nach 8 Wochen und länger festzustellen. Ähnliches gilt für Arsen, Blei und Quecksilber. 9. Erkennung der Vergiftungen Vergiftungen können durch den Vergiftungsverlauf, die Vergiftungserscheinungen und den Giftnachweis erkannt werden. Aber nur wenige Gifte führen zu charakteristischen Krankheitsbildern (Strychnin, Morphin, Schlafmittel, Kohlenoxyd, Ätzgifte), deren akuter oder chronischer Verlauf gut bekannt ist. Wenn als Mordund Selbstmordmittel ungebräuchliche Gifte angewandt werden, so werden erfahrungsgemäß diese Vergiftungen meist vom behandelnden Arzt verkannt. Trotz der immer besser werdenden Nachweismöglichkeit bleibt die kriminelle Vergiftung ein ernstes Problem, denn der analytische Fortschritt wird durch die unübersehbare Vielzahl der Gifte im Beruf und täglichen Leben weitgehend aufgehoben. Vergiftungen, deren Symptomatologie in kürzeren toxikologischen Lehrbüchern nicht zu finden ist, dürften in den allermeisten Fällen nicht aufgedeckt werden. Die zahlreichen neueren, in ihrer toxischen Wirkung noch nicht hinreichend bekannten Arzneimittel tragen mit dazu bei, daß die Art des Giftes oft nicht erkannt wird. Die letzten zwei Jahrzehnte haben gelehrt, daß von vielen allgemein gebräuchlichen Arzneimitteln uns manche gesundheitszerstörende N e b e n w i r k u n g gar nicht bekannt ist, wenn sie erst bei längerem Gebrauch in Erscheinung tritt. Auch können durch chronischen Mißbrauch von Arzneimitteln Vergiftungsbilder entstehen, die den eigentlichen entgegengesetzt sind (Wirkungsumkehr). Von manchen Stoffen werden neuerdings p o t e n z i e r e n d e W i r k u n g e n beschrieben, die uns bisher noch gar nicht geläufig waren (wie ζ. B. bei den Phenothiazinkörpern). Es ist zu erwarten, daß in naher Zukunft noch viele Stoffe bekannt werden, denen eine ähnlich „potenzierende" Eigenschaft zukommt. Durch Verwendung verschiedener Mischungen von Arzneien oder Giften können undurchschaubare Bilder entstehen. Wird bei bestehenden chronischen oder akuten Krankheiten zusätzlich ein Gift in krimineller oder nicht krimineller Absicht aufgenommen, so paßt oft das Zustandsbild weder in ein geläufiges Krankheitsbild noch in ein bekanntes Vergiftungsbild. Um in solchen Fällen zur richtigen Diagnose zu gelangen, sind ein hochentwickelter klinisch-chemischer Laboratoriumsapparat und gründliche Kenntnisse in der gesamten Toxikologie unabdingbare Voraussetzung. Ist die Diagnose bereits schwierig, wenn solche „Mischzustände" zwischen wohlbekannten Krankheiten und be-
Gift und Vergiftung kannten Vergiftungen bestehen, so wird sie unübersehbar, wenn bei einer wohlbekannten chronischen oder akuten Erkrankung ausgefallene Gifte verwendet werden, wie sie in der Industrie gebräuchlich sind. Nur bei einer kleinen Anzahl der vielen chemischen Verbindungen, die in der Industrie als Ausgangs-, Zwischen-, Abfall- oder Endprodukte existieren, haben wir ausreichende Kenntnisse über die Wirkungen. Als ein instruktives Beispiel sei das Lysergsäure-Diäthylamid (LSD) genannt, dessen Giftwirkung im chemischen Laboratorium durch Zufall entdeckt wurde. Bei Aufnahme von nur 50 Gamma (0,05 mg) entstand eine schwere Psychose, die an einen schizophrenen Zustand erinnerte. Bei kriminellen Vergiftungen chronischerArt muß daran gedacht werden, daß sich Allergien entwickeln können, die an bekannte Berufsallergien erinnern. Hat man diese Möglichkeiten vor Augen, so kann man sich leicht vorstellen, wie durch Kombination eines bekannten Giftes mit einem unbekannten Gift Krankheitsbilder entstehen können, die nirgends beschrieben sind. Würden nicht das kriminelle Moment und die damit verbundene Täuschung hineinspielen, Selbstmordversuche oft verschleiert, verschwiegen oder vorgetäuscht werden, so wäre die Diagnose und Therapie auf Grund einer richtigen und wahren Anamnese für den praktischen Arzt und den Kliniker insofern um vieles erleichtert, als er die Möglichkeit hätte, sich schnell im einschlägigen Schrifttum zu orientieren. In dem Bereich der forensischen Vergiftungslehre, in dem wir uns hier bewegen, müssen jedoch alle diese genannten Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Die meisten kriminellen Vergiftungen werden deswegen verkannt, weil sie gar nicht erwogen werden, wenn sich der Verdacht nicht aus äußeren Umständen zwingend aufdrängt. Ist das Vergiftungsbild nicht klassisch und klingt es an ein bekannteres Krankheitsbild an, so wird bei geordneten Familienverhältnissen der Gedanke des Selbstmordes oder gar des Mordes bewußt oder unbewußt beiseite geschoben. Um die Vielfältigkeit der Symptome bei Vergiftungen in ein schnell überschaubares System zu bringen und die dringliche Diagnostik zu erleichtern, hat H. Baur den folgenden „Vorschlag eines symptomatischen Vergiftungssteckbriefes" gemacht: B e w u ß t l o s i g k e i t : a) Schlagartig eingetretene, akuteste; b) als besondere Schlaftiefe imponierende; c) aufgetreten im Gesamtbild offensichtlich höchster Lebensbedrohung; d) fehlende: erhaltenes Bewußtsein bei extrem bedrohlichen Zuständen. P s y c h o t i s c h e S y m p t o m e : Kategorische Angst; Euphorie; massive Fehlhandlungen; agressive Handlungen; Verfolgungsgefühl und
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Abwehr; Halluzinationen; Delirien; Exzitation; Toben; Retrograde Amnesie. K r ä m p f e : a) Epileptischer, tonisch-klonischer Krampftyp; b) Muskelzuckungen, Zuckungsbereitschaft. R e f l e x s t ö r u n g e n : a) Hyperreflexie mit Pyramidenzeichen; b) Areflexie. P u p i l l e n s y m p t o m e : a) Enge Pupille, reaktionslos oder noch reagierend; b) weite Pupille bei fehlender oder teilweise erhaltener Lichtreaktion. A u f f ä l l i g e H a u t f a r b e n : a) Tot: Rote Körper- und Leichenfarbe; rote heiße trockene Haut; rote Gesichtsfarbe; b) blau: Cyanose und volle Venen; blaßgraue Cyanose und leere Venen; schwarze Cyanose. H a u t b l u t u n g e n : Außer Hautblutungen auch Blutfluß aus dem Verdauungskanal oder den Harnwegen. S c h w e i ß s y m p t o m e : a) Warme schweißbedeckte Haut; b) kalte nasse Haut. Ödeme u n d E x s i k k o s e : A t m u n g s z e i c h e n : a) Stenoseatmung; b) Lungenödem; c) tiefe, schöpfende, evtl. beschleunigte, sog. Kußmaulsche Atmung (Azidose); d) flache, evtl. verlangsamte Atmung (Alkalose); e) verlangsamte Atmung, CheyneStockes'sche Atmung bei freien Atemwegen und fehlender subjektiver Atemnot; f) Atemstillstand (Scheintod I). K r e i s l a u f s y m p t o m e : a) Die Diskrepanz: Guter Kreislauf und Bewußtlosigkeit; b) Frequenter Puls, niedriger Blutdruck, leere Venen, graublaue Cyanose. M a g e n - D a r m - S y m p t o m e : a) Das Nauseabild vom Speichelfluß bis Erbrechen; b) ausgesprochene Parasympatikusbilder mit starkem Speichelfluß, Brechen, auch Durchfall und Koliken; c) Erbrechen und Bewußtlosigkeit; d) blutige Durchfälle. G i f t f ä h r t e n u n d - s p u r e n : a) Leicht sichtbare Schorfe und Ätzungen; b) Giftgerüche; c) Giftverstecke; d) Giftquellen. Besteht bei einem unklaren Todesfall der Verdacht einer Vergiftung, so ist eine gerichtliche Sektion (§§87, 88, 89, 91 StPO) vorzunehmen. Hierbei wird nach den „Vorschriften über das Verfahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichen" vorgegangen (vom 31. 5.1922). § 21 enthält zum Teil ins einzelne gehende Anweisungen über die Durchführung der Sektion und die Sicherung von Leichenteilen. Dies ist notwendig, da auf Grund der Sektion über eine Vergiftung im Hinblick auf den Verlauf, Phase und Dauer der Vergiftung nur etwas ausgesagt werden kann, wenn einzelne Organe getrennt und so aufbewahrt werden, daß Gifte sich weder verflüchtigen können noch einer unnötigen weiteren Zersetzung in den Leichenteilen ausgesetzt sind. Der Obduzent hat
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Gift und Vergiftung
sich insbesondere die drei Giftwege zu vergegenwärtigen: I. Giftaufnahmeweg; II. Giftverteilung und -speicherung; III. Giftausscheidungsweg. Er sollte außerdem bei der Spurensicherung (Giftreste, Erbrochenes, Urin und Kot) an der Leiche und am Auffindungsort behilflich sein, um den Verlust wichtiger Spuren zu vermeiden. Die Erkennung einer Vergiftung stützt sich dann auf die Vorgeschichte über die bekannt gewordenen Erscheinungen, den Obduktionsbefund, die mikroskopischen und histologischen Untersuchungen und schließlich auf die chemischen, pharmakologischen und pharmakognostischen Laboratoriumsuntersuchungen. Obwohl bei Verdacht eines Vergiftungstodes die gerichtliche Sektion möglichst schnell durchgeführt werden soll, vergehen doch meist 1—2 Tage. Handelt es sich um Sektionen, die nicht am Ort eines Instituts vorgenommen werden, so können außerdem noch Stunden oder Tage verstreichen, bis die Organe an die Untersuchungsstelle gelangen. Dieser Umstand wird meist nicht gebührend gewürdigt, so daß vielfach von der falschen Annahme ausgegangen wird, der chemische Untersuchungsbefund entspräche dem wahren Giftbefund zur Zeit der Sektion oder gar dem zur Zeit des Todeseintritts. Um einen Giftbefund im Hinblick auf das zeitliche Geschehen im Körper richtig zu werten, ist es angebracht, wenn man sich folgende zeitliche Phasen vergegenwärtigt: 1. Giftaufnahme bis zum Tod: a) Giftaufnahme bis zum Beginn der Vergiftungserscheinungen, b) Beginn der Vergiftungserscheinungen bis zur Agonie, c) Agonie bis zum Tod. 2. Tod bis zur Sektion. 3. Sektion bis zum Beginn der Untersuchung. Es ist verständlich, daß bei den zwei letzten Zeitabschnitten Umwelteinflüsse wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Leichenflora und Leichenfauna einen entscheidenden Einfluß haben, wenn nicht vom Augenblick des Todes an eine künstlich „winterliche" Umwelt — durch Verbringen des Leichnams in einen Kühlraum und sofortiges Aufbewahren der bei der Sektion entnommenen Organe im Kühlschrank — geschaffen wird. Die Feststellung der Todesursache bei einer e x h u m i e r t e n Leiche gehört zu den schwierigsten Aufgaben des Gerichtsmediziners. Wegen der Vielzahl von Einflüssen, denen ein Leichnam ausgesetzt ist, wird jeder Fall sein eigenes Gepräge haben, dessen Ausmaß sich vor der Enterdigung nicht mit Sicherheit angeben läßt. Die Erfahrung lehrt, daß selbst bei fortgeschrittenen Leichenveränderungen oft noch eine einwandfreie Klärung der Todesursache möglich ist. Aus diesem Grunde ist die Exhumierung einer Leiche — ohne eigentlich zeitliche Begrenzung — in den
meisten Fällen zu empfehlen, wenn das Gerücht einer Vergiftung auftaucht. Über die allgemeine Zweckmäßigkeit der Exhumierung als Beweismittel in der Rechtspflege besteht heute kaum noch ein Zweifel. Während die toxikologische Analyse der Metallgifte in exhumierten Leichen auf chemischem und physikalischem Wege fast unbegrenzt aussichtsreich erscheint, sind die Verhältnisse beim Nachweis der nichtmetallischen, insbesondere der organischen Gifte wesentlich ungünstiger. Wenn man berücksichtigt daß auch im frischen Leichenmaterial die gerichtsmedizinisch-toxikologische Untersuchung auf Schwierigkeiten stoßen kann, so wird dies erst recht in Leichenteilen zu erwarten sein, die je nach Länge der Zeit und den besonderen Umständen Umwandlungs- und Auflösungsprozessen bis zur Skelettierung unterworfen waren. Auch hierbei ist es gut, wenn man sich die einzelnen zeitlichen Phasen, in denen sich die Veränderung der Organe und damit der Gifte vollziehen kann, für den besonderen Fall der Exhumierung vor Augen hält: 1. Gif taufnähme bis Tod; 2. Tod bis Beerdigung; 3. Beerdigung bis Exhumierung; 4. Exhumierung bis Untersuchung. Nach der Sektion ist grundsätzlich eine möglichst rasche Untersuchung anzustreben. Dies gilt in besonderem Maße für exhumierte Leichenteile, da diese bei der Änderung des Milieus (Verbringung an die Erdoberfläche, Luftzutritt und Verdunstung von Ammoniak usw.) chemischen Veränderungen ausgesetzt sind, die sich innerhalb weniger Stunden bereits in Farbumschlägen der herausgenommenen Organe und Schnittflächen ausdrücken. Diese Farbänderungen sind schon während der Sektion zu beobachten. Solchen Vorgängen liegen u. a. Änderungen des Redoxpotentials und der Wasserstoffionenkonzentration zugrunde. Der Nichterfahrene wird sich bei der Übersendung des Untersuchungsmaterials denken, daß es auf ein paar Tage nicht ankommt,, wenn die Leiche bereits einige Jahre im Erdgrab gelegen hat. Wird aber nicht für beschleunigte Untersuchung gesorgt, so kann es geschehen, daß ein Gift oder sein Abbauprodukt kurz nach der Exhumierung eben noch hätte nachgewiesen werden können, sich aber durch die weiteren Veränderungen zwischen Exhumierung und Untersuchung dem Nachweis entzogen hat. Jeder gerichtsmedizinische und toxikologische Sachverständige weiß aus seiner Praxis, daß Giftnachweise bei exhumierten Leichen gar nicht so selten möglich gewesen sind. Überblickt man die einschlägige Literatur, so überrascht die relativ geringe Anzahl von Publikationen auf diesem Gebiet. Es ist aber anzunehmen, daß eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen im nicht veröffentlichten Erfahrungsgut zahlreicher Untersucher vorhanden ist.
Gift und Vergiftung a) Gelungene N a c h w e i s e v o n Metallg i f t e n : Arsen bis zu 9 Jahren; Thallium bis zu 8 Jahren; Blei bis zu 97a Jahren; Barium nach 5 Jahren, Antimon bis zu 5 Jahren; Quecksilber nach 1 Monat. b) Gelungene Giftnachweise von s o n s t i g e n a n o r g a n i s c h e n G i f t e n : Kohlenoxyd bis zu 18 Monaten. (In einer bei Zimmertemperatur aufbewahrten Blutprobe wurde noch nach 35 Jahren Kohlenoxydhämoglobin nachgewiesen.) Phosphor (gelb) bis zu 157 2 Monaten; Flour nach 53 Tagen und „einigen" Wochen; Blausäure bis zu 180 Tagen; Mineralsäuren bis zu 23 Tagen. c) Gelungene G i f t n a c h w e i s e von org a n i s c h e n G i f t e n : Atropin und Skopolamin bis zu 3 Jahren; Morphin und Derivate bis zu 8 Jahren; Colchicin bei Kaninchen und Hundekadavern bis zu 47 2 Monaten; bei einer Leiche noch nach 9 Monaten; Akonitin bis zu 16 Monaten; Physostigmin bis zu 87 2 Monaten; Pilocarpin und Daturin nach 7 Monaten; Digitalin nach 5V2 Monaten; Veratrin, Santonin und Curarin nach 4 Monaten; Strychnin bis zu 12 Jahren; Kocain bis zu 201 Tagen; Bromoform und Chloroform bis zu 22 Monaten; Adalin nach 4 Wochen; Barbitursäure und Derivate bis zu 5 Jahren; Ε 605 nach mehreren Monaten. Bei k r e m i e r t e n Leichen kann eine Untersuchung der Asche versucht werden, wenn die Frage nach anorganischen Giften auftaucht. Nachgewiesen werden konnten bisher u. a. Blei, Arsen, Barium, Kupfer und Thallium. Es muß bedacht werden, daß bei den Kremationstemperaturen von 1000 bis 1200° C viele Metalle und ihre Oxyde stark flüchtig sind und dadurch Verluste eintreten. Auch besteht die Gefahr der Einschleppung von Giften durch Beigaben zur Leiche und durch vorher verbrannte Leichen. 10. Der Nachweis
von
Giften
Besteht bei einem Todesfall von vornherein Vergiftungsverdacht, so sind besondere Vorschriften zu beachten. § 91 StPO: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. Der Richter kann anordnen, daß diese Untersuchung unter Mitwirkung eines Arztes stattfindet. Der wichtigste Nachweis für viele Gifte ist der chemische. Neben den klassischen Methoden zum Nachweis von organischen und anorganischen Giften haben sich in den letzten Jahrzehnten neue Verfahren auf physikalisch-chemischer oder rein physikalischer Grundlage herausgebildet, die es ermöglichen, die Erfassungsgrenzen und die
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Identifizierung zu verbessern. Genannt sei hier vor allem hinsichtlich des Nachweises der Anwesenheit und der Trennung von Stoffen die Papierchromatographie, außerdem hinsichtlich der Identifizierung die Mikroschmelzpunktbestimmung, Kristalloptik, Röntgenfeinstrukturanalyse, Emissions- und Absorptionsspektralanalyse im sichtbaren, ultravioletten und infraroten Spektralbereich und die Gaschromatographie. (Über weitere Verfahren ->• Chemische Untersuchungsmethoden.) Manche Gifte lassen sich chemisch nicht eindeutig identifizieren. Sie sind aber im pharmakologischen Versuch oft durch ihre Wirkung auf Tiere, isolierte Organe oder Organteile zu erkennen (ζ. B. Herzgifte am isolierten Froschherz). Die Prüfung auf Fermentgifte kann mittels biochemischer Verfahren vorgenommen werden. Sind giftige Pflanzen oder Tiere aufgenommen worden, so können diese u. U. auf pharmakognostischem Wege im Magen-Darm-Kanal, Erbrochenem oder Kot festgestellt werden. Der toxikologische Analytiker muß den Reinheitsgrad seiner Chemikalien, die Giftaufnahmeund Giftabgabefähigkeit seiner Geräte je nach Fragestellung laufend kritisch kontrollieren. Das Untersuchungsmaterial muß nach einem sorgfältig durchdachten Arbeitsplan so aufgeteilt werden, daß in j e d e m F a l l e Material (wenn möglich Vs des übernommenen) für eine Nachprüfung durch einen weiteren Gutachter oder Obergutachter zur Verfügung bleibt. 11. Der toxikologische
Sachverständige
Die wichtigste Voraussetzung für die Sachverständigentätigkeit in der forensischen Toxikologie — die als spezielles Gebiet zwischen Chemie, Medizin und Recht steht — ist die, daß der Sachverständige die Erkenntnis und das Eingeständnis der Grenzen eigener Leistungsfähigkeit hat. Ist das Bewußtsein der Begrenztheit aller fachlichen Fähigkeiten schon auf anderen Begutachtungsgebieten bedeutungsvoll, so ist die richtige Selbsteinschätzung in allen Überschneidungsfragen auf diesem Gebiet von ganz besonderer Tragweite, da sie entscheidend für das Gesamtergebnis bei der Bearbeitung eines Falles sein kann. Eine weitere Grundvoraussetzung für den toxikologischen Sachverständigen ist seine bedingungslose Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dem gestellten Fragenkomplex wie den Prozeßbeteiligten gegenüber. Dazu gehört auch, daß eine Basis gegenseitiger Achtung unter allen an der Untersuchung eines Falles Beteiligten geschaffen wird, die keinesfalls durch Kampf um Geltung und Vorrang der Person oder der Institution beeinträchtigt werden darf.
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Gift u n d Vergiftung — Glücks- u n d Falschspiel Monographien
Zeitschriftenaufsätze
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H. B a u r : Der bewußtlose Patient mit exogener Intoxikation. Monatskurse für die ärztliche Fortbildung 5 (1955) S. 243. H. B a u r u. Μ. v. C l a r m a n n : Vergiftungen (Fortschritte in der Erkennung und Behandlung) Wien. Med. Wschr. 106 (1956) S. 1053. E. W e i n i g : Die Nachweisbarkeit von Giften in exhumierten Leichen. DZGerMed. 47 (1958). Archiv für Toxikologie und Sammlung der Vergiftungsfälle. EMIL WEINIG
GLÜCKS- UND FALSCHSPIEL A . Allgemeines ü b e r dag Spiel Spiele als elementare Lebensäußerung waren v o n jeher etwas Selbstverständliches. Sie entstanden u n d e n t s t e h e n überall, sind zugleich uralt u n d ganz neu. Unter Spiel versteht m a n allgemein eine Tätigkeit u m ihrer selbst willen, die m i t Anregungen, Erregungen, Affekten u n d m i t einem Ausruhen anderer Kräfte verbunden ist. E s ist ein Beitrag zur Lebensbejahung, eine Überschußtätigkeit ohne Nützlichkeitscharakter. E i n Irrtum wäre es anzunehmen, daß nur dort Werte entstehen können, w o bestimmte Ergebnisse in zweckvoller Arbeit unmittelbar angestrebt werden. Gelöst v o m belastenden, betriebs a m e n Alltag, ins Spiel vertieft, können gleichfalls die Voraussetzungen für die E n t s t e h u n g schöpferischer Werte geschaffen werden. Es werden nämlich Kräfte frei, die i m Existenzkampf angespannt, belastet u n d gebunden sind. Der Mensch hat seinen Spieltrieb geordnet, ihn geistvoll m i t einem Sinn erfüllt u n d aus i h m Regeln u n d Spielsysteme entwickelt. Überläßt er dabei, dem kultischen Ursprung folgend, dem Zufall allein die Entwicklung, strebt er nur Fortunas Glück an, dann spielt er u m dieses Glück, u n d wir nennen sein Spiel ein Glücksspiel. A u c h die Hoffnung auf das Glück u n d das Spiel u m das Glück sind so alt wie die Menschheit. Selbst der moderne Mensch m u ß den unberechenbaren Zufall anerkennen u n d fühlt seine Machtlosigkeit gegenüber den Kräften der Unendlichkeit. D a s Glücksspiel ist also auf den Zufall abgestellt. Der Zufall k a n n sogar mechanisiert werden, u n d an diese Mechanisierung kann sich ein Spiel knüpfen. Auch A u t o m a t e n können zum Glücksspiel verwendet werden. Nie aber ist der ablaufende mechanische oder automatische Vorgang Spiel. Erst der Spieler macht ein Spiel aus ihm, sein Spiel mit oder an ihm. Aber auch bei d e m mechanischen Glücksspiel ist der Zufall, ist das Gesetz der Wahrscheinlichkeit das Entscheidende. Bei allem darf nicht übersehen werden, daß das Gewinnenwollen dem Spiel an sich nicht fremd ist,
Glücks- und Falschspiel sondern zu den Elementen des Spiels gehört —• wie das Verlierenkönnen. Und im Normalfall ist dieser ideell, nicht materiell bestimmte Wunsch auch das entscheidende Element in der Freude am Glücksspiel. Weil der Zufall als solcher nicht immer hinreichendes Interesse bietet, muß, um den Reiz des Glücksspiels zu erhöhen, die Spieler in Spannung zu halten, an das Spiel eine Erwartung geknüpft werden. Deshalb wird es mit Geldeinsätzen gespielt und ist um so spannender, je höher die Einsätze sind. Ziel des Spiels ist nun nicht mehr das Spiel selbst, sondern der mit ihm verbundene Gewinn. Das Glücksspiel ist also eine seltsame Mischung von reinem Spiel und dem Streben nach materiellen Gütern. Nach Zeiten des Mangels und der Not werden die während der Notzeit ruhenden Spiele wieder aufgenommen, mit ihnen im erhöhten Maße die Glücksspiele. Da sie mit Einsätzen verbunden sind, besteht die Möglichkeit, den Mangel in Überschuß zu wandeln. Die Gewinnsucht wird gereizt, und leicht kann in eifrigen Glücksspielern der Wunsch erwachen, an Stelle des Zufalls etwas Sichereres, ihre Geschicklichkeit, zu setzen. Wo aber die Geschicklichkeit den Ausschlag gibt, dort verschwinden Zufall und Glücksspiel. So ist auch der Falschspieler, der die Regeln des Glücksspiels betrügerisch verletzt, kein Glücksspieler mehr. Die Gefahr, daß eifrige Glücksspieler zu gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Spielern und diese wiederum zu Falschspielern werden, ist groß; wir werden von ihr noch hören. Das unerlaubte und das gewerbsmäßige Glücksspiel hat sich in den Jahren nach 1948 derart ausgebreitet, daß im Interesse der Bevölkerung versucht werden muß, diesem Treiben Einhalt zu gebieten, es zu überwachen, auf ein tragbares Maß zu beschränken, schlimmste Auswüchse zu verhüten und unlautere Elemente auszuschalten. Der Materialismus, die Maßlosigkeit und Oberflächlichkeit unserer Zeit und die Industrialisierung des Spielbetriebes trugen dazu bei, aus dem ursprünglich frohen, anregenden Spiel eine Gefahr werden zu lassen. Auch gilt es, das Interesse der Gemeinschaft an der Eindämmung der Spielsucht zu wecken. B. Die Rechtslage 1. Die strafrechtliche
Situation
a) Das g e l t e n d e R e c h t : Das Glücksspiel ist nicht schlechthin verboten. Unter welchen Voraussetzungen eine Bestrafung wegen verbotenen Glücksspiels eintreten kann, regeln die §§ 284 bis 286 StGB, das Rennwett- und Lotteriegesetz und einige Sondervorschriften. Nach § 284 StGB sind folgende Handlungen strafbar: das Veranstalten eines Glücksspiels, das
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Halten eines Glücksspiels und das Bereithalten von Einrichtungen für das Glücksspiel; nach § 284 a StGB: die Beteiligung als Spieler an einem nicht genehmigten öffentlichen Glücksspiel. Der § 285 StGB behandelt das gewerbsmäßige Glücksspiel, und schließlich begründet der § 286 die Strafbarkeit der unbefugten Veranstaltung einer öffentlichen Lotterie oder Ausspielung. Der Grund für die Strafbarkeit dieser Handlungen ist nach der ζ. Z. herrschenden Meinung in erster Linie in ihrer vermögensgefährdenden Bedeutung zu sehen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der natürlichen Spielleidenschaft des Publikums soll durch obrigkeitliche Maßnahmen kontrolliert und gezügelt werden. Angriffsobjekt ist mithin das Vermögen der Mitspieler, deren Spielleidenschaft vor Ausbeutung geschützt werden soll. Zugleich sollen Störungen des wirtschaftlichen Lebens verhindert werden. Es spielen also Gesichtspunkte der öffentlichen Sittlichkeit und der öffentlichen Wohlfahrt eine Rolle, wenn sie auch in der Literatur zugunsten des Vermögensschutzes weniger betont werden. Zu §284 S t G B : Das Gesetz geht davon aus, daß es sich um ein Glücksspiel handeln muß. Die Strafbestimmungen geben aber keine Definition des Begriffs „Glücksspiel"; auch das Zivilrecht, das Verwaltungsrecht und das Steuerrecht enthalten nichts darüber. Nach der im Strafrecht entwickelten einheitlichen Meinung handelt es sich um ein Glücksspiel, wenn nach den Spielbedingungen „die Entscheidung über Gewinn oder Verlust eines Vermögenswertes nicht wesentlich von den Fähigkeiten und Kenntnissen sowie vom Grade der Aufmerksamkeit der Spieler, sondern allein oder hauptsächlich vom Zufall abhängt" (RGSt. 62, 165). Dabei versteht man unter Zufall „das Wirken unberechenbarer, der Einwirkung des Interessenten entzogener Kausalitäten" (RGSt. 34, 305). Den Gegensatz dazu bilden die Gcschicklichkeitsspiele, bei denen die Entscheidung über Gewinn oder Verlust eines Vermögenswertes von der Geschicklichkeit abhängt, d. h. von besonderen körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, wozu bei Kartenspielen vor allem Kombinationsgabe, Merkfähigkeit, Übung und Beherrschung der Spielregeln gehören. Zwischen den reinen Glücksspielen, bei denen nur der Zufall entscheidet (Würfelspiele um Geld und das Roulette), und den reinen Geschicklichkeitsspielen, bei denen es nur auf die Geschicklichkeit ankommt (Schach, Mühle, Dame, Halma), stehen die gemischten oder relativen Glücksspiele und die gemischten oder relativen Geschicklichkeitsspiele. Bei dem gemischten Glücksspiel entscheidet überwiegend der Zufall; daneben
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Glücks- und Falschspiel
kann je nach den Spielregeln eine gewisse Geschicklichkeit entfaltet werden (Poker). Bei dem gemischten Geschicklichkeitsspiel ist es umgekehrt. Durch die Spielregeln, die schwierige Spielkombinationen und damit den Einsatz besonderer Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen ermöglichen, kann der Spieler in der Mehrzahl der Fälle die Entscheidung maßgeblich zu seinen Gunsten beeinflussen und damit dem Zufall, der sich ζ. B. beim Kartenspiel schon in jeder Kartenverteilung auswirkt, die entscheidende Wirkung nehmen (Skat, Bridge, Canasta). Aus dem Vorgesagten ist zu entnehmen, daß eine scharfe Abgrenzung zwischen Geschicklichkeitsspiel und Glücksspiel nicht möglich ist. In Grenzfällen können bereits ganz geringe Verstöße genügen, um den Charakter des Spiels zu verändern. Es ist daher notwendig, in jedem einzelnen Falle nach der Art, den Bedingungen, der Einrichtung des Spieles und dem Personenkreis der Mitspielenden zu entscheiden. In bestimmten Fällen ist der Vorrang des Zufalls vor der Geschicklichkeit der Mitspieler so eindeutig, daß eine Bezeichnung des Spieles als Glücksspiel bedenkenlos ist (Roulette, Lotto, Baccarat, Siebzehn und Vier, Würfelspiel). Schwieriger wird die Beurteilung der Verhältnisse jedoch, wenn es auf den Personenkreis der Mitspielenden ankommt. Hier kann nämlich das gleiche Spiel, das, von geübten, erfahrenen Spielern gespielt, objektiv als Geschicklichkeitsspiel anzusehen ist, subjektiv Glücksspiel sein, wenn es von Unerfahrenen gespielt wird. Es ist nun aber ein anerkannter Rechtsgrundsatz, daß der Charakter des Spiels für alle Spieler ein einheitlicher sein muß. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 18. 4.1952 (BGHSt 2, 274), in der er das Spiralo-Roulette als Glücksspiel im Sinne des § 284 StGB bezeichnete, an der Rechtsprechung des Reichsgerichts festgehalten und entschieden: „Maßgebend sind die Spielverhältnisse, unter denen das Spiel eröffnet ist und gewöhnlich betrieben wird, also die Fähigkeiten und Erfahrungen des Durchschnittsspielers... Ist ein Spiel hiernach ein Glücksspiel, so behält es die Eigenschaft auch für den besonders geübten Spieler, der den Spielausgang besser abschätzen kann als ein wenig geübter oder erfahrener." Von Bedeutung ist dieser Grundgedanke auch für die Geldautomaten. Der moderne Geldspielautomat ist der typische Fall eines Spiels, das zwar seiner mechanischen Anlage nach Beeinflussung durch Geschicklichkeit in mehr oder weniger großem Umfang gestatten würde, das aber an den normalen menschlichen Organismus so hohe Anforderungen stellt, daß die Erlernung einer ins Gewicht fallenden Spielübung praktisch ausscheidet. Die Abhängigkeit vom Zufall ist auch hier gegeben.
Zu dem Begriff des Glücksspiels i. S. des § 284 StGB gehört ferner, daß der Gegenstand des Spiels einen Vermögenswert haben muß. Nur bei dieser Art des Glücksspiels treten die schädlichen Folgen für die Sittlichkeit der Beteiligten und ihre wirtschaftliche Lage hervor, die den Gesetzgeber bewogen haben, dem Glücksspiel innerhalb gewisser Grenzen Schranken zu setzen. Wann nun Einsatz oder Gewinnchance einen „Vermögenswert nicht ganz unwesentlicher Art" überschreitet, ist strittig. Die herrschende Meinung erklärt die Verkehrsanschauung für maßgeblich unter Beachtung der Vermögensverhältnisse des Durchschnitts der Spieler. Der BGH hatte noch keine Gelegenheit, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß für den Begriff des Glücksspiels weder auf seiten des Veranstalters noch der Spieler eine gewinnsüchtige Absicht erforderlich ist. Bei Geldspielautomaten ist die Frage, ob ein Glücksspiel vorliegt, auf Grund der Beschaffenheit des einzelnen Apparates zu beantworten. Die mechanisch betriebenen Spielautomaten sind meist Glücksspielapparate. Nach § 284 StGB ist nur die verbotswidrige Veranstaltung von öffentlichen Glücksspielen unter Strafe gestellt. Die Öffentlichkeit liegt zunächst dann vor, wenn die Veranstaltungen einem größeren, nicht festgeschlossenen Personenkreis zugänglich gemacht werden. Nach Absatz 2 des Paragraphen gelten aber auch Glücksspiele in Vereinen oder geschlossenen Gesellschaften als öffentlich veranstaltet, wenn sie gewohnheitsmäßig veranstaltet werden. Durch diese Erweiterung des Begriffs der Öffentlichkeit ist auch die Veranstaltung von Glücksspielen nicht nur in sogenannten Spielclubs verboten, sondern auch in den Privaträumen eines Gastwirtes und sogar in Privatwohnungen, denn der Begriff „Verein" oder geschlossene Gesellschaft wird weit ausgelegt. Das Gesetz versteht darunter bereits einen geschlossenen Personenkreis, dessen Teilnehmer sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit zusammenfinden, ohne daß etwa eine feste Satzung oder ein Statut besteht. Schließlich sei noch hervorgehoben, daß die Handlungen nach den drei Alternativen des § 284 StGB nur dann strafbar sind, wenn sie ohne behördliche Erlaubnis vorgenommen werden. Hier ist auf das Spielbanken-Gesetz hinzuweisen, dessen § 2 die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs ausschließt, soweit Glücksspiele in zugelassenen Spielbanken betrieben werden, ferner auf das Rennwett- und Lotterie-Gesetz und — soweit es um die Aufstellung mechanisch betriebener Spiele und Spieleinrichtungen geht — auf den § 33 d Gewerbeordnung. Zu §284a S t G B : Bestraft wird, wer sich als Spieler an einem nicht genehmigten öffentlichen
Glücks- und Falschspiel Glücksspiel beteiligt. Spieler ist, wer selbst spielt, und auch, wer in Verletzung oder als Beauftragter eines anderen in dessen Namen und auf dessen Rechnung spielt. Der Geldgeber ist dann Mittäter oder Gehilfe, je nach Willensrichtung. Da der Spieler bestraft werden soll, muß das Spiel schon begonnen haben. Bei Kartenspielen wird die Hingabe und Annahme eines Einsatzes in der Regel den Beginn der Spieltätigkeit darstellen. Dabei bedarf es keines Einsatzes, wenn der andere Teil denselben stundet. In einem solchen Falle kann das Spiel schon mit der Spielofferte beginnen. Bei Rennwetten stellt die Zahlung des Einsatzes an den Vermittler in der Regel den Beginn des Spiels dar. Bei Geldspielautomaten gilt es als begonnen, sobald der Apparat zum Zwecke des Glücksspiels in Bewegung gesetzt wird. Als Schuldform wird — wie im § 284 — Vorsatz verlangt. Der Irrtum ist beachtlich. Eine Teilnahmehandlung an der Spielbeteiligung ist nur insoweit möglich, als sie nicht schon als selbständiger Tatbestand des § 284 StGB mit Strafe bedroht ist. Zu §285 S t G B : Der Gesetzgeber stellt nicht das private Glücksspiel unter Strafe, ebenso wenig wie ein Glücksspiel in Vereinen und geschlossenen Gesellschaften, wenn dieses nur gelegentlich und nicht etwa gewohnheitsmäßig durchgeführt wird. Anders beim gewerbsmäßigen Glücksspiel. Für den Täter, der aus dem Glücksspiel ein Gewerbe macht, kommt es nicht darauf an, ob er öffentlich oder nicht öffentlich spielt, wohl aber darauf, ob er sich durch wiederholtes, wenn auch nicht ständiges Spiel eine Einnahmequelle verschaffen will. Diese Absicht kann sich bereits aus einem einzigen Spiel ergeben. Beim Spielen aus reiner Spielleidenschaft fehlt das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit. Täter kann nur sein, wer selbst am Spiel teilnimmt. Demnach ist nicht Spieler, wer — ohne selbst zu spielen — seinen Spielapparat anderen Personen gegen Entgelt zur Verfügung stellt. Ebenso wenig der, der gegen einen festen Unternehmergewinn das Glücksspiel leitet. Dagegen kann der Lieferant von Glücksspielautomaten Mitspieler sein, falls das eingeworfene Geld unter seinem Mitverschluß steht. Das Mitspielen in konzessionierten Glücksspielbetrieben bleibt außerhalb des Tatbestandes. Damit ist auch das gewerbsmäßige Wetten an einem erlaubten Totalisator oder bei einem zugelassenen Buchmacher nicht widerrechtlich. Wetten über Pferderennen bei Buchmachern sind gesondert geregelt. Trotz des Namens „Rennwetten" handelt es sich um reine Glücksspiele. Durch das Rennwett- und Lotterie-Gesetz vom 8.4.1922 wurden mit behördlicher Erlaubnis gewerbsmäßige Buchmacher zugelassen. Buchmacher und ihre Hilfspersonen machen sich nur 23
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strafbar, wenn sie außerhalb der genehmigten Örtlichkeiten Wetten vermitteln, abschließen oder Angebote dazu entgegennehmen. Dagegen werden der nicht zugelassene (wilde) Buchmacher und seine Gehilfen bestraft. Gehilfen im Sinne des § 49 S t G B sind die Agenten, die bei Rennwetten den Verkehr zum Publikum und Buchmacher vermitteln, für die Buchmacher Kunden anwerben, Einsätze entgegennehmen und Gewinne auszahlen. Als gesetzliche Grundlage für die Bestrafung gelten die Strafbestimmungen dieses Gesetzes, das als ein Spezialgesetz dem § 285 S t G B vorgeht. Bei gewerbsmäßigem Spiel in öffentlichen, auf Grund des Spielbankengeselzes zugelassenen Spielbanken scheidet die Rechtswidrigkeit ebenfalls aus. Nach § 10 der Verordnung über öffentliche Spielbanken vom 27. 7.1938 ergibt sich jedoch eine Strafbarkeit für den, der in der Spielbank nicht spielen darf, d. h. das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, am Spielort oder in einer benachbarten Gemeinde wohnt, an bestimmten Tagen, außerhalb der in der Spielordnung festgesetzten Stunden oder ein nicht zugelassenes Spiel spielt. Ferner macht sich der Bedienstete einer Spielbank strafbar, der Geschenke, Zuwendungen und Trinkgelder annimmt. Der subjektive Tatbestand des § 285 S t G B verlangt Vorsatz. Zu ihm gehört u. a. die Absicht, eine fortgesetzte auf Erwerb gerichtete Tätigkeit auszuüben. Gleichgültig ist es, ob das Glücksspiel als Haupterwerb oder als Nebenerwerb betrieben wird. Ebenso wenig kommt es auf die Beweggründe des Spielers an. Es ist daher unerheblich, ob er aus Gewinnsucht handelt. Zu § 2 8 6 S t G B : Mit Strafe wird bedroht, wer ohne obrigkeitliche Erlaubnis öffentliche Lotterien und Ausspielungen veranstaltet. Der Täter verstößt gegen die staatliche Anordnungsbefugnis. Allerdings wird der Hauptgrund für die Strafbarkeit in der Gefährdung des aufs Spiel gesetzten eigenen und fremden Vermögens erblickt. Es handelt sich hier um besondere Formen des Glücksspiels. Die allgemeinen Merkmale des Glücksspiels müssen aber erfüllt sein, und zwar in erster Linie zwei Momente: Zufall und Einsatz. Eine Lotterie liegt vor, wenn einer Mehrzahl von Personen vertragsmäßig die Möglichkeit gegeben wird, nach einem bestimmten Lotterieplan gegen einen bestimmten Einsatz einen bestimmten Geldgewinn zu erzielen, dessen Erreichung für die Mitspieler erkennbar vom Zufall abhängt. Soll hingegen der Gewinn nicht in Geld, sondern in einem Anrecht auf andere Sachen bestehen, so handelt es sich um eine Ausspielung (ζ. B. Tombola). In Lehre und Rechtsprechung sehr bestritten war die Beurteilung von Warenvertriebssystemen, bei denen der Verkäufer — meist ein Versandgeschäft — dem Käufer die Möglichkeit offenläßt,
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Glücks- und Falschspiel
den Kaufpreis durch Werbung neuer Kunden ganz oder teilweise abzuverdienen. Es handelt sich hier um das sogenannte Schneeball- oder Hydrasystem bzw. um die progressive Kundenwerbung. Das Reichsgericht hat diese Geschäftssysteme als Ausspielung behandelt. Der BGH hat in seinem Urteil vom 2 5 . 1 0 . 1 9 5 1 diese Ansicht bestätigt und entschieden, daß dieses Verkaufssystem einen versteckten Spieleinsatz enthalte und insoweit den Tatbestand der verbotenen Ausspielung erfülle. Der gleiche Strafsenat hatte auch darüber zu befinden, ob beim SchneeballSystem das für eine Ausspielung erforderliche Merkmal des Zufalls gegeben sei. Er hat diese Frage, entgegen der Ansicht des Hanseatischen Oberlandesgerichts, mit Urteil vom 7 . 2 . 1 9 5 2 bejaht, da es vom Zufall abhänge, ob sich weitere Teilnehmer finden würden. Nur die unbefugte Veranstaltung einer öffentlichen Lotterie oder einer öffentlichen Ausspielung, nicht aber das Spielen in solchen Veranstaltungen wird unter Strafe gestellt. Das Publikum, das seinen Einsatz leistet, bleibt daher straflos. Täter ist allerdings nicht nur der Veranstalter, auf dessen Rechnung das Geschäft geht, sondern auch derjenige, der in fremden Namen die Beteiligung einer Mehrzahl von Personen ermöglicht. Gehilfe kann der Loshändler oder Agent sein, der den Absatz von Losen vermittelt. Die Zuständigkeit zur Erteilung der Erlaubnis ist in der Lotterieverordnung vom 6. 3.1937 geregelt. Ändert der Unternehmer nach erlangter Erlaubnis eigenmächtig den Spielplan oder die Spielbedingungen, so handelt er ohne Erlaubnis. Das gleiche gilt, wenn er die erteilte Erlaubnis überschreitet. Der innere Tatbestand erfordert Vorsatz. Der § 286 StGB geht als spezielleres Gesetz dem § 284 StGB vor. An sich gehört auch die Totalisatorwette zur Lotterie. Sie untersteht jedoch der Sonderregelung des Rennwett- und Lotteriegesetzes und wird, sofern sie bei einem nicht zugelassenen Buchmacher oder Totalisator erfolgt, nach § 8 dieses Spezialgesetzes bestraft. b) D a s k o m m e n d e R e c h t . In dem Entwurf des neuen Strafgesetzbuches wird das Glücksspiel im vierten Abschnitt „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung" behandelt. Der siebente Titel dieses Abschnitts regelt die Materie wie folgt: § 367 die unerlaubte Veranstaltung einer Lotterie, § 358 die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels, § 359 die unerlaubte Beteiligung am Glücksspiel und § 360 die Einziehung. Die Straf Vorschriften stimmen weitgehend mit dem geltenden Recht überein, weichen jedoch im
Aufbau und in manchen Einzelheiten erheblich von ihnen ab. Der Entwurf geht davon aus, daß in der Veranstaltung eines Glücksspiels und auch schon in der Beteiligung daran dann ein kriminelles Unrecht liegt, wenn das Spiel ohne öffentliche Genehmigung veranstaltet wird. Es fehlt in derartigen Fällen die Möglichkeit, die Durchführung zu überwachen, Mißbräuchen entgegenzutreten und die Spielverluste in gewissen Grenzen zu halten. Die Materie ist wie bisher abgegrenzt. Der Entwurf überläßt es den Ausführungsvorschriften, zu bestimmen, welche Arten von Lotterien und Glücksspielen von der Behörde erlaubt werden können. Die bestehenden sondergesetzlichen Regelungen werden von dem Entwurf nicht berührt. Die wesentliche Änderung gegenüber dem geltenden Recht besteht darin, daß die umstrittene Vorschrift des § 285 StGB über das gewerbsmäßige Glücksspiel nicht übernommen worden ist. Die geltende Regelung ist unbefriedigend, da sie nur den gewerbsmäßigen Spieler, nicht aber den gewerbsmäßigen Veranstalter erfaßt. Für diese unterschiedliche Behandlung besteht kein innerer Grund; sie ist auch kriminalpolitisch nicht gerechtfertigt. Der Entwurf vermeidet dieses ungerechte Ergebnis, indem er neben dem gewerbsmäßigen Spielen auch das gewerbsmäßige Veranstalten von Glücksspielen mit Strafe bedroht und beide Fälle als Strafschärfungsgrund gegenüber den Grundtatbeständen behandelt. Damit ist auch klargestellt, daß der gewerbsmäßige Spieler nicht strafbar ist, wenn er sich an einem behördlich erlaubten Glücksspiel beteiligt. So hat schon der § 2 des Gesetzes über die Zulassung öffentlicher Spielbanken die Anwendung der §§284—285 a StGB auf zugelassene Spielbanken ausgeschlossen. Die Aufnahme einer dem § 2 8 5 a StGB entsprechenden Vorschrift erübrigt sich, weil der Entwurf den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nicht mehr kennt und die Veröffentlichung des Urteils nur noch zuläßt, wenn es der Wiedergutmachung des Verletzten dient. An Stelle der von § 2 8 5 a StGB vorgesehenen Möglichkeit, Polizeiaufsicht anzuordnen, kann das Gericht neben einer Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Veranstaltung eines unerlaubten Glücksspiels oder wegen gewerbsmäßiger Beteiligung an einem solchen Glücksspiel Sicherungsaufsicht anordnen. Auch kann unter den Voraussetzungen des § 87 des Entwurfes der Verurteilte in einem Arbeitshaus untergebracht werden. 2. Das Gewerberecht In der Bundesrepublik sind rund 120000 Geldspielautomaten zugelassen, an denen jährlich mindestens 600 Mio DM umgesetzt werden. Zu-
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sätzlich gibt es im Bereich der mechanisch betriebenen Spielgeräte auch illegales Spiel. Wer diese Zahlen kennt, k a n n ermessen, welche Bedeutung der Spielgeräteprüfung u n d -Zulassung sowie der Überwachung des Spielbetriebes zukommt. Die gesetzliche Grundlage f ü r die P r ü f u n g u n d Zulassung von mechanisch betriebenen Spielgeräten beruht auf dem Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung vom 1 8 . 1 2 . 1 9 3 3 . Durch den a m 1. 4.1934 in K r a f t getretenen § 33 d wurde im gesamten Reichsgebiet ein einheitliches Genehmigungsverfahren eingeführt. Sämtliche Automaten, ganz gleich, ob es sich u m Glücks- oder Geschicklichkeitsspiele handelte, wurden zulassungs- und genehmigungspflichtig. Der Reichswirtschaftsminister h a t in seiner Durchführungsverordnung zum § 3 3 d GewO. vom 2 5 . 6 . 1 9 3 4 erstmalig dem Genehmigungsverfahren durch die Polizeibehörde ein Zulassungsverfahren bei der damaligen Physikalisch-Technischen Reichsanstalt vorgeschaltet. Seit dieser Zeit ist f ü r Verwaltungs- u n d Vollzugsbehörden allein diese Anstalt — heute Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) —· f ü r die Begutachtung und Stellungnahme in allen den Fällen zuständig, in denen zu entscheiden ist, ob es sich um eine mechanische oder nicht mechanische Spieleinrichtung handelt (vgl. RiStV Nr. 247, Abs. 2). Ein Mitspracherecht des Bundeskriminalamtes (BKA) besteht seit dem 1 . 1 0 . 1 9 5 1 . Die Durchführungsverordnung von 1951 brachte mit den Änderungen von 1953,1954 u n d 1955 eine Reform des Spielgeräterechts. Zu dieser Verordnung erließ der Bundeswirtschaftsminister Richtlinien f ü r die P r ü f u n g u n d Zulassung mechanisch betriebener Spielgeräte. Entscheidend war nicht mehr, ob der Erfolg von der Geschicklichkeit des Spielers oder vom Zufall abhängt, sondern vielmehr, ob das Spielgerät f ü r den Spieler bedenklich oder unbedenklich war, ob es ihn zu hohen Verlusten in verhältnismäßig kurzer Zeit verleiten konnte. Der Spieler sollte die Geräte nicht so sehr des Gewinnes wegen, sondern zu seiner Unterhaltung, zu seinem Vergnügen betätigen. Die zugelassenen Bauarten und die Widerrufe werden im GMB1. (Gemeinsames Ministerialblatt) u n d im A m t s b l a t t der P T B (Physikalisch-Technische Bundesanstalt) veröffentlicht. Die Tatsache, daß eine Reihe neuer Spiele, vor allem rouletteartige u n d Kartenspiele, durch die bestehenden Gesetze u n d Verordnungen nicht zu erfassen waren, u n d die Forderung nach einer bundeseinheitlichen Regelung, nach einem erhöhten Jugendschutz u n d nach einer vermehrten Sicherung der Spieler vor Betrug und Übervorteilung f ü h r t e n zum Vierten Bundesgesetz zur Änderung der Gewerbeordnung vom 5. 2.1960 (BGBl. I, S. 61). Es t r a t am 1 . 1 0 . 1 9 6 0 in K r a f t . Dieses Gesetz f a ß t e den § 33 d neu u n d ergänzte 23·
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ihn durch die §§ 33e—33i u n d 60a. Der sehr u m strittene Begriff „mechanisch betriebene Spiele" ist in der Neufassung des § 33 d nicht mehr enthalten. Ab 1 . 1 0 . 1 9 6 0 bedarf der Erlaubnis der Ortspolizeibehörde, wer gewerbsmäßig ein m i t einer den Spielausgang beeinflussenden mechanischen Vorrichtung ausgestattetes Spielgerät, das die Möglichkeit eines Gewinnes bietet, aufstellen oder ein anderes Spiel mit Gewinnmöglichkeit veranstalten will. Es m u ß also in das Spielgerät eine solche technische Vorrichtung, „eine zweite K r a f t , eingebaut sein, die neben den allgemeinen physikalischen Gesetzen einen eigengesetzlichen Ablauf entwickelt u n d d a m i t ihrerseits selbstwirkend den Spielerfolg ausschlaggebend zu beeinflussen v e r m a g " (Urteil BVerwG v o m 9. 6.1960). Die in den § § 3 3 d f f . GewO. enthaltenen Regelungen — zu denen vom Bundeswirtschaftsminister u n d v o m Bundesinnenminister die Rechtsverordnungen v o m 6 . 2 . 6 2 (BGBl. I, S. 162, 153 u. 156) u n d v o m 2 6 . 1 1 . 63 (BGBl. I , S. 849) erlassen worden sind — unterscheiden zwischen a) der Aufstellung von Spielgeräten u n d b) der gewerbsmäßigen Veranstaltung anderer Spiele. . Z u a): Wer ein Spielgerät mit Gewinnmöglichkeit aufstellen oder ein anderes Spiel mit Gewinnmöglichkeit veranstalten will, bedarf der E r l a u b nis der Ortspolizeibehörde. Diese Erlaubnis k a n n auf Zeit oder u n t e r Auflagen erteilt werden. Sie k o m m t bei der Aufstellung eines Spielgerätes n u r in Betracht, wenn eine Zulassung der P T B vorliegt. F ü r die Veranstaltung eines anderen Spieles bedarf es einer Unbedenklichkeitsbescheinigung des BKA. Die Erlaubnis wird versagt, wenn der Aufsteller oder Veranstalter die erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt. E r darf vor allem nicht wegen bestimmter Straftaten, auch nicht wegen Vergehens nach § 13 Jugendschutzgesetz bestraft sein. Eine R ü c k n a h m e der Erlaubnis k a n n u. a. erfolgen, wenn die Auflagen nicht b e a c h t e t werden, gegen § 7 des Jugendschutzgesetzes verstoßen oder das Spielgerät verändert wird. Die nach § 33 f. GewO. erlassenen Rechtsverordnungen enthalten einheitlich f ü r das ganze B u n desgebiet einschränkende Bestimmungen zum Schutz der Allgemeinheit und der Spieler, zur E i n d ä m m u n g des Spieltriebs sowie im Interesse des Jugendschutzes. Der § 3 3 d GewO. hält also daran fest, daß die Erlaubnis der Ortspolizeibehörde f ü r die Aufstellung eines Spielgerätes nur gegeben werden darf, wenn dessen B a u a r t von der P T B zugelassen und der Antragsteller im Besitz eines Abdruckes des Zulassungsscheines u n d des Zulassungszeichens ist. Über die Zulassung eines Baumusters entscheidet die P T B im Einvernehmen mit dem BKA.
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Zu b): Der gleiche P a r a g r a p h macht die Erlaubnis f ü r die Veranstaltung eines anderen Spieles vom Besitz einer v o m B K A erteilten Unbedenklichkeitserklärung abhängig. Die Rechtsverordnung bestimmt, daß das B K A im Einvernehmen mit der P T B u n d einem vom Bundesminister des Innern zu bestellenden Ausschuß von drei auf dem Gebiete des Spielwesens erfahrenen Kriminalbeamten der Länder entscheidet. Schließlich sieht der § 6 0 a GewO. vor, daß f ü r das Veranstalten von Spielen auf J a h r m ä r k t e n , Schützenfesten u. ä. eine Erlaubnis auch erteilt werden kann, wenn an Stelle der Unbedenklichkeitsbescheinigung des B K A eine solche des f ü r den Wohnsitz oder Aufenthaltsort zuständigen Landeskriminalamtes vorliegt. Hervorzuheben ist ferner, daß nach § 33 g GewO. Spiele, die überwiegend der Unterhaltung dienen, keiner Erlaubnis bedürfen, daß andererseits aber f ü r die nicht gewerbsmäßige Aufstellung von Spielgeräten u n d f ü r die nicht gewerbsmäßige Veranstaltung anderer Spiele in Vereinen u n d geschlossenen Gesellschaften, in denen gewohnheitsmäßig gespielt wird, im öffentlichen Interesse Erlaubniseinholung nötig und Auflagenerteilung möglich sind. Die vorgenannten Vorschriften finden gemäß § 33h GewO. keine Anwendung auf die Zulassung u n d den Betrieb von Spielbanken, die Veranstaltung von Lotterien u n d Ausspielungen, soweit sie in anderen Rechtsvorschriften geregelt sind (Lotto, Fußballtoto), u n d die Veranstaltung anderer Spiele, die Glücksspiele im Sinne des § 284 StGB sind. Das gewerbsmäßige Betreiben einer Spielhalle oder eines ähnlichen Unternehmens bedarf der Erlaubnis der unteren Verwaltungsbehörde, wobei die Erlaubnis auf Zeit u n d unter Auflagen erteilt werden k a n n . Eine Spielhalle dient ausschließlich oder überwiegend der Aufstellung von Spielgeräten oder der Veranstaltung anderer Spiele — f ü r die die Unbedenklichkeitsbescheinigung des B K A nötig ist — oder der gewerbsmäßigen Aufstellung von Unterhaltungsspielen ohne Gewinnmöglichkeit. Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn es an der Zuverlässigkeit des Spielhalleninhabers fehlt, wenn die Räumlichkeiten wegen ihrer Beschaffenheit oder Lage den polizeilichen Anforderungen nicht genügen oder wenn der Betrieb eine Gefährdung der Jugend, eine übermäßige Ausnutzung des Spieltriebs oder eine nicht zumutbare Belästigung der Allgemeinheit, der Nachbarn oder einer im öffentlichen Interesse bestehenden Einrichtung befürchten läßt. 3. Der
Jugendschutz
Der Mensch unserer Tage zeigt einige Wesenszüge, die ihn leicht zum willfährigen Objekt des Spiel- und Wettbetriebs machen. Eine produktive
Ausfüllung seiner Freizeit liegt ihm nicht. Weit lieber bedient er sich dazu industrialisierter Vergnügungsbetriebe. Die durch die Spielautomaten ausgelösten Spannungen bilden gerade bei den Jugendlichen mit ihrem Sensationshunger ein starkes Anziehungsmoment u n d eine große Gefahr. I m Durchschnitt sind sie wie die meisten Erwachsenen sehr materialistisch eingestellt u n d suchen möglichst mühelosen Erwerb. Die Neufassung der § § 3 3 d f f . GewO., insbesondere der § 33 i, will u. a. eine Gefährdung der J u g e n d durch übermäßige u n d verderbliche Betätigung des Spieltriebs dadurch verhindern, daß der Betrieb von Spielhallen — öffentlich zugängliche Räume, in denen mehrere Spielautomaten aufgestellt sind — eine besondere Erlaubnis der Ortspolizeibehörde voraussetzt. Zugelassen werden n u r solche Spiele, bei denen der Unterhaltungscharakter im Vordergrund steht u n d eine Übervorteilung der Mitspieler oder ein Betrug praktisch ausscheiden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß Spielgeräte, die im Gewinnfall Geld verabfolgen oder bei denen der Veranstalter bei Gewinn Geld auszahlt, nicht auf J a h r m ä r k t e n , Volksfesten u n d ähnlichen Veranstaltungen aufgestellt werden dürfen. Es sind nur Spielgeräte zugelassen, bei denen im Gewinnfall Waren verabfolgt werden (Blinker und Drehräder). Ein Schausteller, der mit einem solchen Gerät von J a h r m a r k t zu J a h r m a r k t zieht, benötigt hierzu neben der Reisegewerbekarte in jedem Einzelfall eine Aufstellungsgenehmigung nach § 33 d GewO. u n d ferner die Erlaubnis nach § 60 a GewO. Dem Jugendschutzinteresse auf dem Gebiete des Spielwesens ist damit weitgehend Rechnung getragen. Ortspolizeibehörden u n d interne Verwaltungsbehörden haben die Möglichkeit, Spiela u t o m a t e n jeder Art, vor allem Spielhallen, zu beaufsichtigen u n d auf die Durchführung der Bestimmungen zu achten. Eine Gefährdung der J u g e n d k a n n daher noch wirksamer b e k ä m p f t werden als mit dem § 7 des Jugendschutzgeseizes. Dieser § 7 Jugendschuizgeselz bestimmt, daß der Zutritt zu öffentlichen Spielhallen, die Teilnahme an Glücksspielen sowie die Benutzung von Glückspielgeräten Jugendlichen nicht gestattet werden darf. Gegen den Jugendlichen können im Falle des Verstoßes gegen die Bestimmungen Maßnahmen nach § 12 dieses Gesetzes eingeleitet werden. Der Veranstalter u n d sonstige Personen, denen die Leitung eines Betriebes oder deren Beaufsichtigung übertragen worden ist, können dagegen nach § 13 bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Zuwiderhandlung mit Gefängnis, H a f t oder Geldstrafe bestraft werden. Sonstige Personen über 18 J a h r e , die einen Jugendlichen einer Gefährdung aussetzen, die von ihm ferngehalten werden soll, werden gemäß § 14 mit Geldstrafe oder mit H a f t bestraft.
Glücks- und Falschspiel C.Die Persönlichkeit des Glücks- und Falschspielers Es ist nicht erforderlich, sich mit der harmlosen Gruppe der Gelegenheitsspieler, mit den Neugierigen, den Vergnügung, Zerstreuung, Entspannung Suchenden näher zu befassen. Für sie sind Spielcasinos, Clubs und Spielhallen amüsante und erholsame Plätze. Sie spielen mit Jetons, Karten und Würfeln oder an mechanisch betriebenen Geräten im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber wenn dieses Spiel die Beteiligten zu beherrschen beginnt, wenn sie nicht von ihm loskommen, geraten sie in einen gefährlichen Sog. Es ist in der Tat verführerisch, in wenigen Sekunden Summen zu gewinnen, für die man sonst Monate oder Jahre arbeiten müßte. Rascher, arbeitsloser Gewinn ist der Reiz jedes Glücksspiels. Auch rumort in jedem von uns die Lockung nach Gefahr und Abenteuer. In einigen Menschen aber gibt es eine Bereitschaft zur Sucht. Bei ihnen besteht dauernd Gefahr, daß sie der in ihnen schlummernden und nun erwachenden Spielleidenschaft nicht widerstehen können. So spielen sie immer wieder, hoffend, daß das Glück, das oft gerade dem Anfänger hold ist, wiederkehre und ihnen treu bleibe. Langsam werden sie zu Gewohnheitsspielern, ruinieren sich und die von ihnen Abhängigen. Alle Energien und Gedanken dieser Gewohnheitsspieler richten sich mehr und mehr auf das Spiel. Sie werden willensschwach, arbeitsscheu und moralisch immer labiler. Die Gier nach dem Geld beherrscht sie völlig. Die körperlichen und geistigen Funktionen drohen als Folge der Nächte am Spieltisch zu erschlaffen. Eine Rückkehr dieser eingewurzelten Spieler zu normaler wirtschaftlicher Arbeitsweise ist ganz außerordentlich erschwert, da sich die Spielleidenschaft mit jedem Akt steigert, mag er Gewinn oder Verlust bringen. Das Spiel hat neben der verführerischen, man kann fast sagen kupplerischen, gleichzeitig aber auch nivellierende Macht, denn am Spieltisch sammeln sich Leute, die im täglichen Leben nie miteinander verkehren würden. Spielleidenschaft macht blind, und Spielratten sind trotz aller Warnungen und trüben Erfahrungen schwer davon abzuhalten, sich erneut mit notorischen Berufsspielern zusammenzusetzen. Den an sich oft auf ansehnlicher Bildungshöhe stehenden Spielern schwinden kulturelle Interessen in demselben Maße, wie die Spielbesessenheit steigt. Zwischen Gewinn und Verlust, zwischen Geld im Überfluß und Darben schwindet der Begriff für Mein und Dein. Die Gefahr, kriminell zu werden, wird groß und unmittelbar. Die Gewohnheitsspieler stellen ein großes Kontingent des berufsmäßigen Spielertums. Übermäßige Spielschulden, Wechsel in Händen
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von Falschspielern, die Versuchung, ohne Anstrengung ein glänzendes Leben zu führen, und auf der anderen Seite Charakterschwäche und die scheinbare Unmöglichkeit, sich eine neue sichere Existenz erringen zu können, erklären, wie aus Angehörigen selbst der besseren Gesellschaft Helfer von Falschspielern und schließlich selbst Falschspieler werden. Das Augenmerk der Polizei hat vor allem den Spielern zu gelten, die bereits abgesunken sind, die gewerbsmäßig das Unglück anderer ausnutzen, vom Glücksspiel leben. Sie sind es, die fortgesetzt gegen die Glücksspielverbote verstoßen. Mit Hilfe ihres geschickten, sich jeder Situation anpassenden Auftretens finden sie Eingang in alle Berufs- und Gesellschaftskreise, hier sich seriös und zurückhaltend, dort als Charmeur und brillanter Gesellschafter gebend, dort finanzkräftige Sachlichkeit markierend oder sich mit dem Nimbus des Weitgereisten umgebend. Nur um den Schein zu wahren, haben sie angeblich einen Beruf und verstehen es, ihre Geldgier, Zügellosigkeit, Spielwut und Erregung zu meistern und durch die in den jeweiligen Kreisen üblichen konventionellen Gepflogenheiten zu tarnen. Ist die Gelegenheit günstig, animieren sie zum Spiel und haben, dank ihrer großen Spielroutine, stets eine gute Ausgangsposition. Wie schon eingangs angedeutet, wird der gewerbsmäßige Spieler, wenn andere Mittel, wie seine persönliche Spielroutine oder die Müdigkeit, Trunkenheit oder Unerfahrenheit des Kontrahenten nicht ausreichen, zum Falschspiel übergehen. Falschspieler sind gewohnheitsmäßige oder gewerbsmäßige Spieler, die durch ihnen bekannte, den Partnern aber unbekannte Manipulationen den Ausgang des Spieles zu ihren Gunsten lenken können. Sie rekrutieren sich aus Spielbesessenen, die zu moralisch minderwertigen Gewohnheitsspielern und vielleicht schon durch Unterschlagung und Veruntreuung zu Kriminellen wurden, und aus Asozialen und Betrügern, die sich auf das Falschspiel spezialisiert haben. Der Falschspieler gehört zur Gruppe der Betrüger und muß alle Eigenschaften besitzen, die es diesem ermöglicht, sein Opfer durch Irrtumserregung zur Geldhergabe zu bringen. Er muß die Kunst der Verstellung, des Lügens und des Beeinflussens beherrschen, Umwelt- und Menschenkenntnis, psychologisches Geschick und Einfühlungsvermögen besitzen, situationsgerecht auftreten und sich benehmen können. Mit Routine und Erfahrung geht er planmäßig und raffiniert vor, um die Schwächen und Laster seines von ihm ausgewählten, nichtsahnenden und sich damit von Beginn an im Nachteil befindenden Opfers skrupellos auszubeuten. Er versteht es vor allem, für eine bestimmte Situation und für ein bestimmtes Opfer passende, seinen eigenen Fähig-
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keiten entsprechende Täuschungsverfahren zu wählen. In diesem Zusammenhang muß man auch an die Gegebenheiten auf der Seite des Opfers — Neugier, Erlebnishunger, sträflicher Leichtsinn, Gewinnsucht, Geldgier u. ä. — denken, die der Täter immer wieder mit einkalkuliert und die der Täterabsicht entgegenkommen, sie begünstigen. Der Falschspieler, der seinem Opfer persönlich gegenübertritt und es auf Grund der oben angeführten Fähigkeiten fertigbringt, zu täuschen und auszubeuten, muß in den Augen, in der Vorstellung des Spielpartners etwas vorstellen, muß überzeugen, darf kein grüner, unfertiger Junge sein. So finden wir unter den Falschspielern — wie überhaupt unter den Betrügern — kaum Jugendliche, und wenn überhaupt, dann nur als Gehilfen mit niederen Funktionen. Auch Frauen spielen unter den gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Spielern wie unter den Falschspielern nur als Gehilfinnen, als Lockvögel, zu Tarnungs- und Ablenkungszwecken eine Rolle. Zwar können auch Frauen von Spielleidenschaft gepackt werden, und die Sucht zu gewinnen kann sie genauso beherrschen wie den Mann. Es fehlt ihnen jedoch an Wagemut und Entschlußkraft, das Opfer im richtigen Augenblick zur Vermögensverschiebung zu veranlassen. Sie sind als Spielerinnen meist kleinlich, berechnend und beteiligen sich eher dort, wo die Aussicht auf Gewinn bei kleinem Risiko größer ist. Die Weite des Betätigungsfeldes, das sich vom kleinen Vorstadtlokal bis in den exklusivsten Privatzirkel, vom Eisenbahnabteil über den Schiffssalon, vom Rummelplatz über die Pferderennbahn bis zu Seebädern oder Kurorten in den Bergen, von der Provinz bis in die Großstadt erstreckt, läßt die Möglichkeiten ahnen, als Falschspieler tätig zu werden, sich spezialisieren zu können. Und auch das unterschiedliche Handwerkszeug — Karten, Würfel, mechanisch betriebene Spielgeräte — läßt arbeitsmäßig breiten Spielraum. Die Formen, unter denen sich ein Spielbetrug abspielt, sind nach Ort und Zeit und nach Eigenart der beteiligten Opfer und der Falschspieler verschieden. Wie alle gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Rechtsbrecher haben sie sich spezialisiert. Diesem ihrem Spezialgebiet und ihrer individuellen, charakteristischen Arbeitsweise bleiben sie künftighin treu und folgen damit dem Gesetz der Perseveranz. Nicht immer ist wirklich falsches Spielen erforderlich, denn es ist keineswegs so, daß Falschspieler bei jeder Partie täuschen oder betrügen. Oft genügt es, während einer langen Nacht nur einmal einen Kunstgriff anzuwenden, um einen hohen Gewinn zu erzielen. Ein Irrtum wäre es auch anzunehmen, der Falschspieler gebärde sich wie ein Kartenkünstler; das Gegenteil ist der
Fall. Ihm kommt es nicht darauf an, die Aufmerksamkeit des Anwesenden zu fesseln, seine Fingerfertigkeit im besten Licht erscheinen zu lassen und durch Taschenspielertricks zu verblüffen. Sein Bestreben ist vielmehr, in keiner Weise aufzufallen oder gar Gegenstand der Beobachtung zu werden. Frechheit, Menschenkenntnis, gute Beobachtungsgabe, handwerklich gekonntes Eingreifen im entscheidenden Augenblick und reibungslose Zusammenarbeit mit seinen Gehilfen sichern ihm den Erfolg. In Ganovenkreisen werden die Falschspieler übrigens Zocker genannt, ein Name, der auf das Zocken, einen Kniff beim Kartengeben, zurückzuführen ist, durch den es dem Falschspieler möglich wird, eine ihm günstige Karte zu erkennen und zu ziehen. Die Falschspieler kommen aus den verschiedensten Bevölkerungs-, Bildungs- und Berufskreisen, weisen aber schließlich alle die gleichen Merkmale auf: Moralisch minderwertig, willensschwach, arbeitsscheu, geldgierig und genußsüchtig. Kriminalsoziologisch gesehen haben sie mit Hehlern, Wucherern, Kupplern, Zuhältern, Urkunden- und Geldfälschern viel gemein. Alle sind unersättlich und pressen ihre Opfer möglichst bis zum letzten aus, so daß es in der Tat oft um „Leben und Tod" geht, wie in grotesker Ironie ein ödes Unterhaltungsspiel heißt. Milieu- und situationsecht im Benehmen und Auftreten arbeitet der Falschspieler nach sorgfältigem Studium der Gewohnheiten und Anschauungen der von ihm bevorzugten Kreise. Niemals wird er etwas überstürzen und mit der Tür ins Haus fallen. Er lenkt nur die Entwicklung des gesellschaftlichen Verkehrs und wartet den günstigen Augenblick zum Handeln ab. Seine geistigen Fähigkeiten entscheiden darüber, ob er zum Proletariat oder zur Aristokratie der Falschspieler zählt. Zum Proletariat der Falschspieler gehören die Bauernfänger, oft halb verkommene Subjekte, die durch allerlei Gaunereien ihre Opfer zu betrügen suchen. Die Bezeichnung „Bauernfang" ist nicht mehr zeitgemäß, denn Angriffsziel dieser Tätergruppe ist keineswegs ein einzelner Stand, sondern die Täter spekulieren auf die Ungewandtheit, Einfalt und Weltfremdheit ihrer Mitmenschen und wählen ihre Opfer nach diesen Gesichtspunkten. Der Auftakt zu dem Spielbetrug ist oft eine Nepperei, die bekanntlich nur gegenüber Leichtgläubigen, Unerfahrenen und Dummen möglich ist. Die Täter arbeiten mit einfachsten Mitteln in einfachsten Kreisen, auf Straßen, in der Nähe von Bahnhöfen, auf Rennbahnen, Vergnügungsplätzen und in Kneipen. Als Tableau dient ihnen eine auf einem schnell zusammenklappbaren Untergestell befestigte Platte mit Spielplan. Karten oder Würfel sind ihr Handwerkszeug. Durch bestimmte Kunst-
Glücks- und Falschspiel griffe verstehen sie es, ihren Gehilfen beachtliche Gewinne zuzuschanzen und dadurch die herangeschleppten Opfer zum Mitspielen zu animieren. Es ist eine alte Gaunerregel, zu Anfang die „Freier" bei kleinen Einsätzen gewinnen zu lassen, um sie später bei hohen Einsätzen auszuplündern. Ein wohlorganisierter Aufpasserdienst, die „Spanne", schützt vor Überraschungen durch die Polizei. Im Falle der Gefahr ist das Spielgerät blitzschnell zusammengeräumt, und die Helfer versuchen, den Rückzug des Falschspielers zu decken. Typische Bauernfängerspiele sind Kümmelblättchen, Riekchen-Fiekchen und Drei-Nußschalen, die in etwas gehobeneren Kreisen durch Spiele wie Häufeln, Rouge et Noir, Kartenroulette usw. ersetzt werden. Zur Aristokratie der Falschspieler rechnen die als Globetrotter und Vergnügungsreisende getarnten Zocker, die überall dort auftauchen, wo die mondäne Halbwelt oder die internationale Lebewelt sich zu treffen pflegt. Nach der Manier der Hochstapler täuschen sie Stand, Fähigkeiten, Wohlhabenheit, besondere Beziehungen und dergleichen vor. Der Ablauf des Spielbetruges entspricht, abgewandelt auf die in diesen Kreisen üblichen Glücksspiele, den bereits geschilderten Methoden. Beim Falschspiel handelt es sich in der Regel um das planmäßige, in allen Einzelheiten vorher verabredete Zusammenwirken mehrerer Täter auf gemeinschaftliche Rechnung, also — kriminologisch gesehen — um ein Bandendelikt. Die Notwendigkeit des Auswählens und Heranschaffens des Opfers sowie die Technik des Spielbetruges verdeutlichen, daß ein Falschspieler nur in Ausnahmefällen ohne tätige Mithilfe mindestens eines Gehilfen am Spieltisch arbeiten kann. Die Schlepper, Schieber und Spanner haben also entscheidende Teilaufgaben zu erfüllen. Dabei ist der Zocker nicht nur auf vorbereitende Handlangerund Gehilfendienste, sondern auch auf tätige Teilnahme am Spiel selbst angewiesen. Erst durch die aktive Teilnahme der Helfer am Spiel wird die Illusion eines ehrlichen Spiels beim Opfer vollendet. Der Uneingeweihte kann natürlich nicht wissen, daß der Falschspieler und seine Mittäter im Widerspruch zur grundlegenden Voraussetzung eines jeden ehrlichen Spieles im geheimen Einverständnis miteinander auf gemeinschaftliche Rechnung spielen und die Gehilfen auch bei hohen Einsätzen nichts riskieren. Es ist also für den Erfolg ganz gleichgültig, ob der Falschspieler selbst oder einer seiner Helfer gewinnt. Ein gewandter Zocker wird aus Tarnungsgründen meist versuchen, seinen Helfern den Hauptanteil am Gewinn zuzuschieben. Ohne zwingende Gründe wird sich die gut eingespielte Falschspielkolonne schwerlich auflösen oder in ihrer personellen Besetzung ändern. Um das Geheimnis des betrügerischen Einverständ-
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nisses zu wahren, suchen die Kolonnenmitglieder den Verkehr untereinander außerhalb des Spiellokals zu verschleiern und während des Spiels durch die Maske kühler Höflichkeit zu tarnen. Genauso wichtig wie die Auswahl und Mitarbeit geschickter Helfer ist für die Falschspieler die Wahl geeigneter Räumlichkeiten und Lokale, wo sie sicher vor Überraschungen ungestört arbeiten können. Neben ihren von der „Spanne" geschützten Stammlokalen und üblen, als „Spielhöllen" anzusprechenden Kneipen bevorzugen sie Lokale, in denen mangelnde Aufsicht oder besonders günstige Lage der Räume ungestörtes Falschspiel ermöglicht. Inhaber gutgehender Lokale haben es meist nicht nötig, sich mit den Ganoven einzulassen und ihren Ruf zu gefährden. Ist der Geschäftsgang jedoch schlecht, mag der eine oder andere Wirt geneigt sein, Räume zur Verfügung zu stellen. Die Gefahren, die den Falschspielern in öffentlichen Lokalen durch Zugriffe der Polizei und durch Erpressung von unerwünschten Mitwissern drohen, führen dazu, diese Unsicherheit durch Eröffnung eines angeblich geschlossenen Spielclubs zu verringern. Störende Elemente können damit ausgeschlossen und polizeiliche Maßnahmen erschwert werden. Im übrigen kann eine intensive Werbe- und Schleppertätigkeit entwickelt werden. Tatsächlich handelt es sich bei derartigen fragwürdigen Unternehmen gar nicht um Clubs oder Vereine. Es sind vielmehr mit gewisser Regelmäßigkeit zu bestimmten Tages- und Nachtstunden geöffnete, mehr oder weniger öffentliche Spielbanken. Inhaber und Personal dieser Spielhöllen, Clubs, Vereine, oft auch die der oben angeführten öffentlichen Lokale, sind durchaus im Bilde und genau wie die Schlepper und Spanner als Gehilfen anzusprechen und bei Ermittlungsaktionen entsprechend zu behandeln. Es wurde bereits angeführt, daß die Berufsverbrecher an ihren einmal ausgeklügelten und mit Erfolg angewandten Arbeitsmethoden und Tricks festhalten. Das hindert sie jedoch nicht, um die Verbesserung und Vervollkommnung ihrer Arbeitsweise bemüht zu sein und sich der modernsten technischen Hilfsmittel zu bedienen. So wurden in Nürnberg vier Falschspieler festgenommen, die sich während des Ekartö-Spiels mit Hilfe versteckt an ihrem Körper angebrachter Sende- und Empfangsgeräte durch Morsezeichen über die Karten ihrer ahnungslosen Spielpartner verständigten. Wenn diese Täter sich auch sehr schnell verdächtig machten, bestätigt dieser Fall doch die Tendenz, durch Einsatz neuer Methoden das kriminelle Ziel zu erreichen. Ähnlich arbeiteten wiederholt Banden, die sich von ausländischen Rennplätzen, meist aus Frankreich, durch Funk unmittelbar nach einem gelaufenen Rennen den Namen des Siegerpferdes übermitteln ließen, um im Inland noch im letzten
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Glücks- und Falschspiel
Augenblick auf dieses Pferd hoch zu setzen, bevor die meist über den Fernschreiber kommende offizielle Benachrichtigung das Wettannahmebüro erreichte. In München nutzte ein Mechaniker auf die gleiche Weise ein durch das Fernsehen übertragenes Pferderennen aus Düsseldorf, um im letzten Moment auf das Siegerpferd zu setzen. Spricht man von Falschspielern, denkt man gemeinhin zunächst an die mit Karten und Würfeln arbeitenden Täter. Aber auch bei den mechanisch betriebenen Spielen gibt es Betrugsmöglichkeiten. Der Täterkreis ist auf diesem Gebiet erfreulicherweise nicht so groß, denn nur der Unternehmer selbst ist in der Lage, betrügerisch zu manipulieren, und ihm bieten sich viele Möglichkeiten. Täter sind also in diesen Fällen immer nur die gewerbsmäßigen Unternehmer. Sie täuschen dem Publikum vor, der Erfolg hänge von seiner Geschicklichkeit und dem Zufall ab, während sie den Ausgang des Spiels durch heimliche Kunstgriffe, Tricks und Taschenspielerkniffe nach ihrem Willen lenken. Die Spieler werden somit über den wahren Spielvorgang nicht oder falsch orientiert. Dem Publikum wird ζ. B. vorgespiegelt, es sei auf Grund einer konstanten Umdrehungsgeschwindigkeit eines Roulettekessels und der sich ständig gleichbleibenden Ablaufzeit der Kugel in der Lage, Berechnungen über den Spielausgang anzustellen. Tatsächlich können aber die Unternehmer die Umdrehungen des Kessels und die gleichmäßige Abiaufzeit der Kugel verändern. Betont sei, daß es in den staatlich-konzessionierten Spielbanken nicht möglich ist, auf diese Weise betrogen zu werden. Der Roulette-Apparat ist sorgfältig ausbalanciert und wird laufend überwacht. Die Direktoren der Spielcasinos sind ängstlich um das völlig einwandfreie Funktionieren des Roulettes besorgt. Das geringste Versehen und Versagen würde sofort den Verdacht des Betruges oder Falschspiels erwecken und sich auf den Ruf des Casinos und damit auf den Publikumsbesuch unliebsam auswirken. Wohl aber kommen gelegentlich Betrügereien während des Roulettespiels durch Spieler, Croupiers und durch Kombinationen zwischen Croupiers und Spielern und Croupiers untereinander vor, die aber dank der strengen Überwachungsmaßnahmen meist in Kürze erkannt und durch präventive Maßnahmen unmöglich gemacht werden. D. Möglichkeiten des Spielbctruges und seine Bekämpfung Eine erfolgversprechende präventive und repressive Arbeit auf dem Gebiet des Spielbetruges ist nur möglich, wenn die Sachbearbeiter die Spielregeln der in Falschspielerkreisen gebräuchlichsten Spiele beherrschen, die Tricks und Falschspielmöglichkeiten kennen, Milieu- und
Personenkenntnis besitzen und mit den Gewohnheiten und Gebräuchen der Täter vertraut sind. Derartige Kenntnisse sind allerdings nicht von heute auf morgen zu erwerben. Manches über Bekämpfungsmöglichkeiten konnte bereits den Ausführungen zu C. entnommen werden. Greifen wir nun aus dem weiten Bereich des Spielbetruges einige Kartentricks der Falschspieler heraus und werfen wir danach einen Blick auf die Betrugsmöglichkeiten bei Veranstaltungen auf Volksfesten. 1. Falschspiel
mit
Karten
Der Falschspieler kann grundsätzlich nur Griffe anwenden, die ohne auffallende Bewegung auszuführen sind. Nur gelegentlich, ζ. B. beim Spiel mit Neulingen, kommt es zu Griffen wie der „Volte", die in der Bewegung ausgeführt werden muß und zum Ziel hat, eine gezogene oder abgehobene Karte in eine bestimmte Lage zu bringen. Gezinkte, also gezeichnete Karten werden von Routiniers gemieden, da sie zu einem eindeutigen Beweismittel gegen sie werden können. Der Nachweis des Falschspiels bei einwandfreien Karten hingegen ist schwer. Deshalb wird zunächst versucht, mit manuellen Fertigkeiten auszukommen. Betrügerische Manipulationen sind nur während des Spiels auf Grund der jeweils typischen Fingerund Handstellung festzustellen. Vollendet ausgeführte Griffe sind oft auch für den Eingeweihten nicht zu erkennen. Wichtig ist es, die Umgebung der Spieler im Auge zu behalten, denn unter den Zuschauern kann sich jemand befinden, der Zeichen gibt. Besonders die Spielpartner des Opfers müssen genau beobachtet werden. Verdächtig ist immer, wenn Spieler nervös sind, den Kopf schütteln, auf den Tisch trommeln und zeitweise einen oder gleich mehrere Finger von sich strecken. Auch ist darauf zu achten, ob einer der „passenden" Spieler die Karten beim Zusammennehmen irgendwie sortiert. Glänzende Gegenstände — Zigarettendosen, Silbertabletts usw. —, in denen sich Karten spiegeln können, sind auf Spieltischen immer verdächtig. Nicht zuletzt aber hat die Aufmerksamkeit den Karten selbst zu gelten. Jede gezeichnete Karte, mit Ausnahme der gezinkt gedruckten, ist bei schräg einfallendem Licht sofort erkennbar. Es kann entweder an ihr etwas ausgeschabt oder auf ihr eingezeichnet worden sein. Da die Karten lackiert sind, wird die Lackschicht durch diese Manipulation beschädigt. Der fragliche Punkt wirkt im Licht matt. Wird mit „One-Way-Karten" gespielt, mit Karten, die ein aufrechtstehendes Bild auf der Rückseite haben, bei dessen Betrachtung man von oben und unten sprechen kann, muß bei
Glücks- und Falschspiel polizeilichem Einschreiten das Kartenpaket in seiner Ordnung belassen werden, denn nur so ist festzustellen, ob bestimmte Karten verkehrt herum eingelegt wurden. Immer sind Spielpakete auf konische Ausschleifungen der Ränder zu untersuchen. Hingegen beweist die Feststellung von Fingernageleinkerbungen, Längs- oder Querfaltungen nichts, denn niemand kann dem Falschspieler beweisen, daß gerade er die Karten so gezeichnet oder verbogen hat. Reicht die im allgemeinen hervorragende Spielkunst der Falschspieler nicht aus, so greifen sie auf Zusammenarbeit mit ihren Komplicen, Kartentricks oder präparierte Spielkarten zurück. Falschspielerarbeit ist meist Bandenarbeit. Zusammenwirken ist daher Trumpf. Ein Komplice signalisiert dem Falschspieler die Karten seines Opfers. Das ist keineswegs schwierig. Natürlich hat jede Bande ihr eigenes System. Farben werden oft durch Zigarettenstellung in der Hand oder im Mund angezeigt, Kartenwerte durch Handbewegungen signalisiert. Der „Kiebitz" wird, damit er nicht auffällt, in der Regel bald durch einen anderen abgelöst. Auch der Wirt oder Kellner kann Zeichengeber sein. Wenn möglich, werden die Karten vorher „gelegt", d. h. das Kartenpaket, nach einem bestimmten System sortiert, ins Spiel gebracht. Derartige „Ladungen" oder „Taillen" müssen bei Spielen wie ζ. B. Baccarat genau errechnet sein und setzen gute mathematische Kenntnisse voraus. Wichtig ist, beim polizeilichen Eingreifen das Kartenpaket genau dahingehend zu überprüfen, ob derartige „Päckchen" gemacht worden sind. Ein besonderes Kapitel sind die BauernfängerMethoden, über die bereits einiges gesagt worden ist. Auf das immer noch wichtigste Bauernfängerspiel, das „Kümmelblättchen", sei kurz eingegangen. Benötigt werden drei Karten, der sogenannte „Besen", der gewöhnlich aus zwei schwarzen und einer roten Karte besteht. Der Spieler soll unter den drei Karten die rote Gewinnkarte herausfinden. Gelingt ihm das, so erhält er den doppelten Einsatz, andernfalls ist sein Einsatz verloren. Der Bauernfänger nimmt eine schwarze Karte in die linke und die beiden anderen in die rechte Hand. Die Karten werden mit der Rückseite nach oben von Daumen, Mittel- und Zeigefinger gehalten. Die beiden Karten in der rechten Hand liegen übereinander, und zwar die rote Karte allen sichtbar zuunterst. Dann wirft der Bauernfänger zuerst die Gewinnkarte und darauf die beiden anderen Karten nacheinander verdeckt und unter schwunghaften Bewegungen auf den Spieltisch. Bei ehrlichem Spiel müßten die Zuschauer also wissen, wo die Gewinnkarte liegt. Beteiligt sich nun der Freier, läßt ihn der Bauernfänger einige Male gewinnen. Macht er, auf diese
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Weise animiert, höhere Einsätze, wirft der Bauernfänger nicht mehr regelrecht die rote Gewinnkarte zuerst, sondern läßt geschickt die darüberliegende schwarze Karte als erste auf den Tisch gleiten, ohne daß der Freier diesen Trick bemerken kann. „Kümmelblättchen" so gespielt ist reiner Betrug. Unter den Falschspielertricks spielt das Falschmischen eine Hauptrolle. Wer es beherrscht, kann sich gegen viele Eventualitäten sichern. Der Falschspieler weiß, daß sein Komplice beim Zusammennehmen der Karten eine „Ladung" gemacht hat. Nun kommt es darauf an, diese vorsortierten Karten beim Mischen nicht in ihrer Lage zu verändern und Opfer und Komplicen geeignete Karten zu geben. Um das zu erreichen, gibt es zahlreiche Tricks. Eine der häufigsten Falschmischarten ist das „Aufmischen", eine Manipulation, durch die der Falschspieler es fertigbringt, die ursprünglich zuoberst liegende Karte durch eine oder mehrere Karten zu überdecken. Eine andere sehr gebräuchliche Art des Falschmischens ist der „Durchzug". Bei seiner Anwendung täuscht der Falschspieler ein ordnungsmäßiges Mischen vor, während er tatsächlich die „Ladung" geschlossen durch das Kartenpaket schiebt, sie durchzieht. Es gibt auch viele Arten des falschen Abhebens, und es ist eigentlich unverständlich, wie leicht oft Kniffe, die relativ einfach und sogar plump sind, angebracht werden können, ohne daß der Falschspieler dabei ertappt wird. Meistens sind die anderen Spieler so mit ihren eigenen Karten beschäftigt, daß sie auf nichts anderes achten. Die „Volte", in vielen Variationen möglich, ist, da nur in der Bewegung ausführbar, selten anzubringen. Hingegen wird das „Filet" gerne angewandt, erfordert jedoch lange Übung. Der Griff soll es ermöglichen, eine Karte, die noch nicht „dran" ist, auszugeben. Die Filagen können mit einer Hand oder beidhändig durchgeführt werden und gelten als die geeignetsten Griffe, sich die beste Karte zu sichern. Schließlich sei unter den vielen Falschspielertricks noch die „Kellerarbeit" erwähnt. Sie ist eine riskante Sache, da sich der Falschspieler von dem Kartenpaket eine oder mehrere günstige Karten stehlen muß, um sie zur gegebenen Zeit ins Spiel zu bringen. Die ausgetauschte Karte hält er in der hohlen Hand, verbirgt sie in seiner Kleidung, drückt sie mit dem Daumen unter die Tischkante oder wagt es sogar, sie auf den Schoß zu legen. Die große Gefahr liegt darin, daß bei einer Entdeckung der klare Beweis des Falschspiels gegeben ist. Präparierte Karten kommen immer wieder zur Anwendung. Die Zinkung ist ganz individuell und daher an kein Schema gebunden. Am unauffälligsten ist es, bestimmte Karten durch einen Punkt auf der Kartenrückseite zu kenn-
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zeichnen. Allerdings kann dieses Einpunktsystem nur bei Karten mit bestimmten Rückenmustern verwendet werden. Hingegen eignen sich fast alle Karten mit Bordürenverzierungen für das Mehrpunktsystem. Man bringt ζ. B. Punkte auf der linken Kartenseite für Zahlenwerte an, Punkte an der oberen Bordürenverzierung für Figuren und Punkte an der rechten Kartenseite für Farben. Zu den gezeichneten Karten sind auch die „gestochenen Karten" zu zählen. Die Honneurs werden mit einer feinen Nadel in die Kartenrückseite gestochen. Die leichten Erhöhungen sind beim Geben mit dem Daumen zu fühlen. Es kommt auch vor, daß Karten gebleicht werden. Die betreffenden Karten werden einige Stunden der Sonne ausgesetzt und dadurch eine Nuance heller, ein Umstand, der den übrigen Spielern nicht auffällt. Es gibt ferner Karten, die der Falschspieler mit einem farblosen Spezialfirnis zeichnet. Die Zinken sind nur als Reflexe unter direktem Licht erkennbar. Man findet gelegentlich auch „Phosphorkarten". Der Falschspieler trägt eine dunkle Brille und zinkt ihm geeignet erscheinende Karten mit Spuren von Phosphoröl. Die Brillengläser sind derart konstruiert, daß die Phosphoreszenz, die bei normaler Beleuchtung unsichtbar ist, für ihn erkennbar wird. Für die Anwendung von Falschspielertricks, besonders für das Falschmischen, kann es notwendig werden, den Karten einen besonderen Schliff zu geben. Bestimmte Karten werden an beiden Längsseiten ausgeschliffen. Der Falschspieler hat es nun in der Hand, im richtigen Zeitpunkt die so präparierten Karten aus dem Spielpaket herauszuziehen. Um ganz sicher zu gehen, kann er andere Karten gegenschleifen, d. h. die Mitte der Längsseite stehenlassen. Mit diesen sog. „Zugkarten" kann er noch leichter manipulieren. Um das Kartenspiel an einer bestimmten Stelle abheben zu können, greift der Falschspieler zur „Innenmolle" oder „Außenmolle". Bei der Außenmolle biegt er nach beendetem Mischen den oberen Teil des Kartenpakets oder eine einzelne Karte muldenförmig nach unten. Dadurch entsteht an der Längsseite des Kartenpaketes eine kleine Lücke, in die er beim Abheben greifen kann. Arbeitet er mit einem Komplicen zusammen, so zeigt er diesem mit der „Molle" an, wo abgehoben werden soll. Die Innenmolle entsteht durch ein kurzes Hochblättern des oberen Teiles des Kartenpaketes mit der „Ladung", wodurch diese oberen Karten muldenförmig gebogen werden. Dieser so gebogene Kartenteil wird dann nach unten gemischt, ergibt wiederum einen Zwischenraum, im Gegensatz zur Außenmolle aber an der Schmalseite der Karten, und zeigt an, wo abgehoben werden soll.
2. Betrugsmöglichkeiten auf Volksfesten und Jahrmärkten Auf Volksfesten sind Spielbuden, zu denen auch Schießbuden gehören, stets sehr stark vertreten. Charakterlose Schausteller, die sich auf Kosten der Besucher bereichern wollen, versuchen, diesen die sogenannten „Zocker-Spiele" schmackhaft zu machen. Diese Art von Spielen gehört zu den „bedenklichen Spielen". Unter den Begriff „bedenkliche Spiele" fallen solche, bei denen die Gefahr besteht, daß der Spieler in kurzer Zeit unangemessen hohe Verluste erleidet. Auch gehören Spieleinrichtungen unter diesen Begriff, die nach außen hin als Geschicklichkeitsspiele getarnt sind, jedoch den Charakter eines Glücksspiels haben. Greifen wir uns einige dieser bedenklichen Spiele heraus: Bei allen „Angelspielen" besteht die Betrugsmöglichkeit darin, daß die Nummer oder Farbe des Hauptgewinns oder anderer Gewinne absichtlich vom Veranstalter zurückgehalten wird. Beim Publikum recht beliebt ist das „Japanische Fadenziehen". An etwa 150 Fäden von je 2 m Länge hängen auf der einen Seite im vorgeschriebenen Verhältnis Gewinne und Nieten. Auf der anderen Seite laufen die Enden durch eine Öse und sind zu einem Bündel vereinigt. Der Spieler zieht an einem der Fadenenden. Ist an diesem Faden ein Gegenstand befestigt, so hat er gewonnen. Der Veranstalter kann betrügen, indem er den Faden mit dem Hauptgewinn um einige Zentimeter kürzt und es damit dem Spieler unmöglich macht, diesen Faden zu ziehen. Auch das „Tischtennisball-Wurfspiel" wird gern gespielt. Zu diesem Spielgerät gehören ein Kasten und 8 Tischtennisbälle. Im Boden des Kastens sind 48 kreisrunde Bohrungen, in denen die Bälle liegen können. Jedes der Löcher ist mit einer Zahl gekennzeichnet. Die Bälle werden mit einer Schaufel auf das Spielfeld geschüttet, jeder Ball bleibt in einer der Öffnungen liegen. Die Zahlen werden addiert, die Gesamtsumme ergibt die auf dem Gewinnplan ersichtliche Wertungsziffer. Der Veranstalter kann die Spieler dadurch benachteiligen, daß er den großen Gewinnen Zahlen zuteilt, die kaum erreicht werden können, da sie beispielsweise in der obersten oder untersten Reihe des leicht geneigten Spielfeldes angebracht sind. Die leicht erreichbaren Zahlen sind hingegen im Gewinnplan Nieten. Damit dieser Nietenbereich den Spielern nicht auffällt, sind die Zahlen nicht in arithmetischer Folge auf dem Gewinnplan verzeichnet. Auch das „Schießen auf Bastschnüre" ist bei Volksfestbesuchern beliebt. An der Vorderfront der Schießbude sind Bastschnüre angebracht, an ihren unteren Enden hängen die Gewinne. Geschossen wird mit einer Luftdruckpistole. Etwa in Schußhöhe verläuft eine Querleiste, an der die
Glücks- und Falschspiel Bastfäden anliegen und die zugleich als Stütze für den Schützen dient. Die Pistolenmündung wird unmittelbar an die Bastschnüre gehalten. Gewinnanspruch besteht, wenn die ausgewählte Bastschnur abgeschossen ist und der an ihr hängende Gewinn herabfällt. Das Spiel sieht kinderleicht aus, tatsächlich gelingt es aber meist erst nach einer Vielzahl von Schüssen, die zähen Längsfasern zu durchtrennen. Dem Schützen fällt kaum auf, daß der Veranstalter mit Daumen und Zeigefinger, die er vorher mit Speichel befeuchtet hat, von oben nach unten über die Bastschnur streicht. Durch dieses Befeuchten wird sie widerstandsfähiger gemacht. Versuche ergaben, daß die betreffende Bastschnur erst nach 50—60 Schuß durchschossen war. Daß die bei Tombola und „Glückshafen" verwendeten Strohlose sich leicht zu Betrügereien mißbrauchen lassen, ist bekannt, denn es bietet keine Schwierigkeit, die Lose unbeschädigt aus der Strohhülse herauszuziehen, die Hauptgewinne auszusortieren und die überprüften Lose unbeschädigt wieder in die Hülse zu stecken. Täter braucht in diesem Fall nicht einmal der Veranstalter selbst zu sein. Seine Losverkäufer können genauso verfahren und den Haupttreffer Angehörigen oder Bekannten zustecken. Nur Lose mit Sicherheitsverschluß an beiden Enden schützen vor derartigen Praktiken, und der äußerlich sichtbare Steuerstempelaufdruck erschwert das Beimischen von Nieten. Soweit zu den bedenklichen Glücksspielen. Nun noch einige Hinweise zu den Geschicklichkeitsspielen: Die allbekannte „Lustige Nagelei" soll an astfreien Fichtenholzbalken durchgeführt werden. Es gilt, mit einem Hammer einen Nagel bis zum Kopf in den Balken zu treiben. Der Spieler wird stets benachteiligt, wenn der Balken aus Hartholz ist oder gewölbte Hämmer oder ausgeglühte Nägel verwendet werden. Gerne belustigen sich die Jahrmarktsbesucher beim „Eimerwerfen". Drei Holzbälle sind so in einen Metalleimer zu werfen, daß sie darin hegen bleiben. Der Eimer ist dem Werfer zugeneigt. Schwierig ist es, den ersten Ball so zu werfen, daß er nicht herausspringt. Der Eimerboden ist nach oben gewölbt und vibriert beim Aufschlag des Balles. Liegt erst einmal ein Ball im Eimer, wird die Bodenschwingung stark herabgemindert. Der Werfer wird immer dann benachteiligt, wenn der Veranstalter den ersten bereits im Eimer liegenden Ball vor jedem weiteren Wurf herausnimmt. Die verschiedenen Spiele des „Ringwerfens" werden zu Glücksspielen, wenn der Durchmesser des Wurfringes und der des Gewinnes nicht die vorgeschriebenen Maße haben. Oft stehen die Gewinne auf Holzklötzen, deren Ecken abgerundet sein sollen. Auch Abstand und Zwischen' a u m von Klotz zu Klotz sind im Interesse der
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Werfer vorgeschrieben. Es ist wichtig, daß bei würfelförmigen Klötzen nicht die Oberflächendiagonale, sondern die Körperdiagonale im rechten Verhältnis zum Ringdurchmesser stehen muß. Der Wurfring muß also erheblich größer sein. Werden die festgelegten Maße nicht eingehalten, bleibt der Ring unweigerlich an der Würfelkante hängen, der Wurf gewinnt nicht, denn der Ring soll den Klotz umschließen und flach auf dem Spieltisch liegen. Damit ist an einigen wenigen Spielen gezeigt worden, daß die Spielveranstalter zahlreiche Möglichkeiten haben, die Spieler zu benachteiligen. Die die Spielgeräte überprüfenden und zulassenden Beamten müssen diese Betrugsmöglichkeiten kennen und die Geräte, Spielpläne und den Spielverlauf bei Volksbelustigungen laufend überwachen. E. Zusammenfassung Gelegenheits- und Gewohnheitsspieler beschäftigen den Kriminalisten nur in besonders gelagerten Fällen. Die Harmlosigkeit des Glücksspiels hört jedoch auf, sobald es gewerbsmäßig betrieben wird. Vor allem besteht dauernd die Gefahr, daß der gewerbsmäßige Spieler zum Falschspiel übergeht. Falschspieler sind Betrugsspezialisten und durchweg Berufsverbrecher. Sie arbeiten vielfach als reisende, interlokale und internationale Täter, auf steter Jagd nach einer lohnenden Chance. Völlig skrupellos vorgehend, ihr Metier meisterlich beherrschend und ihre Opfer wirtschaftlich bis zum letzten ausbeutend, verursachen sie hohen Schaden und verbreiten Kummer und Leid. Die Schwierigkeit in der Bekämpfung des unerlaubten Glücks- und Falschspiels ist den Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden bekannt. Sie liegt u. a. darin begründet, daß — die gesetzlichen Bestimmungen — mindestens bisher — unzureichend sind, — die Beweisführung im Einzelfall oft sehr schwer ist, — die unterschiedliche Rechtsprechung der Straf- und Verwaltungsgerichte den Verbrechern zugute kommt, und nicht zuletzt darin, daß •— die milde Bestrafung überführter Täter andere nicht abschreckt. Man gebe sich nicht der Hoffnung hin, derartige Charaktertäter noch erziehen und bessern zu können. Ihre Einstellung ist bewußt antisozial. Harte Strafen, Sicherungsaufsicht und, wenn notwendig, Sicherungsverwahrung sind allein geeignet, sie von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Die geplante Neufassung der Straftatbestände und die zu erwartenden Rechtsverordnungen geben Behörden und Ge-
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Glücks- und Falschspiel — Gnadenerweis
richten die Möglichkeit, wirksamer als bisher präventiv und repressiv einschreiten zu können. Für die Sachaufklärung muß die Kriminalpolizei erfahrene Spezialisten einsetzen. Die Erfassung aller bekannt werdenden Spiele und Tätertricks sowie die Auswertung einschlägiger Gutachten und Gerichtsurteile durch kriminalpolizeiliche Zentralstellen ist für die Ausbildung der Beamten und die Weiterentwicklung taktischer und technischer Maßnahmen erforderlich. Die enge und reibungslose Zusammenarbeit der Kripodienststellen bei Bund und Ländern sollte auch auf andere in diesem Arbeitsbereich tätig werdende Behörden ausgedehnt werden. Darüber hinaus ist ein enger Kontakt und Erfahrungsaustausch mit ausländischen Polizeidienststellen zwingend geboten, eine Erkenntnis, die IKPO-Interpol bereits in die Tat umsetzt. Monographien H. v o n M a n t e u f f e l : Falschspieler. 1923. W. S a u e r : Kriminalsoziologie. 1933. Λ. A l l a n und Έ. S p r u n g : Korrigiertes Glück. 1955. Sammelwerke und Zeitschrif tenauts&tze W. D l t t m a n n und K. F o e l l : Falschspieler mit Funkapparatur. Krim. S. 195, 1953. G. V i e t h : Glücksspiele. Taschenbuch für Kriminalisten. Bd. IV S. 91, 1954. Bekämpfung von Glücks- und Falschspiel. Vortragsreihe des Bundeskriminalamtes Wiesbaden. 1955. J . W i e s e : Betrugsmöglichkeiten durch Spielveranstalter auf Volksfesten. Taschenbuch für Kriminalisten. Bd. IX, S. 39, 1959. W . B e r k : Geldsplelautomaten und Polizei. Taschenbuch für Kriminalisten. Bd. IX S. 56, 1959. EBERHARD-JOACHIM ESCHENBACH
GNADENERWEIS A. Wesen und Formen Gnadenerweis (G.) ist ein unmittelbarer hoheitlicher Eingriff, durch den bestimmte Rechtsfolgen gemildert (ζ. B. Herabsetzung einer Geldoder Freiheitsstrafe), geändert (ζ. B. Umwandlung einer Strafe), ganz oder teilweise, vorläufig oder bedingt beseitigt werden (ζ. B. völliger Straferlaß, Teilerlaß einer Strafe, Gewährung eines Unterhaltsbeitrages an Stelle eines völligen Verlustes von Bezügen, Erlaß auf Wohlverhalten, bedingte Strafaussetzung, bedingte Entlassung). G.e kommen vornehmlich bei der Beseitigung von Folgen strafgerichtlicher Verurteilung in Frage. Doch auch auf anderen Rechtsgebieten (ζ. B. im Steuerstrafrecht, bei Dienststrafurteilen, bei ehrengerichtlichen Entscheidungen, bei der Aberkennung von Titeln und Orden, bei Sühnemaßnahmen der Spruchkammern und der politischen Säuberung) kommt dem G. große Bedeutung zu. In jüngster Zeit hat der Umfang der
G.e außerhalb der Strafrechtspflege durch die auf Verwaltungsbehörden übertragenen Zuständigkeiten zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten zugenommen. Nur noch geringe praktische Bedeutung kommt dem G. bei Verurteilungen durch Gerichte der Besatzungsmächte zu. G.e können gegenüber einer Einzelperson (Einzelbegnadigung) oder gegenüber einer Gruppe von Personen (Amnestie, Straffreiheitsgesetze) ausgesprochen werden. Die wichtigsten Straffreiheitsgesetze des Bundes waren das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 31.12. 1949 (Bundesgesetzbl. 37) und vom 17. Juli 1954 (Bundesgesetzbl. I, 303). Durch Beschluß vom 22. 4.1953 hat übrigens das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß das Gesetz vom 31.12. 1949 mit dem Grundgesetz vereinbar ist, weil die Gewährung von Amnestie nicht mehr als Ausfluß einer dem Recht vorgehenden Gnade, sondern als Korrektur des Rechts selbst empfunden wird (BVerfE 2, 213). Der G. kann sich ferner auf die Niederschlagung eines drohenden oder noch nicht abgeschlossenen Verfahrens (Abolition, jedoch nach herrschender Meinung nur im Rahmen eines Gesetzes) sowie auf die teilweise oder vollständige Beseitigung bereits eingetretener, eine Erschwernis darstellender Rechtsfolgen beziehen. Für die Ausübung des G. bei Gesamtstrafen von Gerichten des Bundes und der Länder oder mehrerer Länder bestehen besondere Vereinbarungen. Zum Wesen des G. gehört ferner, daß Gnade vor Recht ergeht und daß kein Recht auf Gnade besteht. Obgleich es demnach kein Gnadenrecht im eigentlichen Sinne gibt, finden sich in den demokratischen Staaten doch durchweg Bestimmungen über das Recht der Begnadigung und über die Handhabung der Gnadenbefugnis. Was früher das ungeschriebene, aus der Machtfülle des Herrschers hergeleitete Recht zur Erteilung eines G. war, ist in den demokratischen Verfassungen ausdrücklich festgelegt worden. Insofern bedeutet Gnadenrecht das Recht, Gnade zu üben oder einen G. zu erteilen (Gnadenhoheit, Gnadenbefugnis, Gnadengewalt). Für die neuere Zeit ist ferner kennzeichnend, daß durch den Gesetzgeber und durch die Inhaber der Gnadenbefugnis Regelungen über die Zuständigkeit, den Umfang und über das Verfahren bei der Handhabung der Gnadenbefugnis getroffen worden sind. Im Sinne dieser Gnadenbestimmungen spricht man daher ebenfalls vom Gnadenrecht.
B. Rechtsnatur des Gnadenerweises Die herrschende Meinung sieht im G. einen Verzicht des Staates auf einen Strafanspruch (Verzichtstheorie). Die Verzichtstheorie führt aber nicht in allen Fällen zu einer befriedigenden Begründung. Ist ζ. B. im Zeitpunkt der Ent-
Gnadenerweis Scheidung über einen G. die Vollstreckung einer Geldstrafe bereits vollzogen, so muß man von einem „Verzicht mit rückwirkender Kraft" sprechen. Statt der Verzichtstheorie wird deshalb vielfach die Restitutionstheorie vertreten, nach welcher alle unmittelbaren Rechtsfolgen einer Verurteilung, soweit sie Strafcharakter haben, so beseitigt werden, als ob sie gar nicht eingetreten seien. Oft wird aber eine solche völlige Wiederherstellung nicht möglich sein. Deshalb wird der G. auch nur als Befehl der Staatsgewalt an die zuständigen Behörden bezeichnet (Befehlstheorie). Unbestritten ist, daß es sich beim G., soweit er nicht im Wege der Gesetzgebung erfolgt, um einen begünstigenden Verwaltungsakt handelt. Der G. ist aber ein justizfreier Hoheitsakt, der keiner richterlichen Nachprüfung unterliegt (Urt. d. Württ.-Bad. VGH v. 1 3 . 1 0 . 1 9 4 9 , DOV 50, 377; Urt. d. OVG Rheinland-Pfalz v. 29. 6. 54, N J W 1953, 1088; Beschl. d. OLG Düsseldorf v. 1. 7.1958, J Z 1959, 58; Urt. d. BVerwG v. 3 1 . 1 . 1958, DVB1 1958, 750 und Beschl. d. OVerwG Münster v. 21. 4.1953, N J W 1953, 1240). C. Gnadenerweis und Recht Die Ausschaltung der vom Gesetzgeber gewollten und allgemein verbindlichen Rechtsfolgen im Wege eines G. birgt die Gefahr in sich, daß bei nichtbetroffenen Dritten die Anerkennung der Rechtsordnung in Gefahr gerät. Das Recht darf nicht durch willkürliche G.e verdrängt werden. Recht kann aber nicht nur im Sinne der gesetzten Rechtsordnung verstanden werden. Kein Gesetzgeber kann die Vielseitigkeit des Lebens unter gleichzeitiger Berücksichtigung aller zukünftigen Entwicklungen allumfassend regeln und begrifflich so abgrenzen, daß die Gesetzesauslegung im Einzelfall keine Schwierigkeiten mehr bietet. Es werden immer wieder Mängel bei der Wahrheitsfindung und bei der Gesetzesauslegung sichtbar werden. Gerechtigkeit und Billigkeit verlangen dann einen Ausgleich. Hinzu kommen Fälle, in denen sich der Inhaber staatlicher Gewalt dem Gedanken der Milde nicht verschließen kann, weil ζ. B. zwischenzeitliche Ereignisse in der Person des Betroffenen oder seiner Familie den ursprünglichen Maßstab für eine Strafzumessung oder eine andere beschwerende Entscheidung als nicht oder nicht mehr angemessen erscheinen lassen. Der G. verdrängt dann nicht das Recht, weil er selbst dem Recht und der Gerechtigkeit dient. Beim Einzel-G. läßt sich feststellen, ob sich etwa aus einer starren Gesetzesbestimmung, aus dem Widerspruch zwischen dem Willen des Gesetzgebers und dem Wortlaut eines Gesetzes und den Gegebenheiten des Einzelfalles, aus der Mangelhaftigkeit einer rechtskräftig gewordenen
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Entscheidung oder aus dem Gedanken des Mitleids unter Berücksichtigung übergeordneter Gesichtspunkte der Gerechtigkeit ein Ausgleich durch einen G. nahelegt. Bei einer gruppenweisen Begnadigung muß demgegenüber der Gesetzgeber von den allgemeinen Verhältnissen (ζ. B. politischen, wirtschaftlichen) ausgehen. E r muß ferner allgemeine und damit stets auslegungsbedürftige Abgrenzungen vornehmen. Bei einem Straffreiheitsgesetz besteht daher leicht die Gefahr, daß auch solche Personen Nutznießer eines G. werden, bei denen ein Einzel-G. nicht gerechtfertigt wäre. Für eine gruppenweise Begnadigung durch ein Amnestie- oder Straffreiheitsgesetz müssen deshalb gewichtige, den Interessen der Strafrechtspflege übergeordnete Gründe vorhanden sein, da sonst durch solche Gesetze leicht dem Unrecht statt dem Recht gedient wird und daraus Gefahren für die Rechtssicherheit erwachsen können. D. Die gnadenrechtlichen Beetimmungen für die Erteilung eines Gnadenerweises Nach den Verfassungen der westlichen Demokratien steht das Recht auf Gewährung eines Einzel-G. in der Regel dem Staatsoberhaupt oder einem besonderen Ausschuß der Volksvertretung zu. Meist kann auch die Niederschlagung eines Verfahrens nur durch Gesetz erfolgen. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind vielfach ergänzt durch Anordnungen über die Übertragung der Gnadenbefugnis auf andere Hoheitsträger und über die Ausübung des G. 1. Die Gnadenbestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland Nach Art. 60 Abs. 2 GG übt der Bundespräsident für den Bund im Einzelfall das Gnadenrecht aus. In Frage kommen vor allem G.e bei Verurteilung durch den BGH im ersten und letzten Rechtszug, bei dienststrafrechtlichen Entscheidungen gegen Bundesbeamte (Art. 12 des Ges. zur Änderung und Ergänzung des Dienststrafrechts vom 2 8 . 1 1 . 1 9 5 2 , Bundesgesetzbl. I, 759; Rundschr. d. BMI vom 3 . 1 0 . 1 9 5 2 betr. Prüfung der formellen Voraussetzungen bei Gnadengesuchen von Personen, die unter das Gesetz zu Art. 131 GG fallen, GemMBl. 1952, 297) und bei Entscheidungen im Bereich der Bundesfinanzverwaltung (insbesondere §477 AO; Ausführungserlaß des BMF vom 1 8 . 9 . 1 9 5 4 BZB1. 1954, 383). Der Umfang der Übertragung der Gnadenbefugnis auf die Bundesminister ist durch die „Anordnung des Bundespräsidenten über die Ausübung des Begnadigungsrechts des Bundes" vom 1 0 . 1 2 . 1 9 5 3 geregelt worden (Bundesgesetzbl. I, 790; im Saarland durch AO über die Einführung von Anordnungen und Erlassen des Bundespräsidenten im Saarland —
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Gnadenerweis
Ziff. 10 — ν. 23. Januar 1957 in Kraft, Bundesgesetzbl. I, 1). Im Bereich der Bundes Justizverwaltung findet die Gnadenordnung des früheren R J M vom 6. 2. 1935 ( D J S. 203 — GnO 1935) und im Bereich der Bundesfinanzverwaltung die AV des früheren RMdF über die Ausübung des Gnadenrechts und das Verfahren in Gnadensachen vom 26. 2.1937 sinngemäße Anwendung (RStBl. S. 419, RZollBl. S. 121 und D J S. 490 — GnO Finanzen 1937). Bei Verurteilung durch ein alliiertes Gericht vgl. Art. 6 und 7 des Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (Bundesgesetzbl. I I 1954, S. 157). In den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gelten folgende Gnadenrechtsbestimmungen: a) B a d e n - W ü r t t e m b e r g : Nach Art. 52 der Landesverfassung steht die Ausübung des Gnadenrechts dem Ministerpräsidenten zu (GBl. 1953, 173). In der „Anordnung des Ministerpräsidenten über die Ausübung des Gnadenrechts" vom 18. Juni 1954 (GBl. 81) wurde von diesem angeordnet, in welchen Fällen er sich die Gnadenbefugnis vorbehalten hat und in welchen Fällen sie auf die jeweils fachlich zuständigen Minister übertragen wurde. Im Bereich der Justizverwaltung werden die GnO 1935 bzw. die badischen Gnadenbestimmungen vom 8 . 8 . 1 9 4 7 (BadGVBl., 181) angewandt. Die in § 20 Abs. 2 beider Gnadenordnungen fr. vorgesehene Zuständigkeit des Amtsrichters ist durch AVdJM v. 12. Juni 1959 (Die Justiz, 127) auf die Oberstaatsanwälte übergegangen. Im Bereich der Finanzverwaltung findet die GnO Finanzen 1937 Anwendung. b) B a y e r n : In Bayern steht die Ausübung des Begnadigungsrechts nach Art. 47 Abs. 4 der Verfassung ebenfalls dem Ministerpräsidenten zu (GVOB1. 1946, 353). Dieser hat in einer Bek. über die Ausübung des Begnadigungsrechts vom 2 2 . 1 2 . 1 9 5 6 festgelegt, welche Gnadenbefugnisse ihm vorbehalten und welche auf die Ressortminister übertragen sind (GVOB1., 438). Für die von den ordentlichen Gerichten verhängten Strafen hat er ferner eine eigene „Bayerische Gnadenordnung" vom 1 1 . 1 1 . 1 9 5 4 bekannt gemacht (GVOB1. 1955, 1). Zu erwähnen ist ferner die Bek. des BayStMdJ v. 12. 2.1957 über den Vollzug der Bayerischen Gnadenordnung (Bayer. JMB1., 25). Für die Finanzverwaltung ist die Ausübung des Begnadigungsrechts bei Steuerstrafen, die durch die Finanzbehörden verhängt wurden, durch Entschließung des BayerStMdF vom 1 9 . 6 . 1 9 5 7 geregelt worden (Amtsbl. d. BayStMdF, 668). Außerdem wird die GnO Finanzen 1937 entsprechend angewandt. c) B e r l i n : Das Recht der Begnadigung übt in Berlin der Senat nach Anhörung des von dem Abgeordnetenhaus gewählten Ausschusses für Gnadensachen aus (Art. 68 der Verfassung, VOB1. I, 1950, 438). Einzelheiten, insbesondere
die Übertragung von Gnadenbefugnissen sind in dem Gesetz über die Ausübung des Gnadenrechts für den Bereich der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte vom 17. 9 . 1 9 4 9 (VOB1. I, 331) und in dem Senatsbeschluß Nr. 3604 v. 3. 8 . 1 9 5 3 geregelt (Amtsbl. f. Berlin, 736). Die GnO 1935 wird sinngemäß angewandt. Die Befugnis zu G.en und zu ablehnenden Entscheidungen bei Steuerstrafen, die im Verwaltungsstrafverfahren verhängt worden sind, ist durch Gesetz vom 22. Mai 1957 dem Senator für Justiz übertragen worden (GVOB1., 515). Einzelheiten wurden in einer gemeinsamen AV des Senators für Justiz und des Senators für Finanzen vom 12. 9.1957 geregelt (Amtsbl. f. Berlin, 1070). d) B r e m e n : Nach Art. 121 der Landesverfassung übt der Senat das Recht der Begnadigung, aus (GesBl. 1947, 250). Vorbehalt und Übertragung der Gnadenbefugnis erfolgten durch die Anordnung des Senats über die Ausübung des Begnadigungsrechts vom 4 . 1 1 . 1 9 5 8 (GBl. 87). Die GnO 1935 und die GnO Finanzen 1937 werden entsprechend angewandt. e) H a m b u r g : In Hamburg steht das Begnadigungsrecht nach Art. 44 der Verfassung ebenfalls dem Senat zu (GVB1. 1952, 125). In einer Verordnung des Senats vom 12.12.1947 (GVB1. 83) ist die Übertragung bestimmter Gnadenbefugnisse auf die Amtsrichter als Vollstreckungsbehörde erfolgt. Die Befugnisse zur Ausübung des Gnadenrechts bei Ordnungsstrafen wurden auf die Senatskommissionen für Verwaltungsbeschwerden übertragen (Beschl. des Senats v. 4 . 1 1 . 1 9 4 9 , Amtl. Anz., 947). Die GnO 1935 und die GnO Finanzen 1937 werden sinngemäß angewandt. f) H e s s e n : Nach Art. 109 der Verfassung übt der Ministerpräsident das Gnadenrecht aus (GVOB1. 1946, 236). Durch RdErl. d. MindJ vom 1 8 . 9 . 1 9 5 2 ist eine eigene Gnadenordnung des Landes Hessen in Kraft gesetzt worden, in der eingangs die dem Ministerpräsidenten vorbehaltenen und den Ressortministern Übertraggenen Gnadenbefugnisse geregelt sind. Die als Sonderdruck des JMB1. veröffentlichte Gnadenordnung wurde durch RdErl. d. MindJ v. 15. 9.1953 (JMB1. 72) geändert und den neuen Bestimmungen der §§ 23 ff. StGB bzw. 20 ff. und 88, 89 des J G G angepaßt. Im Bereich der Finanzverwaltung wird die GnO Finanzen 1937 sinngemäß angewandt. g) N i e d e r s a c h s e n : Art. 27 Abs. 1 der Verfassung bestimmt, daß der Ministerpräsident im Einzelfall das Begnadigungsrecht ausübt. Durch Erlaß des Ministerpräsidenten vom 2 . 9 . 1 9 5 2 wurden Vorbehalt und Übertragung der Gnadenbefugnisse geregelt. Im Bereich der Justizverwaltung findet die GnO 1935 unter Berücksichtigung der Vorschriften Anwendung, wie sie durch die „AVdNdsMdJ über die Neuregelung des
Gnadenerweis Gnadenrechts" vom 1.8.1949 (NdsRpfl., 132), durch die Bek. des NdsMdJ über die Ausübung des Gnadenrechts vom 10. 3.1954 (NdsRpfl. 61) sowie durch die AVdNdsMdJ betr. Zuständigkeit zur Entscheidung über Strafausstand im Gnadenwege v. 3.1.1957 (NdsRpfl. 3) ergingen. Die GnO Finanzen 1937 wird ebenfalls sinngemäß angewandt. h) N o r d r h e i n - W e s t f a h l e n : Nach Art. 59 der Verfassung übt das Recht der Begnadigung der Ministerpräsident aus (GVB1. 1950, 131). In einem Erlaß vom 12.11.1951 (GVB1.141) wurden Einzelheiten über die Ausübung des Rechts der Begnadigung durch den Ministerpräsidenten bzw. durch die Ressortminister geregelt. Für den Bereich der Justizverwaltung gilt die AVdJMin des Landes Nordrhein-Westfalen über das Verfahren in Gnadensachen (Gnadenordnung) vom 1.1.1952 (Sonderveröffentlichung) in der durch AVdJMin v. 21. 9.1953 (JMB1. NRW, 19) und vom 31. 7.1954 (JMB1. NRW, 230) geänderten und ergänzten Fassung. Für Steuerstrafen, die von den Finanzbehörden im Verwaltungsstrafverfahren festgesetzt worden sind, steht das Recht der Begnadigung dem Finanzminister zu. Die GnO Finanzen 1937 findet dabei sinngemäße Anwendung. i) R h e i n l a n d - P f a l z : Das Recht, im Wege der Gnade rechtskräftig erkannte Strafen zu erlassen oder zu mildern, hat nach Art. 103 der Verfassung der Ministerpräsident (V0B1. 1947, 220). Durch das Landesgesetz über die Neuregelung des Gnadenrechts vom 15. 4.1948 wurden Einzelheiten geregelt (GVB1., 246). Das Gesetz wurde am 29.10.1955 ergänzt (GVB1., 103) und gilt nunmehr i. d. F. der Bek. vom 30. 8.1957 (GVB1., 185). Am 13.10.1948 hat der Minister der Justiz außerdem eine Landesverfügung über das Verfahren in Gnadensachen erlassen (GnO 1948 — Sonderveröffentlichung des Justizbl. Rhld.-Pfalz Nr. 2). Sie wurde ergänzt durch LV vom 25.10.1955 (JB1. 55). Die Ausübung des Gnadenrechts und das Verfahren in Gnadensachen bei Steuerstrafen wurde durch Erl. d. Min. f. Fin. und Wiederaufbau vom 31.1.1956 geregelt (MB1. 139). k) S a a r l a n d : Nach Art. 95 der Verfassung wird die Ausübung des Begnadigungsrechts durch Gesetz geregelt (ABl. 1947, 1077). Dies ist auf Grund des § 1 des Übergangsgesetzes vom 7. 2.1948 (Amtsbl., 205) durch die Verordnung über die Ausübung des Gnadenrechts vom 2. März 1948 geschehen (Amtsbl., 447). Diese einem Gesetz gleichstehende Verordnung enthält Einzelheiten über die der Regierung vorbehaltenen Entscheidungen und über die Delegation an die zuständigen Minister. Im Bereich der Justizverwaltung findet die GnO 1935 und im Bereich der Finanzverwaltung die GnO Finanzen 1937 sinngemäße Anwendung.
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1) S c h l e s w i g - H o l s t e i n : In Schleswig-Holstein übt der Ministerpräsident nach Art. 27 der Landessatzung das Begnadigungsrecht aus (GVB1. 1950, 3). Über vorbehaltene Entscheidungen und über die Delegation von Gnadenbefugnissen an die zuständigen Minister wurden Einzelheiten durch den Erlaß des Ministerpräsidenten über die Ausübung des Begnadigungsrechts vom 5. 5.1952 geregelt (Amtsbl., 182). Durch AVdJM v. 1. 9.1962 wurde die Gnadenordnung für Schleswig-Holstein für den Bereich der Justiz erlassen. Die GnO Finanzen 1937 wird sinngemäß angewandt. 2. Der Gnadenerweis in der SBZ Nach Art. 107 der Verfassung der sog. DDR v. 7.10.1949 (GBl., 5) übt der Präsident für die Republik das Begnadigungsrecht aus. Er wird dabei von einem Ausschuß der Volkskammer beraten. Bei Todesstrafen und bei allen Freiheitsstrafen hat er sich den G. vorbehalten. Für Geldstrafen und alle Nebenstrafen ist in jedem Bezirk ein besonderer Gnadenausschuß tätig. Einzelheiten sind in einer 1954 erlassenen, jedoch nicht veröffentlichten Gnadenordnung enthalten. Im Ostsektor von Berlin steht die Gnadenbefugnis dem Oberbürgermeister zu. 3. Der Gnadenerweis in Frankreich, und der Schweiz
Österreich
In F r a n k r e i c h übt der Präsident der Republik nach Art. 17 des am 28. September 1958 durch Volksabstimmung angenommenen Staatsgrundgesetzes der Fünften Republik das Gnadenrecht aus. In Ö s t e r r e i c h wird das Gnadenrecht nach Art. 65 Abs. 2 der durch Uberleitungsgesetz v. 1. Mai 1945 (StGBl. Nr. 4) wieder in Kraft gesetzten Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 vom Bundespräsidenten ausgeübt, der die Gnadenbefugnis in bestimmtem Umfange an die Ressortminister delegiert hat (vgl. VO des Bundesmin. f. Finanzen v. 15.12.1958, BGBl. 1958, 2176). Nach Art. 93 der Bundesverfassung werden Amnestien wegen gerichtlich strafbarer Handlungen durch Bundesgesetz erteilt. Soweit in der S c h w e i z eidgenössische Gerichtsinstanzen oder Verwaltungsstellen auf Grund eidgenössischen Rechts Strafen ausgesprochen haben, wird über einen G. und über eine Amnestie nach Art. 85 Nr. 7 der Verfassung von der Bundesversammlung entschieden. In Frage kommen hier vor allem Verurteilungen nach dem Militärstrafgesetz. Im übrigen richtet sich die Begnadigungsbefugnis nach dem jeweiligen Recht in den Kantonen. Strafregistermaßnahmen werden von der herrschenden Meinung nicht als G.e angesehen. Einige Gnadenordnungen (ζ. B. Bayern) enthalten je-
Gnadenerweis — Handschrift
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doch auch B e s t i m m u n g e n über die dem G. zumindest v e r w a n d t e n strafregisterlichen Vergünstigungen. Die Erteilung v o n G.en ist durch die jüngste Gesetzgebung wesentlich eingeschränkt worden. An die Stelle einer gnadenweisen bedingten Strafaussetzung oder bedingten Entlassung sind i m Zusammenhang m i t der Einführung der Bewährungsaufsicht u n d Bewährungshilfe richterliche Entscheidungen getreten, die in vieler Hinsicht eine Weiterentwicklung v o n im Gnadenrecht entwickelten Gedanken der Erziehung u n d sozialen Wiedereinordnung des Rechtsbrechers u n d der gerade in diesem Bereich der Strafrechtspflege gewonnenen Erfahrungen darstellen. Schrifttum vor 1945 F. H ä r t u n g : Art. „Begnadigung". I n : HwbKrim. 1. Aufl1. Bd., S. 109ff. F. G r a u u. K. S c h ä f e r : Das deutsche Gnadenrecht Teil I. Einführung und vollständige Zusammenstellung der gnadenrechtlichen Vorschriften des Großdeutschen Reiches. 1939. W. M e n s c h e i l : Gnadenrecht. Das gesamte deutsche Gnadenrecht nebst verwandten Gebieten. 5. Aufl. 1943. Schrifttum nach 1945 Bundesrepublik Deutschland: Monographien R. W e y e r : Gnade und Recht. Diss. Heidelberg 1948. Minssen: Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen. Textausgabe mit Vorwort, kurzen Anmerkungen und Sachverzeichnis. 1963. A. W a h l : Gnadenrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1953. E. B r a n d s t e t t e r : Kommentar zum Straffreiheitsgesetz. Bundesamnestie vom 31. Dezember 1949. 1950. Straffreiheitegesetz 1954. 1964. M. K o h l h a a s : Kommentar zum Amnestiegesetz. (Straffreiheitsgesetz 1954. 1954. F. G e e r d s : Gnade, Recht und Kriminalpolitik. I960. Z e l t s c h r i f t e n a u f sfttze J . C ü p p e r s : Die Neuregelung des Gnadenwesens, eine vordringliche Aufgabe der Bundesregierung. NJW 1949, S. 921. E . K e r n : Das Begnadigungsrecht des Bundes. J R 1949, S. 367. W. N ö l d e k e : Zur Neuordnung des Gnadenrechts. ZJB1BrZ 1949, S. 43. H. F ö r s t e r : Zur Neuordnung des Gnadenwesens. J R 1950, S. 609.
J u n k e r : Über Gnadenwesen, insbesondere über den Beauftragten für Gnadensachen und über die bedingte Strafaussetzung (bedingten StraferlaO) durch die Gerichte. ZStW Bd. 63 (1951) S. 428. H. M i t t e l b a c h : Zur Frage einer Neuregelung des Gnadenrechts, NJW 1951, S. 96. Κ. H. N ü s e : Zur Frage der Reform des Gnadenrechts. MDR 1951, S. 71. S c h n a b e l : Gedanken zur Neuregelung des Gnadenwesens vom Standpunkt der bayerischen Gnadenpraxis. DRiZ 1951, 140. W. B e c k e r : Der Erziehungsgedanke in der Gnadenordnung von Nordrhein-Westfalen. NJW 1952, S. 923. G. P o l z i n : Das in Berlin geltende Gnadenrecht. JurR 1952, S. 45. C. C r e i f e l d s : Die interzonalen Auswirkungen von Gnadenmaßnahmen. GA 1953, S. 97. Η. E. E g n e r : Strafaussetzung zur Bewährung und Gnadenrecht. NJW 1953, S. 1838. W. G o t t w a l d t : Zur Neuregelung des Gnadenrechts in Hessen. DRiZ 1953, S. 24. H. L e i s e : Steuergerichtliche Nachprüfung von Gnadensachen. NJW 1953, S. 1088. G. P o t r y k u s : Das Begnadigungsrecht im Jugendgerichtsverfahren. U. U. 1955, S. 325. M. L e n k e v i t z : Zum Begnadigungsrecht des Bundes in Steuerstrafsachen. Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern (ZZV) 1956, S. 68. L. M a n n h e i m e r : Zum Gnadenrecht des Bundespräsidenten in Disziplinarsachen. JurR. 1956, S. 327. K. K u c h i n k e : Zur Zuständigkeit bei der Entziehung und Wiederverleihung des Doktorgrades. DVB1. 1957, S. 773. W. O p p e : Ruht die Vollstreckungsverjährung während einer im Gnadenverfahren bewilligten Bewährungsfrist ? NJW 1959, S. 1358. Κ u g i e r und K n o b l o c h : Gnadenrecht in Verwaltungsstrafsachen. NJW 1960, S. 1500. Österreich: H. P f e i f e r : Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten. Insbesondere das Restitutionsrecht. Jur. Bl. Wien 1952, S. 256 und S. 278. H. S t u r m : Voraussetzungen und Umfang des Gnadenrechts. österr. JurZ. 1953, S. 573. Entscheidung des O. G. H. v. 30.1.1953 betr. Weisungsrecht des Bundesministeriums für Justiz, mit dem Strafvollzug innezuhalten, österr. JurZ. 1953, S. 385. H. E n t : Ein Beitrag zum österr. Gnadenrecht, österr. JurZ. 1956, S. 356 und S. 396. W. M a l a n i u k : Wandel der Strafgerichtsbarkeit, 3. Teil. Jur. Bl. Wien 1958, S. 352. Schweiz: J. E u g s t e r : Die Begnadigung im Militärstrafverfahren. In: Strafprozeß und Rechtsstaat. Festschrift für Pfenninger. 1956, S. 29. R. F r e y : Die Begnadigungspraxis im Kanton Zürich. SchwJZ 1958, S. 67. ALFONS WAHL
Η HANDSCHRIFT Der Begriff der Schrift i m weitesten Sinne umfaßt alle optischen Markierungen, die durchι Konvention in ihrem Bedeutungsgehalt formelhaft festgelegt sind u n d der Bewahrung u n dl Mitteilung v o n Sinngehalten dienen. Vor der Erfindung des Buchdrucks u n d der Schreibmaschine war jede Schrift das manuelle Erzeugnisi
einer Einzelpersönlichkeit und insofern „ H a n d schrift". Die Schriftzeichen wurden mit entsprechendem Werkzeug in Stein, Metall, Ton, Holz, Wachs, Palmblätter usw. eingegraben, geritzt, gekerbt oder mit färbender Tinktur (Tier- oder Pflanzensaft, später Tinte, Farbe, Stift usw.) auf Tierhäute, Pergament, Papyrus, Papier aufgetragen. Eine leichtere Ausführungsart ermöglichte ein reagibleres und flüssigeres
Handschrift Schreiben und damit neben der nach Monumentalität strebenden epigraphischen Schrift eine bereits vor der Zeitenwende entwickelte, mehr oder minder im Linienfluß verbundene Schreibschrift, die heute, unabhängig von dem jeweils zugrunde liegenden Lautzeichensystem, im engeren Sinne als H. verstanden wird. Infolge der zentralen kulturellen Funktion der Schrift ist das Gebiet der Schriftkunde unübersehbar. Der davon hier zu sondernde Tatbestand der H. ist selbst außerordentlich vielschichtig und beziehungsreich, wie die umfangreiche Fachliteratur beweist. Zu dieser haben nicht nur Graphologie und Schriftexpertise, sondern auch Psychologie, Philosophie, Geschichts- und Altertumsforschung, Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Kriminalistik u. a. beigetragen. An dieser Stelle ist der Sachverhalt „H". zweckmäßig zu umgrenzen: 1. als unablösbares Eigentum einer Person. Wie jemand seine Gestalt, Papillarlinien, individuelle Bewegungs- und Sprechweise, Mimik und Gebärden hat, so ist ihm auch seine Handschrift eigentümlich, und zwar steht sie zu der Ganzheit der Persönlichkeit in so innigem Verhältnis, daß sich unabhängig vom ausführenden Organ —• ob rechte oder linke Hand, Fuß, Mund, Stirn — nach entsprechender Übung die für den Schreiber charakteristischen Schriftmerkmale in seiner Schrift ausprägen. Handschrift ist Hirnschrift — eine vom Gehirn gesteuerte, verwickelte Abfolge psycho-physischer Funktionen; 2. als dingliches Ergebnis eines Schreibaktes, dessen Vollzug an technische Bedingungen geknüpft ist (Schriftträger und Schreibinstrument). Der unbestrittenen Geltung, welche die eigenhändige Unterschrift seit alters im Rechtsverkehr besitzt, liegt die praktische Anerkennung des engen Zusammenhanges von Handschrift und Schrifturheber zugrunde. Die planmäßige wissenschaftliche Forschung nach den Entstehungsbedingungen der H. setzte gegen Ende des 19. J h . ein. Die empirisch und experimentell gesicherten wissenschaftlichen Schlußfolgerungen von W. Preyer, W. Langenbruch, G. Meyer u. a. sind von Ludwig Klages in seine klassischen grundlegenden Definitionen der H. einbezogen. Seine „Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck" führt in überzeugender Begründung zum Einbau der Graphologie, als der Lehre von der Handschrift, in die Ausdruckswissenschaft. Unter den Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen nimmt die H. eine Sonderstellung ein, da sie eine fixierte, nachprüfbare Bewegungsspur darstellt. Klages: „Die H. ist das bleibend gegenständliche Erzeugnis einer persönlichen Schreibbewegung." Dieser Satz enthält zwei Aspekte, in deren Mittelpunkt entweder das statische Gebilde der fertigen Schreibleistung oder die bei ihrer Hervorbringung wirksam gewordenen Bewegungsabläufe stehen. Die Zurückführung der Schrift24
HdK, 2. Aufl., Bd. I
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gestalt auf die Schreibbewegung läßt die Einzigartigkeit einer Handschrift lebendig werden und erschließt u. a. das Verständnis für die natürliche Schwankungsbreite der Formdarstellung und für die Besonderheiten individueller Bewegungsweisen. Für die H. als Lebensäußerung gilt das entscheidende Kriterium aller Lebensvorgänge, —• ihre Unwiederholbarkeit. Kein einziger Bestandteil einer H. kehrt mit mathematischer Genauigkeit wieder, vielmehr manifestiert sich in ihr eine ähnliche Folge von Ähnlichkeiten, deren innerer Zusammenhang wie bei einer organischen Einheit unmittelbar evident wird und das spezifische Erlebnis „Handschrift" — im Gegensatz zur mechanisch erzeugten Schrift — vermittelt. Die Tatsache der Einmaligkeit und der individuellen Einzigartigkeit jeder H. bildet die Grundlage für zwei wichtige praktische Aufgaben der Untersuchung handschriftlicher Erzeugnisse: 1. D a s charakterdeutende grapholog i s c h e G u t a c h t e n . Es beruht auf dem unabhängig vom Wortsinn bestehenden psychologischen Aussagewert der Schriftzüge und der hier nicht zu begründenden Möglichkeit, bestimmte Eigenschaften der Bewegungsweise mit bestimmten Wesenszügen des Schreibers zu verbinden. 2. D a s S c h r i f t g u t a c h t e n , das sich mit der I d e n t i f i z i e r u n g von Schreibleistungen mit dem Ziel der Urheberschaftsermittlung befaßt. 1. Das charakterdeutende
graphologische
Gutachten Die Erschließung des Charakterologiechen Ausdrucksgehalts einer Handschrift setzt umfassende Kenntnisse der Charakterkunde und der Persönlichkeitspsychologie voraus, ferner die sorgfältige Analyse sämtlicher Schriftmerkmale in ihrem integrativen Zusammenhang sowie die sinngemäße Anwendung der Ausdrucksgesetze und graphologischen Herleitungs- und Deutungsprinzipien. Reichhaltiges Schriftmaterial sowie die unerläßliche Angabe von Alter und Geschlecht, ferner von Nationalität und Bildungsweg des Schreibers vorausgesetzt, vermag die graphologische Analyse Aufschluß zu geben u. a. über Schreibreife, Schreibkönnen, den geistig-seelischen Entwicklungsstand, Bildungsgrad, Formgeschmack und Formenvorrat, wahrscheinliche Schulvorlage resp. Ausgangsschrift, u. U. Berufsgeprägtheit (Kontorist, Handwerker, Wissenschaftler, Kaufmann usf.). Des weiteren über Aufbau und Gefüge des Charakters, Beschaffenheit des Selbstgefühls, Intelligenz-, Gefühls-, Willensbegabungen; über die Triebfedern, ζ. B. Ehrgeiz, Geltungssucht, Machtstreben, Rachsucht, Opferwille und Hingabebereitschaft; außerdem über pathogene Wesenszüge und Schreibstörungen. Auch die unfertige Schrift des Kindes
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Handschrift
und des Jugendlichen ist grundsätzlich graphologisch erschließbar. Die Auseinandersetzung mit der Schulvorlage von Seiten des Kindes ist — unabhängig von der Lehrmethode — individuell verschieden sowohl hinsichtlich der schreibmotorischen Steuerung wie der Auffassung und Verwertung der Schriftnormen. Wie die Untersuchungen der Verfasserin über die Kritzelschrift (gegenstandslose Linien) des noch nicht schulreifen Kindes ergeben haben, prägen sich in dieser bereits individuelle Bewegungsweisen aus, die sich auch in der späteren Schrift des Kindes durchsetzen und bei normaler Persönlichkeitsentwicklung nur geringfügigen Abwandlungen unterliegen. Selbst die unpersönlichen Schriftvorlagen sind insoweit einer graphologischen Analyse zugängig, als sie graphische Kristallisationen des jeweiligen Stilempfindens und Formgeschmacks sowie der weltanschaulichen Grundhaltung einer Epoche darstellen. Sie unterliegen dem Wandel des Zeitgeistes. Man vergleiche ζ. B. die bis zum Ende des ersten Weltkrieges in Deutschland übliche, regional etwas variierende Schrift vorläge mit der späteren Sütterlinschrift: dort Schräglage, nach oben und unten ausgreifende Langformen, relativ und absolut niedrige Kurzformen (i, m, n, usw.), mehr schlanke als volle Formen, schattierter Strich (Haar- und Druckstrich), — hier Steilheit, stark verminderte Ausdehnung der Ober- und Unterlängen, relativ und absolut hohe Kurzformen, volle, gedrungene Figuren, gleichförmiger Schnurstrich. Im Hinblick auf die individuelle H. bildet die Schriftvorlage ein festes Bezugssystem für die Ermittlung der Abweichungen von der Norm und der persönlichen Eigenart einer Handschrift. Um diagnostische Fehlschlüsse zu vermeiden, ist die Kenntnis der Schulvorlage wichtig, besonders bei der Beurteilung der Schriften von Ausländern. Die für eine Vielzahl von Individuen gemeinsame Schriftvorlage stellt eine objektive, jederzeit nachprüfbare Umweltsgegebenheit dar, zu der sich jede Phase der Persönlichkeitsentwicklung, soweit diese sich in der Handschrift abzeichnet, in Beziehung setzen läßt. Für die vergleichende Untersuchung vieler Handschriften im Hinblick auf die individuell verschiedene Verarbeitung und Assimilation des gleichen isolierbaren Umweltsfaktors liegen Ansätze und Anregungen vor, sie ist jedoch kaum systematisch durchgeführt. Daraus zu gewinnende psychologische Aufschlüsse über den Grad des Abhängigseins vom Zeitdurchschnitt, des Zurückbleibens hinter ihm oder des Überragens vermöchten den Blick freizumachen für Schichtungsverhältnisse, die sich aus der inneren Einstellung einer Vielzahl von einzelnen zur Vorschrift — im buchstäblichen und übertragenen Sinne — ergeben und damit auch für Probleme mangelnder sozialer Anpassung, wie sie beim Verbrechen in Erscheinung treten.
Die V e r b r e c h e r h a n d s c h r i f t im Sinne spezifischer, eindeutig fixierbarer Merkmale kann es nach Sachlage nicht geben, sie ist nicht einmal als theoretische Hilfskonstruktion denkbar. Wenn von Verbrecherhandschriften gesprochen wird, liegt bereits die Tatsache des begangenen Verbrechens vor. Kriminalität, als Nichtanpassung an unantastbare Rechtsgrundsätze einer Volksgemeinschaft verstanden, stellt charakterkundlich eine Verhaltungsweise dar. Diese läßt sich auf graphologischem Wege nur mittelbar aus den jeweilig gegebenen charakterlichen Anlagen und deren Zusammenwirken erschließen, freilich vom erfahrenen Graphologen nicht selten mit hoher Treffsicherheit. So sind auch graphologische Rückschlüsse auf Eigenschaftskomplexe möglich, welche kriminelle Verhaltensweisen fördern oder fast zwangsläufig zur Folge haben, ζ. B. wenn sich Gemütskälte, große Reizbarkeit oder Stumpfheit, Haltlosigkeit oder dumpfe Unbeirrbarkeit mit abnorm gesteigerten Egoismen und schweren Störungen des Selbstgefühls in einer Persönlichkeit verbinden. Die kriminelle Disposition, verstanden als Disposition zum gemeinen Verbrechen (Mißachtung fremden Lebens und fremden Besitzes), ist also aus der Handschrift diagnostizierbar. Die Erschließung krimineller Potenzen bestimmter Art aus einer Handschrift ist jedoch noch kein Nachweis der Täterschaft. Allerdings ist im Ausschließungswege eine Einengung des mutmaßlichen Täterkreises in besonders gelagerten Fällen möglich, wenn die Ausführung der Tat besondere Fähigkeiten, ζ. B. hohe Intelligenz, spezifische Kenntnisse, gesellschaftliche Umgangsgewandtheit usw. voraussetzt oder die Art des Verbrechens auf eine psychopathische Persönlichkeit hinweist. Unter den Autoren, die sich mit dem komplizierten Problem der Verbrecherpersönlichkeit und der H. des Verbrechers befaßt haben, hat Roda Wieser sich besonders auf die Frage nach einem zentralen, innerlich bedingten Faktor der Kriminalität konzentriert, den sie nach sorgfältiger Durcharbeitung von etwa 660 Schriften krimineller und 200 Schriften nicht kriminell gewordener Personen in dem Phänomen der seelischen Armut erblickt: „Der rote Faden, an dem alle Kriminalität, aber auch Nichtkriminalität aufgefädelt werden kann, ist der Grad der Seelenverarmung des einzelnen Menschen." Diese tiefer als alle Charaktereigenschaften hinabreichende, in der Wesensgrundlage wurzelnde psychische Gegebenheit findet ihren Ausdruck in der H. als Schwäche des „Grundrhythmus", einem von Wieser auf der Grundlage des Klages'schen, lebensphilosophisch begründeten Rhythmusgedankens entwickelten und in die Graphologie eingeführten Begriffs. Schwäche des Grundrhythmus, die sich graphonomisch aus der Strichbeschaffenheit und der Bewegungselastizität ermitteln läßt, findet sich auch, wenn-
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Handschrift gleich wesentlich seltener, in der H. nicht kriminell gewordener Personen, andererseits nicht immer ausgeprägt in Verbrecherhandschriften. Im Zusammenhang damit spricht Wieser vom „potentiellen Verbrechertum" der kriminell Veranlagten, aber nicht straffällig Gewordenen, resp. „Nichterwischten". In Anbetracht der Variabilität der anlagegegebenen Disposition zur Verbrechensbegehung, der Vielfalt der Verbrechensmöglichkeiten und der von Fall zu Fall wechselnden Relation Charakter-Umwelt müssen systematische empirische Feststellungen großen Umfangs an Verbrecherhandschriften vorläufig als der einzige und beste Weg angesehen werden, zu weiteren gesicherten und praktisch brauchbaren graphonomischen und graphologischen Richtlinien für die Beurteilung kriminogener Anlagen und der Schrift des Verbrechers zu kommen. Die verschiedenen Verbrechensformen und die Tatsache, daß ihre Begehung begünstigende charakterologische Eigenschaftskombinationen zur Voraussetzung hat, rechtfertigen bis zu einem gewissen Grade die Einteilung in typische Schriften, ζ. B. der Betrüger, der Gewalt-, der Sexualverbrecher, der Hochstapler, der Rückfälligen oder Besserungsfähigen usw. Von Hans Schneickert wurde bereits 1939 angeregt, eine breit angelegte Sammlung von Verbrecherhandschriften in Zusammenarbeit von Graphologen und Strafgerichten aufzubauen. Sie ist für alle mit dem Verbrechertum sich befassenden Gebiete des Rechtswesens kaum zu überschätzen, wenn die Auswertung unter Einbeziehung aller verstreuten, bisher über das Wesen des Verbrechers vorliegenden Untersuchungen erfolgt. Um die Materie einem größeren, fachlich berufenen Kreis zugängig zu machen, wäre eine Bildfolge guter Wiedergaben von mindestens 1000 Verbrecherhandschriften, nach Straftaten geordnet und, soweit vertretbar, mit Angabe der wichtigsten Daten versehen, sehr zu empfehlen. Das graphologische Gutachten tritt als diagnostisches Hilfsmittel der forensischen Psychologie und der Kriminalpsychologie in Erscheinung, wenn es sich handelt um a) die Persönlichkeitsanalyse des Verbrechers und die seelischen Hintergründe seiner Tat, zumal, wenn kein verständliches Tatmotiv zu ermitteln ist und keine innere Konfliktsituation vorzuliegen scheint oder wenn der Begriff der sog. persönlichkeitsfremden Tat eine Rolle spielt — ζ. B. kann die Anreizung und Aufstauung sexueller Energien in der Pubertät bei gleichzeitig vorhandener charakterlicher Unfertigkeit eine maßlos gesteigerte Affektbereitschaft bewirken, die sich eruptiv in kriminellen Handlungen entlädt, wie in dem Fall eines wohlgelittenen Vierzehnjährigen aus ordentlichem Hause, der die Krankenschwester, die ihn während seiner Krankheit 24*
gepflegt hatte, in wilder Raserei tötete, weil er es nicht ertrug, daß sie nach seiner Genesung sich gleicherweise um andere Patienten bemühte; b) die Frage der Glaubwürdigkeit, ζ. B. der bei Sittlichkeitsvergehen Beteiligten (Verdächtigte wie Betroffene); c) die Ermittlung der inneren Schreibumstände, unter denen ein unmittelbar vor, während oder nach einem Verbrechen gefertigtes Schriftstück entstanden ist, ob unter dem Einfluß von Alkohol, anderer Stimulantien, Narkotika, ob im Zustand außerordentlicher Erregung, Euphorie, Niedergeschlagenheit, vorübergehend verminderter geistiger Kontrolle usw. Hierher gehört auch die Prüfung von angeblich unter Bedrohung erpreßten Schriftstücken, — Aufgabenstellungen, die sich mit der noch zu besprechenden Schriftexpertise berühren; d) die Klärung der Diskrepanz, die zwischen der Art, wie der Verbrecher selbst seine Tat sieht, und den objektiven Indizien bestehen kann; e) Schriften, die im Tatbereich eines Verbrechens vorgefunden werden und (oder) später auftauchen. Ihre graphologische Analyse vermag zuweilen wertvolle Hinweise für die Ermittlungen zu geben (-> Kriminaltaktik). Neben der auf Tests, Anamnese, Exploration und Beobachtung angewiesenen (->) Persönlichkeitsforschung, die graphologischen Erkenntnissen befruchtende Einsichten verdankt, bietet die ohne Ansehen der Person von dem objektiven Tatbestand der Handschrift ausgehende Graphologie der forensischen Psychologie und Kriminalpsychologie noch auszuschöpfende Möglichkeiten verfeinerter Differenzialdiagnostik, ζ. B. hinsichtlich der Vernehmungstechnik, der Methoden des Strafvollzugs, der zeitlichen Bestimmung einschneidender Erlebnisse (sexueller Schock), des Erkennens von Persönlichkeitswandlungen in der Straihaft usw. 2. Das
Schriftguiachten
Die Schriftexpertise dient der Tatbestandsund Wahrheitsermittlung bei der Rechtsfindung. Sämtliche Objekte, gleich welchen Materials, die eine Beschriftung, gleich welcher Art, tragen, können Gegenstand ihrer Untersuchung werden. Soweit die Schriftexpertise sich mit der handschriftlich erzeugten Schrift befaßt, fußt sie hinsichtlich der psycho-physischen Entstehungsbedingungen auf den gleichen theoretischen Grundlagen wie die charakterologische Graphologie. Von dieser unterscheidet sie sich jedoch durch gänzlich andere Methodik und andere Zielsetzung. Der Graphologe fragt nach der Wesensart des Schrifturhebers, der Schriftexperte im Regelfall nach der Identität oder Nichtidentität einer fraglichen Schrift und einer Vergleichsschrift. Die Schriftexpertise ist an naturwissenschaftlich
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Handschrift
exakte Beweisführung gebunden. Die komplexe und buchstäblich in sich bewegliche Natur der Handschrift zwingt allerdings zu sehr differenzierter, durch die Besonderheit des jeweiligen Falles modifizierter Arbeitsmethodik, um präzise Aussagen und juristisch tragfähige Schlußfolgerungen zu ermöglichen. Hauptaufgaben der Schriftexpertise sind die Prüfung der Echtheit oder Fälschung von Urkunden und Unterschriften sowie die Urheberschaftsermittlung in diesen Fällen oder bei anonymen resp. Pseudonymen Schreibereien. Der Begriff der Urkunde umfaßt alle Formen rechtsverbindlicher schriftlicher Abmachungen und Erklärungen von der einfachsten Quittung bis zum Testament. (->) Urkundenfälschung gehört zu den häufigsten Verbrechen. Dementsprechend stehen unter den vom Gericht angeforderten Sachverständigengutachten die der Schriftexpertise mit an erster Stelle. Infolge der grundsätzlich gegebenen Einmaligkeit jeder H. und ihrer daraus resultierenden prinzipiellen Identifizierbarkeit ist die H. in vielen Strafverfahren wichtiges Indiz, zumal wenn andere Beweismittel fehlen. Sein Beweiswert kann jedoch durch Fehler in der Sicherung und Auswertung des Materials erheblich geschmälert werden. Daher folgen nachstehend die wichtigsten Aufgaben der Schriftexpertise, soweit sie sich auf den Tatbestand der Handschrift erstrecken. Sich ergebende Berührungspunkte mit der Kriminalpsychologie, -taktik und -technik werden an gegebener Stelle ohne weiteres ersichtlich: 1. Sicherung der fraglichen Urkunde, soweit noch nicht geschehen, vor Verletzung, Veränderung, Faltung, Bestempelung, vor Benutzung als Schreibunterlage usw. 2. Materialsichtung und Aktenstudium, u m Angaben über äußere und innere Schreibumstände an den graphischen Befunden der fraglichen Schrift überprüfen zu können. 3. Falls erforderlich, die Beschaffung von Vergleichungsschriften; u. U. ist sofortige Einziehung unbezüglichen Schriftmaterials wichtig; Haussuchungen. 4. Sicherung der Urheberschaft durch amtliche und persönliche Anerkennung der Vergleichungsunterlagen. 5. Abnahme von Probeschriften ad hoc. Für die Beurteilung von Spontaneität und Verstellung ist u. a. der Zeitpunkt der Probeschriftabgabe zu beachten, ob vor, während oder nach gerichtlichen Vernehmungen. 6. Mengenmäßige Sicherung der Untersuchungsbasis durch Einbeziehung möglichst aller erfaßbaren fraglichen Schriftstücke und durch umfassendes Vergleichungsmaterial. 7. Gründliche Untersuchung des Schriftträgers (Papiersorte, Format, Beschaffenheit der Kanten). Vorhandene Rißkanten nicht verletzen; zu-
weilen finden sich bei der Haussuchung Anschlußstücke des Papiers. Der weitere Arbeitsgang erfordert graphische Tatbestandsaufnahme der fraglichen Schrift, optische und fototechnische Untersuchung, schriftliche Ausarbeitung des Gutachtens mit klarer Beweisführung und Abschlußformulierung, Vertretung des Gutachtens vor Gericht, evtl. ergänzende Demonstration durch Fotos. Die gelegentlich unklare Grenzziehung zwischen Schriftexpertise und charakterdeutender Graphologie und deren u. U. bedenkliche Folgen für die Rechtssicherheit rechtfertigen detaillierte Angaben über die fachlichen Voraussetzungen für die Ausübung der Schriftexpertise: Graphologisches Wissen, wenn auch nicht unbedingt Fertigkeit in der Deutungstechnik, Kenntnis der verschiedenen Schriftsysteme (zeitlich, regional, national), der Schreibmaterialien, vom Einfluß der Schreibbedingungen, der Berufsschriften, der Schriftentwicklung, der pathologischen und altersbedingten Schriftveränderungen, der Verstellungsmöglichkeiten und -arten, der Fälschungsmethoden und ihres technischen Nachweises, der mikroskopischen und lichtanalytischen Untersuchung, der wissenschaftlichen Fototechnik (Makro- und Mikrofotografie); kriminalistische Denkschulung, Technik der Gutachtenerstattung, genügender Einblick in das Gerichtswesen, die Rechte und Pflichten des Sachverständigen. — Die Gesamtheit der Kenntnisse ist nur in einer speziellen, langjährigen theoretischen und praktischen Ausbildung zu erwerben. Trotz dieser hohen Anforderungen an die Schriftexpertise fehlt eine verbindliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Lediglich der „Fachverband freiberuflicher gerichtlicher Schriftsachverständiger e. V.", Frankfurt/Main, macht die Mitgliedschaft von dem Nachweis resp. Bestehen einer Fachprüfung abhängig und führt solche auch durch. —• Es muß betont werden, daß der nur für die Charakterdeutung vorgebildete Graphologe damit nicht die fachliche Vorbedingung für die Schriftexpertise besitzt. Die sachlich gegebene Leistungsfähigkeit der Schriftexpertise und ihre Bedeutung in der Rechtsfindung verdienen die besondere Aufmerksamkeit der maßgeblichen Instanzen, auch im Hinblick auf alle Fragen, welche die fachliche Qualifikation für die Schriftexpertise betreffen. G e h e i m s c h r i f t e n . Ihre Voraussetzung ist Verabredung über die anzuwendenden Verständigungsmittel, die naturgemäß sehr vielseitig sind. In Betracht kommen hauptsächlich a) verabredete Schreibmittel, b) verabredete Schriftzeichen. Zu a): Geheimtinte, Urin, Milch, Speichel dienen für eine zunächst unsichtbare Schrift, die nach entsprechender Behandlung (Wärme, che-
Handschrift — Hehlerei und Begünstigung mische Lösungen, Quarzlichtbestrahlung) sichtbar wird. Beim unerlaubten Briefverkehr (Kassiber) der Gefangenen spielen auf diese Weise angefertigte unsichtbare Interlineartextschriften eine Rolle. Zub): Chiffrierung durch Umstellung der Buchstaben, ζ. B. A = R, Β = S. Die Dechiffrierung erfordert ein Schlüsselalphabet. Diese Methode gestattet mehrfache Verschlüsselungen. Sie kommt vornehmlich im Geheimdienst der Diplomatie und in kaufmännischen Kreisen zur Anwendung. ABC-Code, Chiffrierlexikon sind Hilfsmittel der Chiffrierkunst. Eine Variation stellen Orthographieund graphonomische Chiffern dar: Weglassen, Verdoppelung, Hinzufügen von Buchstaben, Silben, Worten; scheinbare Schreibfehler, Verbesserungen usw. resp. Weglassen oder Anbringen von Anfangs- und Endzügen, Interpunktion, Unterstreichung, besondere Gestaltung der Oberzeichen oder sonstiger Formdetails. Zu den Geheimschriften sind auch die in bestimmten Kreisen von Eingeweihten benutzten Symbole zu rechnen, ζ. B. Gaunerzinken. Als Sonderfall verdienen die verschlüsselten, nur für den eigenen Gebrauch gedachten Aufzeichnungen mancher Verbrecher Beachtung, die Bezug auf begangene resp. beabsichtigte Straftaten haben. — Kombinationen der verschiedenen Geheimschriften wie auch ihre Ausführung in Mikroformat werden praktiziert. Soweit die Geheimschriften handschriftlich angefertigt sind, können sie Anhalte für eine Identifizierung bieten. Der immer neue Frage- und Themenstellungen erzeugende Problembereich „Handschrift" hat das Schrifttum sehr anschwellen lassen: etwa 5000 Veröffentlichungen. Die Auswahl der nachfolgenden Literatur stellt keine Wertung dar. Monographien A. E r l e n m e y e r : Die Schrift, Grundzüge ihrer Physiologie und Pathologie. 1879. K. F a u l m a n n : Illustr. Geschichte der Schrift. 1880. W. P r e y e r : Zur Psychologie des Schreibens. 1895. G. M e y e r : Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie. 2. Aufl. 1925. A. O s b o r n : Questioned documente. 1929. Κ. S a u d e k : Experimentelle Graphologie. 1929. R. P o p h a l : Grundlegung der bewegungsphysiologischen Graphologie. 1939. H. S c h n e i c k e r t : Die Handschrift im Rechts- und Verkehrsleben. 2. Aufl. 1939. M. B e c k e r : Graphologie der Kinderschrift. 3. Aufl. 1948. M . P u l v e r : Trieb und Verbrechen in der Handschrift. 5. Aufl. 1948. L. K l a g e s : Was die Graphologie nicht kann. 1949. Γ . Sulz er: Angst, Verdrängung, Hemmung und Unlust im Schriftausdruck. 1949. L. K l a g e s : Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. 7. Aufl. 1950. E . W o l f f : Graphologie und Rechtsordnung. 1950. L. E l a g e s : Charakterkunde. 11. Aufl. 1951. W. Müller—A. E n s k a t : Angst in der Handschrift. 1951. R. W i e s e r : Der Verbrecher und seine Handschrift. 2. Aufl. 1952.
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E. A a r h o f : Wampum, Zinken, Geheimtinktur. Geheimschriftenbuch. 1954. H. P f a n n e : Die Schriftexpertise und ihre Bedeutung für die Rechtsprechung. 1954 (mit ausführlichem Literaturanhang). L. K l a g e s : Handschrift und Charakter. 24. Aufl. 1956. W. D. R a s c h : Hat sich die Graphologie bewährt? 1957. P. H u b e r : Vom Lügendetektor zur Kriminalgraphologie. 1958. R. H ö h l e r : Der anonyme Briefschreiber. 1960. W. auf der N ö l l e n b u r g : Kulturgeschichte der Schriftträger. 1960. Zeitschriftenaufsätze G . M e y e r : Über SchrifHerstellung. Graphologische Monatshefte. Bd. 4 (1900). D e r s . : Die Bedeutung und die Mängel der gerichtlichen Schriftexpertise und der Beschaffung von Schriftproben für die Handschriftenvergleichung. ArchKrim. Bd. 22, Heft 4 (1906). F. A. B e c k e r : Zeugenaussagen und Schriftgutachten. Archiv f. gerichtl. Schriftuntersuchungen. Bd. 1, Heft 1 (1907). H. E n g e l k e : Graphologie und gerichtliche Schriftuntersuchung. Zeitschrift f. Menschenkunde. S. 186ff. (1954). M. B e c k e r : Beziehungen zwischen Graphologie und Schriftexpertise. Zeitschrift f. Menschenkunde. Heft 1 (1957). MINNA B E C K E R
HEHLEREI UND BEGÜNSTIGUNG I. IM SYSTEM DES DEUTSCHEN STRAFRECHTS Hehlerei und Begünstigung werden von dem geltenden Strafrecht im 21. Abschnitt des S t G B geregelt. Hierauf beziehen sich die folgenden Ausführungen. Rechtsgut und Wesen dieser Vorschriften sind in Wissenschaft und Praxis lebhaft umstritten. Die Erklärung dafür ist in der historisch-dogmatischen Entwicklung dieser Delikte zu suchen. Jahrhunderte hindurch standen Begünstigung und Hehlerei in Abhängigkeit der Teilnahme. Nachdem sie aus der Teilnahme herausgelöst waren, blieben sie in einem Gesamttatbestand unlösbar ineinander verklammert. Der Ausdruck „hehlen" ist nach Kluge „Etymologisches Wörterbuch" bis in vorgermanische Zeit zurückzuverfolgen und bedeutet soviel wie verbergen, verheimlichen, bedecken. Der Ausdruck „Begünstigung" = Beistand leisten ist nach dem Sprachbrockhaus im Mittelalter (Lutherzeit) aufgetaucht. Die gegenwärtigen Vorstellungen von dem Inhalt dieser Ausdrücke decken sich nicht mit dem ursprünglichen. Beide Begriffe waren im Laufe der Zeit wechselvollen Entwicklungen ausgesetzt. A. Nach dein veralteten Strafrecht In germanischer Zeit hatte die Strafe vornehmlich „privatrechtlichen" Charakter. Die Gemeinschaft war nur bei schwersten Missetaten und bei Verweigerung der rechtmäßigen Sühne für leichtere Fälle an einer Bestrafung interessiert. Missetat und Verweigerung der Sühne
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Hehlerei und Begünstigung
wurden mit Friedloslegung geahndet. Der Friedlose durfte von jedermann getötet werden. Wer ihn „hauste oder hofte" ward ebenfalls friedlos. Zu den schwersten Missetaten zählte der Diebstahl. Dieb war — nach dem Recht der Goten — derjenige, der eine Sache stahl, derjenige, dem der Dieb die Sache überantwortete und derjenige, der die Sache in Empfang nahm. Alle „drei Diebe" standen in gleicher Schuld. Im ältesten römischen Recht wurden „Begünstiger" und „Hehler" ebenfalls als eine Art Dieb angesehen. Als dann später im Kaiserreich das Raub- und Diebesunwesen Formen annahm, die wirksam bekämpft werden mußten, wurden die hart bestraft, die einen flüchtigen Räuber oder Dieb verbargen, die deren Beute aufbewahrten oder die Beute absetzten. So entstand in der Justinianischen Periode das crimen extraordinarium receptatorum — eine Kombination von Begünstigung und Hehlerei — als ein selbständiges Verbrechen gegen die Rechtspflege. Den receptor traf die gleiche Strafe wie den Dieb oder Räuber. Nach dem Sachsenspiegel galt der Verwahrer gestohlenen Gutes als Hehler. Eine Bestrafung war auch möglich, wenn vermutet werden konnte, daß der Hehler um den deliktischen Charakter des Gutes gewußt hatte. Die Strafe entsprach im allgemeinen der des Diebes. Das gemeine deutsche Recht war von den italienischen Praktikern hervorragend beeinflußt. Nach diesen wurden Begünstigung und Hehlerei als eine nachträgliche Beihilfe angesehen. Der Verdacht der Teilnahme an den Vorteilen von Diebes- und Raubgut, das Verheimlichen oder Verkaufen dieser Beute, das Beherbergen und Ernähren oder andere Förderung des Täters führten nach Art. 40 der Constitutio Criminalis Carolina zur Folter. Die Partikularrechte berücksichtigten Hehlerei und Begünstigung sehr verschieden. Die Selbständigkeit der beiden Delikte gewann an Bedeutung. Die Vielzahl der Landesrechte macht es unmöglich, auf alle einzugehen. Der Art. 3 Abs. 12 der Constitutio Criminalis Theresiana (1768) erklärte, daß der Begünstiger nicht an der Vortat teilnehme, sondern sich einer besonderen Missetat schuldig mache. Die vor der Tat zugesagte Nachhilfe blieb Teilnahme. In Art. 102 § 1 hieß es: Hehler sind die, die „gestohlenes oder geraubtes Gut verhelen, vertuschen, kaufen, verkaufen oder wie immer zur Begünstigung der Übeltäter auf die Seite bringen". Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) trennte Begünstigung und Hehlerei von der Teilnahme. Gehilfe blieb aber derjenige, der nach Ausführung eines Verbrechens an den Vorteilen teilgenommen hatte. Die Begünstigung und Hehlerei der §§ 1223—1247 II 20 kannte zahlreiche Präventivtatbestände. Unter den Sondertatbe-
ständen der Diebes- und Räuberbegünstigung, §§ 1223—1228, fiel die Begünstigung des eigenen Nutzens wegen. Zur Begünstigung zählte die Absatzhilfe und das Verheimlichen geraubter Sachen. Die eigentliche Hehlerei, § 1238, bezog sich nur auf den Ankauf von Diebesgut, der auch fahrlässig begangen werden konnte. Der Hehler wurde wie der gemeine Dieb bestraft. Das bayerische StGB (1813) handelte Begünstigung und Hehlerei im Allgemeinen Teil ab. Die Hehlerei galt als Beihilfe zweiten Grades. Der dem Übeltäter nach der Tat geleistete Beistand wurde als Begünstigung angesehen. Der Beistand erstreckte sich auf die Sicherung des Vortäters vor Strafe oder auf die Sicherung der durch die Vortat gewonnenen Sachen. War der Beistand vor der Tat zugesagt worden, so wurde Beihilfe angenommen. Das preußische StGB (1851) trennte Begünstigung und Hehlerei räumlich. Die Begünstigung (§ 37) blieb im Allgemeinen Teil. Die Strafandrohung war aber von der Vortat unabhängig. Die Bestimmungen des § 37 wurden vom RStGB (1871) als § 257 übernommen. Die Selbständigkeit der Hehlerei (§ 237) war schon durch das Gesetz vom 14. 4.1856 anerkannt worden. Danach war Hehler, wer Sachen, die gestohlen, unterschlagen oder mittels anderer Verbrechen oder Vergehen erlangt waren, verheimlichte, ankaufte, zum Pfände nahm oder sonst um seines eigenen Vorteils willen an sich brachte. Diese Fortentwicklung war durch die mit § 237 verbundene sog. Personenhehlerei beeinträchtigt. Danach war ebenfalls Hehler, wer Personen, die sich eines Diebstahls, einer Unterschlagung oder eines ähnlichen Verbrechens oder Vergehens schuldig gemacht hatten, in Beziehung auf das ihm bekannte Verbrechen oder Vergehen um seines eigenen Vorteils willen begünstigte. B. Nach dem geltenden Strafrecht Hehlerei und Begünstigung sind selbständige Delikte. Hehler und Begünstiger haften nicht für die Vortat. Die Begünstigung wird in persönliche Begünstigung (§§257, 257 a und 258) — Vereitelung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung — und sachliche Begünstigung (§§ 257 und 258) — Vorteilssicherung —· unterteilt. Persönliche und sachliche Begünstigung können des eigenen Vorteils wegen begangen werden, sog. eigennützige Begünstigung. Die eigennützige Begünstigung aus § 258 — nach ganz bestimmten Vortaten — wird wie Hehlerei mit all ihren Folgen bestraft. Die Verkoppelung der eigennützigen Begünstigung (§ 258) mit der Hehlerei, die Zusammenfassung der persönlichen und sachlichen Begünstigung in einem Tatbestand und das Merkmal „Verheimlichen" in § 259 haben viel Verwirrung gestiftet und wesentlich dazu beige-
Hehlerei und Begünstigung tragen, daß es bisher nicht zu einer befriedigenden Wesenserfassung der sachlichen Begünstigung und der Hehlerei gekommen ist. Die persönliche Begünstigung ist nach übereinstimmender Meinung ein Delikt gegen die Rechtspflege. Durch sie werde die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes beeinträchtigt. Die Hehlerei wird nach der überwiegenden Meinung als ein Vermögensdelikt angesehen. Ihr Unwert liege in der Aufrechterhaltung des durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenszustandes. Eine Minderheit sieht in der Hehlerei eine Restitutionsvereitelung. Nach Auffassung der Vertreter der Ausnutzungstheorie — eine gegenwärtig weniger vertretene Ansicht — ist das Wesen der Hehlerei in dem eigennützigen Ausbeuten des durch die Vortat geschaffenen rechtswidrigen Vermögenszustandes zu suchen. Wesen und Rechtsgut der sachlichen Begünstigung sind sehr umstritten. Sie wird teils als ein Angriff auf die Rechtspflege angesehen und so mit der persönlichen Begünstigung in Zusammenhang gebracht, teils als ein Vermögensdelikt bezeichnet und dann mit der Hehlerei in Beziehung gesetzt. Die Grenzen zwischen der eigennützigen sachlichen Begünstigung und der Hehlerei sind nicht eindeutig zu bestimmen. Sie können objektiv übereinstimmen. In der Praxis wird häufig allein das Interesse des Täters zur Unterscheidung der beiden Delikte führen, die bei vorliegender Konkurrenz zwischen eigenen Interessen (Hehlerei) und fremden Interessen (eigennützige sachliche Begünstigung) auf Schwierigkeiten stößt.
Π. URSACHEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN Die kriminologischen Wesenheiten der Hehlerei werden an Hand der Strafverfolgungsstatistik 1950—1958 und an Hand von Einzeluntersuchungen dargestellt. An Einzeluntersuchungen — Anzahl der untersuchten Einzelfälle in Klammern — liegen vor: Weiß (100), Fröleke (575), Steinlage (179), Thießen (107), Fuchs (428) und Junghannss (400). Kriminologische Einzeluntersuchungen der Begünstigung wurden nicht gefunden. Die Strafverfolgungsstatistik führt alle möglichen Formen der Begünstigung unter einer Position auf. Die Polizeiliche Kriminalstatistik trennt Hehlerei und Begünstigung nicht voneinander ab. Die Ergebnisse der Polizeilichen Kriminalstatistik überhaupt und die der Strafverfolgungsstatistik in be^ug auf Begünstigung haben hier nur für allgemeinere Kriminalitätserscheinungen Bedeutung. A. Allgemeine Kriminalitätsverhältnisse Von 1953—1959 wurden, wie die Polizeiliche Kriminalstatistik ausweist, an Hehlerei und
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Begünstigungsfällen bekannt: 1 9 5 3 = 14069, 1954 = 12245, 1955 = 12236, 1956 = 12711, 1957 = 12797, 1958 = 11479 und 1959 = 11657. Nach der Strafverfolgungsstatistik (Ergebnisse von 1950—1958 zusammengezogen) liegt die Anzahl der Hehlereifälle um das Sechsfache höher als die der Fälle der Begünstigung. Das Dunkelfeld von Hehlerei und Begünstigung wird allgemein als umfangreich angenommen. Das Dunkelfeld der (strafbaren) Begünstigung dürfte noch ausgedehnter als das der Hehlerei sein; denn der Vortatenkatalog ist größer. Der Vortäter wird um jeden Preis den zu schützen bestrebt sein, der ihn schützte, und die Begehungsformen und die Gesamtumstände der Vortat an sich lassen nur selten eine Unterstützung vermuten. 1. Beziehungen zur Vortat und die Rangfolge Der Dieb ist der Hauptlieferant des Hehlers. Täter anderer Vermögensdelikte liefern den kleineren Anteil der „heißen Ware". Junghannss und Fuchs untersuchten ihr Aktenmaterial — Angaben für Fuchs in Klammern — diesbezüglich. Sie fanden: Diebstahl 83,0% (94,0%), Betrug 5,0% (1,8%), Unterschlagung 4,0% (3,2%), Hehlerei 3,5% (0,9%) und sonstige Vortaten 4,5% (—). Im Straftatenkatalog der Strafverfolgungsstatistik (1950/51 in 110 und 1952/53 in 112 Positionen unterteilt) nimmt die Hehlerei der Erwachsenen 1950—1952 die 6. und 1953 die 9. Stelle ein; die Hehlerei der Jugendlichen steht 1950 an 10., 1951 an 8., 1952 an 9. und 1953 an 11. Stelle. Von 1954—1958 verteilt sich die Rangfolge (Unterteilung in 182 und 1958 in 187 Positionen) der Gesamthehler wie folgt: 1954 = 13. und 1955—1958 = 16. Stelle. Die Rangfolge der erwachsenen Begünstiger von 1950—1953: 1950 = 30., 1951 = 29., 1952 = 29. und 1953 = 34. Stelle, die der jugendlichen Begünstiger: 1950 = 19., 1951 = 18., 1952 = 22. und 1953 = 23. Stelle und die der Gesamtbegünstiger: 1954/55 = 42., 1956 = 41., 1957 = 40. und 1958 = 36. Stelle. 2. Örtliche und seitliche Verteilung Die Anonymität der Großstädte mit ihren Randgemeinden, die Industriebezirke und Warenumschlagplätze sind der geeignete Nährboden der Hehlerei. In den Kleinstädten und auf dem flachen Lande dagegen ist die Hehlereikriminalität unbedeutend. Dort ist der Kontakt von Mensch zu Mensch eng. Einer achtet auf den anderen. Es fehlt dem Hehler Hinter- und Untergrund. Die Verteilung der Tatorte nach dem Material von Fuchs: Wohnungen 53,7%, Gast-
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Hehlerei und Begünstigung
statten 16,9%, Straßen 10,4%, Geschäfte 10,4%, Bau- und Fabrikgelände und sonstige gewerbliche Räume 4,4%, öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel 3,5% und Feld und Wald 0,7%. Die zeitliche Verteilung der Hehlereikriminalität wird am sichersten durch den Stand der Verurteiltenziffer — in Klammern — demonstriert. Die in den Werten enthaltenen Begünstigungsziffern nach § 258 verändern das Bild nur unwesentlich. Die Hehlereikriminalität fällt von 1882 (26) bis 1888 (20) kontinuierlich, steigt dann bis 1892 (25) wieder an und sinkt danach bei geringfügigen Schwankungen bis 1915 (17). Ab 1916 klettert sie sprunghaft bis zu ihrem höchsten Stand 1923 (134). Sie fällt 1924 (92) weiter bis 1927 (22) und erreicht 1929 (17,2) vorläufig ihren niedrigsten Stand. Bis 1933 (21,2) steigt sie wieder an. Von da ab fehlt bis 1950 vergleichbares statistisches Material. Nach dem zweiten Weltkrieg steigt die Hehlereikriminalität ebenfalls an. Sie erreicht aber bei weitem nicht das Ausmaß der Jahre 1922—1924. Es ist anzunehmen, daß das Gros der „hehlereiempfänglichen" Menschen auf den — der Hehlerei verwandten — ergiebigeren Schwarzmarkt abwanderte. Authentisches Material fehlt. Die Verurteiltenziffern (§§259—261 ohne §258) ab 1950: 1950 (21,1), 1951 (29,6), 1952 (32,5), 1953 (23,5), 1954 (16,6), 1955 (15,0), 1956 (14,8), 1957 (15,0) und 1958 (14,2). Der Stand der Verurteiltenziffer zeigt eindeutig, daß die Hehlerei in einem ganz empfindlichen Maße auf wirtschaftliche Verhältnisse reagiert und eng mit der (-*) Wirtschaftskriminalität zusammenhängt. B. Täterverhältnisse und Handlungstaktoren Die aus den Verhältnissen und der Sphäre des Täters abzuleitenden Erkenntnisse sind mehr allgemeiner Art. Es lassen sich daraus aber doch Gruppentendenzen entnehmen, die den Charakter des verwirklichten Delikts beleuchten und die einen Eindruck von der verbrecherischen Natur des Täters vermitteln. Die Aufschlüsse, die sich aus den Beweggründen des Täters und aus der Art und Weise der Verwirklichung der Tat ergeben, sind spezifischere Kriterien und tragen mehr zur Wesenserfassung des Deliktes bei. 1. Persönliche
Verhältnisse
a) Das A l t e r der Verurteilten wird in der Strafverfolgungsstatistik in Altersklassen unterteilt. Der Anteil der Altersklassen differiert sowohl innerhalb der Einzeldelikte als auch von Delikt zu Delikt. Aus dem Anteil der Alterklassen an den einzelnen Delikten lassen sich Wesenszüge ableiten; denn auch auf dem kriminellen Sektor besteht ein naturbedingter Zu-
sammenhang zwischen dem Lebensalter und dem Betätigungsdrang. Ζ. B. werden Taten, die Mut, Spannkraft, Elastizität o. ä. Eigenschaften verlangen, von jungen und solche, die Besonnenheit und Überlegung erfordern, von älteren Menschen begangen. Für den Zeitraum von 1950—1958 (Ergebnisse der Strafverfolgungsstatistik zusammengezogen) verteilen sich die Verurteilungen (1) wegen Hehlerei, (2) wegen gewerbs- und gewohnheitsmäßiger Hehlerei und Rückfallhehlerei (die Strafverfolgungsstatistik 1952/53 trennt die beiden Delikte nicht) und (3) Begünstigung wie folgt: 14—16
16—18
18—21
21—25
25—30
1785 1 215
2688 3 474
6267 23 1809
9852 132 2209
10382 288 1899
(1) (2) (3)
(1) (2) (3)
30—40
40—50 50—60
15811 568 2466
15861 643 2101
7006 279 871
60 u. m. 2309 79 256
Von 1950—1955 überwiegt bei der Hehlerei (§ 259) die Alterklasse 40—50, danach tritt die Altersklasse 30—40 in den Vordergrund. Innerhalb der Begünstigung gewinnt ab 1954 die Altersklasse 21—25 an Bedeutung. Das gilt aber nur für den männlichen Begünstiger. Die Begünstigerin gehört ab 1955 immer noch mehr der Altersklasse 30—40 an. Betrug und Unterschlagung (s. dort), die auch noch andere Wesensverwandtschaften mit der Hehlerei aufweisen, verhalten sich ähnlich wie die Hehlerei. Die Altersklassen 30—40 rangieren vor. Der Dieb dagegen gehört vornehmlich den unreiferen Altersklassen an. b) Die G e s c h l e c h t e r unterscheiden sich in Veranlagung, Erziehung und Stellung im Leben. Das bedingt eine unterschiedliche Beteiligung an der Kriminalität. Das Kriminalitätsverhältnis (Ergebnisse der Strafverfolgungsstatistik von 1954—1958 zusammengezogen) beträgt 7,5:1 zugunsten der Frau. Dieses Verhältnis verschiebt sich bei der Hehlerei nach §259 auf 3,4:1, bei der Hehlerei nach §§260/261 auf 5,2:1 und bei der Begünstigung auf 3,5:1. Die Beteiligung der Geschlechter und Altersklassen (Ergebnisse der Strafverfolgungsstatistik von 1954—1958 zusammengezogen) an der Hehlerei § 259 (1) = Männer, (2) = Frauen, (3) = Verhältnis zueinander; an der Hehlerei §§ 260/261 (4) = Männer, (5) = Frauen, (6) = Verhältnis zueinander und an der Begünstigung (7) = Männer, (8) = Frauen und (9) = Verhältnis zueinander:
Hehlerei und Begünstigung
(1) (2) (3) (4) (6) (6) (7) (8) (9)
14—16
16—18
18—21
21—25
25—30
962 50 19:1
1459 120 12:1
2559 427 6:1 15 2 7,5:1 827 142 5,8:1
3515 904 4:1 52 11 4,7:1 927 200 4,6:1
3859 1069 3,6:1 148 32 4,6:1 754 199 3,8:1
—
—
1
1
—
—
81 338 7,4:1
226 44 5,1:1
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)
30-- 4 0
40-- 5 0
50-- 6 0
60 u. m.
4862 1853 2,6:1 292 60 4,9:1 866 11 2,6:1
4636 1879 2,5:1 344 57 6,0:1 683 282 2,4:1
2386 848 2,8:1 153 32 4,8:1 300 108 2,8:1
788 238 3,3:1 52 7 7,4:1 85 26 3,3:1
c) Die Strafverfolgungsstatistik berücksichtigt den F a m i l i e n s t a n d der Verurteilten nicht, so daß die diesbezüglichen Einzeluntersuchungen von Junghannss (Bielefeld), Fuchs (Freiburg) und Steinlage (Hagen), in Prozent umgestellt, mitgeteilt werden: Bielefeld ledig verheiratet verwitwet geschieden
männl.
weibl.
gesamt
43,3% 54,2%
17,6% 73,0% 7,3% 2,1%
36,4% 59,5% 3,0% 1,1%
1,9% 0,6%
377
können, ist dementsprechend. Der prozentuale Anteil der verwitweten Frau ist ebenfalls hoch. Der unverhältnismäßig hohe Anteil der Frau an der Hehlerkriminalität ist wohl überhaupt nur aus dem Ehefrau-, Mutter-, Geliebten-, Verlobten-, Schwester-, Tochter-Verhältnis zum Vortäter zu erklären. Diesbezügliche Einzeluntersuchungen sind nicht bekannt. d) Bestimmte B e r u f s und Gewerbezweige gefährden labile Menschen und reizen — je nach Situation verschieden stark — zu strafbarem Tun an, und kriminell Belastete werden sich — unter ihnen günstig erscheinenden Umständen — einen Berufs- oder Gewerbezweig auswählen, um ihre Taten bequemer ausführen oder verdecken zu können. Die Hehlerei ist ein Delikt, das durch Wirtschaftlichkeit am wirkungsvollsten den erstrebten Gewinn sichert. Es verwundert daher nicht, dem Hehler, der das makelhafte Gut verschiebt, in solchen oder artähnlichen Gewerbezweigen zu begegnen. Die Beteiligung derjenigen, deren Tätigkeit mit „Lohnarbeit wechselnder A r t " umschrieben wird, ist relativ am höchsten. Aschaffenburg nimmt den Umfang dieser Gruppe mit 1 % der Erwerbspersonen an. Die Beteiligung von Angehörigen der Land- und Forstwirtschaft ist sehr gering. In Ermangelung jüngerer Unterlagen werden die Ergebnisse von Junghannss (Bielefeld), Fuchs (Freiburg) und die der Reichskriminalstatistik von 1928—1935 mitgeteilt:
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Jugendkriminalität
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427
Buch und Film (Fernsehen), deren mögliche Wirkung nur unter vergleichsweiser Berücksichtigung ihrer allgemein-, entwicklungs- und epochalpsychologischen Funktionen beurteilt werden kann (Becker, Bourdelles, Decurtius, Flik, HallermannGerchow, Keilhacker, Lavies, Middendorff, Raymond-Decharneux, Stückrath u. Schottmayer). Zum Problem Jugend und Freizeit vgL Bornemann und Böttcher. Bei Delinquenten läßt sich fast stets nachweisen, daß eine Bereitschaft vorhanden war, das Gebotene in einem bestimmten Sinne zu interpretieren und sich zu eigen zu machen, u. U. einen bestimmten Typ eines Massenmediums zu bevorzugen. Eine prägende Wirkung kann eintreten, wenn das Dargebotene (ζ. B. Comics, sadistische Filme und Literatur) in einer bestimmten Entwicklungsphase aufgenommen wird und zugleich der Verfestigung individueller Auseinandersetzungsformen des jungen Menschen in seiner Lebenssituation dient; so kann etwa für Schwachsinnige oder manche Neurotiker eine kriminogene Mitwirkung solcher Einflüsse vermutet werden; ob die Jugendkriminalität durch sie im ganzen vergrößert, möglicherweise nur inhaltlich modifiziert wird, ist noch ungeklärt (Doetsch, Schückler, Thomae 1959). — Über das Interesse an Kraftfahrzeugen vgl. den Abschnitt „Delikte im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr". — Zur Problematik der (im 16. und 17. Lebensjahr am häufigsten angefertigten) Tätowierungen von minderjährigen Häftlingen vgl. Muniwitz und Neulandt; ferner Graven. 3. Psychologischer
Aspekt
a) Seit den ersten empirischen Erhebungen mit Kontrollpopulationen von Cyril Burt (1925) hat sich immer wieder bestätigt, daß die bei Kriminellen vorgefundenen sozialen und Persönlichkeitsfaktoren in derselben Art und Intensität bei Nichtkriminellen auftreten. Den Versuch einer psychologischen Ableitung der Entwicklung und der Verhaltensweisen junger Krimineller aus der Kombination und Ausprägungsstärke sozialer und charakterlicher Gegebenheiten hat zuletzt, ausgehend von der Hypothese einer Prävalenz von Anlagen, Frey gemacht. Im Gegensatz zu solchen mehr statischen Betrachtungsweisen haben Gottschaidt und Mieskes sich bemüht, die Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen und die Funktion kriminellen Verhaltens innerhalb dieser Strukturen zu erfassen: Die einzelnen kausalen wie funktionalen Faktoren haben unterschiedliche Bedeutung je nach ihrem Stellenwert innerhalb der Persönlichkeitsstruktur; genetischer Schwerpunkt und bevorzugtes Ausdrucksfeld von Verwahrlosung und Kriminalität können trotz ähnlicher Symptomatik (Delikte) in verschiedenen Bereichen liegen (vorwiegend puberale, neurotische, psychopathische, milieubedingte usw.
428
Jugendkriminalität
Störung und Entstehung bestimmter Erlebnisund Verhaltensgewohnheiten). b) Von einer psychoanalytischen Konzeption ausgehend sind in den dreißiger Jahren in den USA Versuche einer Theorie der Jugendkriminalität gemacht worden. Den älteren Ansichten, orientiert an der Vorstellung vom asozialen Es, das übermäßig stark ist oder dem Unzulänglichkeiten bzw. Störungen in der Ich- und ÜberichEntwicklung gegenüberstehen (Alexander und Staub, Friedlander), folgten die durch Kontrolluntersuchungen gestützten Ansätze und Theorien von Healy und Bronner sowie Sheldon und Eleanor Glueck. Verwahrlosung und Kriminalität sind nicht unmittelbare Äußerungsweisen des Es, sondern Symptome für soziale Anpassungsschwierigkeiten oder Auswege aus solchen. Healy und Bronner führen sie auf innerpsychische Konflikte und Störungen zurück, die in den frühen Familienund Umweltverhältnissen wurzeln und für die die von den Soziologen hervorgehobenen gesellschaftlichen Einflüsse nur den Rahmen bilden, der mitbedingt, daß frustrierte Wünsche und Bedürfnisse in antisoziale Richtung gelenkt werden. Die Gluecks haben in langjähriger Beobachtung von je 500 kriminellen und nichtkriminellen Kindern und Jugendlichen in breitem, somatisch-konstitutionelle und soziologische Faktoren einbeziehendem Ansatz eine Anzahl von kausalen und verhaltenstypischen Merkmalen festgestellt und teilweise in Prognosetabellen quantifiziert, andere Merkmale als bedeutungslos erkannt. Dabei zeigte sich vor allem eine statistisch signifikante Korrelation zwischen Kriminalität und Geschlossenheit bzw. Vollständigkeit der Familie. Bereits in den zwanziger Jahren hatte Aichhorn, ausgehend von kasuistischem Material und mit pädagogischem Blickpunkt, eine psychoanalytische Theorie der „latenten Verwahrlosung" — in der Genese ähnlich der einer neurotischen Struktur — entwickelt, die nach dem Krieg in den USA starke Beachtung fand. Zusammen mit anderen Autoren lenkte er die Aufmerksamkeit darauf, daß im Gegensatz zur Auffassung der älteren psychoanalytischen Theorie bei der Mehrzahl der Verwahrlosten und Kriminellen keine starke (repressive) Kontrolle des Überichs, sondern eine zu schwache ÜberichSteuerung vorliegt. Hierdurch erfolgte eine Annäherung an soziologische Gedankengänge und eine stärkere Zuwendung zu den Problemen der Identifikationsprozesse, der Gewissensbildung und -konflikte usw., d. h. der moralischen Verhaltenskontrolle (Glaser, Redl, Reiss, Zulliger). c) Bei der offensichtlich überaus komplexen Genese delinquenten Verhaltens erschienen Einzeluntersuchungen zur weiteren Klärung notwendig. Die in der älteren Psychoanalyse etwas vernachlässigte Person des Vaters wurde als in mehrfacher Hinsicht wichtig erkannt (Andry, Dalma y
Knobel, Hartmann), der Einfluß der familiären Situation einer genaueren Betrachtung unterzogen (Bennett, Biermann, Bovet, Bowlby, Brandt, Ferguson, Friedlander, Henry, Lampl-de Groot, Marcus, Morita). Aus dem gestörten familiären Zusammenleben entstehen bei den Kindern Fehlanpassungsmuster, die monographisch bzw. typologisch dargestellt werden: Hewitt und Jenkins (der unsozialisiert-aggressive, der — ζ. B. im Gang — sozialisierte Delinquent, der übermäßig gehemmte, wenig zum Delinquieren neigende Jugendliche), Redl und Winemann, Reiss (der gut integrierte Delinquent, der Delinquent mit defektem Überich und der mit schwachem Ich), Topping. Wenn man von erziehungsbedingten Unterschieden in der Mentalität der amerikanischen und europäischen männlichen Jugend (Alexander und Healy, S. 282), weiterhin davon absieht, daß bei den in der amerikanischen Literatur besonders beachteten Fällen die gesellschaftliche Struktur ihres Umfeldes eine Identifikation mit asozialen oder kriminellen Verhaltensweisen oft geradezu anbietet, so ist grundsätzlich noch kaum geklärt, wann und warum unter ähnlich belastenden Vorausetzungen einmal eine neurotische Symptomatik, ein andermal Kriminalität entsteht. Dührssen fand in der Vorgeschichte neurotisch verwahrloster und delinquenter Jugendlicher bezeichnende strukturelle Gegebenheiten, die die Anfälligkeit für asoziale Verhaltensmuster verständlich machen. Die allgemeine Problematik der Prägungsvorgänge in der menschlichen Entwicklung ist bei Thomae (1959) dargestellt.
4. Soziologischer Aspekt a) Die früher und ζ. T. heute noch volkstümliche Ansicht, Kriminalität sei weitgehend eine Folge schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse, ist unter dem Gesichtspunkt von Klassengegensätzen spekulativ in die marxistische Gesellschaftstheorie aufgenommen worden. Indessen machen sich unter anderem mit dem Ansteigen des Lebensstandards zunehmend Anzeichen der sogenannten Wohlstandskriminalität bemerkbar, und zwar in erster Linie bei jungen Personen (Grünhut). In der Sowjetunion und einigen anderen Ländern hat überdies der vollzogene bzw. sich vollziehende Übergang von der Unter- zur Mittelklassengesellschaft und -Ideologie einen Strukturwandel der Jugendkriminalität zur Folge. Hinweise bei Kaiser, Mehnert, Middendorff. b) Von Beobachtungen in Stadtgebieten der USA gingen die ersten umfassenden Untersuchungen von Shaw und McKay aus. In größeren Städten wurden um die Geschäftszentren Zonen beträchtlich und dauerhaft erhöhter Kriminalität und Verwahrlosung mit deutlicher Korrelation zwischen Erst- und Rückfallziffern gefunden, und zwar unabhängig von der heterogenen und wech-
Jugendkriminalität selnden Bevölkerung. Die Theorie vom „Area Approach", basierend auf der Annahme einer sozialen Desintegration von Bevölkerungsgruppen ohne kulturelle Übereinstimmung, ist stark durch die Eigenart amerikanischer Verhältnisse bestimmt und wurde nach begründeten Einwänden modifiziert und durch neue Untersuchungen teilweise gestützt (Übersicht bei Bordua). Thrasher stellte fest, daß die Übergangszonen sozial unterschiedlicher Stadtviertel besonders gefährdet sind. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Lafon-Michaud in Frankreich. Auffällig ist immer wieder die Organisationsform der Bande bzw. der Gruppe mit Ressentiment, dem in mehr oder weniger aggressiver Form Ausdruck gegeben wird. Daß in Gebieten mit hoher Kriminalität die gesellschaftliche Kontrolle an Hand von konventionellen und strafrechtlichen Normen nur mangelhaft möglich ist, legt eine Interpretation im Sinne des „Area Approach" nahe. c) In seiner Theorie von der „differentiellen sozialen Organisation" hat Sutherland versucht, das kriminelle Verhalten der einzelnen Person aus ihrer Teilnahme an kriminellen Kulturmustem bzw. der „Assoziation" mit Trägern dieser Kulturmuster zu erklären, wobei es sich psychologisch um einen Lernvorgang handle. Sutherland lehnt psychische oder biologische Abnormitäten (ζ. B. „Psychopathien") als Verbrechensursachen ab und betont, daß Bedürfnisse und Motive der Delinquenten sich nicht von deDen anderer Menschen unterscheiden. Weiterhin bemüht er sich um eine universale, d. h. nicht multifaktorielle Verbrechenserklärung. Die Gluecks haben den Versuch gemacht, seinen Ansatz etwa mit dem von Healy und Bronner in einer Mehrfaktorentheorie zu vereinen, wobei sie sich gelegentlich den Vorwurf des Eklektizismus gefallen lassen mußten. Es können beispielsweise dieselben familiären Gegebenheiten 1. als Ursache emotionaler Befriedigung oder Frustration, d. h. als Faktor der individuellen Persönlichkeitsentwicklung aufgefaßt werden oder 2. als Institutionen, die moralische Verhaltensmuster vermitteln und soziale Kontrolle ausüben. Beides ist nach den Gluecks verifizierbar, wobei sie allerdings den individuellen bzw. psychischen Faktoren mehr Platz einräumen als Sutherland, der etwa fragt, ob Frustrationsschäden dadurch zu Straffälligkeit führen, daß sie einen Jugendlichen zum Anschluß an delinquierende Gruppen veranlassen. In Weiterführung des Ansatzes von Shaw und McKay haben Kobrin, Lander u. a., des Ansatzes von Sutherland haben Cohen, Cressey, Glaser, Redl u. a. Untersuchungen an Populationen angestellt, die sich zumindest teilweise infolge der Heterogenität von Bevölkerung und Kulturen bzw. Subkulturen gut zur Demonstration des „Kulturkonflikts" (Sellin)
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eignen; die Ergebnisse sind nur bedingt auf europäische Verhältnisse übertragbar. Konvergenzen von psychologischem und soziologischem Denken zeigen sich in der Diskussion um die Problematik der Identifikation (Cohen, Glaser, Mays), der Rationalisierung (Cressey), des „Halts" (Reckless). d) Die Vernachlässigung soziologischen Denkens und Forschens in Deutschland wird aus der historischen Entwicklung während der letzten Jahrzehnte verständlich und hat sich nicht zuletzt auf den Wissensbestand und die Bewertung der Kriminologie ausgewirkt (Radzinowicz). Ansätze zu einer (psychologisch-)soziologischen Theorie der Jugendkriminalität gehen daher meist von amerikanischen Erfahrungen und Gedankengängen aus. Heintz, König (Grünhut, Mannheim in England) versuchen, ausgehend von der Feststellung einer normgebenden Mittelklassenideologie, zu zeigen, wie mit dem Schwinden autoritativ-familiärer Bindungen in einer sich entwickelnden pluralistischen Gesellschaft die Entstehung eines Kulturkonflikts bzw. von Subkulturen infolge der vielseitigen und verschiedenartigen Inanspruchnahme des Jugendlichen sehr wohl möglich ist und zur Bildung informeller Gruppen führen kann, wenngleich auf anderer Basis und auf andere Weise als in den USA. Psychologische Faktoren, ζ. B. Frustration, gewinnen in Abhängigkeit von soziologischen Gegebenheiten, ζ. B. der frustrationsbegünstigenden „Aufstiegsgesellschaft", kriminogene Bedeutung. Die früher wesentlichen gesellschaftlichen Klassenunterschiede spielen ebenso wie die hierarchisch-autoritative Gliederung innerhalb des Staates heute keine ausschlaggebende Rolle für die Entstehung von Gruppenkulturen mehr. De Rudder (in Cohen 1961) hebt als für die Haltung der heutigen Jugend bezeichnend hervor 1. die Unsicherheit in den Normen bzw. der Erziehung, 2. den Pluralismus der Verhaltensnormen, der sich aus den Sachstrukturen der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gebilde unserer Gesellschaft ergibt, und 3. die Prädominanz anonymer Sachstrukturen (Organisation, Produktionsnotwendigkeiten usw.), in die der Jugendliche plötzlich hineinversetzt wird; dies alles könne die Grundlage für Kompensationen psychischer Einstellungen und Antriebe in Form von Verwahrlosung und Kriminalität dann abgeben, wenn den Jugendlichen bestimmte Verhaltensmuster — realisierbar ζ. B. über Gruppenbildungen — aus seiner Umgebung angeboten würden. Die deutsche soziologische Forschung hat sich mit dem Problem der Jugendkriminalität empirisch noch kaum befaßt. Indem er die heutige Jugend der aus der Zeit vor 1914 gegenüberstellt, versucht Muchow, den soziologischen Hintergrund zu beschreiben, auf dem zwar nicht die Jugendkriminalität im engeren Sinne, wohl aber der
430
Jugendkriminalität
Bereich der beginnenden bzw. der Entwicklungskriminalität erfaßt und verstanden werden kann, der mit dem typischen Verhalten der heutigen Jugend zusammenhängt. Früher als bezeichnend geltende Erscheinungen, wie der Generationskonflikt, das Unverstandensein (Spranger) finden sich heute in der Regel nicht mehr. Die Pubertätsausweitung zeigt sich unter anderem in frühem sexuellem Interesse und i r der Teilnahme an Freizeitbeschäftigungen der Erwachsenen, andererseits bei Heranwachsenden in einem ungeordnet-angeberhaften Benehmen, das man früher den Flegeljahren zugerechnet hatte. Die sexuelle Entwicklung läuft der Entfaltung gefühlsmäßig-erotischer Beziehungen voraus, weshalb die sexuelle Betätigung nicht mehr (wie noch von Spranger beschrieben) zu Konflikten führt und also auch nicht zu Scham- und Schuldgefühlen. Die Entwicklung ist hier den der Jugend von den Erwachsenen indirekt übermittelten Praktiken entsprechend verlaufen. Die StatusUnsicherheit der Erwachsenen und der Jugend äußert sich im Brauchtum und im pädagogischen Verhalten. Der früher so wesentlichen „Selbstfindung" steht die Tendenz zur Selbstbewahrung und Abschirmung gegenüber, die jeden Eingriff in die Intimsphäre ablehnt, weshalb Jugendliche in mancher Hinsicht zu Reue und Sühne nicht befähigt sind — beispielsweise auch einen Bewährungshelfer ablehnen —, wenngleich sie Strafe als notwendige Reaktion auf ihr Verhalten anerkennen und auf sich nehmen. Selbstbewahrung geschieht bevorzugt durch Handeln mit dem Sinn, etwas, und zwar nicht unbedingt etwas Bestimmtes, zu tun, um sich selbst zu bestätigen ; dies ist vor allem in informellen Gruppen mit wechselnder Teilnehmerzahl und unregelmäßiger Teilnahme möglich, wobei das Gefühl der Solidarität und Verbindlichkeit schwächer als bei den in den USA beschriebenen ist. Bezeichnend sind weiterhin das Understatement, das sich in erster Linie auf gefühlsmäßige Äußerungen bezieht, ein empfundenes und oft ausdrucksmäßig betontes Gefühl der Langeweile sowie ein äußerlich als Vergnügungssucht auffallendes Bedürfnis nach spannungsreichen Realkontakten, die einem angesichts der Unsicherheit hervorrufenden „Reizüberflutung" das Gefühl der Eigenpersönlichkeit verschaffen und manchmal zu motivlos scheinenden, auch kriminellen Handlungen führen; bei schwereren Delikten „ohne Grund" bzw. „aus Langeweile" lassen sich immer kriminogene Präformierungen feststellen (Lindner). Die sogenannten Halbstarken repräsentieren die Grundhaltung der Jugend etwas übersteigert, und zwar teils in ihrem äußeren Gehaben — trotz der Auffälligkeit der Kleidung besteht hier ganz allgemein eher eine Tendenz zur Nivellierung als zur Hervorhebung von Geschlechtsunterschieden — und teils in einer
Einstellung Erwachsenen gegenüber, die weniger durch Haß als durch eine gewisse Verachtung sowie das Bestreben, die Grenzen des Möglichen und Erwachsenen Zumutbaren auszuprobieren, gekennzeichnet ist. Es gibt für Halbstarke spezifische Delikte oder deliktsähnliche Handlungen, wogegen keine Vergehen und Verbrechen bekannt sind, die man als jugendspezifisch bezeichnen könnte. Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 ist weitgehend an der Pubertätspsychologie und -Soziologie der zwanziger Jahre orientiert und berücksichtigt die Mentalität der gegenwärtigen Jugend nicht genügend. Auf die — auch in der europäischen Jugend feststellbare — epochale Verschiebung des Erlebens und der Verarbeitung eigenen Mißverhaltens von der „Schande" (in der traditionsgeleiteten Gesellschaft) über die „Schuld" (bei innen geleiteter) zur „Angst" (bei außengeleiteter Lebensweise) weist Riesman hin. B. Individuelle Funktionen und Strukturen Wenn man davon ausgeht, daß Persönlichkeit als Struktur wie auch als Prozeß zu verstehen ist, kommt für die Jugendkriminalität den Motivationsvorgängen besondere Bedeutung zu. Der weite Begriff Motivation umfaßt dabei charakterliche Konstanten (ζ. B. habituelle, gerichtete Antriebsvorgänge), aktuelle Wirkzusammenhänge und vor allem entwicklungsbedingte Veränderungen von Motiven. Auffassungen und Problematik der darüberhinausgehenden funktionalen Bezüge und Abhängigkeiten (ζ. B. der Frage nach dem allgemeinen Zusammenhang von Ursache, Funktion und Symptom) sind im vorigen Abschnitt (Korrelationen) angedeutet worden. Die im Strafrecht gebräuchlichen Begriffe (Habgier, Wollust usw.) sind abgesehen von ihrer Wertbezogenheit statisch, typisierend, sehen das Motiv nicht in seiner Einbettung und Bedeutung innerhalb der Persönlichkeitsstruktur. Einfache, meist aus der Erlebnisanalyse gewonnene Motivationszusammenhänge beschreiben Kelchner, Märtin, Stott. Kriminologisch wichtig sind die entwicklungs-, ζ. B. pubertätsbedingten Veränderungen der Motivation, die durch äußeren Erfolg oder innere Befriedigung zu Dominantenbildungen, etwa Verfestigungen von oft bereits in der Kindheit angedeuteten oder eingeschliffenen Daseinsthemen und Daseins- (Lebensbewältigungs-) techniken (Lersch, Murray, Thomae), führen. Die Einbettung derartiger Antriebsabläufe in ein Lageschema, d. h. in übergeordnete Richtungssysteme, Verhaltensregulative usw. (Thomae 1944), hat bezeichnende Motivationslagen und -Veränderungen zur Folge, Konflikte, die durch Ambitendenz, durch Überformung oder durch Entscheidung gelöst werden. Der von Personen, die ein Überich bzw. Gewissen besitzen, bevor-
Jugendkriminalität zugte Überformungsprozeß versagt bei Verwahrlosten und Straffälligen weitgehend zugunsten von Mechanismen der Ausschaltung übergeordneter Kontroll- und Antriebssysteme beispielsweise durch Resignation, Aggression, Abwertung und andere Entlastungsvorgänge (Dietrich, Stutte 1957). Konfliktzustände und -lösungen bei starrer, verhärteter Uberformung (ζ. B. bei Zwangsneurotikern) beschreibt Zulliger. In der Gerichtspraxis zu wenig beachtet sind die nicht so seltenen Fälle, in denen ein Jugendlicher juristische Schuld wie auch Strafe um der größeren moralischen willen auf sich nimmt; solche Abläufe sind teilweise unter dem Begriff der Selbstbestrafungstendenz beschrieben worden. Ungeklärt ist die Frage, in welchem Umfang die durch die moderne, pluralistische Gesellschaft bedingte Konfliktkumulation (Bondy, Luchins) eine Erhöhung der Pubertätskriminalität zur Folge haben kann. Daseins- bzw. Lebensbewältigungstechniken entstehen, wie erwähnt, oft schon früh, lösen sich teilweise weitgehend von der übergeordneten Daseinsthematik und werden dann zu einer verselbständigten Reaktion in spannungs- und konfliktverursachenden Situationen, mitunter in spezifischen Reizkonstellationen. Beschreibungen bei Dietrich, Dührssen, Ganal, Healy und Bronner, Mieskes, Neulandt, Stott, Stumpf], Suttinger, Thomae 1952. Bei Asozialen finden sich als bevorzugte Techniken die Anpassung, das Ausweichen und die rücksichtslose Durchsetzung, jeweils in mannigfaltigen Äußerungsformen, die keineswegs mit kriminellen Handlungen verbunden zu sein brauchen und daher in ihren Frühformen bei nur juristischer, nichtpsychologischer Betrachtung der Aufmerksamkeit oft entgehen; unter etwas anderem theoretischem Aspekt werden Identifikationsund Projektionsmechanismen spezifischer Art, auch manche Symptomverschiebungen im psychosomatischen Bereich hierherzurechnen sein. Es hat den Anschein, daß eine Differenzierung von Kriminellen und „Normalen" am leichtesten durch das Moment der bevorzugten Daseinstechnik möglich ist (Hoffmann, Thomae). Sie kann ein wesentlicher Bestandteil der kriminogenen Struktur sein, des (individuell) spezifischen Zueinanders körperlich-psychisch-sozialer Gegebenheiten, durch das die kriminelle Handlung in erster Linie bedingt ist und bewirkt wird. Umfang, Stellung und Integration der kriminogenen Struktur können innerhalb der gesamten Persönlichkeitsstruktur sehr verschiedenartig sein. Beispielsweise gibt es Sittlichkeitsdelinquenten, deren kriminogene Struktur in einem starren Reiz-Reaktionsschema bei sonst intakter Persönlichkeit besteht; bei anderen Tätern ist die kriminogene mit der Persönlichkeitsstruktur fast identisch; die Prognose kann in beiden Fällen in gleichem Grade ungünstig sein. Bei Minder-
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jährigen kommt es hinsichtlich Prognose wie Behandlung neben dem Verfestigungsgrad wesentlich darauf an, in welcher Richtung und wieweit im Reifungsablauf Verschiebungen im endothymen Bereich, in den Motivationen bzw. Motivationslagen, in persönlichkeitsrelevanten situativen Gegebenheiten eintreten oder möglicherweise herbeigeführt werden können, die in einem bedeutsamen Zusammenhang mit der vorhandenen oder sich entwickelnden kriminogenen Struktur stehen. Die vorliegenden Prognosesysteme besitzen in der Regel eine statistische Grundlage und können die individuelle kriminogene Struktur allenfalls andeutungsweise erfassen; sie nivellieren durch inadäquate Zusammenfassung von Altersklassen entwicklungs- und persönlichkeitstypische Merkmale und sind daher mehr für kriminalpolitische als für individualprognostische Aussagen geeignet. Bestimmte allgemeine Erfahrungen finden in vielen Prognosesystemen ihren Niederschlag, so Frühverwahrlosung, Zahl der Vorstrafen, Erregbarkeit, Gemütsmangel, Neigung zu Delikten im sozialen Nahraum (Abels), sogenannte Haltschwäche, Schul- und Arbeitsschwänzen u. a. Auch bei Berechnung von Gewichtszahlen (ζ. B. Glueck) oder Ermittlung typischer Kombinationen (ζ. B. Stutte, VUIinger) besagen sie aber im mittleren Streuungsbereich der Rückfälligkeitskurve für den Einzelfall nicht allzuviel, zumal sie meist an durch bestimmte Verwahrlosungssymptomatiken charakterisierten Populationen gewonnen worden sind (Suttinger). Empirische Untersuchungen von Brauneck, Frey, Glueck, Köck, Kvaraceus, Mannheim und Wükins, Meyer, Mieskes, Piecha, Powers und Wittmer, Rose, Stutte, Villinger. Monographien H. G r u h l e : Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität. Studien zur Frage: Milieu oder Anlage. 1912. A. Gregor und B. V o i g t l & n d e r : Die Verwahrlosung, ihre klinisch-psychologische Bewertung und ihre Bekämpfung. 1918. G. A s c h a i f e n b u r g : Dae Verbrechen und seine Bekämpfung. 3. Aufl. 1923. C. B u r t : The Young Delinquent. 1925. F. M. T h r a s h e r : The Gang. 1927. Sh. und Ε. T. G l u e c k : 500 Criminal Careers. 1930. T ö n n i e s : Uneheliche und verwaiste Verbrecher. KrimAbh. 14.1930. F. A l e x a n d e r und H. S t a u b : The Criminal, the Judge, and the Public. 1931. C. It. S h a w und Η. D. M c K a y : Social Factors in Juvenile Delinquency, Report on the Causes of Crime, Bd. II, National Commission on Law Enforcement and Observance. 1931. B,. P. D a n i e l : A Psychological Study of Delinquent and Non-delinquent Negro Boys. 1932. M. H o f f ner: Kriminalität und Schule. KrimAbh. 17.1932. F. A l e x a n d e r und W. H e a l y : Soots of Crime. 1935. W. H e a l y und A. F. B r o n n e r : New Light on Delinquency and its Treatment. 193«. F. S t u m p f l : Die Ursprünge des Verbrechens, dargestellt am Lebenslauf von Zwillingen. 1936.
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JUGENDSCHUTZ 1. Jugendsehutz und Kriminologie Die zunehmenden Zahlen der jugendlichen Kriminellen zwingen dazu, in stärkerem Maße als früher prophylaktische Maßnahmen zu überlegen (-»•Jugendkriminalität). Auf diese Weise gewinnt auch der Jugendschutz im Bereich der modernen Kriminologie eine besondere Bedeutung. Wenn nach den neuen Anschauungen über Sinn und Zweck der Strafe oder der staatlichen „Maßnahme"
der M e n s c h im Anfang aller Betrachtungen steht, nicht die von ihm begangene Tat, so hat sich die Kriminologie als autonome Seinswissenschaft auch mit den Methoden der Vorbeugung und der Bekämpfung des Verbrechens zu befassen. Wir stehen damit vor einer Fülle von neuen Phänomenen, die auch im Zusammenhang mit der Kriminalität der Jugend gesehen werden müssen. Auffällig ist, daß in letzter Zeit die strafrechtlichen Verfehlungen von Kindern im Alter von 10 bis 13 Jahren — ähnlich wie die kriminell gewordenen 14- bis 16jährigen — zu Besorgnissen Anlaß geben. Es scheint so, als ob bereits in früher Kindheit krimirelle Neigungen erkennbar werden, die mit erblichen Anlagen oder mit ungünstigen Umwelteinflüssen allein nicht erklärt werden können. Es fällt weiterhin auf, daß die sogenannten„Problemkinder" in den allgemeinbildenden Schulen, auch in den Berufsschulen, zunehmen. Viele Schulverwaltungen sind dazu übergegangen, Psychologen als Berater einzustellen oder eine „Schülerhilfe" zu schaffen. Die Erziehungsberatungsstellen der öffentlichen und freien Jugendhilfe gewinnen eine immer größere Bedeutung und finden einen von den vorhandenen Kräften kaum noch zu bewältigenden Zulauf. In der Schule selbst ist man um kleinere Klassen für diese Sorgenkinder bemüht, weil man zu der Erkenntnis kommt, daß der allgemeine Unterricht gerade dieser zunehmenden Gruppe von Kindern nicht gerecht zu werden vermag (->· Heilpädagogik). In den Kinderkliniken wird die Feststellung getroffen, daß zwar weniger organische Erkrankungen von Kindern, dafür aber um so mehr psycho-somatische Krankheitsbilder, neurotische Fälle, vorkommen, die in der Regel eine viel tiefergehende Behandlung erforderlich machen. Ähnliche Beobachtungen macht man im Arbeits- und Wirtschaftsleben. Auch hier bereiten viele Lehrlinge und Jungarbeiter besondere Disziplinschwierigkeiten und vermögen sich in die Welt der Arbeit außerordentlich schwer einzugewöhnen. Im Grunde handelt es sich um den gleichen Fragenkomplex wie bei den Problemkindern in der Schule. Alle diese Erscheinungen, die mit Kriminalität und Rechtsbrüchen scheinbar noch nicht im Zusammenhange stehen, führt man vielfach auf die soziologischen Wandlungen unserer Gesellschaft zurück, die in ihrer Tiefenwirkung und ihren Ausmaßen noch kaum hinreichend erkannt sind. Dabei ist die Rechtsverletzung, der Rechtsbruch ein außerordentlich komplexes Problem, das nur aus einer mehrdimensionalen Betrachtung heraus, aus psychologischer, soziologischer und juristischer Sicht erhellt werden kann. Hier versucht nun der Jugendschutz, möglichst frühzeitig die Ursachen von Fehlentwicklungen zu erkennen und Hilfen vorbeugender Art zu propa-
Jugendschutz gieren und anzubieten. Wenn beispielsweise das Problem der Bandenbildung Wissenschaftler aller Disziplinen beschäftigt, so kommt es darauf an, zunächst die Ursachen dieses Phänomens zu erforschen, zum anderen aber dann die mitschuldige Umwelt der jungen Menschen so zu gestalten, daß die Ursachen für Rechtsbruch, für Abgleiten, Verwahrlosung und spätere Asozialität möglichst beseitigt werden. 2. Begriff des
Jugendschutzes
Dabei soll zunächst der Begriff des Jugendschutzes erörtert werden. Man faßt vielfach den Jugendschutz — im rein negativen Sinne — als ein Bewahren, Behüten, Abschirmen und Sichern der jungen Generation auf. Schilling hält in seiner Schröt „Literarischer Jugendschutz" den Jugendschutz für diejenige öffentliche Jugendhilfe, die erforderlich ist zur Sicherung vor entwicklungsschädlichen Einflüssen oder Eingriffen oder zur Abwehr von besonderen Gefahren, die geeignet sind, die Erreichung des sozialen Erziehungszieles und die Entwicklung der Jugendlichen zu körperlicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit zu hemmen oder zu gefährden, und denen der Jugendliche oder seine Familie ohne öffentliche Hilfe nicht gewachsen sind. Dieser Begriff des Jugendschutzes ist zweifellos zu eng. Immer deutlicher hat man in der letzten Zeit die Notwendigkeit eines „positiven" Jugendschutzes gesehen. Dabei ist es interessant, festzustellen, daß die Jugend selbst sich gegen den Begriff des „Jugendschutzes" wehrt, weil sie darin offenbar eine Bevormundung sieht und sich in die Rolle des passiv Geschützten versetzt meint. Auch aus den Kreisen der öffentlichen Meinungsbildner hört man wiederholt abfällige und abwertende Meinungen gegen den Jugendschutz. Demgegenüber sei darauf hingewiesen, daß der Schutzbegriff jedem Staatswesen immanent ist. Man kann geradezu den ethischen Wert eines Staates daran ermessen, ob er den Schutz seiner schwächeren Glieder in der rechten Weise zu garantieren vermag. Man kennt einen Polizeischutz, einen Mütterschutz oder einen Mieterschutz. Die Schutzgesetzgebung, die im vorigen Jahrhundert einsetzte, war darauf bedacht, den wirtschaftlich schwächeren Arbeitnehmer vor den Auswirkungen eines liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystems zu schützen, und die Kreise der Jugendverbände selbst sind es gewesen, die ständig nach einem verstärkten Arbeitsschutz für die Jugend riefen. Wenn trotzdem der Begriff „Jugendschutz" umstritten ist, dann wohl deshalb, weil in der neuesten Zeit der Schutz sich nicht nur auf die äußeren Dinge des Lebens, auf die wirtschaftliche Sicherung, auf den Schutz der Gesundheit und der biologischen Kräfte, erstreckte, sondern den seelischen Raum mit zu erfassen suchte. Jugend-
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schutz bedeutet nicht nur die Garantie für das gesunde äußere Hineinwachsen in die Gesellschaft, sondern umfaßt auch die Sorge für die geistigseelische Entwicklung der Jugend. Man läßt sich aber wohl eine Pockenschutzimpfung gefallen, wehrt sich aber noch gegen entsprechende Maßnahmen, die einer Infizierung der Seele vorbeugen sollen. Schutz bedeutet in erster Linie die Weckung der eigenen Kräfte der Jugend. Er verlangt daher mehr als bewahrende Gesetze und ist darauf gerichtet, eine gewisse Härte und Widerstandsfähigkeit zu schaffen. In diesem Sinne hat Jugendschutz die Bedeutung einer Erziehungshilfe: Dem Jugendlichen soll der Weg gewiesen werden, von innen heraus, aus eigener Kraft und mit eigenem Urteil seinen Weg im Gewirr der sozialen Einwirkungen zu finden. Dieser positive Jugendschutz befaßt sich also mit den Umweltverhältnissen, von der frühesten Kindheit bis zum Eintritt des Jugendlichen in die Arbeitswelt, mit der Statuseinbuße der Eltern und Erzieher, mit der Lockerung der Familienstruktur, mit der Unsicherheit der Erwachsenen im Blick auf ihre Erziehungsfähigkeit und geistige Orientierung. Jugendschutz umfaßt außerdem alle die Maßnahmen, die von außen her, sei es durch gesetzliche Grenzziehungen oder durch persönlichen Beistand, dem Jugendlichen Hilfe geben können, damit er gewissen anti-erzieherischen Einwirkungen seiner Umwelt nicht wehrlos ausgeliefert ist. In diesem Sinne hat also Jugendschutz eine aktive und eine passive Seite, eine bewahrende und helfende, aber auch eine fördernde und erzieherische Funktion. Jugendschutz muß also stets von diesen beiden Aspekten gesehen werden; er steht damit in einer engen Verbindung zur Pädagogik, auch zur Erwachsenenbildung, indem er immer aufs neue die Eltern, Erzieher und Erwachsenen aufruft, alles zu unterlassen, was der Jugend schädlich, und alles zu fördern, was der Jugend nützlich ist, — ein Anliegen, das in den zahlreichen Jugendschutzwochen und Elternveranstaltungen immer aufs neue deutlich wird. Jugendschutz in diesem positiven und erzieherischen Sinne ist jedoch nur dann erfolgversprechend, wenn gesetzliche Maßnahmen unterstützend hinzukommen und gewissermaßen die Grenzen abstecken, innerhalb deren erzieherisches Wirken erst möglich wird. So sind gesetzlicher und erzieherischer Jugendschutz, negative und positive Maßnahmen, Förderung, Bewahrung, Hilfe und Erziehung untrennbar miteinander verwoben. 3. Situation
des Jugendlichen
und des
Kindes
Zur Situation des Jugendlichen und des Kindes in der Gesellschaft sei ein Blick auf Familie, Schule, Sozialbeziehungen, Arbeitswelt und Freizeitraum geworfen.
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Jugendschutz
Als im Jahre 1902 in deutscher Sprache das Buch von Ellen Key „Das Jahrhundert des Kindes" erschien, hatte es die größte Wirkung auf die pädagogische Welt. Man meinte damals, daß ein neues Jahrhundert den Bedürfnissen und Erfordernissen des in die Gesellschaft hineinwachsenden Menschen in besonderer Weise aufgeschlossen sein werde. Dieser Gedanke ging aber in der allein durch zwei Weltkriege gekennzeichneten Welt verloren. In Wirklichkeit ist das Jahrhundert außerordentlich jugendfeindlich geworden, wenn es auch scheint, daß in neuerer Zeit der Gedanke der Verantwortung der Gesellschaft im Wachsen begriffen ist. Dafür spricht, daß Grundgedanken des Jugendschutzes sich durchgesetzt haben und von allen Verantwortlichen mit den Lippen bekannt werden, wenn auch oft das eigene Ich des Erwachsenen sich in einer tieferen Schicht dagegen wehrt, weil eine gewisse Vorbildhaftigkeit des Verhaltens von ihm verlangt wird. So beobachtet man die merkwürdige Unsicherheit in der Gesellschaft, die beispielsweise dadurch gekennzeichnet ist, daß man nach strengeren Jugendschutzgesetzen ruft, auf der anderen Seite aber häufig nicht bereit ist, sie entsprechend durchzuführen. Man empört sich auch über gewisse Auswirkungen der Jugendkriminalität, ist aber nicht immer geneigt, den Ursachen nachzugehen und die Quellen zu verstopfen. Man wirft unserer Gesellschaft, die wie keine zweite der Kritik ausgesetzt ist, immer wieder vor, daß sie eine doppelte oder dreifache Moral verkünde, daß die Erwachsenen unsicher und unverbindlich seien, auf jeden erzieherischen Einfluß verzichteten und jedenfalls den richtigen Weg zwischen Wachsenlassen und Führen der jungen Generation noch nicht gefunden hätten. a) Jugendschutz ist in erster Linie eine Aufgabe u n d V e r p f l i c h t u n g der E l t e r n u n d der Familie. Man hat deutlich die Bedeutung von Ehe und Familie für die leibseelische Entwicklung eines Kindes, auch für seine Fehlentwicklung und sein kriminelles Abgleiten erkannt (-> Ehe und Familie). Jeder junge Mensch soll, gewissermaßen mit einer Schutzhülle umgeben, aufwachsen wie das Kind im Mutterleibe, das von allen Seiten umhegt und geschützt ist. Der junge Mensch soll, wie das Kleinstkind an der Brust der Mutter, das Kleinkind an der Hand von Vater und Mutter, das Schulkind in der Schulgemeinschaft und der Lehrling an der Hand eines verständigen Lehrmeisters, im Schutze der Gesellschaft heranwachsen. Portmann (Basel) hat ontogenetisch die Notwendigkeit dieser Schutzhülle beim Menschenkinde nachgewiesen, das bereits in den ersten Monaten zu sozialen Kontakten kommt. Was Portmann anthropologisch begründet, hat Pestalozzi als Pädagoge getan, wenn er die „Wohnstubenkraft" der Familie für den sichersten Hort eines Kindes erklärte.
Aus der gestörten Mutter-Kind-Beziehung erwachsen oft die Fehlentwicklungen bis zur Pseudodebilität und bis zur Jugendkriminalität, bis zu den Anpassungsstörungen der späteren Jahre. Über der Mutter-Kind-Beziehung darf man aber die Rolle des Vaters nicht vergessen, die nicht erst im zweiten oder dritten Lebensjahre des Kindes beginnt. Im Anfang eines Menschenkindes steht nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater, d. h. die Ehe der Eltern. Schicksal des Kindes ist die mehr oder minder geglückte Ehe der Eltern. Hier liegt auch das Fundament jeglicher Erziehung und des Jugendschutzes. Der schicksalhaften Bedeutung der Elteraehe für das soziale Eingewöhnen des Kindes kommt die entscheidende Bedeutung zu. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Auf die Zerfallserscheinungen in der Familienstruktur, auf den soziologischen Wandel und die Funktionsverluste der Familie ist wiederholt hingewiesen worden. Die Klein-Familie hat den Intimraum, den letzten in dieser Gesellschaft, erhalten, birgt aber auch erhebliche Gefahren, weil alle Erschütterungen dieser Kleinfamilie sich viel stärker auf das Kind auswirken, als wenn es in einer Groß-Familie aufwüchse. Soziologisch bedeutsam ist die eklatante Tatsache der mitverdienenden Frau und Mutter in einem immer weiteren Umfange. Wenn auch dieses Phänomen sozialpolitisch kaum eliminiert werden kann, muß man doch die generelle Überforderung der Frau und die Nachteile für das Kind sehen, Erscheinungen, die bisher nur unvollkommen aufgefangen werden können. Aber auch der Vater löst sich wie die erwerbstätige Mutter geistig vielfach aus der Familie und aus seiner Alleinverantwortung. Auch der Gedanke der Gleichberechtigung der Geschlechter hat wohl dazu beigetragen, daß er nicht mehr die totale Last der Erziehung zu tragen bereit ist. Diese Ursachen führen dazu, daß wir heute viel mehr Erziehungswaisen als echte Waisen oder Halbwaisen haben. Es ist das Kind ohne Familie und innere Heimat, das der Gesellschaft zunehmende Schwierigkeiten bereitet. b) Der Schule soll an Funktionen zuwachsen, was die Familie verloren hat. Aber die Schule ist vielfach überfordert, wenn sie eine Vielzahl von „Problemkindern" erziehen soll. Immer deutlicher erkennt aber zum mindesten die Volksschule von heute ihren erzieherischen Auftrag und das sozialpädagogische Anliegen. Die Schule richtet Schulkindergärten ein, hat Beratungslehrer und Psychologen in ihren Dienst genommen, sucht mit den Eltern zur Besprechung des Einzelfalles zu kommen, versucht wenigstens hier und da auch eine Sexualerziehung zu betreiben und denkt vielfach in den Entlassklassen an lebenskundIiche Gespräche, damit der Übergang der Jungen
Jugendschutz und Mädchen zur Arbeitswelt erleichtert wird. Aber die Schwierigkeiten bei immer noch überfüllten Klassen und vielfach ungeeigneten Gebäuden und Räumlichkeiten, sowie auch bei einer noch nicht bis ins letzte durchgearbeiteten sozialpädagogischen Vorbildung der Lehrer sind unverkennbar. Wie die Schutzhülle des Kindes in Familie und Schule bisweilen fadenscheinig geworden ist, bieten auch die S o z i a l b e z i e h u n g e n , namentlich in der Großstadt, nicht mehr den nötigen Halt und die Stütze für ein Kind oder einen Jugendlichen. Die Nachbarschaft hat keine tragende Bedeutung mehr, und das Meister-Lehrlings-Verhältnis ist vielfach dem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis gewichen. Isolierungstendenzen machen sich in stärkstem Maße bemerkbar, und in seiner absoluten Privatheit kümmert der Durchschnittsmensch sich nicht um das Kind des Nachbarn. c) In der A r b e i t s w e l t wird der Jugendliche meist als Erwachsener gewertet und findet nicht mehr den jugendgemäßen Raum, in dem er gedeihlich aufwachsen kann. Gerade hier ist der Jugendschutz bemüht, über die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes hinaus die Verantwortung der Erwachsenen zu wecken und die Arbeitswelt in ihrer Atmosphäre so zu gestalten, daß junge Pflanzen darin keinen Schaden leiden. d) Der F r e i z e i t r a u m , der eine immer weiter ausgedehnte Bedeutung erlangt hat, ist gleichfalls zu einem weiten Erziehungsfeld geworden. Anonyme funktionale Erziehungsmächte haben vielfach die personalbestimmten Erziehungskräfte wie Schule und Elternhaus, Kirche und Jugendverband abgelöst. Tonband, Kamera, Schallplatte, Illustrierte, Film und Fernsehen machen ihre ständigen Angebote, und der junge Mensch unterliegt diesen Einwirkungen von außen — auf Straßen, Wegen und bei jeder Beschäftigung in der freien Zeit — in einem bisher unbekannten Ausmaße. David Riesman hat in seinem Buch „Die einsame Masse" gefordert, daß die junge Generation zu „künftigen Konsumenten" erzogen werden müßte. Auch die moderne Industrie hat längst erkannt,daß die Absatzbemühungen um das Verbraucher-Publikum von morgen, das eigentlich schon zu den Konsumenten von heute gehört, zu verstärken sind. Deshalb spürt man allerorts, daß das „Geschäft mit der Jugend" aktiviert wird. Mit Befriedigung stellt die Wirtschaft fest, daß die sieben Millionen deutscher Teenager täglich etwa 42 Millionen DM ausgeben. Das würde einem Jahresumsatz von etwa 15 Milliarden DM entsprechen. Mit anderen Worten: Die Teenager der Bundesrepublik würden etwa für sich und ihre persönlichen Bedürfnisse ebensoviel ausgeben, wie das gesamte Volk der Bundesrepublik für Bekleidung oder für Alkohol und Tabak verbraucht.
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So erkennt man den Jugendlichen als einen ganz beachtlichen Wirtschaftsfaktor an, um den sich die Werbung bemühen muß. Zu den Zahlen muß man allerdings feststellen, daß nicht etwa ein typischer Teenager-Konsum gemeint sein kann. Schon bisher haben diese Jahrgänge nicht von der Luft gelebt und sind meist von ihren Eltern ernährt und gekleidet worden. Es zeigt sich aber heute, daß junge Menschen über bedeutend mehr eigene Mittel, über umfangreicheres Taschengeld, über eine beachtliche Lehrlingsvergütung, über einen beträchtlichen Jungarbeiterlohn verfügen, so daß es dieser Käuferschicht möglich ist, ganz bestimmte Waren und Artikel zu kaufen, für die sie sich besonders interessiert. Man spricht von einer typischen „Teenagerkultur" oder bald sogar von einer „Twen-Zivilisation". Das im Jahre 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch hat aus pädagogischen Erwägungen noch mit Recht die Minderjährigen bis zu 21 Jahren vor dem Nachteil mancher Rechtsgeschäfte bewahren wollen. Auch heute ist das Rechtsgeschäft, das ein Minderjähriger ohne Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters, d. h. heute ohne Einverständnis von Vater und Mutter, abschließt, schwebend unwirksam. Die gesetzlichen Vertreter könnten bei Verpflichtungsgeschäften ihre Schutzbefohlenen ohne weiteres vor Nachteilen bewahren. Das gilt aber nicht für die Mittel, die dem jungen Menschen als Taschengeld, Lehrlingsvergütung oder Arbeitslohn zur freien Verfügung überlassen sind. Zur Zeit der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches dachte man noch nicht daran, daß diese Mittel einen solchen Umfang annehmen würden, wie es heute der Fall ist. Immer aufs neue werden in der Jugend Kaufund Vergnügungswünsche geweckt, auf daß der neu erkannte Absatzmarkt blühe und gedeihe. Verbunden mit der Modediktatur, der die junge Generation oft unterliegt, sind andere bedenkliche Erscheinungen. So ist der „ältere Freund", der den weiblichen Teenager begleitet, zu einer traurigen Wirtschaftswunder-Erscheinung geworden. Viele junge Mädchen können die von der Industrie geweckten „Teenagerwünsche" nicht verwirklichen und suchen daher den „Freund mit den grauen Schläfen", der die dicke Brieftasche besitzt. Auf alle diese Erscheinungen hat man in den Kreisen des Jugendschutzes schon aufmerksam gemacht, und man hat sich gegen die weitere Propagierung der Teenagerkultur gewandt. Die im Bayerischen Jugendring zusammengefaßten Jugendverbände haben ζ. B. scharf gegen die kommerzielle Manipulierung jugendlicher Einkaufswünsche protestiert und nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das suggestive Leitbild des anspruchsvollen Teenagers, das unaufhörlich neue Wünsche zum Kauf vielfach überflüssiger Dinge
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Jugendschutz
weckt, für den unter der Jugend grassierenden materialistischen Geist mitverantwortlich gemacht werden müsse. Wenn der junge Mensch als potentieller Konsument umworben wird, müssen von verantwortlicher erzieherischer Seite alle Versuche gemacht werden, ihn gegenüber den mächtigen Einflüssen einer „unterschwelligen Werbung" widerstandsfähiger zu machen. Diesem Gedanken gelten die Anstrengungen, die in so vielfältiger Form, freilich meist mit bescheidenen Mitteln, von den im Jugendschutz tätigen Männern und Frauen gemacht werden. Soziologen weisen darauf hin, daß die moderne Wirtschaft längst keine Bedarfsdeckungswirtschaft, sondern eine BedarfswekkungsWirtschaft geworden ist und daß alle Forderungen, die dahin gehen, die Freizeitsphäre vom Einfluß der Werbung zu befreien und gewissermaßen zu pädagogisieren, fruchtlos zu bleiben drohen. Die Konsumgesellschaft von heute richtet an den einzelnen gewissermaßen einen wirtschaftsethischen Appell, dauernd zu konsumieren, weil eine „Konsum-Askese" zu Absatzkrisen, zu einer Minderung des Lebensstandards, möglicherweise zu einer allgemeinen Arbeitslosigkeit und zu einem Chaos führen könnte. Es ist aber nicht einzusehen, weshalb gerade die im Grunde genommen schwache Konsumentenschicht der Teenager zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftswunders berufen sein soll. Gerade bei Jugendlichen geht es um das Hineinwachsen in das Leben und in die Verantwortung; erzieherische Gesichtspunkte müssen aiso den Vorrang haben. Der erzieherische Imperativ sollte hier lauten: Gegen den Strom schwimmen und der Wirtschaftswerbung Widerstand leisten, damit die innere Freiheit erhalten bleibt! Man klagt immer über die „reine Verbraucherhaltung" der heranwachsenden Menschen im Freizeitraum, man beschwert sich über das Fehlen der schöpferischen Impulse. Gewiß ist es richtig, daß immer nur ein kleiner Hundertsatz aller Menschen schöpferisch tätig sein kann. Die meisten werden der ins Unterbewußte hineinwirkenden Werbung nachgeben und gegenüber den Forderungen der Mode und der allgemeinen Konsumentenhaltung keine Wahlmöglichkeit mehr haben. Es kommt darauf an, den jungen Menschen zu einem Konsumenten zu erziehen, der sinnvoll und richtig die Güter dieses Lebens gebraucht und in seiner freien Zeit wenigstens ab und zu bestrebt ist, nicht nur in der lässigen Haltung des Hinnehmenden etwas zu genießen, sondern selbst etwas aus sich und seiner Zeit zu machen. Vielleicht ist die Erziehung zum Konsumenten und zum Freizeitmenschen noch wichtiger als die Erziehung zum Produzenten. Letztlich geht es ja um die Erziehung zur sittlich fundierten Persönlichkeit. Wenn man also von wirtschaftlicher Seite den Kampf um den jugendlichen Käufer nach kom-
merziellen Interessen führt, um ein neues Verbraucherpublikum in der Freizeit zu gewinnen, so sollte jedenfalls immer eine pädagogische Gegenwehr wirksam bleiben. Was nützt uns die freiheitlich-demokratische Lebensordnung, wenn die Menschen schon in jungen Jahren geistig und seelisch versklaven? Nicht zu „Konsum-Askese" soll, erzogen werden, sondern dazu, daß in der Konsumentengesellschaft von morgen auch etwas von Eigenständigkeit und von Freiheit des Handelns und Wählens erhalten bleibe. Bei allem Verständnis für moderne Produktions- und Konsumstruktur sollte man also das Geschäft mit der Jugend nicht in dem Sinne betreiben, wie es in Packards Buch über die „geheimen Verführer" dargestellt ist. Der wirtschaftsethische Anruf sollte dahin gehen, die Jugend nach Möglichkeit noch aus dem üblichen Geschäftsbetrieb herauszulassen. Mit allen diesen Zeiterscheinungen hat es der Jugendschutz zu tun; er versucht, durch gesetzgeberische und erzieherische Maßnahmen, durch Weckung der allgemeinen Verantwortung dazu beizutragen, daß Gefährdungen der Jugend nach Möglichkeit erkannt und vermieden werden. Auf diese Weise geht der Jugendschutz auch allen kriminogenen Einflüssen nach. 4. Strafrechtlicher
Jugendschutz
Man denkt meist nicht daran, daß das praktisch bedeutsamste Jugendschutzgesetz das Strafgesetzbuch ist, dessen Bestimmungen vielfach den Schutz der Minderjährigen, der Kinder, ja selbst der Ungeborenen zum Ziele haben. Mit dem Verbot der Abtreibung, das durch eine Strafsanktion gesichert ist, beginnt bereits der Jugendschutz, und selbst der im Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches enthaltene Tatbestand der strafbaren artifiziellen Insemination bezweckt indirekt auch einen Schutz der Jugend, weil der Gesetzgeber offensichtlich an die aus einer solchen Verbindung hervorgehenden vaterlosen Kinder gedacht hat. In erster Linie versuchen die strafrechtlichen Bestimmungen einem groben erzieherischen Versagen der Eltern entgegenzuwirken, wobei allerdings nicht verkannt werden darf, daß hier die Grenzen des Strafgesetzes deutlich werden. Mit Mitteln des Strafrechts kann man nun einmal nicht die Zahl der „Schlüsselkinder" einschränken. Wenn seit dem Jahre 1954 durch die Ausweitung der Industrie das Heer der berufstätigen Mütter und Frauen ständig gestiegen ist, so daß eine besondere Erziehungsnot vieler Kinder immer deutlicher zutage tritt, ist das ein Tatbestand, der selbstverständlich nicht mit den Aspekten des Strafgesetzgebers betrachtet werden kann, sondern nach sozialpolitischen Überlegungen ruft. Es hat sich übrigens gezeigt, daß nicht unbedingt die „Schlüsselkinder" kriminell anfälliger sind als die Kinder aus geordneten Familien, wenn jene
Jugendschutz auch vielleicht leichter zu Diebstählen neigen mögen, — ebenso wie sich herausgestellt hat, daß die Tatsache der unehelichen Geburt allein noch nicht eine Voraussetzung für Verwahrlosungserscheinungen und kriminelles Abgleiten zu sein braucht. Nicht die Tatsache der Geburt, ob ehelich oder unehelich, ist hier entscheidend, sondern die näher zu untersuchende Nestsituation. Immer kommt es darauf an, wie die Mutter mit ihrem eigenen Schicksal fertig wird und das Leben ihres Kindes zu lenken in der Lage ist. Es gibt aber eine ganze Reihe von Verstößen im Erziehungsraum, die das Verhalten von Eltern und Erziehern als sozialethisch so bedenklich erscheinen lassen, daß hier Strafsanktionen nötig werden. In USA, wo man eine verstärkte Kinder- und Jugendkriminalität feststellt, hat man Überlegungen darüber angestellt, ob man erziehungsunwiUige Eltern bestrafen oder gar öffentlich brandmarken sollte. Gestattet sei auch ein Hinweis auf die SBZ, wo man im Anschluß an jede Jugendgerichtsverhandlung die Frage prüft, ob eine Verletzung der Aufsichtspflicht der Eltern oder ein sonstiges Verschulden der Gesellschaft festzustellen ist. Jedenfalls gehört grobes Versagen des Elternhauses in Fragen der Erziehung zu den kausalen Faktoren für Kriminalität. Deshalb haben die Strafbestimmungen, die eine Vernachlässigung der Erziehungs- und Aufsichtspflicht, insbesondere das Verleiten von Kindern zu strafbaren Handlungen verhindern sollen, jugendschützenden Charakter. Da man schlechthin die hohe Pflicht der Eltern und Erzieher zu pädagogisch richtigem Verhalten strafrechtlich nicht sichern kann, können nur besonders grobe Auswüchse nach allgemeinen sozialethischen Auffassungen so mißbilligt werden, daß Straffolgen eintreten. In diesem Sinne enthält § 170 d StGB den Tatbestand der Gefährdung des körperlichen und sittlichen Kindeswohles durch gewissenlose und gröbliche V e r n a c h l ä s s i g u n g der F ü r s o r g e u n d E r z i e h u n g s p f l i c h t e n . Nach herrschender Rechtsprechung bestehen gegen die Weitergeltung des Tatbestandes auch nach 1945 keine Bedenken. Namentlich der Tatbestand, daß Kinder ohne ausreichende Nahrung oder Wartung gelassen werden, fällt unter die Strafandrohung. Unter Kinder versteht man die Minderjährigen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres, wobei man überlegen sollte, ob eine Heraufsetzung der Altersgrenze im kommenden Strafrecht geboten ist. In der Praxis kommen die Fälle am häufigsten vor, daß gewissenlose Mütter ihre Säuglinge oder Kleinkinder allein ohne Wartung zu Hause lassen, um ihrer Vergnügungssucht oder dem Hang zum bequemen Leben nachgehen zu können. Eine umfassende Judikatur befaßt sich mit der Gefährdung des „sittlichen" Kindeswohles; hier kommt es darauf an, ob die gesunde Gesamtent-
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wicklung eines Kindes zu körperlicher, geistiger, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit, die im § 1 JWG als Erziehungsziel hingestellt wird, gefährdet worden ist. Hierher gehören die Fälle wie die Aufforderung an ein Kind zum Stehlen; ferner Verhalten von Eltern, die ohne Rücksicht auf die Wahrnehmung ihres Kindes mit einem anderen Geschlechtspartner das Bett wochenlang teilen; Ausübung gewerblicher Unzucht in Gegenwart von Kindern; Unterhaltung eines intimen Verhältnisses mit Dritten durch ein in der gleichen Wohnung, jedoch getrennt lebendes Ehepaar vor den Augen von Kindern. Verlangt wird also von den Eltern und Erziehern, daß sie aus ihrer pädagogischen Verantwortung heraus ein gewisses Mindestmaß an sittlicher Grundhaltung beachten. So haben Eltern minderjähriger Kinder auch die Verpflichtung, deren unzüchtiges Verhalten zu verhindern, mit der möglichen Straffolge aus § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB. In diesem Zusammenhang ist auf die Entscheidung des Großen Senats des BGH vom 17. 2.1954 hinzuweisen, der den Eltern die Rechtspflicht auferlegt, selbst den geschlechtlichen Verkehr Verlobter Kinder in ihrem Hause zu verhindern, sofern ihnen das nach den Umständen zugemutet werden kann. Die Schwierigkeit einer strafrechtlichen Sicherung der Erziehungspflichten liegt darin, daß über das sittlich Gebotene vielfach divergierende Auffassungen bestehen, so daß der Gesetzgeber nur ein Mindestmaß von erzieherischem Verhalten unter Strafschutz stellen kann, wenn es in der allgemeinen Anschauung für unerläßlich gehalten wird. Hierher gehört weiterhin die V e r n a c h l ä s s i g u n g der A u f s i c h t s p f l i c h t (§ 143 StGB), derzufolge die ungenügende Beaufsichtigung eines noch nicht 18jährigen Minderjährigen dann zur Bestrafung führt, wenn dieser infolge Nachlässigkeit eine als Verbrechen oder Vergehen mit Strafe bedrohte Handlung begeht. Man sieht die Schuld der Eltern dann allein in der Verletzung der Aufsichtspflicht, nicht aber in der Voraussehbarkeit der von dem Jugendlichen begangenen Straftat. Trotz mancher dogmatischer Bedenken wird man eine solche gesetzliche Bestimmung — ähnlich wie Vorschriften des § 361 Ziff. 9 und 4 (Anleiten oder Ausschicken von Kindern zum Betteln, mangelnde Beaufsichtigung) — grundsätzlich im neuen Strafrecht aufrechterhalten müssen. Bei vielen Jugendgerichtsverhandlungen hat sich herausgestellt, daß Eltern ihre Erziehungs- und Lenkungspflichten so leichtsinnig außer Acht gelassen haben, daß schwerstes Unheil entstehen konnte. Zum strafrechtlichen Jugendschutz gehören aber auch die Schädigungen von Kindern und
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Jugendschutz
Jugendlichen in der häuslichen Situation durch mangelnde Unterhaltszahlungen und durch grobe wirtschaftliche Vernachlässigung. In der strafrechtlichen Praxis haben die U n t e r h a l t s p f l i c h t v e r l e t z u n g e n (§ 170b StGB) eine steigende Bedeutung erlangt. Wer darum weiß, in welchem Maße Jugendverwahrlosung, Jugendkriminalität und Jugendnot auf die Nichterfüllung von Unterhaltspflichten zurückzuführen sind, wird auch für eine Beibehaltung der Strafbestimmung und für eine straffere Formulierung, wie sie § 200 des Entwurfs von 1962 vorsieht, eintreten müssen. Hier muß der Staat alle Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, daß gesunde und arbeitsfähige Väter, mögen sie eheliche oder uneheliche Kinder haben, wenigstens ihre Unterhaltsleistungen erbringen. Gerade bei diesen Pflichtverletzungen zeigt sich, daß oft eheliche Kinder schlechter gestellt sind als nichteheliche, weil verlassene Ehefrauen sich scheuen, gegen die Ehemänner Unterhaltsklage zu erheben, aus der Befürchtung heraus, daß gerichtliches Vorgehen die Entfremdung noch vertiefen könnte. Sicherlich hat hier auch die konsequente Durchführung des Gleichberechtigungsgrundsatzes gewisse Nachteile für die unterhaltsberechtigten Kinder gebracht und das Pflichtbewußtsein der Männer den Kindern gegenüber nicht immer erhöht, wenn beispielsweise geschiedene Väter für sich in Anspruch nehmen, daß sie gegenüber ihren Rindern keine weiteren finanziellen Verpflichtungen hätten als die Mutter. In der Praxis versucht man die Verletzung der familiären Treupflicht oder die Nichtbeachtung der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht so zu bestrafen, daß den Kindern in Zukunft der Unterhalt gesichert wird. Das bedeutet, daß die Jugendämter derartige Strafanzeigen nur als letztes Mittel gegen säumige Unterhaltsschuldner verwenden, und daß die Gerichte meist eine Strafe zur Bewährung aussetzen mit der Auflage, daß der Unterhaltsschuldner nunmehr seinen Verpflichtungen nachkommt. Erwägen sollte man im kommenden Recht die Möglichkeit einer Strafverschärfung in den Fällen, in denen der Täter leichtfertig seine Familie verläßt, so daß nicht nur wirtschaftliche, sondern auch seelische Schädigungen der zurückgelassenen Kinder zu besorgen sind. Das geltende Recht kennt im § 170 a StGB auch den Tatbestand des B e i s e i t e s c h a f f e n s von F a m i l i e n h a b e : Ein Ehegatte, der die materielle Grundlage des Familienlebens, Wohnung oder Hausrat böswillig oder aus grobem Eigennutz veräußert, zerstört oder beiseiteschafft und dadurch den anderen Ehegatten oder ein unterhaltsberechtigtes Kind schädigt, wird auf Antrag bestraft. Eine solche Strafbestimmung, die in der Praxis nur selten Anwendung findet, kann, wenn sie in das allgemeine Bewußtsein eingeht, die
Verantwortung von Vätern und Müttern stärken. Eine andere Frage ist, ob sie geeignet ist, in heutiger Zeit dem Zusammenhalt und Zusammenleben der Familie dienlich zu sein und den Jugendschutz wesentlich zu fördern. In diesen Zusammenhang gehört auch die Bestimmung über die V e r l e t z u n g der F ü r s o r g e p f l i c h t g e g e n ü b e r S c h w a n g e r e n , sowohl Ehefrauen als auch unehelich Geschwängerten: Nach §170c StGB wird derjenige bestraft, der einer von ihm Geschwängerten gewissenlos die Hilfe versagt, derer sie während der Schwangerschaft oder Niederkunft bedarf, wenn dadurch Mutter oder Kind gefährdet werden. Der Gesetzgeber wollte damit vorbeugend die Grundlagen von Kindestötung und Abtreibung aus der Welt schaffen. Auch im kommenden Strafgesetzbuch wird man durch eine ähnliche Bestimmung der Verantwortungslosigkeit mancher Männer entgegenwirken müssen, die die ihnen zumutbaren menschlichen Pflichten zum Schaden von Frau und Kindern verletzen. Auch in den speziellen Gesetzen zum Schutze der Jugend, namentlich im Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit in der Fassung vom 27. 7.1967 und im Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in der Fassung vom 21. 3.1961 sowie im Jugendarbeitsschutzgesetz vom 9. 8.1960, finden sich Straftatbestände, die ein Mindestmaß schützenden oder erzieherischen Verhaltens von Eltern, Erziehungsberechtigten, Gewerbetreibenden und Arbeitgebern sichern sollen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß im JÖSchG erster Fassung vom 4.12.1951 eine Strafvorschrift auch gegen Eltern zu finden war, wenn diese ein Kind oder einen Jugendlichen einer Gefährdung aussetzten. Bei späteren Gesetzesberatungen hat man eingehend die Frage geprüft, ob das Erziehungsrecht nicht eine zu hohe, sittlich fundierte Aufgabe sei, als daß es durch strafrechtliche Bestimmungen gesichert werden könnte. So finden sich in der neuen Gesetzesfassung keine Strafvorschriften gegen Eltern mehr. Diese begehen nur eine Ordnungswidrigkeit, wenn sie das vom Gesetz verbotene Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen vorsätzlich herbeiführen oder fördern. Auch nach § 21 Abs. 2 GjS ist eine Bestrafung der Erziehungsberechtigten nicht vorgesehen, wenn sie einem Kinde eine jugendgefährdende Schrift zugänglich machen. Die Schwierigkeiten über die Vereinbarkeit eines Strafbestandes mit dem in Art. 6 Abs. 2 GG garantierten Erziehungsrecht der Eltern ergibt sich aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 3.1958, der sich mit der Aushändigung von Nacktkulturschriften an Kinder und Jugendliche befaßte. Hier werden grundsätzliche Schwierigkeiten deutlich, wenn man an einen strafrechtlich zu
Jugendschutz sichernden Schutz des Kindes gegenüber den Eltern denkt. Nur bestimmte Handlungen und Unterlassungen, die tatbestandsmäßig genau erfaßbar sind, ζ. B. auch Verstöße gegen die Schulpflicht, können beispielhaft zum Ausdruck bringen, daß nach allgemeiner Überzeugung der Rechtsgemeinschaft von Eltern und Erziehern ein hohes Maß von verantwortlicher Gesinnung erwartet wird, ohne daß immer die Verstöße strafrechtlich geahndet werden können. Umgekehrt enthält das Strafgesetzbuch auch eine Sicherung des Elternrechts gegen Beeinträchtigungen. Hier ist an Straftatbestände wie Kindesraub, Muntbruch (Entziehung und Entführung Minderjähriger) und unberechtigte Lösung des Erziehungsverhältnisses (Befreiung aus Anstalten oder Heimen) zu denken. Man hat darüber hinaus bisweilen sogar gefordert, daß die Entfernung Minderjähriger aus der elterlichen Erziehungsgewalt als allgemeiner Strafbestand verankert werde. Man hat dabei an Fälle gedacht, in denen zweifelhafte Personen oder auch Organisationen Kinder oder Jugendliche ihren Eltern „abspenstig" machen und dadurch das elterliche Erziehungsrecht in gefährlicher Weise stören, ohne daß ein anderer Strafbestand, etwa Verleitung zur Unzucht, festgestellt werden kann. Derartige Sachverhalte werden aber strafrechtlich niemals zu erfassen sein, ebenso wenig wie die Tatbestände der Untergrabung einer Ehe durch einen Ehestörer. Hier wird deutlich, daß das Strafrecht vielfach in seinen Möglichkeiten überschätzt und überfordert wird. Daß darüber hinaus eine ganze Reihe von Jugendschutzbestimmungen massiverer Art im Strafgesetzbuch zu finden sind, sei nur summarisch hervorgehoben. Gedacht ist beispielsweise an den Tatbestand der Kindesmißhandlung, der aus den Vorschriften über Körperverletzung besonders hervorgehoben ist. Strafrechtlicher Jugendschutz hat nicht nur ausschließlich die Bestimmungen strafrechtlicher Art zum Gegenstand, die speziell dem Schutz der Jugend dienen. Man muß auch diejenigen Bestimmungen einbeziehen, die an sich allgemeinen Charakter haben, die aber in einem Teilgebiet ausgesprochen jugendschiitzenden Charakter erkennen lassen. Zu erwähnen ist hier das Sondergebiet der körperlichen Züchtigung, das eingehende strafrechtliche Überlegungen notwendig macht. Hier mag der Hinweis darauf genügen, daß auch im neuen Jugendarbeitsschutzgesetz ein absolutes Züchtigungsverbot für Arbeitgeber ausgesprochen ist und daß dem Arbeitgeber auch die Verpflichtung auferlegt ist, Jugendliche vor Mißhandlungen durch andere Arbeitrehmer oder durch Hausgenossen zu schützen. Die Sittlichkeitsdelikte sind keine spezifisch jugendschützenden Strafvorschriften (-* Sexualdelikte). Bei Notzucht, Nötigung zur Unzucht, Schändung und Entführung zur Unzucht kommt
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es auf das Alter des Opfers nicht an, wenn auch gerade Jugendliche und Heranwachsende oft Opfer dieser Verbrechen werden. Hervorzuheben sind aber die Tatbestände der Unzucht mit oder vor Kindern und Schutzbefohlenen im Sinne der §§ 176, Abs. 1 Nr. 3 und 174 Nr. 1 StGB. Unzucht und unzüchtige Handlungen sind solche, die das allgemeine Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung erheblich verletzen und in wollüstiger Absicht vorgenommen werden. Gerade dieser Bereich der Straftaten beschäftigt die Praxis in erheblichem Maße; immer wieder hat sich auch gezeigt, daß die Kinder durch solche Straftaten ein seelisches Trauma erlitten haben und an seinen Folgen noch jahrelang kranken. Der Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches will entsprechend den Erkenntnissen der Praxis die Tatbestände deutlicher fassen und nicht nur das Unzuchttreiben mit einem Kind, sondern auch das Bestimmen eines Kindes dazu, daß es an sich selbst oder mit einem anderen Unzucht treibt, unter Strafe stellen. Allerdings will der Entwurf die minder massiven Handlungen milder behandeln, ohne daß daran gedacht ist, daß manche Kindesverführer zunächst schwächere Handlungen begehen, ehe sie zu einem massiveren Verhalten überwechseln. Ein geeigneter Schutz der Kinder verlangt, daß alle derartigen Unzuchtshandlungen mit Strenge verfolgt werden, wie sich gezeigt hat, daß die Unzucht mit Kindern oftmals latente Neigungen zu noch schwereren Taten erkennen läßt. Auch die Unzucht mit Schutzbefohlenen, d. h. auch mit Adoptiv-, Stiefkindern und Mündeln oder mit den zur Erziehung anvertrauten Personen, soll von einem kommenden Strafgesetzbuch klarer gefaßt werden, wobei man den Begriff des Erziehers zweckentsprechend weit auslegen sollte. Auch Lehrherren und Ausbildungsleiter fallen unter diesen Personenkreis. Darüber hinaus will das kommende Recht einen besonderen Tatbestand der Unzucht vor Kindern und Schutzbefohlenen schaffen, wobei die bisherigen Straftatbestände der Kindesgefährdung nach § 170 d, der Erregung geschlechtlichen Ärgernisses (§ 183 StGB) und der Beleidigung (§ 185) nicht als ausreichend angesehen worden sind. Die Handlung des Täters muß geeignet sein, das Kind in geschlechtlicher Hinsicht zu gefährden; schon bei einem kleineren Kind kann durch derartige Handlungsweisen ein psychisches Trauma entstehen und den Grund zu späteren Verhaltensstörungen legen. In diesen Zusammenhang gehört der Tatbestand der Verführung eines noch nicht 16 Jahre alten Mädchens, wobei der Entwurf 1962 das Merkmal der „Unbescholtenheit" mit Recht streichen will. Auch der Straftatbestand der Unzucht unter Ausnutzung einer Dienstgewalt und
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in Anstalten bedeutet eine ergänzende Jugendschutzbestimmung. Im weiteren Sinne kann man auch alle Straftatbestände, die Kuppelei und gewerbliche Unzucht betreffen, als den Jugendschutz unterstützende Maßnahmen bezeichnen. Jugendliche sollen vor Exhibitionisten, vor einem lästigen Dirnentreiben und vor öffentlichem Ärgernis bewahrt bleiben; strafrechtliche und vorbeugende Maßnahmen der Polizei können hier, sich einander ergänzend, dazu beitragen, daß die öffentliche Atmosphäre auch in den Großstädten so gesäubert wird, daß man von einem gesunden Wachstumsklima sprechen kann. Eine besondere Jugendschutzvorschrift bildet das Verbot der Unzucht zwischen Männern (§ 175, 175 a StGB). Man erwägt für das kommende Strafgesetz einen Wegfall der Strafbarkeit des Grundtatbestandes, weil man vielfach der Meinung ist, daß hier ein schutzwürdiges Rechtsgut nicht verletzt werde, wenn sich das unzüchtige Verhalten ausschließlich unter erwachsenen Männern vollzieht. Ein solcher Wegfall der Strafbarkeit des Grundtatbestandes würde die heranwachsende Jugend außerordentlich gefährden. Der Gedanke des Jugendschutzes darf nicht nur vom Schutz des Einzelnen, sondern muß auch vom Schutz der Jugend in ihrer Gesamtheit gesehen werden. Wenn es Aufgabe aller Jugendschutzbemühungen ist, die Gesamtatmosphäre zu reinigen und für eine Säuberung der „Umwelt" zu sorgen, in der die personale Entwicklung eines jungen Menschen überhaupt erst möglich wird, dann muß man auch für die Beseitigung der Homosexualität im öffentlichen Leben und für die Beibehaltung des Grundtatbestandes eintreten. Homosexuelles Verhalten hat eine epidemische Wirkung, so daß die Triebentartung sich immer wieder auf die anfällige heranwachsende Jugend erstreckt. In diesem Sinne bedeutet Homosexualität eine soziale Gefahr; die Gefährdung der Jugend wird evident, sobald für homosexuelle Betätigung geworben werden darf und die Jugend sieht, daß dagegen nicht eingeschritten wird, es sei denn, daß ein Jugendlicher Opfer des Handelns ist. Man denke nur daran, daß bei Wegfall des Grundtatbestandes erwachsene Männer sich auf Straßer, in Bedürfnisanstalten und in Bahnhofshallen ansprechen dürfen, ohne daß die Polizei eingreift; daß unter Erwachsenen ein bestimmtes Schriftenmaterial verbreitet wird; daß Treffpunkte und Lokale von Homosexuellen in weiterem Umfange entstehen können als bisher I Im weiteren bedeuten die Bestimmungen über Werbung zur Fremdenlegion, über Mädchenhandel, über Auswüchse im Auswanderungswesen einen Schutz besonders gefährdeter männlicher und weiblicher Jugend; die entsprechenden strafgesetzlichen Bestimmungen laufen darauf hinaus, gerade diese latenten Gefährdungen zu bekämpfen.
Der Jugendschutz im Strafrecht kommt aber nicht nur in der Bestrafung oder in der vorbeugenden Bekämpfung der Straftaten zum Ausdruck, sondern offenbart sich am deutlichsten in der B e h a n d l u n g der K i n d e r u n d J u g e n d l i c h e n , die als Opfer u n d als Zeugen in B e t r a c h t kommen. Es gibt eine umfängliche Literatur über den Aussagewert der jugendlichen und kindlichen Zeugen. Mit aller Klarheit hat man erkannt, daß Kinder bereits durch die wiederholten Vernehmungen erheblich geschädigt werden können, so daß viele Eltern den Standpunkt vertreten, es sei für das Kind besser, von der Anzeige eines SittlichkeitsVerbrechens abzusehen, als ihr Kind den wiederholten, pädagogisch ungeeigneten Verhören und Vernehmungen auszusetzen. Zur Frage der Schädigung von Kindern durch polizeiliche und richterliche Vernehmungen ist die Auffassung vertreten worden, daß normalerweise durch einmalige Vernehmungen keiD seelischer Schaden eintrete. Oft empfinden die KindeT eine sachgemäße und vernünftige, möglichst unter psychologischer Assistenz durchgeführte Befragung als eine befreiende Aussprache, wenn sich diese Vernehmung von allen Vorwürfen freihält, wenn außerdem von einer Gegenüberstellung mit dem Täter und von einem Hinführen des Kindes zum Tatort abgesehen wird. Schädigungen treten aber dann ein, wenn Vernehmungen wiederholt werden, wenn etwa durch Rückverweisung einer Sache durch das Revisionsgericht Monate und Jahre später das vielleicht verdaute Erlebnis nochmals in aller Breite erörtert wird. Man sollte daher überlegen, ob man im Interesse des Jugendschutzes die Strafprozeßordnung ändern, ob man etwa in verstärktem Maße hier Tonbänder als Beweismittel zulassen soll. Man sollte auch davon absehen, Kinder einem Kreuzverhör zu unterziehen und sie den unpädagogischen Fragen manches Verteidigers auszusetzen. In der gerichtlichen Praxis hat man bereits vielfach besondere Warteräume für Kinder eingerichtet, damit sie nicht in der Wartezeit ungünstigen Einflüssen ausgesetzt werden. Nicht zu verkennen sind nach Sittlichkeitsdelikten auch die sogenannten sekundären Schädigungen, die sich als Angstzustände bei den Kindern äußern. Ursachen solcher sekundären Schädigungen sind Schläge von den Eltern, Drohungen und Vorwürfe, weil das Kind angeblich sich zu dumm benommen oder keinen Widerstand geleistet hat; Vorwürfe und Befragungen in Gegenwart von Verwandten, Androhungen von schlechter Behandlung durch das Gericht. Ein besonders krasses Beispiel bringt der Columbia-Film „Vertraue keinem Fremden!", der manche Eltern davon abhalten könnte, ein Sittlichkeitsverbrechen überhaupt zur Anzeige zu bringen uDd ein Kind der Tortur angelsächsischer Zeugenvernehmungen auszusetzen.
Jugendschutz Somit ergibt sich die Notwendigkeit eines Jugendschutzes nicht nur im S t r a f r e c h t , sondern auch im V e r f a h r e n . Gerade die Polizei hat eine vielfache präventive Tätigkeit an Minderjährigen auszuüben. Alles kommt darauf an, zu verhüten, daß ein junger Mensch als künftiger Krimineller die öffentliche Sicherheit gefährdet. Deshalb wird die Polizei ihr Augenmerk auf die Umwelteinflüsse richten, die kriminogene Bedeutung gewinnen können. In Gesprächen mit den Eltern und Erziehungsberechtigten wird sie auf eine erziehlich vernünftige Haltung der Erwachsenen hinwirken. In den Gesprächen mit Jungen und Mädchen, die als Zeugen oder Opfer eines Sittlichkeits- oder sonstigen Verbrechens vor ihnen stehen, werden die Sachbearbeiter der Polizei die positiven Kräfte ansprechen müssen. Sie können das nur, wenn sie den jungen Menschen in seiner gesamten familiären, beruflichen und sozialen Situation mit allen Problemen und Gefäbrdungserscheinungen sehen. Über die Gespräche mit den Eltern und Jugendlichen hinaus wird man aber auch die Massensuggestionsmittel und ihre Berichterstattimg über Straftaten und Prozesse im Auge behalten müssen. Daß die Massenmedien gewisse kausale Faktoren für kriminelle Erscheinungen bilden können, zeigte sich deutlich anläßlich der HalbstarkenKrawalle, die von der Presse geradezu „hochgespielt" wurden und andere Jugendliche zum Nacheifern veranlaßten. Interessanterweise hörten diese Massenerscheinungen, Krawalle und Skandale auf, sobald die Presse nicht mehr in sensationell aufgemachter Weise diese Erscheinungen mit Balkenüberschriften hervorhob. Leider sind gerade Massenzeitungen, Boulevardblätter und Illustrierte auf negative Kritik und Sensation eingestellt. Sie versuchen Nachrichten zu verkaufen, die beim heutigen Massenpublikum am besten „ankommen". Selten liest man in den Zeitungen den abgeklärten Sachbericht über eine Straftat, verbunden mit geeigneten pädagogischen Ratschlägen. Auch die Filme, die vielleicht aus ernstem Verantwortungsbewußtsein gedreht wurden — neben dem erwähnten Columbia-Film „Vertraue keinem Fremden!" sei an den Film „Es geschah am heilichten Tag" erinnert —, sind meist nicht geeignet, volkserziehend, aufklärend und damit im Sinne des Jugendschutzes zu wirken. Meist überwiegt auch hier die sensationellreißerische Tendenz, weil nun einmal pädagogische Zielsetzungen in verfilmtem Zustande keine großen Kassenerfolge bringen werden. Aufgabe aller der Kräfte, die um den Jugendschutz bemüht sind, namentlich der Polizeibehörden und der Gerichte, sollte es daher sein, auf eine maßvolle Berichterstattung hinzuwirken, ζ. B. das Fotografieren in Gerichtssälen zu verhindern und den Hör- und Sehfunk nur dann zuzulassen, wenn öffentliche
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Interessen diese weltweite Beteiligung der Öffentlichkeit dringend verlangen. Sensationslüsternheit, große Aufmachung und einseitige Massenbeeinflussung haben auf Kinder und Jugendliche eine ungünstige Wirkung. Der Nachahmungstrieb wird angeregt, Vorstellungen unrealistischer Art werden verfestigt, so daß dem Verbrechen der Weg bereitet wird. 5. Vorbeugende Arbeit auf dem Gebiete der Bekämpfung der Jugendkriminalität Jugendschutz auf strafrechtlichem Gebiet erschöpft sich nicht in der Bekämpfung der Handlungen, die sich gegen Kinder und Jugendliche richten; auch die Straftaten der Jugendlichen selbst, ihre Verfolgung und besser noch Verhütung gehören in den Bereich des Jugendschutzes (-»• Jugendkriminalität, Jugendstrafrecht). Jeder Polizeibeamte, der sich mit der Straffälligkeit Jugendlicher befaßt, wird davon wissen, daß die Ursachen des Verbrechens in der Anlage des Menschen, in seiner Erbmasse und in seinen mehr oder minder entwickelten Fähigkeiten liegen, daß weitere Ursachenkomplexe aber aus dem sozialen Nahraum kommen. Dabei stehen die Kräfte der Umwelt in einer ständigen Wechselbeziehung zum Menschen. Namentlich der junge Mensch ist in einem starken Maße von seiner Umwelt abhängig, wobei der Gesunde und Widerstandsfähige auch die Mängel der Umwelt ohne sichtbare Folgen verkraftet, während der erbmäßig Belastete diesen Wirkungen leichter ausgesetzt ist. Zu den Nahwirkungen kommen dann noch die Fernwirkungen aus der allgemeinen Lebenssituation, aus der Zivilisationswelt, die nicht nur durch Technisierung und Mechanisierung, sondern auch durch Isolierung des Menschen und vielfach überspitzte Sexualisierung gekennzeichnet ist. Alle präventiv-polizeiliche Tätigkeit wird davon ausgehen müssen, daß die großen Veränderungen des Gesellschaftsgefüges die Faktoren begünstigt haben, die zur Kriminalität führen. Der Rechtsbruch eines jungen Menschen ist in seinen Ursachen ein komplexes Problem, das ohne die psychologische und soziologische Betrachtung niemals richtig gesehen werden kann. Die Kriminalität Jugendlicher ist im allgemeinen eine Entwicklungskriminalität. Die Entwicklung eines jungen Menschen vollzieht sich in Phasen der Ordnung und Entordnung, so daß besonders kritische und gefährliche Perioden des Lebens zu überwinden sind, in denen junge Menschen sich selbst noch nicht in der rechten sozialen Weise zu steuern vermögen. In diesen Lebensabschnitten wird es ihnen schwer, in eine soziale Ordnung und in die Welt des Rechts hineinzuwachsen. Die wirtschaftlichen Entwicklungen erzeugen zudem immer neue Ansprüche, „Symbole des sozialen Aufstiegs", die der anlagemäßig nicht besonders be-
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günstigte junge Mensch in einer nicht sozialen Weise oft zu erlangen sucht. Bereits bei dieser vorbeugenden individuellen Jugendschutzarbeit wird man deshalb Ergebnisse kriminalbiologischer Forschungen im Hinblick auf die kriminelle Prognose Minderjähriger beachten müssen. Besonders gefährdet sind die Schulschwänzer, die Streuner, die als Erziehungswaisen aufwachsen, diejenigen, die eine angefangene Lehre nicht beenden können. Hier wird man das besondere Augenmerk darauf richten müssen, daß man diese Jugendlichen auffängt, sie in Heime der offenen Tür oder in freiwillige Zusammenschlüsse einführt und jugendfürsorgerisch an der Verbesserung der häuslichen Existenz arbeitet. Am empfindlichsten reagieren die Jugendlichen, die aus einer unguten Nestsituation kommen. Sie suchen oft in ihrer Einsamkeit nach Wegen, um ihr Selbstbewußtsein zu erhöhen. Oft sind ihre Straftaten nur darauf zurückzuführen, daß ein Verlust an Prestige ausgeglichen werden soll. Man denkt an die Schüler, die das Klassenziel nicht erreicht haben und nunmehr ständig in einer ProtestSituation leben. Namentlich diejenigen, die eigentlich die Hilfsschule besuchen miißten, weil sie an einer Lese-Rechen-Schwäche leiden, bekommen ihr ständiges Versagen immer wieder bescheinigt, geraten dann in Aggressionen und labile Stimmungen, die die Grundlagen zum Erst-Verbrechen bilden. Gedacht ist besonders an die sogenannten Absteiger von der höheren Schule zur Volksschule, vom Volksschüler zum Hilfsschüler, vom Lehrling zum Ungelernten. Gerade bei diesen Gruppen kommt es in den kritischen Phasen zu jener Protesthaltung, die den Keim für strafbare Handlungen legen kann. Es sind also die Benachteiligten in Nestsituationen, Familie und Schule, die nicht gestoßen werden dürfen, sondern, auch wenn sie noch so frech und anmaßend erscheinen, aufgefangen, gehalten und nach Möglichkeit geheilt werden sollen. Die Bemühungen um diese Minderjährigen, die im allgemeinen als Erst-Täter mit den Behörden in Konflikt kommen, sind nicht allein von Sozialarbeitern, Pädagogen und Psychologen, sondern von allen Beamten und Kräften zu leisten, die in der polizeilichen und in der Jugendschutzarbeit stehen. Man kann wohl drei Gruppen von potentiell kriminellen Kindern unterscheiden: die nervös störbaren Kinder; die Psychopathen im weitesten Sinne und die Verwahrlosten. Die nervös Störbaren sind die rasch ermüdeten, psychisch belasteten, Leistungsrückstände aufweisenden Kinder, die aus ihrer Leistungsangst, aus ihrem Absteigen oft in eine Kleinkindhaftigkeit zurückfallen und in besonderem Maße der gleichbleibenden ruhigen Behandlung und der Ermunterung bedürfen. Das große Heer der Psychopathen ist gekennzeichnet durch die seelische Labilität. Die
Kinder und Jugendlichen kommen immer wieder in Konflikte mit der Gemeinschaft, sind unsachlich, voreingenommen, voller Ressentiments und leiden unter ihrer Andersartigkeit. An die „Verwahrlosten" kommt man am schwersten heran, weil sie kein Empfinden für menschliche Bindungen haben, zu sozialen Kontakten schwer fähig sind und nur der Triebbefriedigung leben. Gerade die letzteren Typen bereiten den Heimen der öffentlichen Erziehung und den Jugendstrafanstalten besondere Schwierigkeiten, weil sie sich zwar rasch und zweckmäßig in jede Ordnung einfügen, aber sich innerlich nur schwer ansprechen lassen. Schon der Polizeibeamte, der die ersten Vernehmungen solcher Jugendlichen durchführt, wird sich der Verwobenheit von individueller Schuld und Gesellschaftsschuld bewußt sein müssen. Er wird zwar die Verantwortung des Einzelnen anerkennen und hervorheben, aber immer wieder die Mitschuld der Familie und der Gesellschaft sehen müssen. Erst diese Erkenntnisse befähigen ihn dann zu einer vorbeugenden Arbeit. In allen deutschen Bundesländern gibt es eine Weibliche Kriminalpolizei, die, in ganz besonderer Weise geschult, die Persönlichkeit junger Täter, speziell der Kinder unter 14 Jahren und der weiblichen Jugend, zu beurteilen weiß. Es gibt inzwischen auch Jugendsachbearbeiter, die zusammen mit der W K P den Jugendschutz im präventiven Sinne durchzuführen haben. Zwar sind die gesetzlichen Zuständigkeiten der Polizei auf diesem Gebiet verhältnismäßig gering, wie bei der Behandlung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit noch zu zeigen sein wird. Allmählich setzt sich aber die Überzeugung durch, daß ein geeigneter Jugendschutz ohne die präventive polizeiliche Tätigkeit kaum durchgeführt werden kann. Für die Mitwirkung der Polizei sind also die beiden großen Bereiche zu unterscheiden: Die klare Zuständigkeit bei der Verfolgung strafbarer Handlungen zum Nachteil der Jugend und der Straftaten der Kinder und Jugendlichen selbst; ferner die vorbeugende Arbeit, die darauf ausgerichtet sein muß, daß eine Frühkriminalität nicht zum Rückfallverbrechertum führt. In vorbildlicher Weise hat das Land NordrheinWestfalen begonnen, die vorbeugende Tätigkeit der Polizeiorgane auszubauen, die Ursachen der Jugendkriminalität und Jugendverwahrlosung zu erforschen, darüber hinaus nach Möglichkeit die öffentlichen Gefahren zu erkennen und zu bekämpfen, die den Nährboden für die Kriminalität von Kindern und Jugendlichen bilden. Nach einem Erlaß des Innenministers von Nordrhein-Westfalen vom 2 . 1 2 . 1 9 6 0 sind bei den Polizeipräsidenten und Polizeidirektoren die Dienststellen „ W K P und Jugendschutz" eingerichtet worden, wobei die Zusammenarbeit der W K P mit den
Jugendschutz Polizeirevieren und mit den einzelnen Kriminalkommissariaten enger gestaltet worden ist. Die Beamten dieser Dienststellen werden nicht nur zur Bearbeitung von Ermittlungsverfahren herangezogen, sondern erhalten völlig neue Aufgaben im Sinne des Jugendschutzes. Sie haben die Kontakte zu den zuständigen Polizeirevieren herzustellen, die angewiesen worden sind, alle auffällig werdenden Kinder und Jugendlichen zu melden, sowie Angaben über Jugendgefährdungen in der Öffentlichkeit zu machen. Außerdem haben diese Dienststellen Karteien über auffällig gewordene Kinder und Jugendliche, mögen sie als Zeugen oder Beschuldigte in Erscheinung getreten sein, anzulegen und fortlaufend zu ergänzen. Sie erhalten damit einen Überblick über deren Entwicklung und werden in den Stand versetzt, rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen einleiten zu lassen. Derartige Karteien gibt es seit langem in den meisten Großstädten; sie sind nun in einem Lande ausdrücklich zur Pflicht gemacht worden. Neben der Mitwirkung an der Durchführung der Jugendschutzgesetze haben diese Dienststellen die Erscheinungsformen und Ursachen der Jugendkriminalität und der Jugendverwahrlosung ständig zu beobachten und sich darum zu bemühen, Vorschläge zu deren Bekämpfung zu entwickeln. Engste Zusammenarbeit mit anderen Ämtern und Dienststellen, Erfahrungsaustausche sind vorgesehen, damit die Bemühungen um eine vorbeugende Arbeit zusammengefaßt werden. Wie in vielen anderen Ländern ist ausdrücklich gefordert worden, daß die Vernehmung, auch männlicher Jugendlicher, von Jugendsachbearbeitern vorgenommen werden soll, die Kenntnisse und Erfahrungen auf den Gebieten der Jugendpsychologie und Sozialpädagogik haben. Man geht mit Recht davon aus, daß die erste Begegnung mit einem Vernehmungsbeamten vielleicht einen erheblichen, oft sogar entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung des Jugendlichen haben kann. Eingehende Vorschriften befassen sich mit der Ausbildung und Nachschulung der Beamten, die über Methoden der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, über Ursachen und Gründe von Jugendkriminalität und Verwahrlosung unterrichtet sein müssen. Das Landeskriminalamt erhält außerdem eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Jugendkriminalität, die die Erfahrungen des Landes zusammenfaßt und Ansatzpunkte für weitere Jugendschutzarbeit aufzeigt. Alle Maßnahmen werden sich organisatorisch verhältnismäßig einfach in Großstädten durchführen lassen, bleiben aber für die ländlichen Bezirke noch problematisch. Nachdem der Ruf nach Sachbearbeitern für die Behandlung männlicher Jugendlicher immer lauter geworden war, hat man jedenfalls im größten Bundeslande einen energischen Schritt vorwärts getan.
447 6. Jugendschutz in der öffentlichkeil
Gesetzliche Grundlage des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit ist das Gesetz vom 4 . 1 2 . 1 9 5 1 in der Fassung vom 27. 7.1957, das vom Bundestage mit großer Mehrheit angenommen worden ist. Es soll Kinder und Jugendliche vor gefährdenden Einflüssen im Bereich der Öffentlichkeit schützen und erstreckt sich im wesentlichen auf den Freizeitbereich von Kindern und Jugendlichen. Das Gesetz ist im allgemeinen auf den privaten Bereich, auf die familiäre Situation und auf das Arbeitsleben der Jugend n i c h t anzuwenden. Verstöße gegen die Bestimmungen, die „im Hause" oder bei sogenannten geschlossenen Veranstaltungen vorkommen, können mit Hilfe dieses Gesetzes nicht unterbunden werden. Das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit hat auch den Charakter eines sogenannten „Erziehungsgesetzes". Bei Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen werden Jugendliche, selbst wenn sie das Gesetz hartnäckig und bewußt mißachten, nicht bestraft. Gegen Kinder und Jugendliche sind nur die im § 12 genannten vormundschaftsrichterlichen Maßnahmen zulässig. Zunächst hat das Jugendamt Erziehungsmaßnahmen einzuleiten, gegebenenfalls Anträge auf Sorgerechtserziehung, Erziehungsbeistandschaft, Fürsorgeerziehung zu stellen. Auf Antrag des Jugendamts oder von Amts wegen kann der Vormundschaftsrichter auch Weisungen erteilen, ohne daß ihre Einhaltung durch Strafbestimmungen erzwingbar gemacht worden wäre. Hauptziel des Gesetzes ist es, Kinder und J u gendliche von den Orten fernzuhalten, an denen ihnen eine sittliche Gefahr oder Verwahrlosung droht. Darunter fallen alle die örtlichkeiten, die in den weiteren Vorschriften des Gesetzes genannt sind. Dabei hat der Gesetzgeber nicht nur an sexuelle Gefährdungen gedacht, sondern an alle Gefahren, die eine gesunde körperliche und geistigsittliche Entwicklung junger Menschen beeinträchtigen können. Darunter fallen beispielsweise Bordellstraßen, auch Hafenanlagen, die von Prostituierten vielfach aufgesucht werden, gewisse Parks und Grünanlagen, wenn sie in der Dunkelheit zu Treffpunkten von Homosexuellen und herumstreunenden Personen werden, bestimmte Toilettenanlagen, aber auch Rummelplätze, Volksfeste, Vergnügungsstätten und Tanzlokale, wenn das Treiben dort bedenkliche Formen annimmt. Ob und in welchen Fällen ein jugendgefährdender Ort anzunehmen ist, hängt von den Besonderheiten ab, auch von der Tageszeit, von der Beleuchtung oder von dem dort anzutreffenden Personenkreis. Manche jugendgefährdenden Orte sind besonders durch die Besucher geprägt, unter denen man die kriminell und sexuell Verwahrlosten, ferner die „Luxus-
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verwahrlosten", die aus Langeweile und Übersättigung eine Atmosphäre bestimmter Art schaffen, und die potentiell gefährdeten, d. h. Jugendliche aus geordneten Elternhäusern, die aus Abenteuerlust solche Orte aufsuchen, unterscheiden kann. In Landesausführungsbestimmungen wird außerdem auf sogenannte wilde Campinglager und öffentliche Zeltplätze hingewiesen, die gleichfalls zu jugendgefährdenden Orten werden können. Recht und Pflicht zur regelmäßigen Überwachung jugendgefährdender Orte ergibt sich bereits aus allgemeinen polizeilichen Grundsätzen. Schutz der Jugend vor sittlicher Verwahrlosung ist eine gemeinsame Aufgabe von Polizei und Jugendbehörden, so daß eine reibungslose Zusammenarbeit gewährleistet sein muß. Kinder und Jugendliche, die sich an solchen Orten aufhalten, sind durch die nach Landesrecht zuständigen Behörden oder Stellen dem Jugendamt zu melden; außerdem sind sie zum Verlassen eines Ortes anzuhalten, wenn eine ihnen dort unmittelbar drohende Gefahr nicht unverzüglich beseitigt werden kann. Sie sind nötigenfalls dem Erziehungsberechtigten zuzuführen, oder, wenn dieser nicht erreichbar ist, in die Obhut des Jugendamts zu bringen. Bei der Neufassung des Gesetzes hatte man eingehend geprüft, ob man diese Vorschrift zu einer polizeilichen Generalklausel für den Jugendschutz ausgestalten könnte, die die Polizei jederzeit in den Stand setzte, Jugendgefährdungen zu beseitigen. Man hat sich mit den erwähnten Bestimmungen begnügt, weil das geltende Polizeirecht regelmäßig die Möglichkeit zur Beseitigung von Gefahren bietet, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht ist. Dieser Auftrag, der der Polizei gegeben ist, schließt den Jugendschutz ein, wie der Begriff „Ordnung" heute nicht ohne den Jugendschutz verstanden werden kann. Allerdings bedarf die Polizei bei Beseitigung von Jugendgefährdungenimmer einer speziellen Rechtsgrundlage; ζ. B. bei der Beseitigung von Automaten, die auf öffentlichen Straßen Schutzmittel anbieten, so daß Jugendliche damit Unfug treiben (Hinweis auf § 41a GewO in der Fassung der Vierten Novelle vom 5. 2.1960); oder für die Entfernung anstößiger und unzüchtiger Bilder, die zum Betreten eines Lokals anlocken sollen, oder für die Inhibierung sogenannter Sittenfilme (Hinweis auf §§ 184, 184a StGB, §§ 6, 21 GjS). Wenn jugendgefährdende Orte durch ein gemeinlästiges Treiben von Dirnen entstehen, gibt das 5. Strafrechtsänderungsgesetz vom 24. 6.1960 die Möglichkeit, die Ausübung der Gewerbsunzucht in gewissem Umfange durch Schaffung von Sperrbezirken zu unterbinden. Bisweilen werden auch große Volksfeste zu jugendgefährdenden Gelegenheiten. Hier haben einzelne Länder oder Kommunen jugendschützende Bestimmungen erlas-
sen, vgl. ζ. B. die Volksfestordnung für das Cannstatter Volksfest in der Fassung vom 16. 9.1960. Für die Praxis sind die Jugendschutzstreifen von besonderer Wichtigkeit, die meist von Angehörigen der Jugendpolizei, weiblicher Schutzpolizei in Zivil, Kriminalbeamten, insbesondere WKP und Mitgliedern der Jugendämter durchgeführt werden. Solche Jugendschutzstreifen oder Jugendschutztrupps, die die ständige Überwachung jugendgefährdender Orte, die Beseitigung von Gefahren und die Entfernung von Kindern und Jugendlichen von diesen Orten bezwecken, haben sich namentlich in Großstädten gut bewährt. Auf dem Lande sollte man dazu übergehen, gelegentlich auf überörtlicher Basis Streifen anzuordnen, damit die örtlichen Polizeibeamten nicht in Konflikte gebracht werden. In verschiedenen Ländern sind Jugendausweise eingeführt worden (vgl. ζ. B. den Erlaß über Schülerausweise in Rheinland-Pfalz vom 10.11. 1960 — MBL. 1960, Sp. 1245), die die Tätigkeit der Streifen und die Durchführung des Gesetzes wesentlich erleichtern können. Derartige Ausweise, die nicht nur für den Besuch von Lichtspieltheatern, sondern im positiven Sinne auch für den verbilligten Eintritt zu kulturellen Veranstaltungen gebraucht werden, ergänzen das Gesetz über Personalausweise vom 19.12.1950 in wirkungsvoller Weise. Für die vorbeugende Arbeit sind besonders die Gespräche mit den Erziehungsberechtigten wichtig, wenn diese angehalten werden,die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen bei Polizeistellen oder beim Jugendamt abzuholen. Auf diese Weise kann in vorbeugenden Erziehungsgesprächen die Verantwortung der Eltern geweckt oder gestärkt werden. Nach dem Gesetz besteht auch eine allgemeine Verpflichtung zur Schaffung von Jugendschutzstellen, damit streunende Jugendliche in Obhut genommen werden können, und zwar getrennt von sonstigen kriminellen oder verwahrlosten Personen. Besonderes Augenmerk muß auf den Aufenthalt Jugendlicher in Gaststätten und auf den Alkoholgenuß Jugendlicher gelegt werden. Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren dürfen sich nur ausnahmsweise in Gaststätten aufhalten, wenn sie nicht in Begleitung eines Erziehungsberechtigten sind. Außerdem darf ihnen kein alkoholisches Getränk, weder in Gaststätten noch in Verkaufsstellen, zum eigenen Genuß gegeben werden. Ein Branntweinverbot (Verbot der Abgabe) besteht für Jugendliche bis zum 18. Lebensjahre allgemein. Über die Gefährdung der Jugendlichen durch den Genuß von Alkohol (-> Alkoholismus) brauchen heute keine allgemeinen Ausführungen mehr gemacht zu werden. Ebenso versucht das Gesetz, dem übermäßigen Tabakgenuß Jugendlicher ent-
Jugendschutz gegenzuwirken, indem § 9 Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren den Genuß von Tabakwaren in der Öffentlichkeit nicht gestattet. Alkohol ist ein Zell- und Gehirngift, Nikotin ein stark wirkendes Nervengift, speziell Kindern und Jugendlichen schädlich, die durch diese Zivilisationsgifte in viel stärkerem Maße beeinträchtigt werden als Erwachsene. Oft gibt das gedankenlose Verhalten der Eltern dem Nachahmungstrieb Anregung; die gesetzlichen Verbote werden vielfach auch nicht mit der nötigen Strenge eingehalten. Man hat in letzter Zeit die forensische Bedeutung des Alkohols für die Kriminalität Jugendlicher und Heranwachsender geprüft, zumal da in den letzten Jahren, besonders im Zusammenhang mit Verkehrsdelikten, die Meldungen über eine Zunahme der Jugendkriminalität unter Alkoholeinfluß sich vermehrt haben. Man hat geradezu eine Wochenend-Trunksucht bei bestimmten Gruppen Halbwüchsiger festgestellt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß mindestens 10 v. H. aller Straftaten Jugendlicher unter Alkoholeinfluß begangen worden sind, wobei das Ausmaß der Alkoholwirkung auf Art und Schwere der Delikte umstritten ist. Regelmäßig sind die unter Alkoholeinfluß begangenen Straftaten Jugendlicher persönlichkeitsfremd, d. h. sie wären ohne das die Hemmungen beseitigende Moment der Alkoholeinwirkung nicht begangen worden. Der Alkoholkonsum, der in der Bundesrepublik ständig im Steigen begriffen ist und auch die heranwachsende Jugend erfaßt, führt freilich verhältnismäßig selten zu einem echten Alkoholismus bei Halbwüchsigen, wenn sich auch die Notwendigkeit der Schaffung von Entziehungsanstalten für jugendliche Trinker bereits herausgestellt hat. Meist sind die Heranwachsenden aber nur als Gelegenheitstrinker anzusehen. Alle Jugendschutzmaßnahmen, insbesondere auch das erwähnte Gesetz, gehen von der Vorstellung aus, daß bei der ohnehin starken Belastung der Jugend die hier behandelten Störungsmomente im Reifungsprozeß, die sich sozial und kriminologisch ungünstig auswirken müssen, nach Möglichkeit zu bekämpfen sind. Die Maßnahmen zum Schutz der Jugend vor Alkoholgefährdung sollten energischer als bisher durchgeführt werden. Auch die Bestimmungen des Gaststättengesetzes sollten in verschiedener Hinsicht verschärft werden. Man könnte daran denken, jedem Gastwirt die Konzession dann zu entziehen, wenn er durch leichtfertige Alkoholabgabe die Trunkenheit Jugendlicher ermöglicht hat. Auch bei den Polizeistundenverlängerungen sollte man hier einen strengen Maßstab anlegen. Die Alkoholfrage ist in erster Linie eine Frage der Erziehung, d. h. einer Aufklärung und Unterweisung der Eltern. Gerade hier versucht der Jugendschutz, Allgemeinwissen zu verbreiten, I 29
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auch unter dem Gesichtspunkt, daß eine Erziehung, die Kindern und Jugendlichen jeden Wunsch erfüllt, zu Fehlhaltungen führen muß. Im Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit ist weiterhin die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen eingeschränkt worden, nicht etwa, weil der Tanz an sich eine Jugendgefährdung bedeutet, sondern weil die Atmosphäre öffentlicher Tanzlokale und die Ausdehnung der Veranstaltungen bis in die späten Nachtstunden zu Gefahren für die heranwachsende Jugend führt. Die früher vorgesehene Unterscheidung zwischen „Anwesenheit" und „Teilnahme" an öffentlichen Tanzveranstaltungen hat man fallen gelassen, weil es einem Veranstalter nicht zuzumuten ist, diese Unterscheidungen immer zu treffen. Jugendlichen unter 16 Jahren darf die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen überhaupt nicht, Jugendlichen über 16 Jahren bis 24 Uhr gestattet werden, jedoch ab 22 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Wegen der besonderen Jugendgefährdungen, die von unerwünschten Nachtlokalen ausgehen, wird man namentlich diese Betriebe besonders überwachen müssen. Im übrigen ermöglichen die im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen , im Interesse der Jugend gewisse Veranstaltungen zuzulassen und damit überall einen frohen Jugendtanz in sauberer Umgebung zu pflegen. Ein grundsätzliches Verbot für Jugendliche besteht auch für die Variety, Kabarett- und Revueveranstaltungen, bei denen zwischen öffentlichen und geschlossenen Veranstaltungen nicht unterschieden wird. Namentlich die Karnevalsveranstaltungen, Schönheitskonkurrenzen, MißWahlen u. ä. werden unter diese Bestimmungen fallen. Jugendämter und Landesjugendämter haben die Möglichkeit, auch hier Ausnahmen zu gestatten und damit der Jugend den Zutritt zu guten artistischen Leistungen in einwandfreier Atmosphäre zu ermöglichen. Sichergestellt ist auch, daß jugendliche Arbeitnehmer bei solchen Veranstaltungen nicht mitwirken können, von denen sie bereits als Zuschauer ausgeschlossen sind (vgl. §§ 37, 8,16 Jugendarbeitsschutzgesetz). Als Kernstück des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit hat man den Filmparagraphen bezeichnet. Danach sind Kinder unter 6 Jahren zu öffentlichen Filmveranstaltungen nicht zugelassen, im übrigen hat man Alterseinschnitte bei 12, 16 und 18 Jahren gemacht. Für die 6- bis 12jährigen muß eine Vorführung bis 20 Uhr, für die 12- bis 16jährigen bis 22 Uhr und für die 16- bis 18jährigen bis 23 Uhr beendet sein. Entsprechend § 1 JWG geht das Gesetz von dem Grundsatz aus, daß Filme, die geeignet sind, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur leiblichen, seelischen oder gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu beeinträchtigen, nicht zur Vorführung
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vor diesen freigegeben werden dürfen. Grundsätzlich haben die obersten Landesbehörden das Recht der Freigabe und Kennzeichnung der Filme; sie haben die Prüfung der Freiwilligen Filmselbstkontrolle der Deutschen Filmwirtschaft übertragen. In allen Prüfausschüssen (Arbeitsausschuß, Hauptausschuß, Rechtsausschuß) wirken Jugendschutzbeauftragte der Länder mit, die speziell zu der Frage der Jugendeignung eines Films Stellung zu nehmen haben. Auch die Werbevorspanne und Beiprogramme gelten als selbständige Filme, die geprüft, gekennzeichnet und freigegeben werden müssen. Filmwerbung und Reklame sind gleichfalls in die Selbstkontrolle einbezogen, so daß — bei strikter Durchführung aller dieser Bestimmungen — besondere Filmgefährdungen von Kindern und Jugendlichen ferngehalten werden könnten. In der Wirklichkeit sieht es anders aus, weil es zunächst weithin an einer Kontrolle der Filmtheater fehlt und weil gerade die „Jugendvorstellungen" in zahlreichen Fällen die Beachtung der Bestimmungen vermissen lassen. Die Frage der kriminogenen Bedeutung des Films (-*- Massenmedien) ist noch nicht überzeugend erhellt worden. Einer der schwerwiegendsten Vorwürfe gegen den Film an sich — besonders gegen Filme, die vorwiegend von Jugendlichen besucht werden — ist der, daß er menschliche Umgangsformen verrohe, die aggressiven Bedürfnisse errege und ursächlich an der Zunahme der Jugendkriminalität mit beteiligt sei. Man hat bisher selten versucht, diesen Fragenkomplex auf empirischem Wege zu beantworten. Hinzuweisen ist auf eine Untersuchung von Carl Heinrich „Filmerleben — Filmwirkung — Filmerziehung" (Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt/Main 1961), die zu dem Ergebnis kommt, daß zumindest einige Filme die Einstellung Jugendlicher zur Aggression meßbar steigern. Die Frage nach der Wirkung des Films darf nicht oberflächlich behandelt werden; unter den verschiedenen Faktoren, die zur Verwahrlosung oder Kriminalität führen, spielt der Film sicherlich eine bedeutsame Rolle. Es ist nicht gleichgültig, wann ein Kind zum ersten Male Filme sieht, wie oft es ins Kino geht, welche Filme es sieht, mit wem es Lichtspieltheater besucht und aus welchen Gründen. Verhältnismäßig selten sind die Fälle, in denen ein Jugendlicher unter der unmittelbaren Einwirkung eines Films, das Filmgeschehen gewissermaßen kopierend, strafbare Handlungen begeht. Meist wird es sich bei solchen scheinbaren Zusammenhängen zwischen Film und Jugendkriminalität um gemüts- und phantasiearme Naturen handeln, bei denen die fehlende Phantasie durch äußere Sinnesreize, vielleicht durch eine Schundschrift, ersetzt worden ist. Der kriminogene Reiz des Films wird freilich nur dann wirksam werden, wenn das sittliche Gerüst bereits ins
Wanken geraten ist. Viel verheerender als die Wirkung eines einzelnen Films ist das ständige Sehen von minderwertigen Erzeugnissen der Filmindustrie, das zu einer Relativierung der sittlichen Auffassungen führt. Es ist die Bagatellisierung des Unmoralischen in manchen minderwertigen Filmen, das als besonders bedenklich bezeichnet werden muß. Deshalb gehört der Film als Massenmedium nicht an die Peripherie, sondern ins Zentrum jugendschützenden Denkens und Handelns. Ebenso wenig wie die Wirkung des Films unterschätzt werden darf, sollte auch die Wirksamkeit einer vernünftigen Filmerziehung nicht gering veranschlagt werden. Filmerziehung besteht darin, durch gute Gespräche mit Kindern und Jugendlichen Hilfen für kritische Verarbeitung des Filmerlebens anzubieten und damit zu einer allgemeinen Geschmacksbildung beizutragen. Gerade bei der Behandlung des Filmproblems sieht man die Doppelfunktion des Jugendschutzes deutlich: neben der Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen, neben der Bereinigung der öffentlichen Atmosphäre, ζ. B. durch Unterdrückung einer jugendgefährdenden Reklame, neben der Überwachung der Filmtheater durch Polizei, Jugendämter und freie Verbände kommt es darauf an, den Film als technischen Mittler in den Unterricht einzubeziehen und eine Filmerziehung auf breitester Basis zu betreiben. Man darf in diesem Zusammenhange auch auf das neue technische Medium des Fernsehens hinweisen, das gleichfalls in unseren Bildungsvorgang aufgenommen werden muß. Wenn man dem Femsehen vorwirft, daß es rezeptive Verhaltensweisen begünstige, die produktive Phantasie durch künstliche Vermehrung der an sich schon bestehenden Reizüberflutung lähme und zu einer Entpersönlichung und Mechanisierung des pädagogischen Bezugs zwischen Lehrer und Schüler beitrage, so kann man auf der anderen Seite auch die positiven Seiten dieses neuen Kulturinstruments hervorheben. Gesetzlich hat man versucht, den Gedanken des Jugendschutzes auch für Rundfunksendungen nutzbar zu machen, indem man in dem ersten Gesetz über den Rundfunk bestimmte, daß Sendungen, die für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur leiblichen, seelischen oder sozialen Tüchtigkeit ungeeignet sind, nicht vor 21 Uhr veranstaltet werden dürfen. Es ist damit zu rechnen, daß der Gesetzgeber sich dieses Problems noch intensiver annehmen wird, wenn erst weitere Programme laufen, auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, daß der Jugendschutz hier seine Doppelfunktion auszuüben hat, einmal das Schädliche und Gefährdende fernzuhalten, zum anderen, die Aufnahmebereitschaft bei der Jugend zu wecken, ihre Kritikfähigkeit zu stärken und sie damit in den Stand zu setzen,
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Jugendschutz diesen neuen technischen Mittler innerlich zu beherrschen. Das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit behandelt weiterhin den Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen in öffentlichen Spielhallen, die Teilnahme an Glücksspielen und öffentlich aufgestellten Spielgeräten. Vielfach haben die Spielhallen, die wie Pilze aus dem Boden schössen, an jugendgefährdender Bedeutung bereits verloren. Das schlechte „Süchtigkeitsklima", das in öffentlichen Spielhallen herrscht, soll auf die Jugendlichen keinen Einfluß gewinnen; im übrigen sollen Kinder und Jugendliche vor der Spielleidenschaft, die sich im gesamten öffentlichen Leben breitmacht, möglichst lange bewahrt bleiben. Auf die besonderen Gefährdungen des öffentlichen Spielwesens hat namentlich die Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden im Mai 1955 sehr eindringlich hingewiesen. Darüber hinaus sollen Kinder und Jugendliche von „verrohenden" Veranstaltungen ferngehalten werden. Die Bundesregierung hat am 2. April 1959 eine erste Verordnung erlassen, die Catcher-Veranstaltungen und gewisse Ringkämpfe, ferner Frauenringkämpfe, Entartungen wie Ringkämpfe im Schlamm sowie Box- und Ringkämpfe auf Jahrmärkten und Schützenfesten für verrohend erklärt. Man hofft, damit eine weitere Quelle verstopft zu haben, die ein aggressives Verhalten junger Menschen fördern könnte. Wichtiger als die gesetzlichen Bestimmungen selbst ist die D u r c h f ü h r u n g des Gesetzes, die noch zu wünschen übrig läßt. Eine Fülle von vorbeugenden Möglichkeiten ist namentlich der Polizei und dem Jugendamt gegeben. Karteien von Kindern und Jugendlichen, die bei Verstößen gegen das Gesetz betroffen werden, geben den Anlaß, den Erziehungsstand gefährdeter Kinder und Jugendlicher ständig zu überprüfen. Dabei wird man immer den Einzelfall in seinen Besonderheiten im Auge behalten müssen, zunächst einen Jugendlichen ermahnen, ehe man zu einer Benachrichtigung der Eltern oder Erziehungsberechtigten schreitet. Von einer Nachricht an die Schule wird man absehen können, wenn ein Gespräch mit den Eltern bereits den gewünschten Erfolg hat. Auf keinen Fall will eiD Erziehungsgesetz den Jugendlichen im Fortkommen schädigen, sondern ihm nach Möglichkeit helfen und allen antisozialen Entwicklungstendenzen entgegenarbeiten. Als Erziehungsmaßnahmen kommen in Betracht: Vorladung der Kinder und Jugendlichen zu einer Aussprache im Jugendamt, Einschaltung einer Erziehungsberatungsstelle, Aushändigung des Gesetzestextes an die Eltern, Ausspracheabende mit den Eltern einer Wohngegend, Elternversammlungen in den Schulen, Jugendschutzwochen. Erst bei völliger Uneinsichtigkeit der Eltern, bei schweren Erziehungsnotständen, wird an eine gerichtliche Erziehungs29·
beistandschaft oder an eine Heimunterbringung zu denken sein. Verhältnismäßig selten haben die Vormundschaftsrichter die „Weisungen" erteilt, die die Lebensführung des Jugendlichen zum Besseren lenken. Es fehlen die nötigen Zwangsmittel zur Durchführung. Außerdem gebricht es noch oft an der nötigen Phantasie, die solche Weisungen pädagogisch wirksam machen könnte. Gegen die Veranstalter und Gewerbetreibenden, die in schwerer Weise die gesetzlichen Bestimmungen außer acht lassen, sind Strafandrohungen ausgesprochen. Im übrigen kennt das Gesetz Ordnungswidrigkeiten, auch bei den Eltern, wenn sie vorsätzlich das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen herbeiführen oder fördern, das durch das Gesetz verhindert werden soll. Von allen politischen Parteien ist bei der Verabschiedung des Gesetzes hervorgehoben worden, daß man anstelle der Verbote und Einschränkungen lieber positive Jugendschutzmaßnahmen erlassen hätte, daß diese aber die Gesetzgebungskompetenz des Bundes überschreiten und in der Zuständigkeit der Länder und Gemeinden verbleiben müssen. Der das Gesetz ergänzende sozialerzieherische Auftrag richtet sich daher an alle Erwachsenen, an Verbände, Zusammenschlüsse und Kommunen, für die Jugend neue Formen der Geselligkeit und Gemeinschaftsbildung zu unterstützen und zu sichern und damit den Gedanken des positiven Jugendschutzes in den Vordergrund zu stellen. 7. Jugendgefährdende
Schriften
Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß auch das unterwertige Schrifttum zu den kriminogenen Faktoren zu rechnen ist. Wenn es auch imEinzelfalle schwer sein wird, festzustellen, welche Bedeutung unter vielen zum kriminellen Handeln führenden Ursachen die Lektüre eines jungen Menschen gehabt hat, kann jedenfalls davon ausgegangen werden, daß ein ständig gelesenes minderwertiges Schrifttum dazu beiträgt, ethische Vorstellungen abzubauen. Es sind aber auch Fälle vorgekommen, in denen die unmittelbare Wirkung eines Schundbuches auf das später begangene Verbrechen festzustellen war. Leider wird in der Praxis der Jugendgerichte dem jugendgefährdenden Schrifttum noch zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Es fehlt an einer planmäßigen Überwachung der infrage kommenden Kioske und Mietbüchereien; auch die Anträge, die an die Bundesprüfstelle für jugendgefährdendes Schrifttum gestellt werden, beruhen nicht auf einer systematischen Beobachtung dieses Marktes, sondern sind häufig nur Ergebnisse zufälliger Beanstandungen. Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) hat die Aufgabe, Kinder und Jugendliche vor dem schädlichen Einfluß dieses Schrifttums zu schützen. Das Gesetz führt
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Jugendschutz
nicht zu einer Zensur, sondern zur Feststellung der Jugendgefährdung durch eine Prüfstelle, die auf Antrag tätig wird und in der auch die beteiligten Kreise der Buchhändler, Verleger und Schriftsteller vertreten sind. Wenn das Gesetz von „jugendgefährdenden" Schriften spricht, so sind diese von den „unzüchtigen" Schriften (im Sinne des §184 StGB) und den „schamverletzenden" Schriften (im Sinne des § 184 a StGB) zu unterscheiden, wenn auch die Übergänge hier fließend sein können. Im Gegensatz zu den unzüchtigen und schamverletzenden Schriften, deren Herstellung bereits unter Strafe gestellt ist, dürfen die als jugendgefährdend indizierten Schriften nur an Jugendliche unter 18 Jahre nicht vertrieben werden. Damit sind gewisse Werbungs- und Verbreitungsbeschränkungen verbunden. Die Neufassung des GjS vom 21. 3.1961 verhindert insbesondere auch Vertrieb, Verbreitung und Verleihung in gewerblichen Büchereien und Lesezirkeln und im Versandhandel. Bei der geschäftlichen Werbung darf nicht darauf hingewiesen werden, daß ein Verfahren zur Aufnahme einer Schrift in die Liste anhängig ist oder gewesen ist, damit auf diese Weise keine Werbewirkung erzielt werden kann. Als sittlich gefährdend sind namentlich die sozialethisch verwirrenden Schriften anzusehen, die zur Verrohung, zu Aggressionen und zur Mißachtung der Ordnungskräfte führen. Im einzelnen nennt das Gesetz beispielhaft die „unsittlichen, verrohend wirkenden, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhaß anreizenden sowie den Krieg verherrlichenden Schriften". Ausgenommen von einer Indizierung sind die der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dienenden Schriften sowie die politischen und religiösen Tendenzschriften, schließlich die Veröffentlichungen, die „im öffentlichen Interesse liegen", also ζ. B. gewisse Aufklärungsschriften, wenn sie nicht sozialethisch gefährdend sind. Im Sinne des Jugendschutzes muß man die Marktlage auf dem Gebiet einer unterwertigen Literatur ständig beobachten. Es gibt etwa zwanzig- bis dreißigtausend Leihbüchereien, darunter nur drei- bis fünftausend sachkundige Inhaber. Der geschätzte Buchbestand beträgt etwa 20 Millionen, mit einer jährlichen Entleihung, auch unter Berücksichtigung der „Blindleser", von 540 bis 600 Millionen. Die öffentlichen Büchereien verfügen dagegen nur über 12 bis 14 Mill. Bände und etwa 50 Mill. Entleihungen jährlich. Es gibt Leihbücher, die —· etwa 1.800 Titel jährlich! — von Spezialverlagen nur für diese Zwecke hergestellt werden. Unter den Romanen dieser Gattung kann man die Kitschgruppe (von harmlosen Frauen-, Berg- und Liebesromanen bis zu den sogenannten Sittenromanen) und die Spannungsgruppe (mit den Kriminal-, Detektiv- und Utopia-
Romanen) unterscheiden. Besonders gefährlich sind die Darstellungen, die Brutalität und Sexualität in einer raffinierten Weise mischen. Neben diesen Leihbücherei-Romanen stehen die Romanhefte mit ungefähr 80 Serien (jährliche Gesamtauflage 80 bis 90 Mill. Hefte). Unter diese Kategorie fällt auch die sogenannte KriegsGroschenliteratur, die in Einzelfällen indiziert worden ist. Die Bildstreifenhefte (Comics), die eine zeitlang den Markt beherrschten, sind nur noch als Randerscheinungen anzusehen, weil hier die Bundesprüfstelle bereits einen energischen Riegel vorgeschoben hat. Zu den Büchern und Heften gesellen sich die sexuell gefährdenden Schriften und Abbildungen, ζ. B. Aktbildhefte, Sittenfilme, ferner die billigen Sexualaufklärungsschriften und die Produkte des erotisch-sexuellen Versandhandels, die eine besondere Jugendgefährdung bedeuten, weil in anonymer Weise junge Menschen werbemäßig erfaßt und nicht nur mit entsprechendem Schrifttum, sondern auch mit bestimmten Waren (Reizwäsche, Empfängnisverhütungsmitteln, Potenzstärkungsmitteln u. ä.) beliefert werden. Man kann die Waren postlagernd beziehen, so daß die Gegenstände auch in Jugendwohnheime und Lehrlingsheime eindringen. Eine besondere Überwachung erscheint hier notwendig, wobei darauf hinzuweisen ist, daß in einer unverlangten Prospektzusendung bereits der Tatbestand der Beleidigung gesehen werden kann. Zu diesem Schrifttum kommen die Millionenerzeugnisse der Illustrierten, der WochenendZeitschriften und der sogenannten BoulevardPresse. Gerade die in Lesezirkeln vertriebenen Illustrierten und Wochenblätter bedeuten durch die Hervorkehrung des sensationellen, abseitigen, abnormen und skandalösen Elements eine ständige Bedrohung junger Menschen, weil sie zu verzerrten Weltbildern führen und mühsam aufgebaute Wertvorstellungen zu zerstören geeignet sind. Etwa 700 Betriebe verleihen wöchentlich 200.000 Erstmappen mit durchschnittlich 10 Zeitschriften; das entspricht bei 12- bis 14wöchiger Umlaufzeit unter Einbeziehung der Mitleser einer Lesekapazität von 10 bis 13 Mill. Lesern. Auf dem Gebiete der Massenpresse ist es sehr schwer, mit Hilfe des GjS Gefährdungen zu unterbinden, weil meist das Blatt oder die Zeitschrift längst vergriffen sind, ehe ein Antrag verhandelt werden könnte. Hier nützt nur eine gewisse Gegenwehr, wie sie der Jugendschutz durch seine ständige Volksaufklärung zu betreiben versucht. Die verschiedentlichen „Selbstkontrollen", zu denen sich Verleger unter dem Druck des GjS zusammengeschlossen haben (ζ. B. Remagener Kreis, Godesberger Ring, Aktion 57, Freiwillige Selbstkontrolle der Serienbilder, Selbstkontrolle der Illustrierten), haben bisher nur geringe Erfolge
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Jugendschutz aufzuweisen, so daß das Gesamtniveau auf diesem Gebiete der Literatur noch als beschämend zu bezeichnen ist. Ein wesentliches Hindernis für die Bekämpfung jugendgefährdenden Schrifttums liegt darin, daß weite Kreise mit den Möglichkeiten, die das GjS bietet, nicht vertraut sind, aus liberaler Auffassung heraus die Tendenzen des Gesetzes innerlich ablehnen und an die antragsberechtigten Stellen keine Anregungen herantragen. Hier sieht es die Aktion Jugendschutz als ihre Aufgabe an, ehrenamtliche Kräfte zu gewinnen, die dieser Jugendgefährdung ihre besondere Aufmerksamkeit widmen, den Markt des unter wertigen Schrifttums beobachten und dazu beitragen, daß jedenfalls ärgste Gefährdungen vermieden werden. Gerade hier wird aber deutlich, daß die negativen Jugendschutzmaßnahmen, d. h. Indizierungen und Kontrollen, noch nicht viel nützen, wenn nicht eine positive Gegenbewegung einsetzt. Auf die Fülle der literarpädagogischen Bemühungen sei hingewiesen; sie alle verfolgen das Ziel, das gute Jugendschrifttum zu fördern und zu vermehren und die Jugend an das gute Buch heranzuführen. Diese pädagogischen Bemühungen reichen aber allein nicht aus, um die negativen Erscheinungen von der Jugend fernzuhalten. Man kann den Acker nicht bestellen, wenn man nicht gleichzeitig bereit ist, das Unkraut zu jäten. Daher müssen sich gesetzliche und pädagogische Maßnahmen sinnvoll ergänzen. Der Wert des GjS liegt darin, daß es Autoren und Verleger ständig zu einer Selbstkontrolle zwingt. Wollen sie Werbungs- und Vertriebsschwierigkeiten vermeiden, die unabweisbare Folgen eines Indizierungsantrages sind, so müssen sie sich im Interesse der Jugend gewisse Beschränkungen auferlegen. Hierin, vielleicht nicht in den Indizierungen, die im Bundesanzeiger veröffentlicht werden, liegt der Erfolg des Gesetzes. 8. Jugendschutz am Arbeitsplatze Betrafen die bisher aufgezeigten Jugendgefährdungen im wesentlichen den sozialen Nahraum, den familiären und den Freizeitraum, so kann man feststellen, daß auch in der Arbeitswelt neue Formen einer Jugendgefährdung sichtbar werden, weil die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz sowie dadurch der schwierige Übergang von dem „Umwelthorizont" der Familie zur Arbeitswelt gerade für die Jugendlichen neue Probleme aufwirft. Das am 1. Oktober 1960 in Kraft getretene Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend (JArbSchG) versucht, vor allem die gesundheitlichen und sittlichen Gefahren zu bekämpfen. Gesundheitliche Gefahren sind Gefahren des Unfalls, der Überforderung, der Abgabe von Alkohol und Tabak, ζ. B . in Kantinen und bei Betriebsfesten; sittliche Gefahren drohen von der Art der Arbeit selbst her, wenn ein Jugendlicher beispiels-
weise in einem zweifelhaften Verlag beschäftigt wird; vom Betriebe her, wenn in ihm eine ungute Atmosphäre herrscht; vom Ausbilder her, wenn er zu einem besonders schlechten Vorbild für den Jugendlichen wird. Es ist erfreulich, daß das J A r b S c h G zum immanenten Bestandteil des Jugendschutzes geworden ist und auch die anderen Gesetze zum Schutze der J u g e r d , ζ. B . J Ö S c h G und GjS, mit berücksichtigt. Grundsatz ist, daß Jugendliche nicht mit Arbeiten beschäftigt werden dürfen, die ihre körperlichen Kräfte übersteigen oder bei denen sie sittlichen Gefahren ausgesetzt sind. Neu ist auch ein Verbot der Beschäftigung Jugendlicher durch bestimmte Personen, wenn diese Jugendschutzbestimmungen wiederholt oder gröblich verletzt haben oder wenn gegen sie Tatsachen vorliegen, die sie in sittlicher Beziehung zur Beschäftigung, Beaufsichtigung oder Anweisung von Kindern und Jugendlichen als ungeeignet erscheinen lassen. Das Züchtigungsverbot, das sich bereits in verschiedenen älteren Gesetzen findet, ist dahin ergänzt worden, daß der Beschäftiger vonKindern und Jugendlichen diese auch vor Mißhandlungen und sittlichen Gefährdungen durch a n d e r e Betriebsangehörige (oder durch Mitglieder seines Haushalts, wenn die Jugendlichen im Haus beschäftigt sind) zu schützen hat. Die einzelnen Bestimmungen des JArbSchG, die sich auf Urlaub, Freizeit, Ruhepauser, Nachtruhe, Sonntagsruhe, Berufsschule, ärztliche Untersuchungen vor pnd während der Arbeitszeit beziehen, stecken nur den Rahmen ab, innerhalb dessen ein geeigneter positiver Jugendschutz angebahnt werden muß. Immer wieder muß man dabei auf die sittlichen Gefährdungen hinweisen, die manche Betriebe und Ausbildungsstätten für junge Menschen mit sich bringen. Erst die menschliche Rücksichtnahme, die Sorge und Fürsorge für den jungen Mitarbeiter kann dazu führen, daß hier über die Beachtung der Paragraphen hinaus ein Jugendschutz durchgeführt wird. So kommt es darauf an, alle verantwortlichen Erwachsenen in den Betrieben immer wieder darauf hinzuweisen, daß sie sich ihrer Verpflichtung jungen Menschen gegenüber bewußt bleiben müssen. Eine psychische Hygiene im Betriebsleben kann ein Gesetz nicht vorschreiben, sie muß das Ergebnis ständiger Bemühungen um einen zeitgerechten Jugendschutz sein. 9. Positive Maßnahmen
des Jugendschutzes
Wie wiederholt deutlich wurde, müssen alle gesetzlichen Jugendschutzbemühungen durch erzieherische Maßnahmen ergänzt werden. So verbindet sich der Jugendschutz mit dem weiten Gebiete der Volkserziehung. Jugendschutz greift aber auch oft in die Bereiche ein, die wir als Jugendpflege und Jugendförderung bezeichnen.
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Jugendschutz
Vor allem ist es wichtig, Ehe und Familie, die in erster Linie eine günstige leib-seelische Entwicklung des Kindes garantieren können, zu schützen und zu unterstützen. Zu den Hilfen für die Familie gehört die Stärkung der Familiengesinnung, die vielfache Beratung (Erziehungs-, Mütter-, Ehe- und Lebensberatung), die Besprechung von Erziehungsfragen in Elternversammlungen und Jugendschutzwochen. Auf religiösem Gebiet hat man an Einkehrtage, Exerzitien und Rüstzeiten zu denken. Erfreulicherweise bilden sich vielfach, gewachsen aus Jugendverbänden, Zweckgemeinschaften junger Ehepaare, die sich gegenseitig in Fragen der Lebensbewältigung zu stützen suchen. Hilfen für die Familie und damit für die Jugend sind auch die Kindertagesheime, die regelmäßig mit Mütter- und Elternberatung verbunden werden. Vorbereitung zu Vater- und Mutterschaft in geeigneten Elternbildungsstätten ist eines der wichtigsten Anliegen eines positiven Jugendschutzes. Darüber hinaus hat die Schule in heutiger Zeit ihren sozialpädagogischen Auftrag zu erfüllen, nicht nur, wenn Fragen der Schulreife oder der Auswahl für eine weiterführende Schule erörtert werden müssen. Schulkindergärten, Beratungslehrer, Schülerhilfen sind nur Stichworte, die kennzeichnen, daß dieser neue Auftrag, den eine sich wandelnde Gesellschaft stellt, erkannt worden ist. Vor allem ist an die positiven Maßnahmen im F r e i z e i t r a u m zu denken. Neben der Stützung der Jugendorganisationen, in die junge Menschen nach Möglichkeit eingegliedert werden sollten, damit sie zum Erlebnis der Gemeinschaft kommen, gilt es, für die nichtorganisierten Teile der Jugend Stätten und Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Heime der offenen Tür, in denen eine Masse einströmender Jugendlicher nach Möglichkeit aufgelöst und in tätige Gruppen verwandelt wird, leisten hier eine vorbildliche Arbeit. Oft gelingt es, sich bildende „Banden" aufzufangen und ihre Mitglieder in die Zwecke des Heimes, sogar als Aufsichtspersonen und Ordner, einzuspannen. Neben einer Freizeitpädagogik zeigt sich immer deutlicher die Notwendigkeit einer Erziehung zum rechten Gebrauch des durch den Jugendarbeitsschutz erweiterten Urlaubs. Auch hier müssen Gefährdungen, die durch sinnlose Auslandsreisen, durch Trampen oder wildes Camping drohen, aufgefangen werden. Es fehlt aber weithin noch an den nötigen Einrichtungen für die Erfüllung des allgemeinen Erholungsbedürfnisses der Jugend. Auf die kulturelle Jugendarbeit wurde bereits hingewiesen. Schund und Schmutz im Schrifttum können am besten bekämpft werden, wenn es gelingt, die Jugend an das Kulturgut des Volkes und der Welt heranzuführen. Der Einfluß minder-
wertiger Filme wird an Bedeutung verlieren, wenn es gelingt, in Filmklubs und Filmdiskussionsgruppen junge Menschen mit den Gesetzen des Films bekannt zu machen, so daß sie eine kritische Haltung zum Phänomen „Film" einzunehmen vermögen. Darüber hinaus versucht man, der Jugend in verstärktem Maße die Reservate und Tummelplätze zu erhalten, die für ihre gesunde, saubere Entwicklung nötig sind. Man kann von einer neuen „Spielplatz-Bewegung" sprechen, die sich vielfach nach skandinavischen Vorbildern in Großstädten durchzusetzen beginnt. Man denkt aber auch an die älteren Jugendlichen, denen man bestimmte Lokale, Tanzcafis, „Treffpunkte" für Tanz und geselliges Spiel reserviert. Gruppenpädagogiscne Arbeit leistet man in den „Schutzaufsichtsgruppen", in denen man besonders gefährdete Jugendliche, namentlich solche, die mit dem Gesetz bereits in Konflikt gekommen sind, zusammenfaßt und in Einzelgesprächen oder in Gruppenveranstaltungen aus ihrer Isolierung zu lösen sucht. Viele dieser Maßnahmen, die eine moderne Gesellschaft in noch viel reichlicherem Maße entwickeln muß, gehen weit über das eigentliche Anliegen des Jugendschutzes hinaus, müssen aber immer im Zusammenhang und in der Ergänzung der Jugendschutzbemühungen gesehen werden. Ziel des Jugendschutzes ist in diesem Sinne eine möglichste Vorverlegung der Verteidigungslinie gegen Abgleiten, Verwahrlosung und Kriminalität, d. h. eine im besten Sinne vorbeugende Tätigkeit. Allgemeines zum Jugendproblem A. B u s e m a n n : Pädagogische Jugendkunde. 1948. F. S c h n e i d e r : Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung. 1950. H. N ä f : Ursachen der Jugendkriminalität. 1953. A. B u s e m a n n : Krisenjahre im Ablauf der menschlichen Jugend. 1953. P. H. L e r s c h : Kindheit und Jugend als Stadien menschlicher Entwicklung. 1951. H. H e t z e r : Kind und Jugendlicher in der Entwicklung. 3. Aufl. 1954. H. S c h e l s k y : Arbeiterjugend gestern und heute. 1955. H. S c h e l s k y : Die skeptische Generation. 1957. Ε. H. E r i k s o n : Kindheit und Gesellschaft. 1957. K l u t h : Sozialprestige und sozialer Status. 1957. P. H e i n t z : Soziologie der Jugendkriminalität. 1957. W. M i d d e n d o r f s Kriminelle Jugend in Europa. 1953. W. M i d d e n d o r f f : Jugendkriminologie. 1957. W. R o e s s l e r : Jugend im Erziehungsfeld. 1957. C. B o n d y u . a . : Jugendliche stören die Ordnung. 1957. W u r z b a c h e r u. a.: Die junge Arbeiterin. 1958. Z u l l i g e r : Jugendliche und Halbstarke — ihre Psychologie und Führung. 1958. A. G e s e l l : Jugend, das Alter von 10 bis 16. 1958. Η. H. M u c h o w : Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend. „rde" 94. 4. Aufl. 1959. Η. H. M u c h o w : Flegeljahre. 1959. G. K a i s e r : Randalierende Jugend. 1959. G. D i e t r i c h : Kriminelle Jugendliche. 1960. Α. K. C o h e n : Kriminelle Jugend, rde 121. 1960. H. B e r t l e i n : Das Selbstverständnis der Jugend von heute. 1960.
Jugendschutz — Jugendstrafrecht Zum s t r a f r e c h t l i c h e n J u g e n d s c h u t z K. H ä n d e l : Strafrechtlicher Jugendschutz. 19B7. K. H ä n d e l : Jugendschutz im Entwurf I960 eines Strafgesetzbuches. RdJ 1961. Hefte 8, 9, 10. H. B l e i : Der Strafrechtsschutz von Familienordnung und Familienpflichten. FamRZ 1961, 137 ff. W. B e c k e r : Der Schutz der Jugend und der Familie in einem kommenden Strafrecht. UJ 1961, 194ff.
Z u m J u g e n d s c h u t z i n der Ö f f e n t l i c h k e i t W. B e c k e r : Kleines Handbuch des Jugendschutzes. 4. Aufl. 1964 (mit weiteren Literaturangaben). Kommentare zum Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit: Rothe — Becker — Zimmermann — Seidel (1963), Potrykus (1954), 0 . Wahl (1954), Harrer (1952), Tillmann und Göke (1952; Neuaufl. von Becker 1961). Zum l i t e r a r i s c h e n J u g e n d s c h u t z Kommentare zum GjS: Riedel (1953), Becker — Seidel (1953), Schilling (2. Aufl. 1955), Becker (1961). R. S c h i l l i n g : Literarischer Jugendschutz. 1960 (mit weiteren Literaturangaben).
Zur F r a g e der H e r a n f ü h r u n g der J u g e n d a n g u t e s Schrifttum, Film und Funk J. A n t z : Führung der Jugend zum Schrifttum. 1950. K. L a n g o s c h : Studien zur Jugendliteratur. 1951. R. B a m b e r g e r : Jugendlektüre. 1955. H. B e i n h a r d t : Schmutz- und Schundliteratur im Volksschulalter. 1957. S. M o h r h o f : Filmgespräche mit Jugendlichen. 1957. H. K r a n z : Zeitung, Funk und Film. 1957. O. H a s e l o f : Das Buch im Erleben unserer Jugendlichen. I960. U. B e e r : Geheime Miterzieher der Jugend. 1960. H. B a u e r : Krachende Colts und blutige Skalpe. 1960. M. W e w e l : Anregungen-Arbeitskreis für Jugendschrifttum. 1959. Vgl. auch „Jugendliteratur"-Monatshefte für Jugendschrifttum.
Zum Jugendarbeitsschutz Kommentare zum JArbSchG u. a. von: W. Becker, Herechel-Stephany, Brennberger-Bauernfeind, E. Eble, Thumser, Schulte-Langforth, Seipp — Potrykus — Becker.
Zu E i n z e l f r a g e n d e s J u g e n d s c h u t z e s Fr. S t ü c k r a t h und G. S c h o t t m a y e r : Psychologie des Filmerlebens in Kindheit und Jugend. 1955. E. W a s e m : Jugend und Filmerleben. 1957. E. W a s e m : Presse-, Rundfunk-, Fersehen-Reklame — pädagogisch gesehen. 1959. M. K e i l h a c k e r : Jugend und Spielfilm. 1953. M. K e i l h a c k e r : Kino und Jugend. 1960. W. E r h a r d t : Alkohol und Jugendkriminalität. Schriftenreihe zur Bekämpfung des Alkoholismus. 1961. L. S c h m i t t : Die forensische Bedeutung des Alkoholismus bei Halbwüchsigen. Schriftenreihe zur Bekämpfung des Alkoholismus. 1961. K. H e i n r i c h : Filmerleben — Filmwirkung — Filmerziehung — Einfluß des Films auf die Aggressivität bei Jugendlichen. 1961. P. H e i m a n n : Film, Funk, Fernsehen in der Lehrerbildung. Zeitschrift „Jugend, Film, Fernsehen" Heft 1 (1961). WALTER BECKER
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JUGENDSTRAFRECHT A. Der Begriff des Jugendstrafrechts Der Begriff des Jugendstrafrechts, wie er heute üblicherweise gebraucht wird, deutet auf seine Herkunft vom allgemeinen Strafrecht hin. Jugendstrafrecht wird regelmäßig als der Teil der Rechtsordnung verstanden, der die Behandlung von Straftaten junger Menschen zum Gegenstand hat. Bei diesem sehr weiten Begriff wird weder darauf abgestellt, daß es sich um eine Kriminalstraftat handelt, noch darauf, daß die Reaktion in der Verhängung einer Kriminalstrafe besteht. Damit greift das Jugendstrafrecht weit in das Gebiet der Jugendpflege, der Fürsorge und des Erziehungsrechts ein. Die Betrachtungsweise vom jugendpflegerischen, fürsorgerischen und erzieherischen Standpunkt aus, die Bewertung der das Strafgesetz berührenden Vorgänge unter rein jugendfördernden Gesichtspunkten und die Anwendung außerstrafrechtlicher Maßnahmen muß bei der Betrachtung vom Strafrecht her als Ausnahme erscheinen. Die Erfassung des Jugendstrafrechts als eines Sonderstrafrechts (Schaffstein) hindert die jugendmäßige Betrachtung und Behandlung unter vorwiegend außerstrafrechtlichen Gesichtspunkten. So wie heute das Jugendstrafrecht verstanden wird, ist die erste Frage: was hat der Jugendliche tatbestandsmäßig im Sinn des Strafgesetzbuchs getan, inwieweit unterliegt er dem Strafrecht, so als ob das Strafrecht, auch wenn über das Strafrecht hinausgehende Maßnahmen ausgesprochen werden, im Mittelpunkt steht. Würde dagegen der Ausgangspunkt vom Jugendpflegerecht her genommen, so würde am Anfang das Problem der Hilfs- und Erziehungsbedürftigkeit des jungen Menschen stehen. Der Verstoß gegen ein Strafgesetz würde dann zunächst ein Anstoß für eine Hilfsleistung der Allgemeinheit sein. Nur ausnahmsweise würde es, wo im Hinblick auf die Persönlichkeit und die Art und Schwere des Vorgangs um des Jugendlichen selbst willen oder um des berechtigten Strafempfindens der Rechtsgemeinschaft willen das Helfen allein unzulänglich oder unerträglich wäre, zum Kriminalstrafverfahren und zur Kriminalstrafe und damit überhaupt erst zur strafrechtlichen Betrachtung kommen. Die gesetzliche Aufgabe würde es dann sein, nicht mehr zu fragen, wie kommt der junge Mensch aus dem Bereich des Strafverfahrens und der Strafe heraus, sondern unter welchen Umständen genügt die jugendpflegerische Behandlung nicht mehr, so daß der junge Mensch dem Strafverfahren zum Zweck der strafrechtlichen Behandlung übergeben werden muß. Von diesem Standpunkt aus würde das meiste, was heute Gegenstand des Jugendstrafrechts ist, außerhalb desselben liegen. Das Jugendstrafrecht würde dann nur noch die
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Jugendstrafrecht
Krimmalbehandlung junger Verbrecher zum Gegenstand haben. Dieses Gebiet würde allerdings zutreffend als Sondergebiet des Strafrechts bezeichnet werden können. Die weite Begriffsfassung verhindert eine angemessene jugendpflegerische Behandlung insofern, als sie die strafrechtliche Betrachtungsweise an die Spitze stellt und damit das Verfahren zunächst in die Hand der Strafverfolgungsbehörden (Kriminalpolizei, Staatsanwalt, Jugendrichter als Glied der Strafgerichtsbarkeit) gibt und in diesem Verfahren notwendigerweise die kriminalstrafrechtlichen Gesichtspunkte unnötig stark in den Vordergrund treten. Jedenfalls für die Jugendlichen (14—18jährigen) wird ein grundsätzliches Umdenken erforderlich sein. Der formale Beginn des Jugendstrafverfahrens und der jugendstrafrechtlichen Behandlung würde die vormundschaftsgerichtliche Entscheidung der Überweisung des Jugendlichen in das Strafverfahren sein. Dieser Entscheidung würde bei den Heranwachsenden die Überweisung in das vormundschaftsgerichtliche Verfahren durch den Jugendrichter entsprechen. Eine solche Eingrenzung des Jugendstrafrechts würde ein wichtiger Beitrag zur Begrenzung des Strafrechts auf das echte Kriminalstrafrecht bedeuten. Zugleich würden viele junge Menschen davor bewahrt werden, in einer ihnen unverständlichen Prozeßform in einer unzulänglichen und ungeeigneten Weise behandelt zu werden. In der heutigen Begriffsfassung ergreift das Jugendstrafrecht sowohl eigentliche Fürsorge- und ErziehungsVorgänge als auch echte Kriminalität und Zwischenformen. Auch von dem hier eingenommenen Standpunkt aus soll das eigentliche Jugendstrafrecht nicht im Strafrecht aufgehen, sondern ein vorwiegend spezialpräventives Strafrecht sein, das vor allem vom Erziehungsgedanken getragen wird. Materielles Strafrecht, Strafverfahren und Strafvollzug müßten nach eigenen Gesetzen, losgelöst vom Erwachsenenverfahren und -Vollzug, geregelt werden, jedenfalls soweit es um die Behandlungsfragen geht. Das wesentlich andere des Jugendstrafrechts im Bewußtsein wach werden zu lassen, ist bei der weiten Ausdehnung des heutigen Jugendstrafrechts besonders dringlich. B. Die Entwicklung des modernen Jugendstrafrechts Die Entwicklung des modernen Jugendstrafrechts setzt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. In der Mitte dieses Jahrhunderts hatte sich der Vergeltungsgedanke als das tragende Fundament des Strafrechts durchgesetzt. Das jugendliche Alter wurde in dem damaligen Strafrecht nur als Schuldminderungsgrund anerkannt. Damit wurde das Strafrecht dem Konflikt des Jugendlichen mit dem Strafrecht weder sachlich noch persönlich gerecht. Die strafrechtliche Reaktion erwies sich überdies als
unzweckmäßig, wie die Rückfallziffem und die ständige Zunahme der Konfliktsfälle ergaben. Gerade gegenüber dem jungen Täter ergab sich die Notwendigkeit einer individualgerichteten Behandlung, für die die Tat nicht der wesentliche Reaktionsgegenstand, sondern ein Symptom der Persönlichkeitsentwicklung darstellte. Die Grundlagen für die Strafrechtsreform schuf die im Jahre 1889 geschaffene Internationale Kriminalistische Vereinigung, deren Gründer Franz von Liszt, Prins (Brüssel) und van Hamel (Amsterdam) waren. Das kriminalpolitische Programm der Reformbewegung (Persönlichkeitsstrafrecht, individualgerichtete Reaktion: unbestimmtes Urteil, Maßregeln der Besserung und Sicherung, Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen, Strafaussetzung zur Bewährung, auf den Täter abgestimmter Vollzug, Rehabilitation) bereitete vor allem einem neuen Jugendstrafrecht den Weg. Auf zahlreichen nationalen und internationalen Kongressen wurden seither vornehmlich die Jugendprobleme behandelt. Der Aufbruch der Kriminologie (seit Lombroso) und die Entwicklung der Jugendpsychologie und Pädagogik drängten zu einer strafrechtlichen Neubesinnung. Am Anfang der Jugendstrafrechtserneuerung steht die prozessuale Reform. Die materiellrechtliche Behandlung aus einem neuen Geist setzt die Loslösung aus der alten Organisation voraus. Wir sind in Deutschland leicht geneigt, zu sehr vom materiellen Strafrecht her zu denken. Das erste Jugendgericht wurde 1899 in Illinois (USA) gegründet. In einem Zeitraum von einem halben Jahrhundert folgten fast alle Kulturstaaten der Erde. In Deutschland begann die Entwicklung außerhalb der Gesetzgebung durch Verwaltungsmaßnahmen. Die Strafaussetzung zur Bewährung setzte 1895 mit der „bedingten Begnadigung" ein. Die ersten Jugendgerichte wurden 1908 unter der Geltung des bisherigen Straf- und Strafverfahrensrechts in Köln und Frankfurt a. M. im Wege der Geschäftsverteilung geschaffen, und zwar in Köln dadurch, daß der Vormundschaftsrichter die Zuständigkeit für Strafsachen Jugendlicher erhielt, und in Frankfurt dadurch, daß der Strafrichter, der über Jugendliche urteilte, Vormundschaftsrichter für die straffällig gewordenen Jugendlichen wurde. Die Gerichtshilfe verdankte persönlicher Initiative eines Richters (Bozi-Bielefeld) ihren Ursprung. Der selbständige Jugendstrafvollzug setzte in Deutschland mit der vom Preußischen Ministerium des Innern auf Anregung von Freudenthal durchgeführten Umwandlung des Gefängnisses in Wittlich (Mosel) in ein Jugendgefängnis ein. So drängte die vorgesetzliche Reform auf eine neue Gesetzgebung. Grundlegend für das Jugendstrafrecht in Deutschland sind das Jugendwohlfahrtsgesetz
Jugendstrafrecht (JWG) vom 9. Juli 1922 und das Jugendgerichtsgesetz (JGG) vom 16. Februar 1923. Das JGG kann nicht ohne das JWG richtig verstanden werden. Das JWG gibt in § 1 Abs. 1 jedem deutschen Kind (Minderjährigen) ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit. Dieser Erziehungsanspruch (vgl. auch Art. 6 GG) betrifft auch das den jungen Menschen berührende Strafrecht. Auch die Neufassungen des Jugendgerichtsgesetzes (RJGG v. 6. November 1943 und JGG vom 4. August 1953) ändern an dem Ausgangspunkt nichts. Sie bedeuten eine Weiterführung des im Jahre 1923 eingeschlagenen Weges. Trotz mancher Fortschritte können die neuen Gesetze jedoch nicht in jeder Hinsicht als eine die Entwicklung schon abschließende Leistung angesehen werden. Auf Einzelheiten wird noch einzugehen sein. Die klare Durchsichtigkeit des ersten JGG wird durch die Kompliziertheit der späteren Gesetze, die sich auch durch einen immer größer werdenden Umfang auszeichnen, gemindert. In Österreich gilt das im Jahre 1961 erlassene „Bundesgesetz über die Behandlung junger Rechtsbrecher (JGG)", durch welches das gleichnamige Gesetz von 1928 erneuert wurde. Das materielle Jugendstrafrecht der Schweiz ist im Schweiz. StGB, vom 21. Dezember 1937 geregelt, während das formelle Strafrecht kantonaler Regelung überlassen geblieben ist. C. Grundlagen des Jugendstrafrechts 1. Das Jugendstrafrecht
als Teil des
Jugendrechts
Das Jugendstrafrecht ist Teil des Jugendrechts. Der junge Mensch gehört einer bestimmten Gruppe der Gemeinschaft an, die durch einen altersmäßig bedingten menschlichen und sozialen Reifungsprozeß bestimmt ist. Ist auch die menschliche und soziale Entwicklung während des ganzen Lebens nicht abgeschlossen, so kennzeichnet sich der Weg des jungen Menschen ganz allgemein dadurch, daß er im Wachstum seiner seelischen, geistigen und körperlichen Kräfte unter Bewältigung der für sein Alter typischen Entwicklungsschwierigkeiten in eine sittliche und rechtliche Ordnung hineinwachsen muß. Auf diesem Weg bedarf er der Hilfe und Förderung der erwachsenen Glieder der Rechtsgemeinschaft. Der junge Mensch beurteilt und erlebt sein Handeln, Denken und Fühlen in einer eigenen Beurteilung, die sich von der des Erwachsenen nicht selten wesentlich unterscheidet. Die Bewertung jugendlichen Handelns muß daher aus ihrer Vorstellungswelt unter Berücksichtigung des Ziels der Eingliederung in den Sozialbereich des Erwachsenen erfolgen. Hier ergeben sich Spannungen, die sowohl auf der Unkenntnis des Jugendlichen gegenüber der Erwachsenenwelt und der auf sie ausgerichteten Ordnung als auch
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auf dem Mißverständnis, zuweilen Unverständnis der Erwachsenen gegenüber der Vorstellungswelt des Jugendlichen beruhen. Zu der Bewältigung dieser Spannung soll das Jugendrecht beitragen, das die Ordnung der Jugend innerhalb der Rechtsgemeinschaft in bezug auf die Familie, die Erziehung, die Schule, den Beruf, die Gesundheit und die Teilhabe an den gesellschaftlichen Lebensformen zum Gegenstand hat. Das Jugendrecht dient in seiner Gesamtheit dazu, dem jungen Menschen den Weg in den vollen Sozialbereich zu eröffnen. Wo auch immer Erwachsene Jugendlichen in der Form des Rechtes begegnen, steht diese Begegnung immer unter dem Gedanken der Förderung und Weiterführung auf dieses Ziel hin. Auch das Jugendstrafrecht kann nicht außerhalb dieser Zielrichtung gesehen werden. Der in der geschichtlichen Entwicklung bereits angeführte Zusammenhang von JGG und JWG ist nicht nur ein zufällig-zeitlicher, sondern ein wesenhafter. Das erfordert für das Jugendstrafrecht ein Umdenken. Von hier aus gesehen ergibt sich die Forderung einer weiteren Ablösung des Jugendstrafrechts vom allgemeinen Strafrecht, eine weitgehende Loslösung der Jugendgerichtsbarkeit von der Strafgerichtsbarkeit, ein selbständiges Durchdenken des Jugendstrafvollzuges, der heute noch in viel zu starkem Maß von Vorstellungen des Erwachsenenvollzuges beherrscht wird. Die sich hier ergebenden Fragen reichen tief in das Organisatorische und Bauliche hinein. Es sei etwa an die Frage der Eigenständigkeit der Vormundschafts- und Jugendgerichtsbarkeit mit einem eignen Sitz (vgl. Italien) oder des Baus von Jugendanstalten erinnert. 2. Das Jugendstrafrecht
als
Persönlichlceitsstrafrecht
Das Jugendstrafrecht ist Persönlichkeitsstrafrecht. Persönlichkeitsstrafrecht ( = Täterstrafrecht im Sinn der älteren Bezeichnung) bedeutet, daß die Tat nicht vorwiegend vom äußeren Geschehen, sondern von der in der Tat zum Ausdruck gekommenen Täterhaltung und Tätereinstellung zu werten und zu beantworten ist. Daher genügt nicht die Tataufklärung, vielmehr wird eine eingehende Persönlichkeitserforschung gefordert. Die Reaktion auf die Tat muß der Täterpersönlichkeit entsprechen. Sie muß individualgerichtet sein. 3. Das Jugendstrafrecht
als
Erziehungsrecht
Das Jugendstrafrecht ist Erziehungsrecht. Es geht darum, den jungen Menschen, der in dem Konflikt mit dem Strafgesetz offenbart hat, daß er mit der sittlichen und sozialen Ordnung nicht fertig wird, persönlich reif zu machen und ihn zu befähigen, den Anforderungen der Gemeinschaftsordnung zu entsprechen. Ein unentbehrliches Mittel der Hinführung zu diesem Ziel stellt die Erziehung dar. Erziehung ist Formung und
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Jugendstrafrecht
Führung eines anderen Menschen in der Entfaltung seiner sittlichen, geistigen und körperlichen Fähigkeiten zur Selbstfindung innerhalb des menschlichen Zusammenlebens. Erziehung bedeutet ein Fähigmachen zur Selbstbildung. Der die Erziehung kennzeichnende Weg ist das sich auf eine gewisse Dauer erstreckende Wirken im menschlichen Bezug. In diesem Sinn kann Erziehung als Dialog verstanden werden. Die in der Kriminalstrafe erfolgende Erziehung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht von der Strafe gelegentlich der Erziehung ausgeht, sondern Erziehung durch Strafe ist. Der Zusammenhang von Kriminalstrafe und Erziehung führt immer wieder zu der Gefahr, daß der Erziehungsgedanke verkürzt wird. Das ist um so mehr der Fall, je mehr Jugend- und Strafgerichtsbarkeit personell und organisatorisch miteinander verknüpft sind. Die Verhaftung der Kriminalstrafe mit dem Vergeltungsgedanken führt zu einer zu starken Wertung des Tatgeschehens. Immer wieder ergibt sich die Gefahr einer falschen Autoritätsvorstellung. Wenn im Jugendstrafrecht wirklich erzieherisch gehandelt werden soll, kann das nur unter Anknüpfung an die Pädagogik geschehen. Die Erziehung im Jugendstrafrecht mag zwar vor eigene Sachprobleme stellen, sie bleibt aber immer Teil der allgemeinen Erziehung. Jugendstrafrechtswissenschait kann sich von der pädagogischen Wissenschaft ebensowenig trennen wie die Jugendstrafrechtspraxis von der allgemeinen Erziehungspraxis. Erst von diesem Boden aus ist es möglich, die Straferziehung als Sondergebiet der allgemeinen Erziehung anzusehen wie etwa die Erziehung verwahrloster oder geschädigter junger Menschen. Gibt es keinen selbständigen juristischen Erziehungsbegriff, so führt das zu der Forderung, auch innerhalb des Jugendstrafrechts pädagogisch richtige Vorstellungen zu verwenden. Kann Erziehung nur durch menschlichen Bezug von einer längeren Dauer vor sich gehen, so ist die Auffassung, daß der Jugendrichter Erzieher sei, unrichtig. Der Jugendrichter kann nur — und das ist sehr viel — den Weg zur Erziehung eröffnen. Dazu gehört auch das menschliche Verstehen des Jugendlichen in der Hauptverhandlung. Dazu gehört, daß der Jugendrichter dem jungen Menschen den Weg begreiflich macht, den das Urteil ihm auferlegt. Schließlich erfordert das, daß der Jugendrichter das J a des jungen Menschen zu dem Urteil herbeiführt, nicht im Wege des Zwanges, sondern der gewonnenen Erkenntnis. Aber alles das, so wichtig es ist, macht den Richter noch nicht zum Erzieher. Diese Erkenntnis ist wichtig, um den Richter vor einer falschen Haltung zu bewahren, auch gegenüber dem Vollzug und dem Bewährungshelfer. Jedoch ergibt sich daraus auf der anderen Seite die Notwendigkeit eines echten pädagogischen Verständnisses.
Ist Erziehung ein Verhältnis, das auf einer zwischenmenschlichen Beziehung von gewisser Dauer beruht, so ergibt sich, daß auch im Jugendstrafrecht der Begriff der Erziehung zu weit ausgedehnt wird. Setzt man den Begriff bereits dort ein, wo ein echter menschlicher Bezug nicht vorliegt, gefährdet man die Erziehungsidee, da man ein Erziehungsversagen dort feststellt, wo überhaupt keine wirkliche Erziehung stattfindet. Bevor man die Idee des Erziehungsvollzugs als wirkungslos bezeichnet, sollte man erst prüfen, ob der Vollzug den pädagogischen Voraussetzungen menschlich und sachlich entspricht. Zu Unrecht wird auch im JGG das Wort Erziehungsmaßregel gebraucht, wo man nur von Maßnahmen sprechen sollte, die die außerhalb des Jugendstrafrechts stattfindende Erziehung unterstützen (unterstützende Erziehungsmaßregeln). 4. Das Jugendstrafrecht
als
Fürsorgerecht
Das Jugendstrafrecht ist Fürsorgerecht. So bedeutsam die Förderung durch Erziehung auch sein mag, so bedarf sie doch der Ergänzung durch helfende soziale Maßnahmen. Hier ist an berufsfördernde oder die Umwelt beeinflussende Maßnahmen zu denken. Soweit sie mit Belastungen Dritter (der Eltern, der Arbeitgeber) verbunden sind, kann das Gericht nur empfehlend und beratend wirken. Der fürsorgerische Gedanke spielt vor allem bei der Entlassung aus der Jugendstrafanstalt oder aus einem Erziehungsheim oder bei der Durchführung der Bewährungshilfe eine Rolle. 5. Das
Subsidiaritätsprinzip
Das Subsidiaritätsprinzip hat im Jugendstrafrecht eine mehrfache Bedeutung. Der Grundsatz besagt, daß überall dort, wo der grundsätzlich weniger belastende Eingriff ausreicht, dieser zur Anwendung zu bringen ist. Er führt zu folgenden Hauptforderungen: Kriminalstrafe nur dort, wo Erziehungs- und Fürsorgemaßnahmen nicht ausreichen (Vorrang des erzieherischen Weges), Kriminalstrafverfahren nur dort, wo das vormundschaftliche und jugendpflegerische Verfahren nicht ausreicht. Der Subsidiaritätsgedanke hat sich aber auch innerhalb des Erziehungsvorganges auszuwirken. Art. 6 Abs. 2, 3 GG, § 1 J W G räumen den natürlichen Erziehungsberechtigten den Vorrang in der Erziehung ein. Die jugendstrafrechtliche Erziehungseinwirkung ist demnach Ersatzerziehung, die an Stelle der Erziehung durch den versagenden Erziehungsberechtigten tritt, wo es not tut. Demnach sind die Erziehungsberechtigten insoweit mitheranzuziehen, als es nach der Sachlage möglich ist. Insofern hatte die in § 7 J G G 1923 vorgesehene Überweisung in die Zucht der Erziehungsberechtigten und der Schule durchaus ihre grand-
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Jugendstrafre cht sätzliche Bedeutung. Das Anhören der Erziehungsberechtigten im Jugendverfahren hat von hier aus einen mehr als nur formalen Sinn. Auch im Jugendvollzug sollte, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, nicht der völlige Ausschluß der Erziehungsberechtigten stattfinden. D. Die Geltung allgemeinetralrechtlicher Regeln Die Geltung allgemein strafrechtlicher Regeln für das Jugendstrafrecht hängt davon ab, ob sie objektiver Natur sind oder ob sie unmittelbar die Persönlichkeit berühren. So gelten aus dem materiellen Strafrecht die gesetzlichen Tatbestände und die sonstigen das Unrecht bestimmenden Normen, die Regeln über Deliktseinteilung, die Deliktsformen (Versuch, Teilnahme, Konkurrenzformen) und die im materiellen Recht geregelten Strafverfolgungsvoraussetzungen (Strafantrag, Verjährung), während die Schuldfähigkeit und die strafrechtliche Reaktion (Strafe, Maßnahmen, Behandlung der Konkurrenzen: Einheitssystem) der besonderen jugendstrafrechtlichen Regelung unterliegen. Aber auch soweit das materielle Erwachsenenstrafrecht gilt, ist der G r u n d s a t z der j u g e n d g e m ä ß e n Anwendung zu beachten. Die Tatbestände des allgemeinen Strafrechts gehen von der Sozialverantwortlichkeit des erwachsenen Gliedes der Rechtsgemeinschaft aus. Ganz deutlich ist das bei denjenigen Tatbeständen, die wie die Amtsdelikte oder Wirtschaftsdelikte beim Täter eine bestimmte Lebensstellung mit einem gewissen Maß an Ausbildung, Wissen, Ausreifung und Festigkeit verlangen. Sie passen nicht auf den Jugendlichen. Nicht selten wird die Tat des Jugendlichen nur eine atypische Verwirklichung des Tatbestandes darstellen, so, wenn ein Jugendlicher der unteren Altersstufe mit einem annähernd 14 jährigen Kind unzüchtige Handlungen begeht, oder bei unzüchtigen Handlungen zwischen Jungen. In derartigen Fällen wird zu prüfen sein, ob der Tatbestand seinem Sinn und Zweck gemäß überhaupt zutrifft oder ob nicht wenigstens eine Kriminalstraftat ausscheidet und lediglich ein zwar tatbestandsmäßiger, jedoch nur erzieherisch zu behandelnder Vorgang vorliegt. Ein und dasselbe Vorgehen kann bei Jugendlichen etwas völlig anderes bedeuten als bei Erwachsenen. Deswegen bedarf es auch großer Vorsicht bei der Übertragung von Grundsätzen und Auffassungen, die die Strafrechtspflege bei Erwachsenen ausgebildet hat, auf Jugendliche. Die Verfahrensvorschriften des allgemeinen Strafrechts bedürfen einer Umwandlung im Jugendgerichtsverfahren insoweit, als es einmal darauf ankommt, in der Jugendpsychologie und Jugendkunde erfahrene Organe heranzuziehen, sodann darauf, ein Verfahren zu gewährleisten, das für den Jugendlichen verständlich ist und
geeignet, ihn vor den Gefahren zu schützen, die mit einem Strafverfahren verbunden sind. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer besonderen Jugendgerichtsverfassung und nach einem jugendgemäßen Verfahren. Am stärksten geht es um den Menschen im Vollzug, sei es mit oder ohne Freiheitsentzug, sei es in der Form der Strafe oder der Erziehungsmaßregel. Hier bedarf es einer völligen Verselbständigung gegenüber dem Erwachsenenvollzug. Das gilt sowohl nach der ideellen als auch nach der organisatorischen Seite. Hier muß noch vieles geschehen. E. Dag geltende materielle Jugendstrafrecht in der BRD 1. Die
Altersgruppen
Das JGG1953 kennt drei Altersgruppen junger Menschen: a) Die K i n d e r . Kinder sind Minderjährige bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Sie sind absolut strafunmündig. Das Strafgesetzbuch findet auf sie keine Anwendung. Bei Erziehungsbedürftigkeit unterliegen sie vormundschaftsgerichtlicher Behandlung. b) Die J u g e n d l i c h e n . Jugendliche sind Minderjährige zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Sie unterliegen ausnahmslos dem J G G . Die Jugendliche-Schwerverbrecher-Verordnung vom 4. Oktober 1939 und § 20 JGG 1943 sahen die ausnahmsweise Anwendungen des Erwachsenenstrafrechts (einschl. der Todesstrafe 1) gegenüber Jugendlichen vor, wenn sie ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung nach einem über achtzehn Jahre alten Täter entsprachen oder wenn sie auf Grund der Gesamtwür digung ihrer Persönlichkeit und der Tat als volksgefährdende, abartige Schwerverbrecher anzusehen waren. Schon die Schwierigkeit der Feststellung der Voraussetzungen und der keineswegs seltene überraschende Entwicklungswandel bei jungen Menschen haben zu Recht zur Beseitigung dieser Bestimmungen geführt. In der Ostzone kann bei Mord, Vergewaltigung, Sabotage und anderen schweren politischen Straftaten sowie bei wiederholter Begehung von schweren Straftaten das allgemeine Strafrecht, ausgenommen die Todesstrafe, Anwendung finden (§ 24 JGG der Ostzone), wobei bei längeren Freiheitsstrafen als von einem Jahr jährlich eine Überprüfung der Entlassung stattfindet. Der Jugendliche ist nach § 3 JGG relativ strafmündig, d. h. es muß seine Schuldfähigkeit nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung festgestellt werden. Der Täter muß zur Zeit der Tat reif gewesen sein, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Während nach dem StGB 1871 nur auf die Einsichtsfähigkeit abgestellt wurde, forderte
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Jugendstrafrecht
schon das JGG 1923 sowohl die Einsichtsfähigkeit als auch die Willensbildungsfähigkeit. Damit war eine wesentliche Erkenntnis der Jugendpsychologie in das Jugendstrairecht übernommen. Neben die intellektuelle Fähigkeit ist die emotionale Beherrschungsfähigkeit getreten. c) Die H e r a n w a c h s e n d e n . Heranwachsende sind Minderjährige von 18—21 Jahren. Sie sind absolut strafmündig. § 3 JGG gilt für sie nicht (§ 105 JGG). Auf sie findet entweder das materielle Jugendstrafrecht oder das allgemeine Strafrecht Anwendung. Jugendstrafrecht ist in zwei Fällen anzuwenden: 1. wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß der Heranwachsende zur Zeit der Tat nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichsteht, oder 2. wenn es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt (§ 105 JGG). Die Frage, ob ein Heranwachsender einem Jugendlichen gleichzustellen ist, ist außerordentlich schwierig zu beantworten. Es bedarf einer sehr eingehenden psychologischen, psychiatrischen, soziologischen und pädagogischen Untersuchung. Die Praxis wendet ganz überwiegend das allgemeine Strafrecht an. Von 85855 verurteilten Heranwachsenden im Jahre 1962 wurden nur 28355 nach Jugendstrafrecht verurteilt. Allerdings täuschen die Zahlen insofern, als bei der leichten Kriminalität, insbesondere den Straßenverkehrsdelikten, überwiegend das allgemeine Strafrecht angewandt wird, während bei den Sittlichkeitsdelikten und der schwereren Kriminalität § 105 JGG weitgehend Anwendung findet. Um den Schwierigkeiten der Prüfung aus dem Weg zu gehen, ist der Vorschlag gemacht worden, die Heranwachsenden grundsätzlich dem JGG zu unterstellen (mit der Möglichkeit der Anwendung des allgemeinen Strafrechts bei fertigen Schwerverbrechern im Falle schwerster Straftaten). Diese durchaus vertretbare weitergehende Einbeziehung der Heranwachsenden in das Jugendstrafrecht würde freilich voraussetzen, daß die Jugendlichen, wie es oben vorgeschlagen worden ist, nur noch ausnahmsweise dem Jugendstrafrecht unterstellt werden. 2. Die Maßnahmen gegen Jugendliche im allgemeinen
a) Der ä u ß e r e A u f b a u . Das JGG unterscheidet folgende Gruppen von Maßnahmen: Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel, Jugendstrafe und Maßregeln der Sicherung und Besserung sowie Nebenstrafen und Nebenfolgen. Die beiden letzten Gruppen von Maßnahmen sind aus dem Erwachsenenrecht übernommen. Gegen Jugendliche sind nur zwei Maßregeln der Sicherung und Besserung zulässig: Unterbringung in einer Heiloder Pflegeanstalt und Entziehung der Fahr-
erlaubnis (§ 7). Von den Nebenstrafen und Nebenfolgen des allgemeinen Strafrechts sind die Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte, die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und die Zulässigkeit der Polizeiaufsicht ausgeschlossen. Die übrigen der genannten Maßnahmen sind typisch jugendstrafrechtlich. Im Gegensatz zu der jetzigen (seit 1943 gegebenen) Regelung kannte das JGG von 1923 nur zwei Arten von Maßnahmen: Erziehungsmaßregeln und Strafe. Als Zwischenform kennt das JGG die Zuchtmittel. Im Sprachgebrauch der deutschen Gesetze kommt der Begriff Zuchtmittel bereits in § 1631 Abs. 2 BGB (a. F. — 1959 ersetzt durch Maßregeln) vor. Danach konnte das Vormundschaftsgericht den Vater auf seinen Antrag durch Anwendung geeigneter Zuchtmittel unterstützen. In § 1631 Abs. 2 BGB bedeutet Zuchtmittel eine die Erziehung unterstützende Maßregel. Es liegt nahe, die Zuchtmittel des JGG in gleicher Weise zu verstehen und sie mit den Erziehungsmaßregeln zu verbinden, die auch ihrerseits neben eigentlichen Erziehungsvorgängen nur die Erziehung unterstützende Maßnahmen umfassen. Die Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel des JGG haben überdies die gleichen Rechtswirkungen, insofern sie nicht als Strafen gelten und im Sinne der Rückfallbestimmungen nicht rückfallbegründend sind. Ob allein der Umstand, daß die Maßnahmen gedanklich eine andere, mehr repressive Richtung haben, die gesetzliche Zweiteilung rechtfertigt, erscheint zweifelhaft, da es nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist, zu theoretisieren. b) Die r e c h t l i c h e U n t e r s c h e i d u n g der j u g e n d g e r i c h t l i c h e n M a ß n a h m e n . Erziehungsmaßregeln dienen ausschließlich der Gestaltung zur Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit und der Hinführung zur Lebenstüchtigkeit. Der Betroffene soll als Eigenpersönlichkeit in die Rechtsgemeinschaft eingeordnet werden. Die Straftat ist zunächst der Anlaß zum Tätigwerden. Ihr kommt eine die Persönlichkeit kennzeichnende Bedeutung zu. Da jede Fremderziehung auf Selbsterziehung ausgerichtet ist, somit die Erziehungsmaßnahme vom Betroffenen mitvollzogen werden muß, kommt es auch darauf an, die Maßnahme ihm verständlich und begreiflich zu machen. Damit wiederum schiebt sich auch hier die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit ein. Es ist unerzieherisch, einen unerheblichen Vorgang zum Anlaß einer schwerwiegenden Erziehungsmaßregel zu machen. Eine vorhandene Verwahrlosung kann nicht ohne hinreichenden strafrechtlichen Grund strafgerichtlich zur Fürsorgeerziehung führen. Hier ist es Aufgabe des Vormundschaftsrichters, die notwendige Anordnung zu treffen. Strafe bedeutet die autoritativ auferlegte Einbuße der Rechtsstellung des Betroffenen unter Erhebung des sozialethischen Vorwurfs wegen
Jugendstrafrecht eines schuldhaft begangenen, die ethische Grundordnung betreffenden Unrechts, verbunden mit dem Anruf zur Rechtsbejahung. Sie hat ethischen und personalen Charakter, überdies einen Übelsund Zwangscharakter. Bei der Strafe geht es um die Unantastbarkeit der Rechtsordnung und ihre Anerkennung. Im Gegensatz zur Erziehungsmaßregel rückt hier die objektive Wertordnung stärker in den Vordergrund. Sie hat eine vergeltende Tendenz. Der personale Charakter der Maßnahme steht bei der Strafe anders als bei der Brziehungsmaßregel im Rahmen eines objektiv (außerhalb der Täterpersönlichkeit) geprägten Vorgangs. Durch die Erhebung des sozialethischen Vorwurfs mit der Folge rechtlicher und gesellschaftlicher Minderstellung wird von der Sache her von vornherein die personal-bildende Kraft belastet. Gerade das fehlt bei der Erziehungsmaßregel. Das Zuchtmittel, das das JGG zwischen Erziehungsmaßregeln und Strafe stellt, hat, wie die Strafe, einen vergeltenden Charakter. Der Täter soll lernen, daß die Aktion eine Reaktion nach sich zieht. Er soll hier um der Tat willen eine Belastung auf sich nehmen. Jedoch fehlt dem Zuchtmittel das Pathos des sozialethischen Vorwurfs. Es hat nicht die rechtliche und soziale Minderstellung zur Folge. In erzieherischer Hinsicht bedeutet das Zuchtmittel eine Hilfe für die Erziehung. Es beseitigt — selbst in seiner schärfsten Form — schon wegen der zeitlichen Kürze (im Fall der längsten Dauer kaum die Ferienzeit übersteigend) nicht den bestehenden Erziehungsvorgang, vielmehr bleibt der Betroffene in den bisherigen Erziehungsverhältnissen. Legt man hierauf das eigentliche Schwergewicht des Zuchtmittels, so offenbart sich die stärkere Beziehung zur Erziehungsmaßregel als zur Strafe. c) D a s V e r h ä l t n i s der M a ß n a h m e n zueinander: aa) Die Maßnahmen des JGG setzen voraus, daß der Jugendliche verantwortlich ist. Daher ist nach Feststellung des Verstoßes gegen das Strafgesetz zunächst die Verantwortlichkeit zu prüfen. Die Verantwortung des Jugendlichen kann aus zwei Gründen entfallen. Wie auch im allgemeinen Strafrecht kann der Jugendliche (und hier auch Heranwachsende) wegen Bewußtseinsstörung, Geisteskrankheit und Geistesschwäche (§ 51 StGB) oder wegen Taubstummheit (§ 55 StGB) schuldunfähig sein. Besonderheiten gelten insoweit nicht. Wie im allgemeinen Strafrecht kann es auch beim jungen Täter zur Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt kommen. Die Schuldunfähigkeit nach § 3 JGG ist dagegen ein sich aus dem jugendlichen Alter ergebender Vorgang. Liegt dieser Fall vor, so kommen alle Maßnahmen zur Anwendung, die der Vormundschaftsrichter anwenden kann. Die Schuldunfähigkeit des Jugendlichen kann sich aus
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dem allgemeinen und Jugendstrafrecht ergeben. Der Grundsatz der Maßnahmenökonomie führt zur Prüfung der zu ergreifenden Maßnahmen vom leichten zum schweren Eingriff. In beiden Fällen der Schuldunfähigkeit übernimmt der Richter des Jugendgerichtsverfahrens eine Aufgabe, die ihm als Strafrichter an sich nicht zukommt, stellvertretend. Es fällt ihm eine Personensorgeaufgabe zu, zu der von der Aufgabe her der Vormundschaftsrichter berufen wäre. bb) Unter den typischen jugendstrafrechtlichen Maßnahmen haben die Erziehungsmaßregeln den Vorrang. Dieser aus dem JGG 1923 übernommene Grundsatz ist in § δ Abs. 2 JGG 1953 aufgenommen, freilich durch die Schaffung der Zwischengruppe Zuchtmittel zwischen Erziehungsmaßregeln und Strafe nicht mehr ganz sinnvoll. Die Rangfolge ErziehungsmaßregelZuchtmittel-Strafe läßt sich deswegen nicht aufrechterhalten, weil die Erziehungsmaßregeln mit der Fürsorgeerziehung viel weiter in die Sphäre des Jugendlichen und der Eltern eingreifen als die Zuchtmittel. Eine sachgerechte Rangfolge läßt sich nur dann erzielen, wenn die Zuchtmittel in die Erziehungsmaßregeln eingebaut werden. Die Prüfung hat dann in der Weise vor sich zu gehen, daß zunächst die Anwendung der die (ohnehin in Gang befindliche) Erziehung unterstützenden Maßnahmen in der Reihenfolge der Tragweite des Eingriffs (ohne — mit Freiheitsentzug) und dann erst die die Erziehung ersetzenden Erziehungsmaßregeln (Fürsorgeerziehung) erwogen werden. 3. Die einzelnen
Maßnahmen
a) Als E r z i e h u n g s m a ß r e g e l n kennt das JGG: die Erteilung von Weisungen, die Erziehungsbeistandschaft (früher Schutzaufsicht) und die Fürsorgeerziehung. Mit den beiden letztgenannten Maßnahmen wird die unmittelbare Verknüpfung mit dem JWG (Neufassung v. 11. 8.1961 — BGBl. I, 1205 —) hergestellt. Die Voraussetzungen, die Ausübung und die Ausführung sowie die Beendigung beider Maßregeln richten sich nach ausdrücklicher Bestimmung (§ 12 JGG) nach den Vorschriften über Jugendwohlfahrt. Aus diesem Zusammenhang folgt, daß auch die Weisungen (im Gegensatz zu der Auflage bei der Strafaussetzung zur Bewährung) nur vom Jugendrecht und nicht vom Strafrecht her verstanden und begründet werden können. aa) W e i s u n g e n sind Verhaltungsanordnungen, die die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Sie können ohne selbständigen Charakter sein, so wenn sie nur etwas zum Ausdruck bringen, was der Jugendliche ohnehin tun soll („sorgfältig arbeiten", „den Anordnungen des Lehrherrn folgen"). In diesem Fall handelt
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Jugendstrafrecht
es sich um bloße Führungsanordnungen. Sie können aber auch neue Verpflichtungen begründen. Derartige Anordnungen dürfen aber nicht in die Rechte Dritter eingreifen. Hier ist vor allem an das verfassungsmäßig garantierte Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2, 3 GG) zu denken. Soll das Erziehungsrecht als solches begrenzt werden, so kommen bei den dem Erziehungsrecht zugehörigen Weisungen nur die Bestimmungen des Bürgerlichen Rechts und des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Betracht (Beschränkung oder Entziehung der elterlichen Gewalt). Die Weisungen als solche lassen das Erziehungsrecht unangetastet. Sie haben nur einen die bereits in Gang befindliche Erziehung unterstützenden oder überwachenden Charakter. Diese Grundsätze sind sowohl bei den in § 10 Abs. 1 JGG genannten Weisungen (Aufenthaltsortbestimmung, Familien- oder Heimaufenthalt, Annahme einer Lehr- oder Arbeitsstelle, Arbeitsauflage, Verkehrsregelung, Alkohol- und Rauchverbot, Teilnahme am Verkehrsunterricht) sowie bei den vom Richter frei auszuwählenden Weisungen zu beachten. Da das Erziehungsrecht des derzeit Erziehenden bestehen bleibt und auch tatsächlich von ihm weiterausgeübt wird, können Gebote und Verbote nur in der von dem Erziehungsberechtigten eingeschlagenen Richtung liegen. Anordnungen gegen den Willen der Eltern (etwa Familien- und Heimaufenthalt, Aufgabe einer Arbeitsstelle in einem Hotel bei einem nach § 175 StGB schuldigen Jugendlichen) sind zwar zulässig, können aber nur im Sinne der Unterstützung und Förderung der vom Erziehungsberechtigten durchgeführten Erziehung verstanden werden. Die Weisungen bedeuten nicht Übernahme der Erziehung durch den Richter oder einen anderen. Daraus ergibt sich, daß Weisungen, sofern sie von erheblicher Bedeutung sind, mit dem Erziehungsberechtigten besprochen werden sollten. Die ausdrückliche Zustimmung fordert das Gesetz für die heilerzieherische Behandlung (§ 10 Abs. 2 JGG). Hier wird auch, falls der Jugendliche das 16. Lebensjahr vollendet hat, dessen Einverständnis erfordert. Dadurch, daß das Gesetz dem Richter nur Beispiele für Weisungen gibt, ist ihm ein weites Feld kriminalpolitischer Betätigung gegeben. Grenzen ergeben sich aus dem Verfassungsrecht und dem allgemeinen Gesetz sowie den Gesichtspunkten der Erforderlichkeit, Möglichkeit, Bestimmtheit, Klarheit und Überwachbarkeit. Weisungen können nicht zwangsweise verwirklicht werden. Kommt der Jugendliche ihnen schuldhaft nicht nach, so kann Jugendarrest über ihn verhängt werden (§ 11 Abs. 2 JGG). bb) E r z i e h u n g s b e i s t a n d s c h a f t (bisher Schutzaufsicht) dient der Verhütung der leiblichen, geistigen und seelischen Gefährdung
des Minderjährigen und der Beseitigung der bereits eingetretenen Schädigung (§ 56 JWG). Sie besteht in der Unterstützung der Personensorgeberechtigten bei der Erziehung und in der Beratung und Unterstützung des Minderjährigen, u. a. auch bezüglich der Verwendung des Arbeitsverdienstes. Während bei der Schutzaufsicht Schutz und Überwachung des Minderjährigen im Vordergrund standen, geht es bei der Erziehungsbeistandschaft um Erziehungshilfe, bei der der pädagogische Gesichtspunkt maßgeblich ist. Für die Wirksamkeit des Erziehungsbeistandes kommt es auf seine Persönlichkeit an. Er hat das Recht auf freien Zutritt zu dem Minderjährigen und einen Anspruch auf Auskunft der Personensorgeberechtigten, der Arbeitgeber, der Lehrer und der Personen, bei denen sich der Minderjährige nicht nur vorübergehend aufhält. (§ 59 JWG). Die Fachhilfe erhält der Erziehungsbeistand durch das Jugendamt (§ 60 JWG). Die Erziehungsbeistandschaft endet mit der Volljährigkeit (§ 61 Abs. 1 JWG). cc) Die F ü r s o r g e e r z i e h u n g dient der Verhütung und Beseitigung der Verwahrlosung (§ 62 JWG). Bei Gefahr im Verzug kann auch im jugendgerichtlichen Urteil die vorläufige Fürsorgeerziehung angeordnet werden (§ 67 Abs. 1 JWG). Neben der zwangsweise angeordneten Fürsorgeerziehung sieht § 62 JWG die auf Antrag der Personensorgeberechtigten vom Landesjugendamt gewährte Freiwillige E r z i e h u n g s h i l f e vor. Innerhalb des Jugendgerichtsverfahrens bedarf es jedoch vor der Anordnung der Fürsorgeerziehung nicht eines Versuchs, die freiwillige Fürsorgeerziehung herbeizuführen (§ 12 JGG). Allerdings kann die Gewährung der freiwilligen Erziehungshilfe vor der jugendgerichtlichen Entscheidung eine Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Gericht überflüssig machen. Die Fürsorgeerziehung findet entweder durch Familien· oder durch Heimunterbringung statt. Dabei ist auf die Weltanschauung des Betroffenen Rücksicht zu nehmen (§71 Abs. 2, 3 JWG). Die Fürsorgeerziehung ist vom Landesjugendamt auszuführen. Sie kann bei Minderjährigen bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres angeordnet werden (§ 62 JWG). Sie endet mit der Volljährigkeit (§ 76 Abs. 1 JWG). Sie ist aufzuheben, wenn ihr Zweck erreicht oder anderweitig sichergestellt ist. Sie kann auch unter Vorbehalt des Widerrufs aufgehoben werden. Im Falle erheblicher geistiger oder seelischer Regelwidrigkeiten des Minderjährigen, bei denen eine andere Form der Hilfe erforderlich ist, darf die Fürsorgeerziehung erst aufgehoben werden, wenn die andere Hilfe gesichert ist (§75 Abs. 2 JWG). Es soll damit verhindert werden, daß für die Fürsorgeerziehung ungeeignete Minderjährige entlassen werden, ohne daß ihnen eine hinreichende andersartige Hilfe zuteil wird.
Jugendstrafrecht Soweit die Altersgrenze es zuläßt, sollte für die jungen Täter, die der Heimerziehung bedürfen, das Schwergewicht anstelle bei der Jugendstrafe bei der Fürsorgeerziehung liegen. Die den verwahrlosten Jugendlichen entsprechende Heimerziehung ist auch im Fall der Kriminalität in erster Linie die Fürsorgeerziehung, nicht die Jugendstrafe. b) Zuchtmittel zählt das Gesetz drei auf: die Verwarnung, die Auferlegung besonderer Pflichten und den Jugendarrest (§ 13 JGG). aa) Die Verwarnung enthält in sich Verweis und Ermahnung. Inhalt und Form bleiben dem Richter vorbehalten. Ihre Wirksamkeit hängt von der Persönlichkeit des Richters und von der richtigen Auswahl der Vorgänge ab. bb) Die Auferlegung besonderer Pflichten besteht in der Anordnung der Schadensgutmachung, der Entschuldigung oder einer zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung zu zahlenden Geldbuße (§ 15 Abs. 1 JGG). Die als Zuchtmittel ausgestaltete Maßnahme hat enge Verwandtschaft mit der Weisung. Sie soll für den Jugendlichen eine Belastung bedeuten, die ihm seine Verantwortlichkeit vor Augen führt. Darin liegt aber auch ein die Erziehung unterstützendes Moment. Das JGG 1923 faßte wohl gesetzgeberisch besser Weisung und Auferlegung von Pflichten unter der Bezeichnung Auferlegung persönlicher Verpflichtungen zusammen. cc) Der J u g e n d a r r e s t ist durch die Jugendarrestverordnung vom 4. Oktober 1940 in das deutsche Jugendstraf recht eingeführt, in das JGG 1943 übernommen und durch das JGG 1953 beibehalten worden. Er kommt in drei Formen vor: Dauerarrest (1—4 Wochen), Freizeitarrest (1—4 Freizeiten, meist Wochenenden), Kurzarrest (2—6 Tage statt des Freizeitarrestes). Die Zweckmäßigkeit des Jugendarrestes ist umstritten. Allerdings gibt es auch im Ausland Bestrebungen, die auf Einrichtung einer derartigen Maßnahme gehen. Soweit der Jugendarrest unter dem Gesichtspunkt der „Schocktherapie" empfohlen wird, fehlt es an einer erzieherisch haltbaren Begründung. Ebensowenig darf er als eine Art kurze Freiheitsstrafe angesehen werden. Das JGG. hat bewußt — auch hinsichtlich der Zeitdauer — keine Verknüpfung mit der Jugendstrafe herbeigeführt. Infolgedessen muß sich der Jugendarrest nach Art und Weise des Vollzuges, insbesondere auch in seiner Baugestaltung, deutlich vom Strafvollzug abheben. Der Jugendarrest ist eine die laufende Erziehung unterstützende Maßnahme. Sie bringt dem jungen Menschen zum Bewußtsein, daß er innerhalb einer Ordnung lebt, für deren Einhaltung er verantwortlich ist. Er soll ihm eine Mahnung sein, die ohne das Erlebnis dieses Zuchtmittels nicht lebendig genug wird. Der Jugendliche wird nur kurzfristig aus seinem Erziehungsbereich herausgenommen, so daß der eigentliche Erzie-
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hungsvorgang weitergeht. Daraus ergibt sich, daß der Jugendarrest selbst keinen eigentlichen Erziehungsvorgang darstellen soll. Dazu reicht schon die Dauer nicht aus, die die Entstehung des die Erziehung kennzeichnenden Persönlichkeitsbezugs nicht möglich macht. Beachtet man diese in der Sache liegenden Schranken, so kann der Jugendarrest dienlich sein. Nicht in den Jugendarrest gehören junge Menschen, die in eine neue, echte Erziehungssituation hineingestellt werden müssen, weil die bisherige Erziehung versagt hat. Wo erhebliche Erziehungsmängel vorhanden sind, wo Verwahrlosungserscheinungen behoben werden sollen, wo psychische Schwierigkeiten (insbesondere bei erheblichem Schwachsinn, schwerer Psychopathie oder tiefer liegender Neurose) ausgeräumt werden sollen, ist der Jugendarrest ein ungeeignetes Mittel. Gedacht ist beim Jugendarrest vielmehr an Jugendliche, die einer Aufrüttlung bedürfen und fähig sind, daraus eine Lehre für die Zukunft zu ziehen. Sie sind trotz der Straftat oder der Straftaten in ihrem Persönlichkeitskern noch nicht berührt, sind aber durch mildere Mittel nicht hinreichend anzusprechen. Jugendarrest kann sogar bei schwereren und wiederholten Taten in Betracht kommen. c) Die J u g e n d s t r a f e ist die die Jugendgerichtspflege mit dem Strafrecht verbindende Kriminalstrafe. Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt (§ 17 JGG). Jugendstrafe kann unter zwei Voraussetzungen verhängt werden: 1. bei Vorhandensein schädlicher Neigungen, die in der Tat hervorgetreten sind und durch Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel nicht behoben werden können; 2. bei Straferforderlichkeit wegen der Schwere der Schuld. Beide Voraussetzungen bedürfen näherer Erörterung. Schädliche Neigungen bedeuten eine der Persönlichkeit anhaftende Trieb- und Willensrichtung, die zu schwereren Konflikten mit der Strafrechtsordnung führt. Sie sind Ausdruck einer Verwahrlosung, die in der besonderen Richtung der kriminellen Gefährdung liegt. Die Ursache dieser Persönlichkeitsgefährdung kann sowohl in einer vorwiegend verschuldeten als auch in einer weithin durch Anlage, Umwelt oder sonstige Umstände bedingten Lebenshaltung hegen. Aber auch im zweiten Fall ist zu beachten, daß es ohne Schuld keine Strafe gibt. Daher ist gerade in Fällen starker Belastung durch Umwelt oder Anlage bei den jugendlichen Tätern § 3 JGG zu prüfen. Zutreffend weisen Dallinger-Lackner (1. Aufl.) zu § 17 JGG (Anm. 22) darauf hin, daß das Merkmal der schädlichen Neigungen bei der Jugendstrafe die gesamte Gelegenheits- und Konfliktskriminalität ausschließt. Die Verknüpfung zwischen Tat und Jugendstrafe findet dadurch statt, daß die schädlichen Neigungen in der Tat selbst zum Ausdruck gekommen sein müssen. Dabei wird man aller-
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Jugendstrafrecht
dings sich davor hüten müssen, schädliche Neigungen auf eine bestimmte Deliktsgruppe zu beziehen, vielmehr kommt es darauf an, ob der junge Täter durch die Tat gezeigt hat, daß er zu ernsthaften Konflikten mit der Strafrechtsordnung überhaupt neigt. Bei schädlichen Neigungen noch junger Täter unter 18 Jahren wird vor der Prüfung der Jugendstrafe zu erwägen sein, ob Fürsorgeerziehung in Betracht kommt. Nur wo diese aussichtslos erscheint, kommt für diese Gruppe Jugendstrafe zur Anwendung. Die zweite Möglichkeit (Schwere der Schuld) knüpft vorwiegend an Tatumstände an. Den jungen Täter muß gerade für diese Tat eine hohe Verantwortung treffen. Die Größe der Verantwortung richtet sich danach, was von dem Täter gerade bei dieser Tat an innerem Widerstand hätte entgegengesetzt werden sollen. Der Verantwortungsgrad muß durch die Schwere der Tat bestimmt sein. Ebensowenig, wie allein eine schwere Tat genügt, reicht es aus, daß der subjektive Vorwurf erheblich ist, vielmehr muß sich mit ihm der aus der Größe des Unrechts herzuleitende objektive Vorwurf verbinden. Es geht um die Reaktion auf die Begehung schwerster Straftaten, wobei sich der Vorwurf einmal aus der Art des Deliktes (Mord, schwerer Raub), dann aber auch aus der Häufung von echten Kriminaldelikten ergeben kann. Im zweiten Fall vermengen sich die beiden Voraussetzungen des § 17 JGG. Die Jugendstrafe ist im -Gesetz in zwei Formen vorgesehen: die festbestimmte Jugendstrafe und die unbestimmte Jugendstrafe. aa) Die f e s t b e s t i m m t e J u g e n d s t r a f e liegt in der Regel zwischen sechs Monaten und fünf Jahren; im Fall der Begehung eines Verbrechens, für das nach allgemeinem Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als 10 Jahren Zuchthaus vorgesehen ist, beträgt die Höchstgrenze der Jugendstrafe 10 Jahre (§ 18 JGG). Die für die Höchststrafe in Betracht kommenden Delikte sind vor allem Mord, Totschlag, Raub, schwere Brandstiftung. Die Heraufsetzung der Mindeststrafe auf 6 Monate durch das JGG 1953 entspricht der kriminalpolitischen Forderung der Vermeidung kurzer Freiheitsstrafen. Der Gesetzgeber hat mit Recht die vielfach gerügte Lücke zwischen der Höchstdauer des Jugendarrestes und der Mindestdauer der Jugendstrafe in Kauf genommen. Wo die Mindeststrafe von 6 Monaten nicht geboten ist, soll auf Jugendstrafe verzichtet werden. Das Gesetz bringt damit zum Ausdruck, daß es auch die Jugendstrafe als Erziehungsmittel ansieht. Für erziehungswidrige Strafen von mangelhafter Behandlungsdauer ist im JGG 1953 kein Raum. Die festbestimmte Jugendstrafe kommt vor allem dort zur Anwendung, wo der Richter damit rechnet, daß innerhalb eines bestimmten Zeitraums durch den Jugendstrafvollzug ein Erziehungs-
erfolg herbeigeführt werden kann. Tritt der Erfolg früher ein, so kann nach § 88 JGG Entlassung auf Bewährung erfolgen. Die Wirksamkeit einer Erziehungsstrafe dürfte auf keinen Fall über vier Jahre liegen. Infolgedessen kennt das JGG auch eine festbestimmte Jugendstrafe, die über das Erziehungsbedürfnis hinausgeht. Die höheren Strafen haben auch im Jugendstrafrecht trotz aller Erziehungsbemühungen, von denen das JGG ausgeht, Sühne- und Sicherungscharakter. bb) Echte Erziehungsstrafe wiederum ist die u n b e s t i m m t e J u g e n d s t r a f e . Sie liegt nach § 19 JGG zwischen 6 Monaten und vier Jahren. Sie stellt eine Rahmenstrafe dar. Der Rahmen soll mindestens zwei Jahre betragen. Diese Strafart wird verhängt, wenn der Richter wegen der in der Tat zum Ausdruck gekommenen schädlichen Neigungen nicht voraussehen kann, welche Zeit erforderlich ist, um den Jugendlichen durch den Strafvollzug zu einem rechtschaffenen Lebenswandel zu erziehen. Die Entlassung des Verurteilten erfolgt, wenn dieser das Mindestmaß seiner Strafe verbüßt hat und die Umstände es erwarten lassen, daß er künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. In nicht glücklicher Weise regelt das Gesetz das Strafrestproblem reichlich kompliziert. Es bleibt nicht, wie man vermuten sollte, bei dem noch bis zur Höchstdauer übrig gebliebenen Rest. Es muß vielmehr eine Umwandlung der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer in eine bestimmte Jugendstrafe von drei Monaten bis höchstens einem Jahr stattfinden (§§ 19 Abs. 3 89 Abs. 2 JGG). d) A u s s e t z u n g s m ö g l i c h k e i t e n kennt das JGG zwei: Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung (§ 17 JGG) und die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe. Die Aussetzung der Jugendstrafe kann bei Strafen bis einschl. einem Jahr ausgesetzt werden. Mit der zweiten Möglichkeit hat das JGG eine Maßnahme des angelsächsischen Rechts übernommen. Der deutschen Rechtssituation entsprach nur die Aussetzung der vom Gericht verhängten Strafe. Die Aussetzung der Jugendstrafe bezieht sich auf die Strafvollstreckung. Eine Aussetzung durch Innehaltung im Verfahren übte vereinzelt die deutsche Praxis über § 153 StPO (Aussetzung des Verfahrens mit Aussicht auf Einstellung bei ordnungsgemäßem Verhalten innerhalb einer gewissen Probezeit). Nunmehr hat § 27 JGG das System der Aussetzung des Strafausspruchse nach verhängtem Schuldspruch übernommen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes handelt es sich nicht in erster Linie um eine Bewährungsmaßnahme, sondern um eine Maßnahme zur eindeutigen richterlichen Feststellung. Es kommt zur Aussetzung des Strafausspruches dann, wenn der Richter nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten nicht mit Sicherheit feststellen kann,
Jugendstrafre cht ob in der Straftat schädliche Neigungen in einem Umfang vorhanden sind, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist. Dieser Zweifel soll durch das künftige Verhalten des Schuldiggesprochenen behoben werden. Ergibt sich durch schlechte Führung des Schuldiggesprochenen, daß eine Jugendstrafe erforderlich ist, so erkennt das Gericht auf Jugendstrafe. Im anderen Fall wird der Schuldspruch getilgt. Sowohl die Aussetzung der Jugendstrafe als auch die Aussetzung des Strafausspruches sind Formen des in den verschiedenen Rechtsordnungen in mannigfacher Weise geregelten Bewährungssystems (probation). Die Bewährungsaussetzung ist im Jugendgerichtsgesetz automatisch mit der Bewährungshilfe verkoppelt. Es geht nicht nur darum, daß der Täter von der Berührung mit dem Strafvollzug bewahrt bleiben soll, vielmehr soll er durch die Bewährungszeit geführt werden. Da die Jugendstrafe schädliche Neigungen voraussetzt und bei der Aussetzung des Strafausspruches schädliche Neigungen im Bereich der Prüfung liegen, erweist sich die Durchführung der Bewährungshilfe als geboten. Die Maßnahme stellt einen echten Erziehungsvorgang dar, da der Bewährungshelfer die Lebensführung des Jugendlichen auf eine längere Dauer von mindestens einem bis höchstens vier Jahren (Einzelheiten in § 22 JGG) überwacht. Das Verhältnis von Bewährungshelfer zu Probanden erfordert eine zwischenmenschliche Beziehung, sofern es fruchtbringend sein soll. Damit sind die Voraussetzungen einer Erziehung gegeben. Nach §25 JGG führt der Bewährungshelfer die Bewährungsaufsicht nach den Anweisungen des Richters durch. Der Bewährungshelfer steht demnach nicht nur unter der Aufsicht des Richters, dem er verantwortlich ist (§ 24 Abs. 1 JGG), vielmehr übt der Richter die Fachlenkung und Fachaufsicht aus. Ob diese Regelung das letzte Wort im Verhältnis Richter-Bewährungshelfer sein wird, erscheint zweifelhaft. Da der Richter nicht sozialpädagogisch vorgebildet ist, liegt es näher, ihn auf die Rechtskontrolle und die Dienstaufsicht zu beschränken. Für die Dauer der Bewährungszeit soll der Richter die Lebensführung des Jugendlichen durch Auflagen beeinflussen, die eine umfassende erzieherische Einwirkung gewährleisten. Zu diesem Zwecke soll er dem Jugendlichen Weisungen erteilen und besondere Pflichten auferlegen (§ 23 JGG). Der Inhalt der Auflagen wird durch den Gedanken der Erziehungsstrafe bestimmt. Die Auflagen stellen keine selbständigen Maßnahmen dar, sondern sind Maßnahmen innerhalb des Strafvollzuges. Die Bewährungsaussetzung im Jugendstrafrecht stellt eine besondere Form des Strafvollzuges (Vollzug ohne Freiheitsentzug) dar, der auf der Tatsache des Schuldspruchs beruht und durch die Möglichkeit künftigen Strafvollzuges im Freiheitsentzug gekennzeichnet wird. Diese Sachlage unterwirft den SO HdK, 2. Aufl., Bd. I
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Betroffenen den mit diesem System sinnvollerweise verbundenen Beschränkungen. Wie der Vollzug mit Freiheitsentzug auch in die Rechtsstellung Dritter eingreift, ist das in sachentsprechender Weise auch bei dem Vollzug ohne Freiheitsentzug der Fall. Da die Strafe schlechthin verfassungsrechtlich zulässig ist, sind es auch ihre Sonderformen. Die Verfassungsprobleme entstehen nicht schon bei der Begründung, sondern bei der Begrenzung der Auflagen. Diese Auffassung entspricht sowohl der in der Weimarer Zeit entwickelten Rechtsanschauung als auch der Anschauung namentlich im angelsächsischen Recht. Bedenken, wie sie sich bei den Weisungen als bloßen Erziehungsmaßregeln ergeben, tauchen hier innerhalb des Strafbereiches nicht in der gleichen Weise auf. Das gilt auch im Hinblick auf Art. 6 GG. e) Die von dem Jugendrichter anzuwendenden Maßnahmen vermehren sich noch dadurch, daß er bei Heranwachsenden unter Umständen das a l l g e m e i n e S t r a f r e c h t anwenden muß. Freilich begrenzen sich die Maßnahmen des Jugendrechts im Hinblick auf die Fürsorgeerziehung durch die Schranken des Alters. Dafür aber steht ihm im Fall der Anwendung des allgemeinen Strafrechts die Skala der Maßnahmen des Erwachsenenstrafrechts mit gewissen Abweichungen aus § 106 JGG (Zulässigkeit zeitiger Zuchthausstrafe von 10—16 Jahren statt lebenslangem Zuchthaus, Gefängnisstrafe statt Zuchthaus, beschränkte Anwendung der Sicherungsverwahrung und von Ehrenstrafen) zur Verfügung. F. Die Jugendgerichtsverfassung in der BRD 1. Struktur
der
Jugendgerichtsverfassung
Gegenüber dem JGG 1923 hat sich die Struktur der Jugendgerichtsverfassung (->• Gerichtsverfassung) nicht unerheblich geändert. Nach § 17 JGG 1923 lag die erstinstanzliche Zuständigkeit bei den Amtsgerichten. Jugendgerichte waren die Schöffengerichte (1 Berufsrichter, 2 Schöffen). Auch Strafsachen, die nach allgemeinem Gerichtsverfassungsrecht in die Zuständigkeit des Reichsgerichts oder des Schwurgerichts fielen, gelangten vor das Amtsgericht, wobei das Jugendgericht als großes Jugendschöffengericht (2 Berufsrichter und 3 Schöffen) fungierte. Seine Bedeutung gewann die allgemeine erstinstanzliche Zuständigkeit des Amtsgerichts durch den Grundsatz der Personalunion zwischen Jugendrichter und Vormundschaftsrichter (§ 19 Abs. 2 JGG 1923). War diese Personalunion auch nur durch eine Sollvorschrift gesichert, so kam doch in diesem Grundsatz der Erziehungsgedanke nachdrücklich zum Ausdruck. Die Jugendstrafkammern (3 Berufsrichter, 2 Schöffenrichter) waren nur Berufungsgerichte. Als Revisionsgerichte waren das Reichsgericht und die Oberlandesgerichte vorgesehen.
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Jugendstrafrecht
Die zahlenmäßig beherrschende Stellung gewann seit der Verordnung vom 14. Juni 1932 der Jugendrichter als Einzelrichter, durch die dieser die Zuständigkeit für alle Amtsgerichtssachen erhielt, für die nach allgemeinem Gerichtsverfassungsrecht der Einzelrichter zuständig war. Mit der Verordnung vom 26. Februar 1940 trat an die Stelle des großen Jugendgerichts die mit drei Berufsrichtern besetzte Strafkammer. Damit war erstmalig das Landgericht als erstinstanzliches Gericht in Jugendsachen vorgesehen. Das JGG 1943 erweiterte die landgerichtliche Zuständigkeit, Danach war die Jugendstrafkammer ausschließlich zuständig für Jugendgefängnis von mehr als vier Jahren und für die gegen jugendliche Schwerverbrecher nach allgemeinem Strafrecht zu verhängenden Strafen (§ 26 JGG 1943). Außerdem konnte die Staatsanwaltschaft trotz der an sich gegebenen Zuständigkeit des Amtsrichters die Anklage vor der Jugendkammer erheben, wenn ihr dies mit Rücksicht auf den Umfang oder die Bedeutung der Sache oder aus anderen Gründen angezeigt erschien. Damit war die Verbindung von Vormundschaftsrichter und Jugendrichter weitgehend aufgelöst. Eine weitere Auflockerung des Grundsatzes der Einheit von Vormundschaftsund Jugendrichter brachte j edenfalls durch Ausschaltung des örtlich zuständigen Vormundschaftsrichters die Einführung von Bezirksjugendgerichten (§21 Abs. 3 JGG 1943). Schließlich führte das JGG 1943 eine Zuständigkeit von Erwachsenengerichten für Jugendliche ein. Nach § 76 Abs. 1 JGG 1943 waren Reichsgericht, Volksgerichtshof und die Oberlandesgerichte auch bei Jugendlichen erstinstanzlich zuständig. Auch konnten Jugendliche vor den Sondergerichten angeklagt werden (§ 76 Abs. 2 JGG 1943). Während nach § 26 Abs. 2 JGG 1923 Jugendsachen mit Erwachsenensachen nicht verbunden werden sollten, sah JGG 1943 in § 77 eine solche Verbindung vor den Erwachsenengerichten vor. In alledem offenbart sich das Eindringen einer stärkeren Betonung des Strafrechtsgedankens. Das JGG 1953 hat die Grundzüge der späteren Entwicklung gegenüber der ursprünglichen Konzeption des JGG 1923 beibehalten. Auf der amtsgerichtlichen Ebene sind der Jugendrichter und das Jugendschöffengericht tätig (§ 39, 40 JGG). Die Jugendkammer ist erstinstanzlich zuständig für diejenigen Sachen, in denen nach allgemeinem Gerichtsverfassungsrecht das Schwurgericht zuständig ist, und für die Sachen, die sie nach Vorlage durch das Jugendschöffengericht wegen des Umfangs der Sache übernimmt, schließlich für Strafsachen gegen Heranwachsende, wenn eine Zuchthausstrafe von mehr als zwei Jahren oder Sicherungsverwahrung zu erwarten ist (§ 41, 108 Abs. 3 JGG). Die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes, der Oberlandesgerichte und der Staatsschutzkammern gemäß § 74a GVG (hier
abgesehen von Fällen von geringerer Bedeutung) besteht auch für Jugendliche (§ 102 JGG). Strafsachen von Jugendlichen und Erwachsenen können sowohl vor dem Erwachsenengericht als auch vor dem Jugendgericht, je nach dem Schwergewicht, verbunden werden, falls es zur Erforschung der Wahrheit oder aus anderen wichtigen Gründen geboten ist. Auch das JGG 1953 (§33 Abs. 3) behält die Einrichtung von Bezirksjugendgerichten bei. Mit alledem ist der in § 34 Abs. 2 JGG aufgestellte Grundsatz der Personalunion von Jugendrichter und Vormundschaftsrichter weitgehend aufgelockert. Einen Ersatz sieht das JGG (§ 34 Abs. 2) für die Fälle, in denen die Personalunion nicht durchführbar ist, insofern vor, als dem Jugendrichter die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben übertragen werden sollen. Die Gefahr eines stärkeren Zurückdrängens des Erziehungsgedankens und eines stärkeren Vordringens strafrechtlicher Vorstellungen hat sich seit dem JGG 1953 auch dadurch verstärkt, daß die Jugendgerichte ganz allgemein die Zuständigkeit für alle Strafsachen gegen Heranwachsende (im Rahmen der Zuständigkeit für Jugendliche) übertragen erhalten haben. Die Jugendgerichte können nunmehr auch Erwachsenenstrafen verhängen, insbesondere auch Zuchthausstrafen gegen Heranwachsende (§ 108 Abs. 3 JGG). Mit der allgemeinen Zuständigkeit für Heranwachsende kommt in stärkerem Maß echte Kriminalität vor die Jugendgerichte. Wenn es auch sinnvoll erscheint, die Heranwachsenden vor den jugenderfahrenen Jugendrichter zu bringen, so darf doch nicht übersehen werden, daß die Zuständigkeitserweiterung die Jugendgerichte mehr zu Strafgerichten macht. Die Möglichkeit, daß das auf Kosten der Jugendlichen geht, scheint nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht von der Hand zu weisen zu sein. Dieser Gefahr dürfte nur dadurch vorzubeugen sein, daß die Zuständigkeit der Jugendgerichte bei den Jugendlichen weitgehend eingeschränkt und die Vormundschaftrichterliche Zuständigkeit bei ihnen ausgedehnt wird. Auf die bereits oben gemachten Vorschläge sei hier nochmals verwiesen. 2. Die
Verfahrensbeteiligten
a) R i c h t e r im Jugendverfahren sind der Jugendrichter und die Richter des Jugendschöffengerichts und der Jugendkammer. J u g e n d r i c h t e r ist der Amtsrichter, der als Strafrichter für das amtsgerichtliche Jugendverfahren bestellt ist. Ihm liegen alle Aufgaben ob, die ein Amtsrichter im Strafverfahren hat (Erlaß eines Haftbefehls, Anordnung sonstiger Zwangsmaßnahmen und Vernehmungen im Vorverfahren). Dem Grundsatz nach soll der Vormundschaftsrichter der Jugendrichter sein. Wo der Grundsatz nicht durchführbar ist, sollen dem Jugendrichter im Wege der Geschäftsverteilung
Jugendstrafrecht für die Minderjährigen über vierzehn Jahre die vormundschaftsrichterlichen Erziehungsaufgaben übertragen werden. Damit verliert der Vormundschaftsrichter für eine ganze Gruppe Jugendlicher einen wesentlichen Teil seiner familienrechtlichen Funktionen. Die übrigen an der Jugendstrafrechtspflege beteiligten Richter der Jugendschöffen- und Jugendkammergerichtsbarkeit sind nur R i c h t e r bei den J u g e n d g e r i c h t e n . Sie sind, soweit sie Berufsrichter sind, Richter der allgemeinen Strafgerichtsbarkeit. Für sie gilt nur der Satz, daß sie erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein sollen (§ 37 JGG). Mangels einer besonderen Ausbildung der Jugendrichter und der Richter bei den Jugendgerichten in der Jugendpflege, Jugendkriminologie, Pädagogik, Jugendpsychologie, Jugendpsychiatrie und Jugendsoziologie entbehrt dieser Satz freilich eines realen Hintergrundes. Es gibt weder eine spezielle Zusatzausbildung noch eine „jugendrichterliche Laufbahn" (sofern der „Laufbahngedanke" bei Richtern überhaupt angemessen ist). b) J u g e n d s t a a t s a n w ä l t e sind Staatsanwälte der allgemeinen Staatsanwaltschaft, die für Jugendverfahren bestellt sind (§ 36). Auch für sie gilt der Satz, daß sie erzieherische Befähigung und Erfahrung in der Jugenderziehung haben sollen. Auch bei ihnen sollten die Gerichtsbehörden für eine hinreichende Spezialausbildung Sorge tragen. c) J u g e n d g e r i c h t s h i l f e ist ein spezifisch der Jugendrechtspflege dienendes Organ, das die Aufgabe hat, die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen Gesichtspunkte im Verfahren vor den Jugendgerichten zur Geltung zu bringen (§ 38). Es hegt ihr die Persönlichkeitsforschung (Erforschung der Entwicklung und sozialen Gegebenheiten) ob, soweit nicht ein besonderer Sachverständiger sich als erforderlich erweist, ferner hat sie in der Hauptverhandlung das Recht zur Äußerung über die zu ergreifenden Maßnahmen. Schließlich sind ihr gewisse Hilfsaufgaben bei der Durchführung von Erziehungsmaßregeln übertragen. Die Jugendgerichtshilfe wird von den Jugendämtern im Zusammenwirken mit den Vereinigungen für Jugendhilfe ausgeübt. d) Eine besondere J u g e n d p o l i z e i zur Klärung des Sachverhalts ist im JGG nicht vorgesehen. Jedoch sind bei den Polizeibehörden vielfach Sachbearbeiter für Vernehmungen von Jugendlichen eingesetzt. Hier kommt namentlich der weiblichen Polizei Bedeutung zu. e) J u g e n d s a c h v e r s t ä n d i g e , die zur kriminologischen Untersuchung von Jugendlichen befähigt sind, sollen im Fall der Notwendigkeit einer Persönlichkeitsklärung, namentüch zur Feststellung des Entwicklungsstandes oder für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften gemäß § 43 Abs. 3 JGG herangezogen werden. 30·
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f) Besondere J u g e n d v e r t e i d i g e r gibt es nicht. Es besteht uneingeschränkt der Grundsatz der freien Wahl des Verteidigers. Der Beschuldigte und die Erziehungsberechtigten sollen frei einen Verteidiger auswählen können, der ihr Vertrauen genießt. Bei der Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen kann der Vorsitzende des Gerichts je nach den Erfordernissen der Verteidigung Verteidiger mit besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen in Jugendsachen bestellen. Auch der Verteidiger sollte die Erziehungsbedürfnisse nicht außer acht lassen. Wie im allgemeinen Strafverfahren gibt es im Jugendverfahren Fälle der notwendigen Verteidigung (§ 68). Sie sind im Jugendverfahren erweitert (erstinstanzliches Verfahren vor der Jugendkammer, Entziehung der Rechte des Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters gemäß § 68 Ziff. 1, 3, 4 JGG, Anstaltsunterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten, § 73 JGG). Darüber hinaus ist eine Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf alle Fälle zu fordern, in denen Jugendstrafe zu erwarten ist. Die Feststellung, daß schädliche Neigungen in einem Maß vorliegen, daß Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel nicht ausreichen oder daß Strafe wegen der Schwere der Schuld erforderlich ist, ist so weitgehend, daß eine Mitwirkung durch einen rechtskundigen Verteidiger geboten ist. g) Die B e i s t a n d s c h a f t hat im JGG (§69) gegenüber dem allgemeinen Strafverfahren eine Erweiterung gefunden. Der Vorsitzende kann dem Beschuldigten in jeder Lage des Verfahrens einen Beistand bestellen, wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung besteht. Der Beistand soll eine Hilfe für den Beschuldigten sein, soweit es sich nicht um juristische Fragen, sondern um Fragen mehr jugendpsychologischer und jugendsoziologischer Art handelt. Der Beistand spielt in der Praxis keine große Rolle. G. Das Verfahren bei jungen Delinquenten Das Verfahren bei jungen Delinquenten kann entweder in der gelockerten Form der Verwaltung (Jugendbehörde), in der ebenfalls weniger formalen Form der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Vormundschaftsgericht) oder als formales Strafverfahren (Jugendgerichtsbarkeit) vor sich gehen (Mehrspurigkeit des Verfahrens). Soweit Zwangsanwendungen zu treffen sind, erfordert die Gewährleistung der Persönlichkeitsrechte eine richterliche Anordnung. Soweit vormundschaftliche Maßnahmen ausreichen, kann im deutschen Jugendstrafrecht von einem jugendgerichtlichen Verfahren abgesehen werden. Der Subsidiaritätsgrundsatz sollte zu der Erledigung möglichst vieler Angelegenheiten durch den Vormundschaftsrichter führen, da hier der Erziehungsgedanke klarer zum Ausdruck kommt. Entgegen der immer wieder angeführten Meinung, daß das formale Strafver-
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fahren in sich erzieherische Bedeutung habe, ist zu betonen, daß gerade die Verhandlungsatmosphäre im Strafverfahren den notwendigen Bezug zwischen Richter und Jugendlichem nicht aufkommen läBt. Das Jugendgerichtsverfahren läuft entweder als Regelverfahren ab, das dem Regelverfahren des Erwachsenenprozesses entspricht, oder als vereinfachtes Verfahren (statt Anklage mündlicher oder schriftlicher Antrag des Staatsanwalts, Hauptverhandlung ohne Staatsanwalt, Verzicht auf Förmlichkeiten, Unzulässigkeit des Erkennens auf Fürsorgeerziehung und Jugendstrafe, §§ 76ff. JGG) oder als Verfügungsverfahren (ohne mündliches Verfahren, nur geringfügige Maßnahmen bei Übertretungen zulässig). Andere Verfahrensarten des Erwachsenenrechts (Strafbefehls-, Privatklage-, Nebenklage- und Adhäsionsverfahren sowie das beschleunigte Verfahren) sind unzulässig. Schließt sich das Jugendgerichtsverfahren auch an das allgemeine Strafverfahren an, so bestehen doch zahlreiche Besonderheiten, die sich unmittelbar aus dem JGG oder aus dem Gedanken der Jugendgemäßheit ergeben. 1. Der Grundsatz der
Persönlichkeitsforschung
Der Grundsatz der Persönlichkeitsforschung kennzeichnet das Jugendverfahren. Dieses ist ein auf den Täter ausgerichtetes Verfahren. Die im JGG vorgesehenen Maßnahmen können nur dann richtig angewandt werden, wenn das Gericht ein eingehendes Täterbild gewonnen hat. Die Lebensund Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle übrigen Umstände, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können, sollen ermittelt werden. Der Erziehungsberechtigte, der gesetzliche Vertreter, die Schule, der Lehrherr oder der sonstige Leiter der Berufsausbildung sollen nach Möglichkeit gehört werden. Es soll, falls erforderlich, eine Untersuchung des Beschuldigten stattfinden und ein Sachverständigengutachten herbeigezogen werden (§§ 43, 73 JGG). Weitere Erforschungsquellen sind gegebenenfalls die Fürsorgeerziehungsbehörde oder frühere Vollzugsstellen. Falls Jugendstrafe zu erwarten ist, soll der Staatsanwalt oder der Richter vor der Anklageerhebung den Beschuldigten vernehmen. 2. Der Grundsatz der
Anklagefreiheit
Der Grundsatz der Anklagefreiheit führt gegenüber dem allgemeinen Strafverfahren zu einer weitgehenden Beseitigung des Legalitätsprinzips (§ 45 JGG). Er beruht auf dem Erziehungsgedanken und zugleich auf dem bereits erwähnten Subsidiaritätsgedanken.
3. Der Grundsatz der erzieherischen
Hilfe
Der Grundsatz der erzieherischen Hilfe beruht auf dem Gedanken, daß auch das Jugendgerichtsverfahren im Dienst der Förderung des jungen Menschen steht. Deshalb will das Gesetz gewisse Gefahren, die vom Verfahren des Erwachsenenrechts ausgehen können, vermeiden. Dem dient die NichtÖffentlichkeit der Verhandlung (§ 48 JGG), die Möglichkeit der zeitweiligen Ausschließung von Beteiligten (§ 51 JGG), die Beschränkung der Untersuchungshaft (§ 72 JGG) und eine gewisse Begrenzung der Rechtsmittel (§ 55 JGG). Nicht weniger wichtig sind die positiven Mittel der Hilfe. Dazu gehört vor allem eine verständige Verfahrensdurchführung, die es namentlich dem Richter ermöglicht, Kontakt mit dem jungen Menschen zu bekommen, ihm das Geschehene in seiner Bedeutung sichtbar zu machen und ihm den Sinn der richterlichen Entscheidung klarzulegen. Für die künftige Entwicklung des jungen Menschen kommt es entscheidend darauf an, daß er das Urteil trotz der schweren Last, die es unter Umständen für ihn bedeutet, innerlich annimmt. Auch ist es von Bedeutung, daß der Erziehungsberechtigte Verständnis für das Urteil hat und daß er, soweit er überhaupt dazu befähigt ist, im Sinn des Urteils künftighin mitarbeitet. Die Zusammenarbeit mit dem Erziehungsberechtigten (vgl. § 67 JGG) ist ein wichtiges Stück echter Jugendhilfe. Das schließt nicht aus, daß im Einzelfall die verfahrensrechtliche Stellung des Erziehungsberechtigten bei Verdacht der Teilnahme oder Mißbrauch der Rechte eingeschränkt werden kann (§ 67 Abs. 4 JGG). Für die Herstellung des Bezuges zwischen Richter und jungem Menschen gehört auch, daß der Richter das Verfahren in einer für diesen verständlichen Weise durchführt. Das gilt nicht zuletzt von der Sprache. Auch das Urteil — wie schon die Anklage — sollen so abgefaßt sein, daß der junge Mensch weiß, worum es geht, und daß er vor allem nicht abgestoßen oder gar verletzt wird. Die Gerichtssprache ist nicht für den Juristen, auch nicht für übergeordnete Instanzen, sondern für die Prozeßbeteiligten dal 4. Der Grundsatz der
Rechtsstaatlichkeit
Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gilt auch im Jugendgerichtsverfahren. Der junge Mensch hat im Verfahren eine Subjektstellung. Er hat das Recht auf Gehör, Verteidigung, Stellung von Anträgen und Einlegung von Rechtsmitteln. Die prozessualen Prinzipien, wie Vermutung der Unschuld, Freiheit der Aussage, Unmittelbarkeit der Verhandlung, Wahrheitserforschung und Rechtskraftwirkung des Urteils, gelten auch hier. Soweit sich vom Erziehungsgedanken Einschränkungen gegenüber dem Erwachsenenstrafverfahren ergeben, wie ζ. B. hinsichtlich der Öffentlichkeit des Verfahrens, der Verhandlung in vorübergehen-
Jugendstrafrecht der Abwesenheit des jungen Menschen und der Rechtsmittel, dürfen sie nicht die Gewähr für ein ordnungsmäßig durchgeführtes Verfahren beeinträchtigen. Die durch die Jugend möglicherweise geschwächte Rechtsstellung findet ihre Ergänzung durch die gesicherte Prozeßstellung der Erziehungsberechtigten und des gesetzlichen Vertreters (§ 67 JGG). Das Recht zur Verteidigung enthält das Recht zur Bestellung eines Verteidigers in jeder Lage des Verfahrens. Einen Ausgleich zwischen Erziehungsgedanken und Rechtstaatlichkeit bringt § 65 JGG. Die reinen Erziehungsentscheidungen, durch die Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel angeordnet werden, können nicht wegen des Umfangs oder der Art der Maßnahmen angefochten werden, wohl aber wegen des zugrunde liegenden Schuldspruchs. Wegen der einschneidenden Wirkung der Fürsorgeerziehung gilt eine Beschränkung der Rechtsmittel bei deren Anordnung nicht; ebenso wenig bei einem Strafausspruch oder der Aussetzung des Strafausspruches. Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht hat jedes Prozeßsubjekt (Angeklagter und Staatsanwalt) nur ein Rechtsmittel. Wer Berufung eingelegt hat, kann also nicht mehr Revision einlegen. 5. Der Grundsatz der Ausschließlichkeit Der Grundsatz der Ausschließlichkeit ist, wie sich im einzelnen aus den Ausführungen zu VI. 1 ergibt, nicht unwesentlich durchbrochen. Jedoch haben die Erwachsenengerichte gewisse Verfahrensvorschriften des Jugendgerichtsgesetzes zu beachten (§§ 104,112 JGG). 6. Der Grundsatz des gleitenden Verfahrensubergangs vom Jugend- zum Erwachsenenverfahren Der Grundsatz des gleitenden Verfahrensübergangs vom Jugendverfahren zum Erwachsenenverfahren kommt dadurch zum Ausdruck, daß bei den vor den Jugendgerichten stattfindenden Verfahren gegen Heranwachsende nur ein Teil der Verfahrensbestimmungen des Verfahrens gegen Jugendliche gilt (§ 109 JGG). Bei Heranwachsenden gelten vor allem nicht die Vorschriften über die Auflockerung des Legalitätsprinzips (§45 JGG), den allgemeinen Ausschluß der Öffentlichkeit (§ 48 JGG, jedoch Ausschluß im Einzelfalle aus erzieherischen Gründen), die vorläufigen Anordnungen über die Erziehung (§ 71 JGG), die Begrenzung der Untersuchungshaft (§ 72 JGG). H. Der Jugendvollzug Der J u g e n d v o l l z u g findet im JGG nur eine Rahmenregelung, die sich auf den Jugendarrest, den (->•) Jugendstrafvollzug und die Untersuchungshaft bezieht. Die nähere Ausgestaltung erfolgt in den Vollzugsordnungen. Die Jugend-
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arrestvollzugsordnung und die Jugendstrafvollzugsordnung werden neu bearbeitet. Der Vollzug des Jugendarrestes und der Jugendstrafe liegt den Landesjustizverwaltungen ob. § 90 JGG bestimmt die Aufgabe des Jugendarrestes dahin, daß der Vollzug das Ehrgefühl des Jugendlichen wecken und ihm eindringlich zum Bewußtsein bringen soll, daß er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat. In § 91 JGG wird die Erziehung zu einem rechtschaffenen und verantwortungsbewußten Lebenswandel als Aufgabe, und Ordnung, Arbeit, Unterricht, Leibesübungen und sinnvolle Freizeitbeschäftigung werden als die wesentlichen Erziehungsmittel angeführt. Die seelsorgerische Betreuung wird gewährleistet. Für die Arbeitserziehung werden Lehrwerkstätten gefordert. Aufgelockerte und freie Vollzugsformen, zu denen der offene Vollzug gehört, werden zugelassen. Für das Personal wird erzieherische Eignung und Ausbildung vorgeschrieben. Der Vollzug liegt in der Hand des Vollzugsleiters. Die maßgeblichen Rechtsentscheidungen während des Vollzugs werden von dem Vollstreckungsrichter, einem Jugendrichter des in der Nähe der Jugendstrafanstalt gelegenen Amtgerichts, getroffen (§ 85 JGG). Im Jugendstrafvollzug werden vollzogen: die Jugendstrafen an Verurteilten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ausnahmslos; ferner die Jugendstrafen an Verurteilten, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, mit Ausnahme derer, die sich für den Jugendstrafvollzug nicht eignen. Soweit eine Ausnahme vom Jugendstrafvollzug durch den Vollstreckungsrichter angeordnet worden ist, wird die Jugendstrafe wie Gefängnis in einer Erwachsenenanstalt vollzogen (§ 92). Schließlich darf an Verurteilten, die das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und sich für den Jugendstrafvollzug eignen, auch Gefängnisstrafe in der Jugendstrafanstalt vollzogen werden (§ 114 JGG). Diese Bestimmung ist sehr wichtig. Sie kommt vor allem Heranwachsenden, die nach allgemeinem Strafrecht zu Gefängnis verurteilt worden sind, und auch geeigneten Jungerwachsenen zugute. Nach Vollendung des 24. Lebensjahres wird auch die als Jugendstrafe verhängte Strafe wie Gefängnisstrafe vollzogen (§ 92 Abs. 2 JGG). Dieser Überblick macht deutlich, daß es sich bei den Jugendstrafanstalten vorwiegend um Anstalten für junge Menschen und nicht nur für die eigentlich Jugendlichen handelt. Für das Strafvollzugsrecht sind auch außerhalb des JGG und der Vollzugsordnung geltende Bestimmungen bedeutungsvoll. So untersteht auch der Vollzug an Minderjährigen dem Erziehungsgebot des § 1 JWG. Vor allem aber gelten Art. 1 und 2 GG (Menschenwürde und Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit). Diese Artikel machen einen Vollzug, der infolge Vermassung oder Überfüllung der Menschenwürde widerspricht oder die
470
Jugendstrafre cht
Entfaltung der Persönlichkeit hindert, verfassungswidrig. Das wird im Vollzug nicht hinreichend beachtet. Auch angebliche oder wirkliche Notstände rechtfertigen nicht einen dem Geist und Inhalt der Verfassungsartikel widersprechenden Vollzug. Die Durchführung der Schutzaufsicht und der Fürsorgeerziehung richtet sich nach dem JWG. J. Rehabilitation Rehabilitation bedeutet die Wiedererlangung der vollen staatsbürgerlichen Rechtsstellung, die Erlangung der Stellung des Unbestraften. Sie ist eine wichtige Voraussetzung der sozialen Wiedereingliederung. Um den jungen Menschen vor der Belastung durch die Eintragung in das Strafregister und damit in das für das Berufsleben noch wichtigere Führungszeugnis zu sichern, ist die gerichtliche Erziehungskartei geschaffen, in der mit Ausnahme der Jugendstrafe oder der Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe oder gegen Heranwachsende verhängter Strafen alle Erziehungsanordnungen eingetragen werden. Auskunft aus dieser Kartei erhalten nur die Strafgerichte, Vormundschaftsgerichte, Staatsanwaltschaften und Jugendämter (Anordnung über die gerichtliche Erziehungskartei v . 16. 2.1955 — Bundesanzeiger Nr. 37 vom 23. 2. 1955). Aber auch soweit Eintragungen in das Strafregister erfolgen, unterliegen sie gegenüber dem Erwachsenenrecht (Straftilgungsgesetz 1922) verkürzten Fristen. Der Eintritt beschränkter Auskunft (mit der Folge der Streichung aus dem polizeilichen Führungszeugnis) und der Straftilgung ist erheblich vorgeschoben (§ 95 JGG). Daneben kennt das JGG eine vorzeitige Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch (§§ 97 ff.). Diese setzt voraus, daß sich der Verurteilte durch einwandfreie Führung als rechtschaffener Mensch erwiesen hat (positiver guter Führungsbeweis). Vorbild dieses richterlichen Verfahrens ist das italienische Recht. K . Die Rechtsentwicklung Das deutsche Jugendstrafrecht stellt nur eine Möglichkeit einer modernen Behandlung straffälliger Jugendlicher dar. Es entspricht der sich seit Jahrzehnten vollziehenden Rechtsentwicklung. Diese beruht auf zwei Wurzeln: der strafrechtlichen und der jugendfürsorgerechtlichen. Die strafrechtlichen Vorstellungen entsprechen dem kontinentalen Recht. So verschieden in den Einzelheiten auch die Bestimmungen der jugendstrafrechtlichen Gesetzgebung auf dem Kontinent sein mögen — etwa bei den Altersgrenzen, Maßnahmen, Strafaussetzung, Abgrenzung von Jugend- und Vormundschaftsgerichtsbarkeit — , so ist doch das Grundschema des nach kontinentalen Rechtsvorstellungen geschaffenen Jugendstrafrechts gleich. Daneben steht das anglo-
amerikanische System. In diesem treten die vielfach subtilen rechtlichen Unterscheidungen gegenüber der praktischen Handhabung zurück. Als Beispiel sei das englische Borstalsystem im Gegensatz zu dem im deutschen Jugendstrafrecht theoretisch scharf getrennten Vollzug der freiheitsentziehenden Maßnahmen: Fürsorgeerziehung, Jugendarrest und Jugendstrafe erwähnt. Trotz der Verschiedenheit der rechtlichen Grundauffassungen ist aber die gegenseitige Befruchtung der Systeme bedeutsam. Das kommt einerseits etwa beim Probationssystem oder dem System der Aussetzung des Strafverfahrens, andererseits bei den Auswirkungen des Jugendwohlfahrtsrechts oder der im Jugendarrest enthaltenen Gedanken oder des Heranwachsendenrechts zum Ausdruck. Gerade im Hinblick auf die Behandlung straffälliger Jugendlicher ist die gegenseitige internationale Befruchtung weitgehend. Einheitlich ist die Fortentwicklung vom reinen strafrechtlichen Denken. Die grundlegenden Vorstellungen von der Behandlung, Erziehung und menschlichen Hilfe, der Förderung des jungen Menschen und seiner Familie, des Zurückdrängens der Tat gegenüber der Persönlichkeit sind Allgemeingut der Kulturnationen.
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472
Körperverletzung
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KÖRPERVERLETZUNG Die juristische Unterscheidung zwischen vorsätzlicher einfacher, gefährlicher und schwerer Körperverletzung umfaßt im deutschen Strafrecht 1. in § 223 jede Mißhandlung im Sinne einer Störung des körperlichen Wohlbefindens, jede Gesundheitsschädigung; auch durch Unterlassung verursachten oder, wenn schon bestehend, verstärkten Körperschaden, 2. in § 223 a die Körperverletzung mit gefährlichen Werkzeugen oder mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung einschließlich chemischer Mittel, 3. in § 223 b rohe Mißhandlung von wehrlosen Personen, die vom Täter abhängig sind oder für die er sorgepflichtig ist, einschließlich Körperschäden durch Vernachlässigung der Sorgepflicht, 4. in § 224 die durch den schweren Erfolg qualifizierte Körperverletzung, so bei Verlust wichtiger Glieder oder Ausfall wesentlicher physiologischer Funktionen, erheblicher Entstellung, Siechtum, Lähmung oder durch zugefügten Körperschaden entstandener Geisteskrankheit, 5. in § 226 die durch Todesfolge qualifizierte Körperverletzung. Verwandte Tatbestände sind § 227 (Schlägerei), § 221 (Aussetzung von Hilflosen), § 229 (Giftbeibringung) und § 340 (Körperverletzung im Amt). Die fahrlässige Körperverletzung ist nach § 230 strafbar. Die Unterscheidung einzelner Formen der Körperverletzungen im deutschen Strafrecht stimmt grundsätzlich, wenn auch mit wesentlichen Abweichungen im einzelnen, mit denen anderer Länder überein. 1.
Häufigkeit
Die Verurteilungen wegen vorsätzlicher einfacher und schwerer Körperverletzungen haben seit 1900 fortlaufend abgenommen. Die Kriminalitätsziffer (auf 100 000 strafmündige Einwohner berechnet) lag 1894—1908 bei 228,1; 1928—1932 bei 68,1; zwischen 1954—1958 betrug sie nur noch 28,0. Mit Ausnahme der Jahre zwischen 1928 bis 1932 sind auch hier die Verurteilungen fast gleichmäßig von Jahr zu Jahr gefallen: von 0,45 auf 0,34. Diese Zahlen können einen Wechsel in der Ehrempfindlichkeit ausdrücken (Rangol, 1961). Sicher gibt es vielfache einander mitbedingende Ursachen für die Tatsache, daß seit 1890 die Straffälligkeit überhaupt wesentlich zurückgegangen ist. Tab. 1 soll die Verurteilungen nach §§ 223 a und b sowie 230 in den Jahren 1956—1960 kurz kennzeichnen und in Vergleich mit den Verurteilungen wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötungen (§§ 211 bis 213, 222) setzen. Eine wesentliche Änderung ist für 1961 bis 1963 nicht zu erwarten (Bundeskriminalamt 1964). Die Statistik der Verurteilungen gemäß §§ 223 a und b nach dem Alter der Täter in Tabelle 2 zeigt
Körperverletzung Tabelle 1 Jahr
223 a, b
230
211—213
222*;
1956 1957 1958 1959 1960
26,7 30,4 31,5 30,9 29,1
218,9 237,4 207,6 224,4 235,0
0,5 0,6 0,6 0,6 0,6
7,5 8,6 7,5 7,5 8,4
*) Einschließlich fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in Verbindung mit einem Verkehrsunfall.
den ungewöhnlich hohen Anteil der 18—21 jährigen Heranwachsenden (HW) bei Körperverletzungen gegenüber Erwachsenen (E) und Jugendlichen (J), ungewöhnlich hoch auch im Vergleich zu den Verurteilungen nach §§ 211—213. Tabelle 2 Jahr
Ε
HW
J
Ε
223 a/b 1956 1957 1958 1959 1960
22,7 24,7 24,9 23,9 22,6
85,5 106,9 110,0 115,6 108,5
HW
J
211—213 23,9 30,2 36,8 33,1 31,5
0,6 0,6 0,6 0,6 0,5
0,7 0,8 1,3 1,3 1,1
0,2 0,3 0,4 0,4 0,4
Die abnehmende Häufigkeit der Körperverletzungen muß zusammen mit der insgesamt abgefallenen Straffälligkeit der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Die Verurteiltenziffer für 1880 = 100 gesetzt, beträgt die Straffälligkeit jetzt fast nur 70. Landes- und Stammesunterschiede in der Häufigkeit von Körperverletzungen — vor 1914: Körperverletzungen in Bayern fast doppelt so häufig — bestehen nicht mehr. Der Bundesbürger ist heute vor vorsätzlichen Körperverletzungen sicherer als wahrscheinlich jemals in Deutschland (Rangol, 1961). Die Körperverletzungen im Straßenverkehr gab es praktisch bis 1920 nicht. Es ist nicht erstaunlich, daß — im Gegensatz zu mehr soziologisch bestimmten Ansichten (Gunzert, 1964) — die Straffälligkeit im Straßenverkehr typenmäßig sich festlegen läßt: Unter 100 Erwachsenen, die wegen Trunkenheit und fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr verurteilt wurden und über 30 Jahre waren, waren 75 vorbestraft, entweder wegen Trunkenheit und Körperverletzung oder wegen Körperverletzung allein.
2. Kriminohgie a) A l l g e m e i n e s . Die Körperverletzung ist bisher kriminologisch wenig untersucht worden. Über das oft kaum bestimmbare Motiv hinaus offenbaren Körperverletzungen oft Störungen der
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durch die Sozialentwicklung gegebenen Grundhaltungen. Die Ethologie (die vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens) hat für Situationen, die ausschließlich dem Menschen zubestimmt erscheinen und, falls Rechtsnormen verletzt wurden, kriminologisch bewertet wurden, durch kausale Analyse der das soziale Verhalten bestimmenden Instinkte neue Gesichtspunkte gebracht (Ploog, 1964). Im Zusammenhang mit der Körperverletzung sollen zwei Beispiele erwähnt werden: 1. Körperverletzungen entstehen am häufigsten (fast 3 0 % aller Formen) aus Reibereien mit der Nachbarschaft. Daß Raumanspruch und Besitzverteidigung zum Instinktverhalten der Menschheit gehören, überspitzte Rangordnungskämpfe der heutigen Gesellschaft mit denen soziallebender Tiere, nicht nur in Gefangenschaft, sich vergleichen lassen, geht schon daraus hervor, daß ζ. B. im Freiland lebende Affen abgegrenzte Wohngebiete haben. Auch auf engem Raum zusammengedrängte Menschen in der Gefangenschaft grenzen, so eng die Raumverhältnisse auch sein mögen, ihren individuellen Raum, und sei es auch nur symbolisch, ab. Unter beengten Wohnverhältnissen entstehen also Affekte gegen Hausgenossen zwangsläufig, weil der individuelle Raumanspruch ein in der stammesgeschichtlichen Entwicklung begründetes Bedürfnis ist. Die Verletzung des individuellen Raum- und sozialen Anspruchs wird sofort in den verschiedensten Formen verarbeitet. Die Analyse von Körperverletzungen, aus Nachbarschaft entstanden, zeigt eine größere Häufigkeit bei psychologisch als primitiv zu beurteilenden Menschen; bei differenzierteren auf sozial höherem Niveau bestehen jedoch dieselben Affekte. Schließlich „kommen die tierischen Komponenten sozialen Lebens unverhüllt und klar zum Vorschein" im Gemeinschaftsleben geisteskranker Menschen (Ploog, 1964). Eine mutistisch katatone Frau in einer größeren Gruppe schizophrener Patienten verteidigt ihren Sitz-, Arbeits-, Eß- und Schlafplatz (Staehlin): Wer den Platzanspruch nicht beachtet, sich dem Territorium auch nur um weniger als 20 cm zu nähern wagt, setzt sich brutalen Aggressionen aus, deren Stärke von der Rangstellung abhängt, welche die angegriffene Person einnimmt. Gegen schwächliche oder autoritätslose Mitkranke ist die Aggression heftiger als gegen ranghöhere Personen; es spielt dabei keine Rolle, ob die Tabuvorschrift absichtlich oder unabsichtlich verletzt wird. 2. Auch die merkwürdig erscheinenden Grausamkeiten von Kindern untereinander werden aus der vergleichenden Entwicklung der Individualdistanzen verständlich. Ein Kind wird zum „Prügelknaben", wenn es nur geringfügig, oft unscheinbar von anderen Kindern abweicht; ein ähnliches Verhalten hat F . Goethe unter Vögeln beobachtet. In Dörfern, in denen das Gemein-
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Körperverletzung
schaftsieben noch beziehungsvoller ist als in den mehr anonymen Verhältnissen der Städte, gibt es hin und wieder auch erwachsene Prügelknaben, die nicht selten grausam, u. U. bis zum Tode, gequält werden. Es gibt auch eine Übertragung derartiger Aggressionen auf ganze Gruppen. „Die Intoleranz der Massen äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen" (Freud). Wieweit die aus der Ethologie jetzt fast geläufige Vorstellung begründet ist, der Mensch habe kein Signal für eine Aggressionshemmung — während ζ. B. Wölfe es haben: der zum tödlichen Biß hingestreckte Hals des unterlegenen Wolfes hemmt die Aggression —, kann hier unerörtert bleiben. Aber nach Konrad Lorenz (1964) besteht beim Menschen kein Gleichgewicht zwischen seiner technisch perfektionierten Bewaffnung und einer angeborenen Tötungshemmung. Eine kritische Phänomenologie der Körperverletzungen, die noch nicht erarbeitet ist, müßte sich mit diesen Problemen eingehender befassen. Für die Tatsache, daß die von Jugendlichen und Heranwachsenden begangenen Körperverletzungen bedeutend häufiger sind als bei den älteren Jahrgängen, dürften also kaum situationsbedingte äußere Begebenheiten allein eine ausreichende Erklärung abgeben. Innere Bedingungen — die noch nicht entwickelten Individualdistanzen — spielen eine ebenso entscheidende Rolle wie die noch unsichere soziale Anpassung. Der Anteil der Heranwachsenden bei Körperverletzungen ist so kennzeichnend hoch, daß damit eine Aussage über die Heranwachsenden überhaupt gemacht wird: Die Körperverletzung ist üblicherweise das Delikt eines jungen Täters, der im Vollbesitz seiner Kräfte, aber noch unbeherrscht und noch nicht durch das Leben zur Anpassung erzogen ist (Scholz, 1958). b) Anlässe von V e r l e t z u n g e n . Die Körperverletzungen aus Reibereien mit der Nachbarschaft stellen nicht nur die größte Gruppe, sondern sind auch dadurch bemerkenswert, daß hier nur selten, höchstens zwischen 2,5—4,5%, vorausgegangener Alkoholgenuß antreibend wirkt. Zwischen unbehebbarer Abneigung, schwelendem Ärger und festsitzendem Haß steigert sich die Agression zu den verschiedensten Verletzungen. Im Gegensatz zu allen anderen Körperverletzungen ist hier der Anteil der Frauen als Täter und als Opfer besonders groß. Das von der Mutter in Schutz genommene Kind, das nach Ansicht der Nachbarn mindestens unerzogen ist, bietet oft den aktuellen Tatanlaß. Je enger die Nachbarschaftsverhältnisse, um so größer die Konfliktmöglichkeiten, um so häufiger der Streit. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind nicht eindeutig. Der Streit entsteht auch weniger aus Unausgeglichenheit, mehr aus gesteigerter Anspruchsbehauptung. Scholz (1958) versuchte, eine Typologie der Kör-
perverletzungen aus Nachbarschafts- und Wohnraumstreitigkeiten durchzuführen; der Streit unter Nachbarn sei eine oberflächliche Reiberei, der Wohnraumstreit ernster, tiefgreifender, deshalb als Nebendelikt häufiger Nötigung. Über die Beteiligung der Akademiker an Körperverletzungen überhaupt liegen zu wenig Zahlen vor, sonst wäre es bemerkenswert, daß bei einem Akademikeranteil an Körperverletzungen von 2,2% diese bei Wohnraumstreitigkeiten mit 7% beteiligt sind. Im Wohnraumstreit wird der individuelle, ursprünglich instinktgesicherte Raumanspruch erregt. Deshalb sind gerade diese Auseinandersetzungen, die an sich unter sozial günstigeren Verhältnissen seltener werden, so hartnäckig. Der Anteil der Körperverletzungen aus Familienstreitigkeiten liegt bei 6%. Hier ist meist jeder gegen jeden beteiligt. Merkwürdigerweise — jedoch verstehbar — überwiegen die aus Haß handelnden Täter: Bei allgemeinen Körperverletzungen beträgt ihr Anteil 4,3%, bei Familienstreitigkeiten 24,3% (Scholz, 1958). Hieraus wird der hohe Anteil gefährlicher Körperverletzungen im Familienstreit verständlich. Allerdings werden leichte Körperverletzungen bei Familienstreitigkeiten meist nicht angezeigt; sie dürften daher wohl noch häufiger sein als die in der Statistik erscheinenden Körperverletzungen. Auf dem Land sind Familienstreitigkeiten, wohl durch die Gebundenheit kleinerer Familienbetriebe, häufiger als in der Stadt, in der, wenn kritische Verhältnisse entstehen, die Familie sich eher auflöst, als sich bis zur Körperverletzung zu streiten. Die Körperverletzungen bei Widerstand gegen die Staatsgewalt hegen bei 10%, bei Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Diebstahl sind sie fast gleichgroß. Hier ist der Alkoholeinfluß unverkennbar; bei Widerstandshandlungen ist führend das durch Alkoholgenuß gesteigerte Selbstgefühl. Wenn bei Widerstandshandlungen unter Alkoholeinfluß sich Körperverletzungen wiederholen, ist zu prüfen, ob der Täter picht nur Polizisten, sondern auch andere Personen angegriffen hat (sog. „Blaukoller"). Körperverletzungen in Gasthäusern sind deshalb immer noch recht häufig, weil diese der Sammelpunkt entsprechender, zur Körperverletzung neigender Persönlichkeitstypen sind. Die übrigen Anlässe zur Körperverletzung sind zahlenmäßig kaum hervorzuheben. Die Körperverletzungen auf sexuellem Hintergrund sind selten (5,4%; aus Eifersucht 1,2%); die sexuell Erfolg- und Kontaktlosen sind hier fast ausschließlich beteiligt. Der Sport ist ein besonderer Anlaß. Die politische Auseinandersetzung in Form von Körperverletzungen — in den letzten Jahren der Weimarer Republik häufig — spielt zur Zeit keine Rolle mehr. Den Körperverletzungen aus bestimmten Anlässen stehen anlaßlose gegenüber; die motivierten Taten sind zu unterscheiden von den motivlosen Körperverletzungen.
Körperverletzung c) Motive. Motiv ist der „innere Vorgang oder Zustand, der die Willensentscheidung geformt hat" (Dilthey). Nach Scholz (1958) sind vier Motive für die Körperverletzung bedeutsam: Wut, Zorn, Rauflust und Ärger. Die Unterscheidung zwischen Wut und Zorn, so begründet sie auch ist, dürfte nicht immer sicher durchzuführen sein, wie überhaupt die Erfassung der Motive nur bei besonders eingehend untersuchten Fällen möglich ist. Deshalb ist auch eine differenzierte Bestimmung des Anteils von Wut, Zorn, Rauflust und Ärger an leichteren und gefährlicheren Körperverletzungen, so aufschlußreich diese wären, an einem größeren Zahlenmaterial nicht nur schwierig, sondern kaum durchführbar. Mit diesem Vorbehalt errechnet Scholz: Gesamtzahl 521
Wut 52,0%
Zorn 18,1%
Rauflust 22,5%
Ärger 7,4%
Die übrigen Motive liegen zahlenmäßig weit unter diesen Werten: Haß, Rache, Übermut, Eifersucht. Bemerkenswert, wenn auch selten, sind Körperverletzungen aus Hilfsbereitschaft, Furcht und Eitelkeit. Ebenso selten, psychologisch schwer bestimmbar, sind anscheinend motivlose Körperverletzungen: Oft läßt sich bei eingehender Untersuchung eine Verstimmung feststellen, die auf ein zufällig auftauchendes Opfer übertragen wird. Beispiel: Ein Lehrling, der sich über seinen Meister geärgert hat, treibt sich auf dem Feld herum und schlägt einer zufällig vorbeikommenden alten Frau eine Bierflasche auf den Kopf. d) T ä t e r . Die Tätertypen, wie sie in der Kriminologie aufgestellt worden sind, sind für die Täter von Körperverletzungen kaum übernehmbar. Eine kritische Analyse der von Scholz (1958) aufgestellten Typen würde zu manchen Einwänden führen, doch erlaubt die Unterscheidung von Schlägern, Starrköpfigen, Rücksichtlosen und Unbeherrschten eine erste Einordnung. Im Einzelfall, falls aus den Tatumständen angezeigt, wird eine eingehende psychologische — gegebenenfalls psychiatrische — Untersuchung erforderlich sein. Die Voraussetzungen des § 51,1 und 2 StGB werden bei Körperverletzungen nur selten anerkannt. Beim Schlägertypus ist die Rauflust unverkennbar, sein Tatort ist gewöhnlich das Gasthaus. Straffällig werden die Schläger, während sie heranwachsen; später, nach dem 35. Lebensjahre, kaum noch. Wenn ein Erwachsener als Schläger bei Körperverletzungen beteiligt ist, handelt es sich meist um einen gefährlichen Täter; fast immer ist er durch vielfache Vorstrafen belastet. Der Starrköpfige, wenig anpassungsfähig und -bereit, ist darauf aus, sich um jeden Preis durchzusetzen; er handelt einsichtslos im Gefühl berechtigten Zornes. Nach kriminologischen Gesichtspunkten sind Schläger und Starrköpfige eher Zustandstäter, Rücksichtslose und Un-
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beherrschte mehr Gelegenheitstäter, die einen durch Wut, die anderen durch Ärger bestimmt. Die Statistik zeigt, daß die Körperverletzung eigentlich das Delikt der Zeit zwischen dem 18. bis höchstens 30. Lebensjahre ist, außerdem, daß Alkoholeinfluß nur in diesem Lebensabschnitt von wesentlicher Bedeutung ist. Wie sehr die Körperverletzung auch altersbedingt ist, geht aus einer Zusammenstellung von Aschaffenburg (1923) hervor: Die damals bereits verheirateten jungen Männer zwischen 18 und 21 Jahren waren so häufig an Körperverletzungen beteiligt wie dieselbe nicht verheiratete Altersgruppe heute. Wenn auch die Landbevölkerung insgesamt an Körperverletzungen stärker beteiligt ist — mit geringfügigen Schwankungen um annähernd 8% mehr als die Stadtbevölkerung —, so bestehen wesentliche Unterschiede nur noch bei Jugendlichen der Städte um das 15. Lebensjahr. Die Konfessionen sind gleichmäßig beteiligt. Bei allen Körperverletzungen sind die Vorstrafen im Zusammenhang mit Alkoholeinfluß zu berücksichtigen. Die Vorstrafen liegen mit 40—45% recht hoch, unter 200 Fällen war, wenn bis zu zwei einschlägige Vorstrafen vorliegen, die dritte Tat bei fast 50% unter Alkoholeinfluß begangen worden. Wenn mehr als drei einschlägige Vorstrafen vorausgegangen waren, war die nachfolgende Tat in 35% aller Fälle alkoholbeeinflußt. Daraus könnte geschlossen werden, die Körperverletzung ohne Alkoholeinfluß gehe immer mehr zurück. Bestrafungen wegen Volltrunkenheit nach § 330a bei Körperverletzungen liegen unter 3%. Damit wird die alte Erfahrung bestätigt: Der chronische Trinker ist schon so weit abgebaut, daß seine Aggression sich fast nur gegen sich selbst richtet. 3. Gerichtsmedizinische
Abgrenzungen
a) A l l g e m e i n e s . Die einzelnen medizinisch beurteilten Formen der Körperverletzung decken sich nicht immer mit der Definition des Straf- und Zivilrechts. Die Bestimmung einer leichten Körperverletzung wird kaum Schwierigkeiten mit sich bringen. Die „schwere" nach § 224 StGB ist wesentlich durch ihre Formen bestimmt. Der Verlust eines Gliedes, nicht nur die Gebrauchsunfähigkeit, ist eine schwere Körperverletzung. In gewissem Gegensatz zur medizinischen Auffassung ist der Verlust eines Auges oder der Sehfähigkeit von einem Auge eine schwere Körperverletzung, der Verlust des Gehörs dagegen muß auf beiden Ohren eingetreten sein. Wenn nur die Hell- und Dunkelunterscheidung verblieben ist, bedeutet dies, ebenso wie der Sprachverlust, eine schwere Körperverletzung. Auch wenn die Potentia coeundi erhalten geblieben ist, ist der Verlust der Potentia generandi eine schwere Körperverletzung. Eine erhebliche Entstellung als Folge
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Körperverletzung
einer dann als schwer zu bezeichnenden Körperverletzung liegt vor, wenn die Entstellung sofort auffällig ist, selbst dann, wenn eine kosmetische Korrektur diese Auffälligkeit weitgehend ausgleicht. Über Siechtum ist kaum eine Erörterung notwendig, lediglich, daß Unheilbarkeit nicht vorausgesetzt wird. Die Verletzung des Rückenmarkes ist immer, selbst bei nur teilweiser oder vorübergehender Lähmung, eine schwere Körperverletzung. Während kurzfristige Bewußtlosigkeit, auch Ohnmacht, keine schwere Körperverletzung ist, liegt strafrechtlich eine vor, wenn eine länger dauernde Geistesstörung entsteht, auch wenn diese vollkommen heilbar sein sollte. Die gefährliche Körperverletzung nach § 223 a StGB wird weniger durch Form, Lage, Ausmaß der Wunde, sondern dadurch bestimmt, daß eine Waffe oder, als Waffe, ein gefährliches Werkzeug, gleichgültig welcher Art, benutzt wird; es kommt ausschließlich auf die gegebene Gefahr an. Verletzungen, die bei einem hinterlistigen Überfall entstehen, gelten gleichfalls als gefährliche. Der ein- oder doppelhändig durchgeführte Halsgriff ist auch bei geringfügig erscheinenden Spuren eine gefährliche Verletzung. Der Faustschlag gegen das Kinn und Gesicht kann nicht als gefährlich im Sinne der strafrechtlichen Definition bezeichnet werden; er führt jedoch oft entweder über sofort einsetzende Bewußtlosigkeit oder Standunfähigkeit zum Sturz, meist auf den Hinterkopf, und ist deshalb eine der häufigsten Formen der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB). Die durch Körperverletzung entstandenen zivil- und versicherungsrechtlichen Nachspiele, meist nach § 823 oder 874 BGB, sind aufschlußreich lediglich durch die Unterscheidungen einzelner Körperverletzungen hinsichtlich der Bestimmung des Schmerzensgeldes. Hier werden unterschieden 1. ganz leichte Fälle (Prellungen, Blutergüsse), 2. leichte Fälle (Schnittverletzungen, einfache Knochenbrüche), 3. mittelschwere Fälle (Brüche großer Knochen, jedoch ohne Komplikationen, Gehirnerschütterung, gut heilende Bauchverletzungen), 4. schwere Fälle (Oberschenkelbrüche, Brüche mit längerer Heildauer und Nachbehandlung, Bauchoperationen mit Komplikationen), 5. sehr schwere Fälle (Knochenbrüche mit Gelenkverletzungen, Notwendigkeit mehrfacher Operationen, Amputationen), 6. ungewöhnlich schwere Fälle (Rückenmarksverletzungen mit Lähmung der Beine, der Blase, des Darmes, auch Schmerz als Dauerzustand). b) Über V e r l e t z u n g e n i m e i n z e l n e n . Unter medizinischen Gesichtspunkten sind zu unterscheiden instrumentelle Verletzungen durch Schnitt, Stich und Hieb, stumpfe durch Schlag, Sturz und Druck. Bei allen Körperverletzungen, sofern sie unter forensischen Gesichtspunkten untersucht und beurteilt werden, sind folgende
Punkte festzuhalten und gegebenenfalls zu klären: 1. Form, Ausdehnung, Lage; 2. Schweregrad: a) Tödliche oder gefährliche Körperstelle; b) eingetretener Schaden einschließlich Beurteilung der Arbeitsfähigkeit, bleibender Nachteile, Lebensaussichten; 3. Art der äußeren Einwirkung: a) Instrument mit Spuren; b) Intensität; c) Identifikation: Instrument und Wundform; d) Rekonstruktion. Die Schnittverletzung ist durch scharfen Rand, Winkel und Grund der Wunde gekennzeichnet, ihre Form abhängig von Schneidgröße und -zustand, Richtungsverlauf der Spaltbarkeitslinien der Haut, der Gewebeart, der Rasanz der Schnittführung (mehrere Schnittwunden bei einem rasanten Zug), dem Opfer in der Tatsituation (Schnittwunden als Abwehrverletzungen). Die Identifikation des Schneidewerkzeuges setzt große Erfahrung voraus bei der Unterscheidung von ein- oder zweischneidigen Werkzeugen mit Scharten, bei der Erkennung mitverschleppter Fremdkörper. Die Bestimmung der Zahl und Reihenfolge sowie der Intensität der Schnitte erlaubt eine Aussage über die Brutalität des Täters, die Richtung bei mehreren Schnitten gegebenenfalls über die Tatsituation. Die Stichverletzung setzt ein schmales Instrument mit mehr oder weniger geformter Spitze und axialer Führung desselben voraus. Die Bestimmung der Stichrichtung, der Form und Länge des Instrumentes sind die am häufigsten gestellten Fragen. Durch die Vielfalt verwendeter Instrumente ergeben sich oft nicht einfach zu bestimmende Abweichungen von der Grundform der Stichwunde. Die Wundränder können sich durch Zug oft wesentlich verkürzen, bei weniger tiefen Stichen kann die Spitzenbreite nicht ganz eingeführt gewesen sein, der Stichkanal kann länger als die Waffe selbst sein. Zur Erkennung des Instrumentes sind gegebenenfalls auch Stanzspuren, bei einem Messer etwa vom Heft desselben, nicht nur an der Haut, auch an der Kleidung zu berücksichtigen. Die Hiebwunden — „ideales" Werkzeug: Beil — sind gekennzeichnet durch Schnittund Druckveränderungen der verletzten Gewebe. Je nach Werkzeug, Stellung des Täters und Opfers überwiegt die eine oder andere Wundform. So entsteht bei nur oberflächlichem Schlag mit einem Beil fast eine Schnittwunde, deren Form dann der des Werkzeuges entspricht. Eine Klärung ist durch Adaptation mit Instrument und Wunde möglich. Die Tiefenwirkung wird von der Wucht bestimmt. Diese ist um so größer, je weiter das Gewicht — Beispiel: Axt — am Hebelarm vorne liegt. Durch die Schlagrichtung ergeben sich auch hier vielfache Abweichungen von der Grundform. Bei mehrfachen Hiebwunden sind diese Abweichungen deshalb bedeutsam, weil sie unter Berücksichti-
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Körperverletzung gung der Adaptation von Wunde und Instrument sichere Rückschlüsse auf die Tatsituation ermöglichen. Bei Hiebverletzungen von Knorpel und Knochen, auch am Schädel, ist die Abformung des Werkzeuges, gelegentlich sogar mit Schartenspuren gut erkennbar. Unter Berücksichtigung der Untersuchung des Instrumentes und der einzelnen Wunden sind bei Hiebverletzungen die Aussichten einer eindeutigen Rekonstruktion besonders günstig. Die Verletzungen durch stumpfe Gewalt (Faust, Fußtritt, Knüppel, Stein) sind so verschiedenartig, daß eine alle Wundformen erfassende Einteilung kaum möglich erscheint. Die Schürfwunden erlauben Rückschlüsse auf Art der Gewalteinwirkung, Schleifrichtung, Druck und Zugstärke sowie, aus den Dehnungsverletzungen, Erkennung der Spannungsgröße. Weniger Rückschlüsse ergeben sich aus abgegrenzten Hautblutungen, die je nach der Farbe eine Bestimmung des Alters der Verletzung ermöglichen. Eine der häufigsten Verletzungen ist die Platzwunde mit ihrer typischen Lage: Kopfschwarte, Jochbogen, Kinnspitze, Brustbein, Kniescheibe, Schienbeinkante. Ein Rückschluß auf das benutzte Werkzeug ist nur ausnahmsweise und nur bei besonderer Kombination einzelner Merkmale möglich. Eine typische Verletzung entsteht bei Stockschlägen dadurch, daß jedem Schlag ein Doppelstreifen entspricht, so daß sowohl Zahl wie Richtung der Schläge bestimmt werden kann. Die Quetsch- und Rißwunden, Ablederung der Haut von der Muskulatur sowie die Wundformung durch verschleppte Fremdkörper sind weniger bei Körperverletzungen als bei Unfällen, vor allem im Straßenverkehr, von Bedeutung. Dasselbe gilt für Durchspießungsund Pfählungsverletzungen. Bißverletzungen entstehen nicht immer aus sexuellem Anlaß; sie kommen bei verschiedenartig veranlaßten Körperverletzungen vor, auch im Familienstreit aus Wut. Die Überführung des Täters aus der Bißform kann, im Gegensatz zur allgemeinen Ansicht, recht schwierig sein. Bei Würgeverletzungen am Hals entstehen halbmondförmige Quetschungen durch senkrechten Druck der Fingernägel. Die Griffrichtung läßt sich durch die an die Basis der Wunde verschobenen oberflächlichen Hautreste erkennen. Da beim Druck ein Teil der Haut in die Wundtiefe verschoben wird, der andere unter den Fingernagel selbst, ist es geläufig, beim Täter den Nagelschmutz zu untersuchen. Bei Verletzungen durch Steinwürfe ist zu bedenken, daß nicht nur Platzwunden, selbst Schädelbrüche, entstehen können, da die Wucht eines Steines von 200g, bei einer Wurfweite von 60 m eine Endgeschwindigkeit von 24 m/sec erreicht und annähernd 6 m/kg beträgt. Noch gefährlicher sind Steinwürfe auf fahrende Kraftfahrzeuge. Bei Verletzungen durch stumpfe Gewalt ergibt die Untersuchung der
Kleidung ebenfalls wichtige Rückschlüsse. Über die durch stumpfe Gewalt entstandenen Knochenund Organverletzungen sowie deren Auswirkungen kann hier nicht berichtet werden. 4. Sonderformen
der
Verletzungen
a) U n t e r l a s s u n g , V e r n a c h l ä s s i g u n g . Die durch Aussetzung (§ 221) entstandenen Körperverletzungen sind selten; sie bringen mehr rechtliche als medizinische Fragen. Über die Häufigkeit sind in den letzten Jahren keine exakten Angaben gemacht worden. Dagegen sind Körperverletzungen durch Unterlassungen häufiger, medizinisch oft schwer bestimmbar. Wieweit durch Unterlassung eine Körperverletzung entstand, ist im Einzelfall eingehend, unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten, zu untersuchen. Durch Unterlassung einfacher pflegerischer Maßnahmen bei Säuglingen und Kleinkindern entstehen chronische Entzündungen der Haut, schließlich, da diese ebenfalls nicht behandelt werden, tiefgreifende Hautwunden (eigene Beobachtung: Tod durch Hautentzündung und Hautwunden bei fortgesetztem Pflegemangel). Die später vorgetragenen Einwände, sowohl subjektiv über die Täter, objektiv unter Bezug auf die doch noch gelegentlich durchgeführte Pflege, führen zu langwierigen Ermittlungen und infolge mancher Widersprüche oft zur Einstellung der Verfahren. Wegen Unterlassung geeigneter Therapie und rechtzeitiger Einleitung möglicher lebensrettender Maßnahmen wurde ein Arzt bestraft. Die Unterlassung pflegerischer Maßnahmen an Alten, Kranken und hilflosen Personen, von denen einzelne tot, völlig vernachlässigt, aufgefunden werden, führt nur selten zu der notwendigen eindeutigen Aufklärung, da meistens die Umstände, die zur Unterlassung der Pflege führten, nicht aufgeklärt werden konnten. Der Verdacht eines fortlaufenden Nahrungsentzuges bei Säuglingen und Kleinkindern — die schließlich an einer Lungenentzündung sterben — kommt häufiger auf; der Beweis des Nahrungsentzuges und der Pflegeunterlassung ist jedoch deshalb kaum zu führen, weil bereits während der Unterlassungszeit gerade bei Säuglingen und Kleinkindern verschiedene Infektionskrankheiten den Ablauf mitzubestimmen vermögen. Die Dunkelziffer ist hier wohl größer, als allgemein angenommen wird. b) M e d i z i n i s c h e E x p e r i m e n t e . Wenn schon zu Heilzwecken durchgeführte ärztliche Eingriffe unter besonderen Bedingungen als Körperverletzung aufgefaßt wurden — bei einer Interpretation der Körperverletzung als einer Verletzung der Körperinteressen könnte dies bei ärztlichen Maßnahmen nicht mehr der Fall sein —, so bestehen keine Zweifel, daß bei medizinischen Experimenten an Menschen, sofern sie überhaupt
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Körperverletzung
zulässig und von vornherein nicht als anstößig zu betrachten sind, bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Die Voraussetzungen zur Durchführung medizinischer Experimente an Menschen sind nach objektiven und subjektiven Gesichtspunkten zu prüfen. Die o b j e k t i v e n Voraussetzungen sind 1. die Überprüfbarkeit der Experimente, 2. die vorausgegangenen Untersuchungen müssen einen möglichen, vor dem Experiment am Menschen noch nicht zu übersehenden Schaden durch ausreichende tierexperimentelle Untersuchungen weitgehend ausgeschlossen haben, 3. es dürfen keine anderen Möglichkeiten zur weiteren experimentellen Entwicklung gegeben sein als Versuche am Menschen, 4. die Experimente müssen dringend, nicht nur im Sinne eines allgemeinen wissenschaftlichen Fortschrittes, sondern in der Erwartung unmittelbaren Nutzens für gefährdete Kranke oder durch Krankheit geschädigte Menschen sein. Die s u b j e k t i v e n Voraussetzungen bei dem Menschen, der zum Experiment benutzt werden soll, sind 1. Freiwilligkeit, 2. Aufklärung, 3. Urteilsfähigkeit, 4. Einwilligung. Die Freiwilligkeit ist im weitesten Sinne aufzufassen, deshalb unter allen die Freiheit einschränkenden Bedingungen nicht möglich (ζ. B . Strafgefangenschaft). Eine Einwilligung ist nur gegeben, wenn die Freiwilligkeit gewährleistet ist und eine weitgehende Aufklärung über die Tragweite des Experiments erfolgte. Die Aufklärung muß verstanden worden sein. Wer in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt ist und deshalb den Umfang der Experimente, denen er sich unterziehen soll, nicht erkennen kann, ist nicht fähig, eine rechtswirksame Einwilligung zu geben. Wenn auch nur eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben ist, handelt es sich um Körperverletzung und, da das Experiment planmäßig gesetzt wird, um eine vorsätzliche Körperverletzung. c) K ö r p e r v e r l e t z u n g und Sport. Die häufigsten Sportverletzungen entstehen verständlicherweise beim Boxen, beim Rubgy, Base- und Fußballspiel. Es ist nicht erstaunlich, daß ein einzelner Beobachter (Gonzales, 1951) allein über 73 tödliche Sportverletzungen berichten kann. Ein Faustschlag in das Gesicht ist gefährlicher, nicht mit dem Schlag mit einem Boxhandschuh vergleichbar. Die oft vielfältigen Verletzungen sind, soweit sie direkt beim Spiel entstehen, kaum von kriminalistischer Bedeutung. Dagegen können Absturzverletzungen im Gebirge, beim Hochgebirgswandern, beim Klettersport und Pfählungsverletzungen beim Skilaufen schwierig zu beurteilen sein. Nur selten kommt es auf Entstehung und Erkennung der Sportverletzungen allein an. Oft ist ζ. B . beim Fußballspiel zu bestimmen, ob die Verletzung infolge einer Regelwidrigkeit entstand. Ein Spieler willigt in einem nach den Regeln ausgetragenen Spiel nicht in grobfahrlässige oder vorsätzliche Regelverstöße des Gegenspielers
ein. Der Einsatz im Spiel ist keine allgemeine Einwilligung ; vorsätzliche oder grob-fahrlässige Regelverstöße schließen die Strafbarkeit der Körperverletzung nicht aus. Wieweit ein Regelverstoß vorlag, dürfte nicht immer einfach zu entscheiden sein. Wenn es sich um Verletzungen bei groben Regelverstößen, oft in der Erregung entstanden, handelt, sind allein aus der Wundform wichtige Schlüsse möglich, jedoch alle nicht immer leicht erfaßbaren Umstände abwägend zu berücksichtigen. Die Massenschlägereien beim Sport, früher vorwiegend bei mehr ländlichen Vereinen, sind ein Modellfall für erregte Massen mit verlorener Individualdistanz. Die mißbilligte Entscheidung der Schiedsrichter führt zu einer zunächst begrenzten Schlägerei, die wie ein Signal die durch das Spiel erregten Aggressionen so aufzutreiben vermag, daß ein Massenunglück entstehen kann. Todesfälle aus innerer natürlicher Ursache bei zufälligen Sportverletzungen sind ebenfalls zu berücksichtigen. Da über Zwischenfälle bei Mensuren häufig E n t rüstung entstehen kann, sind diese Verletzungen besonders sorgfältig zu prüfen. d) S e l b s t v e r l e t z u n g e n . Während Selbstverletzungen auch heute noch in Gefängnissen häufig, jedoch kaum von kriminologischer Bedeutung sind, ist Erkennung und Beurteilung bei den Formen, die zur Vortäuschung oder Verschleierung gesetzt werden, von praktischem Interesse. Die oft eigenartigen Stich- und Schnittverletzungen beim Selbstmord sind hier deshalb zu erwähnen, weil sie die weiten Möglichkeiten selbstbeigebrachter Körperverletzungen erkennen lassen. Dasselbe könnte, noch auffälliger, bei Hiebverletzungen, oft mehrfache mit einer Axt, zur Selbsttötung durchgeführt, gesagt werden. Entscheidend ist bei Stich- und Schnittverletzungen die Prüfung, ob sie nach Lage und Richtung überhaupt durch eigene Hand entstanden sein können. Dabei sind auch ungewöhnliche Situationen zu berücksichtigen (Stichverletzungen zwischen den Schultern als Selbstverletzung, Mueller, 1953). Eine sorgfältig abgegebene Untersuchung und Beurteilung ist bei Verletzung und Abtrennung einzelner Finger, meist als behauptete Unfälle, notwendig. Die medizinische Beurteilung führt hier nicht zu eindeutigen Ergebnissen und ist durch kriminalistische Überlegungen zu ergänzen (etwa Probierschnitte bei Handverletzungen; sie können fehlen). Nur selten kommen durch stumpfe Gewalten entstandene Selbstverletzungen vor; häufig ist jedoch die Behauptung, sie seien bei einem Angriff entstanden, während in Wahrheit ein selbstverschuldeter Unfall, Sturz in der Trunkenheit, verschleiert werden soll. Daß auch Bisse als Selbstverletzungen vorkommen, ist zu beachten. Selbst beigebrachte Stich- und Schnitt Verletzungen sind bei psychischen Störungen verschiedener Art, meist Angstneurosen, zu beobachten.
Körperverletzung Schnittverletzungen am Ober- und Unterarm, auch am Körperstamm, sind als Selbstverletzungen eindeutig bestimmbar, wenn sie gleichmäßig alle auf einen zentralen Punkt zulaufen, und erlauben gleichzeitig eine Aussage über die Rechtsund Linkshändigkeit. 5. Beweissicherungen
bei Verletzungen
Bei Körperverletzungen wird in annähernd 3 0 % der Fälle die Tat zugegeben, in 2 0 % bestritten, in 2 5 % versucht, die Verletzung zu bagatellisieren; in 2 5 % wird behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben. J e schwerwiegender die Tat, vor allem bei vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge, um so häufiger werden zur Entlastung oft schwer widerlegbare Behauptungen über die Entstehung der Verletzungen vorgebracht. Die Überprüfung dieser Verletzungen sollte nach 3 Gesichtspunkten erfolgen: 1. Die Wundformen unter Berücksichtigung des benutzten Instrumentes und der Spuren: Widerspruch zwischen Wundform zu angeblich benutztem oder abgestrittenem Werkzeug, zwischen Wundgröße und -tiefe und Werkzeug, zwischen angeblich benutztem Werkzeug und Spuren. 2. Die Lokalisation der Wunden: Behauptung, in den Rücken gestoßen zu haben; nachgewiesen Kinnprellung und Hinterhauptsbruch, Faustschlag ins Gesicht. Behauptung: Schlag mit flacher Hand; nachgewiesen Bruch der linken 5. Rippe mit Milzriß bei winkelförmiger Prellung der Brusthaut, Fußtritt mit spitzem Schuh. 3. Rekonstruktion. Über die Widerlegung von Schutzbehauptungen durch Rekonstruktion berichteten Casper (1871) und Mueller (1953) ausführlicher. Die Behauptung, nicht geschnitten zu haben, das Opfer sei am hingehaltenen Messer vorbeigelaufen, oder nicht selbst zugestochen zu haben, das Opfer sei in das zur Abwehr vorgehaltene Messer gelaufen, ist unter Berücksichtigung der Körpergrößen, des Werkzeuges, der Wundform und -lokalisation sowie des Tatortes einschließlich der Stellung von Täter und Opfer oft leicht zu widerlegen. Schwieriger ist die Entscheidung, wenn über einen Raufhandel behauptet wird, das Opfer habe, schon liegend, ein Messer gezogen, bei der Abwehr sei es zu Selbstverletzungen gekommen; die Lage von Täter und Opfer im kritischen Augenblick ist festzulegen, die Wundformen unter Berücksichtigung der möglichen Schnitt- und Stichführungen zu prüfen, bei mehrfachen Verletzungen die Handlungsfähigkeit zu bedenken. Aus Verformungen der Werkzeuge sind bei sorgfältiger Berücksichtigung aller aus der Tatsituation kommenden Gegebenheiten wesentliche Rückschlüsse (auch auf Entlastungen: Mueller 1958) möglich. Schutzbehauptungen, in denen die Verletzungen zugegeben, die Folgen bestritten werden, sind nur überprüfbar, wenn von sorgfältigen Unter-
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suchungen ausgegangen werden kann (sie werden, wenn nach der Tat alles klar und eindeutig erscheint, oft versäumt). Beispiel: Ein Schlag mit einem Eßnapf auf den Kopf wurde nicht bestritten, Schädelbruch und Hirnverletzung jedoch mit dem Hinweis auf einen tatsächlichen, 36 Stunden vorher erfolgten Sturz im epileptischen Anfall zu erklären versucht, aber durch histologische Bestimmung des Alters der Verletzung widerlegt. Die Überprüfung von Schutzbehauptungen erfordert Erfahrungen in der Altersbestimmung von Verletzungen und in der Abgrenzung einzelner Wundformen in ihrer zeitlich verschiedenen Entstehung. Die Bestimmung der Priorität verschiedenartiger Körperschädigungen ist ein besonderes Problem der gerichtlichen Medizin (Mueller 1955). 6. Die
Kindesmißhandlung
Der Notwendigkeit eines besonderen strafrechtlichen Schutzes der Kinder gegen Mißhandlung wurde 1912 durch Fassung des § 223 a StGB, Absatz 2, entsprochen. Da dieser sich nicht als ausreichend erwies, wurde 1933 durch § 223 b eine umfassende Schutzbestimmung geschaffen für Kinder bis zum 14. und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr, wenn sie a) in Fürsorge oder Obhut des Täters stehend, b) seinem Hausstand zugehörig, c) auch bei übertragener Fürsorgepflicht, d) in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zum Täter entweder gequält (auch seelisch genügt) oder roh mißhandelt werden oder durch böswillige Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht einen Gesundheitsschaden erleiden. Die Mißhandlung und seelische Quälerei eines Kindes, das zu dem Täter in einem der obengenannten Schutzverhältnisse steht, erfüllt den qualifizierten Tatbestand des § 223b (in besonders schweren Fällen Zuchthaus 1) erst, wenn dem Täter ein Handeln nicht nur mit Vorsatz, sondern auch aus roher, d. h. gefühlloser, fremde Leiden mißachtender Gesinnung oder aus Böswilligkeit (Bosheit, Haß, Sadismus) vom Gericht nachgewiesen wird. Wer nicht aus solcher Haltung, sondern nur aus großer Erregung gehandelt hat — wie oft die leicht schwachsinnige Mutter, wenn sie von den Pflichten des Haushalts und der Kindererziehung überfordert wird —, ist nicht der in § 223b beschriebene Tätertyp des gemütsflachen, systematischen Quälers, primitiven Schlägers, reizbaren Psychopathen, Trinkers und asozialen Rohlings, meist mit gehäuften einschlägigen Vorstrafen. Schon Moericke (1933) war der Ansicht, Kindesmißhandlung, auch ihre Bekämpfung, sei nicht nur ein kriminalistisches und strafrechtliches Problem, sondern auch eine soziale Frage, d. h. eine fürsorgerische Aufgabe; Wohnungselend und Arbeitslosigkeit seien der günstigste Nährboden der Kindesmißhandlung; die Täter seien gleich-
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Körperverletzung
falls Symptome des Elends: Trunksüchtige, Unbeherrschte, Reizbare, Lebensuntüchtige; die Opfer dagegen seien oft unerwünschte, uneheliche oder voreheliche, häufig auch körperlich und geistig zurückgebliebene Kinder und Kinder aus zerrütteten Ehen. Über die Häufigkeit der Kindesmißhandlungen überhaupt sind exakte Angaben nicht zu erreichen; die Verurteiltenziffer sagt nur wenig aus: 1920 wurden 307, 1930: 202, 1936: 489 Personen verurteilt. Die amtlichen Statistiken enthalten keine gesonderten Zahlen über Kindesmißhandlungen, sondern fassen die Verurteilungen nach § 223 a und b zusammen. Da über die allgemeine Häufigkeit keine Zahlen zu erbringen sind, ist zu bedenken, daß die Erfassung aufgrund der Akten einzelner Staatsanwaltschaften, abgesehen von der kleinen Zahl, auch mit einem Auswahlfehler für eine statistische Bearbeitung behaftet ist. Sachs (1962) glaubt eine Zunahme zwischen 1955 und 1960 feststellen zu können. Von einer allgemeinen Elendsumwelt in dieser Zeit kann nicht mehr gesprochen werden. Unter allen Beobachtungen sind einige Kinder aus einem dem allgemeinen Wohlstand — wenigstens von außen gesehen — entsprechenden Milieu. Damit soll nicht festgestellt sein, daß Kindesmißhandlungen milieuunabhängig sind, sondern vom Täter, der je nach seiner Person auch sein Milieu entwickelt, aus betrachtet werden müssen. Ein wesentlicher Unterschied in der Häufigkeit der Kindesmißhandlung besteht zwischen ehelichen und unehelichen Kindern, zwischen eigenen und Stiefkindern nicht. Eine detaillierte Beschreibung der objektiven Tatausführung würde eine kaum ertragbare Skala menschlicher Grausamkeiten zeigen. Schon Casper (1871) beschreibt, wie Eltern, die Wespen über längere Zeit einfingen, diese mit einem Kind zusammen einsperrten. Es soll hier der Hinweis genügen, was Kinder in Situationen, die allein schon eine Qual bedeuten, noch an Grausamkeiten erdulden: Gewürgt, an den Händen hochgezogen, mit dem Kopf aufgeschlagen. Fast jede Art kaum vorstellbarer Grausamkeiten wird verübt: Verbrennen, Fesseln, Einsperren, Würgen, Schleifen, Erbrochenes essen lassen. Die Verletzungen bei Kindesmißhandlung unterscheiden sich, nur nach den Wunden beurteilt, nicht von den übrigen Körperverletzungen; dagegen ist die Kindesmißhandlung nur ausnahmsweise eine einmalige Handlung, in der Regel wird sie über längere Zeit fortgesetzt, fast immer bestehen Spuren vorausgegangener Mißhandlungen neben den frischen Verletzungen. Die Mißhandlung erstreckt sich über Monate, gelegentlich über Jahre. Es scheint eine Scheu der Nachbarschaft zu bestehen, bei Kindesmißhandlungen einzugreifen. Die Zurückhaltung der Zeugen war früher allgemein bekannt. Die Tat kommt häufig durch anonyme Anzeigen zur Kenntnis, selten durch die amtliche Fürsorge unmittelbar. Oft
stellt sich bei der späteren Begutachtung, besonders bei Todesfällen, heraus, daß Nachbarschaft, Polizei und Jugendamt um die Zustände wußten, sie aber nicht ernst genug nahmen und nur mit gelegentlichen Rücksprachen warnend sich begnügt hatten. Es ist eine alte Erfahrung, daß bei Kindesmißhandlung ein sofortiger Milieuwechsel des Kindes, rasche Ermittlung und Aburteilung der Täter der einzige sichere Weg zum Schutze des Kindes ist. Bei solchen Kindesmißhandlungen wird nur selten zugegeben, sondern häufig geleugnet oder bagatellisiert. Ein Motiv für eine Kindesmißhandlung kann es eigentlich nicht geben. Der Anlaß zur Mißhandlung ist oft banal, Erziehungsschwierigkeiten werden behauptet, niemals ist der Anlaß irgendwie den Mißhandlungen adäquat. Manche Quäler entwickeln schließlich ein Mißhandlungssystem, in dem es keine Anlässe mehr gibt. Da Schutzbehauptungen mehr als bei anderen Formen der Körperverletzung bei Kindesmißhandlung am hartnäckigsten vorgetragen werden, sind die Verletzungen besonders sorgfältig zu untersuchen und (wichtig: auch farbphotographisch) festzuhalten. Stock- und Rutenschläge, Würgemale, Schlagspuren durch Schürhaken, Eßgeschirre, Verletzungen durch Flaschen und Gläser, Platzwunden im Lippenbereich sind eindeutig feststellbar. Schwieriger zu erkennen sind Kneifverletzungen, besonders dann, wenn durch die Kleidung zugegriffen wurde. Häufig sind folgende Behauptungen: Das Kind sei gestürzt, deshalb die Prellungen: zu untersuchen ist, ob ein-, zwei- oder mehrfache Prellungen bei gleicher Sturzrichtung überhaupt möglich sind. Das Kind sei, von der Treppe fallend, mit dem Kopf aufgeschlagen, deshalb der Schädelbruch: Untersuchen, ob ein- oder mehrfache Brüche, mehrere Bruchzentren, verschiedene Kopfverletzungen. Das Kind sei, als die Tür zuschlug, eingeklemmt worden, deshalb der teilweise Ohrabriß: Untersuchen, ob Zugrichtung mit Abriß und Wundform übereinstimmen, Druckerscheinungen am Ohr, weitere Verletzungen. Mit diesen Beispielen soll nur die Art der einzelnen Schutzbehauptungen und ihrer Widerlegung gekennzeichnet werden. Nicht nur zwischen den einzelnen Formen der Kindesmißhandlung überhaupt, ihren sozialen Gegebenheiten, auch hinsichtlich der Schutzbehauptungen bestehen in Polen (Popielski, 1958), in Frankreich (Chaumont, 1957, Marcoux, 1958), Schweiz (Böschweiler, 1963) und in der Bundesrepublik keine Unterschiede. Uber das Züchtigungsrecht, das einzelne Täter für sich beanspruchen, ist im Zusammenhang mit Kindesmißhandlung kein Wort zu verlieren. Überspannte Erziehungsversuche sind, wenn Verletzungen vorliegen, auf Sadismus der Erzieher zu überprüfen. Übertriebene Abhärtung kann verschleierte Kindesmißhandlung sein. Bei der kleinen Gruppe unauffälliger Täter in sozial angehobenem Milieu
Körperverletzung ist zu beachten, daß hinter einer Kindesmißhandlung eine Psychose sich verbergen kann (Bankangestellter überspannt die Erziehung seines Kindes schließlich so, daß unter qualvollen Übungen durch Bauchverletzungen der Tod eintritt; über Wochen fortgesetzte psychiatrische Untersuchung des Täters erfaßte eine bewußt lavierte Schizophrenie). Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß die Opfer auch dann, wenn sie anscheinend noch rechtzeitig aus dem Milieu herauskommen, bleibende Schäden weniger körperlich als psychisch aufweisen. Der Schaden kann, wenn die Erfahrungen der Kinderpsychologie berücksichtigt werden, nicht mehr behoben, höchstens durch Anpassung in seinen Erscheinungsformen abgeschwächt werden. Über den späteren Entwicklungsgang mißhandelter Kinder bis zum Erwachsenenalter liegen bemerkenswerterweise nur einzelne, aber keine ausreichenden systematischen Untersuchungen vor. Die Kasuistik jedoch zeigt, daß die Opfer von Aggressionen im frühen Kindesalter später eine Tendenz zu aggressiven Handlungen haben („Mißhandelte mißhandeln"). Nach dem Vorbild der 1884 gegründeten britischen privaten "National Society for the Prevention of Cruelty to Children" (Sitz London) sind in vielen Staaten ähnliche Einrichtungen entstanden, so in der BRD 1953 der „Deutsche Kinderschutzbund e. V . " (Sitz Hamburg). Die britische Gesellschaft hat 217 hauptberufliche Sozialarbeiter, die über das ganze Land verteilt und motorisiert sind, um jedem angezeigten Fall von Kindesmißhandlung sofort nachgehen zu können. Im Jahre 1965 wurden der Gesellschaft aus der Bevölkerung 24866, von Amtsstellen (Polizei, Schulen) rd. 10000 Fälle gemeldet. Davon stellten sich nur 0,5% als ungerechtfertigte Anzeigen heraus; 618 Fälle deckten die Sozialarbeiter der Gesellschaft auf. Im ganzen waren fast 115000 Kinder betroffen. In 68% der Fälle ging es um eine Kindesmißhandlung in Form der Vernachlässigung der Sorgepflicht der Eltern. Die Gesellschaft leitet Strafverfolgungen vor den Gerichten ein. Ihre Haupttätigkeit besteht aber in der Sanierung der Familienverhältnisse und in der Sicherstellung des Schutzes und der Erziehung der betroffenen Kinder. In der BRD arbeitet der Kinderschutzbund eng mit der behördlichen und freien Jugendhilfe zusammen, die hier seit 1924 weiter ausgebaut ist als in England. Monographien J . L. C a s p e r : Praktisches Handbuch der gerichtlichen Medicin. 1871. G. A s c h a f f e n b u r g : Das Verbrechen und seine Bekämpfung. 2. Aufl. 1923. S. B a d e r : Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. 1949. W. S a u e r : Kriminologie. 1950. J . D e t t l i n g , S. S c h ö n b e r g u. F. S c h w a r z : Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 1951. 31
HdK, 2. Aufl. Bd. I
481
B . M u e l l e r : Gerichtliche Medizin. 1953. H. B l ü h m : Die Kriminalität der vorsätzlichen Tötungen. Kriminologische Untersuchungen 7 (1958). P. S c h o l z : Motive und Ursachen bei Körperverletzungen. Kriminologische Untersuchungen 8 (1958). D. K i e n a p f e l : Körperliche Züchtigung und soziale Adäquanz im Strafrecht. 1961. H . G ä d e c k e : Der Unfall im Kindesalter. 1962. K. L o r e n z : Das sogenannte Böse. 1963. W . B r ü s c h w e i l e r : Mißhandlung und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen im schweizerischen Strafrecht. 1963. S. F r e u d : Der Mann Moses und die monotheistische Religion. 1964. W . U l l r i c h : Die Kindesmißhandlung. 1964. National Society for the Prevention of Cruelty to Children, London (Annual reports, zuletzt für 1965). Z e i t s c h r i f t e n - und S a m m e l w e r k a u f s ä t z e D. M o e r i c k e : Kindesmißhandlung. I n : HwbKrim. 1. Aufl. 1933. H. J . C h a u m o n t : Mort de jumeaux äges de six semaines par traumatismes craniens. Chute ou coups ? Ann. Med. leg. 37 (1937) S. 292. F . G o e t h e : Über das Anstoßnehmen bei Vögeln. Z. Tierpsychologie 3 (1940) S. 37. J . G o n z a l e s : Sportverletzungen. J . Amer. Med. Assoc. 1951, 1506. Β . S t a e h l i n : Soziale Gesetzmäßigkeiten im Gemeinschaftsleben Geisteskranker verglichen mit tierpsychologischen Ergebnissen. HOMO 5 (1954) S. 113. B . M u e l l e r : Zur Frage der Priorität von Verletzungen und sonstigen Körperschädigungen. Arch. Krim. 115 (1955) S. 10 u. 117 (1956) S. 95. J . E i b l - E i b e s f e l d t : Ausdrucksformen der Säugetiere. Handbuch Zoologie V I I I . 10 (1957). B . S t a e h l i n : Gesetzmäßigkeiten im Gemeinschaftsleben schwer Geisteskranker. SchweizArchNeurol. 72 (1958) S. 277. W. F i s c h e r : Haushunde. Handbuch Zoologie V I I I . 10 (1957). H. v. H e n t i g : Beißen, ein Atavismus des Angriffs und der Abwehr. MschrKrim. 41 (1958) S. 225. M. F . M a r c o u x : Coups et blessures mortelles. Interpretation m£dicolegale des fractures de cfttes chez le jeune enfant. Ann. med. leg. 38 (1958) S. 325. B . M u e l l e r : Mord oder Selbstmord durch Stich? Deformierung des Stichwerkzeuges als Indiz für Beibringung der Verletzung von fremder Hand. Arch. Krim. 122 (1958) S. 107. B. P o p i e l s k i : Questions juristiqucs concernant les traumatismes subis par des enfants. Acta med. leg. soc. ( Liege) 11 (1958) S. 303. F. S c h l e y e r : Studien über das Delikt der gewalttätigen Kindesmißhandlung. MschrKrim. 41 (1958) S. 65. K. H ä n d e l : Psychische Schäden eineB unfallbeobachtenden Kindes. Praxis Kinderpsychol. 8 (1959) S. 147. G. R o m m e n e y : Analyse und Prognose der Gegenwartskriminalität als Massenerscheinung. MschrKrim. 42 (1959) S. 191. W. P r e s e r : Die rechtlichen Voraussetzungen für bedingte vorsätzliche und fahrlässige Schuld. DZGerMed. 49 (1960) S. 583. E. L ä u p l : Experimente am Menschen als medizinischrechtliches Problem. Praxis (Bern) 60 (1961) S. 837. A. J . R a n g o l : Die Straffälligkeit nach Hauptdeliktgruppen. 1882—1958. MschrKrim. 44 (1961) S. 129. H. W. S a c h s : Kindesmißhandlung. DZGerMed. 54 (1963) S. 78. R . G u n z e r t : Augenarzt und Straßenverkehr. BUcherei dee Augenarztes Heft 43 (1964). D. P l o o g : Verhaltensforschung und Psychiatrie. Psychiatrie der Gegenwart, Forschung und Praxis I , 1 B, S. 291—443. HANS K L E I N
Krankheit
482 KRANKHEIT
1. Einleitung Obwohl unsere gesamte Medizin nur die rationale Antwort der Menschheit auf ihre Krankheiten ist, gibt es keinen eindeutigen Krankheitsbegriff, der für alle Zweige der wissenschaftlichen und praktischen Heilkunde verbindlich wäre. So ist das Wort Krankheit zwar unentbehrlich, es hat aber in den verschiedenen medizinischen und auch forensischpsychiatrischen Sianzusammenhängen sehr verschiedene Bedeutungen. Neuere Übersichten über medizinische Krankheitsbegriffe stammen von H. Schaefer und über juristische Krankheitsbegriffe von R. Lange. Da es nur ein Wort für die Vielfalt der Krankheiten gibt, sind Mißverständnisse zwischen Medizinern und Juristen nicht selten. Eine Beschränkung auf diejenigen Krankheiten oder krankhaften Zustände, die die Einsichts- und Willensfähigkeit herabsetzen oder bei denen zur Frage steht, ob sie dem Laien erkennbar sein mußten, vereinfacht die Schwierigkeit dieser Darstellung nur quantitativ. Es bleibt die Aufgabe, die im Kern meist klaren, aber an den Rändern fast immer unscharfen Krankheitsbegriffe von ihren verschiedenen Sinnzusammenhängen her zu beleuchten. Dabei werden die Begriffspaare gesund-krank, normal-abnorm, Freiheit und Unfreiheit der Willensbestimmung unvermeidlich sein. Ferner soll dieser Abschnitt darüber informieren, wie bestimmte Krankheiten die Einsichtsund Willensfähigkeit verändern können und mit welchen Methoden der Mediziner sie objektivieren kann. Schließlich sollen Gesichtspunkte dargestellt werden, die es dem Leser erlauben, sich selbst ein vorläufiges Urteil über die mögliche Krankhaftigkeit eines Geisteszustandes zu bilden. Insgesamt möchten diese Ausführungen, die über prinzipielle Erörterungen nur hinausgehen, wo der Krankheitsbegriff kriminologische Bedeutung hat, das fragende Gespräch mit den medizinischen Sachverständigen erleichtem (-^Psychopathologie). 2. Juristische und medizinische Krankheilsiegriffe Verschiedene Grundeinstellungen zum Problem Begriff und Gegenstand führen zwischen Juristen und Medizinern leicht zu Mißverständnissen. Überspitzt gesagt, steht für den Juristen die begriffliche Norm als Frucht der Dogmatik im Mittelpunkt, für den Mediziner dagegen die noch nicht durchschaute, noch unbegriffene Realität. Der Jurist ist es gewohnt, die Realitäten den Begriffsnormen unterzuordnen und sogar anzupassen. Der Mediziner dagegen paßt die Begriffe den Fortschritten der Seinserkenntnis an. So erwartet auch der Jurist, daß seine Krankheitsbegriffe unveränderliche und scharfe Anwendungsnormen haben. Die Anwendungsgrenzen der medizinischen Krankheitsbegriffe müssen aber vielfach unscharf sein, zudem können sie (manchmal
überraschend) durch neue Forschungsergebnisse verschoben werden. Dieser unterschiedlichen Ansprüche an die Krankheitsbegriffe (einerseits normative Abgeschlossenheit, andererseits Offenheit für kontinuierliche Realitätsanpassung) sollten sich Jurist und Mediziner im Gespräch bewußt bleiben. Es bleibt die Aufgabe, die Wechselbeziehungen zwischen beiden Arten von Krankheitsbegriffen aufzuzeigen. Im Hinblick auf die Zurechnungsfähigkeit sind folgende juristische Begriffe wichtig: Im geltenden Recht § 51 StGB wie im Entwurf zum StGB 1962, § 25 wurde das Wort Krankheit vermieden. Es ist nur von krankhafter Störung der Geistestätigkeit bzw. von krankhafter seelischer Störung die Rede und von Zuständen, die diesen unter- oder zugeordnet sind, wie Geistesschwäche, Bewußtseinsstörungen, die krankhaften seelischen Störungen gleichwertig sind, Schwachsinn (§24 StGB-Entwuif; darüberhinaus „andere schwere seelische Abartigkeiten"). Man hat sich damit bewußt vom psychiatrischen Krankheitsbegriff freimachen wollen. Dies war besonders im Hinblick auf die kontroversen Auffassungen über das Wesen endogener Psychosen nötig, die von der Mehrzahl klinisch erfahrener Psychiater als biologische Krankheit aufgefaßt werden, während besonders psychoanalytisch orientierte Gruppen diese Geistesstörungen letzten Endes für verständliche Reaktionen auf Erlebnisse halten. Der enge biologische Krankheitsbegriff Kurt Schneiders würde, wenn die letztere Ansicht richtig wäre, nicht auf diese Geistesstörungen angewendet werden können. Man würde sie als Extremfälle von Neurosen, die selbst fließende Übergänge zum normalen Seelenleben haben, auffassen müssen. Für den Strafrechtler sind diese medizinischen Streitigkeiten unerheblich, denn er braucht den Krankheitsbegriff nur als „Scheidewasser" bezüglich der Schuldfähigkeit oder Straffähigkeit. Deshalb ist wichtig, daß beide Psychiater-Gruppen im Prinzip darin einig sind, daß die sog. endogenen Psychosen die Schuldfähigkeit zumeist ausschließen. Wollte sich der Jurist auf die ursachenbezogenen kontroversen Krankheitsbegriffe der Mediziner stützen, käme er (da er zur Entscheidung ohne Rücksicht auf die Tragfähigkeit seines Wissens gezwungen ist) in die fatale Lage, rein medizinische Sachfragen nach der Wahrheit der einen oder anderen Auffassung quasi obergutachtlich entscheiden zu müssen. Aufschlußreich sind hier die Darlegungen von R. Lange über die Beratungen der Strafrechtskommission mit den Äußerungen von Gallas, Kurt Schneider und Mezger, die sich für den Begriff „krankhaft" entschieden haben, weil er eine gewisse Auslegungsweite über den medizinischen Krankheitsbegriff hinaus ermögliche. Es liegt eine wichtige Einsicht darin, daß das Halbdunkel dieses Begriffes (Mezger) eine bessere praktische Brauch-
Krankheit barkeit gewährleistet als der definitorisch klar umgrenzte Krankheitsbegriff von Kurt Schneider, der der Grenzproblematik des Themas nicht gerecht wird, teils wegen der Vieldimensionalität des Gegenstandes, teils wegen der fließenden Übergänge in der Realität und zuletzt, weil seine Postulate die vorläufig noch fehlenden Forschungsergebnisse nicht ersetzen können. Der Hauptteil dieses Artikels wird jenen Schwierigkeiten gewidmet sein. Ein Überblick über m e d i z i n i s c h e K r a n k h e i t s b e g r i f f e mag die forensischen Probleme klarer hervortreten lassen. Krankheiten gibt es auch bei Pflanzen und Tieren. Dennoch ist menschliche Krankheit etwas Besonderes, weil sie sich in einer ungleich komplizierteren Organisation abspielt, die durch bedeutende soziale und personale Freiheitsgrade ausgezeichnet ist. Die Krankheit eines Menschen muß daher in Wechselbeziehungen mit den verschiedenen Gliedern seiner Organisation gesehen werden. Natürlich ist dies nur abstraktiv möglich, denn in der einfachen Erfahrung findet man nie Krankheiten, sondern nur kranke Menschen. Dennoch ist die Abstraktion von „Krankheiten" berechtigt, und ihre praktische und wissenschaftliche Fruchtbarkeit ist erwiesen: Krankheiten in diesem Sinne sind typische lebendige Vorgänge, die ohne Rücksicht auf die befallene Person sehr ähnlich oder gleichförmig ablaufen. Mit der überindividuellen Gleichheit des Lebensvorganges endet aber auch schon der allgmeingültige Anteil der Krankheitsbegriffe. Diese überindividuell gleichartigen „Krankheiten" richten sich zwar häufig gegen das Leben, wie Krebs, Tuberkulose und Zuckerkrankheit, aber keineswegs immer, wie ζ. B. gewisse Pilzerkrankungen der Haut, die den Befallenen weniger stören können als eine ererbte lange Nase oder ein Muttermal. Krankheiten im o. g. Sinne bedeuten zwar häufig — aber auch keineswegs immer — Schmerz und Leiden. Die genannte Pilzkrankheit gehört dazu. Ein Krebs kann bis zum plötzlichen Verblutungstode durch Zerstörung einer Schlagader völlig unbemerkt wachsen. Krankheiten mindern zwar oft, aber nicht immer die Leistungsfähigkeit. Der Pilzkranke und der plötzlich sterbende Krebskranke wären hier wieder zu nennen. Leidensschwere und Leistungsminderung sind für die Beurteilung des kranken Menschen zwar von großer Bedeutung, sie sind aber auch kein objektives Krankheitsmaß, da sie aus dem Wechselverhältnis von Krankheit und befallenem Menschen hervorgehen. Zahnschmerz kann bei einem weichen, empfindlichen und schwächlichen Menschen zu einem völligen Zusammenbruch der Erlebnis- und Leistungsfähigkeit führen. Einem willensstarken Menschen dagegen merkt man den Schmerz gar nicht oder nur in einer Ruhepause an. 31*
483
In diesem Zusammenhang sind die Unterscheidungen von Krankheit und Kranksein zu erwähnen (0. Schwarz, Müller-Suhr, E. Kahn, Giese). Krankheit wäre der körperliche Prozeß, Kranksein eine psychische Antwort darauf (oder, wie Giese möchte, eine Antwort auch auf nicht bewältigte Probleme, so daß man krank sein könnte, ohne eine Krankheit zu haben). Diese Unterscheidungen können forensisch praktisch sein, um zu engen biologischen Auslegungen der Begriffe „krank" und „krankhaft" entgegentreten zu können. Scharfe allgemeingültige Grenzen gibt jedoch auch diese Untersuchung nicht. Sie weist auf den Grad der Ergriffenheit der Person durch ihre Krankheit oder ihre Probleme hin oder aber auf die innere Distanz dazu. Die Aussagen „ich bin krank" und „ich h a b e eine Krankheit" bezeichnen die Extrempositionen der Identifizierung und Distanz. Kranksein ist somit abhängig von der Krankheitsschwere und von der Kraft der Persönlichkeit, sich von dem Leiden innerlich unabhängig zu machen. Bei chronischen Leiden (wie auch bei den Süchtigen) kann die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit von der Krankheit ein Ziel der Psychotherapie sein. 3. Ein Modell des kranken Menschen Nach dem Gesagten hängt die Bedeutung krankhafter Vorgänge für den ganzen Menschen und insbesondere für seinen Geisteszustand davon ab, in welchen Zusammenhängen sie im vieldimensionalen somatisch-psychisch-sozialen Realgefüge auftauchen. (Diese Vieldimensionalität entspricht der unanalysierten, unmittelbaren Erfahrung. Jede Trennung in Leib, Seele und Sozialraum ist bereits Abstraktion.) Eine Übersichtskarte mag die Erwägung über das Zusammenwirken der Hauptkomplexe Krankheit, Persönlichkeit und Sozialfeld erleichtern. Diese drei jeweils vieldimensionalen Komplexe beeinflussen sich gegenseitig. Da es auf ihre Relationen ankommt, führt eine Verschiebung in einem der Komplexe zu mehr oder minder starken Veränderungen des Ganzen. Hier hegt der Grund dafür, daß jede einfache Definition Gültigkeitsschranken haben muß (Siehe hierzu Abb. 1 auf Seite 484). a) Im K r a n k h e i t s k o m p l e x spielt neben der Art der Krankheit, dem Ort des Befalls (Organ oder Funktion im psychischen oder physischen Bereich) die Schwere der Störung und ihre Zeitgestaltung eine Rolle. Unter Zeitgestalt verstehen wir den formalen Ablauf, der kurz oder lang, heftig oder schleichend, ein- oder mehrgipflig, mit vorübergehenden Verschlechterungen oder symptomfreiem Intervall sein kann, der in völlige Heilung, Defektheilung oder Tod ausgehen kann. Die Bedeutung der Krankheitsschwere ist offensichtlich, obwohl ihre Feststellung im einzelnen auch problematisch ist, da sehr verschiedene Kriterien Berücksichtigung ver-
Krankheit
484 Modell des kranken Mensehen Abb. 1
Art
Schwer«
Zeltgestalt
\ I/
KRANKHEIT UNFREIHEIT
SomallKh PijrdilKh
BINDUNG
SOZIALFELD
Geliflg
Die drei Faktorenkomplexe: Krankheit, Person und Umwelt modulieren sich wechselseitig. Um das Bild nicht zu komplizieren, haben wir uns auf den wichtigsten Anteil der Umwelt, das Sozialfeld, beschränkt: Geographische Lage, Klima, Wetter, Jahres- und Tageszeit hätten das Bild zu vervollständigen (dazu -> Natürliche Umwelt). Der Schwerpunkt des Gesamtkomplexes liegt besonders bei leichten Rrankheitszuständen oft bei der Person oder bei den Sozialbedingungen. langen, insbesondere der Vergleich mit dem typischen Krankheitsverlauf und davon unabhängig der Grad der Leistungsstörung. b) Der Krankheitskomplex gehört zu einer bestimmten P e r s o n . Er wird durch zahlreiche individuelle psychische und somatische Eigentümlichkeiten modifiziert: Lebensphase, Geschlechtszugehörigkeit, ererbte und erworbene Konstitutionen und Dispositionen, charakterliche Artung mit Besonderheiten der Intelligenz, des Antriebs, des Gefühlslebens und der biographisch verwurzelten inneren Haltungen sind vor allem zu nennen. c) Schließlich lebt diese Person in einer Umwelt. In erster Linie ist ihr S o z i a l f e l d zu nennen, das durch den Intimkreis der engsten Lebensgemeinschaft, die Nachbarschaft, die Berufssphäre, Gesellschaftsschicht mit ihren Organisationen, Stadtund Landgemeinden, Landsmannschaften, Nationalität, Sprach- und Zeitgenossenschaft geformt •wird. Seltener spielt auch die außermenschliche Umwelt mit geographischen, klimatischen, meteorologischen (ζ. B. Föhn) und tageszeitlichen Besonderheiten eine Rolle. Damit sind in groben Umrissen jene vielfältigen Strukturen angesprochen, die immer und in jeder menschlichen Angelegenheit konstituierend nachweisbar sind. Gewiß wird in sehr vielen Fällen diese vieldimensionale Struktur dadurch verschleiert, daß einer der Faktoren ein starkes Übergewicht hat, so daß die Besonderheiten der übrigen Faktoren mehr oder weniger bedeutungs-
los sind (typenbildende Kraft der Krankheit, Bürger-Prinz). Dies ist ζ. B. der Fall bei einer schweren Hirnerschütterung, die zur schlagartigen Bewußtlosigkeit führt. Für dieses Rrankheitsbild spielen Person und Sozialfeld überhaupt keine Rolle. Lokalisation und Art der Störung bedingen eine Zeitgestalt, die alles andere beherrscht. Der Patient erwacht schließlich nach Minuten oder Tagen, und seine Krankheitserscheinungen mögen binnen eines Jahres allmählich abklingen. Allgemein gilt: Je geringer die Krankheitserscheinungen sind,· desto wichtiger werden die Rollen, die Person und Umwelt für das gesamte Erscheinungsbild, insbesondere für den Geisteszustand, spielen. Jetzt hängt die Schwere der Störung, die wir insgesamt Krankheit nennen, auch davon ab, wieweit der Patient fähig und willens ist, sie zu überwinden, oder wieweit er sich der Krankheit hingibt oder hingegeben ist. Nun kommt es darauf an, ob und wie die Umwelt auf die reduzierte Leistungsfähigkeit Rücksicht nimmt, ob sie ihn stützt und anspornt oder durch Hilfen seine Aktivitätsentfaltung hemmt oder aber zusätzlich belastet und die ganzheitlichen Krankheitsfolgen verschlimmert. Es ist zwar üblich, aber unberechtigt, bei der Bewertung eines Krankheitszustandes von diesen vieldimensionalen Verflechtungen abzusehen. Man kann dieses Modell forensisch-psychiatrisch nutzen, wenn man die Frage der Handlungsfreiheit einführt: Bei der Zuordnung geht man wieder von den Extremen aus und erwägt die fließenden
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Krankheit Zwischenstadien. Zur Person gehört die praktische Freiheit. (Das philosophische Freiheitsproblem kann hier vernachlässigt werden; siehe hierzu Keller: Freiheit, Wille, Schuld. Nervenarzt 33 (März 1962) S. 97—106.) Zum Krankheitspol kann die Unfreiheit gehören. Zum Umweltpol gehört jene spezifische Durchflechtung von Freiheit und Unfreiheit, die man als Bindung charakterisieren kann. Zwischen diesen Polen des inneren Dreiecks verschiebt sich der Schwerpunkt je nach dem Gewicht der äußeren Faktorenkomplexe Person, Krankheit und Umwelt. J e größer die Kraft der Person ist, desto weiter kann sie den Schwerpunkt von der Unfreiheit der Krankheit zur Freiheit verschieben. Andererseits ist es auch möglich, diesen Schwerpunkt, der ζ. B. bei der Sucht eines Patienten in der Unfreiheit hegt, durch verstärkte Bindung in Richtung der Freiheit im Sozialgefüge zu verschieben. Im einzelnen kommt es nicht auf die absoluten Größen bestimmter Eigenschaften an, sondern auf ihre Relationen. D. h. wichtig ist nicht die absolute Krankheitsschwere u n d nicht die absolute Willensk r a f t der Persönlichkeit, sondern die Relation beider Größen. Dieses abstrakte Modell h a t sich bei der Veranschaulichung der Relationen, die im konkreten Einzelfalle vorliegen, bewährt. Es war ferner eine gute Hilfe bei der multifaktoriellen Analyse von Probanden-Gruppen (s. Abb. 1).
4. Dimensionen der Krankheiten Medizinisch ergeben sich aus der Schwierigkeit, Krankheit und Krankhaftes gegen Normales oder Gesundes klar abzugrenzen, keine besonderen Probleme. Man ist es gewohnt, mit mehreren Maßstäben gleichzeitig zu arbeiten, die den verschiedenen typischen Schwerpunkten der verschiedenen Krankheiten gerecht werden. Die Maßstäbe für die Grenzziehung krank— gesund entstammen verschiedenen Methoden: 1. die anatomisch-morphologische Methode, die durch einfache oder mikroskopische oder röntgenologische Betrachtung Formveränderungen an Organen oder Zellen feststellt; 2. die physiologischen Methoden, die Lebensfunktionen mit oder ohne Berücksichtigung ihres zeitlichen Ablaufs beschreibend (Anamnese, d. h. Vorgeschichte) oder chemisch-physikalisch analysierend zum Gegenstand haben; 3. die psychiatrische und medizinisch-psychologischen Methoden, die Befunde und Verläufe im psychischen Bereich feststellen und deren Verhältnisse zu biologischen, biographischen und sozialen Gegebenheiten untersuchen. Aus diesen Methoden ergeben sich Maßstäbe, die mit verschiedener Akzentuierung von allen medizinischen Disziplinen mehr oder weniger gleichzeitig angewendet werden. Bevor man zur Feststellung krank—gesund gelangt, muß in
Detail-Untersuchungen mittels der verschiedenen Maßstäbe die Frage normal-abnorm geprüft werden. Hier befinden wir uns auf einem etwas festeren Boden, der aber auch seine großen Probleme hat, weil es zahlreiche Varianten des Normalen gibt und weil das Leben normalerweise über Funktionsstörungen zum Tode f ü h r t . 5.
Normal—Abnorm
Es ist streng zu unterscheiden zwischen empirischen und idealen Normen. Die ersteren geben an, wie die Welt ist, die zweiten, wie sie sein soll. Beide Normtypen, die Sein u n d Sollen betreffen, spielen im psychiatrisch-juristischen Grenzbereich legitime und oft spannungsreiche Rollen. Ζ. B. sind viele Mißverständnisse u m den KinseyReport durch Verwechslung von Ideal- und Realnormen entstanden. Während Idealnormen Setzungen aus weltanschaulichen oder religiösen Quellen sind, stammen Realnormen aus der abstraktiven Verarbeitung der Beobachtungen, die an einer größeren Gruppe gewonnen sind. Sofern es sich um meßbare oder kategorisierbare Beobachtungen handelt, kann der Normbereich nie allein durch eine Zahl oder eine Klasse definiert werden. Biologische Größen zeigen meist Streuungen, die der Glockenkurve einer „Normalverteilung" entsprechen. So gibt es große u n d kleine Menschen seltener als mittelgroße. Die dümmeren und klügeren sind seltener als die Menschen von mittlerer Intelligenz. N u n kann m a n zwar den Schwerpunkt oder die größte Häufigkeit eines Merkmals exakt bestimmen, es ist aber unmöglich ohne Willkür festzustellen, wo das Normale ins Abnorme übergeht. Dabei ist es im Prinzip zweifelsfrei, daß es abnorm kleine wie abnorm große Menschen gibt. So hilft man sich mit mathematischen Konventionen, indem m a n ζ. B. festsetzt, normal sei derjenige Bereich, in dem zwei Drittel aller beobachteten Werte liegen. (Diese Grenze entspricht häufig der mittleren quadratischen Abweichung, die zusammen mit dem Mittelwert die Verteilung eines Merkmals charakterisiert.) Für viele Zwecke ist dieser Normbereich zu klein, denn jeder dritte Mensch wäre danach „abnorm". Man setzt deshalb ζ. B. fest, daß nur die extremen 5 % oder 1 % usw. abnorm genannt werden sollen. Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß der Übergang vom Normalen zum Abnormen fließend und die Grenzziehung willkürlich ist. Aus dieser Eigenart biologischer Werte können sich beträchtliche diagnostische Unsicherheiten ergeben: So kann es im Einzelfalle unentscheidbar bleiben, ob etwa weite Hirnkammern der individuellen Normalverfassung entsprechen oder ob eine krankhafte Erweiterung vorliegt. Diese Unsicherheiten kommen oft vor, da m a n den Individualbefund v o r einer bestimmten Krankheit nur
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Krankheit
Die Häufigkeitsverteilungen der Grundumsatz· werte bei normalen und kranken Menschen Die Glockenkurve der Gesunden zeigt eine sogen. Normalverteilung an. c I
Abb. 2 selten kennt. H. Schaefer hat das Problem an einem instruktiven Beispiel der Stoffwechselgrößen, gemessen am Grundumsatz, veranschaulicht (vgl. Abb. 2 nach Schaefer S. 173). Die Grundumsatzwerte der gesunden Versuchspersonen verteilen sich in der bekannten Glockenkurve. Anders sieht die Verteilung bei Patienten mit vergrößerter Schilddrüse und bei Basedowscher Krankheit aus, die mit starker Grundumsatzsteigerung einhergeht. Dem Diagramm ist zu entnehmen, daß ein Bereich zwischen 20- und 30%iger Grundumsatzsteigerung vorkommt, in dem krank und gesund nicht sicher durch diesen Wert zu unterscheiden ist. Der Arzt hilft sich dann damit, daß er nur in Extremfällen die Diagnose aufgrund eines Wertes stellt, während er in Zweifelsfällen den Meßwert durch andere Beobachtungen (Vorgeschichte und Befunde) interpretiert. Wenn seine Diagnose auf diese Weise auch nicht absolut gesichert wird, so erreicht sie doch eine hohe Wahrscheinlichkeit. Mehr ist sehr häufig im Augenblick der Untersuchungen nicht zu erreichen. Oft verhilft nur geduldiges Abwarten mit Nachuntersuchungen zur richtigen Diagnose. 6. Das psychisch Normale und Abnorme Im Prinzip ist auch im psychischen Bereich zwischen empirischen und idealen Normen (Sein und Sollen) zu unterscheiden. Da psychische Erscheinungen nicht ohne weiteres meßbar sind (sie sind es in einem abgeleiteten statistischen Sinne durchaus), ist die Feststellung verbindlicher empirischer Normen, wie sie etwa aus der Verteilungskurve der Grundumsatzwerte ableitbar sind, sehr schwierig, und die diesbezüglichen Bemühungen stehen noch in den Anfängen. Statt exakter empirischer Untersuchungen über die Verteilung bestimmter Merkmale gibt es eine große Zahl von Normbehauptungen, die mehr oder
weniger berechtigte Verallgemeinerungen der einfachen Erfahrung und Kennerschaft darstellen. Sie werden vom psychiatrischen Sachverständigen oft so vorgetragen, als seien es gesicherte Realerkenntnisse, obwohl es sich wissenschaftstheoretisch nur um Schätzungen handelt, die der Wirklichkeit mehr oder weniger nahekommen und die mit beträchtlichen Irrtümern belastet sein können. Wir sind auf solche „Vorurteile" angewiesen, da uns auf vielen Gebieten nichts Besseres zur Verfügung steht. Müller-Suur hat sich mit diesen Fragen eingehend auseinandergesetzt und klargestellt, daß der „reale Durchschnittsnormbegriff" von Kurt Schneider die Vorstellung (und nicht die exakte Feststellung) enthält, wie der Durchschnittsmensch ist. Die Diskussion von MüllerSuur um das Abnorme halten wir zwar für ausgezeichnet, die Differenzierung seiner Oberbegriffe jedoch für unpraktisch, da er den Normbegriff sowohl auf die Gruppe als auch auf das Individuum bezieht (Durchschnittsnorm und Norm). Wir möchten das reale Sein und seine Entfaltungspotenzen beim einzelnen nicht als eine Norm (seiner selbst) bezeichnen. Von einer Norm erwartet man gesetzte oder festgestellte Eindeutigkeit, die auch als Maßstab für Vieldeutiges brauchbar ist usw. Dies trifft aber für das reale Sein des Einzelnen kaum, für seine Entfaltungspotenzen gar nicht zu. Sie können nur grob geschätzt oder intuitiv vermutet werden. Dieses Risiko der Schätzung muß der Jurist auf sich nehmen, wenn er ζ. B. zu bewerten hat, was aus einem bestimmten Menschen geworden wäre, wenn ihn ein bestimmtes Ereignis, wie ζ. B. Unfall, Krankheit oder politische Verfolgung, nicht betroffen hätte oder wenn er eine Tat als persönlichkeitsfremd anerkennen soll. Ein Normbegriff (individuelle Seinsnorm nach Müller-Suur) könnte hier die Verantwortlichkeit der Unterstellung verschleiern. Kurzum, wir halten es für praktischer, Normen des Seins und Sollens nur überindividuell zu verstehen und des Risikos bewußt zu bleiben, das wir mit der Projektion von Normen auf den Einzelnen und umgekehrt auf uns nehmen müssen. Das weitgehende Fehlen exakt fundierter Erkenntnisse der psychischen Realnormen hat zur Folge, daß gerade im psychiatrisch-juristischen Grenzbereich „gemischte Normbegriffe" häufig sind, in die moralische, religiöse, weltanschauliche, politische und sogar landsmannschaftliche Vorstellungen darüber, wie Menschen und Gesellschaft sein sollen, eingehen. In diesen „Mischnormen" sind zufällige Erfahrungsausschnitte in schwer überschaubarer Weise mit Vorurteilen verbunden. Die vom Juristen oft zitierte „allgemeine Lebenserfahrung" ist ohne Zweifel standpunktabhängig und kann verschieden sein, je nachdem, ob sie in einem Provinzstädtchen oder in einer Hafengroßstadt, von einem Katholiken oder Atheisten usw.
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Krankheit gewonnen worden ist. Die unterschiedlichen Feststellungs- und Bewertungsgrundlagen ergeben verschiedene Normgrenzen.
7. Das -psychisch Krankhafte und seine Objektivierung Krankhafte Veränderungen im psychischen Bereich können vom „Normalen" qualitativ oder quantitativ verändert sein. Qualitative Abweichungen sind relativ leicht zu beurteilen. Wenn ein Mensch Stimmen hört, die aus der Wand kommen und die auf seine Gedanken antworten, wenn jemand entdeckt hat, daß „periodisch Kriege auftreten müssen, um den Leichensaftspiegel auf normale Höhe zu bringen", wenn jemand von einer ungeheuren Angst erfaßt wird, für die es keinen vernünftigen Grund gibt, wenn Intelligenz, Gedächtnis- und Orientierungsvermögen verlorengegangen sind usw., dann ist die Feststellung eines krankhaften Vorganges leicht. Viel schwieriger sind quantitative Normabweichungen zu beurteilen: Es ist sicher, daß einige Krankheiten (darunter auch solche, die zum Tode oder zu geistigem Siechtum führen) in den Anfangsstadien mit Symptomen auftreten, die von einer normalen Ermüdbarkeit, Vergeßlichkeit, Reizbarkeit, Ungeduld oder von einem „normalen Fehltritt", bei dem in einem schwachen Augenblick einem verstehbaren, aber ungesetzlichen Wunsch nachgegeben wird, nicht zu unterscheiden sind. Die echte Geisteskrankheit kann längere Zeit harmlosere Symptome als eine schwere Arbeitsüberlastung oder als der Druck seelischer Konflikte aufweisen. Wegen der häufigen Symptomgleichheit normaler und krankhafter psychischer Zustände ist der Nachweis zugrunde liegender Krankheiten von größter Bedeutung. Bei körperlich begründeten Störungen ist die Objektivierung nur eine Frage der Sorgfalt und der technischen Hilfsmittel, deren Anwendung und Resultate überprüfbar sind. Bei endogenen Psychosen und abnormen Erlebnisreaktionen ist die Objektivierung problematischer, da die Tatsachen, die zu einer Beurteilung führen, selbst Ergebnisse eines Urteilsaktes sind. „Meßinstrument" ist hier der Arzt. Sein Ausbildungs- und Arbeitsniveau kommt bereits auf einer Erkenntnisstufe zur Wirkung, auf der wir uns im somatisch-diagnostischen Bereich noch auf die Präzision von Instrumenten verlassen können. Eine forensisch-psychiatrische Begutachtung schwieriger Fälle, die die modernen diagnostischen Möglichkeiten ausschöpft, wird daher regelmäßig auf neuro-psychiatrische Kliniken angewiesen sein, in denen erfahrene Spezialisten alle Methoden routinemäßig durchführen und die damit ständig alle Maßstäbe am alltäglichen Krankengut kontrollieren. Auf Methoden soll nach Abhandlung der Krankheitsarten näher eingegangen werden.
8. Krankheiten, die den Geisteszustand beeinflussen Alle abnormen und krankhaften psychischen Zustände lassen sich nach ihrer Entstehungsweise in drei Gruppen ordnen: a) endogene Psychosen, b) exogene Psychosen, e) reaktive Störungen, zu denen auch psychopathische Persönlichkeiten und abnorme bzw. krankhafte Persönlichkeitsentwicklungen gehören. a) E n d o g e n e P s y c h o s e n . Es handelt sich um Gemüts- und Geisteskrankheiten, bei denen erbliche Belastungen eine Rolle spielt, deren Ursachen letzten Endes noch nicht aufgeklärt sind. Genau bekannt sind jedoch ihre Erscheinungsformen und Verläufe. Die Therapie der endogenen Psychosen hat in den letzten 30 Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. Heilkrampf- und Insulinbehandlung, Psychopharmaka und Psychochirurgie (Leukotomie) wären zu nennen. Die Psychiatrische Klinik hat sich im Verlauf dieser Entwicklungen, zu denen auch die Psychotherapie gehört, in diesem Jahrhundert so tiefgreifend gewandelt wie kaum eine andere medizinische Disziplin. Die Einteilung der großen Fülle endogen psychotischer Bilder ist in der Psychiatrie nicht einheitlich, da mangels körperlicher Symptome die Grenzziehungen von den angewandten Gesichtspunkten abhängen: Im Prinzip kann man sich am Verlauf oder am Zustandsbild orientieren oder eine Kombination beider Maßstäbe anwenden. Die praktisch allgemein anerkannte Einteilung der endogenen Psychosen in manischdepressive und schizophrene Erkrankungen könnte den Juristen darüber hinwegtäuschen, daß die Abgrenzung beider Formen von den verschiedenen psychiatrischen Schulen sehr verschieden vorgenommen wird. Wenn mit dem Wechsel des Klinikchefs auch die diagnostischen Kategorien wechseln, kann sich das Verhältnis zwischen Schizophrenen und Manisch-Depressiven extrem verändern. Diese Benennungsunterschiede müssen zwar im Gespräch und im Gutachten berücksichtigt werden, sie spielen aber praktisch keine Rolle, da die Therapie wie die forensische Beurteilung des Geisteszustandes sich nur an den Befunden, nicht aber an den Oberbegriffen orientiert. Weitgehende Einigkeit herrscht noch über die Zuordnung der klassischen Kerngruppen. Allgemein werden jene endogenen Psychosen, die zu tiefgreifenden dauernden Persönlichkeitsveränderungen und Defekten führen, der Schizophrenie zugerechnet; man spricht auch von Prozeßpsychosen. Die völlig abheilenden, wenn auch öfter wiederkehrenden schwermütigen und heiteren Temperamentsverschiebungen sind die Kerngruppe der manisch-depressiven Erkrankungen, die auch phasische Psychosen genannt werden. Wahnbildungen, Sinnestäuschungen,
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Krankheit
Wahrnehmungstäuschungen und Störungen im Selbsterleben kommen sowohl bei Psychosen vor, die zu Defekten führen (Schizophrenien), als auch bei phasischen Psychosen, die völlig abheilen. Den diagnostischen Standpunkt eines Psychiaters kann man am leichtesten an der Enge oder Weite seines Schizophreniebegriffs und seines Neurosenbegriffs (s. unten) ausmachen. b) E x o g e n e p s y c h i s c h e V e r ä n d e r u n g e n . Hierzu zählt man alle psychischen Zustände, die durch nachweisbare direkte oder indirekte körperliche Beeinflussung der Hirnfunktion entstehen: Auf die höchst verschiedenartigen Ursachen, wie Vergiftungen, Stoffwechselstörungen, Gefäßkrankheiten, Verletzungen, Geschwülste, Entzündungen, Entwicklungsstörungen, Erbkrankheiten und degenerative Prozesse hat das Hirn nur wenige Reaktionsformen: den Rausch, der über die Bewußtseinstrübung in die Bewußtlosigkeit führt, das Delir (Bewußtseinstrübung mit Sinnestäuschung, Erregung, Angst), den Dämmerzustand, die Amentia und die Halluzinose. Diese exogenen Reaktionstypen (Bonhoeffer) klingen wieder völlig ab. Bleibende Dauerfolgen von Hirnschädigungen können Intelligenz, Gefühlsleben, Willen, Antrieb, Vitalität und die gesamte Persönlichkeitsartung betreffen. Psychische Veränderungen können einmal weitgehend isoliert vorkommen, zum anderen die Persönlichkeit insgesamt und diffus betreffen. Es hat daher Sinn, zwischen Werkzeugstörungen und Persönlichkeitsveränderungen zu unterscheiden. Bei den reinen Werkzeugstörungen ist die Persönlichkeit in ihrer gewordenen Eigenart und hinsichtlich Urteils- und Willensbildung potentiell intakt, sie ist nur in ihrer Äußerung durch die Werkzeugstörung behindert. Zu diesen gehören insbesondere die Störungen des Sprechens und des Verstehens, ζ. B . bei Kehlkopferkrankungen und Ertaubung, und die Störungen der Sprache (die Aphasien), bei denen das Sprachverständnis das Finden der Worte und das Zuordnen der Worte zu Begriffen gestört ist (sensorische, mnestische und motorische Aphasie). Zu den mehr isolierten Störungen, die aber doch persönlichkeitsnäher sind, gehören Antriebsveränderungen (besonders oft bei Stirnhirnschädigungen), bei denen fast isoliert die Spontaneität verloren geht. Reizbarkeit, Erregbarkeit, Rührseligkeit (hyperästhetischemotionelle Schwäche) gehören zu den psychischen Veränderungen, die sich nur zeitweilig auszuwirken brauchen und die durch Belastungen aktualisiert werden können (Dekompensation eines geschädigten Systems). Umgekehrt kann die Schädigung von biologischen Kompensationseinrichtungen, ζ. B. Schlafstörungen, zu krankhaften Dekompensationen führen. Forensisch besonders wichtig sind P e r s ö n l i c h k e i t s v e r ä n d e r u n g e n . Man meint damit ein Verdämmern der durch Person und Umwelt
geprägten Sozialgestalt des Einzelnen, zu der bestimmte Verhaltens- und Erlebnisweisen gehören. Diese historisch-biographisch gewordene Person ist vom sozialen Leben geprägt und gehalten, das durch Geben und Nehmen, durch Erwartungen und Erfüllungen, durch Zu- und Abneigungen, durch Verwachsen, Verwunden, Vernarben gekennzeichnet ist. Diese Persönlichkeit wurzelt zwar im biologischen Grund, ist aber „übernatürlich" geprägt. Die Rollener Wartungen der Gesellschaft hinsichtlich bestimmter Seins- und Verhaltensweisen des Einzelnen, stellen quasi Hohlformen dar, in die die Personen sich schicklicherweise hineinbequemen müssen, obwohl sie hier zu weit und da zu eng sind. Schwere Spannungen zwischen der Person und ihrer sozialen Rolle können zu Ausbruchsversuchen führen, die bei „Ferien vom Ich" beginnen und bei scheinbar persönlichkeitsfremden kriminellen Entgleisungen enden können. Persönlichkeitsfremde Tat in diesem Sinne heißt Bruch mit dem Stil des bisherigen Verhaltens, das bestimmte Verhaltenserwartungen selbstverständlich erscheinen ließ. Lang geübte Verhaltensweisen schleifen sich ein und sind schwer zu ändern. Gleiches gilt für Erwartungsschablonen der Umwelt, denen sich die Person zu lange angepaßt hat. Persönlichkeitsveränderungen zeigen je nach Ursachen und Verlaufstempo verschiedene Stile. Der altersbedingte hirnorganische Abbau begünstigt egozentrisch-egoistische Haltungen; die geistige Beweglichkeit, die Einstell- und Umstellfähigkeit nimmt ab. Bei einem anderen Verlaufsstil tritt zuerst eine affektive Vergröberung mit Verlust der Fähigkeit, seelisch teilzunehmen, zu reagieren, mitzuschwingen, auf. Intelligenzabbau, Merkfähigkeit, Gedächtnisstörungen, Orientierungsstörungen stellen sich mehr oder weniger rasch dazu ein. Ein weiterer forensisch besonders wichtiger Stil der Persönlichkeits Veränderung beginnt mit einem Verlust der selbstverständlichen Werthaltungen. Sittlichkeitsdelikte, Eigentumsdelikte und grob auffälliges, unerwartetes, unangemessenes Verhalten können erste, dem Laien erkennbare Anzeichen der Persönlichkeitsveränderung sein (ein solcher Patient urinierte ζ. B. während eines gesellschaftlichen Empfangs in den Vorhang). Wieder ein anderer Stil der Persönlichkeitsveränderung ist (besonders bei Epilepsien) im folgenden zu beobachten: Die Patienten werden umständlicher, pedantischer, klebriger. Im Gespräch finden sie kein Ende. Sie werden selbstgerechter. Von ihren Affekten, die langsam an- und abklingen, werden sie überwältigt, und insbesondere der gereizten Erregtheit können sie hilflos ausgeliefert sein. Die genannten Formen der Persönlichkeitsveränderungen sind zwar besonders charakteristisch, es kommen aber alle denkbaren Zwischenformen
Krankheit vor, mit der Einschränkung, die im Grade des Abbaus gelegen ist. (Simulationen, wie ζ. Β Pseudodemenz, sind deshalb leicht daran zu erkennen, daß nebenläufige Leistungen den wahren höheren Standard verraten.) c) R e a k t i v e S t ö r u n g e n , N e u r o s e n , p s y chopathische Persönlichkeiten, abnorme E n t w i c k l u n g e n u n d G r e n z z u s t ä n d e des N o r m a l e n . Diese Gruppe ist forensisch besonders problematisch, weil sie in seltenen, stark ausgeprägten Fällen unzweifelhaft Krankheitswert hat, ärztlicher Behandlung bedürftig ist und weil die Zustände Einsichts- und Willensfähigkeit aufheben oder erheblich einschränken können. Andererseits sind die Übergänge in normale Bereiche fließend. Die psychiatrische Feststellung eines Geisteszustandes dieser Art ist weniger schwierig als seine Projektion auf die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit. Hier gibt es kein allgemein gültiges Schema. Die verschiedenen Gesichtspunkte müssen auf Grund der erhobenen Befunde sorgfältig in jedem Einzelfalle gegeneinander abgewogen werden. Folgende drei Gesichtspunkte werden den Erscheinungen gerecht: aa) Ein Mensch kann durch die Mischungsverhältnisse seiner psychischen Eigenschaften stark von dem, was man für normal hält, abweichen. Er kann an dieser Abartigkeit leiden, oder die Gemeinschaft kann durch ihn leiden (Definition der Psychopathie von Kurt Schneider). Man kann Typen von Psychopathen aufstellen, bei denen einzelne normale Eigenschaften extrem ausgeprägt sind: der willensschwache, der explosible, der umtriebig-hyperthyme, der hypochondrische, der depressive usw. Psychopath. Reine Bilder gibt es in Wirklichkeit nicht, meist muß man schon bei der Beschreibung mehrere Eigenschaften berücksichtigen. bb) Eine zweite Betrachtungsweise geht nicht vom derzeitigen Sein aus, sondern berücksichtigt die Entwicklung. Bestimmte Verhaltens- und Wesenseigentümlichkeiten können immer stärker hervortreten und alle anderen Persönlichkeitszüge überwuchern. Schließlich können sie dominieren und davon unabhängige freie persönliche Entscheidungen unmöglich machen. Man spricht dann von p a t h o l o g i s c h e n E n t w i c k l u n g e n . Sie spielen eine Rolle bei Süchtigen, bei sexuellen Perversionen, aber auch beim Spieler, beim Querulanten, beim alternden, umtriebig-aktiven (hyperthymen) Menschen, dessen Tätigkeitsdrang ins Sinnlose und Schädliche entgleiten kann, wenn die personalen Steuerungskräfte im Alterungsprozeß eher erlahmen als der Antrieb. cc) Als dritte Form unterscheiden wir die abnorme Erlebnisverarbeitung oder Neurose. Hier wird ein Erlebnis nicht in richtiger Weise verarbeitet, sondern verdrängt (Freud). Die unerle-
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digte affektive Beunruhigung kann sich nach mehr oder weniger langer Zeit in körperlichen oder seelischen Störungen verschiedener Art äußern (Konversion). Diese drei Gesichtspunkte bezeichnen nur verschiedene Akzente eines einheitlichen Sachverhaltes. Der psychopathische Mensch ist häufig durch eine Entwicklung das geworden, was er ist. Er neigt zu abnormen Reaktionen. Eine im Vordergrund stehende Neurose spielt sich zumeist auf dem Boden einer angelegten psychischen Abnormität ab. Die einfachste Form der seelischen Abnormität, die zur Hilfsbedürftigkeit führt, ist der Erschöpfungs- und Versagenszustand. Er tritt ein, wenn die Belastung körperlicher oder seelischer Art die Belastungs- und Kompensationsfähigkeit überfordert hat. Er äußert sich einerseits in Vegetativbeschwerden, Schlafstörungen, Körpergewichtsabnahme, Libido- und Potenzstörungen, andererseits in Konzentrationsstörungen, psychischer Erschöpfbarkeit, vermehrter Reizbarkeit, innerer Unruhe und Bedrücktheit. Diese Erschöpfungs- und Versagenszustände fordern als Hintergrund mancher krimineller Entgleisungen für eine gerechte Beurteilung Berücksichtigung. Neben diesen schlichten Reaktionen auf Überlastungen gibt es produktive (psychogene oder hysterische) Reaktionsweisen, die der Umwelt demonstrieren sollen, daß der Betreffende am Ende seiner Kräfte ist. Sprachstörungen, Schwindel, Lähmungserscheinungen, Unfähigkeit zu gehen und zu stehen u. ä., ohne daß organische Störungen vorhanden sind, charakterisieren diese Bilder. Die Überlastungsreaktionen haben einen erstaunlichen Stilwandel durchgemacht. Im ersten Weltkrieg waren produktiv-psychogene (hysterische) Störungen sehr häufig. Bekannt sind die Kriegszitterer, die groteske, oft veitstanzähnliche Bilder produzierten. Im Zweiten Weltkrieg waren schlichte, undemonstrative Versagensbilder häufiger und Vegetativstörungen (s. I. E . Meyer). Die psychogenen Störungen sind zwar „gespielt" oder „eingebildet", sie unterscheiden sich von Simulation (Betrug) aber grundlegend dadurch, daß sie vom Patienten als Krankheit erlebt werden und seinem Willen nicht ohne weiteres zugänglich sind. Natürlich gibt es Übergänge. Wie Simulationen sind sie zweckvoll. Sie sollen Überlastung anzeigen, Aufmerksamkeit und Zuwendung bewirken oder ein Versagen vor sich oder anderen durch „Krankheit" bemänteln. Theater ist von Mitspielern oder Zuschauern abhängig; wo diese fehlen, wird es sinnlos. So hörten die Haftpsychosen und -reaktionen nach 1933 auf, als sie weder Interesse noch Erleichterungen brachten. Die seltenen Ausbrüche echter Psychosen in der Haft stellten sich unbeeinflußt weiter ein.
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Krankheit 9. Hirnorganische Befunde iei abnormen Persönlichkeiten
Die einstmals scharf gedachte Grenze zwischen organisch-biologischen Zuständen und psychischen Persönlichkeitsvarianten ist durch neuere Hirnbefunde problematisch geworden. Bei charakterlich abnormen Persönlichkeiten findet man wesentlich häufiger als bei unauffälligen Menschen Hirnfunktionsstörungen und Anomalien sowie Hirnbildungsanomalien, die im Röntgenbild nachweisbar sind. Die Situation ist für die Problematik des Krankheitsbegriffes typisch. Es ist einerseits klar, daß diese Menschen meist im klinischen Sinne weder krank noch behandlungsbedürftig sind. Andererseits haben sie Funktionseigentümlichkeiten, die von echten krankhaften Störungen, ζ. B. einer Epilepsie, nicht unterschieden werden können. Es erhebt sich die Frage, wo es ungercht wird, diese Menschen, die für ihre Abnormität ja nicht verantwortlich sind, mit der Elle der Normalen zu messen. Auf der anderen Seite steht die Befürchtung, daß sich das Strafrecht selbst aufheben könnte, wenn es alle diese Zustände wie Krankheiten als Exculpierungsgrund zulassen würde. Im Interesse der Rechtssicherheit wird man im allgemeinen dabei bleiben müssen, daß jeder für seinen Charakter, wie schwer er es auch mit sich im Hinblick auf die abnorme körperliche Grundlage haben mag, verantwortlich sein muß. Dennoch gibt es Tatsituationen, in denen solche Hirnstörungen als Schuldminderungsgrund Berücksichtigung verdienen. Dann nämlich, wenn eine zusätzliche Belastung, ζ. B. Alkoholeinwirkung, schwere Übermüdung, die Entgleisungen über das normale Maß hinaus begünstigt oder wenn Situationen unter starker affektiver Belastung wegen der Hirnstörung ein normales Reagieren erheblich erschweren. Eine Gewalttat in der Erregung oder unter Alkoholeinfluß kann durch die Berücksichtigung der Hirnstörung bei einer abnormen Persönlichkeit u. U. in einem milderen Lichte gesehen werden. Fortgesetzte Betrugsdelikte sowie geplante Einbrüche wird man dagegen ohne Rücksicht auf Hirnfunktionsstörungen, die bei der Konstituierung des abnormen Charakters beteiligt waren, betrachten dürfen. Andererseits kann hochgradige Abnormität Strafen sinnlos machen und Sicherungsmaßnahmen nahelegen. Besonders umstritten ist das Problem der Krankhaftigkeit hinsichtlich der Beurteilung abnormer sexueller Verhaltungsweisen (s. BürgerPrinz, Giese, Jäger). Alterung,
10. Grenezustände des Normalen: Schlaftrunkenheit, Hypnose, rausch
Alkohol-
Es gibt verschiedene Stile des körperlichen und psychischen A l t e r n s , und es ist ohne Willkür auch hier nicht möglich, die Grenze zwischen
gesund und krank zu ziehen, da normalerweise jedes Leben zum Tode führt. Die Entwicklung eines „Altersrechts" erscheint daher psychiatrischerseits sinnvoll (s. H. Bürger-Prinz und H. Lewrenz). Häufiger als in anderen Lebensphasen wird man im Rückbildungsalter in einem Delikt das erste Symptom des hirnorganischen Abbaus sehen. Die Krankhaftigkeit des Alterns sollte man dann anerkennen, wenn ein Abbauprozeß sich objektivieren läßt und wenn die Tat einen Bruch mit dem Lebensstil und den Haltungen des Täters bedeutete. S c h l a f t r u n k e n h e i t wird vor Gericht gelegentlich als Entschuldigungsgrund, besonders bei Sittlichkeitstätern, angeführt. Sie ist schwer zu objektivieren und sollte als Exculpierung nur zugelassen werden, wenn abnorme Handlungen in Schlaftrunkenheit (somnambule Zustände) auch außerhalb der Tatzeit möglichst bei stationärer Beobachtung nachgewiesen werden können, wenn sie also nicht nur für die Tatzeit behauptet werden und wenn die Tatumstände die Annahme von Schlaftrunkenheit nicht ausschließen und der Täter glaubwürdig erscheint (S. Kranz). H y p n o s e ist ein psychogener Ausnahmezustand, in den sich der Hypnotisierte vom Hypnotiseur führen läßt. Voraussetzungen sind innere Bereitschaft oder „Glauben" an Macht und Autorität des Hypnotiseurs, Bereitschaft, Willigkeit, Hörigkeit in verschiedenen Nuancen. Kein Mensch ist durch Hypnose zur Duldung oder Vornahme eines Verbrechens zu bringen, zu dem er nicht auch sonst fähig wäre. Eine gewisse Einschränkung: Denkbar ist, daß die subjektive Entlastung von jeder Verantwortung unter dem „hypnotischen Befehl" eine letzte, aber praktisch entscheidende Sperre, die vor einer Tathandlung liegen kann, beiseiteschieben könnte. S t i m m u n g e n und Gestimmtheit sind schon normalerweise nicht allein vom angeborenen Temperament und der Erlebnis situation abhängig. Fast jeder kennt unerklärliche Stimmungsschwankungen, die mit guten Gründen auf biologische Zustände bezogen werden. Besonders deutlich ist dies bei den weich-traurigen oder mürrischgereizten Verstimmungen, an denen viele Frauen in den Tagen vor der Menstruation leiden. Mancher ist nach zu langem Mittagsschlaf mürrisch-gereizt oder apathisch verstimmt. Bei Erschöpfung und Übermüdung, nach grossem Blutverlust oder längerem Hunger gibt es abnorm gehobene Stimmungen mit heiterer, unangemessener Unbedenklichkeit bis zur enthemmten Albernheit. Auch solche Verstimmungen können gelegentlich als kriminogene Komponenten auftauchen. Alkohol u n d K r a n k h e i t . Im Krankheitssystem gehört der Alkoholrausch als Intoxikationspsychose zu den exogenen Störungen. Er unterscheidet sich von den krankhaften Zuständen,
Krankheit die forensisch-psychiatrische Berücksichtigung verdienen, dadurch, daß er die Person in der Kegel nicht schuldlos schicksalhaft überfällt, wie ζ. B. eine psychopathologisch völlig gleichartige endogene Manie oder Benzolvergiftung. In der Regel ist Alkoholgenuß Ausdruck des normalen gesellschaftlichen Lebens, enorm verbreiteter Bedürfnisse und wirtschaftlicher Interessen (1961 wurden in der Bundesrepublik für 16 Milliarden DM Alkohol getrunken, Steueraufkommen 4 Milliarden DM). Auf die Forderung nach unschädlichem Verhalten auch unter Alkoholeinfluß kann man im Interesse der öffentlichen Sicherheit nicht verzichten. Bei diesen Schwierigkeiten ist es kein Wunder, daß gutachtliche wie richterliche Bewertungen von Akoholräuschen in der Praxis ziemlich uneinheitlich sind. Leichter zu beurteilen sind jene Rauschzustände, bei denen das Trinken Ausdruck einer krankhaften Veränderung ist. Dies kommt besonders im Rahmen endogener Psychosen und anderer periodischer Verstimmungszustände vor, in denen Alkohol quasi als Medizin genommen wird, aber auch bei chronischem Alkoholismus, bei dem das Trinken selbst krankhafte Suchtbefriedigung bedeutet. Bei der Verbreitung des Alkoholgenusses ist es kein Wunder, daß leichter Alkoholeinfluß sehr häufig auch unterhalb ausgeprägter Rauschveränderungen als kriminogener Teilfaktor gefunden wird. Dies verdient bei Beurteilung des Geisteszustandes dann besondere Beachtung, wenn gleichzeitig abnorme oder krankhafte Besonderheiten vorhegen, wie ζ. B. hochabnorme Primärpersönlichkeit, Hirnverletzungsfolgen, krankhafte Verstimmungen, Hirnabbauprozesse und dergl. Geringe Alkoholmengen können latente und sonst noch beherrschte Menschen dekompensieren lassen und der Persönlichkeitskontrolle entziehen. Durch Summation verschiedener Umstände kann ein Geisteszustand Krankheitswert bekommen (Näheres-*Alkoholisraus). Die K r a n k h e i t als Ausrede im S t r a f v e r f a h r e n . Zwischen Ausrede und zureichender Entschuldigung wird man im Einzelfalle nur nach sorgfältiger Untersuchung unterscheiden können. Zu den häufigsten Ausreden, die zur psychiatrischen Begutachtung führen, darf man den Hinweis auf durchgemachte Hirnerschütterungen zählen. Sie kommen häufig vor, haben aber nur selten eine gewichtige Bedeutung (s. a. Küper). Geringere Alltagsbeschwerden des körperlichen Befindens sind in der Bevölkerung so häufig, daß es eher wundernimmt, wie selten sie als Entschuldigungsgründe im Strafverfahren vorgebracht werden (s. dazu W. Funke). 11. Methoden der Objektivierung
von
Krankheiten
Auch hier brauchen wir nur Krankheiten zu berücksichtigen, die den Geisteszustand beeinflussen können (s. o.).
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a) Die p s y c h i a t r i s c h e E x p l o r a t i o n des Probanden und der Menschen, die mit ihm zusammen leben und ihn kennen. Sie ist das wichtigste Orientierungsmittel bei a l l e n forensisch-psychiatrischen Problemen und die entscheidende Methode bei endogenen Psychosen und reaktiven Störungen. So werden durch den Untersucher aus dem Strom der Geschehnisse Fakten herausmoduliert, deren Abgrenzung und Bewertung von Erfahrenheit, Gründlichkeit, aber auch von Sichtweisen wie von theoretischen Vorentscheidungen (s. o.) unvermeidlich mitgeformt werden. Dennoch gibt es hier, Gewissenhaftigkeit und gutes Ausbildungsniveau vorausgesetzt, einen verbindlichen, objektiven wissenschaftlichen Boden. Fragen der Exploration: Zuerst ist zu klären, welcher Mensch vor uns steht. Antwort darauf gibt eine Analyse des Lebenslaufes sowie der Eigen- und Fremdbeurteilungen des Charakters. Seine derzeitige Lebenssituation und deren Entstehung, seine Beziehung zu den Mitmenschen, seine Ansichten, Befürchtungen, Hoffnungen runden das Bild der Person ab. Die Erlebnisseite der Störungen und ihre Entstehungen sind nur durch Exploration aufzuklären. Die Entscheidung, ob eine Krankheit oder eine abnorme Erlebnisreaktion vorliegt, wird durch die Exploration vorbereitet und manchmal entschieden. Zu beantworten sind folgende Fragen: Ist ein Störungsbild aus dem Zusammentreffen einer bestimmten Persönlichkeit mit einem bestimmten Schicksal ausreichend zu verstehen? Passen die psychischen Auffälligkeiten zu dieser bestimmten Persönlichkeit? Sind sie oder wären sie bei ähnlicher Belastung früher auch aufgetreten ? — Ein wichtiger Gesichtspunkt, denn manche Patienten, die eine psychische Störung mit Gewißheit auf eine bestimmte Belastungssituation zurückführen, geben dann zu, daß sie früher sehr viel schwierigere Lagen ohne solche Reaktionen überstanden haben. Abnorme — hysterische Erlebnisreaktionen können oft schon durch die Exploration als Ausdruck einer krankhaft veränderten Persönlichkeit entdeckt werden und den Weg zur erforderlichen Diagnostik eröffnen. b) P s y c h o l o g i s c h e T e s t s . Sie haben zur Objektivierung und Differenzierung der entscheidenden psychiatrischen Exploration einen festen Platz in der forensischen Begutachtung gewonnen. Besondere Bedeutung haben Leistungstests mit standardisierten Beurteilungsmaßstäben für die Intelligenz und ihre Voraussetzungen. Insbesondere lassen sich Gedächtnis, Merkfähigkeit, Sprachfunktionen gut erfassen. Die moderne Differenzierung der psychologischen Testverfahren setzt spezialistische Einarbeitung voraus. Von umstrittener Bedeutung sind die projektiven Tests, zu denen insbesondere der Rorschach-Formdeute-
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Krankheit
versuch, aber auch viele andere gehören. Sie werden einerseits scharf als unwissenschaftlich verurteilt (zuletzt Brengelmann), andererseits unkritisch überschätzt. Wertet man sie aber im Sinne einer erweiterten Exploration mit quasi standardisierter Situation, dann können sie Hinweise geben, die im Zusammenhang mit den übrigen explorativen Ergebnissen die Einsicht in eine bestimmte Persönlichkeit vertiefen können. Warnen muß man allerdings den Juristen vor der Verwertung isolierter projektiver Testergebnisse (in dem Zusammenhang muß auch die Graphologie genannt werden), die nicht auf einen klinischpsychiatrischen Gesamtaspekt bezogen sind. c) D i e s o m a t i s c h e n U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e n . Eine klinische, intern-neurologische Untersuchung gehört zu jeder forensisch-psychiatrischen Begutachtung. Immer kann ein unerkannter organischer Prozeß Ursache oder Teilfaktor einer psychischen Abartigkeit sein. Ergeben sich Verdachtsmomente, muß das ganze Rüstzeug der somatischen Klinik eingesetzt werden. Im Fall der forensischen Begutachtung sind besonders häufig Spezialuntersuchungen des Kreislaufs, des Stoffwechsels, der inneren Sekretion und des Blutes erforderlich. Die n e u r o l o g i s c h e U n t e r s u c h u n g wird durch folgende wichtigen technischen Untersuchungsverfahren ergänzt: d) E l e k t r o n e n c e p h a l o g r a p h i e (EEG). Diese völlig ungefährliche und schmerzlose Methode registriert die elektrische Aktivität des Gehirns. Das Hirnstrombild des Menschen zeigt Wellen verschiedener Frequenzen und verschiedener Formen. Zwischen den sicher normalen und den sicher krankhaften Bildern liegen mehrdeutige abnorme Befunde, die nicht ohne weiteres erkennen lassen, ob es sich um Extremvarianten bei einem Gesunden oder bereits um den Ausdruck krankhafter Störungen handelt. Wie bei allen problematischen Einzelbefunden müssen auch diese im Zusammenhang mit allen anderen Untersuchungsergebnissen interpretiert werden. Ein einzelnes normales EEG kann grundsätzlich eine krankhafte Störung nicht ausschließen. Normalbefunde sollen deshalb bei weiterbestehendem klinischen Verdacht kontrolliert oder entsprechend zurückhaltend bewertet werden. Bei fast allen Hirnerkrankungen kann das EEG Hinweise auf das Vorliegen einer Hirnfunktionsstörung geben. Sie sind für die Art der Störung (mit Ausnahme der Epilepsie) nicht beweisend. Besondere Probleme geben die abnormen und pathologischen EEG-Befunde bei abartigen Persönlichkeiten auf, die sich unter Rechtsbrechern nicht selten finden. In der Hand des erfahrenen Untersuchers ist das EEG heute ein unentbehrliches Hilfsmittel der forensisch-psychiatrischen Begutachtung. e) R ö n t g e n d i a g n o s t i k . Ambulant ist nur die Schädelleeraufnahme durchführbar, die gele-
gentlich schon Hinweise auf Entwicklungsstörungen oder Neubildungen gibt. Wesentlich aufschlußreicher sind die Kontrastmittelverfahren, die aber stationäre Aufnahme des Patienten voraussetzen. Sie erfolgen nach folgenden Prinzipien: aa) L u f t e n c e p h a l o g r a p h i e . Gehirn und Rückenmark schwimmen in einer wäßrigen Flüssigkeit (Nervenwasser oder Liquor cerebrospinalis). Diese äußeren Flüssigkeitsräume stehen in Verbindung mit dem Hirnkammersystem, das gleichfalls mit Nervenwasser gefüllt ist: Durch Punktion in Nacken- und Lendenhöhe wird Luft entweder unter Überdruck eingeblasen oder nach Entzug von Nervenwasser ergänzend eingefüllt. Die luftgefüllten Flüssigkeitsräume stellen sich im Röntgenbild dar. Aus ihren Veränderungen kann man auf Substanzverluste, Schrumpfungen, Narbenprozesse oder Neubildungen schließen. Die Methode ist grob, bei positiven Befunden jedoch zuverlässig. Unmittelbare Rückschlüsse auf den Geisteszustand sind noch seltener als beim EEG möglich, da Narbenbefund und aktueller Krankheitsprozeß durch die Form allein nicht unterschieden werden können. bb) L i q u o r u n t e r s u c h u n g . Das durch Punktion gewonnene Nervenwasser wird auf Zellzahl, Eiweißwerte sowie auf chemisches Verhalten geprüft. Es unterstützt die Diagnose zahlreicher Hirnkrankheiten. Beweisen kann es insbesondere die Diagnose der progressiven Paralyse. cc) A n g i o g r a p h i e . Die Blutgefäße versorgen das Schädelinnere nach ganz bestimmten Verlaufsmustern. Durch Kontrastmitteleinspritzungen in die Halsschlagader (Arteria carotis interna) oder die Arteria vertebralis kann man mittels Serien-Röntgenaufnahmen den Weg des Kontrastmittels durch Arterien und Venen verfolgen und Verlagerungen, Verschlüsse, krankhafte Bildungen oder Anlagestörungen erkennen. 12. Krankheit und Kriminalität Im Grenzfalle gilt für fast jedes menschliche Streben, jede Neigung, jeden Impuls, daß es sich erst beim Durchgang durch ein kompliziertes psychisch-soziales Bedingungsgeflecht entscheidet, ob sie zu sozialen oder kriminellen Handlungen werden. Dies gilt für Triebbedürfnisse aller Art, den Selbsterhaltungstrieb, für Hunger und Durst, für Genuß, Besitz, Geltungs- und Machtstreben, für Liebesbeziehungen, Eifersucht, Haß, Rachsucht, Mißgunst und Neid usw. Das Schicksal dieser Impulse hängt von der Konstellation fördernder und hemmender Bedingungen ab. Dieses Bedingungsgeflecht wirkt analog einer Verstärkerröhre, die Impulse je nach ihrer Ladung bremst oder beschleunigt. Einsichten in dieses Gefüge und die zugrunde hegenden Tatimpulse sind schwierig, weil man in der forensischen Praxis von der vollendeten Tat ausgehen muß. Wie irrtumsträchtig dieser konstruktive Rückweg von
Krankheit der Tat über die Motivationen des Täters durch das Bedingungsgeflecht seiner psychisch-sozialen somatischen Realitäten bis hin zu seinen Motiven sein kann, hat besonders Bürger-Prinz dargestellt. Trotz aller Einsichtsschwierigkeit ist es doch zweifelsfrei, daß der Druck der inneren und äußeren Tatsituationen konkurriert mit der inneren Haltung des Täters zu sozialen Werten, mit seiner Fähigkeit, vorausschauend Handlungsfolgen auf die Kontinuität seines Lebens zu projizieren, mit Erwartung oder Mißachtung von Vor- und Nachteilen, Furcht vor Strafe oder Prestigeverlust. Die Kanalisierung von Impulsen zur Kriminalität wird durch egozentrisch-rücksichtslose Sozialhaltungen ebenso begünstigt wie durch übermächtige situative Verlockungen: Krankheiten (einschließlich Alkoholeinflüsse) wie auch situative Zufälle können fördernde und hemmende Wirkungen in diesem System haben. Im ganzen gesehen, hemmen Krankheiten — auch jene, die mit psychischen Veränderungen einhergehen — die Kriminalität, die im wesentlichen eine Domäne der Gesunden ist. Der relativ geringe Krankheitsanteil an der Kriminalität spiegelt sich in den Verurteilungen gem. § 51 StGB. (s. Tab. 1). Tabelle 1 Verurteilungen nach Bundeskriminalstatistik 1956 bis 1959 bzw. 1960
Sittlichkeits delikte Gewaltdelikte ohne fahrläss. Körperverletzung Gewaltdelikte mit fahrläss. Körperverletzung Diebstahl Betrug
§51, I StGB
§ 61, II StGB
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0,2 %
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0,1 % 0,1 % 0,05%
2,2% 1,4% 0,5%
Mit anderen Worten: Mindestens 92% der Sittentäter sind voll zurechnungsfähig. Bei den Gewalttätern sind es über 97%, bei den Betrügern und Dieben über 99 bzw. 98%. Es sind also die seltenen Fälle, in denen Krankheit kriminogen ist. Sie kann es werden, wenn sie die hemmenden personalen und psychosozialen Steuerungkräfte lockert oder destruiert. Darüberhinaus können auch krankhafte Proportionsverschiebungen im somatisch-psychisch-sozialen Gefüge kriminelle Entgleisungen begünstigen. Ein Beispiel wäre die pädophile Handlung, zu der es einen alternden Mann aus Triebstauung infolge Potenzverlustes bei erhaltener Libido drängte, die aber nur realisiert werden konnte, weil ein sonst gering zu veranschlagender hirnorganischer Abbau das Kritikvermögen so weit geschwächt hatte,
493
daß eine Projektion der Handlung auf sein bisheriges Verhalten und auf die möglichen Folgen dem starken Triebwunsch nicht mehr die Waage halten konnte. 13. Erfahrungsanalysen
zum Thema
Zur Vorbereitung dieses Kapitels haben wir, um die Bedeutung von krankhaften Momenten im kriminogenen Bedingungsgefüge kennenzulernen, eine empirische Analyse der gutachtlichen Erfahrungen unserer Klinik durchgeführt, die a. 0. eingehend mitgeteilt wird (Bochnik, Legewie, Otto, Wüster). Tab. 2 enthält eine Auswahl von 491 statistisch überprüften Zusammenhängen, die im Krankheitskapitel interessieren. Sie beruhen auf einem psychiatrisch-forensischen Gutachtenmaterial, in dem Krankheitsmomente natürlich viel häufiger vorkommen als in der Durchschnittskriminalität (unzurechnungsfähig gem. § 51, I StGB waren in diesem Material Gewalttäter in 29%, Diebe in 26%, Betrüger in 22% und Sittentäter in 10%). Um so gewichtiger ist das Ergebnis, daß krankhafte psychische Störungen wie auch erhebliche persönliche Abartigkeiten keine spezifischen Affinitäten zu den Hauptdelikttypen haben, wenn man von einer gewissen Sonderstellung der Triebverbrechen absieht. Anders gesagt: Praktisch alle Konstellationen kommen bei den verschiedenen Delikten vor. Es erübrigt sich daher, hier auf die kriminologische Bedeutung der einzelnen Krankheiten genauer einzugehen, da sie fast nie direkt oder spezifisch wirken, sondern ihre Bedeutung praktisch immer erst durch das komplizierte somatisch-psychischsoziale Bedingungsgefüge erhalten. Sehr aufschlußreich ist dafür die in Tab. 2 zusammengefaßte Analyse, nach der die Tattypen (Zeile 3—6) keinerlei Korrelationen mit psychiatirschen Diagnosen und mit den Beurteilungen der Zurechnungsfähigkeit haben. Lediglich bei den Sittlichkeitstätern (Spalte VI) fanden sich Schädelhirnverletzungen überzufällig seltener, sie waren häufiger vorbestraft und erfüllten seltener die Voraussetzungen des § 51, I StGB. Die Behinderung durch Krankheiten in der weiteren Tatzeit (Spalte IX) und die Tatsache, daß jemand häufiger in der Vorgeschichte überhaupt krank war (Spalte X), spielt gleichfalls für die Tattypen keine differente Rolle. Der hier wiedergegebene Ausschnitt aus einer größeren Korrelationsmatrix (40x40 Variable) verdeutlicht jedoch andere strukturelle Zusammenhänge. Dies zeigt sich, wenn man die Spalten III bis VI verfolgt, in denen sich die psychiatrisch wichtigen Krankheitszustände finden. Bei den endogenen Psychosen, die wir im forensischen Gutachtenmaterial angetroffen haben (s. Spalte III), spielen signifikant häufig Zufallssituationen eine Rolle, rationale Tatsteuerung ist selten, persönlichkeitsfremde Tat sehr häufig, Schuldgefühle selten. Vorbestrafte sind verstand-
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19. Häufig krank / Spalte X
18. Kindheit problem
17. Schi. Sozialniv. d. Eltern
16. Psych. Familienbelast
15. Schuldgefühle
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12. Alkoholmitwirkung / Spalte VIII
10. Akuter Affekt
11. Rational gesteuert
9. Opfer fremd
8. Zufallssituation / Spalte VII
5. Betrug
3. Tötung, Gewalt
4. Diebstahl
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1. Epoche 55—61
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