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German Pages [388] Year 1989
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 83
VÔR
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler
Band 83 Sabine Sander Handwerkschirurgen
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Handwerkschirurgen Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe
von
Sabine Sander
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
C I P - T i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Sander, Sabine: H a n d w e r k s c h i r u r g e n : Sozialgeschichte einer verdrängten B e r u f s g r u p p e / v o n Sabine Sander. - Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft ; Bd. 83) Z u g l . : Glessen, U n i v . , Diss., 1986/87 I S B N 3-525-35745-1 NE: GT
Gedruckt mit U n t e r s t ü t z u n g der Robert Bosch Stiftung © 1989, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in G e r m a n y . Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede V e r w e r t u n g außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlags unzulässig u n d strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, M i k r o v e r f i l m u n g e n und die Einspeicherung u n d Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus B e m b o auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und D r u c k : G u i d e - D r u c k G m b H , Tübingen. Bindearbeit: H u b e r t & C o . , Göttingen.
Inhalt
Vorwort
9
Einleitung 1. Der Rahmen: D a s 18. Jahrhundert
11 württembergische
Gesundheitswesen
im
1.1. Die Verrechtlichung des Gesundheitswesen
22 23
1.2. Die Medizinalverwaltung
30
1.3. Die Anbieter medizinischer Dienstleistungen
41
2. Die handwerklichen Chirurgen
54
2.1. Die Tätigkeit
56
2.1.1. Rechtliche Grundlagen der chirurgischen Berufstätigkeit 2.1.2. Die Berufspraxis der Wildberger und Waiblinger Chirurgen im Spiegel der Inventuren und Teilungen 2.1.3. Rasieren und Pfuschen - der wundärztliche Alltag am Beispiel des Wildberger Chirurgen Ezechiel Christian Kretzenthaler
57 70 91
2.2. Die wirtschaftliche und soziale Lage
110
2.2.1. Die Besitzverhältnisse 2.2.2. Der Sozialstatus 2.2.3. Revision des Stereotyps vom armen und verachteten Wundarzt. . .
111 125 133
2.3. Der Berufszugang
135
2.3.1. Quantitative Entwicklung und Herkunft des wundärztlichen Nachwuchses 2.3.2. Die Lehrzeit 2.3.3. Die Gesellenzeit 2.3.4. Die Meisterprüfung
136 143 151 170
2.4. Die Verbreitung
176
2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4.
178 183 190
Die quantitative Bedeutung der Handwerkschirurgie Die regionale Verteilung Der Anteil der Hilfskräfte und die Betriebsgröße Die Verbreitung des handwerklichen Chirurgenberufs am Beispiel von Familien
192 5
2.5. Die A u t o n o m i e
200
2.5.1. Die Zunftorganisation der Chirurgen 2.5.2. Die Einengung korporativer Freiräume durch den Oberrat im 17. Jahrhundert 2.5.3. Das Chirurgenhandwerk als Objekt im Machtkampf zwischen den Collegia medica und den Stadt- und Amtsverwaltungen 2.5.4. Wundärztliche Autonomieverluste infolge der Standespolitik der Collegia medica 2.5.5. Die Paralyse der Chirurgen durch zunftinterne Fraktionierung . . .
201 204 206 210 216
Z u s a m m e n f a s s u n g und Ausblick
231
Abkürzungen
244
Anmerkungen
245
Quellen und Literatur
311
1. Ungedruckte Quellen 2. Gedruckte Quellen und Literatur
311 312
Anhang
333
Register 1. Personenregister 2. Ortsregister 3. Sachregister
374 374 377 380
6
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder im Text Tab.
1 : Die altwürttembergische Administration unter besonderer Berücksichtigung der Medizinalverwaltung
32
Tab.
2: Die Besoldungen der Physici im Jahre 1740
43
Tab.
3: Synopse der Berufsbezeichnungen der altwürttembergischen Chirurgen 4: Die Fachliteratur der Wildberger und Waiblinger Chirurgen
55 81
Tab.
5: Die soziale Zusammensetzung der Schuldner/Klienten der Wildberger Wundärzte im 18. Jahrhundert
84
Tab.
6: Die soziale Zusammensetzung der Schuldner/Klienten des Waiblinger Chirurgen Carl Friedrich Mangold im Jahre 1837
85
7: Der geographische Wirkungskreis der Wildberger Chirurgen . . . . 8: Der geographische Wirkungskreis der Waiblinger Chirurgen . . . . 9: Landwirtschaftlicher Grundbesitz der Chirurgen
87 88 89
Tab.
Tab. Tab. Tab.
Tab. 10: Acker- bzw. Feldbesitz der Wildberger Chirurgen und Schwarzwälder Zeugmacher im Vergleich
90
Tab. 11 : Das Handwerkszeug im Nachlaß des Wildberger Chirurgen Kretzenthaler(1784)
99
Tab. 12: Die Wildberger und Waiblinger Chirurgen in einem Schichtenmodell nach Vermögensklassen Tab. 13: Außenstände und Schulden der Wildberger und Waiblinger Chirurgen Tab. 14: Die mobilen Güter der Wildberger und Waiblinger Chirurgen . . . . Tab. 15: Pretiosen im Nachlaß des Wildberger Chirurgen Christoph Eberhard Braun jun. (1757) Tab . 1 6 : Die nichtfachliche weltliche Literatur in den Nachlässen der Chirurgen Tab. 17: Die Ämterlaufbahn des Wildberger Chirurgen Kretzenthaler . . . . Tab. 18: Arbeitsverhältnisse der Chirurgengesellen, geordnet nach Entfernungsbereichen vom Herkunftsort
113 116 118 122 124 127 160
Tab. 19: Die Heilerdichte Altwürttembergs im Vergleich zu anderen Territorien Tab. 20: Meister-, Gesellen- und Lehrlingszahlen in acht altwürttembergischen Amtsbezirken
190
Tab. 21: Die Betriebsgrößen der chirurgischen Handwerksbetriebe der Amtsbezirke Göppingen, Cannstatt, Backnang und Murrhardt . . .
191
182
7
Abb. 1:
Die Untersuchungsorte Wildberg und Waiblingen im altwürttembergischen Territorium
72
Abb. 2:
Die Entwicklung des Barbierkundenstamms des Wildberger Chirurgen Kretzenthaler
94
Abb. 3:
Die quantitative Entwicklung der chirurgischen Meisterprüfung in Altwürttemberg (1734-1806)
137
Abb. 4:
Die soziale Herkunft der Prüfungskandidaten: die Berufe ihrer Väter
141
8
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung ist die gekürzte und geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel »Die Handwerkschirurgen im Gesundheitswesen des Ancien Régime. Das Beispiel Württembergs« im Wintersemester 1986/87 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Universität Gießen angenommen wurde. Für seine Unterstützung bin ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Helmut Berding, sehr verbunden. Daneben danke ich für Durchsicht und Kritik der verschiedenen Manuskripte Prof. Dr. Werner F. Kümmel, M. A. Jörg Meyer, Prof. Dr. Hans-Peter Ulimann, Prof. Dr. Renate Wittern, Dr. Clemens Zimmermann, vor allem aber M.A. Eberhard Wolff, dessen ständige Diskussionsbereitschaft und Ermunterungen mir sehr geholfen haben, die im Arbeitsprozeß auftauchenden Probleme zu bewältigen. Anregungen, Hinweise und Auskünfte gaben mir darüber hinaus manche Freunde und Kollegen, die hier ungenannt bleiben. Dank schulde ich auch all jenen, die mir technische Hilfe leisteten. Unter den Leitern und Mitarbeitern der benützten Bibliotheken und Archive möchte ich Wilhelm Glässner, Stadtarchiv Waiblingen, besonders hervorheben. Karl Dobelmann in Winterbach gewährte mir freundlicherweise Einblick in seine familiengeschichtlichen Dokumente. Prof. Dr. Gerhard Fichtner stellte mir Arbeitsmaterialien und computergespeicherte Informationen zur Verfügung. Renate Günther-Borchmann unterstützte mich bei bibliographischen Recherchen; bei den Schreibarbeiten und beim Korrekturlesen waren Else Brändle und Sonja Mohles zuverlässige Helferinnen; Chris Seiler erstellte die Graphiken. Danken möchte ich last but not least der Robert Bosch Stiftung für den großzügigen finanziellen Zuschuß, mit dem sie die Drucklegung der in ihrem Institut für Geschichte der Medizin entstandenen Studie ermöglichte. Sabine Sander
9
»Wir wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben«, sagte eines Abends der Hauptmann; »nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein tüchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß. Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche Bedingungen zu haben ist, ein vorzüglicher Mann in seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer Übel öfters mehr Genüge getan hat als ein berühmter A r z t . . . « (Goethe, Die Wahlverwandtschaften, 1809).
Einleitung
Bevor die akademischen Ärzte eine nennenswerte Rolle in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu spielen begannen und schließlich diese nahezu völlig an sich bringen konnten, stellten die Handwerkschirurgen 1 (Wundärzte, Barbiere und Bader) die wichtigsten staatlich autorisierten Heiler dar. Das soll die vorliegende Arbeit am Beispiel Württembergs zeigen. Mit dem traditionalen Gesundheitswesen, in welches sie eingefügt waren, fielen die handwerklichen Chirurgen der Modernisierung zum Opfer, die seit der Wende v o m 18. zum 19. Jahrhundert alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßte. Die »Revolution von oben«, vereinbar mit den spezifischen Interessen des sich formierenden Ärztestandes, bewirkte im Verlauf des ^ . J a h r hunderts die schrittweise Ausschaltung der Chirurgen bis hin zu ihrer gänzlichen Abschaffung, die in Württemberg 1871, im Jahre der Reichsgründung, beschlossen wurde. Mit dem Tod des letzten württembergischen Wundarztes im Jahre 1931 verschwand die Berufsgruppe im Untersuchungsgebiet endgültig von der Bildfläche. 2 Obwohl also noch im 20. Jahrhundert einzelne Handwerkschirurgen praktizierten, ist man sich heute sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt nicht oder kaum mehr der ehemals so großen Bedeutung dieser Berufsgruppe bewußt. Im öffentlichen Bewußtsein hält allenfalls der Familienname Bader eine Erinnerung an die alten Chirurgen wach, kaum jedoch der geläufige Begriff des Schröpfens, der in seiner eigentlichen Bedeutung eine charakteristische Tätigkeit der Wundärzte bezeichnet, nämlich eine bestimmte Form der Blutentziehung, der aber in der ursprünglichen Bedeutung kaum noch verstanden und fast ausschließlich im übertragenen Sinne verwendet wird. Sofern rudimentäre Kenntnisse über die Chirurgen in der Laienwelt artikuliert werden, fällt in der Regel der abschätzige Begriff »Quacksalber«, oder es wird eine Gleichsetzung mit nichtapprobierten Laienheilern vorgenommen. Daß die Handwerkschirurgen im Alltagsbewußtsein entweder nicht verankert sind oder eine Projektionsfläche fur negative Urteile bilden, k o m m t sicher nicht von ungefähr, denn ganz ähnlich stellt sich die Situation in der medizinhistorischen und in der historischen Fachwelt dar. Hier werden die Wundärzte in den allgemeinen Darstellungen mit einem größeren Adressatenkreis kaum erwähnt oder aber in ein ungünstiges Licht gerückt. N u r in lokalgeschichtlichen Monographien und auch Aufsätzen sind sie zum U n -
ii
tersuchungsgegenstand gemacht worden. Abgesehen davon, daß man mancher älteren Arbeit gar nicht habhaft werden kann, verhindert der lokalhistorische Ansatz in der Regel eine Rezeption auf überregionaler Ebene. Doch sind diese Arbeiten oft auch aufgrund ihrer Fragestellungen und ihres methodischen Vorgehens unbefriedigend und deshalb wenig geeignet, das Informationsdefizit zu beseitigen. Der hier grob umrissene Forschungsstand soll im folgenden näher betrachtet werden. Die Medizingeschichte wäre noch am ehesten diejenige historische Disziplin, von der man sich zuverlässige Nachrichten über die Wundärzte versprechen könnte. Daß die handwerkliche Chirurgie jedoch nicht das Interesse der neueren Forschung anzuziehen vermochte, erklärt sich aus der Situation des Faches Medizingeschichte in der Bundesrepublik 3 und der Herkunft seiner Vertreter. Diese rekrutierten sich lange Zeit ausschließlich und heute noch zum größeren Teil aus den Reihen der Mediziner, deren Standesdenken und Fortschrittsgläubigkeit den historischen Zugriff entscheidend prägten. So herrscht bis heute ein Geschichtsverständnis vor, das die historische Entwicklung als einen unaufhaltsamen Fortschritt begreift, der mit innerer Notwendigkeit geradlinig auf die Gegenwart zusteuert, die als Höhepunkt des Geschichtsverlaufs gedeutet, teilweise sogar mystifiziert wird, beispielsweise wenn von den »Wundern« der modernen Medizin gesprochen wird. 4 Deshalb versteht sich die Medizingeschichte in erster Linie als Wissenschaftsgeschichte, die nach den großen Entdeckungen in der Vergangenheit fragt und dabei die (an heutigen Maßstäben gemessenen) fortschrittlich erscheinenden als Großtaten feiert, ohne den eigenen Standpunkt einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Konsequenterweise orientiert sie sich an »den großen Persönlichkeiten«, die sich durch Entdeckungen und Publikationen einen Namen machten. Während sich allenthalben Beispiele einer personalisierenden Geschichtsschreibung bis hin zur ausgesprochenen Heldenverehrung finden lassen, mangelt es an sozialhistorischem Interesse an den medizinischen Berufsgruppen als Kollektiven, erst recht an der Gruppe, die sich schon allein durch das Faktum ihres Verschwindens als nicht fortschrittlich erwies. Ihren eigentlichen Niederschlag findet die skizzierte Geschichtsauffassung in neueren medizinhistorischen Handbüchern und Überblicksdarstellungen. Sie gilt es zunächst ins Auge zu fassen, k o m m t ihnen doch die größte gesellschaftliche Relevanz zu, da sie von angehenden Medizinern rezipiert bzw. diesen in Vorlesungen vermittelt werden. 5 Die v o m 18.Jahrhundert handelnden Kapitel dieser Werke würdigen ausfuhrlich die wissenschaftliche, d. h. die universitäre Chirurgie, auch die berühmten wissenschaftlich tätigen Chirurgen, jedoch nicht deren handwerkliche Kollegen. 6 Während gelegentlich von anderen Praktikern, den Ärzten und sogar den Hebammen, die Rede ist, bleibt die Suche nach Informationen über die Wundärzte selbst in umfänglichen Werken vergeblich oder endet höchst unbefriedigend. 7 Teils muß man bis zum Mittelalter zurückblättern, u m - bezeichnenderwei12
se nur dort - auf wenige Bemerkungen zur praktischen Chirurgie zu stoßen. 8 Beim Zusammentragen solcher Mosaiksteinchen ergibt sich ein teilweise schillerndes, überwiegend aber ausgesprochen negatives Bild der handwerklichen Chirurgen. So erscheint das Chirurgenhandwerk etwa als ein unselbständiger Assistentenberuf, vergleichbar dem des Krankenpflegers, wenn der Wundarzt in der »Zivilpraxis« als weisungsgebundener Helfer des Arztes bezeichnet wird. 9 Völlig spekulativ etwa ist die Vermutung, »daß bei der großen Masse der alten Babierchirurgen das selbständige Denken nicht sonderlich ausgeprägt gewesen sein dürfte«. 1 0 Vom eng begrenzten chirurgischen Leistungsangebot zu sprechen, 1 1 ist undifferenziert und unhistorisch, solange nicht die zeitgenössischen Möglichkeiten der Therapie und die Risiken fur die Patienten abgewogen oder Vergleiche dazu angestellt werden, was dem akademischen Mediziner aufgrund seiner Ausbildung und dem Wissensstand seiner Zeit zu Gebote stand. Ein weiteres Beispiel soll die Fragwürdigkeit des Chirurgenbildes offenlegen: das geläufigste Verdikt der Unbildung. 1 2 Sofern es überhaupt erläutert wird, hebt dieses Urteil vor allem auf die geringen oder fehlenden Lateinkenntnisse der Wundärzte ab. 1 3 Hieran erweist sich, mit welcher Selbstverständlichkeit der akademische Mediziner, der des Lateinischen (mehr oder minder) mächtig war, zum Maß der Beurteilung herangezogen und dessen »gelehrte« Bildung offenbar als für die medizinische Praxis zwingend notwendig erachtet wird. Doch kann keineswegs von der Prämisse ausgegangen werden, daß die Lektüre lateinischer Fachliteratur - und nur in dieser Hinsicht konnten Lateinkenntnisse für die.Berufsarbeit eigentlich bedeutsam sein - unabdingbar war, u m sich für die Praxis zu qualifizieren. Denn zum einen stand im 18. Jahrhundert ein umfangreiches Angebot an deutschsprachiger Fachliteratur zur Verfugung; zum anderen gab es außer der Lektüre andere Formen der Wissensvermittlung bzw. -aneignung. Das detaillierteste Bild und die zugleich negativste Sicht der handwerklichen Chirurgen bietet unter den handbuchartigen Darstellungen Georg Fischers »Chirurgie vor lOOJahren«, die 1876 erstmals veröffentlicht wurde. Aus Mangel an neueren einschlägigen Arbeiten wurde diese Studie vor wenigen Jahren nachgedruckt 1 4 und fehlt seither in keiner medizinhistorischen Handbibliothek. Von Fischers Kritik bleibt keine Dimension des Chirurgenhandwerks verschont: Die Zunftorganisation charakterisiert er als chaotisch, die gesellschaftliche Stellung der Chirurgen als extrem niedrig, die Ausbildung als trostlos. 1 5 Insbesondere aber attackiert er die wundärztliche Berufspraxis, die von einer »haarsträubenden Unwissenheit und Rohheit« gekennzeichnet sei. 1 6 Außerdem wirft er den Wundärzten Übergriffe in den ärztlichen Arbeitsbereich vor, von dem sie nach seinem Dafürhalten »natürlich gar nichts verstanden«. 1 7 Er behauptet sogar, die Ausübung der Chirurgie sei »kaum die Sache eines ehrlichen Mannes« gewesen. 1 8 13
Diese Anhäufung negativer Stereotype aber hat von Winau, dem Herausgeber des Nachdrucks, nun keinerlei relativierende Kommentierung erfahren. 1 9 Dabei erlauben schon wenige biographische Daten zu Georg Fischer 2 0 eine kritische Beurteilung seiner Ausführungen. Der 1836 geborene Autor war ein studierter Mediziner, der sich schließlich der Chirurgie widmete. Daß er als akademischer Chirurg den handwerklichen Vertretern des Faches keineswegs unparteilich gegenüberstand, liegt auf der Hand. Insbesondere in den 1840er Jahren hatte sich der Ärztestand in der Öffentlichkeit für seine Dominanz und Monopolstellung auf dem Gesundheitsmarkt eingesetzt und damit auch die Ausschaltung der Handwerkschirurgen verlangt. 2 1 Als Fischer studierte, war die »Chirurgenfrage« noch in manchem deutschen Gebiet virulent, und als er sein medizinhistorisches Werk im Jahre 1876 veröffentlichte, lag ihre »Lösung« noch nicht lange zurück, und die letzte, im Aussterben begriffene Generation von Wundärzten praktizierte noch. Für Fischer als Studierten, der den handwerklichen Vertretern des Faches den Rang abgelaufen hatte, war es nur allzu naheliegend, die unterlegenen Konkurrenten als eine überflüssige, ja schädliche Berufsgruppe darzustellen, u m somit ihre Ausschaltung noch im nachhinein zu legitimieren. Die parteiliche Stellungnahme Fischers konnte ungefiltert Eingang in die j u n g e Medizingeschichte finden, zumal diese noch keine hauptamtlichen Fachvertreter hatte, sondern von Ärzten nebenbei betrieben wurde 2 2 . Betrachten wir noch die nachfolgenden älteren Darstellungen zur Geschichte der Chirurgie, die heute ebenfalls als Nachdrucke leicht zugänglich sind: Mehr Gerechtigkeit als Fischer läßt Gurlt den Handwerkschirurgen widerfahren, doch erstreckt sich sein 1898 erschienenes dreibändiges Werk (Nachdruck 1964) nur bis zum Beginn der Neuzeit 2 3 . Helfreich schneidetin seiner 1905 verfaßten »Geschichte der Chirurgie« (Nachdruck 1971) die Frage nach denen, die sie ausübten, gar nicht erst an. 2 4 Walter von Brunn handelt in seiner »Kurze(n) Geschichte der Chirurgie« von 1929 (Nachdruck 1973) das 18.Jahrhundert ab, indem er die »großen Chirurgen« Revue passieren läßt; zu den wissenschaftlich unbedeutenden findet sich nur der Hinweis, daß es in Deutschland mit den »Standesverhältnissen... traurig genug« aussah. 2 5 Faßt man die sich abzeichnende Entwicklung ins Auge, so ist unschwer ablesbar, daß das chirurgische Handwerk, nachdem seine Abschaffung beschlossen war, zunächst noch diffamiert wurde, bald aber mehr und mehr aus den Übersichtswerken verschwand und damit auch aus dem kollektiven Gedächtnis der Medizingeschichte. 2 6 Keine oder nur geringe Ausstrahlung darauf aber haben die lokalhistorisch ausgerichteten Spezialmonographien. Der heutige Stand der Forschung über die Handwerkschirurgen im Ancien Regime ist hier durch ca. 20 Arbeiten bestimmt, die seit dem Beginn unseres Jahrhunderts im deutschen Sprachraum entstanden sind. Allein acht von ihnen stammen aus der Schweiz. 2 7 Hervorzuheben sind die in der Zwischenkriegszeit entstandenen 14
Arbeiten Gustav Adolf Wehrlis zu Zürich. 2 8 Sie beziehen sich nicht nur auf die Stadt, sondern ζ. T. auch auf den zugehörigen Kanton, sind ausgesprochen materialreich und reißen über die sonst vorherrschenden rechts- bzw. zunftgeschichtlichen Fragen hinaus auch sozialhistorische an. Die jüngeren Schweizer Arbeiten von Marta Meyer-Salzmann aus den Jahren 1981 und 1984 stellen manches interessante Material zur Verfugung, leisten aber allein schon aufgrund des engen orts- bzw. personengeschichtlichen Ansatzes keine grundlegenden Beiträge zur Geschichte der Berufsgruppe. 2 9 Auf das Reichsgebiet bezogene lokalhistorische Monographien zu den Wundärzten haben ihren Schwerpunkt im Norden und Nordosten sowie in Mitteldeutschland: In älterer Zeit wurden die Verhältnisse der Chirurgenzünfte in den Hansestädten sowie in Köslin und Königsberg thematisiert. 3 0 In der Nachkriegszeit entstanden zwei einschlägige Schriften in der DDR, und zwar zu Magdeburg und zu Erfurt, beide 1957. 31 Mit drei Arbeiten aus den frühen 1960er Jahren ist der Süden des Reiches (Bayern und die Städte Schwäbisch Gmünd und Freiburg) repräsentiert. 32 Indirekt vertreten ist außerdem Württemberg mit einer Studie aus dem Jahr 1965, in der Richard Toellner den Lebensweg eines Aufsteigers, des Chirurgen Carl Christian von Klein, nachgezeichnet hat, indes ohne die zeitgenössische handwerkliche Chirurgie besonders ins Auge zu fassen. 33 Als letzter hat sich Manfred Stürzbecher des in der bundesrepublikanischen Wissenschaftsszene unpopulären Themas angenommen in seiner 1969 veröffentlichten Monographie zu den Wundärzten in Greifswald. 34 Standen früher die Zunftordnungen und andere Zunftdokumente im Mittelpunkt der Untersuchungen, so ist Stürzbecher an einem mehr sozialgeschichtlich akzentuierten Ansatz gelegen, wenn er betont, zu »Aussagen über die tatsächlichen Verhältnisse in der medizinischen Betreuung der Bevölkerung« gelangen zu wollen. 3 5 Trotz dieser erklärten Absicht treten auch bei ihm Grenzen und Schwächen der Monographien zu den Chirurgen im Alten Reich deutlich zutage. Die in der Archivrubrik »Medicinalia« vorgefundenen Materialien breitet er aus, offenbar ohne in weiteren Archivbeständen nach ergänzenden Informationen gesucht zu haben. Die Abhandlung ist unsystematisch, lediglich nach verschiedenen Kategorien von Wundärzten gegliedert; die archivalischen Fundstücke werden eher in chronologischer Reihung wiedergegeben als analysiert. Da das übrige Heilpersonal ausgeblendet bleibt und kaum Informationen über die ortsspezifischen Rahmenbedingungen mitverarbeitet sind, bleiben »Stellung und Bedeutung der Wundärzte in Greifswald« in vieler Hinsicht im dunkeln. Unter der Aufsatzliteratur sind die lokalhistorischen Arbeiten den vagen bzw. vorschnell pauschalierenden nicht-lokalhistorischen 36 vorzuziehen. Zwar vertiefen sie sich meist im Geist der alten Heimat- und Landesgeschichte in die Vergangenheit des Chirurgenhandwerks, ohne Fragen aus einem übergeordneten fachwissenschaftlichen Zusammenhang abzuleiten, doch kann man im einzelnen in ihnen wertvolle Informationen aufspüren. 3 7 15
Abgesehen von dem Problem der Beschaffung dieser Arbeiten verhindert vor allem ihre Ausschnitthaftigkeit eine Rezeption oberhalb der orts- oder regionalgeschichtlichen Ebene, so daß sie praktisch nichts zur Korrektur des heute in der Medizingeschichte vermittelten Bildes v o m Wundarzt beitragen. 3 8 Das gleiche gilt schließlich für eine weitere Gattung medizinhistorischer Literatur: die Darstellungen zum Gesundheitswesen einzelner Städte. Auch in derartigen Topographien, beliebten Dissertationsthemen von Medizinstudenten, 3 9 sind zwar oft eine Menge von Einzelinformationen zusammengetragen, die jedoch in der Regel - zumal ihre Verfasser keine historische Ausbildung durchlaufen haben - weder durch eine Frage zusammengebunden, noch in größere Zusammenhänge gestellt sind. Auch den zahlreichen Einzelaspekten wird kaum Genüge getan, wie das Beispiel der in diesen Darstellungen üblicherweise abgehandelten Chirurgen erweist. Zu ihrer allgemeinen Charakterisierung greifen die Verfasser meist ohne kritische Prüfung auf die ihnen als Autoritäten geltenden medizinhistorischen Handbücher zurück. Wenn sie dann auf die spezielle Situation ihres Untersuchungsgebietes eingehen, werden vornehmlich die einschlägigen Teile der Zunft- und Medizinalordnungen paraphrasiert 4 0 oder punktuelle Informationen zu einzelnen Chirurgen aneinandergereiht. So besitzen auch diese Arbeiten am ehesten noch lokalhistorische Relevanz. Schließlich ist die jüngere Geschichtswissenschaft ins Auge zu fassen, 4 1 denn hier hat sich u m die Mitte der 1970er Jahre die Sozialgeschichte der Medizin und des Gesundheitswesens als ein spezieller Forschungszweig herauskristallisiert. 42 Diese Ausweitung des Spektrums historischer Forschung ist die Folge des veränderten Selbstverständnisses innerhalb der Geschichtswissenschaft: der Neudefinition des Faches als historische Sozialwissenschaft. 4 3 Die seither entstandenen Arbeiten, die mit einem sozialhistorischen Ansatz medizingeschichtliche Themen aufgreifen, konzentrieren sich überwiegend auf das Preußen des 19. Jahrhunderts. 4 4 In ihnen werden die Chirurgen höchstens tangiert. Die meisten Anknüpfungspunkte ergeben sich für Claudia Huerkamp in ihrer Studie zum Aufstieg des Arztes im 19.Jahrhundert. 4 5 Obgleich sie der herkömmlichen medizinhistorischen Forschung im ganzen recht kritisch gegenübersteht und ärztliche Schriften zu zentralen Fragen ihrer Arbeit »gegen den Strich« liest, stimmt sie im Hinblick auf die Handwerkschirurgen, die sie freilich nur am Rande thematisiert, doch in den Kanon althergebrachter medizin(histor)ischer K o m m e n tare ein. So etwa, wenn sie die Chirurgie als ein »mehr oder weniger verachtetes Handwerk« bezeichnet 46 oder begrifflich keine klare Trennungslinie zwischen Wundärzten und vagierenden Steinschneidern zieht. 4 7 Schließlich erscheinen ihr die Chirurgen insgesamt als eine Gruppe von untergeordneter Bedeutung in der medikalen Versorgung der Bevölkerung. 4 8 Auch für Jan Brügelmann, einen Imhof-Schüler, stellen die Chirurgen offensichtlich eine quantité négligeable dar, spricht er doch in seiner 16
Untersuchung der medizinischen Topographien des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nur von den akademischen Ärzten einerseits und den nichtautorisierten Heilern (womit er allem Anschein nach medizinische Laien meint) andererseits. 49 Die letztgenannten Beispiele zeigen, daß der in standespolitischen und -ideologischen Zusammenhängen stehende Verdrängungsprozeß der Handwerkschirurgen auch unter an sich ideologiekritischen Sozialhistorikern wirksam geworden ist. Unterstützt wird dies nicht zuletzt durch den in der neueren Sozialgeschichte der Medizin zentralen Begriff der Medikalisierung. Der nicht eindeutig definierte Terminus wird vor allem bezogen auf die hauptsächlich im 19. Jahrhundert staatlich forcierte Einbindung von mehr und mehr Bevölkerungsteilen ins ärztliche Versorgungssystem. Völlig zu Recht hat Michael Stolberg kürzlich daraufhingewiesen, daß es sich - zumindest auf einer Bedeutungsebene - um eine Fehlbenennung handelt, »da der Begriff die Existenz einer medizinischen Wüste, eines Vakuums vorspiegelt, die erstmals erschlossen wird, während es sich im Grunde nur um einen Prozeß der Verdrängung des traditionellen medizinischen Versorgungssystems durch das schulmedizinische handelt.« 50 Der nachträglichen Verdrängung (im übertragenen bzw. psychologischen Wortsinn) der handwerklichen Chirurgen entgegenzuwirken und die wichtigste Heilergrupper des vormodernen Medikaisystems ins Bewußtsein zu heben, ihr Bild, das keine klaren Konturen aufweist, meist einseitig dunkel gezeichnet ist, teilweise auch schillernd und widersprüchlich erscheint, zu konturieren, erhellen, korrigieren und ergänzen, ist Ziel dieser Arbeit, die sich als Beitrag zu einer Sozialgeschichte der Medizin und des Gesundheitswesens versteht. Entscheidend für eine sozialhistorische Untersuchung der Handwerkschirurgen ist ein empirisches Vorgehen, d. h. die Auswertung von Primärquellen. Keinesfalls können die von akademischen Ärzten verfaßten Druckschriften eine zentrale Quelle darstellen. Andere gedruckte Quellen wie Ordnungen und Gesetze sind selbstverständlich heranzuziehen, doch erlauben sie nur sehr vermittelte und deshalb ungenügende Einblicke in die historische Realität. Zur Bestimmung der wundärztlichen Stellung im Gesundheitswesen und in der traditionalen Gesellschaft müssen deshalb in erster Linie archivalische Quellen bearbeitet werden. Schon aus forschungspraktischen Gründen ist folglich der Untersuchungsraum zu begrenzen. Der in der Medizingeschichte übliche lokalgeschichtliche Ansatz, der freilich am einfachsten zu handhaben ist, kann jedoch keinesfalls befriedigen. Nicht nur, daß ein so eng begrenzter Raum kaum Generalisierungen zuläßt. Weitere gewichtige Gründe sprechen dagegen, so vor allem der Umstand, daß städtisches Leben für das Ancien Régime aufs ganze gesehen eine untypische Lebensform bedeutete, denn noch um 1800 waren nur 10% der deutschen Bevölkerung Stadtbewohner. 5 1 Ist es angesichts dieses Sachverhalts ohnehin problematisch, bevorzugt die Chirurgen bzw. das Gesund17
heitswesen der Städte zu untersuchen, so gilt dies um so mehr für so exponierte Städte wie Residenz-, Universitäts- und größere Reichsstädte. Aufschlußreicher wäre hingegen eine Erforschung der medizinischen Infrastruktur der ländlichen Gebiete oder kleiner Landstädte, die weitgehend eine terra incognita darstellen. Statt lokalhistorisch vorzugehen, wurde für die vorliegende Untersuchung ein regionalgeschichtlicher Ansatz gewählt, wie er auch in der neueren Sozialgeschichte aus guten Gründen favorisiert wird. 5 2 Die Wahl fiel auf Altwürttemberg, ein mittleres Territorium, das um 1790 ein Areal von 9400Quadratkilometern bedeckte und rund 620000Einwohner zählte. 53 Zwar handelt es sich u m eine politisch definierte territoriale Einheit, ich spreche aber gleichwohl von einem regional- und nicht von einem landes geschichtlichen Ansatz, steht doch hier - im Unterschied zur Landesgeschichte - nicht das Territorium selbst im Mittelpunkt des Interesses, sondern geht es darum, an seinem Beispiel etwas über die Rolle der Chirurgen im Ancien Régime in Erfahrung zu bringen. Regionalgeschichtlich ist das Vorgehen auch insofern, als manche Fragen - infolge lückenhafter Quellen oder aus Gründen der Arbeitsökonomie - nicht flächendeckend beantwortet werden können und deshalb regionale Schwerpunkte innerhalb Württembergs gesetzt werden müssen. 5 4 In bewußter Abgrenzung von der dominierenden Orientierung auf Preußen in der neuen Sozialgeschichte der Medizin ist ein Territorium im Südwesten, dem geographisch entgegengesetzten Teil des Reiches, herausgegriffen worden, denn nur die Untersuchung kontrastierender Regionen kann vor übereilten Generalisierungen schützen. Die spezifischen Bedingungen im Südwesten, namentlich die größere Bevölkerungsdichte, die besondere Wirtschaftsstruktur mit ihrer großen Handwerkerdichte und ihrem geringen Stadt-Land-Gefälle, hatten — so läßt sich von vornherein vermuten Auswirkungen auch auf das Gesundheitswesen. Sinnvoll ist eine Untersuchung von unterschiedlichen Gebieten, um zu einem späteren Zeitpunkt in Vergleichen die Bedingungsfaktoren für regionale Differenzen im Gesundheitswesen umso besser erkennen zu können. Untersuchungszeitraum ist im wesentlichen das 18. Jahrhundert. Den Endpunkt setzt das Jahr 1806, da mit der Konstituierung des Königreichs Württemberg auf dem vergrößerten Territorium die Rheinbundreformen die alten Strukturen des Gesundheitswesens auflösten und auch den Wandel des chirurgischen Berufsbildes vorantrieben. Weniger definitiv soll indes die untere zeitliche Grenze gezogen werden. Je nach Fragestellung und Quellenlage wird hier ein mehr oder weniger großer Zeitraum in den Blick genommen. Teils wird speziell die Situation in der zweiten Jahrhunderthälfte, am Vorabend des Modernisierungsschubes, betrachtet. Teils muß aber auch die Zeit vor 1700 berücksichtigt werden, denn ein Teil der Rechtsnormen, die für die Chirurgen des 18. Jahrhunderts verbindlich waren, stammte aus dem vorangegangenen Jahrhundert; außerdem lassen sich einzelne Entwicklun18
gen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur durch den Vergleich von Momentaufnahmen aus dem 17. und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts rekonstruieren. s s Inhaltlich stehen die Chirurgen im Mittelpunkt, wobei unterschiedliche Dimensionen ihrer Existenz zu berücksichtigen sind. Selbstverständlich muß die Tätigkeit als das die Berufsgruppe konstituierende Moment zum Gegenstand gemacht werden, im einzelnen etwa das ihnen zugestandene Tätigkeitsgebiet, das Problem der Übergriffe in verbotene Arbeitsbereiche, die Schwerpunkte ihrer Tätigkeit, die Produktionsmittel, die Klientel sowie die gewerblichen Verdienstmöglichkeiten, u m nur einzelne Punkte zu benennen. Will man die Bedeutung der Chirurgen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung ermessen, so muß außer dem qualitativen Aspekt, ihrer Tätigkeit, insbesondere der quantitative Berücksichtigung finden, d. h. der U m f a n g der Berufsgruppe und ihre Verteilung im Lande. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt muß der Zugang zu dieser Berufsgruppe darstellen, vornehmlich die zahlenmäßige Stärke des Nachwuchses, seine Zusammensetzung sowie die Ausbildung, die er durchlief, mithin Fragen, die nicht allein im Hinblick auf die spezifische Berufsgruppe der Wundärzte bedeutsam sind, sondern auch im Rahmen neuerer Handwerksforschung Relevanz besitzen. Was die zünftige Organisation der Chirurgen betrifft, so ist wenig mit der in der älteren Forschung vorherrschenden Deskription gewonnen. Deshalb soll die Zunft der württembergischen Wundärzte speziell unter dem Aspekt ihrer Autonomie untersucht werden, ermöglicht doch gerade diese analytische Kategorie die Beantwortung der Frage, inwieweit die spätere Ausschaltung der Berufsgruppe schon im 18. Jahrhundert vorbereitet war. U m die Stellung der Chirurgen in der Gesellschaft zu bestimmen, sind als wichtige Lagemerkmale ihre wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die Bekleidung von Ämtern im öffentlichen Leben zu analysieren. Dies sind in groben Zügen die aufgrund der Quellenlage möglichen Fragestellungen. Da die genannten Komplexe auf unterschiedlichen Ebenen liegen und nicht aufeinander aufbauen, ergibt sich inhaltlich keine unbedingt zwingende Reihenfolge. Die fünf Dimensionen werden in der Reihenfolge: Tätigkeit, wirtschaftliche und soziale Lage, Berufszugang, Verbreitung und Autonomie abgehandelt. Zweckmäßig erschien es, die Tätigkeit wegen ihrer zentralen Rolle an den Anfang zu stellen und die Autonomiefrage am Ende zu behandeln, weil sie die Perspektive über die Untersuchungszeit hinaus öffnet. Im übrigen legen vornehmlich die jeweils verwendeten Q u e l len die genannte Anordnung der Kapital nahe. Doch vor dieser Analyse der wundärztlichen Berufsgruppe bedarf es einer Einführung in das zeitgenössische Gesundheitswesen. Sie erhebt keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit, kann es hier doch nur darum gehen, einige wesentliche Rahmenbedingungen unserer Berufsgruppe zu klären, nämlich die Medizinalgesetzgebung und -Verwaltung sowie die übrigen (d. h. nicht19
wundärztlichen) Anbieter medizinischer Dienstleistungen. Wie in der U n tersuchung insgesamt ist auch in dieser Einführung das Verhältnis zwischen Normen und Wirklichkeit zu erörtern, 5 6 womit zugleich ein grundsätzliches Problem eines Territorialstaates im Ancien Régime berührt wird: die innere Staatsbildung und ihre Grenzen. Aus der Quellenlage resultiert manches Problem. Das gewichtigste besteht darin, daß die historischen Subjekte dieser Studie - gerade auch im Unterschied zu den akademischen Medizinern - als Handwerker für die Nachwelt weitgehend stumm blieben. So sieht sich auch hier »der Versuch einer Sozialgeschichte >von untenvon oben< angewiesen«. 57 Als derartige Quellen haben die Gesetze und Verordnungen zu gelten, welche die Perspektive der Regierung und der sie beratenden studierten Mediziner wiedergeben. Im Zusammenhang mit diesen Quellen ist auf ein weiteres Problem zu verweisen: Auf ihrer Basis kann der rechtliche Rahmen nicht vollständig abgesteckt werden, da in der alten Gesellschaft neben dem kodierten Recht das ungeschriebene Gewohnheitsrecht eine beträchtliche Rolle spielte, das allerdings nur ausnahmsweise greifbar wird. Wenn auch die gedruckten Rechtsquellen eine wichtige Grundlage liefern, so stützt sich die Arbeit in der Hauptsache aber auf die ungedruckten Quellen des Hauptstaatsarchivs Stuttgart (HStASt), des Staatsarchivs Ludwigsburg (StAL) und des Universitätsarchivs Tübingen (UAT). Herangezogen wurden insbesondere die Akten der Behörden, die unmittelbar mit Medizinal- bzw. mit chirurgischen Handwerksangelegenheiten befaßt waren, das sind von den württembergischen Zentralbehörden der Kirchenrat und der Oberrat (HStASt), ferner die Collegia medica als die die Zentralbehörden beratende Stellen sowie die Collegia medico-chirurgica als Prüfungsgremien der Chirurgen (UAT und StAL). Für exemplarische Studien wurden außerdem Akten der unteren Verwaltungsebene verwendet, und zwar des Oberamtsarchivs Wildberg (im HStASt) und des Stadtarchivs Waiblingen (StadtAWN). Die Entscheidung für die exemplarische Methode erscheint dann als angemessen, wenn nur auf diese Weise zu empiriegesättigten Aussagen zu gelangen ist. Dabei mindert das Herausgreifen zweier lokaler Schwerpunkte und ihr Vergleich das Risiko, eventuell vorhandenen und als solche nicht ohne weiteres erkennbaren Besonderheiten eines Ortes aufzusitzen. Ein maßgebliches Kriterium bei der Auswahl der beiden kleinen Amtsstädte (mit jeweils weniger als 2000 Einwohnern um die Mitte des 18. Jahrhunderts) mußte zum einen die Quellenlage sein: Beide Orte verfügen über vergleichsweise gut erhaltene und geordnete Bestände. Z u m anderen schienen Wildberg und Waiblingen mir für punktuelle Studien aus historisch-sachbezogenen Gründen geeignet: Wie später näher ausgeführt wird, kontrastierten sie deutlich in mehrfacher Hinsicht und können somit als Repräsentanten differierender Regionen innerhalb Altwürttembergs gelten. Von arbeitsökonomischen 20
Gründen abgesehen, erscheint dieses Vorgehen auch deshalb als gerechtfertigt, weil flächendeckende Untersuchungen nicht per se einen erhöhten Erkenntnisgewinn implizieren. Ein anderes methodisches Problem warfen die Prüfungsakten der Wundärzte auf, nicht wegen Quellenlücken, die ansonsten in der Untersuchungszeit immer wieder zu beklagen sind, sondern wegen der Fülle dieser D o k u mente. Hier liegen serielle Quellen in großer Zahl vor, die sich für quantitative Auswertungen unter EDV-Einsatz bestens eignen würden. Wenn sich mir dazu auch keine Möglichkeit bot, so sollte doch in diesem Falle die im übrigen dominierende qualitative Interpretation vermieden werden, denn gerade durch unbewußte Selektion und intuitive Deutung einzelner Beispiele aus der Menge dieser Quellen könnte man zu groben Fehleinschätzungen gelangen. Eine Kompromißlösung bot sich an: die manuelle quantifizierende Auswertung einer stark reduzierten Teilmenge, die in einer systematischen Stichprobe aus der großen Grundgesamtheit erhoben wurde. Die vorliegende Untersuchung zu den Handwerkschirurgen im Gesundheitswesen des Ancien Régime steht insgesamt im Schnittpunkt verschiedener historischer Forschungsrichtungen. Sie ist zwar in erster Linie, aber nicht ausschließlich ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Medizin und des Gesundheitswesens. Da die untersuchte Berufsgruppe zünftig organisierte Handwerker waren, gibt es selbstverständlich Überschneidungen mit der Handwerksgeschichte. Aufgrund der Untersuchungszeit steht die Arbeit, insbesondere im ersten Teil, im Kontext der Absolutismusforschung; aufgrund des Untersuchungsgebietes trägt sie zur Erhellung der württembergischen Landesgeschichte bei. In Einzelfragen orientiert sie sich an der Volkskunde, die infolge ihres neueren Selbstverständnisses als Empirische Kulturwissenschaft mehr und mehr mit der Sozialgeschichte konvergiert. Wo die ärztliche Standespolitik thematisch wird, ergeben sich schließlich Verbindungslinien zu der von der Soziologie ausgehenden Professionalisierungsdiskussion. D a entsprechende Vorarbeiten fehlen, die eine Intergration all dieser Aspekte berücksichtigen oder im positiven Sinne theoretische Bezugssysteme liefern, bedeutet der hier unternommene Versuch ein Betreten von Neuland. Die daraus resultierenden Erschwernisse bedingen ein weniger theoriegeleitetes Vorgehen als es der Verfasserin selbst wünschenswert erscheint. Ein besonderes Augenmerk war darauf zu richten, daß bei dem Versuch, einen (negativen) Mythos abzubauen, nicht ein neuer aufgebaut wird - wie es bisweilen geschieht 5 8 - , etwa in Gestalt einer Idyllisierung des vormodernen Gesundheitswesens oder einer Verklärung der Handwerkschirurgen, was noch näher liegt angesichts der im Laufe der Bearbeitung wachsenden Neigung eines jeden Biographen, sich in seinen Helden zu verlieben.
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1. Der Rahmen: Das württembergische Gesundheitswesen im 18. Jahrhundert Das spezifische Umfeld, innerhalb dessen die handwerkliche Chirurgie betrachtet werden muß, ist das zeitgenössische Gesundheitswesen. Nach einer geläufigen Definition hat man darunter die Summe aller Rechtsnormen, Institutionen, materieller Ressourcen und Personen zu verstehen, die auf die Erhaltung oder Wiederherstelung der Gesundheit von Menschen (und Tieren) hinwirken. Die Abstraktionshöhe, die der Gebrauch eines Terminus wie »Gesundheitswesen« anzeigt, war im Württemberg des 18. Jahrhunderts noch weithin fremd. In der Regel benannte man die Konkreta, sprach ζ. B. von den medizinischen Dienern, dem Collegium media m i etc. Als generalisierender Begriff setzte sich in der literarischen Diskussion über das Gesundheitswesen, die seit der zweiten Jahrhunderthälfte auf Reichsebene gefuhrt wurde, der Begriff »medizinische Polizei« durch. Ähnliche Oberbegriffe, wie »das Medizinalwesen« oder »das Medizinalfach«, wurden in Württemberg (das in diesem Diskurs übrigens nicht durch ein Landeskind vertreten war) erst um 1800 völlig geläufig, als es im Lande erstmals um eine grundlegende Neuordnung des gesamten Gesundheitswesens ging. Zum Gesundheitswesen Altwürttembergs liegen keine zuverlässigen Vorarbeiten vor, und unter den in der Literatur verstreuten Angaben findet sich mancher Fehler. Doch würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Forschungslücke zu füllen bzw. die fehlerhaften Angaben richtigzustellen. Hier sollen nur einige konstitutive Elemente des Gesundheitswesens ins Auge gefaßt werden: in den beiden ersten Abschnitten der administrative Rahmen, d. h. die Gesetzgebung und Verwaltung, im dritten Abschnitt sodann die Gruppen, die außer den Chirurgen medizinische Dienstleistungen offerierten. Aus der überblicksartigen Darstellung sollen allein einzelne Aspekte hervorgehoben werden, die im Hinblick auf die Wundärzte von besonderer Relevanz waren. Medizinhistorische Studien zum Gesundheitswesen des 18. Jahrhunderts heben - infolge der im Fach Medizingeschichte vorherrschenden geistesund kulturgeschichtlichen Orientierung - in allererster Linie auf das Moment der Aufklärung ab. Folglich neigen sie dazu, das 18. Jahrhundert als epochale Wende zu interpretieren und zu glorifizieren. »Erst die Aufklärung«, so heißt es beispielsweise in einer neueren einschlägigen Abhandlung, »brachte mit ihrer humanistischen Gesinnung und dem unbändigen 22
Willen, die menschlichen Probleme zu meistern, die geistigen Grundlagen fur eine intensive Beschäftigung mit medizinalpolizeilichen Fragen, deren sich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus die Regierungen mit Mut und Begeisterung annahmen«. 1 Gegenüber einer solchen idealistischen, allein auf den Fortschritt rekurrierenden Einschätzung sollen im folgenden die Beharrungskräfte im Gesundheitswesen der Untersuchungszeit aufgezeigt werden. 2 Denn sie waren es, denen die Handwerkschirurgen ihre noch innegehaltene Stellung zu verdanken hatten.
1.1. Die Verrechtlichung des Gesundheitswesens Zunächst gilt es zu unterstreichen, daß gesundheitsgesetzliche Maßnahmen des Staates keine Errungenschaft des sogenannten aufgeklärten Jahrhunderts darstellten, sondern im Württemberg dieser Zeit eine bereits rund 300jährige Entwicklung hinter sich hatten. In deren Verlauf erfaßten sie mehr und mehr Gegenstandsbereiche und reglementierten diese zunehmend ausdifferenzierter. 3 Im 18. Jahrhundert setzte sich die Verrechtlichung des Gesundheitswesens in quantitativer Hinsicht weiter fort. Damals ergingen allein etwa zwei Drittel der rund einhundert bis zum Jahre 1800 in Altwürttemberg erlassenen Medizinalgesetze und -Verordnungen. Doch entwickelte sich die Sorge für das Gesundheitswesen im Zeichen der Aufklärung nicht zu einem bevorzugten Anliegen des Staates - diese Vermutung könnte die ausschließliche Betrachtung der sich häufenden Gesundheitsgesetze leicht nahelegen. Sie hielt vielmehr Schritt mit der allgemeinen Entfaltung von Staatlichkeit im Herzogtum. So blieb der Anteil der Gesundheitsgesetze an den Regierungsgesetzen im 17. und 18. Jahrhundert recht konstant, bei ungefähr 7%. 4 In der Medizinalgesetzgebung des 18. Jahrhunderts lassen sich im wesentlichen drei Felder unterscheiden: erstens die berufsordnenden Gesetze für all jene Personen, die medizinische Tätigkeiten ausübten, zweitens dieseuchenoder sanitätspolizeilichen Bestimmungen und drittens schließlich eine Reihe von Einzelmaßnahmen, die am ehesten als direkter Reflex auf die in der damaligen aktuellen medizinischen Literatur erhobenen Forderungen eines verbesserten Gesundheitsschutzes der Bevölkerung zu kategorisieren sind. Die Vorschriften für das Heilpersonal hatten im 18. Jahrhundert die längste Vorgeschichte aller das Gesundheitswesen betreffenden Bestimmungen hinter sich. Bereits in der Zeit der württembergischen Grafen, als im allgemeinen noch Ortsrechte und -gewohnheiten das öffentliche Leben regelten, waren für die Vorläufer der wundärztlichen Berufsgruppe Bestimmungen ergangen: Die erste württembergische Taxordnung von 1425 setzte verbindliche Preise unter anderem auch für die Bader sowie fur die Scherer und Reiber als weiteres Badestubenpersonal fest. 5 Wie schon damals blieben bis zum 17. Jahrhundert die Vorschriften für die Heilberufe Bestandteile um23
fassender Ordnungen (Polizei-, Landes- und Kirchenordnungen). Wenn diese auch gelegentlich den Schutz der Patienten als Ursache bzw. Ziel der Reglementierung benennen, so ist doch offensichtlich, daß die Regelung der Gesundheitsberufe nicht allein oder nicht einmal vorrangig diesem Zweck dienten. Sie sind vielmehr im Rahmen der allgemein üblichen Reglementierungen und Abgrenzungen der Berufe zu sehen, in denen sich wiederum das Bemühen der Landesfürsten um innere Staatsbildung, Herrschaftskonsolidierung und -ausweitung in ihrem Territorium sowie um die Sozialdisziplinierung der Bevölkerung objektivierte. Im 17. Jahrhundert, als zahlreiche Gewerbetreibende im Herzogtum ihre Ordnungen erhalten hatten bzw. erhielten, wurden die Berufsordnungen der Apotheker und der Wundärzte aus der Landesordnung ausgegliedert und in neuen Bearbeitungen gesondert herausgegeben. Wie bei manch anderem Handwerk auch kam im Falle der Wundärzte der erste Anstoß dazu aus den eigenen Reihen: Schon 1615, drei Jahre vor Beginn des 30jährigen Krieges, hatten sie um die Erneuerung ihrer in der Landesordnung enthaltenen B e rufsordnung nachgesucht, 6 doch erst 1651, also drei Jahre nach Kriegsende, erschien erstmals eine separate »Barbierer- und Baderordnung«. Sie erlebte binnen weniger Jahre zwei Modifikationen: 1660 erschien eine korrigierte Fassung und 1663 dann eine dritte und letzte Version, die bis zur Aufhebung der Chirurgenzunft im Jahre 1814 grundsätzlich in Kraft blieb. 7 Im 17. Jahrhundert konnte auch der K a m p f gegen jene beginnen, die entweder keine Zulassung besaßen oder als approbierte Heiler ihre Befugnisgrenzen überschritten: gegen die sogenannten »Medikaster«, wie der Terminus technicus für Pfuscher im Gesundheitswesen lautete. Diese Verbote erließ der Gesetzgeber vor allem in Form von Reskripten, knappen Gesetzen zur Regelung aktueller Einzelfragen, die seit dem 17. Jahrhundert neben die als umfassende und grundsätzliche Normierungen konzipierten Ordnungen traten. Eine wichtige Neuerung des 18. Jahrhunderts bedeuteten die Medizinalordnungen, die erstmals die berufsordnenden Vorschriften für sämtliche Heilberufe der Zeit (Ärzte, Apotheker, Chirurgen und Hebammen) zusammenfaßten. 8 Mit ihrer Verabschiedung in denjahren 1720 und 1755 bewegte sich Württemberg im Rahmen der zeitgenössischen territorialstaatlichen Entwicklung. 9 Diese Gesetze sollen etwas näher betrachtet werden, gelten. sie doch immerhin als die Höhepunkte der Gesundheitsgesetzgebung im Ancien R é g i m e . 1 0 Die beiden württembergischen Ordnungen wurden nicht, wie man vermuten könnte, auf Veranlassung aufklärungsbeflissener Landesherren ausgearbeitet. Ihre Entstehung läßt sich vielmehr auf die Initiative der herzoglichen Leibärzte, welche Aufsichtsfunktionen im Gesundheitswesen wahrnahmen, zurückfuhren. 1 1 Sie erfolgte im Falle der älteren Ordnung eher akzidentiell, aus relativ geringfügigem Anlaß. Das 1720 verabschiedete Gesetz, in der Regel als erste Medizinalordnung des Landes bezeichnet, war zunächst nicht als solche geplant worden. 1 2 Aus-
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gangspunkt ihrer Entstehung war die Notwendigkeit, die Apothekertaxe zu revidieren, d.h. die Preise der in den Apotheken des Herzogtums zum Verkauf angebotenen Arzneimittel der allgemeinen Preisentwicklung anzugleichen. 1716 legte einer der Leibärzte einen entsprechenden Entwurf vor, den Apotheker auf seine Anregung hin zusammengestellt hatten. Zur Begutachtung dieses Entwurfes wurde eine Deputation eingerichtet, die Ende 1717 in Stuttgart ihre Tätigkeit aufnahm. Nach und nach weitete sie ihr Projekt aus. So beratschlagte sie bald auch darüber, ob die 1675 letztmals erneuerte Apothekenordnung bei dieser Gelegenheit nicht in einer Neufassung herausgegeben werden sollte. 1719 war dann auch von der Barbierordnung und -taxe die Rede, schließlich überdies von »einleitenden Mónita und Verordnungen der M e d i c o r u m . . . und Hebammen«. 1 3 Als das Gesetz dann (am 30. Oktober 1720) verabschiedet wurde, beinhaltete es Vorschriften fur sämtliche Heilberufe, ergänzt durch Gebührenordnungen für sie. 14 Die Schrift war in acht Kapitel (Tituli) gegliedert und hatte formal einen merkwürdig unausgewogenen Aufbau. Die Vorschriften für Apotheker erstreckten sich über fünf Kapitel und waren nicht wie für die anderen Heilergruppen in jeweils einem Kapitel zusammengefaßt. Die im letzten Kapitel enthaltene Apothekertaxe nahm allein drei Viertel der 160Quartseiten ein. Die Genese der Ordnung spiegelt sich noch in der formalen Akzentuierung der Vorschriften zum Apothekerwesen wider, das anfänglich ja ganz im Zentrum der Überlegungen stand. Dies sowie die quantitative Dominanz der Apothekertaxe machen verständlich, wieso der Titel der ersten Medizinalordnung gleichwohl lautete: »Des Herzogthums Wirtemberg wiederholt und erneuerte Apotheker-Ordnung und Tax«. Daß die Arbeit an dem Gesetz drei Jahre in Anspruch nahm, beruhte weniger auf inhaltlichen als auf organisatorischen Problemen, denn die Zusammenarbeit zwischen Stuttgarter und Tübinger Leibärzten verlief nicht konfliktfrei. Insgesamt war die erste württembergische Medizinalordnung jedoch ohne allzu große Schwierigkeiten, gleichsam als »Nebenprodukt« der Apothekertaxe entstanden. Im Unterschied dazu tat man sich bei ihrer Neuausgabe außerordentlich schwer. Im ganzen sollte es mehr als 15Jahre dauern, bis das 1740 begonnene Projekt beendet werden konnte. Befremdend wirkt dies um so mehr, als ein Vergleich zwischen beiden Ordnungen keine augenfälligen Unterschiede erkennen läßt. Verständlicher wird die lange Dauer der Arbeit an diesem Gesetz erst, wenn man seine Vorstufen und die dazu angefertigten Gutachten untersucht. 1 5 Auch diesmal nahmen die Stuttgarter Leibärzte eine Neuerung im Apothekenwesen zum Anlaß weiterreichender Aktivitäten. Da sie sich bereits wenige Jahre nach der Publikation der ersten Ordnung mit Plänen zu deren Erneuerung trugen, muß ihnen der formelle Anlaß, die Fertigstellung eines Dispensatoriums (Apotheker- oder Arzneibuch), höchst willkommen gewesen sein. 1740 beschlossen sie, der Druckfassung des Dispensatoriums eine erneuerte Medizinalordnung beibinden zu lassen, und legten zu diesem Zwecke einen 25
Entwurf vor. In diesem mit 148 Folioseiten außerordentlich umfangreichen Schriftstück gingen sie ins Detail und trugen sonst unerwähnte Einzelheiten des Herkommens zusammen. Wichtiger aber ist - vor allem im Hinblick auf unser Thema, die Wundärzte - , daß die Leibärzte mit ihrer Fleißarbeit auf eine systematische Stärkung der Ärzteschaft im Gesundheitswesen hinarbeiteten. Formal wird das im Entwurf schon daran deutlich, daß diesmal der Passus über die Ärzte den größten Raum einnahm, indem nämlich zwischen fünf Untergruppen (Leibärzten, Hofärzten, Landphysici, Stadt-und Amtsphysici und Medici) unterschieden und jede einzelne ausfuhrlich abgehandelt wurde. Was sich formal andeutet, tritt auch inhaltlich ganz klar und unzweideutig hervor. Die Ärzte sollten weisungsberechtigte Vorgesetzte aller übrigen Heiler sein, deren Stellung bei jeder Gelegenheit durch den Zusatz »Subalterne« herabgesetzt wurde. 1 6 Verschiedene Privilegien sowie höhere Besoldungen sollten diese Vorrangstellung unterstreichen. Zur Prüfung der leibärztlichen Vorlage trat noch i m j a h r 1740 eine Deputation zusammen. Sie lehnte mit zwei formalen Argumenten den Entwurf ab: Erstens sei er zu weitschweifig und zweitens zu wenig dem Kanzleistil angepaßt. Streichungen erschienen ihr vor allem im ausführlichen Teil über die Ärzteschaft erforderlich, allzu Spezielles sollte wie bisher nur in die einzelnen Dienstverträge aufgenommen werden. Hinsichtlich der Chirurgen wollte die Deputation alle zunftrechtlichen Fragen ausgeschieden wissen, da nur die unmittelbar medizinischen Belange Gegenstände einer Medizinalordnung sein könnten. Auf diese Kritik hin erarbeiteten die Leibärzte einen neuen Entwurf, den sie 1745 präsentierten. Doch fand auch dieser nicht die Zustimmung der zuständigen Behörden, so daß im Jahre 1752 schließlich ein dritter folgte. In den Überarbeitungen glichen sie die Konzeption immer mehr an die erste Ordnung von 1720 an, so daß das Endergebnis vom 16. Oktober 1755 17 oberflächlich betrachtet eine in vielen Punkten mit der alten Ausgabe übereinstimmende erweiterte Fassung darstellt, die auf den zweiten Blick allerdings eine partielle Stärkung der ärztlichen Position erkennen läßt. Den Ärzten, Apothekern und Chirurgen war jeweils ein Kapitel gewidmet, das vierte Kapitel galt den Geburtshelferinnen sowie den - hier erstmals in den altwürttembergischen Gesetzen greifbaren - Krankenwärtern und -Wärterinnen (sie!). Am Schluß folgten die Taxen der verschiedenen Heiler, wovon die umfangreiche Apothekertaxe alleine zwei Drittel der 95 Folioseiten starken Ordnung einnahm. Diese zweite württembergische Medizinalordnung von 1755 blieb bis ins 19. Jahrhundert in Kraft und bildete solange (neben der Barbierer- und Baderordnung von 1663) den formaljuristischen Rahmen für die Chirurgen. Als 1786 ein neues württembergisches Dispensatorium veröffentlicht wurde, erlebte die Medizinalordnung eine Wiederauflage in unveränderter Form. 1 8 Ein Zeitgenosse, offensichtlich enttäuscht, daß mit der Neuauflage keine Novellierung der Ordnung verbunden war, sprach abschätzig von einer reinen »Buchhändlerenterprise«. 19 26
Die Medizinalordnungen brachten die für die Zeit der Aufklärung charakteristische Neigung zum Sammeln und Systematisieren zum Ausdruck. 2 0 Das Zusammentragen von zuvor getrennt behandelten Gegenständen deutet an, wie zumindest bei jenen, die für die Entstehung der Gesetze verantwortlich zeichneten, sich allmählich ein Begriff vom Gesundheitswesen als einem kohärenten Aufgabenfeld der Legislatur herauskristallisierte. Von diesem mehr formalen Gesichtspunkt abgesehen, bargen die Medizinalordnungen auch inhaltliches Innovationspotential. Dieses erschließt sich jedoch erst bei einer detaillierten Betrachtung, die an späterer Stelle in der Analyse der wundärztlichen Berufsgruppe zu leisten sein wird. Für das autorisierte Heilpersonal machten die Medizinalordnungen im 18.Jahrhundert zusätzliche Vorschriften weitgehend überflüssig. Wenige Reskripte klärten nurmehr Einzelfragen. So erteilte der Gesetzgeber den Apothekern Anweisungen über den Verkauf gefährlicher Mittel wie Gifte und Schlafmittel (1736, 1792, 1795 und 1796);21 den Hebammen wies er ein neues Lehrbuch als Pflichtlektüre zu (1746);22 den Chirurgen kündigte er die Einrichtung einer dritten Hauptlade an (1728)23 und regelte ihre Zunftzwistigkeiten (1746 und 1747). 24 Auf die Verbesserung der ärztlichen und chirurgischen Ausbildung zielten letztendlich die Reskripte ab, welche die Tübinger Anatomie mit Leichen für Sektionszwecke zu versorgen suchten (1763, 1765 und 1796). 25 Und 1796 legte ein Generalreskript die Belohnung der Ärzte und Chirurgen für die Untersuchung von Rekruten fest. 26 Nachdem bereits 1734 anläßlich einer Tierseuche im Land die nicht näher ausgeführte und daher auch erfolglos gebliebene herzogliche Anweisung ergangen war, allerorten Viehärzte anzustellen, 27 verstärkte erst die staatliche Anstellung eines Tierarztes, dessen Befugnisse 1797 in einem Reskript festgehalten wurden, das professionelle Heilpersonal des Herzogtums um eine neue Kategorie. 28 Schließlich ergänzte über ein Dutzend Reskripte zum sogenannten Medikastrieren die berufsordnenden Bestimmungen. 2 9 Ebenso wie die Verordnungen für die Heiler knüpften auch die Seuchengesetze an Älteres an. Im 17. Jahrhundert hatte der Gesetzgeber in mindestens sieben Reskripten auf akute Seuchengefahren reagiert. Im 18. Jahrhundert mehrte sich ihre Anzahl beträchtlich. Zählt man die zahlreichen Reskripte zu Tierseuchen hinzu, so kommt man auf drei Dutzend Seuchenverordnungen, die überwiegend in der zweiten Jahrhunderthälfte ergingen. In dieser Vielzahl manifestiert sich vor allem das Wirken einer 1734 etablierten Sonderbehörde, deren Aufgabe im raschen Einschreiten gegen Seuchen bestand. Die von ihr erarbeiteten Reskripte enthielten - wie schon die Seuchengesetze des vorangegangenen Jahrhunderts - einen sogenannten polizeilichen Teil mit Auflagen für den Waren- und Personenverkehr sowie Aufforderungen an die Kommunal- und Bezirksverwaltungen sowie an Pfarrer und Heilpersonen zur Berichterstattung in Seuchenfällen. Der sogenannte technische Teil beinhaltete Informationen über Arzneimittel und sonstige therapeutische Verfahren. Für die Chirurgen war die Seuchenge27
setzgebung im Hinblick auf ihre Tätigkeit wie auch auf ihren Status bedeutsam. Denn - wie an späterer Stelle noch auszufuhren sein wird - wurde ihnen zum einen in der staatlicherseits immer besser gesicherten Krankenversorgung eine wichtige Rolle zugedacht; damit sie daraus aber nicht etwa zu große Vorteile zogen, wirkten diese Gesetze - vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts - zum anderen verstärkt auf die klare Dominanz der Ärzte und Subdominanz der Chirurgen und damit auf die Deprofessionalisierung der letztgenannten hin. Während Gesetze zu den Seuchen und zum Heilpersonal ältere Ansätze einer Medikalisierung, oder besser: Protomedikalisierung, weiter ausbauten, lassen sich im 18. Jahrhundert auch einige neue Bereiche staatlicher Fürsorge bzw. Reglementierung ausmachen. Die betreffenden Gesetze stammen überwiegend aus der zweiten Jahrhunderthälfte, speziell aus den späten, den aufklärerischen Regierungsjahren Karl Eugens (1737—1793). Doch schon unter seinem Vorgänger Karl Alexander waren 1734/35 Richtlinien über die Erstattung der Kosten ergangen, welche aus der medizinischen Versorgung mittelloser Patienten erwuchsen - ein vor allem in Seuchenzeiten aktuelles Problem. 3 0 Nach den Armen war es eine sehr viel kleinere gesellschaftliche Randgruppe, die den Gesetzgeber zu Interventionen veranlaßte: 1746 und 1798 entschieden zwei Reskripte über die Verwahrung von Geisteskranken in der psychiatrischen Anstalt in der Residenzstadt Ludwigsburg. 3 1 Dem Schutz des größeren Publikums dienten die 1777 und 1780 erteilten Anweisungen über die Rettung Verunglückter und die Bewahrung von Scheintoten vor dem »Lebendig-begraben-Werden«, 32 ferner die Warnung vor dem Genuß giftiger Pflanzen in den Jahren 1788, 1791 und 1795 und schließlich die 1798 ergangene zurückhaltende Empfehlung der Pockenschutzimpfung. 3 3 Eine besondere Bedeutung darf daneben das 1790 ergangene Reskript beanspruchen, das jährliche Oberamtsberichte über den moralischen, physischen und ökonomischen Zustand der Bevölkerung anforderte, 34 beabsichtigte der württembergische Staat nun doch offensichtlich, mit einer breit angelegten systematischen Erfassung den Zusammenhängen zwischen Mentalität, Gesundheit und wirtschaftlicher Produktivität auf die Spur zu kommen und damit die Voraussetzungen zu gewinnen, seinen merkantilistisch-absolutistischen Interessen gemäß steuernd eingreifen zu können. Schließlich gab es im 18. Jahrhundert zaghafte Ansätze einer Medikalisierung im Bereich der Lebensmittelkontrolle. Während die Brotschau- und die Bierordnung des 17. Jahrhunderts noch nicht gesundheitspolitisch motiviert waren und nur - wie in manchem Handwerk üblich - als Konsumentenschutz vor Übervorteilung aufzufassen sind, 35 wurde manche einschlägige Vorschrift des 18. Jahrhunderts ausdrücklich mit dem Schutz des Publikums vor Gesundheitsschäden begründet. 3 6 Doch lagen die angeordneten Kontrollen noch ganz in den Händen medizinischer Laien, nämlich der jeweiligen Ortsobrigkeit (Bürgermeister, Rat und Gericht). 28
Neben den erwähnten Gesetzen, die ausschließlich oder vorrangig das Gesundheitswesen betrafen, sei zumindest am Rande aufjene verwiesen, die nur einzelne einschlägige Passagen enthielten, so etwa auf die Kommunordnung von 1758, in der sich Anordnungen zur Apothekenvisitation, Gerichtsmedizin und zum Hebammenwesen finden.37 Daneben existierten weitere Bestimmungen, die mehr oder weniger mittelbar Auswirkungen auf das Gesundheitswesen hatten, wie z. B. die fur die Ausbildung der Medizinstudenten bedeutsamen Universitätsgesetze 38 oder die sich auf das andere Ende der Heilerhierarchie beziehenden Verordnungen über Wochenund Jahrmärkte, auf denen unter anderem medizinische Dienstleistungen und Produkte angeboten wurden. Mit der hier knapp skizzierten Gesundheitsgesetzgebung nahm Württemberg im Vergleich zu anderen deutschen Staaten im großen und ganzen keine Ausnahmestellung ein. 39 Gemessen an den theoretischen Entwürfen, die aufklärerische Mediziner im Gefolge der absolutistischen Staats- und Wirtschaftstheorie seit den 1760er Jahren veröffentlichten, wäre die württembergische Gesetzgebung allerdings mit dem Verdikt der Rückständigkeit zu belegen. Denn diese Schriften zur »medizinischen Polizei« 40 trugen hoch gesteckte Erwartungen an den Staat heran bezüglich einer Reformierung des Gesundheitswesens. In den Arbeiten Johann Peter Franks 41 und Franz Anton Mais 42 als den Höhe- und Endpunkten dieser »Gesundheitsbewegung« des deutschen aufgeklärten Absolutismus bleibt kein Lebensbereich frei von staatlicher Kontrolle und Gängelung im Dienste der Gesundheit. Diesen von Fortschrittsglauben beflügelten Medizinern mußten selbst die von den reformwilligsten aufgeklärt-absolutistischen Fürsten erlassenen Gesetze als ganz und gar unzureichend erscheinen. Unmißverständlich hat Mai das um 1800 zum Ausdruck gebracht: » . . . noch sind die Gesetzgeber einer vernünftigen Landespolizei aus ihrer Schlafsucht nicht erwacht«. 43 Solch radikale Positionen wurden in Württemberg nicht vertreten. Doch gab es durchaus Bemühungen seitens einzelner aufklärerisch denkender Ärzte im Herzogtum, weiterreichende staatliche Reformmaßnahmen anzuregen. 44 Ihre in Eingaben an die Regierung dargelegten Vorschläge blieben sehr bescheiden im Vergleich zu den Ansprüchen der berühmten Vordenker andernorts. Diesen Ärzten schienen vor allem die berufsordnenden Maßnahmen als ergänzungsbedürftig, und zwar vorzüglich das Hebammenwesen, mithin der Bereich, in dem das alte Herkommen tatsächlich am stärksten Geltung behalten hatte. Durch neue Lehrbücher und eine Ausbildungsanstalt erhofften sie sich eine Verbesserung der Geburtshilfe und von dieser wiederum positive Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Angeregt wurde daneben auch eine nachhaltigere Bekämpfung der Pfuscherei, woraus vor allem standespolitische Interessen sprachen. Doch nicht einmal diese wenigen Reformvorschläge stießen auf Resonanz, wie ein Gutachten des Stuttgarter Medizinergremiums, das die Regierung in Medizinalfragen beriet, deutlich zeigt. Danach betrieb das Kollegium eine eher konservative, 29
Kosten vermeidende »Realpolitik«. Die von einem der engagierten Ärzte vorgenommene Kritik am bestehenden Gesundheitswesen bezeichnete es als überzogen, erklärte ferner, daß einzelne Vorschläge nichts Neues beinhalteten und die notwendigen Gesetze schon längst erlassen worden seien, und hielt im übrigen - vor allem aus finanziellen Gründen - Veränderungen fur äußerst schwierig oder gar nicht durchführbar. 4 5 Da die eingereichten Vorschläge keine Wirkung zeitigten, muß man annehmen, daß der Landesherr dem Urteil seiner Berater beigepflichtet hat. Sein »Mut« und seine »Begeisterung«, das Gesundheitswesen zu reformieren - und damit kommen wir auf die eingangs angeführte Charakterisierung der spätabsolutistischen Gesundheitspolitik zurück - hielten sich in recht engen Grenzen. Prinzipiell waren zwar die zeitgenössischen Theorien der medizinischen Polizei, vor allem in ihrer Konsequenz: einer stärkeren Machtentfaltung des Staates und einer größeren Sozialdisziplinierung der Bevölkerung, mit der absolutistischen Staatsauffassung eines Karl Eugen durchaus vereinbar. Praktisch jedoch bildeten die Verwaltung und - was eng damit zusammenhängt - die finanziellen Ressourcen derart machtvolle Hindernisse, daß eine Verwirklichung dieser Theorien von vornherein als ausgeschlossen gelten mußte.
1.2. D i e M e d i z i n a l v e r w a l t u n g Das mit der inneren Staatsbildung wachsende Interesse am Gesundheitswesen bedurfte eines Instrumentariums, das einerseits die expandierenden Gesundheitsgesetze vorbereitete und andererseits den Vollzug eben dieser Gesetze garantierte: einer Medizinal Verwaltung. Daß die württembergische Medizinalverwaltung bisher nicht untersucht wurde, 4 6 kann angesichts der generellen Vernachlässigung der Verwaltungsgeschichte in der historischen Forschung nicht weiter verwundern. 4 7 Die Forschungslücke resultiert wohl nicht zuletzt auch aus der Problematik des Gegenstandes selbst, denn die Verwaltung des Gesundheitswesens in Altwürttemberg trug die typischen Merkmale der Administration des Alten Reiches: Sie war nicht Produkt einer grundsätzlichen und rationalen Regelung, sondern war nach und nach gewachsen, deshalb kompliziert, unübersichtlich und teilweise noch auf schwer faßbaren Gewohnheitsrechten beruhend. Für unsere Zwecke kann es nicht Aufgabe sein, die altwürttembergische Medizinalverwaltung eingehend zu analysieren. In dem folgenden Überblick werden nur einzelne Aspekte hervorgehoben, die sowohl zentrale Probleme des vormodernen Medizinalwesens darstellen als auch von besonderer Bedeutung für die Chirurgen waren, nämlich die - in der bisherigen medizinhistorischen Forschung meist nicht weiter pro-
30
blematisierte - tiefe Kluft zwischen N o r m und Realität, ferner die einflußreiche Stellung der behördenähnlichen Ärztegremien, der Collegia medica. Die sich im Verlauf der frühen Neuzeit beschleunigende Ausdehnung der Verwaltungsaufgaben im Gesundheitswesen brachte eine Verteilung der Zuständigkeiten auf immer mehr Stellen der altwürttembergischen Administration mit sich. Im 18. Jahrhundert war - mehr oder weniger direkt und häufig - fast der gesamte bürokratische Apparat an der Medizinalverwaltung beteiligt (s. Tab. I ) . 4 8 Der Geheime Rat als oberste Behörde und Beratungsstab des Landesherrn befaßte sich insofern mit dem Gesundheitswesen, als er alle Gesetze und Verordnungen sowie Anträge der Zentralbehörden an den Landesherrn begutachtete. Von 1717 bis 1735 und von 1758 bis 1786 verlor der Geheime Rat den direkten Zugang zum Herzog an das Konferenzministerium; trotzdem behielt er in dieser Zeit seine Aufsicht über die Zentralbehörden bei. Unter den Zentralbehörden nahm der Kirchenrat im Gesundheitswesen seit früher Zeit de jure eine fuhrende Stellung ein. Er vollzog Anstellung und Beeidigung der höheren Ränge des Medizinalpersonals (Ärzte, Apotheker und Chirurgi jurati) und beteiligte sich durch einen Delegierten an den Medizinalvisitationen in Stuttgart und Ludwigsburg; 4 9 über den Kirchenrat liefen nach altem Herkommen auch die Medizinalakten. D a die Kirchenratsmitglieder selbst nicht über medizinisches Fachwissen verfugten, sahen sie sich bei der Behandlung von Medizinalproblemen auf die fachliche Autorität der Collegia medica in Stuttgart und Tübingen, gelegentlich auch der Stuttgarter Stadtärzte und anderer Ärzte im Lande angewiesen. J e nach Sachlage wandte der Kirchenrat sich auch an die übrigen Zentralbehörden, indem er ihnen entweder über medizinalpolizeiliche Angelegenheiten Mitteilung machte oder sie darüber hinaus um ein Votum ersuchte. Im 18. Jahrhundert vermochte der Kirchenrat nicht durchgängig seine altangestammte Zuständigkeit für das Gesundheitswesen gegen eine andere Zentralbehörde zu behaupten, die sich mehr und mehr der »Medicinalia« anzunehmen begann: gemeint ist der Regierungsrat (vor 1710: Oberrat). Dieser war für Inneres und Polizeiwesen im allgemeinen verantwortlich, und von dort war es kein weiter Weg zur Medizinalpolizei im besonderen. Außerdem stellte er für eine der medizinischen Berufsgruppen die unmittelbar vorgesetzte Behörde dar, denn mit den »Handwerkssachen« fielen auch die wundärztlichen Belange unmittelbar in sein Ressort. So nimmt es nicht wunder, daß der Regierungsrat im Laufe des 18.Jahrhunderts verstärkt Mitspracherecht im Gesundheitswesen beanspruchte und manches sogar unter U m g e h u n g des Kirchenrates in seine Hand nahm. 5 0 Kirchenrat und Regierungsrat sowie die beiden weiteren Zentralbehörden, Rentkammer und Kriegsrat, waren ebenso wie die Landstände in den Deputationen vertreten, jenen Sonderausschüssen mit relativ begrenzten Aufgabenbereichen, die auch in der Medizinalverwaltung die bestehenden regulären Behörden ergänzen mußten, u m der zunehmenden Verwaltungs31
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Nr. 7: Chirurgischer Heilzauber auf der Schwäbischen Alb i m Jahre 1728 »Gegen Rheumatismen. Nachfolgendes wird angehängt in einer ungraden Stund, Freitag oder Sonntag: + Messias, ich bitte dich, gebiete N . N . Gesucht, Gicht, Krampfund Schöpf; diese Sucht diesen Menschen verlasse und ihn nicht mehr beleidige, weder in den Beinen, oder in dem Verborgenen, in seinem Mark, noch in seines Gliedes .. ! Mache ein Amulet oder Päcklen von seinem Hosenleder und mache ein Schnürlein und hänge es dem Kranken zwischen die Schultern, mache drei Knöpfe 1 und sprich bei jedem Machen ein Vaterunser und die drei höchsten Namen. NB. Beim Anhängen wird gesprochen: N . N . , das häng ich dir an fur Gicht, Gesücht, Krämpf und Schöpf, und für alles, was in deinem Leibe ist. Jean Schorsch Wagner. «
1 »Knöpfe« hier in der Bedeutung von: Knoten. Quelle: Medizinisch-chirurgische Handschrift des Chirurgen, Accoucheurs und Operateurs Johann Georg Wagner in Machtolsheim, nach F. Losch, Deutsche Segen, Heil- und Bannsprüche. Nach gedruckten, schriftlichen und mündlichen Quellen zusammengestellt und herausgegeben, in: WVL,Jg. 13, 1890, S. 157-258, hierS. 232.
Nr. 8: Chirurgen in der kommunalen Verwaltung Wildbergs 1 Name / genaue Berufsbezeichnung
Ämter
1) Braun, Christoph Eberhard, sen. (Bader)
Gerichtsverwandter Kirchenpfleger Waisen- und Rugrichter Gewürzbeschauer Gerichtsverwandter Ratsverwandter
2) Braun, Christoph Eberhard, jun. (Bader) 354
Name / genaue Berufsbezeichnung
Ämter
3) Kretzenthaler, Ezechiel Christian (Barbier)
Gerichtsverwandter Ratsverwandter Gemeindebürgermeister Heiligenpfleger Vorratspfleger Umgelter und Weinschätzer bzw. deren Vicarius Brotbeschauer Zoller
4) Schultheiß, Georg jacob (Bader, Accoucheur; Chirurgus juratus)
Amtsbürgermeister Gerichtsverwandter Ratsverwandter Steuersetzer Inventur-, Teil- und Waisenrichter Bauinspektor Gerichtsverwandter Spitalpfleger
5) Schultheiß, Johann Georg, sen. (Bader) 6) Schultheiß, Johann Georg, jun. (Bader)
7) Schultheiß, Johann Peter (Bader)
Gerichtsverwandter Ratsverwandter Bürgermeister Kirchenpfleger Heiligenpfleger Waisen- und Rugrichter Inventurrichter Visitator Scholae Stubenmeister S alz ver waiter außerdem Stadt- und Amtsdeputierter des Stuttgarter Landtags 1737-1739 2 Gerichtsverwandter Ratsverwandter Heiligenpfleger Spitalpfleger Urngelter und Weinschätzer Oberacciser
1 Bis auf die Ausnahme Kretzenthalers (s. dazu auch die Tab. 17 im Text) sind die Angaben nicht vollständig, da nur Stichproben in Zehnjahresintervallen von 1730 bis 1800 aus den Wahlund Ämterersetzungsprotokollen (HStASt A 573 Bü 96 und 97) gezogen wurden. Die Angaben zu Georg Schultheiß, der vor 1730 lebte, sind seinem Nachlaßinventar entnommen (HStASt A 573 Bü 4816, Bl. 464). 2 Vgl. HStASt A 573 Bü 5359.
355
Nr. 9: Chirurgen in der k o m m u n a l e n Verwaltung Waiblingens Name / genaue Berufsbezeichnung 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)
Ratsverwandter
Gerichtsverwandter
Knauß, Philipp (? -1707) Hornung, Wilhelm Hieronymus (? —1712) Wolf, Otto Friedrich (1717-1724) (1724-1746) Knauß, Johann Christoph (Bader) (1731-1741) (1741-1766) Weiß, Johann Adam (Bader) (1740-1749) (1749-1770) Knauß, Johann Heinrich (Bader) (1755-1764) (1764-1803) Brodhag, Johann Matthäus (1769-1777) (1777-1804) Weiß, Christoph Adam (Bader) (1770-1782) (1782-1813) Weiß, Christoph Friedrich (Bader) als »Gemeindedeputierter« erwähnt.
Quelle: Stadt A W N , O r d n e r »Offizianten 18. J a h r h u n d e r t « , Veränderungen im Magistrat, z u sammengestellt v o n W. Clässner nach den Ä m t e r e r s e t z u n g e n in den Gerichtsprotokollen, Bd. 1 - 1 1 (1698-1740), A . - N r . 8 6 2 - 8 7 2 sowie nach den Ä m t e r e r s e t z u n g s p r o t o k o l l e n Bd. I (1740-1770), A . - N r . 860 u n d Bd. II ( 1 7 7 1 - 1 8 1 8 ) , A . - N r . 861.
Nr. 10: Lehrbriefeines Chirurgen (Baders) aus d e m Jahr 1719 Wür Nachbenandte Mit Nahmen Ich Georg Abel Erhardt, burgermeister zu Kirchheimb unter Teckh, und Ich Johann Wolfgang Hebin zu Nürtingen, der Zeith Verordnete ob: und Zunfftmeister der löblichen (Barbirer) 1 bader= und Wundartzney Cunst in Statt und Ambt zu ermeltem Kirchheimb unter Teckh, in dem hochlöblichen Herzogthumb Württemberg gelegen, urkunden und bekennen hirmit, Demnach Jacob Schumacher, Hanß Jacob Schumacher, bürgerlichen Innwohners zu Gechingen, Merckhlinger Ambts, Eheweiblicher Sohn, welcher sich dermalen in die Frembde und Wanderschafft zubegeben willens, unß bittlichen belanget, Ihmeseiner bey dessen Vettern, Herrn Leonhard Röckhlen, unserm Mitzunffts= und Gerichtsverwandten zu Weilheim, berührten Kirchheimer Ambts, zu ergreifung der (Barbirer) bader= und Wundartzney Cunst außgestandenen lehrzeit halb, Ein Glaubwürdiges Attestatum, nöthiger orthen, deßen sich haben zubedienen, in Schrifften zuertheilen; Und nun männiglich die Wahrheit zubefordern verbunden, wie auch selbiges in allweg, massen es unß diß orths zuthun, gebühret, werckhstellig zu machen so willig als schuldig: So attestiren Wir dannenhero hirmit, bey unsern obhabenden Pflichten und Ayden, auch so hoch unß eine Warheit in Schrifften zubezeugen gebühret, daß gedachter Jacob Schumacher, bey erwehntem Herrn Leonhard Röckhlen, alß ein lehrjung, nach zuvor bey gantzem Zunffts=Collegio gethanem Einschreiben und gebührendem aufdingen, die erforderende drey Jahr, nämblich von Johannis Baptistae Ein Tausend und Sibenhundert und Sechzehne, biß solche Zeit Ein Tausend Sibenhundert und Neunzehne/: alß worauf Er hinwiderumb Vor gantzer Versammlung looß und ledig gezehlet worden:/ wie sichs gebühret, außgestanden, Gestalten Er inner solchen Zeit die (Barbirer), bader= und Wundartzney Cunst dermassen erlernt und ergriffen, daß er vor einen gesellen allenthalben zu
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passiren, und zugedulden ist; So hat Er sich auch Röckhlens, alß lehrherrns, anzeigen und unserm selbstigen wissen nach, jederzeit fromb, still, eingezogen, aufrecht, wohl und wesendtlich, fleißig und geflißen, auch dermassen erzeigt und verhalten, daß Wir Ihme nichts arges oder übel anständiges, sondern alle Ehr, Ruhm und Redlichkeit, wie hiermit beschiehet, nachzuschreiben wißen, Wann er zumahlen nicht sowohl von unß, alß auch männiglichen, so in seiner Cundschaffte gewesen, geziemend, wißend und redlichen abschied genommen, mithin alle rühmliche Stükke, welche die Cunst und Ordnung nach sich ziehet, bestermaßen observirt. Inmaßen dann hierauf an Männiglichen, weß Standts oder Wesens die seynd, absonderlich die Cunst mit genoßene, unser unterdienst, dienst und freundliches bitten gelanget, Sie geruhen ihne Jacob Schumachern, solch seines rühmlichen Wohlerhaltens, redlichen außlernens und vorgenommenen aufrechten abschiedts wegen, in bester beförderung zu haben, So auf andere weiß hinwiderumb respective unterdienst= dienst= und freundlich zuerwidern stehet, massen Wir unß darzu, Crafft dieses offeriren thun, alles getreülich und ohne gefährdts. Deßen zu wahrem Urkund und kräfftiger Gegenzeugnus haben Wir gegenwertigen lehrbrief nicht allein mit unserm gewohnlichen Zunffts Insigill /: jedoch anderwerths ohne Praejudiz:/ corrobori«, sondern auch unß, nebst dem lehrherrn, aigenhändig unterschriben, So geschehen, aufJohannis Baptistae, Anno Christi Eintausend Sibenhundert und Neunzehne./. Georg Abel Erhardt. o b = und Zunfftmeister. Johann Wolffgang Heben O b = und Zunfftmeister. Leonhard Röckhlen. Siegel (Löwe, einen Mundspatel haltend; Umschrift: DER BADER V N D W V N D Ä R Z T E IN KRICHHEIM V N T E R T Ö C K S SIGILLVM) Dieser Lehrbrief wurde im Jahr 1730 konfisziert, als Jacob Schumacher vor dem Tübinger Collegium medicum zur Meisterprüfung antrat. 2 Der Grund fïir die Konfiskation war die Beurkundung des Lehrbriefes mit einem Siegel, das sich die Kirchheimer Bader verbotenerweise zugelegt hatten.
Quelle: HStASt A 228 Bü 78. 1 Das in Klammern gesetzte »Barbirer« ist in dem Lehrbrief radiert. Die Wiedergabe folgt der Schreibweise des Originals, lediglich die Abkürzungen sind ohne Kennzeichnung im einzelnen aufgelöst. 2 Vgl. HStASt A 228 Bü 77.
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