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German Pages [260] Year 1986
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 69
V&R
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Ulrich Wehler
Band 69 Andreas Gestrich Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung Sozialgeschichte der Jugend in einer ländlichen Arbeitergemeinde Württembergs, 1800-1920
von
Andreas Gestrich
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
FÜR K A T E
CIP-Kurztitelaufiiahme
der Deutschen
Bibliothek
Gestrich, Andreas: Traditionelle J u g e n d k u l t u r u n d Industrialisierung: Sozialgeschichte d. J u g e n d in e. ländl. A r b e i t e r g e m e i n d e W ü r t t e m b e r g s , 1 8 0 0 - 1 9 2 0 / v o n Andreas Gestrich. G ö t t i n g e n : V a n d e n h o e c k u n d Ruprecht, 1986. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; B d . 69) I S B N 3-525-35728-1 NE: GT
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986. - Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der Vervielfältigung und der Übersetzung vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Werk oder Teile daraus auf photomechanischem (Photokopie, Mikrokopie) oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus Bembo aufLinotron 202 System 3 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen. Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
Inhalt
Vorwort
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I. Einleitung II. Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte O h m e n h a u s e n s , 1 7 5 0 - 1 9 1 4 1. Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsstruktur a) Bevölkerungswachstum, Landwirtschaft und ländliches Gewerbe 1750-1846 b) Die Krise in den Jahren 1846-1864 c) Die Zeit der Industrialisierung 1864-1914 2. Industriearbeit und bäuerliche Mentalität: Z u m Wandel von Wertordnungen a) Örtliche Zeitsysteme und Zeitbewußtsein b) Christlicher Glaube und Kirchlichkeit c) Politik d) Tägliche Arbeit e) Besitz III. Familie u n d V e r w a n d t s c h a f t in O h m e n h a u s e n
11 20 22 22 25 29 32 33 38 43 46 51 54
1. Haushaltsgrößen, Wohnverhältnisse und Generationenbeziehungen
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2. Häusliche Gewaltverhältnisse, materielle Interessen und emotionale Familienbindungen a) Die Gattenbeziehungen b) Kinder-Eltern-Geschwister
61 61 67
IV. J u g e n d l e b e n in O h m e n h a u s e n . S o z i a l g e s c h i c h t l i c h - v o l k s k u n d l i c h e Skizzen z u m A l l t a g s l e b e n der J u g e n d l i c h e n v o r d e m E r s t e n Weltkrieg
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1. Der Beginn der Jugend: die Konfirmation
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2. Der Ernst des Lebens a) Diejungen Bauern
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b) Die Lehrlinge c) Fabrikarbeit
80 87
3. Die neuen Freiheiten a) Lichtstuben-Äbbehes-Kameradschaften b) Sommersonntage c) Die Betzinger Buben: Jugend und Territorium d) Jünglinge - Jungfrauen - Ledige: die Auflösung des traditionellenjugendbrauchtums
92 92 103 106
4. In die Fremde a) Gesellen wandern b) Militär und Krieg c) Nach Amerika
116 116 120 125
5. Brautwerbung und Hochzeit a) Liebschaften b) »Die kommt für dich nicht in Frag'« c) Die Hochzeit d) Fremde Freier-fremde Bräute: zum regionalen Heiratskreis . .
131 131 134 144 147
6. >Gefallene Bräute< a) Statistisches zu den unehelichen Kindern und zur vorehelichen Sexualität b) Die Diskriminierung der ledigen Mütter
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V. Zusammenfassende Interpretation
111
153 162 167
1. Jugend in Ohmenhausen. Zusammenfassungen aus soziologischer Sicht
167
2. »Jugend und Krise«: Überlegungen zur historischen Sozialisationsforschung
172
VI. Exkurs: Besitzstruktur und soziale Schichten in Ohmenhausen im 19. Jahrhundert
183
VII. Abkürzungen
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VIII. Anmerkungen
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IX. Quellen-und Literaturverzeichnis Register
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238 250
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
1. Tabellen Tab. I: Bevölkerungsentwicklung Ohmenhausens 1720-1910 23 Tab. II: a) Gewerbestruktur Ohmenhausens nach den Berufsangaben in den Steuerbüchern (in absoluten Zahlen) 1744-1893 30 b) Gewerbestruktur Ohmenhausens nach den Berufsangaben in den Steuerbüchern (in Prozent) 1744-1893 31 Tab. III: Berufsstammbaum der Familie Wohlleb 84 Tab. IV: Strafliste des ledigen Webergesellen Fridolin Bolay von O h m e n hausen, geb. am 16.10.1820 119 Tab. V.: Auswanderung aus Ohmenhausen (gesamt), 1817-1882 127 Tab. Va: Auswanderung aus Ohmenhausen nach Nordamerika 1817-1882 . 128 Tab. VI: Eheschließungen von Ohmenhäuser Frauen in Ohmenhausen und auswärts, 1810-1893 150 Tab. VII: Eheschließungen von Ohmenhäuser Männern in Ohmenhausen und auswärts, 1810-1893 151 Tab. VIII: Einzugsgebiet auswärtiger Ehepartner bei Heirat und Niederlassung in Ohmenhausen, 1810-1893 152 Tab. IX: Uneheliche und vorehelich gezeugte Kinder in Ohmenhausen, 1777-1905 (absolut u. in % der Gesamtgeburtenzahl) 155 Tab. X: Uneheliche und vorehelich gezeugte Erstgeburten in Ohmenhausen, (1777-1804) 1805-1872 (absolut u. in % der Gesamtzahl der Erstgeburten) 156 Tab. XI: Kleinkindersterblichkeit ehelicher und unehelicher bzw. vorehelich gezeugter Kinder in Ohmenhausen, 1805-1872 164
2. Schaubilder Sb. I: BevölkerungsWachstum von Ohmenhausen 1750-1910 (mit Vergleichsorten Kiebingen und Berkheim) Sb. II: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Oberschichtsmännern 1810-1893 Sb. III: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Männern aus der oberen Mittelschicht 1810-1893 Sb. IV: Durchschnittliches Heiratsalter der Männer in Ohmenhausen (inkl. auswärtige Ehen), 1810-1893 Sb. V: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Unterschichtsmännern, 1810-1893
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Sb. VI: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Männern aus der unteren Mittelschicht, 1810-1893 Sb. VII: Durchschnittliches Heiratsalter der Frauen in Ohmenhausen (inkl. auswärtige Ehen), 1810-1893 Sb. VIII: Prozentualer Anteil der ehelichen, unehelichen und vorehelich gezeugten Kinder an der Gesamtzahl der Erstgeburten in O h m e n hausen, 1777-1895 Sb. IX: Anzahl der Grund- und Gesamtsteuerzahler pro Steuerbetrag in Gulden (auf-bzw. abgerundet) im Steuerjahr 1864/65 Sb. X: Anzahl der vollständigen Ohmenhäuser Familien nach ihrer Schichtzugehörigkeit, 1823-1893 Sb. XI: Prozentuale Verteilung der vollständigen Ohmenhäuser Familien auf die vier Schichten (berechnet nach dem Gesamtsteueraufkommen), 1823-1893 Sb. XII: Prozentuale Verteilung der vollständigen Ohmenhäuser Familien auf die vier Schichten (berechnet nur nach dem jeweiligen Grundsteueraufkommen), 1823-1893
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140 158
160 185 186
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1982/83 von der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurden einige Kapitel überarbeitet und gekürzt. Die Erforschung von Jugendkulturen ist kein ganz gewöhnliches Thema für eine geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit. U m so mehr gilt daher mein Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Eberhard Naujoks, daß er nicht nur dieses Thema akzeptiert, sondern die Entstehung der Arbeit stets mit aufgeschlossenem Interesse und fordernder Kritik begleitet hat. Entstanden ist diese Untersuchung im Rahmen eines von Prof. Dr. Ulrich Herrmann am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen geleiteten Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Historischen Sozialisationsforschung. Herrn Professor Herrmann und den anderen Mitarbeitern, Frau Dr. Susanne Mutschier und Herrn Dr. Lutz Roth, gilt mein ganz besonderer Dank. Die freundschaftliche Zusammenarbeit und immerwährende Gesprächsbereitschaft in diesem Projekt waren nicht nur eine wichtige persönliche Erfahrung, sondern haben auch wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Herr Professor Herrmann und Frau Dr. Mutschier haben außerdem das Manuskript gelesen und Verbesserungen angeregt. Dafür habe ich ebenfalls zu danken Herrn Prof. Dr. Bernhard Mann, den Herausgebern dieser Reihe, Herrn Prof. Dr. Helmut Berding und Herrn Prof. Dr. Jürgen Kocka, sowie Herrn Dr. Martin Doerri und Herrn Dr. Clemens Zimmermann. Sie alle tragen natürlich für die immer noch bestehenden Unzulänglichkeiten und eventuellen Fehler keine Verantwortung. Dank schulde ich auch den Archivaren der benutzten Archive, vor allem aber Herrn Kungl vom Stadtarchiv Reutlingen, der mich nicht nur auf manche Schätze des Archivs aufmerksam gemacht hat, sondern auch allen Fragen und Wünschen stets mit großer Freundlichkeit und Sachkenntnis begegnet ist. Die Arbeit beruht zu einem guten Teil auf der Quellenbasis von Interviews. Die Frauen und Männer aus Ohmenhausen, die uns bereitwillig über ihre Kindheit und Jugendzeit vor dem Ersten Weltkrieg berichteten, haben die Grundlage für das Ganze geschaffen. Der Dank an sie, der hier aus Datenschutzgründen kollektiv erfolgen muß, bleibt notwendig unangemessen. Denn die Zeit und Energie, die diese alten Menschen in oft viele 9
Stunden dauernde Gespräche investierten, und das Vertrauen, das sie uns neugierigen Fremden entgegengebracht haben, kann nicht mit wenigen Worten honoriert werden. Frau Gabi Wenzel im Institut für Erziehungswissenschaft in Tübingen hat uns die beschwerliche Arbeit der Transkription dieser Interviews abgenommen und die Reinschrift der Doktorarbeit besorgt. Auch ihr sei hier ganz herzlich gedankt. Last not least gilt mein Dank den Herausgebern der »Kritischen Studien« für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe, sowie der Stadt Reutlingen, der LG-Stiftung: Kunst und Kultur, eine Stiftung der Landesgirokasse Stuttgart, der Landeszentralbank in Baden-Württemberg und der Robert-BoschStiftung für ihre namhaften Druckkostenzuschüsse. Stuttgart, November 1985
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Andreas Gestrich
I. Einleitung
J u g e n d als menschliches Lebensalter ist keine allein d u r c h biologische E n t wicklungsprozesse b e s t i m m t e präsoziale u n d universelle Tatsache. Die k u l turellen, historischen, regional- u n d schichtspezifischen U n t e r s c h i e d e nicht n u r der L e b e n s b e d i n g u n g e n u n d Lebensweisen v o n Jugendlichen, s o n d e r n auch der sozialen u n d biographischen Funktionen des Jugendalters sind beträchtlich: Bei vielen primitiven Völkern w i r d J u g e n d als Phase zwischen Kindheit u n d Erwachsensein d u r c h Initiationsriten ersetzt. In den m o d e r n e n Industriegesellschaften erstreckt sie sich dagegen über einen Z e i t r a u m v o n ein bis zwei J a h r z e h n t e n . 1 Die traditionelle Gesellschaft des vorindustriellen E u r o p a definierte Kindheit u n d J u g e n d als spezielle F o r m e n sozialer u n d rechtlicher A b h ä n g i g k e i t . E r z i e h u n g u n d A u s b i l d u n g dienten lediglich d a zu, die j u n g e n M e n s c h e n auf ein ständisch u n d b e r u f s m ä ß i g eng gebundenes L e b e n s m u s t e r zu »konditionieren«. 2 Erst das aufstrebende B ü r g e r t u m des 18. J a h r h u n d e r t s hat in u n s e r e m Kulturkreis den E i g e n w e r t v o n Kindheit u n d Jugendalter >entdeckt< u n d ihnen als w i c h t i g e n Stadien der psychischen u n d sozialen E n t w i c k l u n g des M e n s c h e n eine besondere B e d e u t u n g u n d gesellschaftliche Stellung z u g e w i e s e n . 3 Die verschiedenen A u f f a s s u n g e n v o m Wesen u n d den A u f g a b e n des Jugendalters haben zur Folge, daß J u gendliche in m a n c h e n Gesellschaften ganz in die E r w a c h s e n e n w e l t integriert sind, w ä h r e n d sie in anderen eine über Alters- u n d Verhaltensmerkmale genau definierbare soziale G r u p p e bilden. 4 D i e vielfältigen U n t e r s c h i e d e u n d Veränderungen in den F o r m e n u n d F u n k t i o n e n des Jugendalters u n d J u g e n d l e b e n s sind f u r den Sozialhistoriker v o r allem unter drei Aspekten v o n Interesse: d e m Wandel der gesellschaftlichen Erziehungsleitbilder u n d -Institutionen, den Verhaltensweisen der J u gendlichen als einer sozialen G r u p p e sowie den sozialpsychologischen D i m e n s i o n e n v o n Sozialisationsprozessen. Jede Gesellschaft entwickelt f ü r den Verlauf des Jugendalters u n d das Verhalten v o n J u g e n d l i c h e n b e s t i m m t e Leitbilder u n d sieht d e m g e m ä ß b e sondere Sozialisationsinstanzen u n d Erziehungsinstitutionen, wirtschaftliche u n d rechtliche B e s t i m m u n g e n , L e i s t u n g s a n f o r d e r u n g e n u n d Freiräume f ü r die k ü n f t i g e n Generationen v o r . Diese Vorstellungen u n d R e g e l u n g e n sind A u s d r u c k der ö k o n o m i s c h e n Z w ä n g e u n d kulturellen A n f o r d e r u n g e n , die f ü r eine Gesellschaft b z w . Klasse oder Schicht aus der N o t w e n d i g k e i t sozialer R e p r o d u k t i o n entstehen. 5 Das heißt, sie sind eng v e r k n ü p f t m i t der
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Sicherung von ökonomischen Existenzgrundlagen und mit der Bewahrung von Privilegien und Herrschaftsstrukturen. Die Geschichte von Ausbildung und Erziehung, von wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Stellung der Jugend ist daher ein wichtiger Bestandteil übergeordneter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse.6 Die Verhaltensweisen und Lebensformen von Jugendlichen entsprechen selten derartigen Leitbildern. Da Jugendliche den Anforderungen von Eltern, Erziehern, Wirtschafts- oder Herrschaftsstrukturen nicht mehr so hilflos ausgesetzt sind wie die Kinder, haben sie die Möglichkeit, auf bestimmte Bedingungen mit Protest und Verweigerung zu reagieren. Sie können sich eine eigene >Welt< aufbauen und sich in altershomogenen Gruppen: in Schülerzirkeln, Straßenbanden oder offiziellen Jugendgruppen zusammenschließen. Sie können das Elternhaus oder auch das Land verlassen. 7 In den meisten Gesellschaften haben die Jugendlichen eigene regional- und klassenspezifische Traditionen in Ausbildung, Beruf und Freizeit entwickelt und jugendspezifische Formen der Kultur bzw. Subkultur hervorgebracht. Mit deren Hilfe artikulieren sie ihre Interessen und Bedürfnisse, bringen ihren Protest zum Ausdruck oder üben sich auch in Gebräuche und Verhaltensnormen der Erwachsenengesellschaft ein. 8 Tritt Jugend derart als soziale Gruppe einer Gesellschaft bzw. Teilgesellschaft auf, bildet ihre Lebensweise einen eigenberechtigten Gegenstand der Sozialgeschichte. 9 Der Analyse der sozialpsychologischen Dimensionen von Sozialisationsprozessen geht es um die Bestimmung der kulturellen Determinanten bei der Herausbildung von Persönlichkeitsstrukturen und -typen und um ihre Vermittlung durch Erfahrung und Erziehung. 10 Sie erforscht das Ineinanderwirken von gesellschaftlichen Erziehungsleitbildern und -maßnahmen, von allgemeinen Lebensbedingungen und Lebensformen der Heranwachsenden im Prozeß der Persönlichkeitsbildung. Dabei ergeben sich zum Beispiel aus der Beobachtung jugendlicher Verhaltensweisen wie Anpassung oder Widersetzlichkeit Aufschlüsse über die Wirksamkeit oder Wirkungslosigkeit von pädagogischen Konzepten und intentionalen Erziehungspraktiken. Man wird durch das Studium von Jugendkulturen auf die Bedeutung von Sozialisationsinstanzen wie >Straße< und Gleichaltrigengruppe gefuhrt und erhält auch Auskunft über den Einfluß der >VerhältnisseModernisierung< auf solche nach den Ursachen für das Festhalten an alten Denkmustern und Verhaltensweisen. Es mußte nun danach gefragt werden, welche neue Bedeutung die kleinbäuerliche Kultur und Lebenswelt für die Industriearbeiterschaft erhielt und was auch die Jugendlichen aus Arbeiterfamilien noch in der dritten Generation so fest an das Dorf band, daß sich ihr ganzes Freizeitleben und ihre Partnerwahl dort abspielte. Welche Bedürfnisse artikulierten diese Jugendlichen durch ihr Festhalten am dörflichen Jugendbrauchtum? 2 0 Welche Funktion besaß das kleinbäuerliche Sozialisationsmilieu für die Verarbeitung der Erfahrungen des Fabrikalltags? Wurden die Widersprüche zwischen diesen beiden >Welten< wahrgenommen? Welche Bedeutung hatten für die Dorfbewohner die Ziele der Arbeiterbewegung? Welche Rolle spielte schließlich der Erste 14
Weltkrieg f u r den Z u s a m m e n b r u c h der ü b e r k o m m e n e n Lebensweisen? Es geht im folgenden somit u m die Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit von >Kulturstilen< wie auch u m ihre Transformation. Beide Aspekte müssen jeweils als Ergebnisse generationsspezifischer Sozialisationserfahrungen und als Ausdrucksformen bestimmter kollektiver Persönlichkeitsstrukturen (>Sozialcharaktereentlarvt< werden. Außerdem werden die wichtigsten N o r m e n der dörflichen Sozialbeziehungen und die dafür vorgesehenen Lernorte untersucht u n d der Einfluß der christlichen Religion und Kirche, der Fabrikarbeit und der Sozialdemokratie auf die Organisation des täglichen Lebens analysiert. 2 1 Zweitens sollen die Lebensverhältnisse und U m g a n g s f o r m e n in den O h menhäuser Familien u n d vor allem die emotionalen Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern näher betrachtet werden. Besonders aufschlußreich ist dabei der U m g a n g der Eltern mit den Großeltern. D e n n er besitzt z u m einen Vorbildfunktion für die Kinder und zeigt z u m anderen die >Langzeitwirkungen< familialer Sozialisation. Die Qualität der Bindungen der Kinder an ihre Eltern ist die Voraussetzung fur das Verständnis der Widersetzlichkeiten von Jugendlichen oder ihres Anpassungswillens bzw. -zwangs sowie fur die Einschätzung der Bedeutung und Funktion außerfamilialer Sozialisationsinstanzen. Drittens wird das Jugendleben außerhalb der Familien untersucht. D e m Gang des Lebenslaufes von der Konfirmation bis zur Hochzeit folgend, werden die wichtigsten Handlungs- und Erfahrungsfelder der D o r f j u g e n d : Ausbildung und Beruf, Freizeit, erste sexuelle Kontakte und Partnerwahl, Wanderschaft, Militär und Auswanderung usw. dargestellt. Der Schwerpunkt liegt auf d e m Bereich der Freizeit und der dörflichen Jugendkultur. Träger des selbstorganisierten Jugendlebens in O h m e n h a u s e n waren nach Geschlechtern und Jahrgängen getrennte Gruppen. Ihre Aktionen und die Formen des von ihnen getragenen jugendeigenen Brauchtums 2 2 werden detailliert geschildert u n d dabei der Frage nachgegangen, weshalb sich die traditionellejugendkultur trotz Fabrikarbeit und sozioökonomischem Wandel im D o r f so lange hielt. Diese drei Teile bilden in sich jeweils relativ geschlossene Darstellungen. Als vierter und fonfter Schritt wird daher versucht, das gesamte Material in
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zwei abschließenden Interpretationen zum einen unter jugendsoziologischen und zum anderen unter sozialisationshistorischen Fragestellungen zusammenzufassen. Eine Interpretation aus jugendsoziologischer Perspektive empfahl sich, da in der Soziologie - im Gegensatz zur Sozialgeschichte - schon seit langem Theorien über die geschichtliche Entwicklung von Jugend als gesellschaftlicher Gruppe entwickelt wurden, ohne daß ihnen die notwendigenjugendhistorischen Arbeiten gefolgt wären. Wie in anderen Bereichen der soziologischen Forschung, so zum Beispiel der Familiensoziologie, besteht auch in der Jugendsoziologie eine Nachfrage nach Ergebnissen sozialhistorischer Forschung. 2 3 Die Fragestellungen der Soziologie erleichtern ihrerseits dem Sozialhistoriker den systematisierenden Zugriff auf das reichhaltige Material. Der Versuch einer soziologischen Interpretation des Ohmenhäuser Jugendlebens orientiert sich vor allem an den fünf »Dimensionen« des Begriffs >JugendJugendlichkeitneutralem< Ort wie zum Beispiel in der Wohnung der Vermittlungsperson. Die Interviews wurden nicht standardisiert, jedoch wurde ein Interviewleitfaden benützt, dessen Fragen (in unterschiedlichen, dem jeweiligen Gesprächsverlauf angepaßten Formulierungen) im Laufe eines Gesprächs berührt wurden. 3 0 Aus der Kombination dieser Quellengattungen ließ sich das Jugend- und Familienleben des Dorfes sehr umfassend und anschaulich rekonstruieren. Die Fragestellungen dieser Arbeit gehen jedoch über die Sozialgeschichte der Jugend im engeren Sinne hinaus. Es soll ein Beitrag zur historischen Sozialisationsforschung geleistet werden. Deren Erkenntnisinteressen werden hier zum besseren Verständnis der Arbeit abschließend präzisiert und die Tragfähigkeit des Quellenmaterials für eine derartige Untersuchung überprüft. Sozialisationsforschung ist ein Gebiet, mit dem sich heute nahezu alle Sozial- und Humanwissenschaften mehr oder weniger intensiv beschäfti17
gen. Die Fragestellungen und Methoden sind allerdings sehr unterschiedlich, bisweilen gegensätzlich. 31 Die psychologische und die psychoanalytische Sozialisationsforschung zum Beispiel untersuchen die ursächlichen Zusammenhänge zwischen körperlicher Reifung des Kindes, frühkindlichen Erfahrungen und Familienkonstellationen im Prozeß der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Sie leiten ihre Theorien und Gesetzmäßigkeiten vor allem aus der Beobachtung der kindlichen Entwicklung und bzw. oder aus den Ergebnissen psychoanalytischer Tiefeninterviews ab. Die Psychoanalyse fördert in therapeutischen Gesprächen bei den Klienten Erinnerungen aus den Schichten ihrer frühesten und besonders ihrer verdrängten Erfahrungen zutage und erhellt so die Ursprünge und Ursachen von psychischen Störungen und Charakterdispositionen. 32 Gemessen an den Erkenntnisinteressen dieser Art individualpsychologischer Sozialisationsforschung ist historisches Material in aller Regel unzureichend. Dies würde auch für die Quellen dieser Arbeit gelten. Denn die Archivalien ermöglichten uns in keinem Fall die Rekonstruktion einer über wenige Bruchstücke hinausgehenden Biographie. Die Interviews waren Gespräche über Kindheits- und Jugenderinnerungen, waren Lebensgeschichten und keine psychoanalytischen Tiefeninterviews. Das heißt, daß ihnen die für das Verständnis individueller Sozialisationsvorgänge zentralen Bereiche des Unbewußten und der verdrängten Erfahrungen verschlossen blieben. U m eine derartige, an den individualpsychologischen Verfahrensweisen orientierte Rekonstruktion individueller oder kollektiver Biographien kann es der historischen Sozialisationsforschung (mit Ausnahme der historischen Biographik i. e. S.) daher nicht zu tun sein. 33 Ihre Aufgabe liegt vielmehr in der Analyse der sozialpsychologischen und soziologischen Dimensionen der Ich-Identität: der kollektiven Werte, der Denk- und Verhaltensweisen, der Ritualisierungen, alles dessen also, was Erikson als »kulturelle Konsolidierungen« oder als jene »Normallage« einer Gesellschaft bezeichnet hat, die jede nachwachsende Generation vorfindet und der sie sich in der Regel weitgehend und problemlos anpaßt. 34 Diese Elemente der Gruppenidentität und die Formen ihrer Vermittlung im Sozialisationsprozeß festzustellen ist dem Historiker durchaus möglich. Denn dies erfordert (im Gegensatz zur Genese individueller Charakterzüge) nicht die Berücksichtigung zufälliger Konstellationen einzelner Erziehungsschicksale, sondern kann sich auf die Untersuchung der >objektiven< Bedingungen von Gesellschaftsstrukturen beschränken. Deren lebensgeschichtliche und sozialpsychologische Bedeutung sind dem Historiker weit eher zugänglich als die Auswirkungen individueller frühkindlicher Ängste oder spezifischer Mutter-Kind-Konstellationen. Die Erfahrung und Verarbeitung von Phänomenen wie Armut, gesellschaftlicher Hierarchie oder starrer Rollenzuschreibung liegen kaum in jenen >tieferen Seelenschichten< verborgen, die sich auch dem Individuum nur mit Hilfe der Analyse erschließen. 18
Vielmehr gehören sie in der Regel zu jenen »Weisen bewußten Erlebens, die der Introspektion zugänglich sind« 3 5 und damit auch der >einfachen< Erinnerung, wie sie in lebensgeschichtlichen Interviews angeregt wird. Neben den Erinnerungen sind es spezifische Verhaltensweisen der Menschen, die Aufschluß über ihre Wahrnehmungsformen und Einstellungen geben. Auch solche Verhaltensweisen sagen in der Regel (wenn es sich nicht um auffallende pathologische Erscheinungen handelt) mehr über die Bedeutung allgemeiner Lebensbedingungen als über die Spätfolgen der Primärsozialisation aus. Das ist zumindest dann der Fall, wenn es sich u m häufig auftretende, quantitativ faßbare Phänomene handelt. Wie Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten, ist nicht nur der direkten Beobachtung der Psychologen und Anthropologen zugänglich, sondern auch in vielen >Fällen< in archivalischen Quellen enthalten. Werden die Fragestellungen der historischen Sozialisationsforschung derart in Richtung auf eine historische Sozialpsychologie eingeschränkt, dann stehen dem Historiker selbst für solche Gesellschaftsschichten, die kein oder nur wenig schriftliches Material über ihr Leben und Denken hinterlassen haben, im Rahmen der amtlichen Überlieferung meist ausreichend Quellen zur Verfugung. Allerdings erfordern sie auch in diesem Fall eine sehr intensive Verknüpfung der Aussagen der verschiedenen Quellengattungen und eine »dichte Beschreibung« (Geertz) des Sozialisationsmilieus. Das ist nur in Lokal- oder Regionalstudien möglich.
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Π. Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ohmenhausens, 1750-1914
Im Pfarrbericht des Jahres 1874 versuchte ein frisch in Ohmenhausen aufgezogener Pfarrer der Kirchenleitung den zwiespältigen Charakter und die besonderen Schwierigkeiten seiner Gemeinde mit folgender Schilderung zu erklären: »In der hiesigen Gemeinde sind die extremsten Elemente vertreten: von dem konservativsten Bauern an, der seine Kronenthaler zu Hunderten in alten Säcken aufhebt, bis zu dem sozialistisch angehauchten >ArbeiterArbeiterTaglöhnerdie Expropriation der Arbeiter von Grund und Bodendie Grundlage des ganzen ProzessesSchneckendörfles< am östlichen Talabhang wohnen, breiten sich die Häuser der Handwerker im Thal und dem westlichen Hang aus, auf dem >Platz, Wasen, Gaisbühl, Dorf, Grafeneck, Mönchsgaßec. Auch durch das politische Leben geht dieser Unterschied«. 1
Ohmenhausen, ein kleiner, nur eine knappe Wegstunde südwestlich von Reutlingen gelegener, ehemals reichsstädtischer Ort, war in jenen Jahren in einer Umbruchsituation: Durch die stadtnahe Lage und eine krisenhafte Entwicklung in Landwirtschaft und Handwerk in den Sog der nach Arbeitskräften suchenden Reutlinger und Betzinger Fabriken geraten, änderten sich Struktur, Funktion und Charakter des Orts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde aus dem Dorf von Kleinbauern und ländlichen Handwerkern eine Arbeiterwohngemeinde, ein Pendlervorort Reutlingens. Dieser Wandel hatte zur Zeit des zitierten Pfarrberichts gerade erst begonnen, zeigte aber bereits spürbare Auswirkungen auf das Selbstverständnis, die familiale Arbeitsorganisation und das Zusammenleben der Ohmenhäu20
ser: Modernes Parteienwesen und sozialdemokratisches Gedankengut waren in den Kosmos bäuerlich-konservativer Einstellungen und halbfeudaler dörflicher Sozialbindungen eingedrungen; Frauen und Alte verrichteten Männerarbeit in der Landwirtschaft; Männer verließen den Ort und standen hinter den Spinnmaschinen und Webstühlen der Fabriken. Die »extremsten Elemente« waren nach Ansicht des Pfarrers im Dorf vertreten. Topographisches Symbol der inneren Spaltung der Gemeinde war ihre räumliche Zweiteilung in ein abseits gelegenes Armen- und Arbeiterquartier, das sogenannte »Schneckendörfle«, und das Hauptdorf der Bauern und Handwerker. Allerdings, so wird einschränkend bemerkt, waren konservatives Bauerntum und »sozialistisch angehauchtes« Arbeiterbewußtsein »nur die äußersten Spitzen«, zwischen denen sich »mehr Einheit in der Gemeinde« befand, als der Pfarrer wohl selbst erwartet hatte; denn die Industriearbeit hatte aus den Ohmenhäusern noch keine »eigentlichen Arbeiter«, keine Proletarier gemacht. Grundbesitz und kleinbäuerliche Lebensweise blieben durch die von den Frauen, Kindern und Großeltern betriebenen Nebenerwerbslandwirtschaften in Ohmenhausen das »Einheit« stiftende Integrationsmedium, die Vermehrung des bäuerlichen Familienbesitzes Ziel aller Anstrengungen auch der Fabrikarbeiter. Noch die (von uns gesammelten) Jugenderinnerungen alter Ohmenhäuser aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg schienen dieses pfarramtliche Urteil von 1874 zu bestätigen: Die landwirtschaftliche Arbeit und die Erhaltung und Vermehrung des Grundbesitzes stellten sich auch in ihnen als die beiden das dörfliche Leben bestimmenden Pole dar. Die harten Fakten der Sozialstatistik werden diese Erinnerungen allerdings teilweise relativieren bzw. sie in einen korrekten sozialgeschichtlichen Rahmen stellen; denn durch die Güterzersplitterung (jener schwäbischen, durch das Zusammentreffen von Bevölkerungswachstum und Realteilungsrecht hervorgerufenen Form der »Expropriation von Grund und Boden«) hatte am Ende des 19. Jahrhunderts in Ohmenhausen fast niemand mehr nennenswerten landwirtschaftlichen Grundbesitz. Kaum eine Familie konnte deshalb ohne die Fabrikarbeit wenigstens eines ihrer Mitglieder existieren. Diese Diskrepanz zwischen der faktischen Abhängigkeit der Dorfbewohner vom Verdienst aus Fabrikarbeit und ihrem kleinbäuerlichen Selbstverständnis scheint ein Spezifikum industriellen Wandels ländlicher Gebiete vor allem in Süddeutschland (gewesen) zu sein. Für die besondere Form der Veränderungen der Sozialisationsbedingungen auf dem Dorf, der Lebensformen und -erfahrungen von Landkindern und -jugendlichen im Zuge der Industrialisierung ist dieser Widerspruch von zentraler Bedeutung; denn er bestimmte die >Wirtschaftsstruktur< der Familien und die Formen der familialen Arbeitsteilung; erhielt den Kindern im Dorf ein sehr stark von der Landwirtschaft geprägtes erstes Sozialisations- und Betätigungsfeld und bestimmte dadurch wesentlich die Verarbeitungsweisen der späteren Fabrikerfahrungen; bewahrte dem traditionellen dörflichen Jugendbrauchtum 21
seine spezifischen Funktionen, so daß dieses bis nach dem Ersten Weltkrieg bestehen und ein beherrschender Faktor des Jugendlebens bleiben konnte. Die Entstehungsbedingungen der >Ungleichzeitigkeiten< zwischen raschem sozialem und vor allem ökonomischem Wandel und langsamen mentalen Anpassungsprozessen werden in den folgenden Skizzen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ohmenhausens dargestellt. Diese sollen die materiellen Zwänge und Handlungsspielräume, die auf den Familien und Jugendlichen lagen, erhellen; sollen das Binnenklima in den Familien rekonstruieren; die Veränderungen der religiösen und politischen Einstellungen und anderer Faktoren des sozialpsychologischen >Koordinatensystems< im Dorf darstellen, kurz: einen Einblick in das örtliche Sozialisationsmilieu geben.
1. Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsstruktur a) Bevölkerungswachstum,
Landwirtschaft
und ländliches Gewerbe
Í750—Í846
Ohmenhausen liegt am Südostrand eines kleinen Höhenzugs zwischen Tübingen und Reutlingen, den sogenannten Härten, nicht weit entfernt vom steilen Trauf der Schwäbischen Alb. Die Böden der Dorfmarkung sind von sehr unterschiedlicher Qualität. 2 Im Gegensatz zu den fruchtbaren Feldern des lößüberwehten Schwarzjura der Härten sind die schweren Tone der unteren Braunjura-Stufen des Albanstiegs nur mäßig zum Ackerbau geeignet. Der Getreideertrag war auf diesen Böden deshalb allenfalls durchschnittlich, Kartoffelanbau fast unmöglich. Lediglich die Nutzung als Baumwiesen oder (Schaf-)Weiden schien einigermaßen rentabel gewesen zu sein. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mußten daher in Ohmenhausen Obstanbau und Verkauf von Dörrobst zur Aufbesserung des sonst eher spärlichen landwirtschaftlichen Einkommens beitragen. 3 Mit einer Markung von 574 Hektar war Ohmenhausen flächenmäßig eines der kleinsten Dörfer des Reutlinger Oberamts. Dennoch entsprach der Reinertrag der Landwirtschaft während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziemlich genau dem Durchschnitt der übrigen Amtsorte. Das bedeutet, daß der Hektarertrag in Ohmenhausen etwas über dem Amtsdurchschnitt gelegen haben muß. 4 Dies hatte seinen Grund zum einen in der relativ hohen Rentabilität des Obstbaus, zum anderen aber in dem außerordentlich raschen Anwachsen der Bevölkerung, das zu einer intensiven N u t zung aller vorhandenen Böden zwang. Bereits im 18. Jahrhundert hatte die Einwohnerzahl Ohmenhausens stark zugenommen: Zwischen 1720 und 1804 wuchs die Ortsbevölkerung um etwa 60%, das heißt u m 1,15% im Jahresdurchschnitt (vgl. Tab. I). 5 Ungewöhnlich war jedoch erst die Bevölkerungsbewegung in der ersten Hälfte 22
Tab. I: Bevölkerungsentwicklung Ohmenhausens 1720-1910 Jahr
Bevölkerungsstand 1) a)
1720 1804 1823 1832 1834 1837 1840 1843 1846 1849 1852 1855 1858 1861 1864 1867 1871 1875 1880 1885 1890 1895 1900 1905 1910 Quellen:
249 649 842
1036 1058 1115 1091 1079 1091 1078 1096 1100
b) 630 927 940 917 874 886 975 996 931 897 924 975 947 953 955 970 1037 1100 1149 1243 1389 1452 1586
jährl. Zuwachs (%)
2) b)
a)
a)
b)
0,70 -0,82 -1,59 0,46 3,24 -0,31 -1,22 -1,23 0,99 1,81 -0,97 0,21 0,05 0,39 1,34 1,19 0,88 1,59 2,25 0,89 1,78
100,0 102,7 101,6 102,8 100,6 102,8 98,5 95,7 92,3
Behausungsziffer 4) b) 7,2 (8,1)
100,3
1,15 1,38
1,04 0,70 1,76 -0,72 -0,37 0,73 -0,40 0,55 0,12
Sexualp roportion 3)
98,3 97,6 98,2 93,9 99,8 94,0 97,2 97,6 97,4 96,2 90,9 87,2 85,4 85,5 86,2 86,4 88,7 90,1 97,6 90,1 92,9
7,4 7,1 7,1 7,0 7,7 7,8 7,1
O A B (1824), S. 109; O A B (1893), S. 297; K K P 2. 12. 1804; StALb, E 2 5 8 I V , N r . 153; StASig, W ü 65/27, B ü 13 u. 14. Z u r Anlage der T a b . vgl. v. Hippel, S. 47.
1) a) = ortsangehörige B e v ö l k e r u n g , d. h. sämtliche Bürger, Beisitzer u n d ihre in O h m e n h a u sen w o h n b e r e c h t i g t e n Familienangehörigen, b) = ortsanwesende B e v ö l k e r u n g (1832 bis 1871 w u r d e n u r die ortsanwesende W o h n b e v ö l k e r u n g gezählt, ab 1871 die wirklich ortsanwesende B e v ö l k e r u n g , also auch Durchreisende, Besucher etc. Die Zahl für 1804 ergibt sich d u r c h A b z u g der »auf Wanderschaft u n d in Serenissimi Kriegsdiensten« Befindlichen v o n der Z a h l der ortsangehörigen B e v ö l k e r u n g ) . 2) Durchschnittliches B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m p r o Jahr, bezogen auf die jeweils v o r a n g e h e n d e Angabe. 3) Anzahl der männlichen p r o 100 weibliche E i n w o h n e r . 4) Personenzahl j e W o h n g e b ä u d e - außer 1823 n u r bezogen auf die ortsanwesende Bevölkerung.
23
des 19. Jahrhunderts. Die Zunahme der ortsangehörigen Bevölkerung zwischen 1804 und 1849 betrug über 70%. Nicht nur die Vergleichsorte Kiebingen und Berkheim wiesen in dieser Zeit ein wesentlich geringeres Wachstum auf, sondern auch die übrigen Orte des Reutlinger Oberamts. Mit einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme um 0,37% zwischen 1813 und 1823 und um 0,77% zwischen 1823 und 1834 lag das Bevölkerungswachstum der anderen Dörfer des Reutlinger Oberamts weit hinter demjenigen der ortsangehörigen Ohmenhäuser Bevölkerung (1,34% zwischen 1804 und 1834) zurück. 6 Gemessen an der Größe der Markung und der Qualität der Böden war die Ohmenhäuser Bevölkerung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel zu rasch angewachsen. Bereits bei der Volkszählung von 1823 war Ohmenhausen der viertgrößte Ort des Reutlinger Oberamts und nach Reutlingen selbst der am dichtesten besiedelte. Die Bevölkerungsdichte hatte mit etwa 170 Einwohnern pro Quadratkilometer landstädtischen Maßstab und entsprach 1834 derjenigen Berkheims im Jahr 1858 - also zwölf Jahre nach der für die Bevölkerungsentwicklung dieses Dorfs bedeutsamen Gründung der Esslinger Maschinenfabrik. 7 Boden war in Ohmenhausen aufgrund des steilen Anstiegs der Bevölkerungszahlen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz rar geworden. Bereits in der Oberamtsbeschreibung von 1824 hieß es:». . . fast gar keine ungebaute Fläche hat Ohmenhausen. « 8 Die Überbevölkerung und Landknappheit hatten in Ohmenhausen allmählich zu einer wirtschaftlich prekären Situation gefuhrt. Das zeigte sich schon am Anfang des 19. Jahrhunderts an einer großen, lang über die allgemeine Agrarkrise von 1818/19 hinaus anhaltenden Armut der Gemeinde sowie an erbitterten innerdörflichen Machtkämpfen um die Ausgabe von Allmandwiesen zu »Hackteilen«, das heißt zu Kartoffeläckern für die Ärmeren. 9 Der Ortspfarrer resümierte Ende 1822 die desolate Situation der Gemeinde folgendermaßen: »Die C o m m u n hat weder von zu verpachtenden Gütern, noch von Schafweiden, noch von Waldungen einige Einnahmen; u. 10000 fl. Schulden; die Bürgerschaft 8000 fl. Steuerrest, 800 fl. Strafschulden beym Forstamt; ein großer Theil von den Bürgern sind so verarmt, daß der Presser [ = Steuereintreiber] nun schon 5 Wochen hier ist und nicht einmal überall das Pressgeld [ = Mahngebühren] herausbringt. « 1 0
Die Landwirtschaft hatte das starke Bevölkerungswachstum in Ohmenhausen weder im 18. noch im 19. Jahrhundert getragen. Es ist nur durch ursprünglich gute Verdienstmöglichkeiten im Handwerk zu erklären. Dies wird am rapiden Wandel der dörflichen Beschäftigungsstruktur besonders deutlich. Die Zahl der Bauern war von annähernd 100% der verheirateten Erwerbstätigen im Jahr 1744 auf unter 30% im Jahr 1844 zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum nahm die Anzahl der dörflichen Handwerker um ein Vielfaches (von unter 10% auf fast 60%) zu. An ihrer Spitze lag im Jahr 1844 mit 34,2% der verheirateten Erwerbstätigen das Textil- und Bekleidungsge24
werbe, vor allem die Weberei. 1 1 1744 arbeitete in O h m e n h a u s e n nach den Berufsbezeichnungen der Steuerlisten noch kein Weber. Im Jahr 1760 waren 12, 1844 bereits 43 u n d 1864 insgesamt 75 Weber i m O r t . Gleichzeitig gaben 1844 dreizehn Steuerzahler ihren Beruf mit Schneider und zehn mit Schuster an. 1 2 Im Gegensatz zu Berkheim, w o das Textil- u n d Bekleidungshandwerk zwischen 1816 und 1850 vor allem zugunsten des Baugewerbes drastisch zurückging, 1 3 schien der bekannte und alteingesessene Reutlinger Textilhandel i m Gebiet der ehemaligen Reichsstadt vielen hausindustriell p r o d u zierenden Weberfamilien über die Wende v o m 18. zum 19. Jahrhundert hinaus eine halbwegs sichere Existenzgrundlage geboten u n d i m Fall O h menhausens dieses rasche, über die landwirtschaftlichen Ressourcen weit hinausgehende Bevölkerungswachstum ermöglicht zu haben. Die Zahl der H a n d w e r k e r war jedoch auch in O h m e n h a u s e n nicht beliebig vermehrbar. Gemessen an der innerdörflichen Nachfrage nach Kleidern und Schuhen wären bereits ein Schneider und ein Schuster zuviel gewesen. Ähnlich schlecht stand es u m die anderen, für den lokalen M a r k t produzierenden Gewerbe: die Schreiner und Bäcker. Alle diese H a n d w e r k e waren in O h m e n h a u s e n u m die Jahrhundertmitte stark übersetzt und die Schuster und Schneider zu den chronischen Hungerleidern des Dorfes g e w o r d e n . 1 4 Besser ging es lediglich den für einen überregionalen Markt produzierenden Webern. Manche von ihnen gehörten ursprünglich sogar zu den H o n o r a t i o ren des Orts, den »Bürgern der besseren Art«. 1 5 Entsprechend rasch w a r daher ihre Zahl angewachsen. Als jedoch auch d e m dörflichen Textilgewerbe durch die entstehende einheimische Fabrikindustrie und englische Billigwaren zunehmend Schwierigkeiten bereitet wurden, war die >große Krise< in O h m e n h a u s e n unausweichlich.
b) Die Krise in den Jahren
1846-1864
Eine erste Folge der Überbevölkerung Ohmenhausens war, daß sich von der Mitte der 30er Jahre an, also noch vor der Agrarkrise der Jahrhundertmitte, die >demographische Schere< zwischen realem Bevölkerungswachstum und der Zahl der Ortsanwesenden zu öffnen begann (vgl. unten Schaubild I). Die nachwachsenden Generationen hatten im D o r f keine gesicherte Z u k u n f t zu erwarten; zeitweilige oder endgültige A b w a n d e r u n g waren die Folge. Wie schmal die materielle Basis der Existenz in O h m e n h a u s e n geworden war, zeigen besonders die heftigen Einbrüche in der graphischen Darstellung der Entwicklung der ortsanwesenden Bevölkerung am Ende der 30er und am Anfang der 50er Jahre des letztenjahrhunderts. A u f g r u n d einer Serie lokaler u n d regionaler Mißernten k a m es in O h m e n h a u s e n zu besonders großen, aber zeitlich genau auf die Krisenzeit beschränkten Wanderungsbewegungen. Bis zu 10% der Bevölkerung war in solchen Jahren vorübergehend abwesend und k a m nach Beendigung der Krise in kürzester Zeit fast 25
Schaubild I16: Bevölkerungswachstum von Ohmenhausen 1750-1910
mit Vergleichsorten Kiebingen _ . _ . _ . und Berkheim
vollständig wieder zurück: eine temporäre Flucht vor der Not. Zu diesen zeitlich begrenzten Abwanderungen sind noch die eigentlichen Auswanderungen zu rechnen. Zwischen 1817 und 1882 verließen 233 Personen Ohmenhausen legal - vor allem nach Nordamerika - , weitere 22 illegal. Die meisten von ihnen wanderten zwischen 1844 und 1864 aus. Der abrupte Rückgang der ortsangehörigen Bevölkerung nach 1849 (vgl. oben Schaubild I) wird im wesentlichen dadurch zu erklären sein. 17 Die temporäre Krisenabwanderung hatte mit der großen Agrarkrise im Jahr 1847 begonnen, erreichte ihren Höhepunkt in Ohmenhausen jedoch erst in der Mitte der 50er Jahre - zu einer Zeit, in der zum Beispiel die Bevölkerung Berkheims schon wieder rascher zu wachsen anfing. 18 Der Grund hierfür lag in einer regional begrenzten Nachkrise: Den Jahren der allgemeinen Mißernte folgten im Reutlinger Gebiet noch mehrere Sommer (1850 bis 1853, 1856 bis 1866), in denen der Großteil der Obst- und Getreideernten durch Hagelschlag vernichtet wurde. Für die Ohmenhäuser waren dies Jahre größter Armut und Not. Im März 1856 notierte der Ortspfarrer ins Kirchenkonventsprotokoll: »Es ist . . . eine Zeit, wo die meisten von der Hand in den Mund leben, viele ihre Schuldigkeiten, von den ärmeren Jahren her, noch nicht abbezahlt haben. «19 Im Juni desselben Jahres wurde noch einmal fast die gesamte Ernte durch Hagelschlag vernichtet. Bereits im Oktober 1856, nur wenige Wochen nach Abschluß der Ernte, mußte der für das Armenwesen zuständige Pfarrer folgende deprimierende Bilanz ziehen: 26
»Von 236 Bürgern samt den Witwen sind 83 Familien, aus 394 Köpfen bestehend, 14 einzelne selbständig lebende Personen der Unterstützung dringend bedürftig, indem solche zum Theiljetzt zum Theil von Neujahr und Lichtmeß an nichts Eigenes mehr haben, auch nichts mehr zu [erwarten?] haben, und der Verdienst still steht. « 20
Lokale Besonderheiten verlängerten im Reutlinger Gebiet die allgemeine Agrarkrise weit über die Jahre 1847/48 hinaus. Zusammen mit der chronischen Übersetzung der Handwerke und der beginnenden Krise der Hausindustrie führten diese Mißernten in Ohmenhausen zu mehr als einem Jahrzehnt teilweise bitterster Armut. Die Gemeinde versuchte (mit staatlicher Unterstützung), die äußerste Not zu lindern; jedoch auch ihre Mittel waren begrenzt. Im Februar 1852 protokollierte der Pfarrer nach einer Sitzung des lokalen Armenkomitees: »Zur Unterstützung der Armen hat die Gemeinde 600 fl. aufgenommen, wovon bis jetzt schon als Lohn für Erdarbeiten [?] ausgegeben bei 300 fl. Für dergleichen Arbeiten werden künftig . . . in der besseren Jahreszeit 4-500 fl ausgegeben werden müssen. Nachdem in diesem Monat [Februar] bei 100 Portionen täglich verabreicht wurden, wird angenommen, daß in den ersten zwei Monaten März-April täglich 200 Portionen, von Mai an bis zur Ernte tägl. 300 Portionen abgegeben werden müssen. Die Portion zu 2x. . . . die ganze Summe der Ausgaben vom 1. März an auf2900 fl. allein für die Suppenanstalt sich belaufen. « 21
Mit am härtesten betroffen von der allgemeinen Notlage war die Jugend. Ihre Zukunftschancen schrumpften vielfach auf ein Minimum: die Berufsaussichten im Handwerk waren schlecht, Lehr- und Gesellenstellen rar, das Heiraten schwierig. Landstreicherei, Bettel und Diebstahl waren in den 50er Jahren für viele an der Tagesordnung und die einzige Möglichkeit, in diesen rauhen Zeiten zu überleben; denn der Großteil der Jugend wurde in Ohmenhausen aufgrund der Finanznot der Gemeinde kurzerhand >zwangsmobilisiertc »Arbeitsfähige junge Leute werden nicht unterstützt, sondern nach auswärts zur Arbeit gewiesen«, heißt es in einem Konventsprotokoll des Jahres 1852. 22 Aber >auswärts< war die Situation nicht viel besser und Arbeit ebenso knapp. Schlimm war in diesen Jahren die Lage derer, die schon in >normalen< Zeiten am Rande des Existenzminimums lebten. Sie konnten sich nicht mehr aus eigener Kraft durchbringen, und die Gemeinden waren mit ihrer Unterstützung auf die Dauer überfordert. Mehrere »Ortsarme« wurden deshalb auf Kosten der öffentlichen Kassen nach Amerika geschickt. Der einmalige Beitrag zu den Reisekosten kam die Gemeinde billiger als die nicht enden wollende Pflicht zu ihrer Versorgung. In den Gemeinderatsprotokollen und Oberamtsakten finden sich in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts häufig Einträge wie der folgende: »Am 24. Juni 1852 wurde von den diesseitigen Collégien beschloßen, die ledige Clara Maier mit 3 unehelich geborene Kinder von hier auf Gemeinde Mittel nach . . . Nordamerika zu befördern, weil diese Familie der Gemeinde allejahr einen
27
nicht unbedeutenden Kosten verursachen, weil sie gänzlich unterstützt werden müßen und daher die Unterstützungskosten in 2Jahre so viel als die Beförderungskosten nach Amerika ausmachen. «23 Die Krisenzeit hatte auf das Leben und das Klima im Dorf und in den Familien eine sehr nachhaltige, desintegrative und häufig auch demoralisierende Wirkung: Familien, die für sich und ihre Kinder nicht genug zu essen hatten, wußten nicht, wie sie den Großeltem auf dem Altenteil die schuldigen Naturalien beschaffen sollten, und gerieten mit ihnen in Streit; die Jugendlichen verließen frühzeitig das Dorf auf der Suche nach Essen und Arbeit; Diebstahlsdelikte breiteten sich aus und ließen gegenseitiges Mißtrauen wachsen; die Kluft zwischen arm und reich verschärfte sich usw. Aber auch das Gegenteil war der Fall. Beispiele von großer dörflicher und familialer Solidarität sind bezeugt und Notizen über Geldspenden reicherer Bürger und gegenseitige Hilfeleistungen sind in den Kirchenkonventsprotokollen dieser Zeit keine Seltenheit. Kinder, die »in Folge der Verarmung in den letzten Jahren wenig oder gar nicht mit warmen Kleidern oder Sachen (Schuhen) versehen« waren, geschweige denn genügend zu essen hatten, wurden teilweise von wohlhabenderen Familien mitversorgt und zwar so, »daß ihrer etliche 12-15 je auf eine Woche je von einem Bürger auf den ganzen Tag in Kost genommen [werden] . . . und deren etliche 60 Bürger der besseren Art an die Reihe kommen. « 24 Viele Maßnahmen im Bereich der Armenfursorge kamen auf die Initiative eines rührigen Ortspfarrers zustande, der im Winter 1849 in Zusammenarbeit mit Gustav Werner von Reutlingen und mit der finanziellen Unterstützung der Stuttgarter »Centralleitung des WohltätigkeitsVereins« in O h m e n hausen eine Industrieschule ins Leben rief. 25 Kinder und Jugendliche (vor allem Mädchen), aber auch Erwachsene konnten sich hier durch Stricken und Nähen während der Wintermonate ein paar Kreuzer verdienen oder waren wenigstens an zwei Nachmittagen der Woche in einer warmen Stube beschäftigt. 26 Derartige Maßnahmen auf dem Gebiet des Armenwesens mochten die größte N o t kurzfristig lindern, sie konnten jedoch keineswegs ihre Ursachen beseitigen. Die Armut während der Jahre der Mißernten war in O h menhausen nur deshalb so groß, weil die Agrarkrise die schon lange schwelende Strukturkrise der dörflichen Wirtschaft vollends zum Ausbruch gebracht hatte. Die ökonomische Situation normalisierte sich in Ohmenhausen erst wieder mit dem Anwachsen der Reutlinger Industrie und ihrem Bedarf v. a. an Textilarbeitern. Nach der Erfahrung von über zehn Jahren Not und chronischer Unterbeschäftigung fiel den Ohmenhäusern die U m stellung auf die neuen Arbeits- und Produktionsweisen nicht schwer. Verglichen mit den Risiken der Auswanderung war der Gang in die Reutlinger und Betzinger Fabriken ein zunächst problemloser Ausweg aus der allgemeinen Verarmung. 28
c) Die Zeit der Industrialisierung
1864-1914
Die erste ausfuhrliche württembergische Gewerbestatistik aus dem Jahr 1832 verzeichnete unter der Rubrik »Fabriken und Manufakturen« für die ehemalige Reichsstadt Reutlingen außer einem Pulvermacher mit zwei Arbeitern und zwei Papiermühlen mit zusammen etwa fünfundzwanzig Arbeitern lediglich noch eine weitere Fabrik, eine 1829 gegründete mechanische Wollspinnerei, die in ihrem Fabriklokal knapp über vierzig Arbeiter beschäftigte. 2 7 In den 40er Jahren kam es in Reutlingen und Umgebung zu ersten, in der Regel wenig erfolgreichen Fabrikgründungen vor allem im Bereich der Textilindustrie. 28 Erst nach der Eröffnung der Eisenbahnlinie nach Stuttgart im Jahr 1857 war ein dauerhafter Durchbruch der Industrialisierung und die Etablierung einer lebensfähigen Großindustrie möglich. Im Gefolge der ständig expandierenden Textilindustrie entwickelte sich seither eine beachtliche Maschinenindustrie sowie eine sich vor allem auf die Fertigung von Metallsieben für die Papierherstellung spezialisierende Metalltuchweberei. Die Mehrzahl dieser neuen Fabriken wurde am südwestlichen Stadtrand Reutlingens in Richtung auf den zwischen Reutlingen und Ohmenhausen gelegenen Ort Betzingen gebaut. Hier entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ausgedehntes Industriegebiet. Die 1846 gegründete Zwirnerei Schickhardt war die erste Fabrik, die dort errichtet wurde, die mechanische Weberei Ulrich Gminder die bedeutendste. Im Jahr 1864 mit 48 Webstühlen eröffnet, beschäftigte dieser Betrieb in den 90er Jahren etwa tausend Arbeiter. 2 9 Besonders in die Gminder'sche Fabrik wanderten die Ohmenhäuser zunehmend zur Arbeit. Als erstes Indiz für den wirtschaftlichen Aufschwung im D o r f infolge der neuen Verdienstmöglichkeiten kann wieder die Bevölkerungsentwicklung gelten: Von der Mitte der 60er Jahre an stiegen die Bevölkerungszahlen allmählich, ab Mitte der 70er Jahre sprunghaft an. Die >demographische Schere* schloß sich wieder, Abwanderung war nicht mehr nötig, da es in nächster Umgebung genügend Arbeit gab (vgl. oben Schaubild I). Der Übergang zur Fabrikarbeit als Haupterwerbsquelle vollzog sich allerdings nicht schlagartig. In den 60er Jahren erholte sich zunächst die Hausindustrie noch einmal für einige Zeit. Die Zahl der selbständigen Weberbetriebe stieg ein letztes Mal an, während diejenige der übrigen dörflichen Handwerker bereits stagnierte. 30 Doch spätestens mit Beginn der Gründerzeit vollzog sich auch im Textilgewerbe der Umschwung: Die Zahl der Weber nahm in Ohmenhausen insgesamt zwischen 1864 und 1893 zwar nur leicht ab, aber diese Abnahme ging ganz zu Lasten der selbständigen Betriebe. Denn die Zahl derjenigen, die sich in den Steuerlisten zwar als Weber bezeichneten, aber keine Gewerbesteuer mehr bezahlten, nahm im gleichen Zeitraum beträchtlich zu. Einige von ihnen mögen vielleicht noch zu Hause, am eigenen Webstuhl, für die Fabrikanten im Lohnverhältnis gewoben haben, die meisten werden aber ins nahe Betzingen in die Fabriken gewan29
dert sein. Bis zum Ende des Jahrhunderts war der Strukturwandel der dörflichen Wirtschaft so gut wie abgeschlossen. Nach der Berufszählung vom 14. 6. 1895 gab es in Ohmenhausen noch j e einen Leinen- und Baumwollweber. Der Leinenweber hatte einen Gesellen, acht Familien betrieben die Weberei noch im Nebenberuf. 31 Für das Jahr 1900, fünfJahre später, liegt die erste Pendelwanderungszählung vor: 285 Personen verließen täglich das Dorf, um nach Reutlingen zur Arbeit zu gehen, 1910 waren es nach den Berechnungen v o n j . Griesmaier 378. Das waren jeweils etwa 2 0 % der gesamten oder etwas über 4 0 % der erwerbstätigen Bevölkerung des Orts. Auf die Anzahl der Haushalte umgerechnet ergibt dies im Durchschnitt wenigstens eine Person pro Familie. 32 Gleichzeitig zählte die Bevölkerungsstatistik des Jahres 1895 aber bei 242 Haushaltungen 239 landwirtschaftliche Betriebe: 75 unter einem Hektar, 88 zwischen einem und zwei und 63 zwischen zwei und fünf Hektar. Lediglich 13 Betriebe besaßen jeweils etwas über fünf Hektar Land, der eigentlichen Untergrenze für einen sogenannten Vollerwerbsbetrieb zu jener Zeit. In 9 5 % der Fälle kann die Landwirtschaft also nur noch im Nebenerwerb betrieben worden sein. 33 Die Bedeutung und die Umstrukturierung der Tab. 11/a: Gewerbestruktur Ohmenhausens nach den Berufsangaben in den Steuerbüchern 1744
1761
1781
1801
1827
1844
1864
1882
1893
in absoluten Zahlen Bauern
55
48
47
58
41
44
40
44
39
1
17
25
29
53
66
98
94
86
Gewerbesteuer
-
12
14
19
Bauhandwerker
-
1
5
10
10
16
17
12
14
Metallverarbeitende Gewerbe
1
1
3
6
7
9
8
9
11
1
1
4
6
6
4
6
10
14
21
26
27
29
Textil- und Bekleidungshandwerk D a v o n : Weber mit / o h n e
Nahrungsmittelgewerbe
14/15 25/18 44/31 32/46 13/57
Taglöhner und Fabrikarbeiter
1
-
-
2
Gemeindebedienstete
3
5
6
6
6
5
3
3
3
sonstige Berufe
-
1
6
4
12
20
25
23
26
ohne Berufsangabe
-
-
-
-
7
6
8
9
19
61
74
93
156
193
229
227
237
insgesamt
119
Quellen: SARt/Oh, Steuerbücher Nr. 1044, 1060, 1080, 1100, 1140, 1153, 1178, 1188.
30
Landwirtschaft in Ohmenhausen läßt sich auch anhand der Veränderungen in der Viehhaltung anschaulich zeigen: Der Groß Viehbestand nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts (mit Ausnahme der Pferde) insgesamt zwar zu, jedoch bei weitem nicht proportional zum Wachstum der Bevölkerung. Besonders dem starken Bevölkerungsanstieg des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts entsprach kein Anwachsen des Großviehbestandes mehr. 3 4 Überproportional stieg dagegen gerade in jener Zeit der Bestand an Kleinvieh und Geflügel — ein sicheres Indiz für kleinbäuerliche Nebenerwerbsbetriebe. Die neue Wirtschaftsstruktur des Dorfes, die sich bis zumjahrhundertende ganz durchgesetzt hatte, ist damit deutlich: Es gab nur wenige Familien ohne jeden Grundbesitz und ohne Vieh, es gab allerdings auch fast keine Vollerwerbsbauern mehr. Zuverdienst wenigstens eines Familienmitgliedes in der Industrie war in fast allen Familien üblich und notwendig und brachte in der Regel mehr ein als die im Nebenerwerb betriebene Landwirtschaft. Dieses >duale< Wirtschaftssystem scheint gegen agrarische wie industrielle Krisen eine gewisse Sicherheit geboten zu haben. So schrieb der Oberamtmann bereits nach dem Hagelschaden von 1866 in einem Bericht: »Es müßte auch wirklich schlimm sein, wenn in einer Reihe von günstigen Jahren in einem Bezirk wie dem hiesigen, nicht so viele Ersparnisse angesammelt worden wären, um einen Ausfall in den Erndteergebnissen, wie solchen das Jahr 1866 ergab, und eine Preissteigerung wie die eingetretene, unschwer ertragen zu können. Auch
Tab. Il/b: Gewerbestruktur Ohmenhausens nach den Berufsangaben in den Steuerbüchern 1744 1761
1781
1801
1827
1844
1864 1882
1893
90,1 64,9
50,5
48,7
26,3
22.8
17,5
19,4
16,5
Textil- und Bekleidungshandwerk
1,6 23,0
26,9
24,4
34,0
34,2
42,8
41,4
36,3
Bauhandwerker
-
1,4
5,4
8,4
6,4
8,3
7,4
5,3
5,9
Metallverarbeitende Gewerbe
1,6
1,4
3,2
5,0
4,5
4,7
3,5
4,0
4,6
Nahrungsmittelgewerbe
-
1,4
1,1
3,4
3,8
3,1
1,7
2,6
4,2
Taglöhner und Fabrikarbeiter
1,6
1,7
9,0
10.9
11,4
11,9
12,2
in % Bauern
Gemeindebedienstete
4,9
6,8
6,5
5,0
3,8
2,6
1,3
1,3
1,3
sonstige Berufe
·
-
1,4
6,5
3,4
7,7
10,4
10,9
10,1
11,0
ohne Berufsangabe
-
4,5
3,1
3,5
4,0
8,0
insgesamt
100%
Quellen: SARt/Oh, Steuerbücher Nr. 1044, 1060, 1080, 1100, 1140, 1153, 1178, 1188.
31
die Classe der Handarbeiter befindet sich in hiesigem Bezirk in keiner schlimmeren Lage, als die kleinen Landwirthe; durch die in Ausführung begriffenen Eisenbahnund sonstige Bauten ist jedem Gelegenheit zur Arbeit und angemessenem Verdienst gegeben. Jede öffentliche Fürsorge wäre nach meiner Überzeugung im hiesigen Bezirke bei dieser Sachlage eine verfehlte Maßregel. «3S
Die abschließende Aussage mag zynisch klingen - hier kommt es lediglich auf die Tatsache an, daß sich die Lebensumstände für die Bewohner Ohmenhausens seit den 60er Jahren zu bessern begannen, daß nicht mehr jede Mißernte zu einer Katastrophe führte. In dieselbe Richtung deutet, daß im Bevölkerungswachstum keine Rückschläge mehr eintraten. Zwar gab es bis in die 80er Jahre immer noch Auswanderungen, ökonomische Motive werden dabei aber eine immer geringere Rolle gespielt haben. Massenhafte, zeitlich begrenzte Krisenabwanderungen kamen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr vor. Die Industrialisierung brachte, trotz aller konjunkturellen Schwankungen, wieder etwas Stabilität in das Leben der Ohmenhäuser und beendete die langen Jahre der Unterbeschäftigung und Not. Dies traf vor allem für die Jugendlichen zu. Denn sie hatten die Möglichkeit, in den nahen Fabriken Arbeit zu finden, als erste aufgegriffen. Statt auf Wanderschaft zu gehen, blieben sie nun zu Hause wohnen und pendelten täglich nach Betzingen oder Reutlingen. Dies war eine folgenreiche Veränderung des traditionellen Lebens- und Familienzyklus, die ein relativ frühes Ausscheiden der Kinder aus dem elterlichen Haushalt vorsahen. Der stufenweise Eintritt ins Erwachsenenalter entfiel durch diese verlängerte Koresidenz. Die stärkere ökonomische Sicherheit mußte - wie im folgenden zu zeigen sein wird - mit anderen Problemen vor allem des familialen Zusammenlebens, aber auch der Arbeitsdisziplin und Arbeitsbelastung >erkauft< werden. 2. Industriearbeit und bäuerliche Mentalität: Zum Wandel von Wertordnungen Wirtschaftlicher und sozialer, materieller und immaterieller Wandel verlaufen nicht parallel, die Unterschiede in den Entwicklungsgeschwindigkeiten der einzelnen Ebenen und Sektoren einer Gesellschaft sind erheblich. Es sind aber gerade diese »Verwerfungen« (Neuloh) innerhalb eines Sozialsystems, die die Aufmerksamkeit nicht nur einer Geschichte der Mentalitäten, sondern besonders auch der historischen Familien- und Jugendforschung auf sich ziehen müssen. Denn solche >Widersprüche< bilden zum einen die zentralen Koordinaten eines Sozialisationsmilieus und zeigen die >harten. . . meinst Du, man könnte Ferien machen? Ist es soweit, daß man heuen kannjetzt?Resort< fielen, beschäftigt: 35
» . . . und wenn er [der Vater] dann heimkam um viertel acht U h r abends im Winter, dann hat er gegessen und dann ist er hinunter in die Waschküche und dort hat er noch eine Stunde von Hand Holz gesägt. So war's. Beim Licht von einer Laterne oder Erdöllampe. Ich weiß noch gut, als das Elektrisch' gekommen ist. «
Das Problem der Koordination der Fabrikarbeiter konnte vom Besitzer der Produktionsmittel autokratisch entschieden und in eine Arbeitsordnung umgewandelt werden. Der Flurzwang in der Landwirtschaft dagegen war das Ergebnis eines kollektiven Entscheidungsprozesses der Gemeindegenossen, eingebunden in lokale Traditionen und Rechte. Das deutet auf eine weitere Besonderheit dörflicher Zeiteinteilung: ihre Verbindung mit sozialen Ereignissen, Institutionen und bestimmten Personen. Diese >konkrete< Zeit war die Grundlage und der Ausdruck eines (ehemals) einheitlichen Lebenszusammenhangs. 8 Die Morgenglocke zum Beispiel schickte noch nach dem Ersten Weltkrieg die Kinder zur Schule. Beim Läuten der Betglokke, jeweils bei Einbruch der Dämmerung, mußten alle unkonfirmierten Kinder von den Straßen in die Häuser verschwinden - ein ehernes Gesetz, an das viele Ohmenhäuser noch ihre >traumatischen< Erinnerungen haben: »Vor der Betglocke hat man Angst gehabt, ich auf alle Fälle, da hat bloß der Pfarrer oder der Lehrer oder sonst jemand kommen dürfen und >zackOrtszeit< verweigerten und ermahnt werden mußten, »auch bei den Wohnungen an der Steige regelmäßig zu rufen«, so ist dies ein deutlicher Beleg für die »soziale Konstitution« (Heinemann/Ludes) und Bedeutsamkeit lokaler Zeitsysteme. Der Ausschluß aus der — im doppelten Sinn des Wortes - >Zeitgenossenschaft< enthielt auch den aus der jenes Zeitbewußtsein begründenden Gemeinschaft. 9 Dennoch war Ohmenhausen keine Insel, abgekoppelt vom Lebensrhythmus der restlichen Welt. Man mußte auf Ämter, auf den Markt, hatte Termine, sollte rechtzeitig in der Fabrik sein. Die >offizielle< Zeit spielte im Leben der Ohmenhäuser durchaus eine Rolle. Man >besaß< sie schon seit langem in Form der Kirchturmuhr und hütete sie dort wie das Feuer im Herd. (Wenn jedenfalls der Schul-Provisor seine Pflicht zur Wartung der Dorfuhr versäumte, geriet er regelmäßig in Schwierigkeiten mit der Dorfobrigkeit.) Aber diese Uhr-Zeit regulierte mehr die Außenkontakte der Ohmenhäuser. Für den Ablauf des täglichen Lebens im Ort war noch um die Jahrhundertwende die Zeitmessung in ihrer >konkretisiertenDas walte Gott der Helfen kann . . .neue Zeit< nach Ohmenhausen; denn mit der peniblen, an der >abstrakten< Uhrzeit orientierten Pünktlichkeit verband er eine neue Sicht des Lebens: » U n d das hat er immer wieder zu uns gesagt: Ein Vater müsse das Bestreben haben, daß sein Sohn eine Stufe höher k o m m t als er selber [hochdeutsch gesprochen]. So hat er einen unterrichtet. . . . Wenn einer etwas können hat, aus dem hat er das Letzte herausgeholt. «
Wer den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie über Generationen hin plant, der hat in Sekunden zu rechnen. Die Ohmenhäuser Perspektive war das nicht, der Lehrer erntete deshalb mehr Unverständnis als Bewunderung. Die systematische Planung der Zukunft, das Hocharbeiten und >Emporzeugen< noch durch Enkel und Urenkel lag außerhalb des Horizonts derer, die allenfalls den drohenden Abstieg verhindern konnten, denen das eigene Häusle näher lag - liegen mußte - als die gesellschaftliche Position ihrer Nachkommen. Entsprechend unterschiedlich war der U m g a n g mit der täglichen Zeit. 1 0 Wie der Tag so hatten in Ohmenhausen auch die Woche und das Jahr noch bis in dieses Jahrhundert ihre bestimmten traditionsgebundenen Zäsuren: Wochengottesdienste, Sonntage, K o m m - T a g e der Verlobten, Martini, Lichtmeß, Päcklesnacht, Pfeffernacht u s w . 1 1 Auch wenn die Einschnitte im 37
bäuerlichen Arbeitsjahr oder die kirchlichen Feste in O h m e n h a u s e n a u f g r u n d der veränderten Arbeitssituation f ü r die E r w a c h s e n e n allmählich an B e d e u t u n g verloren, so b e w a h r t e d o c h das J u g e n d b r a u c h t u m eine M e n g e auf das dörfliche Gemeinschaftsleben bezogener > Terminen N o c h nach d e m Ersten Weltkrieg gingen v o n M a r t i n i bis Lichtmeß die M ä d c h e n auf die Lichtstuben, die B u b e n auf die » Ä b b e h e « , 1 2 gab es b e s t i m m t e Tage b z w . N ä c h t e , an denen sie sich treffen d u r f t e n oder an denen Tänze stattfanden. Das Freizeitleben der J u g e n d l i c h e n - auch das der F a b r i k j u g e n d - w a r n o c h ganz auf O h m e n h a u s e n bezogen u n d d e m dörflichen Z e i t s y s t e m u n t e r w o r fen. Keiner verbrachte den Feierabend mit Freunden aus der Fabrik in den Wirtshäusern v o n Reutlingen oder Betzingen. Die eigentliche B e z u g s g r u p pe w a r u n d blieb vielmehr der Jahrgang, die G r u p p e der gleichaltrigen K a m e r a d e n i m D o r f . D e n n auch i m eigenen Lebenslauf spielten f ü r die Jugendlichen das G e b u r t s d a t u m u n d daraus sich ergebende Einschnitte eine viel geringere Rolle als die Z u g e h ö r i g k e i t zu einer solchen G r u p p e v o n Jahrgängern. D a r a u s zogen sie ihre altersspezifische Identität; d e n n w i e die E r f a h r u n g des alltäglichen Lebens- u n d A r b e i t s r h y t h m u s ' w a r i m D o r f auch die W a h r n e h m u n g des Ablaufs der eigenen Lebenszeit u n d der eigenen Zeitlichkeit an soziale Institutionen u n d Interaktionen g e b u n d e n . 1 3 N o c h u m die J a h r h u n d e r t w e n d e w a r das dörfliche Z e i t s y s t e m ü b e r w i e gend gemeinschaftsbezogen u n d nicht individualisierend; es w a r physisch erfahrbar u n d konstituierte über seine k o n k r e t e Manifestation in Institutionen, Bräuchen u n d Personen eine gewisse, die Hierarchie der sozialen Schichten ü b e r d e c k e n d e Einheit i m D o r f .
b) Christlicher Glaube und Kirchlichkeit I m Jahr 1757 o r d n e t e die reichsstädtische Kirchenleitung in Reutlingen an, daß die bei den Kirchen Visitationen auf den D ö r f e r n v o r g e k o m m e n e n Klagen u n d g e t r o f f e n e n A n o r d n u n g e n »zur i m m e r w ä h r e n d e n E r i n n e r u n g u n d sorgfältiger B e o b a c h t u n g « schriftlich niedergelegt w e r d e n sollten. 1 4 D e r erste Eintrag i m O h m e n h ä u s e r P r o t o k o l l b u c h lautete: »1. daß niemand von der allhiesigen Gemeinde fernerhin an Sonn-, Fest- und Feyertägen nach Reuttiingen, Tübingen oder anderswohin vor der Predigt und Kinderlehr über Feld gehen solle; auch solle nach der Kinderlehr, oder gleich nach der Predigt das zur bösen und ärgerl. Gewohnheit gewordene und mit vielen Sünden verknüpfte über Feld lauffen gänzlich verbotten und nur im Nothfall . . . 2. Werden alle an Sonn- und Feyertägen in und außer dem Flecken [= Ortschaft] ausgeübte Üppigkeiten, als: übermäßiges eßen und trincken, saufen, spielen, kegeln und dergleichen bey ernstlicher Straff gänzlich verbotten; hingegen wird die ganze christl. Gemeinde zur andächtigen und gottwohlgefälligen Heyligung der Sonn-, Fest- und Feyertäge, wie auch zur fleißigeren Besuchung der Gottes-Dienste in der Wochen ernstlich vermahnt. . . . 38
3. Sollen zwischen den Predigten an Sonn-, Fest- und Feyertägen, wie auch in der Wochen, unter der Donnerstags Predigt zwey Richter in dem Flecken umgehen, allen unfug, unordnung und lermen, so dem Gottesdienst und Sabbathsheyligung zuwider, steuren und das, was sie strafbar finden, dem Kirchen-Convent zu gebührender Strafe anzaigen. . . . « 1 5
Im 18. Jahrhundert waren die kirchlichen Pflichten der Gemeindeglieder außerordentlich umfangreich: Zusätzlich zum Gottesdienst am Sonntagvormittag fand nachmittags eine Kinderlehre statt. Das war eine Auslegung ausgewählter Stellen des Katechismus durch den Pfarrer, zu der die ledige Jugend (bis zum 24. Lebensjahr) vollständig zu erscheinen hatte, und der auch die übrige Gemeinde beiwohnen sollte, da im Anschluß an diese Katechesen die Jugendlichen öffentlich darüber geprüft wurden, und die Eltern sich v o m Kenntnisstand ihrer Kinder überzeugen sollten. Unter der Woche waren außerdem ein Abendgottesdienst und ein bis zwei Betstunden abzuhalten. Gleichzeitig wurde versucht, das Verhalten der Gemeindeglieder an den Sonn- und Feiertagen und während der Gottesdienste genau zu reglementieren. Dies hatte seine Gründe. Denn bereits im 18. Jahrhundert war in Ohmenhausen die Kirche keineswegs immer voll, verbrachten viele Bürger diese Zeit lieber mit »wercktäglichen Geschäften« oder im Wirtshaus. Die Gemeinderäte, die während der Gottesdienste durch das D o r f zu gehen und darüber zu wachen hatten, daß niemand im Stall, auf dem Feld oder im Gasthaus anzutreffen war, und daß die ledige Jugend vollzählig in der Kirche saß, machten ihre Streifzüge deshalb selten umsonst. 1 6 Im 18. und besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen Delikte wie »Sonntagsentheyligungen« und vor allem das >Schwänzen< der Kinderlehre durch die Jugendlichen beträchtlich zu. 1 7 Daraus jedoch bereits auf Veränderungen in der Religiosität der Bevölkerung schließen zu wollen, wäre sicher verfehlt. Wenn zum Beispiel an einem Dezembersonntag des Jahres 1821 drei Männer während der Predigt im Wirtshaus angetroffen oder an einem Sonntag im September 1822 gleich eine ganze Reihe Leute beim Grasholen ertappt wurden, so mag dies ein spontaner Ausdruck von Unlust, die Folge hoher Arbeitsbelastung oder auch eine >traditionelle< Form der Kritik an den unpopulären materiellen Forderungen der Kirche gewesen sein. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß damit eine prinzipielle Abkehr von der christlichen Religion und Kirche zum Ausdruck gebracht werden sollte. Auch die pfarramtliche Berichterstattung legt einen derartigen Schluß auf veränderte religiöse Einstellungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nahe. Bei den Pfarrvisitationen selbst kam es zwar gelegentlich zu Ermahnungen des Dekans, insgesamt jedoch verliefen auch die Schul- und Gemeindeinspektionen stets zur vollen Zufriedenheit der Visitatoren. Erst nach 1850 veränderten sich die Berichte der Pfarrer über das geistliche Leben in Ohmenhausen wesentlich, verwiesen ihre Klagen auf einen deutlichen Wandel in der Religiosität zumindest eines Teils der Bevölkerung: 39
»Werktags ist die Kirche so gut wie nicht besucht. Auch gibt es einige, welche überhaupt nicht zur Kirche gehen. Es ist dies besonders dem Einfluß von außen zuzuschreiben, wie denn Vorjahren, als die sozialdemokratischen Wogen hochgingen, dieselben auch hier sich nicht unbemerkt ließen. « 1 8 U n d schon im Jahr 1872 hatte es im Pfarrbericht geheißen, »daß ein nicht unbedeutender Theil der Bevölkerung von der Theilnahme am Gottesdienst sich zurückgezogen hat, wie denn in der That ein ganzes Quartier des Dorfes in dem Renomeé steht, die Kirche nur höchst selten zu besuchen. « 1 9
Die tägliche Fabrikarbeit eines Großteils der Bevölkerung und das damit nach Ohmenhausen gekommene sozialdemokratische Gedankengut scheinen erstmals einen wirklichen religiösen Gesinnungswandel eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung bewirkt zu haben. Das Fernbleiben eines ganzen »Quartiers des Dorfes« vom sonntäglichen Gottesdienst seit den 70er Jahren jedenfalls war die sozial genau lokalisierbare Demonstration eines Gesinnungswandels: Es waren die Fabrikarbeiter, besonders diejenigen, die im Armenviertel, dem Schneckendörfle, wohnten, die als erste den (sozial-) »demokratischen Lockstimmen« erlagen und sich der gemeinsamen Feier des Sonntags nicht nur aus Erschöpfung, sondern auch aus Prinzip entzogen. 2 0 Besonders auffällig wird diese >Säkularisierungstendenz< vor dem Hintergrund der starken pietistischen Glaubenstradition, die sich zur selben Zeit in den mehr agrarisch bestimmten Nachbardörfern etablierte. Auch dies bestätigt in gewisser Weise die pfarramtliche Darstellung, daß zwischen der in Ohmenhausen eingetretenen >Entkirchlichung< und der zunehmenden Fabrikarbeit der Bevölkerung eine enge Verbindung bestand. Der Pfarrbericht des Jahres 1894 gab eine sehr materialistische Erklärung fur die Gründe jenes Zusammenhangs: »Nach der Meinung der Leute bietet die Industrie einen sicheren bleibenden Verdienst. Vor 5—6 Jahren hatten sie noch großes Mißtrauen in die Lebensfähigkeit derselben gesetzt. Dieses Gefühl der Erwerbssicherheit zerstört wesentlich auch die letzten Reste von religiösem Abhängigkeitsgefühl. Für christliches Interesse haben nur wenige Familien einen Sinn. « 2 1
Ob diese Erklärung des Pfarrers zutrifft, ob die materielle Sicherheit, die die Fabrikarbeit zu geben schien (zum Zeitpunkt des Berichts lag die Gründerkrise erst wenige Jahre zurück!), wirklich einen derartigen Gesinnungswandel bewirken konnte, kann hier nicht erörtert werden. Sie erscheint in dieser Zuspitzung mehr als zweifelhaft. Auf jeden Fall aber kamen zu dem Verlust des »religiösen Abhängigkeitsgefühls« durch materielle Sicherheit andere Faktoren, die einen sehr viel direkteren Einfluß auf das kirchliche Verhalten der Bevölkerung ausübten. Dazu zählte zum einen die Aufhebung weltlicher Strafen für Verstöße gegen die Kirchenordnung. 22 Zum anderen war dies die Ausbreitung des Vereinswesens. In Ohmenhausen warben im 40
letzten Drittel des Jahrhunderts immer mehr Vereine um Mitglieder und Publikum für ihre Veranstaltungen, die bei der Arbeitsbelastung während der Woche nur an den Sonntagen stattfinden konnten. So kam es zu ständigen Reibereien mit dem Pfarramt. Im Jahr 1898 beschwerte sich dasselbe in einem Bericht an die Kirchenleitung: »Für das gesellige Leben w i r d ausgiebig gesorgt durch einen Militär- und einen Gesangverein. Letzterer ist der eigentlich beherrschende Faktor in hiesiger G e m e i n de. Geleitet v o n einem Fabrikarbeiter als Vorstand, hat dieser Verein seit 1 Vi Jahren d. h. seit der Zeit, da der Geistliche es wagte, einen Kirchenchor zu gründen, in häßlicher Weise gegen den letzteren und den Geistlichen agitiert. . . . Es war beabsichtigt durch Wegbleiben v o n der Kirche u. durch gesellschaftliche B o y k o t t i e r u n g desselben seinen Weggang zu erzwingen. « 23
Am meisten schien den Pfarrern die männliche Jugend entglitten zu sein. Das hatte seinen Grund weniger in der Ausbreitung des Vereinswesens, als vielmehr in einer Opposition der traditionellen Jugendgruppen gegen die kirchliche Jugendarbeit, die sich explizit gegen das alte Lichtstubenwesen und gegen diese Jugendgruppen richtete. Nach der Jahrhundertwende gelang es zwar einen christlichen >Jünglingsverein< zu gründen, die Kameradschaften der Jugendlichen, d. h. ihre Organisation nach Jahrgängen, blieben aber die weitaus wirksamere Instanz des (selbst-) organisierten Jugendlebens am Ort. 2 4 Der Versuch einer moralischen Spaltung der Jugend durch die Pfarrer in einen kirchlichen und einen weltlichen Teil, in >christlichejünglinge< und >ledige Burschen< im alten Sinn führte daher zu einer Entfremdung der letzteren von der Kirche und zu einer Beschleunigung des allgemeinen Gesinnungswandels : » U n d hauptsächlich spielt die konfirmierte männliche J u g e n d eine unerfreuliche Rolle. . . . Außer den Mitgliedern des Jünglings vereins bezeugt es nur ein geringer Teil durch die Anwesenheit am Sonntag im Gottesdienst, daß noch ein Gefühl f u r höhere Interessen und die Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t da ist.« 2 5
Jedoch bedeutete das Fernbleiben von der Kirche keineswegs einen dezidierten Atheismus dieser Bevölkerungsteile; denn zumindest das kirchliche Brauchtum stellte trotz aller Veränderungen weiterhin ein wichtiges Orientierungssystem für den individuellen Lebenslauf wie für das Zusammenleben in Dorf und Familie dar. Der Pfarrbericht des Jahres 1882 betonte in diesem Zusammenhang: »Die Luft in der die Leute als Fabrikarbeiter zumeist leben, mitsamt der g e g e n w ä r tigen Z e i t s t r ö m u n g erklärt Vieles. Trotzdem entschließt man sich nicht leicht zu Kirchenaustritten; und es ist auffallig, mit welcher Pünktlichkeit diejedes Mal fällige Kirchensteuer bezahlt w i r d . Auch werden keine Kinder v o m Religionsunterricht und v o n der Konfirmation zurückgehalten. Es bildet die Konfirmation noch i m m e r eine im Volk verwurzelte Sitte. Aber damit erledigt sich auch fur die g r o ß e Zahl das Verhältnis zur Kirche. « 25a
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Das Festhalten an kirchlichen Feiern wie Taufe, Konfirmation und Hochzeit sowie die Mitgliedschaft in der Kirche überhaupt war noch um die Jahrhundertwende flir die ganze Gemeinde eine Selbstverständlichkeit. Dies ist ein Befund, den die Kirchenregister wie auch die Aussagen der alten Ohmenhäuser Bürger voll bestätigen. Ob allerdings auch das Bild von der Entkirchlichung und dem religiösen Desinteresse, wie es hier anhand der Pfarrberichte gezeichnet wurde, mit der Wirklichkeit, d. h. mit den religiösen Gefühlen und Einstellungen der Ohmenhäuser, übereinstimmte, muß zumindest mit Vorsicht betrachtet werden. Denn die Pfarrberichte sind eine Quelle, der selbst in der Beurteilung des »geistlichen Zustands« einer Gemeinde nicht rückhaltlos getraut werden kann. Zu oft fungierten derartige Meldungen an die Kirchenleitung als Rechtfertigung für die Schwierigkeiten und Mißerfolge der jeweiligen Pfarrer. Benützt man daher in diesem Zusammenhang die Erinnerungen der alten Ohmenhäuser Bürger als Korrektiv, so stellt sich der >Entkirchlichungsprozeß< kaum als so fortgeschritten und auf keinen Fall als so eindeutig in seiner soziologischen Zuordnung dar wie in den Pfarrberichten. Fragen nach der Überwachung des sonntäglichen Kirchgangs der Jugendlichen durch ihre Eltern oder nach der Regelmäßigkeit ihres Besuchs der Christenlehre wurden häufig wie in dem folgenden Gesprächsausschnitt beantwortet: A: »Nach der Schule hatte man zwei Jahre in die Christenlehre müssen. . . . Jeden anderen Sonntag. U n d wenn man da gefehlt hat, dann ist man abgelesen worden in der Kirche. U n d der, w o da gefehlt hat, da haben die Weiber schon aufgepaßt - « B : »Natürlich, hat es da geheißen, von denen da, von der Rasse da, das sind doch keine rechten!« . . . A: »Ab und zu hat man aber das Büchle abgelegt und ist nicht gegangen und ist mit den Kameraden. Und wenn man dann später heimgekommen ist - « B: »Dann hat man schon eine Lüge gewußt!« A: »Meine . . . [Mutter] hat sie aber meistens nicht geglaubt, und meinem Vater ist es Wurst gewesen. « 2 6
Es gab nach der Jahrhundertwende, zur Zeit der Kindheit und Jugend dieser alten Leute, in Ohmenhausen Familien (auch Arbeiterfamilien), die sehr streng über den Kirchenbesuch ihrer Kinder wachten, andere waren dabei etwas laxer, selten war eine jedoch ganz gleichgültig. Die Frauen erwiesen sich, durch ihren persönlichen Glauben wie durch ihre scharfen Rügen, als die eigentlichen Hüterinnen der Religion im Dorf, während manchen Männern die religiöse Erziehung der Kinder eher gleichgültig war. Diese weltanschaulichen Brüche gingen durch viele Familien und trennten nicht mehr allein die Fabrikarbeiterschaft von den Bauern und Handwerkern. Dies markiert einen entscheidenden Wandel des Sozialisationsmilieus. Von einem einheitlichen Stil der religiösen Familienerziehung kann man im Gegensatz noch zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Ohmenhausen nicht mehr ausgehen. Daraus wie auch vor allem aus der Tatsache, daß dann in den Jahren nach dem Ersten 42
Weltkrieg Kirchenaustritte und standesamtliche Trauungen mehrfach vorkamen, läßt sich doch schließen, daß sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, das heißt im Verlauf von zwei bis drei Generationen, eine nachhaltige Lockerung der Bindungen an die Kirche und ihre Lehren bei einem immer größer werdenden Teil der Bevölkerung durchsetzte. Dieser Prozeß war mit Sicherheit nicht ganz so extrem, wie er in den Pfarrberichten dargestellt wurde, aber es war eine Entwicklung, die das ganze Dorf umfaßte, und die sich im Gegensatz zu den 1870er Jahren nach der Jahrhundertwende sozial nicht mehr exakt verorten ließ. 27
c) Politik Allgemeines
Wahlrecht
Wir sassen da im leichten Wortgefechte. Doch bald erhob es sich zu ernsten Dingen: Wie sich zu hohem Ziel emporzuschwingen Beschieden war dem heutigen Geschlechte. Da sprach ein Weib: Wie Grosses ist's, ich dächte In freier Wahl u m ' s Volkes Wohl zu ringen! Was m u ß ein deutscher Mann entgegenbringen An eig'nem Wert denn diesem heil'gen Rechte? Jetzt stand ein Bauer auf, nah unsrem Kreise, Wir dachten nicht, zu uns ihn auch zu zählen, Z o r n f l a m m e n d drang sein Blick in unsre Seelen. Verzeiht, er sagte es halt auf seine Weise >Ein jeder Lump darf in den Reichstag wählen, vermag er nichts, als eine Kapp' voll Läuse.
Der Bauer, dessen U n m u t hier in die politische Lyrik< einging, stammte wahrscheinlich aus Ohmenhausen, das Gedicht aus den »Geharnischten Sonetten«, die Pfarrer Bunz kurz nach seinem Abzug von dort veröffentlichte. 2 8 Das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht des Deutschen Reiches lief den Auffassungen beider, des Bauern wie des Pfarrers, sehr zuwider; denn sie kannten ihre Ohmenhäuser. Wer nichts hatte als die Läuse auf dem Kopf, dem ließ sich auch leicht noch ein Floh ins Ohr setzen: »Der Volksfreund«, eine sozialdemokratische Zeitung, die - laut Pfarrbericht - auch den Ohmenhäusern »von Tübingen aus durch einen eigenen Kolporteur aufgedrungen wurde«, fand in diesen >lausigen< Kreisen seine Leser, und nicht wenige von ihnen erlagen den »demokratischen Lockstimmen«. 2 9 Ohmenhausen war, wie Pfarrer Bunz im eingangs zitierten Pfarrbericht bemerkte, 3 0 topographisch, sozial und weltanschaulich in »zwei Theile« gespalten, und der zweite Teil - ursprünglich durch die Arbeiter bzw. Taglöhner des Schneckendörfles repräsentiert - war politisch entschieden 43
demokratisch, wenn nicht sozialdemokratisch eingestellt. Diese Fraktion wuchs mit der Industralisierung zunehmend und prägte schließlich den Charakter des Ortes. Am Anfang dieses Jahrhunderts war Ohmenhausen ein weitgehend sozialdemokratisches Arbeiter-Bauerndorf, und selbst bei der Reichstagswahl vom März 1933 standen den 256 NSDAP-Stimmen noch 469 für die SPD und 100 für die Kommunisten gegenüber. »Was das politische Parteileben angeht, so herrscht Einhelligkeit in Hinsicht auf die demokratischen Grundpositionen«, hieß es im Pfarrbericht von 1898, der sich auch darüber beschwerte, daß selbst der Lehrer offen für die Sozialdemokratie warb. 3 1 In den lokalen Wahlen war allerdings von diesem politischen Linkstrend nichts zu spüren. Die alten dörflichen Herrschaftsstrukturen blieben noch bis in dieses Jahrhundert hinein erhalten. Es verstand sich geradezu von selbst, daß sämtliche Mitglieder des Gemeinde- und Kirchengemeinderats bzw. Kirchenkonvents der agrarischen Oberschicht des Dorfs angehörten. Im November 1866 mußten zum Beispiel drei Pfarrgemeinderäte, da sie sechs Jahre im Amt waren, dieses Gremium verlassen bzw. sich einer erneuten Wahl stellen. Diese fand am Sonntag, den 11. November 1866 statt. Die männliche Bevölkerung Ohmenhausens war aufgerufen, aufs Rathaus zu kommen; die Wählerliste umfaßte 179 Namen. Der Andrang blieb jedoch gering. Lediglich 18 Männer gingen zur Wahl. Dabei »erhielten Stimmenjohann Gg. Kunz, Gderath u. bisheriger Pfarrgem. mit 13 Stimmen. Jac. Kunz, Schäfer u. bish. Pfarrgem. mit 13 Stimmen; Joh. Ruckhäberle, Gderath u. bisheriger Pfarrgem. mit 12 Stimmen; also die 3 bisherigen mit Stimmenmehrheit wiedergewählt.« 32 So ging das mit bestechender Regelmäßigkeit alle drei Jahre: Die alten Kirchengemeinderäte wurden im Amt bestätigt, neue Kandidaten aus den Unterschichten hatten keine Aussicht auf Erfolg. Dieses Spiel der Selbstergänzung der Gremien aus der lokalen >Aristokratie< wiederholte sich bei den Gemeinderats- und erst recht natürlich bei den Schultheißenwahlen bis in dieses Jahrhundert hinein. 33 Allein der Besitz öffnete während des 19. Jahrhunderts den Zugang zu den lokalen >Zentren der Machtc dem Schultheißenamt, den Richter- und Gemeinderatsposten. Dementsprechend waren solche >Ehrenämter< über gut einhundert Jahre in den Händen von kaum mehr als zehn Familien. 34 Es ist erstaunlich, wie perfekt die örtliche Dynastiebildung funktionierte. Erstaunlich erstens deshalb, weil das Verhältnis der Bürgerschaft zu ihrer Obrigkeit vor allem zur Zeit der Hungerkrisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht gespannt war; zweitens, weil die württembergische Gemeindeverfassung durchaus die Wahl anderer Leute zugelassen hätte. 3 5 Folgende Notiz des Pfarrers Bunz erklärt das Phänomen: »Die hiesigen Bürger zerfallen in zwei durch Interessen und Arbeit getrennten Gruppen. Früher waren es Bauern und wenige Taglöhner, zugleich Weber. Der
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Taglöhner stand in einer gewissen Hörigkeit zu seinem Bauern. Er arbeitete fast ausschließlich bei ihm, der Bauer leistete ihm die Fuhren, lieh ihm Geld usw. Beide rechneten meist ab und bezahlten nicht bar. Wurde ein Schultheiß gewählt, so schrieb der Taglöhner den N a m e n seines Bauern neben anderen zwei auf seinen Wahlzettel, eben der Hörigkeit wegen. Jetzt lockern sich diese Verhältnisse mehr, einmal durch die Zunahme der Bevölkerung und darum auch der Taglöhner, dann auch dadurch, daß letztere häufig Fabrikarbeiter werden. So ist der Unterschied zwischen diesen und den Bauern. « 3 6
Die materielle Abhängigkeit eines Großteils der Bevölkerung von der Oberschicht bedingte eine »gewisse Hörigkeit« auch im Bereich des öffentlichen Lebens und machte bei den nur wenig geheimen, namentlichen Abstimmungen >Ungehorsam< und damit ein Eindringen in die politische Domäne der Oberschicht unmöglich. Der einzige Weg des Protestes war, überhaupt nicht zur Abstimmung zu gehen - wovon sehr >eifrig< Gebrauch gemacht wurde. 3 7 Die bäuerliche Aristokratie hatte noch zu Beginn dieses Jahrhunderts das D o r f fest in der Hand. Sie waren die >Herren< des Orts und wurden von den übrigen Einwohnern auch so genannt. 3 8 Während des 19. Jahrhunderts war es, besonders in Zeiten der Not, zu teilweise scharfen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Herrschaft gekommen, die sich meistens um die Austeilung von Allmandland drehten: Die reichen Viehbesitzer wollten das Gemeindeland als Weideflächen behalten, die armen Taglöhner wollten es zu Kartoffeläckern umlegen. 1819 stürmten aus diesem Grund über 100 Bürger das Rathaus, als dort der Gemeinderat über die Verwendung des Gemeindelandes beriet. 3 9 Wie stark der Haß auf die »Herren«, die Heiratsverbote und Strafen aussprachen, Leute nach Amerika verschickten und die Steuern eintrieben, teilweise war, zeigen Briefe wie der folgende: August den 2 1868 Ich wiel auch wie es geht und stehd bei mir [und] was meine gesinig ist [schreiben]. Ich ben Gottlob gesund. Wen[n] mein schreiben euch gesund andrift wird es mich freien. Wie ich es erfahren hab, had es mir nicht gefallen. Die missen es wider herausbezahlen bei Heller und Pfennug so bald als meglich. Oder ich wende mich an daß Oberambd, so wird es schon gehen. Ist es denn nicht genug, daß diejutten mich beschißen haben um 30 Gulden und sie mir noch das kleine Erb[h]aben wollen. Es hat mich aus d e m m Ord getriben. Wie kommen die Herren dazu u. Sie Sind nemmer werd daß die Sonne Ihne scheind, sih sind in keine Kirche mehr fehig. Es muß herausgegöben sein so bald als meglich ist. Wie fiele haben sie schon schlöchde ford geschigd und das Geld von der gemeinde das ich [?] geben und mir als Armmer Mensch Abstellen daß ist vo Teufel ned rechd und fon Gott ist es nicht zu sprechen. Die Herren sind im Teufel u. schlechd, sonst kennde se so Armen Menschen daß Geld nicht abnüme. U n d schigen mir es zu so bald als meglich sein kann oder ich laß Englisch schreiben an daß Oberhaubd ist es nicht genug daß sie haben mich fordgetrieben ich wil wenschen das ihnen rechd schlechd gehd Martin K r u m m Das ist an die Herren der Brief. 4 0
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Mit der Fabrikarbeit löste sich die Abhängigkeit der Unter- von den Oberschichten. Dies schlug sich in den Gemeinderatswahlen nieder: Von den späten 70er Jahren an wurden auch Angehörige der unteren Mittelschicht in die örtlichen Gremien gewählt, aber erst in diesem Jahrhundert und sehr zum Ärgernis der alten Bauern, auch ein Fabrikarbeiter. Ein alter Ohmenhäuser Bürger erinnerte sich noch in symptomatischen Formulierungen an den U n m u t der Bauern anläßlich dieser Gemeinderatswahl: »Und die Bauern, wenn die beieinander gehockt sind im Adler am runden Tisch . . . da haben sie i m m e r gesagt: Solche Kerle auf dem Rathaus droben, die wissen ja nicht einmal das hintere Feld. Was versteht denn der von einem Acker oder einem Stückle Wies'. Solche können wir grad' noch brauchen!« 4 1
Die Veränderung der alten dörflichen Machtstrukturen ging auch nach der Auflösung der alten, halbfeudalen Abhängigkeitsverhältnisse nur langsam vor sich. Man hatte sich offensichtlich an die lokalen Dynastien gewöhnt und brauchte sie nun, nach der Lösung dieser Bindungen, auf eine andere Weise: Sie hielten die bäuerliche Tradition im Ort aufrecht und waren das, was alle Ohmenhäuser in ihrer >Freizeit< waren und eigentlich gerne dauernd gewesen wären: Bauern. Noch nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte somit jene für eine ArbeiterBauern-Gemeinde symptomatische Trennung von >Dorfpolitik< und >großer Politik< das Wahlverhalten der Ohmenhäuser. In Land- und Reichstagswahlen wählte man mit großer Mehrheit die traditionellen Arbeiterparteien. Für die »Herren« im Dorf hielt man jedoch bäuerliches Wissen für wichtiger als die gesellschaftspolitische Couleur. Was Pfarrer Bunz 1874 formulierte, hatte auch noch nach der Jahrhundertwende seine Geltung behalten: Die Entstehung des Proletariats fand in Ohmenhausen nicht statt. 42 d) Tägliche
Arbeit
Der schwäbische Fleiß ist sprichwörtlich, und die Ohmenhäuser machen hier keine Ausnahme: Bereits in den Pfarrberichten des 19. Jahrhunderts wurde ihnen mit stereotyper Regelmäßigkeit »Arbeitsamkeit«, »Fleiß und Rührigkeit« 43 attestiert. Sie waren als Knechte, Mägde, Wald- und später auch Fabrikarbeiter in Reutlingen und Umgebung gesucht. Noch heute ist im Spiegel der von uns geführten Interviews - das abstrakte >SchaffenKönnen< eine der wichtigsten Fähigkeiten, nach der diese älteren Bürger sich selbst und andere beurteilen. »Aber der [Großvater] hat tüchtig geschafft, i m m e r noch im Stall mitgeholfen und gefüttert und ist nicht krank gewesen, er ist erst ins Bett, w o er gleich drauf gestorben ist. An dem hat man immer eine Hilfe gehabt. «
Unabhängig von Alter, Geschlecht und Gesundheit, unabhängig auch von der Art der Tätigkeit: ob auf dem eigenen Acker, ob in der Fabrik oder 46
im Handwerksbetrieb scheint durch den Arbeitszwang von alters her und klein auf das Schaffenkönnen und -wollen zur Natur >der< Ohmenhäuser geworden zu sein: »Man hat's halt getan [die Fabrikarbeit]. Nein, hart ist einem das nicht angekommen, man ist j a das Schaffen gewöhnt gewesen«, lauteten die meisten Antworten alter Ohmenhäuser Bürger auf Fragen nach ihrer Einstellung speziell zur Fabrikarbeit. Arbeitsunwilligkeit dagegen war in Ohmenhausen schon immer ein Persönlichkeitsdefekt: »Man kann sie in keinen Dienst bringen, weil sie eine angeborene Scheu vor dem Arbeiten und eine anererbte Neigung zum Vagieren hat«, 4 4 hieß es 1846 von der siebzehnjährigen Tochter einer in Ohmenhausen seßhaft gemachten Vagantin. Die Verurteilung und Ausgrenzung jugendlicher >outcasts< vor beinahe 150 Jahren liegen jedoch kaum auf derselben Ebene wie die Erinnerungen heute Achtzigjähriger. Es stellt sich in diesem Zusammenhang deshalb die Frage, ob Arbeitswilligkeit und Arbeitsdisziplin in Ohmenhausen schon immer so ausgeprägt waren wie bei diesen u m die Jahrhundertwende geborenen alten Arbeitern und Bauern, und unter sozialisationsgeschichtlicher Perspektive: ob Fleiß und Arbeitsamkeit lediglich das Ergebnis eines unbewußt verlaufenen Gewöhnungsprozesses oder bewußte, die Möglichkeiten materiellen Aufstiegs der Familie reflektierende >Lebenseinstellungen< waren? Archivalische Quellen zur Arbeitssozialisation der Kinder und Jugendlichen in Ohmenhausen fehlen allerdings völlig. Folgende kurze Skizze der Veränderungen der Arbeitsmentalität anhand einiger indirekter Zeugnisse und der Pfarrberichte gibt deshalb nur einen ungefähren Eindruck von dem Wandel der Arbeitseinstellungen, ohne die Methoden und Faktoren der Arbeitserziehung hier im einzelnen darstellen zu können. 4 5 Seit Ohmenhausen 1803 württembergisch geworden war, fanden alle zwei bis drei Jahre oberamtliche Gemeindevisitationen statt, 4 6 deren Ergebnisse in genauen Protokollen festgehalten und mit Anweisungen für Schultheiß und Gemeinderat versehen wurden. Diese sogenannten Ruggerichtsprotokolle enthalten manchen Hinweis auf die Wirtschaftsweise und die Arbeitsmentalität im Dorf: Einen ersten Einblick zumindest in die Mentalität der im Gemeinderat vertretenen Oberschicht gibt der am Widerstand dieses Gremiums gescheiterte Versuch des Oberamts, in Ohmenhausen 1827 eine Industrieschule einzurichten. Der Gemeinderat blockiert diese Neuerung zuerst mit dem Argument des Platzmangels, nach einem Schulhausneubau dann damit, daß man »keine Lehrere ( = Lehrerin] bekommen« habe. »Die Gemeindevorsteher zeigen durchaus keinen Sinn und keine Lust zur Errichtung einer Industrieschule«, bemerkt 1833 der Oberamtmann schließlich, nachdem seine Bemühungen bis dahin erfolglos geblieben waren. 4 7 Gegen eine ähnliche Mauer stieß das Oberamt bei dem Versuch, in O h menhausen die die Garnproduktion steigernde »Doppelspinnerey« einzuführen. Der Schultheiß versah die Ordre im Rezeßbuch mit der lakonischen 47
Marginalie: »Ist biß dato noch nicht geschähen, weil niemand keine Lust dazu habe«. 48 Auch die mehrmalige Aufforderung, doch ein Exemplar »des sehr gemeinnützlichen Wochenblatts für Hauß und Landwirtschaft« zu abonnieren, lehnte der Gemeinderat ab, weil derartige Kenntnisse und Neuerungen »bey der Gemeinde nicht anwendbar seyen. « 49 Die Reihe der Blockierungen staatlicher Versuche, die Wirtschaftskraft der Bevölkerung durch Innovationen in Handwerk und Landwirtschaft und die Arbeitsmoral der künftigen Generationen durch Maßnahmen im Erziehungsbereich zu heben, ließe sich für die Zeit vor 1850 fortsetzen. 50 Aber die Scheu vor Neuerungen, das zähe Festhalten am Alten darf nicht mit geringerer Arbeitsamkeit gleichgesetzt werden. Im Gegenteil, die Einführung des Doppelspinnrads oder modernerer landwirtschaftlicher Anbaumethoden hätte Arbeit gespart bzw. sie produktiver gemacht. Merkantilistische >Industriosität< oder gar planendes unternehmerisches Kalkül waren zu jener Zeit kein Teil des Weltbildes der Ohmenhäuser. 5 1 In der traditionellen Familienwirtschaft war ganz allgemein die Sicherung der Subsistenz und nicht die Maximierung von Profit das Ziel der Arbeit. Es wurde nicht wie in modernen Unternehmen die Produktivität der Arbeit an der investierten Zeit gemessen, sondern man reagierte (notgedrungen) auf eine Gefährdung des täglichen Unterhalts mit gesteigertem Arbeitseinsatz, auf Überfluß dagegen mit einem Nachlassen der Anstrengungen. 5 2 Die neue Ratio kapitalistischen Wirtschaftens lag den tradtionellen Denkkategorien der Ohmenhäuser fern. Sie blieben bei den alten Produktionsweisen. Dies bedeutete aber kein geruhsames Handwerker- oder Bauernleben, wie es die bürgerlichen Idyllen des 19. Jahrhunderts so gerne malten. Denn die wachsende Armut und der um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits alte Zwang zur dualen Ökonomie von Landwirtschaft und Heimarbeit hatten den bäuerlichen Arbeitsrhythmus jahreszeitlich wechselnder Arbeitsintensität gründlich gestört und für Männer und Frauen, Kinder und Alte zu enormen Arbeitspensen und erhöhter Arbeitsdisziplin geführt. Schon die vorindustriellen Handwerker, allen voran die Weber, kannten keinen geruhsamen Winter nach einem arbeitsreichen Sommer, wie es dem traditionellen bäuerlichen Arbeitsrhythmus entsprochen hatte. Sie mußten während der kälteren Jahreszeiten am Webstuhl nachholen, was sie im Frühjahr und Sommer wegen der Feldarbeiten dort versäumt hatten. Auch Nachtarbeit war für sie keine Seltenheit. 53 Dieser jahraus, jahrein, sommers und winters gleich strenge Arbeitszwang wurde nach der Jahrhundertmitte mit dem Aufkommen der Fabrikarbeit weiter verschärft. Dies galt besonders für die Frauen, auf denen nun die Hauptlast der landwirtschaftlichen Arbeit lag. Aus der Sicht der Ortsgeistlichen stellte sich die zunehmende Intensivierung der Arbeit als nicht besonders dramatisch dar, im Gegenteil. Pfarrer Bunz schrieb im Jahr 1882 über seine Ohmenhäuser:
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»Die Leute haben eine gewiße natürliche Gutmüthigkeit, aber sehr wenig Urtheilskraft und überhaupt Verstandesthätigkeit. In dieser Beziehung zeigt sich die gleiche Behaglichkeit, welche auch in der Arbeit herrscht. Sie sind fleißig in ihrer Art, aber ohne Überstürzung. Daher ist auch kein Streben, sich zum materiellen Aufschwung um etwas zu bemühen, oder etwas anderes anzustreben, als was sich ihnen eben so von selbst bietet. So herrscht aber auch kein Haschen nach irdischen Gütern. Sie sind bald zufrieden, wenn sie auch sich scheinbar oft sehr darüber beklagen, daß >man so schaffen müsseDurchschnitts-Haushalten< selbst der vorindustriellen Zeit weitgehend eliminiert. Gegen diese Methode der >statischen< Berech54
nung von durchschnittlichen Haushaltsgrößen wurde zu Recht eingewendet, daß sie die Schwankungen in der Zusammensetzung eines Haushalts im Verlauf des Lebenszyklus einer Familie nivelliere und daß in Wirklichkeit viele junge Familien wenigstens während einiger Jahre mit einem Großelternteil zusammenlebten. Zumindest für die älteren Kinder war daher das Aufwachsen in einem Drei-Generationen-Haushalt im ländlichen Bereich eine häufige Sozialisationskonstellation. s Im folgenden wird zunächst versucht, einen ungefähren zahlenmäßigen Überblick über die Haushaltsgrößen in Ohmenhausen zu geben, u m dann deren sozialisationsgeschichtliche Bedeutung anhand der Wohnverhältnisse und vor allem der Interaktionsformen zwischen Großeltern- und Elterngeneration zu erörtern. Denn die Art ihres U m g a n g s miteinander hatte zum einen Vorbildcharakter für die Kinder und zeigt zum andern die >Langzeitwirkungen< familialer Sozialisation. Für Ohmenhausen ist es möglich, anhand einer Haushaltszählungsliste wenigstens für die Jahrhundertmitte einen ungefähren Überblick über die Größe der Familien, die Zusammensetzung der Haushaltungen und damit auch über die Wohnsituation im Ort zu geben: Ohmenhausen bestand im Jahr 1846 aus etwa 120 Wohnhäusern. Diese waren nach der ortsüblichen Bauweise zumeist zweistöckig, hatten Stallungen, Futterkammer und einen »Webgarten« im Erdgeschoß, die Wohnstube, Küche und - j e nach Wohlstand - ein bis zwei Kammern befanden sich im Obergeschoß. Nach der Haushaltsliste desJahres 1846 wohnten in diesen 120 Häusern: 140 »vollständige« Familien, das heißt Elternpaare mit wenigstens einem Kind; 26 kinderlose j u n g e oder alte Paare (Altenteiler); fünf selbständige ledige Männer sowie 21 ledige Frauen; 16 Witwen, 13 Witwer und 3 vorübergehend allein wohnende Frauen, teilweise mit unehelichen Kindern. Zusammengerechnet machte das 224 Haushalte. Über 80% der Häuser müssen somit von mehr als einer Familie bewohnt gewesen sein bzw. mehr als einen Haushalt beherbergt haben. 6 Analysiert man diese Gruppen im einzelnen, so ergibt sich, daß sich darunter knapp 20 verheiratete >Altenteiler< befanden. Rechnet man noch einen Teil der 16 Witwen und 13 Witwer zu dieser Gruppe dazu, so werden 1846 etwa 15 bis 20% der Ohmenhäuser Haushalte aus drei Generationen bestanden haben, einige von ihnen waren sicher auch noch u m ledige Geschwister und teilweise deren uneheliche Kinder erweitert. 7 Diese Haushaltsstrukturen brachten jedoch schon wegen der räumlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens erhebliche Schwierigkeiten mit sich; denn die Enge in den Häusern war groß. Im Durchschnitt teilten sich u m diese Zeit acht Personen die zwei bis drei Zimmer eines Hauses. D a j e d o c h der Schultheiß und einige andere begüterte Familien mit Sicherheit allein, das heißt: ohne fremde »Hauszinser« in ihren Häusern wohnten, so müssen auf die übrigen Wohnungen jeweils zehn oder mehr Personen gekommen sein. Daran änderte sich auch unter dem Einfluß der Industrialisierung anfänglich nicht viel. Zwar wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun55
derts etliche neue Häuser gebaut, die Bevölkerung nahm jedoch ebenso rasch zu. Noch 1895 kamen beinahe acht Personen im Durchschnitt aufjedes Haus oder 246 Haushaltungen (worunter nur drei »selbständige, einzeln lebende Personen« waren) auf 160 Wohnhäuser.8 Ein so dichtes Zusammenwohnen war nur möglich, weil sich einerseits der Großteil des täglichen Lebens außerhalb des Hauses abspielte und andererseits sämtliche Kinder, häufig aber auch die Altenteiler und einige Mieter (und etliche andere >Lebewesen< mehr) zum Schlafen auf die >Bühnen< ( = Dachböden) geschickt wurden. Im Bericht des Wohnungsaufsichtsbeamten aus dem Jahr 1908 hieß es: »Auf offener Bühne schlafen 2 Söhne. Der gleiche Raum dient als Hühnerstall. Zunächst sind die Hühner zu entfernen und die Bühne sauber zu reinigen (Alsbald). Dann sollte eine Schlafkammer mit gegipsten oder vertäfelten Wänden und mit genügend großer Licht- und Luftöffnung hergestellt werden. « 9
Für die Kinder war das nicht schlimm, für sie besaß das gemeinsame Schlafen unter dem Dach sogar eine gewisse Romantik. Für die Alten dagegen war es ein Angsttraum, keinen eigenen Raum, sondern nur einen Strohsack auf dem Dachboden eines fremden Hauses zu haben. 10 Eine Tochter schrieb dazu nach dem Tod des Großvaters an ihre Eltern: »Liebe Eltern, es nimmt mich sehr wunder, wie es mit eurer [Erb-] Theilung geht. Es macht mir schröcklich viel Müh, ob ihr das Haus behalten könnt. .. . Liebe Eltern, wenn ihr müsset in dem Hauszins herumziehet, was das für mich währe, und wie gut es ist, wenn ihr nur auch noch eine eigene Wohnung habt. . . . β 1 1
Das »In-dem-Hauszins-Herumziehen« war das Schicksal all derer, denen bei der Erbteilung das Geld nicht ausreichte, um die Geschwister ausbezahlen und das elterliche Haus übernehmen zu können. Sie waren darauf angewiesen, daß irgendjemand irgendwo noch einen Schlafplatz für sie freihatte, und sie mußten wieder weichen, wenn die Hausbesitzer ihn selbst benötigten. Die soziale Lage der Alten war, wenn sie keinen Besitz hatten, äußerst prekär; sie lebten (vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) vielfach am Rande des Existenzminimums. Diese sozialen Verhältnisse interessierten allerdings die Wohnungsaufsichtsbeamten (deren Blick hier nochmals kurz gefolgt werden soll) wenig; denn sie waren noch um die Zeit der Jahrhundertwende eine Selbstverständlichkeit. Den Inspektoren war vielmehr - neben den hygienischen Zuständen — die in diesen Schlafplätzen herrschende Promiskuität ein Dorn im Auge. Bei fast allen Häusern wurde dies im Jahr 1908 beanstandet und deshalb die Einziehung von Trennwänden angeordnet. Die Phantasie der Beamten wich in dieser Beziehung jedoch nicht wesentlich von derjenigen der Ohmenhäuser selbst ab. Zumindest wer sich tagsüber dort in andersgeschlechtlicher Begleitung antreffen ließ, der konnte (das zeigen manche örtliche Prozesse) nach der Meinung der Ohmenhäuser 56
nichts Gutes im Sinn gehabt haben. 1 2 Von der Enge der Wohnverhältnisse begünstigt beherrschten zwei Prinzipien: die Öffentlichkeit aller Privatbereiche und eine genaue gegenseitige Kontrolle das familiäre Zusammenleben in Ohmenhausen. Wer nicht beschuldigt werden wollte, versuchte lieber, nichts zu verbergen. Die Kontrolle richtete sich vor allem gegen das moralische Verhalten der Geschwister, die immer auch als potentielle Erbkonkurrenten gesehen wurden, und mit deren unehelichen Kindern man sich das tägliche Brot würde teilen müssen; aber sie richtete sich bisweilen auch gegen die Eltern und ganz besonders gegen die Witwen und Witwer. Ihre Kinder fürchteten die Erbkonkurrenz der Nachkommenschaft aus einer eventuellen zweiten Ehe und wachten deshalb oft peinlich genau über die Kontakte des überlebenden Elternteils. Alle Begegnungen zwischen Witwern und jungen unverheirateten Frauen wurden ( wie es das Kirchenkonventionsprotokoll an mehreren Fällen zeigt) von den Kindern des Witwers mit großem Mißtrauen beobachtet. Sie vermuteten sofort das Äußerste und versuchten häufig, durch Ausstreuen von Gerüchten im Dorf den unliebsamen Umgang zu unterbinden. Genaue Kontrolle übten die Kinder auch über die Arbeitsleistung der Elterngeneration aus, besonders wenn deren Kräfte langsam nachließen, die Kinder aber ins heiratsfähige Alter kamen und es kaum erwarten konnten, bis die Eltern endlich den Weg zur Gründung einer neuen Familie freimachten, indem sie einen Teil der Güter als Heirats-Beibringen an die Jungen abtraten oder sich ganz aufs Altenteil zurückzogen. Das führte zu häufigen Spannungen innerhalb dieser Phase des Familienzyklus. Die Folge davon waren möglichst weitgehende Absicherungsversuche der weichenden Eltern, die in Hofubergabeverträgen die Erben zu genauen Leistungen verpflichteten: »§ 1. Der Sohn Johann Georg erhält das demselben als Heirathgut zugesicherte Hofgut mit sämtl. Gebäuden in die Benüzung von welchen die Mutter in der lebenslänglichen Nutznießung behält . . . [Aufzählung einzelner Güterstücke] § 2. Der Sohn Johann Georg hat der Mutter eine Kuh zu futtern weshalb sie [sich] keine Wiese vorbehalten hat. § 3. Die Mutter behält den lebensl. Sitz im Hauße, der überall der nöthige Plaz nach eigener Wahl eingeräumt werden muß. § 4. D e n ledigen Töchtern muß der unentgeldliche Aufenthalt im Hauße gestattet werden, bis sie sich verheirathen . . . § 8. Die Mutter behält das Vermögen der ledigen Töchter in der Nuznießung, bis sich eine derselben verheirathet u. sie dann ihren Antheil erhält, daher die Stellung einer Pflegrechnung unterbleibt. § 9. Die eigenen Güter u. die Ausgedinggüter der Mutter hat der Sohn Georg unentgeldlich zu bauen, überhaupt alles Fuhrwerk derselben unentgeldlich zu prästieren. § 10. Die Mutter schafft das Stroh für ihre Kuh an u. erhält auch den D u n g derselben.« 13
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Alle wichtigen Besitzverhältnisse und Arbeitsleistungen waren in solchen Übergabeverträgen zwischen den zusammenwohnenden Generationen genau geregelt und damit jeder eventuellen Uneinigkeit durch rechtliche Fixierung vorgebeugt. Andere Eltern waren in ihren Forderungen nicht ganz so präzis, schrieben aber vorsorglich kindliches Wohlverhalten vor: »§ 2. Jedes der Hügle'schen Eheleute hält sich bei seinem leiblichen Kind auf, von dem es in allen u. jeden Bedürftigkeiten des menschlichen Lebens bis zu-seinemTode unentgeldlich zu unterhalten ist. § 3. Rohe Behandlung und Übertretung des Vierten Gebots kan mit Zurückziehung des Vermögens geahndet werden. « 1 4
Wer solche Bestimmungen traf- und das tat zu jener Zeit fast jeder - wird gewußt haben warum. Aber gehörte das kindliche Wohlwollen wirklich nicht zu den selbstverständlichen »Bedürftigkeiten des menschlichen Lebens«, mußte es wie der Mist der Kuh in einem extra Paragraphen behandelt werden? Waren die Möglichkeiten menschlicher Beziehungen selbst innerhalb der Familien so dürftig, wie es diese Ausgedingverträge glauben machen könnten? Volkskundler und Sozialhistoriker haben dies häufig daraus abgeleitet. Einen solchen Schluß kann man aber aus diesen (starknormierten und selten individuell formulierten) Vertragstexten so geradlinig nicht ziehen; denn ihr Sinn war, Reibereien vorzubeugen, Streit zu vermeiden. Das >gute Verhältnis< war der implizierte Normalzustand. Nur: Wo der Besitz das Medium ist, das über gesellschaftlichen Status entscheidet und gleichzeitig die Generationen unerbittlich aneinanderkettet, wird er auch im Handumdrehen zur Ursache des Streits. Wo die Selbständigkeit der Jungen von der Übergabe des Besitzes abhing, die gleichzeitig für die Alten eine Verschlechterung ihres Lebensstandards und ihrer gesellschaftlichen Position bedeutete, schien der Konflikt der Generationen vorprogrammiert. Da jedoch keinerlei Möglichkeiten zur gegenseitigen Distanzierung bestanden, da man weiterhin auf engstem Raum zusammenleben und die gleichen Äcker gemeinsam bestellen mußte, waren solche Streitereien unerträglich, konnten Familie und Dorf den Charakter des »Terrorzusammenhangs« (Jeggle) bekommen, wenn es nicht gelang, die Reibungsflächen so gering wie möglich zu halten. Das war der Sinn dieser kleinlichen Stipulationen der Ausgedingverträge. Während des ganzen 19. Jahrhunderts kam m. W. in Ohmenhausen kein einziger Fall vor, wo wegen »roher Behandlung« der Eltern eine Güterübergabe rückgängig gemacht worden wäre. Der Normalfall des (relativ) friedlichen Zusammenlebens muß hervorgehoben werden; denn er erscheint naturgemäß nicht in den Quellen. Die Beziehungen zwischen (alternden) Eltern und (heranwachsenden) Kindern lassen sich nicht auf die den materiellen Bedingungen und den Familienstrukturen in einer Knappheitsgesellschaft inhärenten besonderen Gewaltverhältnisse reduzieren. Diese erklären die Konflikte. Die normalen Umgangsformen lassen sich aus den Konflikten 58
jedoch nur ex negativo erschließen, indem diese nicht mehr tolerierbares Handeln, die extremsten Verhaltensmöglichkeiten aufzeigen. Mit anderen Worten: Wenn es nicht gelang, »zu den Menschen eine andere Beziehung zu finden als zum Tisch oder zu den Kühen im Stall«, 15 dann kam es (zwischen den Generationen, Geschwistern, Nachbarn) zum Konflikt. Mit Einschränkungen gilt auch der Umkehrsatz: Wenn es nicht zu den von der lokalen Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur her unausweichlich erscheinenden Konflikten kam (und das war der Normalfall), dann mußte es auch gelungen sein, zu den Menschen andere Beziehungen herzustellen als zu den Sachen. 16 Diese »anderen Beziehungen« sind das Ergebnis der gesamten familialen und dörflichen Erziehung, sind das Produkt einer von christlicher Moral und gesellschaftlichen Traditionen und Tabus geleisteten Transformation stark sachlich determinierter Sozialbeziehungen in ein dieser Ebene enthobenes und autonomes Wert- und Verhaltenssystem. 17 Gehen wir noch einmal zurück zu den äußeren Bedingungen und >verrechtlichten< Regeln des Zusammenlebens der Generationen: Ein Blick in die Übergabeverträge der Jahrhundertwende zeigt deutliche Veränderungen: die detaillierten Bestimmungen und Sanktionsandrohungen verschwinden aus diesen notariellen Akten, die Versorgung der Alten »in allen u. jeden Bedürftigkeiten des menschlichen Lebens« scheint zur selbstverständlichen Pflicht geworden zu sein, zum moralischen Gesetz: »Aber Achtung hat man vor den Alten gehabt. Da hat niemand gesagt, man solle die Ahne forttun in ein Altersheim. Der hätte sich geschämt. «
Derartige Zitate aus den Gesprächsprotokollen und die Veränderungen der Ausgedingverträge weisen jedoch weniger auf einen >Zivilisationsschub< im Sinne der Internalisierung von Verhaltensstandards als vielmehr auf eine gewandelte wirtschaftliche Verfassung der Familienhaushalte; denn schämen hätte sich ein Kind in Ohmenhausen zu jeder Zeit müssen, wenn es seine alternden Eltern vernachlässigt hätte. Die dörfliche Moral war in dieser Beziehung schon immer sehr streng gewesen. Die Tatsache, daß sich die Eltern nun auf die Konstanz von Gefühlen und Verhaltensweisen ihrer Kinder besser verlassen zu können glaubten, hatte ganz reale Ursachen in der Verbesserung ihres wirtschaftlichen Status. 18 Die Einkünfte aus dem ländlichen Handwerk hatten, obwohl sie häufig den Wert der landwirtschaftlichen Produktion überschritten haben werden, noch zu keiner wesentlichen Änderung der Erbregulierungen gefuhrt; denn sie wurden nicht in die Ausgedingverträge miteinbezogen. Sofern Grundbesitz vorhanden war, blieb dieser die Basis der Versorgung der Altenteiler. In der freiwilligen Vermögensübergabe der Weberswitwe Magdalene Binder an ihren Sohn Christian, ebenfalls Weber, heißt es: »§ 1. Die Mutter reserviert sich den lebenslänglichen freien u. ungestörten Sitz im Hauße, welcher überall der nöthige Platz einzuräumen ist. Der Sohn u. Haußbesitzer hat die Mutter mit allem erforderlichen Holz zu versehen.
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§ 2. Zur lebenslänglichen Benüzung reserviert sich die Mutter . . . [es folgt die Aufzählung einiger kleiner Güterstücke]. § 3. Der 4. theil des auf den abgetretenen Gütern jährlich erwachsenden Ob[s]ts mit der Kirschen, unweigerlich zu verabfolgen.« 19
Von Geldleistungen aus dem Webereibetrieb war keine Rede. Wer damals kein Land hatte, stand im Alter mittellos da; denn w o es nichts zu vererben gab, war auch meist kein Kind zur Unterstützung der Eltern in der Lage. Die unsichere Situation der Alten konnte sich erst ändern - das klingt paradox - , als mit der Industriearbeit die Bedeutung des Grundbesitzes zurückging, als das Familieneinkommen aus der Fabrikarbeit wesentlich über dem aus den (immer kleiner werdenden) landwirtschaftlichen Betrieben lag. Dies war frühestens ab den 80er Jahren der Fall, seit schulentlassene Söhne und Töchter sowie die Väter in der Fabrik arbeiteten und ein regelmäßiges Einkommen in die Haushaltskasse einbrachten. Damit schwand zum einen die Bedeutung der Vererbung des Grundbesitzes und wurde ein möglicher Konfliktherd zwischen den Generationen entschärft. Z u m anderen leisteten die Groß eitern jetzt dadurch, daß sie oft unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte die Acker bearbeiteten, einen doppelten Beitrag zum Familienbudget: sie versorgten die Familie mit Naturalien und stellten (zusammen mit den Frauen und Kindern) die Männer undjugendlichen zur sehr viel lukrativeren Fabrikarbeit frei. 2 0 U n d schließlich ermöglichten die Großeltern durch ihre Arbeit der Familie überhaupt, die Landwirtschaft beizubehalten, jenes dörfliche Integrationsmedium, ohne das man nur ein >halber< Ohmenhäuser (und wenn man sie hätte brach liegen lassen: ein Verschwender und schlechter MenschGefuhlskälte< und mangelnde Empathie der zwischenmenschlichen Beziehungen in der traditionellen Gesellschaft zu schließen. Zum anderen sollte daraufhingewiesen werden, daß eine distanzierte Einstellung der Eltern zu den Kindern nicht den Umkehrschluß auf fehlende >Kindesliebe< zuläßt. Damit sollte jedoch nicht behauptet werden, daß die Art und Weise, wie Menschen fühlten, oder die Faktoren, die Kinder an ihre Eltern banden, nicht g'eschichtlichem Wandel unterlegen hätten. Eine Barbara Ziegler banden andere Gefühle an ihre Eltern als die heute achtzigjährigen Ohmenhäuser. Das ist aber aus unseren Quellen im Detail nicht mehr rekonstruierbar und darauf kam es hier auch gar nicht an. Was gezeigt werden sollte, war, daß die strukturellen Antagonismen der Generationen in der Agrargesellschaft allein noch keine direkten Rückschlüsse auf das Kind-Eltern-Verhältnis erlauben, daß sowohl die traditionelle Solidaritätsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern wie auch ihre >natürliche< Zuneigung Sozialisationserfahrungen waren, die diese Interessenwidersprüche zu überbrükken vermochten und so ein reibungsarmes Zusammenleben im Alltag ermöglichten. 73
IV. Jugendleben in Ohmenhausen · Sozialgeschichtlich-volkskundliche Skizzen zum Alltagsleben der Jugendlichen vor dem Ersten Weltkrieg 1. Der Beginn der Jugend: die Konfirmation »Widersaget ihr nochmalen dem Teufel und allen seinen Werken und Wesen?« »Ja, wir widersagen. « »Verpflichtet ihr euch hingegen aufs Neue dem Dreieinigen Gott, Vater, Sohn und h. Geist, nach seinem Willen und Wort zu glauben, zu leben und zu sterben?« »Ja, wir verpflichten uns hiezu von ganzem Herzen, β 1
Nachdem die Kinder zuerst vor versammelter Gemeinde das Auswendiggelernte aus dem Katechismus geprüft worden waren, traten sie nach der gemeinsamen Beantwortung dieser Verpflichtungsfragen an den Altar, reichten dem Pfarrer die rechte Hand und wurden daraufhin von ihm eingesegnet. 2 Eine solche Konfirmationsfeier sahen die Ohmenhäuser am Sonntag Quasimodogeniti des Jahres 1805 zum ersten Mal in ihrer Kirche, als »10 sog. Confirmanten . . . ad sacram Coenam admittirt wurden, nachdem sie zuvor hinreichend in den Grundsätzen unserer allerh. Religion unterwiesen u. geprüft, auch öffentlich in der Gemeinde, gnäd. Vorschrift gemäß behandelt worden« waren. 3 Im reichsstädtischen Reutlingen hatte man nämlich bis zur Mediatisierung im Jahr 1803 in orthodox-protestantischer Tradition an der reformatorischen Ablehnung der Firmung der Jugend festgehalten. Das Sakrament der Taufe, durch das Gott seinen Bund mit dem Neugeborenen geschlossen hatte, bedurfte nach dem Verständnis der Reformatoren Brenz oder Luther keiner späteren Erneuerung oder >Auffrischung< durch die Menschen. Sie lehnten deshalb die katholische Firmung ab. In Württemberg war jedoch bereits 1722 auf Betreiben pietistischer Gruppen die Konfirmation als förmlicher kirchlicher Akt wieder eingeführt und 1805 auch für die neuwürttembergischen Gebiete angeordnet worden. 4 In reichsstädtischer Zeit waren deshalb auch in Ohmenhausen die Kinder ohne formelle Konfirmationshandlung nach fünfwöchiger intensiver Unterweisung und abschließender privater Prüfung im Pfarramt in der Kirche nur »loos gesagt« worden, indem der Pfarrer ihre Namen öffentlich von der Kanzel verlas. Damit waren sie vom Besuch des Katechismusunterrichts und der Schule entbunden und wurden als nun >vollwertige< Glieder der christlichen Gemeinde zum Heiligen Abendmahl zugelassen. 5 74
Nach den neuen württembergischen Gebräuchen dagegen war schon die geistliche Vorbereitung der Jugend auf die Konfirmation durch besondere Bestimmungen in ihrer Bedeutung hervorgehoben. Die Konfirmanden hatten einen Sonderstatus, der ihnen auf vielfältige Weise die Bedeutung des bevorstehenden Festes nahebringen sollte: So durften Familien, die ein vor der Konfirmation stehendes Kind hatten, während des vorausgehenden Winters keine Lichtstuben halten, wurden Unartigkeiten von Konfirmanden besonders ernst genommen und empfahl der Pfarrer diese Jungen und Mädchen in den Konventssitzungen den Kirchenältesten immer wieder ihrer ganz speziellen Fürsorge, »um das nachwachsende Geschlecht vor Ärgernissen zu bewahren und zur gottgefälligen Ordnung anzuhalten«. 6 »Kalt und geistlos« fand daher die an eine »feierliche und ruehrende Confimationshandlung« gewöhnte erste württembergische Kirchenvisitation in Reutlingen im Jahre 1804 das alte reichsstädtische Verfahren, das »auf die Bedürfnisse unserer Zeit keine Rücksicht« nehme. 7 Der neue württembergische Ritus mit öffentlicher Prüfung, gemeinsamer Absage an »Werke und Wesen des Teufels«, Bekräftigung des Bekenntnisses zum christlichen Glauben sowie abschließender Einsegnung der Konfirmanden war um einiges eindrucksvoller - fur die Kinder wie für die Gemeinde - und unterstrich die Bedeutung der mit der Konfirmation eingetretenen Zäsur; denn einen markanten Einschnitt im Leben der Jungen und Mädchen bedeutete die Konfirmation zweifellos: Sie waren keine Kinder mehr, mußten nicht mehr zur Schule und >durften< zur Arbeit gehen, galten für die Kirche (formell) als Erwachsene und zählten im Dorf zu den »ledigen Burschen und Mädchen«. Sie durften von nun an mit ihren »Gespielinnen« und »Kameraden« auf die Lichtstuben oder Äbbehes gehen und gelegentlich auch einmal ein Wirtshaus besuchen. Nach der Konfirmation waren die Jugendlichen in vielen Bereichen selbst fur ihr Tun verantwortlich, 8 ihnen wurde ein Halberwachsenenstatus zuerkannt, der die Beherrschung der wichtigsten sozialen >Spielregeln< und die Internalisierung der grundlegenden Normen voraussetzte. Der kirchliche Akt symbolisierte somit nicht allein die Erneuerung des Taufbundes, sondern hatte eine sozial- und lebensgeschichtlich wesentlich weitere Bedeutung. Wie die Kinder selbst über die Konfirmation dachten, welche religiösen Gefühle sie entwickelten, ob sie sich auf die neuen Freiheiten freuten oder Angst vor dem nun beginnenden Berufsleben hatten, läßt sich aus den amtlichen Akten kaum entnehmen. Der Aspekt der neuen Freiheiten scheint zumindest am Anfang des letzten Jahrhunderts in vielen württembergischen Gemeinden bei der Jugend sehr im Vordergrund gestanden zu haben und die »gottgefällige Ordnung« von ihnen schon am Konfirmationstag durchbrochen worden zu sein. Es war vielerorts üblich, daß die Neukonfirmierten am Konfirmationstag selbst oder an einem der darauffolgenden Sonntage miteinander (manchmal auch mit Eltern oder Paten) ins Wirtshaus gingen. Dabei kam es - sehr zum Ärger der Pfarrer und auch der Kirchenleitung 75
immer wieder zu »Exzessen«.9 In den Ohmenhäuser Archivbeständen fanden sich keine Hinweise darauf, daß die Jugend auch hier den Beginn ihrer neuen Freiheiten mit derartigen Bräuchen zelebriert hätte. In den Erinnerungen unserer alten Gesprächspartner jedoch ist ein Ausflug nach dem benachbarten Bronnweiler zwar nicht am Konfirmationstag selbst, sondern am Ostermontag nach der Konfirmation, die deutliche Markierung des eigentlichen Beginns der Jugendzeit. Ein älteres Ehepaar erzählte: »Das war bei uns auch so, die Kameradschaften, die haben sich so zusammengeschlossen, hauptsächlich nach der Konfirmation. Da war es bei uns Sitte, am Ostermontag sind alle Konfirmanden, also die im März konfirmiert worden sind, die sind nach Bronnweiler . . . « »Da hat man das erste Mal allein in die Wirtschaft dürfen, nach der Konfirmation. « »Mit den Mädchen zusammen?« »Ja, da ist man miteinander gegangen. « »Alles, alles ist da, der ganze Jahrgang. «
Aber nicht nur neue Freiheiten bedeutete dieser Tag, sondern mit ihm fing auch der Ernst des Lebens an: die Buben traten nur wenige Tage darauf in eine Lehre ein, die Mädchen häufig in einen Dienst, ab den 1860er Jahren gingen sie gemeinsam nach Betzingen oder Reutlingen in die Fabrik; einige wenige blieben auf dem elterlichen Hof, nun aber als volle Arbeitskräfte. Aus diesem Grund mußte die Konfirmation auch rechtzeitig vor Georgii sein; denn an diesem Tag wurden traditioneller Weise die neuen Lehrverträge geschlossen, wurden die Dienstmägde und Knechte geheuert und fingen außerdem bald darauf die ersten Feldgeschäfte an. Das waren wichtige Termine, nach denen sich auch die kirchlichen Amtshandlungen zu richten hatten. Mit der Konfirmation traten die Kinder in vorindustrieller Zeit und im ländlichen Raum bis in dieses Jahrhundert hinein weniger in ein neues Lebensalter, als vielmehr in einen neuen >Standchange of life< waren die neuen Kleider. Die weißen Sonntagskittel oder später der schwarze Anzug der Buben und die dunkelblauen Trachtenkleider der Mädchen machten es allen offenkundig, daß die Neukonfirmierten nun »Ledige« - so lautete ihre offizielle dörfliche Gruppenbezeichnung - waren. Auf die neuen Kleider hatte man geradezu ein Recht, denn über sie vollzog sich,zumindest zu Zeiten, als man noch Trachten trug, die Identifizierung mit der Gruppe. Aber auch in den Erinnerungen der von uns befragten alten Ohmenhäuser spielte der neue Konfirmationsanzug (der einen allerdings nicht mehr von den Erwachsenen unterschied, sondern vielmehr an sie anglich) noch eine wichtige Rolle. Man war stolz auf seine neuen Kleider, so heißt es in vielen Interviews, denn sie zeigten allen, daß man langsam erwachsen wurde: »Da war man eben weiter. Da war man aus der Schul' draußen! Da hat man sich gefühlt, wenn man nicht mehr in der Schul' war. « 10
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Die Konfirmation blieb bis in dieses Jahrhundert in Ohmenhausen der offizielle und sozial bedeutsame »rite de passage« ins Jugendalter, dem sich keiner entzog oder entziehen konnte, weil er neben der kirchlichen Mündigkeitserklärung zwei für das weitere Leben der Jugendlichen, die Familie und das Dorf noch immer einschneidende Veränderungen markierte: die Pflicht, von nun an seine ganze Arbeitskraft für die eigene Ernährung bzw. die der Familie einzusetzen, und den Beginn des von familialer Kontrolle weitgehend freien Jugendlebens in den Kameradschaften.
2. Der Ernst des Lebens Am 2. Mai 1804 leitete das Dekanat Reutlingen folgende Klage des Pfarrers von Betzingen an die Kirchenleitung in Stuttgart weiter: »Das Pfarramt zu Betzingen beschwert sich in seinem monatlichen Bericht über die häufigen Schulversäumnisse, welche seit einigen Wochen daselbst vorkommen, indem die Kinder der Weber, deren es in Betzingen mehrere gibt, und die Kinder derjenigen Bauern, welche den benachbarten Städtern ihre Äcker um den Lohn bauen, von ihren Eltern oft von der Schule abgehalten werden; da erstere sie zum Spulen, letztere aber sie zum Antreiben des Viehs auf den Aeckern gebrauchen. Vielleicht könnte diesem Übelstand dadurch abgeholfen werden, wenn den armen Eltern solcher Kinder erlaubt würde, ihre Kinder im Frühjahr des Morgens nur ein paar Stunden in die Schul zu schicken und die übrigen Stunden des Tages sie zu ihren oeconomischen Geschäften anhalten zu dörfen. D o c h dies sei mit aller Bescheidenheit nur gutächtlich hier vorgebracht. «x
Arbeit war für die konfirmierte schulentlassene Jugend in Ohmenhausen, wo die Pfarrer und Schullehrer mit denselben Problemen wie im benachbarten Betzingen zu kämpfen hatten, zu keiner Zeit des 19. Jahrhunderts etwas Neues. Schon von klein auf mußten die Kinder im Handwerk und ganz besonders in der Landwirtschaft mithelfen. Sie mußten spulen, nähen und mit ihren geschickten Fingern die Webgeschirre knüpfen, sie mußten das Vieh treiben beim Pflügen, mußten mähen, rechen, Garben binden, Futter schneiden. Vor allem landwirtschaftliche Arbeit war ein fester Bestandteil im Leben aller Ohmenhäuser Kinder und ein Klassenproblem nur insofern, als diejenigen Kinder, deren Eltern >nichts hattenerwachsenes< Kind ganz der Arbeit auf dem elterlichen Hof zur Verfügung, ohne unliebsame Unterbrechungen durch die Schule. Wie sah der neue Arbeitsalltag dieser Jugendlichen aus? Untersuchungen zur heutigen Bauernfamilie zeigen, daß den Jungbauern meist regional einheitlich ganz bestimmte Aufgaben zugeteilt werden, die ζ. T. wie das Fuhrwerk- oder Schlepperfahren auch mit bestimmtem Prestige unter den Jugendlichen verbunden sind. 4 Das wird früher nicht anders gewesen sein. In den in Ohmenhausen geführten Gesprächen wurden ζ. B. Heuladen oder Dreschen als typisch jugendliche Aufgaben erinnert: ». . . D a haben sie zu viert, zu funft gedroschen. Das ist schön. Der schöne Takt, den muß man schön halten. Da hat man auch geschulmeistert, bis das geklappt hat. Und dann hat's geheißen: Kannst' den Käs' langen? Da hat man mit dem Dreschflegel hinaufschlagen müssen bis an die Decke und wenn man da hinauflangen konnte, dann ist man allmählich ein Kerle geworden. «
Im einzelnen bleibt jedoch im historischen Rückblick die Arbeitsteilung zwischen Vater und Sohn und zwischen den Geschlechtern ebenso unklar wie die Stellung der Jungen auf dem Hof und ihre Beteiligung an Planungen und Entscheidungen überhaupt. Man kann jedoch annehmen, daß in den kleinbäuerlichen Verhältnissen Ohmenhausens (besonders auch aufgrund der Tatsache, daß hier fast kein Gesinde angestellt war) die Arbeitsteilung und das System von Rechten und Pflichten der Jugendlichen sehr viel weniger streng geregelt war als in den Anerbengebieten mit großen Höfen. 5 Lohn gab es für die Arbeit auf dem elterlichen Hof keinen, 6 normalerweise auch nicht in Form der Anrechnung auf das zu erwartende Erbe. Nach dem Tod der Eltern wurde in gleiche Teile geteilt; das Privileg, das elterliche 78
Haus übernehmen zu dürfen, wog die Möglichkeit, sich als Geselle in der Fremde etwas Geld verdienen zu können, auch bei weitem auf. 7 Daß aber auch die Jungbauern Bedarf an Bargeld hatten, versteht sich von selbst und läßt sich auch anhand der Pflegschaftsrechnungen belegen, die immer wieder Geldabgaben der Pfleger für die persönlichen Ausgaben der Pfleglinge verbuchten. In den Rechnungen eines 22jährigen, nicht ganz unvermögenden Pfleglings und angehenden Bauern heißt es: »1813 den 17ten Januarius hab ich meinem Pflegsohn Geldt gegeben zu seiner Krankheit 1 fl. den 18thjanuar hab ich meinem Pflegsohn Geldt geben 1 fl. den 29ten Januarius wie der Steiger und der Hofer Regruthten wurden hab ich meinem Pflegsohn Geldt gegeben . . , « 8 1 fl.21x.
Insgesamt beliefen sich die Kosten flir solche Sonderausgaben (ohne Kleidung und Essen) im Jahr 1813 auf 17 fl. 5 xr. Das war nicht wenig, wenn man bedenkt, daß ein Paar Schuhe zu besohlen um die gleiche Zeit in Ohmenhausen 24 Kreuzer kostete oder der Schneiderlohn für das Nähen eines Überrocks, einer Weste und einer Hose zusammen nur 2 fl. 30 xr. betrug. 9 Wenn es üblich war, daß die Waisen von ihren Pflegern Geld zu ihrer freien Verfugung anfordern konnten, dann mußten auch die zukünftigen Hoferben und Bauern ihren eigenen kleinen Haushalt gehabt und die Möglichkeit, ein wenig Geld zur Seite zu legen, besessen haben. Ihre Haupteinnahmequelle werden Taglohnarbeiten im Reutlinger Stadtwald während des Winters gewesen sein, wofür die Ohmenhäuser als gute Arbeitskräfte schon immer gesucht waren. Das war noch um die Jahrhundertwende so. Ein alter Bauer entgegnete uns auf die Frage, ob er für die Arbeit auf dem elterlichen Hof wenigstens ein Taschengeld bekommen habe: »Da hat es nichts gegeben. . . .« »Ja, und wenn man abends auf die Äbbehe hat wollen?« »Das ist dann gewesen, wenn man ledig gewesen ist, nicht wahr, dann ist immer ein bißchen mehr Geld da gewesen. « »Ha, dann ist mein Mann, im Winter ist er immer einen halben Monat in den Wald gegangen, dann hat er selber Geld gehabt. . . . « » U n d haben Sie das Geld behalten dürfen, was Sie da verdient haben?« »Nein, nein, das ist bei mir auch in den Haushalt reingegangen. Aber so für den Sonntag, was ich so gebraucht habe, da habe ich Geld genug gehabt, also ich habe mir immer etwas zusammengespart. «
Die jungen Bauern hatten trotz ihrer unbezahlten Arbeit auf dem elterlichen Hof auch die Möglichkeit, sich durch anderweitige Tätigkeiten Geld zu verdienen, und sich davon immer ein wenig zur Seite zu legen für besondere Anlässe und vor allem für Anschaffungen für den zukünftigen eigenen Haushalt. 10 Zu aktenkundigen Konflikten über Fragen der Arbeitsverteilung und des Lohns oder zu Streitfällen wegen Arbeitsverweigerungen von 79
Kindern und Jugendlichen ist es während des ganzen 19. Jahrhunderts in Ohmenhausen nicht gekommen. In den Dorfgerichts- oder Gemeinderatsprotokollen fand sich kein einziger Fall, bei dem die Uneinigkeit über den Ablauf der täglichen Arbeit Ursache eines Zwistes war, obwohl die Reibungsflächen bei dem engen Hand-in-Hand-Arbeiten von Eltern und Kindern groß gewesen sein müssen. Daß derartige Streitigkeiten nicht aktenkundig wurden, bedeutet jedoch nicht, daß sie nie vorkamen, sondern lediglich, daß sie durch die klaren familialen Autoritätsverhältnisse auch innerhalb der Familie geregelt werden konnten. Von den in Ohmenhausen von uns befragten alten Bauern hielt keiner die relativ lange Phase der Zusammenarbeit mit den Eltern für besonders problematisch. In einem Gespräch lautete die kurze A n t w o r t auf eine Fragenach solchen Arbeitskonflikten: »Ja, ja, man hat miteinander geschafft.« U n d in einem anderen Gespräch hieß es: ». . . wo man lOJahr' alt war oder 11, da hat man müssen auch gleich in den Stall, wenn man gevespert hatte, und meistens mußte man dann dem Vieh zu fressen geben. . . . Ja, grad da, wo ich 12 Jahr' alt gewesen bin . . ., dann hat mein Vater immer gesagt: >So jetzt gehst Du runter und gibst [Futter] ein!Nebenerwerb< machten. 1 1 b) Die Lehrlinge Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts absolvierte ein Großteil der männlichen Ohmenhäuser Jugend nach der Schulentlassung eine Lehre. Im folgenden soll anhand archivalischer Quellen Fragen der Berufswahl, der Ausbildungskosten und der sozialen Mobilität der jungen Handwerker nachgegan80
gen werden. Ein Konfliktfall aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, bei dem der örtliche Kirchenkonvent in die Frage der Ausbildung eines jungen Schreiners eingriff, verdeutlicht eine ganze Reihe von Problemen, mit denen sich die Handwerksjugend jener Zeit konfrontiert sah. »Ferner wurde der Schreiner Jacob Künstle und Martin Endele, Weber citiert und Ersterer befragt: ob er seinen 16jährigen Sohn Johannes zum Martin Endele, Weber in die Lehre thun wolle, und Martin Endele, Weber, wurde gefragt, ob er ihn unentgeldlich in die Lehre nehme? Worauf der Erstere erklärte: Er wolle ihn zum Martin Endele in die Lehre thun u. letzterer: er wolle ihn unentgeldlich auf zwei Jahre in die Lehre nehmen unter der Bedingung, daß der Schreiner seinen Sohn verköstige. Es wurde beschlossen, daß, wenn er seinen Sohn am 29. N o v . 1847 nicht in die Lehre zum Martin Endele, Weber gebracht habe, er 24 Stunden eingesperrt werde.« 1 2
Die Schreinerfamilie Künstle gehörte zu den Ärmsten in Ohmenhausen. Mit der verbotenen Herstellung und dem Verkauf von Zündhölzchen versuchte sie sich notdürftig über Wasser zu halten. Kinder wie Eltern erschienen während der 40er und 50er Jahre des 19. Jahrhunderts mit steter Regelmäßigkeit wegen »Betteins und unerlaubten Hausierens« in den oberamtlichen Strafregistern und wurden für diese Delikte (wegen totaler Insolvenz) jeweils einige Tage arretiert bzw. die Kinder mit »5 Ruthenhieben« versehen wieder nach Hause geschickt. 13 Die Familie war über Jahre hin auf die öffentliche Armenunterstützung angewiesen. In diesem Zusammenhang ist das Einschreiten des Kirchenkonvents bei der Ausbildung des ältesten Sohns zu sehen: Johannes Künstle war laut Bevölkerungsliste vom Dezember 1846 noch zu Hause; da bereits schulentlassen, hatte er offensichtlich eine Schreinerlehre bei seinem Vater begonnen. Dieser wurdejedoch 1847 selbst wegen Betteins bestraft, kann also mangels Aufträgen auch nicht in der Lage gewesen sein, seinem Sohn eine ordentliche Ausbildung als Schreiner zu geben. An diesem Punkt schritt der Kirchenkonvent aufgrund seines Interventionsrechts bei »Vernachlässigung der Kindererziehung« 14 ein und versuchte, den Johannes Künstle zu einem besser gestellten und >ehrbaren< Meister in die Lehre zu bringen. Das war nicht einfach; denn das Lehrgeld betrug zu jener Zeit etwa 30 fl. - die Schreinerfamilie konnte so viel Geld auf keinen Fall bezahlen. Im Jahr 1847 ging es den meisten Handwerksbetrieben schlecht, und die Nahrungsmittel waren knapp. Nur wenige konnten deshalb ein Interesse an einem Lehrjungen haben, von dem es mehr als unsicher war, ob er durch, seine gewerbliche Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen würde. Allenfalls ein jungverheirateter Handwerker wie Martin Endele, dessen Frau gerade mit ihrem dritten Kind schwanger und deshalb nicht voll arbeitsfähig war, mochte damals aus einem Lehrling einen Nutzen gezogen haben; und das wohl eher wegen dessen Mithilfe auf dem Feld als im Handwerksbetrieb. 81
Aber auch Martin Endele, mit dem der Kirchenkonvent über einen preisgünstigen Lehrvertrag für Johannes Künstle verhandelte, wollte offensichtlich das Risiko, diesen Lehrjungen auch bei schlechter Auftragslage versorgen und ernähren zu müssen, nicht eingehen. Er bestand deshalb darauf, »daß der Schreiner seinen Sohn verköstige«. Damit freilich hätte Endele ein gutes Geschäft gemacht. Darauf jedoch schien sich Schreiner Künstle nicht eingelassen zu haben: Sein Sohn Johannes jedenfalls wurde Schreiner und absolvierte wohl eine Lehre bei seinem Vater, der den Strafregistern zufolge (entgegen den Drohungen des Kirchenkonvents) nicht eingesperrt wurde. Man schien sich gütlich geeinigt zu haben. Was sagt dieser Fall über die Lage der Lehrlinge aus? 1. Der Schritt ins Berufsleben begann für die meisten Lehrlinge im Dorf, für diejenigen, die den väterlichen Beruf erlernten, sogar im elterlichen Betrieb. Ihnen brachte die Lehre wenig Neues, war (wie bei den Hoferben) mehr ein Hinübergleiten in einen anderen Status als eine wirkliche Zäsur im Leben. 2. Mit der Überfüllung der Handwerke wurde es in Ohmenhausen zunehmend schwieriger, Lehrstellen für die Kinder zu finden. Die Agrarkrise der Jahrhundertmitte machte es beinahe unmöglich, die Meister stellten kaum annehmbare Bedingungen. 15 3. Die Berufswünsche der Jungen konnten zu jener Zeit wenig berücksichtigt werden. Es ging darum, überhaupt eine Lehrstelle zu finden. 4. Die Ausbildung der Söhne war, wenn die Lehre auswärts absolviert wurde, ein Kostenfaktor, der sicher das Budget vieler Familien überschritt; denn es mußte nicht nur Lehrgeld bezahlt werden, sondern die Eltern mußten auch für Kleidung und Werkzeug aufkommen. Die Pflegrechnung für einen 16jährigen Ohmenhäuser Buben, der bei einem Reutlinger Schuster in der Lehre war, umfaßte in den Jahren 1818-20 folgende Ausgaben für Ausbildung, Werkzeug und Kleidung: »den 17. Feb. 18 bezahl ich vor einen Leder H a m m e r und Lederzang und Beiszang
pro
f. 2.
30.
den 24ten Merz 18 bezahl ich vor ein tüchene K a p p
pro
1.
12.
den 7ten Juni bezahl ich die Helfte Lehrgeldt dem Hl. Schuhmacher Meister Bauer
pro
20.
den 10 Juni 18 bezahl ich der Nähere v o m zwey Hembder zu flicken
pro
8.
den lOten A u g . 18 bezahl ich vor ein Schuhmacherstahl und Knipp und Wämmesle
pro
40.
den lOten Febr. 1819 bezahl ich vor ein Hembt dem Gottfried Digel
pro
82
1.
X.
—
28.
den 13ten Febr. bezahl ich Johannes Digel von 9 ehi Zwilch Weberlohn den 10 Apr. 1819 bezahl ich von einem Wammes Macher Ion und vor K n ö p f
18.
48.
pro
den lOtenJänr 1820 bezahl ich vor einen Hut
1.
16.
den 1 Oten Jan. 1820 bezahl ich dem Schneider Meister Waltz von einem über Rock und Hos und Westmacherion
2.
30. 24.
den 1 Oten Jan 1820 vor ein Paar schuhsolen den lOtenJänr. 1820 bezahl ich dem KaufHerrn Fink an dem Tuch zu dem Rock und Hos den 24 ten Janr. 1820 bezahl ich von meinem Pflegsohn ausschreibgebühr
P·
den 3ten Apr. 1820 bezahl ich dem Herrn Finck vor das Tuch von dem über Rockh und Hos und für die Zukehrung und Knöpfe den 20ten Decb. 1820 hab ich Pfleger meinem Pflegsohn ein Hembt machen lassen und hat gekost den 15tn Nobr. hab ich meinem Pflegsohn 4 Ehi zwilch gegeben die Ehi zu 15. χ
dut
4.
51.
3.
32.
10.
48.
1.
30.
1.
Diese Rechnung, zusammen 52 fl. 54 xr., enthielt nicht einmal die ganzen Kosten; denn der Junge war schon 1816 in die Lehre gekommen. Der (inzwischen verstorbene) Vater hatte damals bereits 20 fl. Lehrgeld für die ersten zwei Jahre und wahrscheinlich etliches andere mehr bezahlt. Gleichzeitig umfaßte die Rechnung allerdings die Kosten für die Gesellenausrüstung, die aus neuen Kleidern: Hose, Weste, Überrock und Hut sowie einem Paar neuer Schuhe bestand. Die Meister hatten den Lehrlingen zwar Kost und Logis zu stellen, aber nichts weiter. Bei allen außergewöhnlichen U m ständen, vor allem bei Krankheit, mußten die Eltern bzw. der Pflegschaftsverwalter einspringen. 17 Die Ausbildung der Jungen verursachte nicht unerhebliche Kosten, 20 fl. pro Lehrjahr werden nicht zu hoch gegriffen sein. Daß versucht wurde, den Hauptposten bei diesen Angaben, das Lehrgeld, durch einen innerdörflichen Tausch der Lehrbuben zu umgehen, scheint daher wahrscheinlich; denn nicht jeder Lehrling konnte im elterlichen Betrieb seine Ausbildung absolvieren. Das war allenfalls bei den Webern so, deren Kinder der Mehrzahl nach wieder Weber wurden. Ein Schneider oder Schuster bildete jedoch immer nur einen Sohn in seinem Beruf aus. Das läßt sich an den Stammbäumen von Handwerkerfamilien leicht zeigen (vgl. Tab. III).
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Tab. III: Berufsstammbaum der Familie Wohlleb 1. Michael Wohlleb 1752—? Schuster 1.1 Jakob Wohlleb 1788-1865 Schuster
1777 Maria Cath. Haag 1753-1800 Schäfers To. (unehel.) 1819 Elisabeth Hügle 1789-1846 Taglöhners To.
1.1.1 Michael Wohlleb 1820-1844 Schneidergeselle 1.2 Johannes Wohlleb 1794-1842 Schneider
1822 AnnaMarg. Hügle 1802-1871 Webers To.
1.2.1 Johann Georg Wohlleb 1825-1893 Taglöhner
1856 Elisab. Barb. Wohlleb 1835-1868 Schäfers To.
1.2.2 Jakob Wohlleb — 1834-1861 Schneider (in Jettenburg)
1861 AnnaMarg. Wohlleb ?
1.2.3 Johannes Wohlleb 1841-1914 Weber
1871 Rosine Rapp 1846-1930 Schusters To.
von Jettenburg
1.3 JosefWohlleb 1797-1849 Zimmermann (in Stuttgart)
1835 Elisab. Kraiss 1806—? Weingärtners To.
1.4 Michael Wohlleb 1798—? Obermann b. Infantriereg./ Bauernknecht (in Herrenberg)
1830 Maria Barb. Weiler 1806-? von Herrenberg
(1.3.1 ff. u. 1.4.1 ff. unbekannt) 18 Eine Gesetzmäßigkeit zwischen Altersposition in der Geschwister reihe und dem Erlernen des väterlichen Handwerks ließ sich auch nach Auswer-
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tung mehrerer Berufsstammbäume in Ohmenhausen nicht feststellen. Alle Kombinationen waren möglich und kamen etwa gleich häufig vor. Auch die Berufe der Paten übten keinen eindeutig erkennbaren Einfluß auf die Wahl des Handwerks der Söhne aus. 19 Ganz deutlich war jedoch die Begrenzung der Familien auf bestimmte Berufsgruppen: Die Schuster, Schneider, Zimmerleute usw., jene notorischen Hungerleider und Armenhausaspiranten des Dorfes, waren dazu verdammt, sich permanent selbst zu ergänzen. Ein Aufstieg in die besseren dörflichen Handwerke (Schmied, Wagner, Küfer) war fur sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so gut wie ausgeschlossen. U m Bauer zu werden, hätte wohl nicht einmal eine Mesalliance mit der Tochter des Schultheißen ausgereicht (die deshalb selbstredend auch nie vorkam). 2 0 Die Berufswahl der Kinder dieser unterbäuerlichen Handwerkerschicht wurde vorwiegend nach pragmatischen Gesichtspunkten vollzogen: Wo gerade ein Schuster, Weber, Schneider usw. eine Lehrstelle frei hatte und nach Möglichkeit fur seinen eigenen Buben auch gerade nach einer Lehrstelle suchte, da mußten die schulentlassenen Jungen hin. Durch die Einschränkung auf bestimmte Berufe und die Notwendigkeit, durch Lehrlingstausch Kosten zu sparen, wird die Auswahl für diese Jugendlichen nicht mehr so groß gewesen sein. Die Agrarkrise der 40er und 50er Jahre, die eine hohe Arbeitslosigkeit im gewerblichen Sektor nach sich zog, machte es fast unmöglich, fur die Kinder noch Lehrstellen zu finden. Die bettelnden, zerlumpten, verzweifelt nach Arbeit suchenden Gesellen gehörten in diesen Jahren zum Straßenbild. Den Auszubildenden wird es nicht besser ergangen sein. 21 Der finanzielle Druck auf die Eltern erhöhte sich (wie im Fall Künstle) während dieser Jahre beträchtlich, die Ernährung und Behandlung der Lehrjungen dagegen verschlechterten sich drastisch. Daß die einzigen Belege fur das Entweichen von Ohmenhäuser Lehrbuben von ihrer Stelle aus eben jener Zeit stammen, wird kaum ein Zufall sein. 22 Das Davonlaufen aus der Lehre fuhrt zur Frage nach den Wahrnehmungsweisen der Jugendlichen selbst. Darüber ist jedoch in den Akten nichts zu finden. Keiner der wenigen erhaltenen Briefe von Lehrlingen spricht von den Umständen im Betrieb, vom Spaß oder Überdruß an der Arbeit oder auch nur von den Kochkünsten der Meisterin. Die offizielle Berichterstattung hatte an derartigen Fragen ohnehin kein Interesse. Erst fur die Zeit nach der Jahrhundertwende läßt sich auch diese Dimension durch Gespräche mit alten Handwerkern erschließen. Ohmenhäuser Jugendliche, die ein Handwerk erlernen wollten, mußten nun mit ziemlicher Sicherheit nach Reutlingen oder in ein anderes Dorf gehen; denn im Ort selbst gab es kaum noch Meister. Durch diese räumliche Trennung war der Beginn der Lehre für die Jungen jetzt ein durchweg gewichtiger und keineswegs angstfreier Schritt. Ein älterer Ohmenhäuser Bürger, der in schwierigen familiären Verhältnissen aufwuchs, antwortete auf die Frage, ob er denn froh gewesen sei, daß er von zu Hause fort durfte, als er in die Lehre kam: 85
»Ja, was heißt das, von daheim weg geht man nie gern . . . Das Bettzeug habe ich selber stellen müssen, das hat mir mein Vater [nach Reutlingen] reingefuhrt. U n d w o [= als] man hingegangen ist, da hat man Ade gesagt, zum guten Glück habe ich noch ein Fläschle Most dagehabt, das hat er mir noch mitgebracht, dann habe ich ein paar Schlucke getrunken, dann habe ich den Klotz im Hals runtergebracht. So ist es halt im Leben. «
Der Anfang des Berufslebens war für etliche Lehrlinge ein bedeutsamer Einschnitt, denn er brachte die erste Trennung vom Elternhaus. Allerdings wohnten zu Beginn dieses Jahrhunderts einige Lehrlinge schon nicht mehr bei ihren Meistern, sondern pendelten wie die Arbeiter täglich mit dem Zug oder zu Fuß nach Reutlingen. War die Trennung von zu Hause nicht einfach, so waren die Umgangsformen mancher Meister noch nach dem Ersten Weltkrieg für die jungen Lehrlinge geradezu traumatisch. Ein alter Handwerker erinnerte sich an seine Lehrzeit, die er selber allerdings erst mit achtzehn oder neunzehn Jahren absolvierte, da er in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs noch zum Militär eingezogen wurde: »Und dann hatte ich einen ganz strengen Lehrmeister . . . Nach den heutigen Begriffen würde man sagen: das war ein Saukopf. Mir hat er natürlich nicht mehr wie der Schwab sagt - >an d'Gosch na g'hauerichtigenSozialprodukt< erwirtschafteten, konnte nicht ohne Konsequenzen für ihre Stellung innerhalb der Familien bleiben. Ihr veränderter Status zeigte sich zum Beispiel an der teilweisen Ausgliederung aus dem häuslichen Arbeitsprozeß. Die Pfarrer sahen darin eine gefährliche Entwicklung. Besonders den Mädchen galt ihre Sorge, da sie ihrer Ansicht nach keine guten Hausfrauen werden konnten und ihre zukünftigen weiblichen Rollen nur ungenügend beherrschen lernten, wenn sie direkt nach der Schule in die Fabrik gingen, ohne zuvor wenigstens einige Jahre in einem Haushalt gedient zu haben. »Die Mädchen lernen nichts von der Haushaltung. Weil sie gleich nach der Konfirmation in die Fabrik kommen, fehlt es den meisten an Gelegenheit oder Lust, das Kochen u. andere Haushaltsgeschäfte zu lernen. Sie werden auch von den Müttern am Feierabend gewöhnlich mit solchen Arbeiten verschont. « »Da ist es nun sehr schwer, diesen Schaden mit seinen Folgen begreiflich zu machen und die Eltern dazu zu bringen, ihre Töchter wenigstens eine Zeit lang in einen fordernden Dienst zu verdingen. « 33
Das Problem der Pfarrer allerdings war, daß sie wirklich schlechte Folgen der Fabrikarbeit nicht nachweisen konnten (»Allerdings ist bis jetzt ein besonderer Nachtheil auch nicht zu spüren«, heißt der sich wiederholende Schlußsatz); denn die Mädchen hörten durchweg nach der Verheiratung auf zu arbeiten, und was eine Hausfrau in Ohmenhausen können mußte, das beherrschten sie ohnehin: Kartoffeln und Spätzle, die Hauptbestandteile jeder Mahlzeit, erforderten wenig hausfrauliche Erfahrung bei ihrer Zubereitung. 3 4 Auch die moralischen Bedenken, die den Fabriken als Treffpunkt »verschiedener Elemente« 35 (das hieß in erster Linie: der verschiedenen Geschlechter, dann aber auch: der sozialen Unterschichten der Orte der gesamten Umgebung) entgegengebracht wurden, konnten von den Fabrikanten 89
leicht entkräftet werden. Pfarrer Bunz berichtete in diesem Zusammenhang an die Kirchenleitung: »Auch das Wandern auf die Fabrik in Gemeinschaft ist nicht so gefährlich, in dem das offene Zusammengehen aller den gleichen Vortheil bietet, wie die Rekrutierung der deutschen Regimenter aus einem und demselben Bezirk. Ein fur seine Arbeiter in leiblicher und sittlicher Beziehung besorgter Fabrikant sagte einmal: >0 Herr Pfarrer, was werden denn ihre Leute viel Böses anstellen können. Morgens vor 5 Uhr müssen sie daheim forteilen, um die Zeit einzuhalten, bei jeder Witterung Winters und Sommers, abends machen sie, daß sie heimkommen, wenn sie 12 Stunden in Arbeit gestanden sind, und in dieser Zeit stehen sie unter Aufsicht. « 36
So blieb am Ende von der Fabrikarbeit immer nur der enorme »ökonomische Vortheil«, der Eltern wie Jugendliche gleichermaßen anzog: »Allein, wenn ein Mädchen im Jahr bis zu 650 M und darüber verdienen kann, ist dies fur die Eltern verlockend, zumal man bis jetzt keine Beispiele besonderen Nachtheils vor Augen hat, auf welche man hinweisen kann, wohl aber solche von ökonomischem Emporkommen von Familien. « 37
Der dringend notwendige wirtschaftliche Aufschwung sollte jedoch (für die Jugendlichen) bald seine Schattenseiten zeigen: Er weckte bei den Erwachsenen Bedürfnisse, die befriedigt sein wollten. Diese Bedürfnisse richteten sich vor allem auf die schwäbische Leidenschaft : das eigene Haus. Den beengten Wohnverhältnissen, der Ein-Stuben- oder Dachbodenexistenz zu entkommen, war das Ziel aller jungen Familien. Dies war realisierbar -jedoch nur, wenn die Kinder so früh wie möglich mitverdienten. Seit der Jahrhundertwende wurde die Fabrikarbeit daher für die Jugendlichen zu einem von den Eltern installierten Zwang, bei dem es genauso wenig ein Entkommen gab wie eine oder zwei Generationen zuvor, als Armut und Not der Jugend den Weg nach Betzingen wiesen. Die Berufswünsche der Jugendlichen wurden von den Eltern ignoriert und mit dem kategorischen Satz »Der . . . muß mit mir über den Galgenberg laufen und muß mir mein Häusle helfen verdienen« ein für allemal entschieden. Die Aussicht, bald Geld verdienen zu können und auch >wer zu seinAusstand< in Form eines Bierfasses spendierte) aus der Kameradschaft aus 92
und hatte von da an kein Recht mehr, zur Äbbehe zu gehen oder an den anderen Aktivitäten der ledigen Jugend teilzunehmen. Die Kameradschaften >begleiteten< die Jugendlichen durch die gesamte Pubertäts- und Adoleszenzphase. »Sie hattefn] fur eine verlängerte >Initiation< zu sorgen, grob gesagt vom Beginn der Pubertät bis zum Zeitpunkt der Heirat.« 5 Lebens- und sozialisationsgeschichtlich kommt diesen Gleichaltrigengruppen (peer groups) fur die männliche Jugend damit entscheidende Bedeutung zu. Die Mädchen waren weit weniger straff >organisiertFamiliarisierung< der Arbeitsgeselligkeit der Mädchen als Gegenmaßnahme der Erwachsenen hätte rechtfertigen können. Die Ortsobrigkeit schob ökonomische Gründe für die Einschränkung oder gar das Verbot der Lichtstuben vor: es gebe zu wenig Arbeit für die Mädchen, da man kaum Werg zu verspinnen habe. Wenige Tage nach der zitierten Beratung dieses Gegenstands durch den Kirchenkonvent faßte der Pfarrgemeinderat dazu folgenden Beschluß: »Ob Lichtstuben dieses Jahr gestattet werden sollen, darüber gab Pfarrgem.rath sein Gutachten dahin ab: obwohl es nicht viel Werg zum Verspinnen gebe, würden die jungen Leute, auch zur Ersparung des Öls, zusammenkommen. Es sollten daher der Beschäftigung wegen einzelne zuverlässige Hausväter die Erlaubnis zur Haltung von Lichtstuben auf vorherige Ermahnung erhalten, β 1 1
Der Pfarrgemeinderat war in einer schwierigen Situation. Auf der einen Seite hätte er die Spinnstuben sicher gern untersagt, da es zu wenig Arbeit gab. Nur zum >Schwätzen< sollten die Mädchen nach der Meinung dieses Gremiums nicht zusammensitzen. Auch fürchtete man sich (in dieser Krisenzeit verstärkt) vor Mesalliancen der Kinder und möglichen illegitimen Folgen, suchte also jedes unkontrollierte Zusammenkommen von männlicher und weiblicher Jugend zu unterbinden. 12 Andererseits wagte man doch nicht, ein totales Verbot der Lichtstuben auszusprechen. Die jungen Leute würden »zur Ersparung des Öls« ohnehin zusammenkommen, drückte der Pfarrgemeinderat es aus. In Wirklichkeit war es natürlich die Geselligkeit, 94
wegen der sich die jungen Mädchen trafen. Dies konnte der Pfarrgemeinderat allerdings dem Pfarrer nicht als Grund für eine Genehmigung angeben; denn gerade das war ja in den Augen der Kirche das Verwerfliche an den Lichtstuben. Ihr Verbot hätte jedoch mit Sicherheit einen Protest der Jugend zur Folge gehabt. Und davor fürchteten sich die Pfarrgemeinderäte ebenfalls. So war die Famiiiarisierung der Lichtstuben und die Auflösung der Jahrgangsorganisation der Mädchen der einzige Ausweg. Daß die Lichtstuben nicht ganz verboten wurden, hing aber auch mit ihrem wirklichen ökonomischen Nutzen zusammen. Dieser fiel mit dem Rückgang der traditionellen Hausindustrie keineswegs fort; denn das Spinnen wurde durch andere Handarbeiten ersetzt. Zwar wurde von den Mädchen schon immer nach Feierabend vorwiegend oder ausschließlich für ihren Eigenbedarf, das heißt: die Aussteuer, gearbeitet, aber auch dadurch erfüllten die Lichtstuben eine ökonomisch wichtige Funktion. Denn ohne Aussteuer, ohne Betten, Überzüge usw., konnte man nicht heiraten, und ihre Anfertigung nahm noch um die Jahrhundertwende die Winterabende fast der ganzen Jugendzeit in Anspruch. Eine alte Frau erinnerte sich an diese Arbeiten, die noch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in den Lichtstuben gemeinsam erledigt wurden: »Da hat man fur die Aussteuer geschafft: Hohlsäume und Knopflöcher und so Sachen. Da hat man, schon von 17,18 Jahren an, an der Aussteuer geschafft, weil man alles selber gemacht hat. « 13
Während der Feierabend der Mädchen, deren Geselligkeit noch besonderer Legitimation bedurfte, vorwiegend mit Arbeit ausgefüllt war, verliefen die Winterabende der männlichen Jugend in ganz anderen Bahnen. Zu Beginn des Abends, etwa zwischen 19.00 Uhr und 19.30 Uhr, trafen sich alle ledigen Burschen zu einer Lagebesprechung in der Ortsmitte, bei der die wichtigsten Neuigkeiten des Tages ausgetauscht und die Aktionen des Abends geplant wurden. In den Interviews wurde der Verlauf wie folgt geschildert: »Die Schulkameraden kamen am Waaghäusle zusammen, und wehe dem, wenn einer von einem anderen Jahrgang zu einem hinstand, dann hat er gleich eine verpaßt gekriegt. Und da hat man dann ausgemacht, was man am Abend bosgen [= anstellen] wollte. «
Diese Generalstabsbesprechung der nächtlichen Feldzüge war in sich streng >hierarchisch< gegliedert. Die einzelnen Jahrgänge standen beieinander in geschlossenen Gruppen. Kam es zu gemeinsamen Aktionen, so gaben die älteren Jahrgänge den Ton an; die jüngeren hatten nichts zu sagen: »Wenn ein Alter etwas gesagt hat, dann mußte der Junge abhauen. Wir haben uns ja immer am Waaghäusle getroffen und wir waren der stärkste Jahrgang, so 10 bis 15 Leute, ein ganzer Haufen halt. Wenn da ein Junger dazu kam - auf einmal hat er eine auf d'Gosch kriegt. «
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Nach außen hin war dieses Treffen jedoch eine geschlossene Demonstrationjugendlicher Macht; denn die fünfzig bis sechzig Burschen, die an den Winterabenden in losen Gruppen über den Dorfplatz verteilt standen, ließen keinen Zweifel daran, daß sie die langen Winternächte beherrschen würden: mit Trinken und Spielen, mit Kämpfen der Jahrgänge untereinander oder aller zusammen gegen eindringende Betzinger oder Mähringer Buben, mit Aktionen gegen hochnäsige Mädchen oder Bürger, die man nicht leiden konnte. Man hatte fast jede Nacht alle Hände voll zu tun. Wenn jedoch keine größeren Aktionen unmittelbar bevorstanden, ging man vom Treff am Waaghäusle zunächst einmal zum > gemütlichem Teil des Abends über. Die Gruppen trennten sich und machten sich auf den Weg zu ihren Äbbehe-Häusern. »Man ist . . . um 8 Uhr erst hingegangen, weil man ja vorher zu dem Treffplatz gegangen ist, ans Waaghaus; sehen was da los gewesen ist. Und von dort sind dann die einzelnen Jahrgänge in ihre Äbbehe gegangen. « »Und jeder Jahrgang ist in ein anderes Haus gegangen. Da hat man sich bei einem Bauern die Stube gemietet, die Stube, in der der Bauer auch gewohnt hat. Da hat man Karten gespielt und gesungen und sonst Spiele gemacht. Und dann ist man wieder mal im Flecken herumgelaufen und hat im Flecken herumgesungen. «
Im Gegensatz zu den Lichtstuben der Mädchen unterlagen die Äbbehes keinerlei Regulierungen durch die Obrigkeit oder die Familien. Sie mußten weder vom Kirchenkonvent genehmigt noch vom Polizeidiener visitiert werden. Während des ganzen Sommers schon gingen Beauftragte der Jahrgänge im Ort herum und versuchten, Familien mit großen Wohnstuben zu überreden, diese an den kommenden Winterabenden ihrem Jahrgang zur Verfügung zu stellen: »Da hat man seine Kameraden gehabt, die gleich alt sind und dann, man ist auch ein bißchen 'rumgeschlurft im Ort, w o man unterkommen könnte; weil, so eine Gesellschaft, wie man da gewesen ist, hat nicht in ein jedes Haus gepaßt. Und wir sind dann gerade auch bei einem Kameraden untergekommen. «
Die Vermieter überließen den Jugendlichen lediglich den Raum, ihre Wohnstube. Sitzgelegenheiten, Getränke und Spiele mußten diese selbst organisieren. Für Heizung, Licht und Raumnutzung mußte man den Äbbehe-Leuten ein geringes Entgelt bezahlen. »Und da hat man das Lichtgeld bezahlt . . . Wir haben immer drei Mark bezahlt. . . . die Leute mußten ja heizen. Und Tische und Stühle, also die Sitzgelegenheiten, die mußte man selbst hinstellen. « Im Gegensatz zu den Lichtstuben wurde auf den Äbbehes nicht gearbeitet. Die Burschen unterhielten sich, spielten, lasen sich die Zeitung vor, 14 rauchten und tranken, kurz: Sie übten die höchst wichtige Fähigkeit des zukünftigen Stammtischpolitikers ein. Ein normaler Abend auf der Äbbehe verlief etwa wie folgt:
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»Aber immerhin, es war immer lustig, man hat mal gesungen, dies und jenes, man hat sich erzählt, was man erlebt hat und so weiter, was in der Fabrik passiert ist und wie es eben zugeht. . . . Und da ist eben eine Unterhaltung gewesen, daß man ein bißchen da sich ausgetobt hat und, will ich sagen, man hat ab und zu mal auch einen Spaziergang gemacht am Abend, wenn es schönes Wetter gewesen ist . . . Da sind wir mal zu dem Hasenberg rauf, wie alt bin ich denn da gewesen, ja 15 oder 16, und da habe ich auch gehörig getrunken, dann habe ich scheint's auch was [ = einen Rausch] gehabt und dann, hintendrein drei Tage ist es mir schlecht gewesen, dann habe ich gesagt, das kommt nicht wieder vor. Und von dort an habe ich nichts mehr über mein Maß getrunken. Und habe auch mit dem Rauchen nachgelassen, da habe ich dann bloß noch Stumpen geraucht. « A u f der Äbbehe konnte man also erzählen, w o f ü r man zu Hause k a u m ein offenes O h r fand: die kleinen täglichen Sorgen a m Arbeitsplatz u s w . ; man konnte sich austoben und unbeaufsichtigt von der Familie die wichtigsten männlichen Statussymbole: das Rauchen und das Trinken einüben. Denn was auf der Äbbehe >halboffiziell< erlaubt war, war vor den Eltern strikt verboten: »Bevor er [ = der Jugendliche] nicht Soldat geworden ist, hat er vor dem Vater nicht rauchen dürfen und dann ist er zwanzig gewesen. « »Ich habe daheim auch nicht geraucht, bis ich geheiratet habe. « Es ging fröhlich und zwanglos zu auf den Äbbehes. Die Altershierarchie, die in der Familie und sogar noch a m Treffplatz a m Waaghäusle herrschte, konnte hier für einige Zeit vergessen werden. Der Jahrgang war unter sich. Die Harmonie unter den Kameraden war eines der beherrschenden Elemente in den Erinnerungen der alten Ohmenhäuser an die Äbbehe. Ein Arbeiter erzählte: »Wurst haben die Leute geheißen, das sind zwei ältere Leute gewesen, kinderlos, und da sind wir gewesen, bei denen. Also das war schön, das ist harmonisch gewesen, da hat man auch keinen Streit gehabt, es hat nur Streit gegeben zwischen Jüngeren und Älteren. Aber innerhalb der Kameraden im Jahrgang hat es keinen Streit gegeben. Dann hat man einen Einstand gehabt mit einem Fäßle Bier, wenn man aufgezogen ist, und wenn man gegangen ist wieder. « Lediglich die Wirtsleute nahmen notgedrungen a m Treiben der Burschen - beobachtend - teil. Häufig entwickelte sich allerdings ein enges Verhältnis zwischen den B u b e n und ihren >Äbbehe-MütternMaul aufreißen< und angeben, ohne Rücksicht auf Hierarchie und Respekt. Was in der elterlichen Wohnstube undenkbar gewesen wäre, war hier erlaubt. Die Äbbehes waren das einzige Ventil, durch das die Jungen den Dampf ablassen konnten, der sich Tag für Tag in ihnen anstaute. Allzu bunt freilich durfte man es auch auf der Äbbehe nicht treiben; denn dann flog man raus. »Die haben auch mal gekündigt, die Herren, wenn man sich zu arg aufgeführt hat. Und dann hat man das ganze Jahr wieder herumsauen [= herumgehen] müssen, bis man eine neue Stube bekommen hat. So eine Sauerei!«
Polizeilicher Aufsicht wie die Lichtstuben unterlagen die Äbbehes nicht. Lediglich im Jahr 1857, als die Burschen einmal zu groben Unfug angestellt hatten und ein Vater sich daraufhin beim Kirchenkonvent beschwerte, mußte der Dorfschütz für einige Zeit seine Runde auch bei den Äbbehehäusern machen. »Ein Vater brachte an, daß sein Sohn mit anderen Buben in einem sogen. Ebehinhaus . . . zusammenkomme, u. daß dabei ζ. B. vorgekommen, zum Fenster hinaus zu springen, ein thörrichter Streich jugendlichen Übermuths, der böse Folgen haben kann. Aus diesem Anlaß kommen die Zusammenkünfte der ledigen Söhne zur Sprache. Dieselben können wohl nicht verboten werden. Es wird verlesen, was Hauber in >Recht und Brauch< von den Lichtkärzen sagt, daß seine Anwendung auch auf solche Zusammenkünfte findet. >Wo die Aufsicht über diese Zusammenkünfte nicht an den Policeidiener gehängt, sondern von angesehenen älteren Bürgern ausgeübt wird, da mögen sie wohl bestehen. In einzelnen Gemeinden haben die Kirchenältesten [diesen Dienst] mit Erfolg übernommen. < Dies sollte auch hier geschehen. >Die Alten sollten nicht über die Jugend hinter dem Ofen jammern, sondern ernstlich und freundlich der Jungen sich annehmend Übrigens sollen sie auch unter kirchenconventliche u. policeiliche Aufsicht gestellt werden. «15
Die kirchenkonventliche Regulierung und polizeiliche Beaufsichtigung der Äbbehes scheint nur zwei Jahre gedauert zu haben. Später war davon nie mehr die Rede. Die Äbbehes waren ein heißes Eisen, das von den Erwachsenen nur mit äußerster Vorsicht angetastet wurde; denn sie wußten aus eigener Erfahrung nur zu genau, welche Folgen Einschränkungen dieses kleinen Bereichs jugendlicher Selbstbestimmung hätten haben können. Daher unterblieb selbst der Versuch der informellen Beaufsichtigung durch »angesehene ältere Bürger«. Bis nach dem Ersten Weltkrieg konnte die männliche Jugend auf den Äbbehes treiben, was sie wollte, konnte abends dort bleiben, bis es den Wirtsleuten zu viel wurde. Die Polizeistunde spielte dabei keine Rolle. Lediglich die Väter schimpften ab und zu, wenn die ledigen Söhne allzu spät nach Hause kamen. Ganz anders war es bei den Mädchen. Ihre abendlichen Geselligkeiten waren während des ganzen 19. Jahrhunderts zeitlich genau begrenzt:
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» A m heutigen Tag wurden die Lichtstubenhalter vor den Kirchenconvent beschieden und dieselben ernstlich ermahnt bey ihren Mädchen Ordnung zu halten, keine ledigen Pursche einzulassen und die Mädchen präcis 11 Uhr nach Hause zu schicken, widrigenfalls ihnen später verboten würde, Lichtstuben zu halten«,
hieß es im Kirchenkonventsprotokoll vom 9. November 1834. Dies war noch eine relativ großzügige Regelung, die den Mädchen fast so viel Freizeit zubilligte wie den Buben. Ein erster Versuch des Ortspfarrers im Jahr 1838, das Abbieten auf den Lichtstuben um eine Stunde vorzuverlegen, scheiterte damals noch am Widerstand der Väter: »[Es] kam die Frage zur Sprache, ob man das Ende der Lichtstuben in Zukunft auf 10 oder 11 Uhr festsetzen solle, und wurde von allen Mitgliedern mit Ausnahme des Geistlichen beschlossen, das Ende derselben, wie bisher, auf 11 Uhr zu bestimmen.« 1 6
Später, als die Lichtstuben zur privaten Veranstaltung geworden waren, verschob sich auch ihr Ende nach vorn. Die Eltern wollten ins Bett und ihre Töchter zuvor sicher hinter Schloß und Riegel wissen. In einem Gespräch mit zwei älteren Ohmenhäuser Männern hieß es: »Auch wenn sie schon bald zum Heiraten waren: U m zehn Uhr mußten sie daheim sein. >Das will ich dir mal sagen, daß du mir j a nicht . . . < Wo hätten sie's auch hintun sollen, sie haben j a selbst einen Stall voll Kinder gehabt. «
Die Angst der Eltern war nicht ganz unbegründet; denn das Ende der Lichtstuben bedeutete auch für die Burschen einen vorübergehenden Aufbruch von der Äbbehe, weil trotz aller Domestizierungsversuche die Sitte, daß die Jungen ihre Mädchen von den Lichtstuben abholten und nach Hause brachten, nicht unterbunden werden konnte. Eine Frau erinnerte sich an diesen Brauch: »Man ist auch in die Lichtstube, und die ist um zehne aus gewesen. U n d dann sind die Buben gekommen und haben einen abgeholt und haben einen heimgebracht. «
Es ist kaum anzunehmen, daß die Pärchen von den Lichtstuben auf dem direkten Weg nach Hause gingen; denn Einlaß ins elterliche Haus der Mädchen bekamen die Burschen nicht. Nachtfreien, Fensterin und andere ritualisierte, von den Kameradschaften kontrollierte nächtliche Eheanbahnungsmöglichkeiten waren in Ohmenhausen unbekannt und wären beim gemeinsamen Schlafen auf den Dachböden auch undenkbar gewesen. Auf die Geschlechtertrennung wurde dort strengstens geachtet: unter der einen Dachschräge lagen nebeneinander die Burschen, unter der anderen die Mädchen. Für noch so >keusches< Liebesspiel, wie es in anderen Regionen geduldet wurde, war hier keine Gelegenheit. 17 U m so gefährlicher war der unkontrollierbare Kontakt der Jugendlichen beim Nachhausebringen. Die Eltern jedenfalls hatten um diese Stunde ein genaues Auge auf ihre Töchter, und die Töchter einen großen Respekt vor dem Zorn ihrer Eltern. 99
»Das ist anders gewesen wie heute, alle Achtung sage ich, wenn es heute auch noch so wäre, also da hat man müssen daheim sein, da hat man müssen bestimmt nach den Zehne, mit 17, 18 Jahren . . . Es hat mich auch mal einer, es ist dann mein Mann geworden, der hat mich heimbegleitet und dann haben wir, . . . wo die Ortschaft ausgeht, an einem Baum gestanden und dann sage ich, um Gottes Willen, da kommt meine Mutter und dann hat mich meine Mutter tatsächlich heimgeholt . . . und hat fest geschimpft. Also da hat man daheim sein müssen. « Vor d e m H e i m w e g der einzelnen Paare fand häufig ein längeres >Gruppenspiel< statt: B u b e n zogen vor die Lichtstuben der Mädchen, manchmal auch die Mädchen vor die Äbbehe-Häuser der Buben und versuchten sich gegenseitig zu provozieren, indem sie Erbsen oder kleine Kieselsteine gegen die Fensterscheiben warfen: »Und dann sind die Buben gekommen und haben ihnen [den Mädchen] Angst gemacht und haben Körner ans Fenster hingeworfen, so daß sie ein bißchen Angst bekommen haben. Und dann haben es die Mädchen auch versucht, den Buben nachzumachen. Und da hatte man aber meistens eine Wache aufgestellt, und wenn eine oder zwei geworfen haben, dann ist man hinuntergesprungen bis man sie gefangen hat. Und dann hat man sie mit auf die Äbbehe genommen und da haben sie bleiben müssen, bis man auch nach Hause gegangen ist. Und wenn es 1 oder 2 Uhr geworden ist, das ist dann egal gewesen. . . . Das ist eine Strafe gewesen, warum haben sie auch hingeworfen! « Abgesehen von solchen Spielen waren die Geschlechter während des Abends ursprünglich strikt getrennt. Bis zum Ersten Weltkrieg schienen die Äbbehes fur die Mädchen tabu gewesen zu sein, mit einer Ausnahme: der Päcklesnacht. D a s war die Samstagnacht nach der Silvesternacht, in der die Burschen den Mädchen »das Neujahr angeschossen« hatten. D a f ü r brachten ihnen die Mädchen in der Päcklesnacht Geschenke auf die Äbbehe, w o sie gemeinsam die Nacht hindurch feierten. In einem Gespräch wurden die Vorgänge der Neujahrs- und der Päcklesnacht folgendermaßen geschildert: »Die Buben haben den Mädchen Neujahr angeschossen an Silvester. Und da hat man meistens den anderen Tag nicht mehr reden können vor lauter >Prosit Neujahr, Marie, Prosit Neujahr< schreien. « »Und dann haben die Mädchen schon hinter den Fenstern gewartet, mit dem Fläschle Likör und man hat ihnen [den Burschen] zum Fenster hinaus einen Likör eingeschenkt oder einen Schnaps. Die Mädchen durften nicht hinaus. Da hat man Angst gehabt, sie könnten einen treffen. Beim Neujahrschießen ist doch der Emil ums Leben gekommen. Dem haben sie irgendwo hineingeschossen. Da hat man mit Vorderladern und Reiterpistolen geschossen. Und an Neujahr lag er unterm Christbaum im Sarg. « »Und dann sind die Mädchen auf die Äbbehe gekommen, ein paar haben Zigarren gebracht, ein paar Zigaretten, auch einen Likör und die Mannsleute hatten ein Fäßle Bier da und ihre rote Wurst und da haben die zusammen gefeiert. « D a s Neujahr angeschossen zu b e k o m m e n war eine Ehre, auf die jedes Mädchen schon hinter dem Fenster lauerte, und nicht selten werden mehrere
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Rivalen vor demselben Haus ihr Pulver verschossen haben. Die Päcklesnacht gab den Mädchen deshalb nicht nur die Gelegenheit, sich »für die Leistung, was die Buben da getan haben« zu revanchieren, sondern auch den Erwählten unter den Verehrern mit einem Geschenk auszuzeichnen, seinen Antrag positiv zu beantworten. Dazu bedurfte es in Ohmenhausen nicht vieler Worte, die Größe des Päckles, die Dicke der Zigarren sprachen für sich: »Und dann haben sie einem ein Päckle gebracht mit Zigaretten und natürlich, dem Liebsten hat man ein größeres gebracht. « Für viele Mädchen war die Päcklesnacht die einzige Möglichkeit im Jahr, einmal etwas über die Stränge zu schlagen. Einige erinnerten sich allerdings auch mit Widerwillen daran; denn so manche Äbbehe-Mutter scheint diese Gelegenheit genützt zu haben, um ihre Fertigkeiten als Kupplerin zu testen. Eine alte Frau erzählte: »Nein, wir sind nie zu den Buben auf die Äbbehe, weil das nicht gut gewesen ist, . . . Buben haben immer die Äbbehe gehabt, und zu den Buben haben die Mädle kommen dürfen nach dem Neujahr, . . . an dem Päckles Tag, ja. Also zu den Buben, die einem das neue Jahr angeschossen haben, zu denen hat man da k o m m e n dürfen. D a hat man da Zigarren bringen müssen. Einmal sind wir gegangen und da haben wir die allerbilligsten Zigaretten gekauft, da drin beim Bäcker, ich weiß es noch gut, es hat doch niemand kein Geld gehabt von uns Mädle. U n d dann haben wir ihnen das gebracht, und dann sind wir da oben auf dem Buckel [ = Hügel] bei einem gewesen, da haben die ihre Äbbehe gehabt, und dann hat dieses Weib uns alle engagieren wollen, die hat wollen einem jeden eine hinsetzen. Das hat uns natürlich nicht gepaßt, wir haben für uns hinsitzen wollen, dann sind wir wieder gegangen. Die hatte gesagt: sitz du dahin und du dahin, dann sind sie [die Buben] hinter uns drein und haben uns wieder mitnehmen wollen, aber wir sind nicht mehr mit ihnen, zu denen sind wir nicht mehr auf die Äbbehe, die haben ihre Äbbehe immer am gleichen Platz gehabt. «
Das war in den Kriegsjahren. Auch in dieser harten, männerlosen Zeit wurden von den noch nicht militärpflichtigen Jungen wenigstens die wichtigsten Bräuche weiter praktiziert. Es war ein Recht, auf das sie während ihrer ganzen Schulzeit hingelebt hatten (»Da hat man halt die Großen bewundert: So will ich auch werden!«), und das sie sich jetzt offensichtlich nicht nehmen ließen. Dennoch stellte der Erste Weltkrieg für das Jugendbrauchtum, das die gravierenden sozioökonomischen Wandlungen äußerlich bislang weitgehend unverändert überstanden hatte, eine einschneidende Zäsur dar: Die älteren Jahrgänge hatten als Kriegsteilnehmer häufig zu viel Fremdes, Schreckliches erlebt, um sich noch einmal so ohne weiteres in die alte Ordnung der dörflichen Jugendbräuche fugen zu können (»Wir sind so heruntergeschmissen worden von unserem schönen, friedlichen Jugendleben!«). Den Jüngeren dagegen fehlten während des Krieges die Großen, die ihnen das für die Praxis der dörflichen Jugendsubkultur notwendige >Handwerkszeug< hätten vermitteln sollen; denn Traditionen wollten gelernt sein: 101
»Da hat ja der Krieg auch viel ausgemacht. Wer hätte uns einlernen wollen? Mit 18, 19 Jahren haben sie ja einrücken müssen. «
Auch wurden die Jahrgänge langsam zu stark. Es fanden sich keine Familien mehr, die die Jugendlichen während der Winterabende in ihren Wohnstuben aufgenommen hätten. Ein verändertes Bewußtsein von Öffentlichkeit und Privatheit wird dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben. »Mein Bruder, das ist ein 10er [Geburtsjahrgang 1910], der ist noch, das sind die Letzten gewesen, w o auf den Äbbehe gegangen sind. Und dann haben es die Leute nicht mehr, wegen dem Dreck oder wegen Dings, also . . . da hat man keinen mehr gekriegt. «
Die Jugendlichen beiderlei Geschlechts trafen sich deshalb nach dem Krieg häufig gemeinsam in der Wirtschaft, zum Tanz oder zur sonstigen Unterhaltung: »Von da an sind . . . die Jungen in die Wirtschaft. Weil man hat nicht mehr so zusammenkönnen, da sind sie dann im Winter in die Wirtschaft und haben ein bißchen Karten gespielt . . . « »1919, nach dem Krieg, da wo die Älteren dann wieder gekommen sind, dahaben sie Sonntags im Adler, da ist dann ein bißle Tanz gewesen . . . da sind wir auch hingegangen, ja. « l s
Der Erste Weltkrieg erschien in den Interviews als die Zäsur schlechthinim dörflichen Leben überhaupt und im Jugendleben und -brauchtum ganz besonders. Diese Interpretation der Ohmenhäuser selbst besitzt sicher ihre Berechtigung. Dennoch dürfen die Veränderungen der dörflichen Sozialstruktur seit der Jahrhundertmitte, die die Äbbehes bis zum Weltkrieg scheinbar unbeschadet überlebt hatten, nicht vernachlässigt werden. Denn diese Veränderungen hatten sich latent auch auf die Jugend und ihre Organisationsformen ausgewirkt, hatten schon lange vor dem Krieg den Boden fur deren Wandel bereitet: Die Fabrikarbeit brachte Jungen und Mädchen, auch aus verschiedenen Dörfern, zusammen und zwar in einem der Kontrolle der Familie wie der Kameradschaft weitgehend entzogenen Bereich. Sie schuf neue Möglichkeiten des Kennenlernens und erweiterte den regionalen Heiratskreis beträchtlich. Sie nivellierte das Autoritätsgefälle zwischen Vätern und Söhnen, da sie die Bedeutung der Verfügungsgewalt über den Besitz entwertete. Damit entfiel ein Teil der Entlastungsfunktion der Kameradschaften. Die Fabrikarbeit ermöglichte den Jugendlichen außerdem durch ihr regelmäßiges Einkommen eine frühere Heirat, führte somit zu einer Verkürzung der Adoleszenzphase. Und schließlich gliederte sich die Jugend immer mehr in die altersheterogenen Vereine der Erwachsenen ein. Dieser Wandel vollzog sich in Ohmenhausen ganz allmählich während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, führte aber noch zu keinem Zusammenbruch des traditionellen Jugendlebens. Diese Strukturveränderungen waren jedoch die Voraussetzung dafür, daß nach dem Ersten Weltkrieg die alten 102
Geselligkeitsformen der Dorfjugend innerhalb weniger Jahre vollständig verschwanden. 19 Für diejenigen allerdings, die die Äbbehes damals noch miterlebt hatten, waren sie der Inbegriff ihrer Jugendzeit, waren die zentrale Erfahrung, die für alle Härten in Fabrik, Lehre oder Familie entschädigte: »Das hat man alles gemacht! Ach, was, am Abend ist man ja auf die Äbbehe! Wir sind nämlich noch auf die Äbbehe, als wir schon aus dem Krieg gekommen sind. Nach dem Krieg! So sind wir Kameraden gewesen! Dort sind wir erst Kerle gewesen!«
b)
Sommersonntage
Die Frühjahrs- und Sommerabende waren bis spät angefüllt mit landwirtschaftlicher Arbeit. Auch wer aus der Fabrik kam, mußte noch für einige Stunden mit aufs Feld. Nach getaner Arbeit konnten die Jugendlichen deshalb allenfalls noch fur kurze Zeit zu den Nachbarn auf den Gassensitz, für die langen Nächte der Äbbehes reichten ihre Kräfte nicht mehr aus. An den Sonntagen allerdings traf sich die Jugend auch während des Sommers zu Spaziergängen und Tänzen. 2 0 Nur wenige hundert Meter vom Ort entfernt begann ein kleiner Eichenwald, der vom Unterholz weitgehend gesäubert war, da man im Herbst und Winter die Schweine zum Futtersuchen hineintrieb. Hier fanden während der Sommermonate die Tänze der Dorfjugend statt: »Im Sommer ist nicht so viel los gewesen, höchstens daß sie mal zum Tanz sind. . . . Wo es zum Friedhof rausgeht . . . das war so, heute täte man sagen Mittel wald: große Eichen, das Unterholz haben sie rausgehauen oder ist das Vieh da reingetrieben worden und hat das Unterholz weggefressen, und da hat jahrgangsmäßig unterjeder so einer Eiche, das hat man ganz glatt gemacht und das war denen ihr SonntagstrefFpunkt oder Sonntagsabendstreffpunkt, ihr Tanzplatz. Wenn einer Mundharmonika spielen können hat oder irgend so etwas, dann haben sie da getanzt. Und das ist aber regelrecht so eingerichtet gewesen, am nächsten zum Flecken haben müssen die Jüngsten [tanzen], also der jüngste Jahrgang, die Konfirmanden oder die, wo frisch aus der Schule gekommen sind. Und je weiter außen, da sind dann die Älteren gekommen. «
Wieder waren die Jahrgänge wie beim Treffpunkt am Waaghäusle oder auf den Äbbehes streng voneinander getrennt, und es scheint, daß sich auch die Mädchen auf dem Tanzplatz an diese Ordnung halten mußten. In einem Gespräch mit einer alten Frau hieß es: »Die [Mädchen] haben auch mitgemacht, da haben alle mitgemacht, auch zu den Jahrgängen, immer zu den Jahrgängen!« Die Musik zu diesen Tänzen wurde von einem Harmonikaspieler geliefert, der gegen Entgelt von einem Baum zum andern zog und den Jungen zum Tanz aufspielte. In den Jahren um den Ersten Weltkrieg war der Vater eines von uns befragten Mannes der Mundharmonikaspieler für die Jahrgänge:
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»Der hat alle halbe Stunde auf einen anderen Tanzplatz müssen, Walzer und Polka spielen am Sonntag. Der hat auch immer daheim getanzt, wenn man gut gevespert hatte. « Während die Musik bei den älteren Jahrgängen war, hatten die jüngeren Zeit, zu den Großen hinüberzuschauen, u m von ihnen die ersten Tanzschritte zu erlernen; denn Tanzlehrer gab es erst nach dem Krieg, als man diese kleinen Festivitäten in den »Adler« verlegte, w o ein elektrisches Klavier oder Orchestrion fur Dauerbegleitung sorgte: »Da ist man zusammengekommen, am Sonntagabend, die Jugend . . . und da haben manchmal die Besitzer selber Klavier gespielt oder ist ein Klavier dagewesen, wo man hat 10 Pfennig reingeschmissen, dann hat es gespielt . . . « Das Tanzen war die Leidenschaft fast der ganzen Ohmenhäuser Jugend (»Da sind alle hingegangen!«), und wenn ein Mann oder Mädchen nicht tanzen konnte, so disqualifizierte sie das als mögliche Heiratspartner sehr: »Also, ich habe nachher immer gedacht, also, das täte ich meiner Lebtage nicht mehr, einen Mann heiraten, wo nicht tanzen kann. So ist da das Tanzen noch hoch gewesen. « Der Tanzplatz war der eigentliche Heiratsmarkt des Dorfes. Hier spätestens wurde es bekannt, wer mit w e m eine >Bekanntschaft< hatte. »Da ist man so mit 14, 15 auf den Tanzplatz gegangen und da hat es sich dann so allmählich herausgestellt [wer welche Frau nimmt]. Ich meine, da ist man nicht viel auswärts gegangen. « Beim Tanzen konnte man sich berühren, was sonst in der Öffentlichkeit (und man befand sich so gut wie immer in der Öffentlichkeit) streng verpönt war; man bekam ein Gefühl voneinander und häufig auch füreinander. Die Körper, sonst nur als mehr oder weniger taugliche Arbeitsinstrumente erfahren und als solche auch v o m anderen Geschlecht begutachtet, konnten hier einmal eine andere Sprache sprechen. Allerdings ließ sich die Funktionalität der Bräuche selbst in diesem Bereich der Geselligkeit nicht leugnen; denn bei allen Versuchen der Annäherung und der Paarbildung hatten die Mädchen immer schon den zukünftigen Bauern und umgekehrt im Blick. Wenn jedenfalls an Kirchweih u m den »Gockeler«, einen Hahn, getanzt wurde, dann war allen völlig klar, daß hier die Muskeln der Bräute getestet wurden wie beim Maibaumklettern die Geschicklichkeit der Burschen. »Ja, Kirchweih, und da hat man einen Gockeler runtergetanzt. . . . Ich selber habe nie [einen] runtergetanzt, obwohl ich auch immer einen Tänzer gehabt habe, weil ich die Kraft gehabt habe zum rauflupfen. Aber da hat müssen der Kopf vom Tänzer an ein Gläsle hin und dann, wenn das Gläsle umgekippt ist, dann ist der auch noch naß geworden und dann hat man den »Gockeler« gehabt. « Wenn ein Mädchen ihren Tänzer im Schwung so weit emporstemmen konnte, daß er mit dem Kopf das Glas in 2 Vi bis 3 Meter H ö h e berührte, 104
dann konnte sie auch Ochsen einspannen und, wenn Not am Mann war, einen Acker pflügen - auf jeden Fall war sie dann »zum Heiraten«, hatte einen »Gockeler« verdient. Die normalen Tänze fanden erst am Sonntagabend statt. Wenn entsprechendes Wetter war, flog deshalb die Jugend an den Nachmittagen aus: »Ja, da ist man spazierengelaufen, auf die Alte B u r g oder in die Wengert [ = Weinberge] runter und die Jugend, da hat man so bestimmte Wege gehabt - die Mädle sind da gelaufen - , so hat man einander kennengelernt. . . . Also da ist alles runtergegangen, da ist alles gegangen, bloß will ich sagen so zwischen 14 und 25 oder 20. . . .Ja, da ist man immer auch auf Mähringen rüber, da sind die Mädle rausgelaufen auf die Anhöhe, da hat man immer auch ein bißle gespielt mit den Mädle, nichts Ernsters. «
Auch diese Spaziergänge und Spiele waren ein fester Bestandteil der Bräuche zur Partnerwahl. Sie liefen deshalb nach bestimmten Regeln ab: »Da ist man am Sonntag spazieren gegangen. U n d dann sind die Mädchen dann später auch - und haben sich getrennt: Drei, vier, fünf sind miteinander spazierengegangen. U n d dann hat man sich miteinander getroffen, im Wald, und wenn man dann spazierengegangen ist, am Waldrand entlang, dann sind immer vier, fünf Burschen hinter den Mädchen drein. «
Die Gruppen bildeten sich im Laufe des Spaziergangs allmählich um: Zu Beginn scheinen größere Trupps von »Gespielen« - wahrscheinlich in Jahrgangsordnung - losgezogen zu sein, die sich während des Spaziergangs nach und nach aufspalteten und die hinterher folgenden Burschen zwischen ihre Reihen ließen. Aus diesen kleineren Gruppen bildeten sich einzelne Paare, die schließlich den Waldrand entlangflanierten. 21 Das Wechseln der Gruppen und Paare, das Spielen - alles lief in der Öffentlichkeit ab, wurde von den Kameraden gesehen und registriert und sicher auch entsprechend kommentiert. Mesalliancen wurden so bereits in diesem Frühstadium des Kennenlernens äußerst unwahrscheinlich gemacht; denn der Schneckendörfler, der sich der Tochter eines Gemeinderats zu nähern versuchte, hätte die Spötter ganz gewiß auf seiner Seite gehabt. 22 Trotzdem waren diese Möglichkeiten des halbwegs ungezwungenen und unbeaufsichtigten Kennenlernens unentbehrlich für die Jugend; denn in der Anwesenheit von Erwachsenen waren besonders körperliche Kontakte zwischen den Geschlechtern streng verboten. Im täglichen Leben gab es für die jungen Leute kaum Gelegenheiten, sich so zu treffen, daß erste Versuche der Annäherung und Paarbildung möglich gewesen wären. Ein alter Bauer, der kürzlich wieder einmal den Fußweg in Richtung Mähringen entlang ging, berichtete deshalb ganz erstaunt seine Beobachtung, daß auf diesem Weg heute gar keine Jugendlichen mehr anzutreffen sind: »Ich bin da letzthin, da sind wir auch nach Mähringen rübergelaufen, ich möcht nur wissen, da sieht man keinen Menschen mehr, 's ist nicht mehr wie früher. Ich möcht' nur auch wissen, w o die Mädle sind, hab' ich gesagt. «
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Auch die Arbeiterjugend beteiligte sich - wie die Interviews zeigten noch u m die Jahrhundertwende an diesen Jugendbräuchen. Folgt man den Aussagen der Pfarrberichte, dann hatte sie auch guten Grund dazu; denn in der Fabrik herrschte Geschlechtertrennung, und auf dem Weg zwischen dem D o r f und dem Arbeitsplatz war die Jugend nie unter sich. Sie wanderte gemeinsam mit den Erwachsenen, die gestrenge Aufsicht über sie führten. 2 3 So blieben bis in dieses Jahrhundert hinein die Spaziergänge und Tänze mit ihren brauchmäßig garantierten kleinen Freiheiten scheinbar die beste Gelegenheit zur Partnerwahl und zum Erlernen des U m g a n g s mit dem jeweils anderen Geschlecht. Aber hier müssen - ein Ergebnis der statistischen Untersuchungen vorwegnehmend - Einschränkungen gemacht werden: Die Tänze und Spaziergänge vermittelten nur innerdörfliche Heiraten; J u gendliche anderer Ortschaften konnten hieran in der Regel nicht teilnehmen. Gerade von diesem örtlichen Heiratsmarkt wurde die (land)besitzlose Unterschicht, die »Fabrikler«, jedoch zunehmend ausgeschlossen. Weitüber die Hälfte von ihnen (Mädchen wie Jungen) mußte sich u m die Jahrhundertwende ihre Ehepartner auswärts suchen. Was hier in traditioneller volkskundlicher Manier als ein eigenregulierter Heiratsmarkt beschrieben (und in den Interviews auch so dargestellt) wurde, war in Wirklichkeit ein hochbrisanter sozialer Ausleseprozeß, dessen Dimensionen in den Kapiteln zur Heiratsstatistik noch genau analysiert werden müssen. 2 3 3
c) Die Betzinger Buben: Jugend und Territorium Neben der Verteilung der Mädchen auf dem örtlichen Heiratsmarkt gehörte die Verteidigung des kollektiven Besitzrechtes der ledigen Burschen an den ledigen jungen Frauen zu den Hauptaufgaben der ländlichen Kameradschaften: »Ja, früher ist es auch so gewesen, daß also [von] Betzingen oder Gomaringen, da hat man nicht gern einen Buben reingelassen einander [= gegenseitig], da haben sie immer ein bißchen gestritten, und die Mädle hätten nicht sollen auswärts heiraten. Die hätten sollen da bleiben. Das haben die Buben nicht gern gesehen, wenn sie in Betzingen oder in Gomaringen rumgekommen sind. Undjetzt istja alles untereinander verheiratet. «
Eindringlinge aus anderen Dörfern wurden von den Kameradschaften erbittert abgewehrt und bestraft, Ausbruchsversuche von Mädchen nach Möglichkeit verhindert. Z w a r waren heiratsfähige j u n g e Frauen in O h m e n hausen keineswegs >knappDen müssen wir jetzt mal heimtun!< Und dann hat man ihn >heimgespächteltDu, Frieder, warum bist du noch nicht daheim?< >Haich geh jetzt grad heim.< Dann ist der davon gelaufen und ich auch. Der hat's Courage nicht gehabt, nachher hat er aber immer gesagt, er hätt mich springen lassen. Das ist [das tat er deshalb], weil man da doch schon miteinander geschafft hat in den Geschäftern [= Fabriken] drinne [= in Reutlingen] . . . Dann hat er [seinen Kameraden] immer erzählt, er hätt' mich springen lassen. Jaja, das kann wohl sein, das war' der erste [gewesen], der mich springen läßt [hätte springen lassen]!«
Normalerweise jedoch mußten sich Eindringlinge in einem fremden Ort nicht nur gegen einen Burschen, sondern gegen die ganze Mannschaft der 107
ledigen Jugend des Dorfes zur Wehr setzen. Dieser Übermacht waren sie natürlich hoffnungslos unterlegen. Die Lektion, die sie bei dieser Gelegenheit von ihren Gegnern eingebläut bekamen, werden sie noch einige Zeit gespürt haben. Beabsichtigt waren aber von den übermächtigen Verteidigern nicht nur die blauen Flecke. Die Niederlage selbst zog immer auch Spott nach sich, der den Eindringling erniedrigte und ihn im Ort unmöglich machte. Gleichzeitig stärkten solche Siege das Gruppenbewußtsein der Burschen und etliche dieser Aktionen wurden zu Marksteinen in den Annalen der Jahrgänge, besonders wenn sie so symbolträchtig waren wie der >Ohmenhäuser Fenstersturze »Und dann hat's immer Händel gegeben. . . . Da oben beim Rilling, da haben sie mal zwei [Betzinger] zum Fenster rausgeschmissen. . . . vom Erdgeschoß, dahaben sie's rausgeschmissen. Ja, die haben schon Mädle gehabt, ja, das weiß ich noch so gut, da bin ich natürlich noch jung gewesen, da bin ich noch nicht fortgegangen [= auf die Äbbehe gegangen], aber ich war da auch am Abend noch draußen und hab geguckt, was es noch alles gegeben hat und auf einmal fliegen da zwei heraus. Und dann haben die aber geflucht und geschimpft und haben Steine hineingeschmissen und alles. Das weiß ich noch gut, was. So ist's halt gegangen, das ist früher passiert bei uns.«
Man kann sich den Triumph der Täter nach solchen Streichen leicht vorstellen; unter den Burschen waren sie die Helden des Tages, und bis heute werden derlei Bubenstücke genußvoll erinnert. Kollektive Aktionen dieser Art hielten sich im großen und ganzen in harmlosen Grenzen. Sie dienten der Selbstdarstellung und liefen ohne größere Verletzungen ab. Ging es allerdings wirklich um die Rivalität um ein Mädchen, wurde daraus blitzschnell blutiger Ernst, kam es zwischen den Kontrahenten zum >Kampf bis aufs Messen. Ein Ohmenhäuser berichtete von einem solchen Fall: »Einmal weiß ich jetzt äbbes [= etwas], da sind die Jettenburger dagewesen, Männer von Jettenburg, das waren aber schon, ja die sind '97er gewesen und die sind dort schon, ja schon 20 gewesen. 20 müssen die gewesen sein, vielleicht auch 18 oder 19, und die haben da draußen ein paar Mädchen poussiert und dann hat's natürlich Krach gegeben, als das unsere Kerle gemerkt haben, nicht. Und dann hat's eine Messerstecherei gegeben, aber eine richtige.. . . Ha, die haben sie ineinander hineingestochen. Aber die Ohmenhäuser sind voll draufgegangen, die haben nicht mal geschwätzt. Das mußten sie büßen das nächste Mal. Da oben, da hat man sie genommen, da oben am Wald, da haben sie einem drei Stiche hineingehaut, und dann noch einmal zwei . . .Ja, man kann nichts machen. Die wollten einfach nicht haben, daß die bei den Mädchen bleiben und dann hat's Händel gegeben und sie haben sich gestochen und dann sind sie ab. Da kann man nichts machen. «
Derlei »Thätlichkeiten« oder »Raufhändel« (so die Bezeichnung in den Straflisten) waren keineswegs selten, waren vielmehr unter den Jugendlichen akzeptierte Reaktionsweisen auf solche Provokationen. Die Gewaltschwelle war erstaunlich niedrig. Auch scheint es für diese Messerstecherei108
en keine Regeln gegeben zu haben. Wenn einem Kämpfer deshalb nach so einem Treffen (wie einem unserer Gesprächspartner aus einer Nachbargemeinde) nur »ein Bröckele Darm rausgeguckt« hat, dann war er im Grunde noch einmal glücklich davongekommen. Jeder Ledige, der in einen anderen Ort ging (und bis in die 80er Jahre war der Ledigenstatus durch die Tracht ganz offensichtlich), machte sich prinzipiell verdächtig, war ein ungern gesehener Gast. Dahinter stand immer die Angst vor den Rivalen auf dem lokalen Heiratsmarkt: »Mädle, nicht wahr, hat ja jeder. Der eine hat auf die ein Auge gehabt - . Es war eine Seltenheit dort, wenn einer auswärts ein Mädle gehabt hat. Man hat auch gar nicht in einen anderen Flecken reindürfen, dann hat es gleich geheißen: Was will denn der, der hat doch da nichts zu suchen. «
Ein lediger Betzinger, Mähringer oder Gomaringer hatte in Ohmenhausen (und umgekehrt) ganz prinzipiell nichts zu suchen. Die Verteidigung der zukünftigen Bräute gegen die Konkurrenz aus den angrenzenden Gemeinden führte zu permanenten und tiefsitzenden Ortsfeindschaften, die das Jugendalter meistens überdauerten. In einem Gespräch hieß es: »Oh, wir haben mit den Betzingern Händel gehabt!« »Die haben sich miteinander eingelassen und haben einander das Genick verschlagen. Die Betzinger und die Ohmenhäuser haben sich gar nie vertragen. «
Ein Betzinger zu sein, war ein Charakterfehler. Die Tatsache, daß man jeden Tag zum Arbeiten zu ihnen hinunter mußte, verbesserte das Verhältnis keineswegs, im Gegenteil: »Ich kann die Betzinger nicht leiden. Ich bin fünfzig Jahre drunten gewesen zum Schaffen. Aber, wenn man da auf einen Hof gekommen ist -« »Die haben halt einen Stolz gehabt. «
Dieser gegenseitigen Abneigung entsprechend lieferten sich die Jugendlichen Gefechte nicht nur im Fall einer drohenden >Mädchenentführung< (hier stand ohnehin der fremde Liebhaber allein gegen die Jugend des anderen Ortes und bekam keine Unterstützung von seinen Kameraden), sondern provozierten sich und schlugen sich, wo und wann immer sie sich in Gruppen trafen - und das ließ sich spätestens jeden Sonntag arrangieren. »Die [Betzinger] sind immer raufgekommen bis an die Grenze hin und wir sind runter. Da hat man schon gewußt, daß man jeden Sonntag Händel hat, und dann ist man gegangen. Zum Händeln. «
Die jüngeren Jahrgänge, meistens sogar Schulbuben, wurden bei diesen sonntäglichen Treffen als Späher und Provokateure vorausgeschickt, die älteren folgten nach und mußten sie verteidigen. »Wir sind meistens, . . . wir sind ja jünger gewesen wie die anderen und wir haben uns gleich ein bißchen da rausgemacht ins Feld. Und meistens sind die Betzinger
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raufgekommen und haben sich da unten ein bißchen aufgestellt und wir haben dann gleich Meldung gemacht bei den Älteren da. Und dann sind die angetreten. Und meistens hat es sich bloß so rausgestellt, vom Voraus schon, wer überzählig gewesen ist und welche die Stärkeren gewesen sind. Das ist schon soweit - . Meistens ist es zur Schlägerei gekommen. «
Die Händel liefen nach einem bestimmten Ritual ab: Man stellte sich in Kampfposition auf, provozierte sich aber zuerst nur verbal, schrie Spitznamen und Spottverse. Die Kontrahenten reizten sich so lange, bis einer Seite aufgrund solcher Beleidigungen der Dorfehre der Geduldsfaden riß und sie anfing, richtig zu »handeln«. Bei diesen Kämpfen verdroschen sich die Jugendlichen gegenseitig sicher kräftig, verletzen wollten sie sich jedoch nicht. Der größte Triumph war vielmehr, wenn es gelang, einen der Gegner gefangen zu nehmen. Meistens erwischte es dabei die Buben von der Vorhut, die dadurch gleich die rauhe Wirklichkeit des Ledigen-Lebens kennenlernten: »Mit den Mähringern haben wir Händel gehabt, mit den Betzingern hat man Händel gehabt. Die Alten haben die Jungen vornedraus geschickt, die haben schreien müssen die >Oh-nama< [= Un-/Spitznamen], die man einander gegeben hat. Und dann wenn sie gekommen sind: mich haben sie auch einmal schier gar gehabt, der Heiner, den haben sie gekriegt, das war auch ein Schulkamerad von mir. Unsere Älteren, die waren noch viel weiter weg, deshalb haben die einen von uns erwischt. Und den haben die Mähringer an eine Eiche gebunden, drunten im Wäldle, und er hat erst heimgehen dürfen, als es Nacht geworden ist. «
Die Kämpfe an der Markungsgrenze hatten Symbolcharakter und gingen über die Verteidigung des Heiratsmarktes weit hinaus. Hier erkämpften sich die zukünftigen >Besitzer< des Dorfes ihre territoriale und soziale Identität durch die Ausgrenzung Fremder. Durch die symbolische Konstitution von Besitzrechten einerseits und die Markierung von Gruppengrenzen andererseits eigneten sie sich ihr Dorf an. Gleichzeitig handelten die sonst hierarchisch getrenntenjahrgänge gemeinsam, überwanden ihre Spaltung, indem sie sich gegen Außenstehende zusammenschlossen. Die Kämpfe gegen die Betzinger und Mähringer müssen deshalb vor dem Hintergrund der Kämpfe der Kameradschaften untereinander gesehen werden. Diese waren untereinander zerstritten, provozierten sich, rivalisierten um Mädchen, gerade wie die Jugendlichen der verschiedenen Ortschaften: »Es war oft so: die Äbbehe hat einander gereizt, jahrgangsweise, dann ist man hergegangen, hat Steinchen genommen oder Äschen [= Erbsen] und ist zu denen hin, hat's ans Fenster geschmissen, und dann ist man durchgegangen. Da ist auch viel wegen den Mädle passiert . . . hauptsächlich wegen den Mädle. «
Die Feindschaften mit den Betzingern und Mähringern jedoch vereinten die Jahrgänge, verpflichteten sie zur kollektiven Solidarität,25 machten aus ihnen erst >wirkliche« Ohmenhäuser. 26 110
Wie die Jahrgangsorganisation der Jugend hörten auch diese Kämpfe in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts auf. Das entstehende Vereinswesen, in dem die Kameradschaften und Äbbehes aufgingen, brachte neue Identifizierungs- und Abgrenzungsmöglichkeiten und damit auch neue Formen der Auseinandersetzung (Fußballspiel etc.) und der Solidarität.
d) Jünglinge - Jungfrauen - Ledige: die Auflösung des traditionellen Jugendbrauchtums
Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts versuchten die Ohmenhäuser Pfarrer verstärkt, Einfluß auf das Treiben der Jugendlichen zu gewinnen. Denn händeln, Karten spielen, trinken, tanzen und den Mädchen nachstellen - das war je nach theologischer Geistesart des Pfarrers >langweiligärgerlich< oder >sündigJugendliche< - jene substantivistische Hilfskonstruktion aus der Wortschmiede der Sozialarbeit jener Zeit zur Bezeichnung krimineller und verwahrloster Proletarierjugend - gab. 28 Die konfirmierten Ohmenhäuser Buben und Mädchen bezeichneten sich selbst als »Ledige«, und chronologische Einteilungen des eigenen Lebenslaufs wie: »Das ist dann gewesen, wenn man [schon] ledig gewesen ist« zeigen deutlich, daß damit ein Lebensalter und gleichzeitig dessen oberster Zweck, die Partnersuche, bezeichnet wurde. Die Lebensformen von Jugendlichen lassen sich nur erklären aus den Strukturen der Erwachsenengesellschaft. Wenn diese die Eheschließung zu ihrem Initiationsritus machte und gleichzeitig die Partnerwahl der Jugendlichen durch besitzstrategische Heiratsbeschränkungen verzögerte und erschwerte, dann mußte dieser Bereich (ähnlich der Berufsausbildung heute) im Zentrum des Interesses der Jugendlichen stehen und ihre Identität wesentlich durch diesen spezifischen Statusmangel geprägt werden. Wo Jugend zudem ein ohnehin defizitärer Zustand war, den es zu überwinden galt, konnte diesem Lebensalter wenig an idealem Wert beigelegt werden, mußte zwischen dem Jünglings-Ideal professioneller Erzieher und dem Selbstverständnis und den Organisationsformen dieser Jugend eine unüberbrückbare Kluft bleiben. 29 Die sich mit jedem Wechsel der Ortsgeistlichen wiederholenden Versuche, einen Lesezirkel, Gesangsverein oder Bibelkurs zur »angemessenen Beschäftigung« der ledigen Jugend zu bilden, scheiterten aus diesen Gründen regelmäßig am Widerstand der Jugendlichen. Lediglich der volkstümlich-aufklärerische Pfarrer Bunz scheint daraus eine praktikable Lehre gezogen zu haben: 111
»Der Gesangverein der >LedigenKameradschaftenAbed-Na< mich zu nähern. Ich wurde freundlich aufgenommen. Es wird an den Winterabenden Karten gespielt - nicht um Geld - am Samstag Abend und Sonntag vorgelesen oder sonst unterhalten. Ich will nun den Versuch machen, durch Beiträge der Mitglieder für nächsten Winter einige andere Spiele anzuschaffen und besonders auch Bücher unter die Leute zu bringen. « 3 0 Kirchliche Jugendarbeit war in Ohmenhausen nur möglich, solange sie die traditionellen Organisationsformen der J u g e n d respektierte und sie nicht pharisäerhaft verurteilte. Als eigenständiges Freizeitangebot dauerhaft Fuß fassen konnte sie in Ohmenhausen jedoch erst, als durch die Veränderungen der Sozialstruktur des Orts i m Z u g e der Industrialisierung und durch die Auswirkungen der Kriegserfahrungen auf die J u g e n d das altejugendbraucht u m überflüssig wurde und verschwand. Erst 1921 k a m in Ohmenhausen ein Jünglingsverein zustande, nachdem allerdings bereits vor d e m Ersten Weltkrieg - i m Jahr 1909 - die Gründung eines Jungfrauenvereins gelungen war. Die christlichen Jünglinge< stießen aber auch noch zu jener Zeit auf nicht unerheblichen Widerstand bei der übrigen Dorfjugend. Im Pfarrbericht von 1922 heißt es: »Im Januar 1921 kam es auch zur Bildung eines Jünglings vereins. Da ihm ein nicht geringer Widerstand begegnet, hat er Mühe mit dem Wachstum. Zur Zeit beläuft sich seine Zahl auf etwa 25 Mitglieder. Die Tendenz des Jünglings Vereins ist dieselbe wie die des Jungfrauenvereins.« 31 Der Widerstand k a m von den anderen Jugendlichen, die die >Jünglinge< als »Stundenhälter« (Pietisten) bezeichneten und von diesen bzw. deren Eltern als »weltlich«, d. h. sündig betrachtet wurden. Z w e i ältere Männer, die einst zur Fraktion der Kameraden und Äbbehe-Gänger gehört hatten, erinnerten sich noch lebhaft an die Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern des Jünglings Vereins : »Da [bei den Mitgliedern des Jünglingsvereins] hat es von daheim aus geheißen: >Du, da [in die Kameradschaften und Äbbehes] paßt du nicht hin. Mit dem kannst du gehen, aber dort paßt du nicht hin! . . . « »Wir haben sie schräg angeguckt, weil sie haben besser [ = frömmer] sein wollen wie wir. Wir sind als Weltliche, als zu arg weltlich angeguckt worden, weil wir auf die Äbbehe gegangen sind, auch Lumpereien gemacht haben. Die haben natürlich auch welche gemacht. Bloß haben's die >helingen< [ = heimlich], hat man damals gesagt, gemacht. Wir haben's öffentlich gemacht. « Es waren in der Tat vor allem die Kinder von Pietisten, die nicht an den Vergnügungen der »Weltlichen« teilnehmen durften; denn fur diese Eltern war schon die Bezeichnung »Äbbehe« anstößig und unheilverkündend: 112
»Äbbehe? Ja, das hat's gegeben. Das heißt ja auf deutsch >Irgendwo-hin< und grad das irgendwo hinGschmäckle< gehabt. «
Der Widerstand der »Weltlichen« galt nicht der Kirche als solcher, das wurde immer wieder beteuert (»Nein, nein! Nix, ich habe jeden Sonntag in die Kirche müssen! Bin auch freiwillig hingegangen. Das ist eine Selbstverständlichkeit gewesen! «), sondern jenen unter ihren Vertretern und Angehörigen, die über diesen Bereich jugendlicher Selbstorganisation ein pauschales moralisches Verdikt verhängten: Ein >Jüngling< tanzte nicht, mied Kartenund Würfelspiele, wollte sich gar nicht unkontrolliert von den Eltern wissen und ging auf keinen Fall »irgendwo« hin, wo am Ende doch nur Mädchen warteten. Daß es dieser moralische Totalitätsanspruch war, der abgelehnt wurde, zeigen nicht nur die Erfolge des Pfarrers Bunz, sondern auch das Aufkommen neuer Vereine, an denen sich schon vor dem Ersten Weltkrieg die Ledigen rege beteiligten, da sie diese nicht als Bedrohung ihres Sonderbereichs und ihrer Freiheiten empfanden. Seit 1901 existierte in Ohmenhausen ein Turnverein, der von Anfang an auch von den Ledigen mitgetragen worden war. Wenn die Turner trainierten, dann fielen an dem Abend die Äbbehes aus. Ähnlich war es bei den Proben des 1874 gegründeten Gesangvereins, in dem seit der Jahrhundertwende ebenfalls Ledige mitsangen. 32 Im Sportverein konnte man zwar nur »rechte Kerle« und keine »Schwächlinge« gebrauchen, wie ein Ohmenhäuser Mann es ausdrückte, aber diese Unterscheidung war praktisch identisch mit der Trennung zwischen Äbbehe-Gängern und »Stundenhältern«. Die in den Kameradschaften organisiertenjahrgangsmitglieder waren fast alle auch in einem der Vereine; wer nicht kickte, der machte bei den Sängern mit. Keine dieser beiden Organisationen wollte den Kameradschaften und Äbbehes Konkurrenz machen, die Präferenzen blieben auch für die Jugendlichen klar. Trotzdem brachten diese Vereine zwei neue Elemente in die Ohmenhäuser Freizeitkultur, die sich nachhaltig auf die Kameradschaften auswirkten: die politische Organisation auch der Jugend und die Aufhebung der Geschlechtertrennung. Der Turnverein war eine Gründung sozialdemokratischer Arbeiter, zog aber bald, vor allem über das um 1910 aufkommende Fußballspielen, alle Burschen des Dorfes an. Über die Frage des Beitritts des Turn- und Spielvereins Ohmenhausen zur Deutschen Arbeiterturnbewegung im Jahr 1913 spalteten sich die Ohmenhäuser Sportler jedoch in ein »bürgerliches« und ein sozialdemokratisches Lager. Besonders in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Vereinen zu: »Und nach der Schul', also 1920 sind wir aus der Schul' gekommen, da ist dann das Kaiserreich alles untergegangen, das man so verherrlicht hat in der Schul', dann ist die Weimarer Demokratie gekommen, die Republik, und da war ich auch begeistert, ich bin da auch im Arbeiter Turn- und Sportbund gewesen und da haben wir Fußball
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gespielt. . . . U n d dann hat's hier noch einen Sportverein gegeben, das waren die Bürgerlichen und wenn die ein Fest gehabt haben, dann sind wir auf den Marktwasen . . ., das war ja auch nicht schön, da hat's dann immer so Reibereien gegeben.« 3 3
Diese Animositäten zwischen sozialdemokratischen >Turnern< und bürgerlichen >Sportlern< wirkten sich natürlich auch auf diejahrgänge aus; denn je nach sozialer Schicht und politischer Couleur des Elternhauses wurden die Burschen Mitglieder im Sportverein oder im Arbeiter-Turn- und Sportbund. Konnten die Kameradschaften bis vor dem Krieg >Schneckendörfler< und >Oberdörfler< ohne weiteres integrieren und die sozialen Gegensätze im Dorf überbrücken, so war dies durch die politische Polarisierung nach dem Ersten Weltkrieg kaum mehr möglich. Man konnte sich nicht am einen Abend politisch bekämpfen und am anderen gemütlich zusammen auf der Äbbehe sitzen. Die Jahrgangsorganisation der männlichen Jugend wird nicht zuletzt auch daran zerbrochen sein. Die zweite Neuerung war, daß Jungen und Mädchen in denselben Verein gehen konnten. Der Gesangverein, ursprünglich nur für verheiratete Männer, nahm seit der Jahrhundertwende auch Frauen und ledige Burschen und Mädchen auf. Hier bot sich eine neue Möglichkeit, mit dem anderen Geschlecht während der Freizeit in Berührung zu kommen. Die Vereine lösten nach dem Ersten Weltkrieg die Spaziergänge und Tänze in ihrer Funktion als Heiratsmärkte teilweise ab: »Ich hab' die meine im Gesangverein kennengelernt. Ich hab' gesungen, sie hat gesungen . . . « Gekannt hatte man sich schon von Kind an, und das Singen allein war es natürlich nicht, was einen näher zusammenbrachte, sondern die ganze dazugehörige Vereinskultur: die Ausflüge, die Feste, das Theaterstück, das jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr aufgeführt wurde usw. Den Pfarrern war das Vereinswesen ein Dorn im Auge; denn die Aktivitäten der Vereine fanden größtenteils an Sonntagen statt und hielten so die Mitglieder vom Besuch der Kirche und von der rechten Heiligung des Sonntags ab. Seit der Jahrhundertwende häuften sich in den Pfarrberichten die Klagen über diesen »Krebsschaden« der Gemeinde: »Was nun besonders zur Entheiligung des Sonntags beiträgt, das ist das überhandnehmende Sports- und Vereinswesen. Das wächst sich immer mehr zu einem furchtbaren Krebsschaden aus. Es ist alles in irgendeinem Verein organisiert. U n d so fehlt es nicht an Gelegenheit, sich Festlichkeiten zu schaffen. U n d gibt es am Ort selbst keine - so besucht man in corpore und mit viel Begeisterung auswärtige. O f t zieht man schon in früher Morgenstunde dazu aus. Der Musikverein schreckt vor keiner Entfernung und keiner noch so langen, kostspieligen Eisenbahnfahrt zurück. U n d man kann sich darauf gefaßt machen, daß, wenn am Freitag oder Samstag Abend der Amtsdiener zur Bekanntmachung im D o r f umhergeht, die Bekanntmachung hauptsächlich darin besteht, daß im Auftrag des oder jenes Vereins die >werte Einwohnerschaft zu zahlreicher Beteiligung< an einem Ausflug oder sonst einer Festivität eingeladen wird. « 3 4
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Die Vereine, deren Zahl während der 20er Jahre auf sechs anstieg, übernahmen nach dem Krieg die Freizeitgestaltung im Dorf und absorbierten dabei allmählich die Funktionen der Äbbehes, Lichtstuben und Kameradschaften. Diese hatten sich als Institutionen der Unterhaltung, der Arbeitsgeselligkeit und der Eheanbahnung überlebt. Außerdem verloren die Jahrgangsorganisationen selbst mit sinkendem Heiratsalter, erhöhter regionaler und sozialer Mobilität ihre Bedeutung für den >Transport< der Jugendlichen durch die Zeit der Adoleszenz. Die Fabrikarbeit, die Väter und Söhne formell >gleich< machte, indem sie beide auf den Wert ihrer Arbeitskraft reduzierte, ließ die Kombination von Heirat mit Besitzübernahme und Emanzipation bzw. von Ledigenstatus mit Unmündigkeit obsolet werden und hatte zwangsläufig die allmähliche Auflösung der altershomogenen Jugendgruppen, die nur in dieser alten Sozialstruktur einen Sinn hatten, zur Folge. Seit Ende der 20er Jahre spielte die Jahrgangsorganisation derjugendlichen in Ohmenhausen keine Rolle mehr, hatte der Ledigenstatus seine Bedeutung verloren. Die Jugendlichen verstanden sich jetzt als Gesang- und Musikvereinler, bürgerliche Sportler, sozialdemokratische Turner usw. Neue Interessen bedingten neue (territoriale wie soziale) Solidaritätsbereiche, brachten neue Formen und Kriterien der Partnerwahl hervor, führten überhaupt zu einem neuen Selbstverständnis der Jugend. Die Ohmenhäuser Jungen und Mädchen hörten auf, die »Ledigen des Orts« zu sein, und wurden zu Jugendlichem im inzwischen allgemeinen und neutralen Sinn dieses Wortes. 35 Die vollständige Auflösung des traditionellen Jugendbrauchtums erfolgte jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg. Die genannten Faktoren, die das Leben der Jugendlichen in Ohmenhausen teilweise bereits seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts beeinflußten, hatten lange Zeit zu keiner nachhaltigen Veränderung der Organisationsformen der ledigen Jugend des Ortes gefuhrt. Aus den Erinnerungen der ältesten der befragten Bürger Ohmenhausens ließ sich noch für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg das vollständige Repertoire des traditionellen Jugendbrauchtums der Gegend rekonstruieren. 36 In den Augen dieser Bürger selbst waren es vor allem die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die zu dem raschen Wandel des Jugendlebens in den 20er Jahren geführt hatten. Zum einen hatte die Abwesenheit so vieler junger Männer das Abreißen einiger wichtiger Traditionen zur Folge, zum anderen machten die einschneidenden Erfahrungen im Feld manchem jugendlichen Kriegsteilnehmer die Rückkehr in die Normalität des Jugendalltags der Vorkriegszeit unmöglich: »Ja, was denken Sie, wir Kerle sind da hineingekommen - schon wieder v o m Krieg, aber das ist halt unser erstes Erlebnis gewesen - was wir in Frankreich und Belgien für Liedrigkeiten gesehen haben. . . . Ich sag' ja, wir sind so heruntergeschmissen worden von unserem schönen, friedlichen Jugendleben und durch den Krieg in Sachen hineingekommen und haben Elend gesehen, das kriegt man nicht mehr aus sich heraus. «
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Der Weltkrieg und seine verschiedenen Konsequenzen waren sicher nicht allein für die Auflösung des Jugendbrauchtums in Ohmenhausen verantwortlich. Manche Veränderungen hatten sich ansatzweise schon vorher vollzogen, und die Bahnen, in denen der weitere Wandel verlaufen würde, waren durch die Entwicklung der lokalen Sozial- und Wirtschaftstruktur während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts bereits vorgezeichnet. Dennoch ist es beachtenswert, wie lange, wie zäh die alten Formen des Jugendbrauchtums von allen Jugendlichen, also auch den ledigen Fabrikarbeitern, verteidigt wurden, und welch geringe Auswirkungen die Industrialisierung auf diesen Bereich des Jugendlebens hatte. Die Ursachen dieses Phänomens lagen in dem Zusammentreffen von geringem Wandlungstempo der bäuerlichen Familienstrukturen einerseits und der durch die Fabrikarbeit verlängerten Phase der Koresidenz der Jugendlichen im elterlichen Haushalt andererseits. Der Zwang zur Unterordnung unter die Befehle des Vaters und die Interessen der Familie dauerte seit der Industriearbeit und dem Verbleib der Jugendlichen im Ort länger als j e zuvor und bedurfte eines Gegenbereichs jugendlicher Freiheit. Diesen fanden die jungen Ohmenhäuser noch um die Jahrhundertwende (und vielleicht mehr als j e zuvor!) in den Kameradschaften und den mit ihnen verbundenen Formen des traditionellen Jugendbrauchtums, die so nur ein scheinbar anachronistisches Relikt vorindustrieller Verhältnisse in dieser ländlichen Arbeitergemeinde waren. 37
4. In die Fremde a)
Gesellenwandern
Von den jungen Handwerkern wurde die Ledigenzeit vor der Industrialisierung selten ganz im Kreis der Ohmenhäuser Kameraden zugebracht: Wanderjahre und Militärdienst führten oft zu einer mehrjährigen Abwesenheit von zu Hause. Erst die Fabrikarbeit ermöglichte ihnen durch den Wegfall der Lehr- und damit auch der Gesellenzeit ein längeres Verbleiben im Ort. Bei den Mädchen war das nicht anders. Viele von ihnen mußten in vorindustrieller Zeit - um vom Tisch zu sein - vom 16. Lebensjahr an in Dienst gehen und kehrten häufig erst kurz vor der Hochzeit ins Dorf zurück. Über ihre »Wanderjahre« ist jedoch in dem Gemeindearchiv Ohmenhausen so gut wie nichts überliefert. Die folgenden Ausführungen müssen sich deshalb auf die männliche Jugend und hier i. e. S. auf die Handwerksgesellen beschränken. 1 Am 16. Oktober 1841 wurde im Protokollbuch des Reutlinger Oberamts notiert: Es »erscheint der ledige Schneidergeselle Joh. Martin Nabholz von Ohmenhausen u. bittet um ein Wanderbuch ins In- und Ausland, derselbe erklärt unter Beistand seines Vaters Matthäus Nabholz, daß er sich bis zum Anfang des Jahres 1844 wieder
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zu Hause stellen wolle, um der Rekrutierungspflicht genüge zu leisten. Die nachtheiligen Folgen Falls des Nichterscheinens wurden eröffnet.« 2
Der im Mai 1823 geborene Martin Nabholz ging Ende des Jahres 1841 auf Wanderschaft, er war also achtzehn Jahre alt, als er das Dorf verließ. Das deutet daraufhin, daß Nabholz das erste Gesellenjahr in Ohmenhausen oder vielleicht auch in Reutlingen verbracht hatte; denn die meisten anderen jungen Handwerker machten sich bereits mit siebzehn Jahren, direkt nach der Lehrzeit, auf die Wanderschaft. Einige andere warteten allerdings auch ab, ob sie das Los bei der Militärrekrutierung treffen würde. 3 Mit dem Schneidergesellen Nabholz bewarben sich ζ. B. die ledigen Weber Jakob Wohlleb und Johannes Haag von Ohmenhausen beim Oberamt um ein Wanderbuch. Diese hatten bereits ihre Militärzeit absolviert. Das erleichterte den Antrag erheblich: Sie brauchten keinen Bürgen für ihre rechtzeitige Heimkehr zum Rekrutierungstermin zu stellen. Zum Gesuch des Wohlleb protokollierte der Oberamtmann lediglich: » . . . der ledige Weber J a k o b Wohlleb v. Ohmenhausen . . . bittet um ein Wanderbuch fürs In- und Ausland. Derselbe hat die Militärpflicht erfüllt, daher Beschluß: das Wanderbuch auszustellen. « 4
Ob die drei Ohmenhäuser Gesellen zusammen loszogen, um nach Arbeit zu suchen, ist ungewiß, da ihre Wanderbücher nicht erhalten sind. Unwahrscheinlich ist das zumindest dann nicht, wenn sie sich sogleich in weiter entfernte Städte oder gar ins Ausland wagen wollten. Ein Blick in eines der erhaltenen Wanderbücher zeigt, wie zögernd die Ohmenhäuser Gesellen sonst ihren Radius um den Heimatort erweiterten: Der 1850 geborene Schreinerlehrling Johannes Wohlleb ζ. B. zog mit knapp 17 Jahren am 10. Mai 1867 von Ohmenhausen los. Seine erste Station war Stuttgart, wo er jedoch nur bis Ende Juni desselben Jahres blieb und dann nach Ohmenhausen zurückkehrte - rechtzeitig zur Heuernte. Nach den Einträgen im Wanderbuch muß er den ganzen Winter in der Heimat verbracht und sich erst im nächsten Frühjahr, am 11. Februar 1868, wieder auf die Walz gemacht haben. Diesmal nach Tübingen. Dort konnte er jedoch keine Arbeit finden und zog, mit einem Zehrpfennig aus der Gesellenvereinskasse versehen, weiter nach dem eine knappe Stunde von Ohmenhausen entfernten Dorf Gönningen. Hier stand er drei Monate »mit gutem Betragen in Arbeit«, zog danach weiter in die nur wenige Kilometer von Gönningen entfernte Kleinstadt Pfullingen, wo er jedoch bereits Anfang August 1868 den Dienst wieder quittierte. Wahrscheinlich folgten nun einige Tage Erntearbeit in Ohmenhausen, den Winter über arbeitete Wohlleb jedoch - nach einem kurzen Zwischenspiel bei einem Reutlinger Meister - wieder in Stuttgart. Dort wechselte er im März und April 1869 noch zweimal die Stellen, um dann wirklich in die >Fremde< zu ziehen. Über Markgröningen, das er »wegen eingetretener Krankheit des Meisters« nach drei Tagen wieder verließ, wanderte er ins Badische, nach Karlsruhe. Annähernd ein Jahr blieb 117
er hier bei seinem Meister und kehrte erst im Sommer 1870 über Stuttgart und Calw nach Ohmenhausen zurück. 5 Sicher waren nicht alle Gesellen so zögernde und dennoch unstete Wanderer wie Johannes Wohlleb. Ein ganzer Strom von Dienstmädchen und Handwerksgesellen muß jährlich aus der Reutlinger Gegend in die Schweiz und ins Elsaß gezogen sein. Basel und Neuchâtel waren besonders beliebte Ziele, wo man meistens auch schon seine familialen Stützpunkte hatte. 6 Von dort aus konnte man nicht mehr während der Sommermonate zur Ernte nach Hause kommen, konnte nicht (wie von Gönningen aus) auf einen Sonntagnachmittag bei der Familie oder den Kameraden vorbeischauen. Nicht selten war deshalb der Abschied der Gesellen einer für viele Jahre, wenn nicht fur immer. Dies traf in Ohmenhausen besonders für die Zeit der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts zu, als die Gewerbe des Dorfes derart überfüllt waren, daß es auf der Hand lag, daß hier kein weiterer Schneider, Schuster oder Zimmermann seinen Lebensunterhalt würde verdienen können. Die jungen Handwerker wußten das aufgrund ihrer in Armut verbrachten Kindheit und ihrer Erfahrungen während der Lehrzeit im Dorf nur zu genau. Sie mußten in der Fremde ihr Glück suchen. 7 Das unstete Wandern und der häufige Stellenwechsel so vieler Gesellen galt deshalb keineswegs nur den handwerklichen Qualitäten der Meister, der Bezahlung oder den sonstigen Arbeitsbedingungen, sondern ebenso den Töchtern ihrer Arbeitgeber. Die Handwerksburschen mußten schauen, wo sie die Möglichkeit hatten, in einen bestehenden Betrieb einzuheiraten, um sich so ein Niederlassungsrecht als Meister zu erwerben. Briefe wie der folgende, den der junge Müller Christoph Kuhn (der das Glück hatte, eine solche Stelle zu finden) an seine Pflegeeltern schrieb, werden daher die Handwerkerfamilien in Ohmenhausen häufiger erreicht haben: »Neuhausen den . . . 5[ten] mey 1844 Liebe pflegeitern. Ich will euch berichten wegen ein wenig gelt und will euch Schreiben wegen was das ich heben einen Acker gekauft . . . u m 10020 [ = 120] gulden. . . . 20 gulden strekte mir der Meister vor und 20 hat ich noch haben. Ich wil euch schreiben das ich nicht mehr k o m m dann ich habe im sinn hier zu bleiben ich konnte jezt schon heirathen aber ich will noch mehr warten und will lugen [ = schauen] das ich noch etwas zusammen bringe dann ich habe jezt einen blaz dazu, weiteres kann ich euch nichts schreiben. . . . Nebst Grus. Christoph K u h n . « 8
Derartige Briefe waren im Grunde gute Nachrichten fur die Familien, auch wenn sie bedeuteten, daß der Sohn aller Voraussicht nach nicht mehr ins Dorf zurückkehren würde. Er hatte sein materielles Auskommen gefunden, und das war in Zeiten der Not wichtiger als alles andere. Überstürzen durften die Gesellen das Seßhaftwerden allerdings nicht; denn sie mußten immer im Auge behalten, daß die ersten Jahre der Ehe, wenn die Frau schwanger war und man an den Kindern noch keine Hilfe hatte, für einen Handwerker die schwierigsten waren, daß er während dieser Zeit leicht in 118
die roten Zahlen geraten konnte. Deshalb tat man als lediger Handwerker gut daran, wie der Müller Christoph Kuhn zu schauen, daß man vor der Heirat möglichst viel »zusammenbrachte«. Dieses Beispiel stammt noch aus der Zeit vor dem Ausbruch der eigentlichen Krisenjahre u m die Jahrhundertmitte. Mit dem Beginn der Mißernten verschlechterte sich die Lage für die Handwerksgesellen rapide. Arbeit wurde aufgrund der allgemeinen Wirtschaftskrise immer knapper, die Gemeinde wies sie jedoch als »arbeitsfähige junge Leute« aus dem D o r f und verweigerte ihnen wegen leerer Kassen die Teilhabe an den Maßnahmen der Armenunterstützung. 9 Die Ohmenhäuser Strafbenachrichtigungslisten enthalten deshalb für diese Jahre einen festen Stamm von Handwerksgesellen, die wegen Betteins und Diebstahls regelmäßig hinter Gitter wanderten (vgl. Tab. IV).
Tab. IV: Strafliste des ledigen Webergesellen Fridolin Bolay von Ohmenhausen, geb. am 16. 10. 1820 1 0 Datum
Behörde
Vergehen
Strafe
24. 7. 1846
Schultheißenamt Reutlingen
Betteln
18 Stunden Gefängnis
14. 9. 1846
Stadtdirektion Stuttgart
Straßenbettel
1 Tag Arrest
Schultheißenamt Eningen
einfacher Bettel
3 Stunden Arrest
31. 10. 1849
Oberamt Münsingen
wiederholtes Häuserbetteln
3 Tage Arrest
5. 2. 1851
Oberamt Reutlingen
arbeitsscheues Umherziehen
2 Tage Arrest
4. 2. 1852
Oberamt Balingen
loses Zuwandeln
24 Stunden Arrest
15. 2. 1852
Oberamt Reutlingen
wiederholte Arbeitsscheu u. Ungehorsam
8 Tage Arrest
3. 3. 1852
Oberamt Reutlingen
Rückfall in das Bettelvergehen
6 Tage Arrest
28. 4. 1852
Oberamt Rottweil
1. Diebstahl
4 Tage Arrest
30. 3. 1853
Oberamt Reutlingen
wiederholtes Betteln
8 Tage Arrest
14. 7. 1853
Kgl. Kreisger. Hechingen
Landstreicherei
vierwöchentl. Gefängnisstrafe und Landesverweisung
9. 9. 1848
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18. 11. 1853
Kreisregierung Ulm
1. Rückfall in das Vergehen d. Landstreicherei
8 Tage Arrest
8. 5. 1854
Criminalsenat Tübingen
erschwerte Landstreicherei und Lügen vor Gericht
6 Monate Arbeitshaus, 20 Stockstreiche und Konfination auf Ohmenhausen fur 1 Jahr
Oberamt Ravensburg
ConfinationsÜberschreitung
2 Tage Arrest
26. 7. 1855
Bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zog sich für die Handwerksgesellen diese schwierige Lage hin. Abhilfe schaffte in Württemberg erst die neue, u m 1860 einsetzende wirtschaftliche Wachstumsphase, die nun allerdings ganz im Zeichen der Fabrikindustrie stand. 1 1 Mit dem Übergang v o m Handwerk zur Fabrikarbeit starb in O h m e n h a u sen der Brauch des Geseilenwanderns rasch aus. In der Fabrik absolvierten die Jungen zwar für einige Zeit noch eine Lehre, mußten anschließend jedoch nicht mehr auf die >WalzVorteile< des Gesellenlebens entfielen mit der durch Fabrikarbeit verlängerten Koresidenz im elterlichen Haushalt. Es gab keine Zwischenstufen der Emanzipation zwischen Schulentlassung und Hochzeit mehr, und es entfiel jeder Grund, für einige Zeit in die Fremde zu gehen. Die einzige Gelegenheit dazu bot am Ende des 19. Jahrhunderts noch der Militärdienst, dessen Ableistung für die Jugendlichen in Ohmenhausen deshalb zunehmend zu einem bedeutsamen Lebenseinschnitt wurde.
b) Militär und Krieg Krieg wurde - nach einer längeren >Friedenszeit< - im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts im Zuge der Koalitionskriege gegen Frankreich für die Ohmenhäuser Bevölkerung wieder zu einer regelmäßigen Erfahrung.
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Durchmärsche und Einquartierungen mit all ihren Folgen brachte sie in regelmäßige und zumeist unangenehme Berührung mit der Soldateska. 14 Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß keiner der jungen Männer des Orts eine besondere Neigung verspürte, sich freiwillig für das Reutlinger Kontingent bei den kaiserlichen Truppen zu melden. 15 Die Ohmenhäuser mußten den einen Mann, den sie zu stellen hatten, anwerben. Im Jahr 1794 zum Beispiel erklärte sich ein Steinhauer aus dem württembergischen Pliezhausen um 225 Gulden und das unentgeltliche Bürger- und Niederlassungsrecht in der Gemeinde dazu bereit, vier Jahre lang für die Ohmenhäuser in den Militärdienst einzutreten: »Reuttiingen Extractus Raths-Protocolli de 22. n Janr. 1794. Bei dieseitigem Stand hat sich den 22. Janr. h.ai. [ = huius anni] engagieren laßen Johan Martin Ludwig, leedig, von Profession ein Steinhauer, 25 Jahr alt, im Maß 5 Schuh 10 Zoll 2 Strich und von Pliezhausen, Uracher Ober-Amts gebürttig. Die C o m m u n Ohmenhausen, welche den Ludwig engagiert hat, versichert ihm auf eine 4-jährige Capitulations-Zeit 225 f. zu Hand Geldt und das unentgeldtliche Burgerrecht im Flecken, er mag gesund oder kranck nach Haus kommen. Bleibt er gesund, so darf er sein Handwerck ohne Einred der Mauerer-Meister zu Ohmenhausen und wie diese treiben, wird er aber kranck oder zur Arbeit untauglich nach Haus gebracht, das ist blesirt, so will ihn der Fleck Ohmenhausen in allem nothwendig versorgen.« 1 6
Daß Ludwig jemals dazu im Stande sein würde, diese Versprechungen der Gemeinde Ohmenhausen auszunützen, war bei der politisch unruhigen Lage jener Zeit und der damaligen Weise, Krieg zu führen, eher unwahrscheinlich (obwohl er tatsächlich Glück hatte!), und für weniger als 60 Gulden pro Jahr wollte offensichtlich keiner der jungen Männer aus Ohmenhausen selbst seinen Kopf für die Sache des Kaisers hinhalten. Wenn Ludwig seine Militärzeit nicht gesund überstanden hätte, dann hätten die Ohmenhäuser mit seiner Anwerbung einen guten Handel gemacht. Denn 60 Gulden waren nicht mehr, als 12 Scheffel Dinkel zu jener Zeit kosteten - und so viel erntete der Bürgermeister Krüger allemal pro Jahr auf seinen Äckern und noch Kartoffeln und manches andere dazu; insgesamt mehr als das Dreifache im Wert. 17 Nur wer gar nichts hatte und deshalb seiner Lebtage lang zum elenden Dasein eines ledigen Taglöhners verurteilt gewesen wäre, für den mag dieses Angebot attraktiv gewesen sein; denn es ermöglichte ihm, wenn er überlebte, ein kleines Stück Land zu kaufen und zu heiraten. Genau dies tat Martin Ludwig, als er schließlich in Ohmenhausen aufzog. 1 8 Das neue Regiment brauchte Regimenter. Der König von Württemberg führte deshalb 1803 in den neu württembergischen Gebieten die allgemeine Wehrpflicht ein, die 1806 auf das gesamte Königreich ausgedehnt wurde. 1 9 Nun traf es auch die Ohmenhäuser. Mit zwanzig Jahren, zumeist nach der Gesellenzeit, wurden sie gemustert und, wenn sie das Los traf, für etwa zwei Jahre eingezogen. Weitere vier Jahre blieben sie Reservisten. Das Rekrutierungsverfahren lief folgendermaßen ab: 121
»Die Zahl der im Frieden alljährlich auszuhebenden Mannschaft wird auf verfassungsmäßigem Wege bestimmt. (Gewöhnlich 3200-3400 Mann.) Diese Zahl wird aus den Jünglingen derjenigen Altersklasse genommen, welche im voran gegangenen Jahre das 20ste Jahr zurückgelegt haben. . . . Für jede Gemeinde wird eine Rekrutierungs-Liste entworfen, worin alle Militair-Pflichtigen, anwesend oder nicht, aufgenommen werden. Nach Verhältniß der Zahl der Militair-Pflichtigen wird die auszuhebende Mannschaft auf die Kreise und die Ober-Aemter repartirt [= aufgeteilt]. In den Ober-Aemtern bestimmt das Loos diejenigen, so die Aushebung trifft, . . .« 2 0 Musterung und Rekrutierung wurde von den Ohmenhäuser Burschen gleich z u m Anlaß größerer Feste und Gelage genommen. Bereits i m Jahr 1813 bekam ein verwaister Lediger von seinem Pfleger 1 fl. 21 xr. ausbezahlt, weil einige seiner Kameraden zu »Regruthten« w u r d e n , 2 1 und in späteren Zeiten kämpften die Pfarrer vergebens gegen den »alten Brauch«, daß die Konskribierten durch den Flecken zogen und Geld sammelten, welches sie häufig gleich in Alkohol umsetzten: »Man spricht von der Sammlung, welche injedemjahr die betr. Rekruten im Dorf von Haus zu Haus veranstalten dürfen. Hie und da wurde von einem Rekruten sein Anteil an der Sammlung noch vor dem Einrücken verbraucht; auch bedeutet diese Sammlung, besonders bei einer großen Zahl von Rekruten, eine starke Belastung. Es läßt sich aber vorerst bei der Gesinnung vieler Gemeindeglieder nichts gegen diesen alten Brauch machen. « 2 2 Z u Beginn des 19. Jahrhunderts war es jedoch ein Henkersmahl, das die Rekruten mit ihren Kameraden feierten. Sie hatten allen Grund dazu. Denn zu K ö n i g Friedrichs Zeiten standen diejenigen, die das Los traf, bereits mit einem Fuß i m Grab. D a s wußten alle. Ein kräftiger Rausch ließ sie es wenigstens für kurze Zeit vergessen. Ganz sicher waren es keine Freudenfeste mit Hurra-Patriotismus, die von den Jahrgängern anläßlich der M u s t e rung zelebriert wurden. Grund z u m Feiern hatten allenfalls diejenigen, die das Los nicht getroffen hatte. Die Identifikation mit dem neuen K ö n i g und dem neuen Vaterland war gering, die Armee verhaßt, Desertionen daher relativ h ä u f i g . 2 3 Auch Ohmenhäuser Soldaten gehörten zu den Fahnenflüchtigen. D a s beweisen die Akten über die Vermögensbeschlagnahmung von Deserteuren oder auch der folgende Brief des i m Militärgefängnis von L u d w i g s b u r g inhaftierten Ohmenhäuser Soldaten J a k o b Holz: »Ludwigsburg am Ilten November 1808 Liebster und Vielgeliebter Herr Pfleg Vatter ich bitte als verlassener und bitte Inständig viel daußend mal um gottes willen um eine gnädige Hilfe da ich in Verlegenheit war mich das Üble Schüksal erreuchet hat und getroffen das ich bin bestendig geplagt wegen dem ich Tambor habe seyn soll[en] und das ich nicht begreifen habe können so hat mich mann gequelt und ich bin die Sache überdrüßlich und der weg von meiner Station Heilbron durch Disperai entloffen und doch den 5ten Dag mich und meine Liebe Geschwister [?] gedauert, und mich selbst als 122
gemeter Desseteur einbringen habe laßen, an jezo mich hier auf der Schloßwacht im Arrest befände w o ihr selbsten einsehen könt. Der der ärmste Mensch auf Boden ist der im Arrest ist. Von allen Menschen verlassen kein Mensch ihm helfen kan als mein Herr Pfleg Vatter u m etwas weniges aushelfen möchte w o ich es zur größten N o t h bedürftig bin so grüße mein Lieben Hl. Pfleger und Brüder Hans Martin [und] Hans Georg und meine Bitte zu gewähren nicht abschlagen erwarth ich . . . eine Baldige Antworth und das Verlangte u m Gottes willen mich nicht zu verlassen J a k o b Holz von der Königl. Attelerie verbleibe bis in dot. « 2 4
Was hinter dem Versuch der Fahnenflucht des Jakob Holz stand, läßt sich leicht vorstellen: wahrscheinlich wurde er unter Alkohol gesetzt und dann bestochen, Tambour zu werden; denn dazu gab sich keiner freiwillig her. Wer marschierte bei dieser Art Krieg zu fuhren schon gerne vornedraus? Der Holz jedenfalls nicht. Er zog es vor zu desertieren. Ob Holz allerdings wirklich nach fünf Tagen vom Heimweh geplagt oder ganz einfach wieder aufgegriffen wurde und nun für seinen Pfleger, von dem er Geld wollte (und nie bekam!), eine traurige Geschichte erfand, sei dahingestellt. Er wurde, das geht aus weiteren Briefen hervor, begnadigt - unter der Bedingung, daß er doch den Tambour spielte. Als schließlich sein Regiment 1809, wohl zum 5. Koalitionskrieg, 25 ausrückte, schrieb Holz noch einen letzten Brief an seine Geschwister: »Ludwigsburg . . . [ ? ] 1809 Meinen Grus an dich Lieber Bruder . . . Ich berichte Dich auch mit einem bar Zeilen daß wir den 16 in das Feld marschieren. Wan meine Geschwistrig Einmal vielleicht noch eine Freude an mir haben, so können Sie . . . noch Ein mal bey mir einkehren oder noch Ein Brief überschiken. Weiter weis ich auch das mal nichts zu schreiben, weder das ich gesund bin, mein hertzlich grus an Euch Liebe Geschwistrig alle ich verbleibe Euer Bruder Jakob Holz Tambor . . . « 2 6
Den Holz trog seine Ahnung nicht: Er kehrte nie wieder nach Ohmenhausen zurück. Als sich politisch die Lage in Europa während der nächsten Jahrzehnte beruhigte und die Rekrutierung zum Militär nicht mehr gleichbedeutend mit einem Todesurteil war, veränderte sich auch die Einstellung der jungen Soldaten zum Dienst in der Armee. Für etliche der ärmsten Ohmenhäuser wurde er seit den 30er Jahren zur Rettung vor Hunger und Not, wenn es ihnen zur Auswanderung an Mut und Mitteln fehlte. Im Dorf selbst wurde das >Dienen< zum zweiten rite de passage in das Erwachsenenalter. Obwohl noch immer auch Ohmenhäuser Rekruten desertierten, schien sich die Einstellung zur Armee im allgemeinen doch gewandelt zu haben. 27 Anfang der 60er Jahre entstand ein Militärverein 28 im Ort, in dem sich Reservisten ihrer Heldentaten rühmen konnten, traten auch zum ersten Mal in Dorfgerichtsprotokollen Fälle auf, in denen sich junge Burschen gegenseitig wegen 123
Beleidigung ihrer militärischen Ehre anklagten. Ein Reservist, der es bis zum Rang eines Obermanns 29 gebracht hatte, fühlte sich zum Beispiel durch die Tatsache, daß ein anderer Bursche sich über seinen Dienstgrad lustig machte, zutiefst gekränkt und verlangte die Bestrafung des Spötters. In dem Vernehmungsprotokoll vom 21. Oktober 1866 heißt es: » . . . Nach diesem . . . sagt Jakob Krüger, . . . ich solle ruhig und mit meiner Kappe [in die ihm ein anderer Bursche zuvor »hinein geschifft« hatte] zufrieden sein. Das sei nichts Arges, und überhaupt habe man ja beim Ausmarsch die Obermänner blos aus Bakstein und alten Lumppen herausgemacht. Durch diese Aussage des Krüger sehe ich mich beleidigt, da ich auch Obermann war und lege darauf an, daß demselben seine gebührende Strafe zuerkannt wird. « 30
Der Krieg gegen Frankreich 1870/71 (in dem kein Ohmenhäuser sein Leben lassen mußte) brachte einen ersten Höhepunkt nationaler und militärischer Begeisterung im Ort. Die 25 heimkehrenden Frankreichkämpfer wurden vom Dorf mit einem »Fackelzug und Gesang« empfangen. Eine Sammlung in der Gemeinde ergab 12 fl. 30 xr., die den Veteranen feierlich überreicht wurden, »um denselben eine Freude zu machen«. 31 >Geschichten vom 70er Krieg< wurden in den folgenden Jahren zu einer eigenen >Erzählgattung< im Dorf, die bis in die Jugenderinnerungen der interviewten alten Ohmenhäuser hineinreichte. Die Phantasie der jungen Burschen erhielt dadurch ausgiebig Nahrung, und es formierte sich eine Jugend, bei der die Bemühungen des Jungdeutschlandbundes (der 1890 gegründeten und außerordentlich erfolgreichen antisozialistischen Jugendorganisation des Freiherrn v. d. Goltz) auf fruchtbaren Boden fielen.32 Militärdienst wurde zur Ehrensache und in die gegenseitigen Abgrenzungsversuche der Jahrgänge eingebaut. Wer noch nicht Rekrut gewesen war, durfte auf der Straße keine Soldatenlieder singen, ohne von den Älteren >die Gösch voll< zu kriegen. »Und der wo nicht Soldat gewesen ist, der ist nichts gewesen. Das ist ein >Naihrener< gewesen [= einer vom benachbarten Ort Nehren]«, berichtete ein alter Mann über die militaristische Stimmung unter der Ohmenhäuser Jugend in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Wer beim Militär gewesen war, das zeigte sich an der obligatorischen Barttracht, ohne die ein Bursche zu jener Zeit ebenfalls nichts galt: »Ha ja! Die w o da keinen Bart gehabt haben, da hat man gesagt, die sind >Stundenhältcn. Das waren die Pietisten. Die hatten keinen, die hat man damals schon . . . Das waren einfach keine rechten Kerle. «
Die Volksschule tat das ihre zur Formierung der >nationalen JugendEmden< hat das geheißen, das haben sie vorgeführt, und da ist man hineinmarschiert auf Reutlingen. . . . Da haben die natürlich auch entsprechende Musik dazu gemacht. Da haben die nicht gespielt: >Jesu geh voranHeimat< (als den ursprünglich neutralen Rechtsbegriff, als der sie in Ohmenhausen noch gebraucht wurde) zu jener >Heimat< im emphatischen, sentimentalen Sinne werden, die in vielen Briefen als letztes Ziel der Sehnsucht hingestellt wurde: »Ich möchte nur auch noch einmal in die Heimat und möchte die Leute noch einmal sehen.« 52 So wie dieses junge Mädchen schrieben viele Auswanderer nach
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Ohmenhausen zurück. Bei einer rationaleren Betrachtungsweise allerdings überwogen die Vorteile der neuen Heimat das Heimweh nach der alten bei weitem, so daß eine Rückkehr ernstlich nicht mehr in Frage kam: »Ich will auch noch einige Punkte von unserem neuen Vaterland anfuhren, das erste ist, daß die Früchte u. Obst kurz alles so gut aussieht, daß es alles die Fülle gibt, u. wir ein wohlfeiles Jahr zu erwarten haben wenn der Herr seinen Segen nicht entzieht. Die Mode mit der Kleidung ist in ganz Amerika gleich, auf dem Land wie in der Stadt, u. gerade so wie in Stuttgard. Es kann auch einer treiben in diesem Land was er kann und mag, es ist alles frei, keine Polizei und kein Oberamt u. doch es herrscht Gerechtigkeit u. Ordnung, kurz es ist mir lieber hier als in Deutschland. « 53
5. Brautwerbung und Hochzeit a)
Liebschaften
Bei den Spaziergängen und auf den Tanzplätzen, beim abendlichen >Gruppenspiel· und dem Nachhausebringen fand die Partnerwahl statt. Die Burschen und Mädchen hatten dabei Gelegenheit, einander genauer kennenzulernen und den Kreis möglicher Partnerinnen und Partner auszuloten. 1 War die Entscheidung gefallen, dann galt es zuerst, sich der Geliebten zu erklären. Auf die Frage, wie man das zu ihrer Jugendzeit gemacht habe, erklärten zwei ältere Ohmenhäuser Männer: »Ha, wenn man am Abend fortgegangen ist, und wenn es Zeit gewesen ist zum Heimgehen - die wo man haben wollte, mit der ist man >ane geloffenHa no, dei Anna hat sich verlobt, dann wird's bald eine Hochzeit geben. Da mußt du eine Aussteuer hinrichten, Nachbare!«
Nicht aus allen Liebschaften wurde jedoch eine Ehe. Manches Mädchen und mancher Bursche besann sich >auf halbem Weg< um, erwählte sich einen neuen Liebsten, >poussierte< ein anderes Mädchen. Dabei gab es viel gekränkten Stolz und manche Schlägerei. Wer von einem auswärtigen Mädchen einen Korb bekam, der konnte sich allenfalls auf irgendeine Art und Weise an dem Mädchen selbst rächen. 4 An den Rivalen wagte er sich auf fremdem Territorium kaum heran. Im Dorf selbst trugen die Burschen und ihre Kameraden solche Rivalitäten unter sich aus. In der Nacht nachjakobi 1822 kam es aus diesem Grund zu einem großen Auflauf der ledigen Jugend im Ort. ». . . i n der Nacht vom 25ten Juli bis 26ten hat sich ergeben, daß die ledige Bursche nachts nach 12 Uhr angetrofen [wurden]. Diese haben so gelermt und geflucht und gejohlt daß beynah alle Bürger vom Schlaf erweckt worden seyen. Der Schultheissenamtsverweser Diegel und Friedrich Maier haben sie heißen nach Hauß gehen, dieses [ist] aber nicht gleich befolgt worden. Jerg Schefer ledig und Georg Krumm ledig Georg Walz ledig, diese drey haben noch eher gefolgt. Aber des Michael Hornung Sohn dieser . . . [ist] nachher wieder in das Reßle gegangen und [hat] dort gelermt und gesprochen diese kenne ihm am Arsch leken. Der Schultheißenamts Verweser Diegel hat ihn 4 Mal heißen nach Hauß gehen. Dieser sagte aber, ihm [habe] niemand nichts zu befehlen, er gehe hin w o er wolle. « s
Genau läßt sich nicht rekonstruieren, was vorgefallen war; klar ist aber, daß es sich um ein Mädchen handelte, das von dem Georg Hornung nichts oder nichts mehr wissen wollte und das ihn deshalb . . . Ob sich allerdings der ganze Aufruhr gegen das Mädchen richtete, ob also sämtliche Burschen uni sono eine Art Katzenmusik gegen sie veranstaltet hatten (vielleicht weil sie einen Auswärtigen vorzog) oder ob sich die vor allem beteiligten Jahrgänge 1802 und 1803 jeweils aus Solidarität zu ihrem in die Affaire verwikkelten Mitglied untereinander prügelten, bleibt offen. In jedem Fall fanden solche Auseinandersetzungen vor dem Haus der Umstrittenen statt, so daß dem ganzen Dorf klar wurde, um wen und was es ging. Das war die letzte Rache des Verschmähten. Solche nächtlichen Tumulte der ledigen Burschen kamen ziemlich regelmäßig bis in dieses Jahrhundert hinein vor. Auch wenn sich aus den kurzen Protokollen des über sie zu Gericht sitzenden Schultheißen die Ursachen normalerweise nicht mehr rekonstruieren lassen, werden sie doch immer dieselben gewesen sein: verschmähte Liebe.6
133
b) »Die kommtfiir dich nicht in Frag'« Noch schlimmer, als einen >Korb< zu bekommen, war das kategorische Nein der Eltern, die am Besitz orientierte Vernunftehen erzwingen wollten und darin von diversen staatlichen Ehegesetzen unterstützt wurden. Wer in Württemberg heiraten wollte, der mußte bis 1871 den Nachweis erbringen, daß er eine Familie unterhalten konnte. In Artikel 42 des württembergischen Bürgerrechtsgesetzes vom 4. Dezember 1833 heißt es: »Ein Gemeinde-Bürger oder Beisizer hat sich vor seiner Verehelichung . . . gegen die Gemeinde-Obrigkeit über einen genügenden Nahrungsstand auszuweisen. . . . Der Mangel eines solchen Nahrungsstandes wird als vorhanden angesehen: 1) bei Jedem, der weder zur Ausübung einer freien Kunst oder Wissenschaft, noch zum selbstständigen Betriebe der Handlung, eines Handwerks, der L a n d w i r t schaft . . . befähigt ist, noch ein für den selbstständigen Unterhalt einer Familie hinreichendes Vermögen besitzt, und 2) bei Jedem, der zur Zeit der beabsichtigten Verehelichung wegen Vagierens, Asotie (Verschwendung, habitueller Müßiggang, notorischer Hang zum Trunk) . . . in gerichtlicher oder polizeilicher Untersuchung steht, oder . . . aus öffentlichen Kassen Beiträge zu seinem Unterhalte empfangen hat, oder zur Zeit der beabsichtigten Verehelichung empfängt. « 7
Vor jeder Heirat wurde von den Gemeindebehörden genau nachgerechnet, wieviel Äcker, Bargeld und Aussteuer die Verlobten zusammenbrachten. Wenn dem Gemeinderat das gemeinschaftliche Vermögen zu gering erschien, dann konnte er gegen diese Verbindung sein Veto einlegen. Der Gesetzgeber hatte die Festsetzung des Mindestvermögens weitgehend in die Hände der örtlichen Verwaltung gelegt: »Die Zulänglichkeit des Vermögens wird mit Berücksichtigung der verschiedenen persönlichen und örtlichen Verhältnisse im einzelnen Falle [vom Gemeinderat] bemessen. « 8 Was ein ausreichender Nahrungsstand war, hing von den lokalen Gegebenheiten (z. B. der Überfullung bestimmter Handwerke) ab, war somit weitgehend in das Belieben des Gemeinderates gestellt. Dieser machte von seinem Ablehnungsrecht vor allem gegenüber auswärtigen Ehepartnern Gebrauch, um den Zuzug minderbemittelter Personen in die Gemeinde zu verhindern. Bei Heiraten von Dorfangehörigen besorgten die beteiligten Familien diese Kontrolle über die >Ökonomie der Liebe< normalerweise selbst; denn neben dem Nachweis eines ausreichenden Nahrungsstandes war zur Heirat auch die Zustimmung der Eltern erforderlich. In der württembergischen Dritten Ehe-Ordnung aus dem Jahr 1687, die mit nur unwesentlichen Änderungen bis ins 19. Jahrhundert hinein gültig war, hieß es, daß »keine Kinder, Söhn und Töchter, was Alters sie auch seynd, es sey in der ersten, andern oder folgenden Ver-Ehligung, sich ohne Rath, Vorwissen und Willen ihrer Eltern, als des Vatters oder Mutter, und, da sie nicht vorhanden, des Großvatters und Groß-Mutter ehelich verpflichten sollen. « 9
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Wer zuwiderhandelte und sich »allein aus muthwilligem Ungehorsam und hinterlistiglich, ohne ihrer Eltern Wissen, oder wider deren Willen« 10 verlobte oder verheiratete, wurde bestraft, konnte enterbt werden und sein »Ehe-Verspruch« wurde für ungültig erklärt. Solange also noch ein direkter Vorfahre der Braut oder des Bräutigams lebte, hatte dieser gegen jede Verbindung, auch wenn es bereits die zweite oder dritte Ehe war, ein Vetorecht. Das entscheidende Kriterium für die Genehmigung einer Ehe war bei den Bauern (noch um die Jahrhundertwende) »das Sach«. Jugendliche, die bei ihrer Partnerwahl die Gesetze der Erhaltung des familialen Grundbesitzes nicht respektierten, kamen in Schwierigkeiten mit ihren Eltern. Die befragten älteren Ohmenhäuser Bürger konnten sich noch an viele derartige Familienkonflikte erinnern. »Bei den Bauern, da hat man halt nach dem Sach geheiratet! Meine Schwiegermutter hatte auch nicht viel gehabt, und als die einer heiraten wollte, da hat seine Mutter gesagt zu ihm: >Eine jede Sau bleibt bei ihrem Trog!< U n d da hat sie von der Zeit an >Sautrögle< geheißen. «
Das war eine Lehre fürs Leben. Daß man nicht aus dem Trog >der anderem fraß, und daß man, wenn im eigenen Trog etwas mehr war als in denen der anderen, dieses Mehr zu bewachen hatte, auf keinen Fall aber ein >armes Schwein< bei sich fressen lassen durfte - daran wurden dieses Mädchen, das den Spitznamen bekam, und der Bursche, der seine Geliebte nicht heiraten durfte, den Rest ihres Lebens tagtäglich erinnert. 11 Wer >die anderem waren und wie viel jeder >im Trog< hatte, das gehörte zum Ohmenhäuser Grundwissen, das einem von Kindheit an Tag für Tag vor Augen gefuhrt worden war: Man sah es bei der Arbeit auf den Feldern, an der Sitzordnung in der Kirche, an den Kleidern usw. Wer dieses Grundwissen und das darin implizierte Gesetz: daß nur ein gleich- oder bessergestellter Ehepartner den kärglichen Wohlstand erhalten konnte, vergaß, der kam in Konflikt mit den Eltern, deren Aufgabe es war, über die Erhaltung des Besitzes und damit auch der sozialen Position der Familie zu wachen. Daß diese Konflikte keineswegs nur anekdotischen Charakter hatten, kann zunächst ein Blick auf die Heiratsstatistik zeigen (vgl. unten Schaubild II). Wer am reichsten war, der hatte auch am meisten zu verteidigen. Frauen der Unterschicht und der unteren Mittelschicht waren deshalb während des ganzen 19. Jahrhunderts für die Männer der Oberschicht keine Heiratspartner. Diese Regel wurde strikt befolgt. Für die wenigen Ausnahmen (insgesamt 9 zwischen 1810 und 1893) war in zwei Dritteln der Fälle >menschliches Versagern verantwortlich: Uneheliche Kinder konnten ein Heiratsgrund sein, auch über die Schichten hinweg. Normalerweise wurden derartige >Kavaliersdelikte< von der Oberschicht zwar finanziell geregelt (es gab Frauen im Dorf, für die die Alimente wohl die einzige Einnahmequelle waren), manche Eltern stimmten jedoch daraufhin entweder der Eheschließung zu 135
oder sie erzwangen sie sogar. Das aber war die schlimmste Strafe: Denn wer als Oberschichtler eine solche Mesalliance eingehen mußte, der bekam den Fehltritt von der Arbeit, weil das Geld nicht zum Kauf eigener Geräte langte, bis zum Speisezettel, wenn selbst am Sonntag zu den ewigen »Spätzle mit Kartoffelschnitz« das Fleisch fehlte, Tag aus, Tag ein zu spüren - der war gestraft sein Leben lang.
Schaubild II: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Oberschicht-Männern, 1810-1893 % 100
80 60
40
20 0 1823
1844
1864
1882
1893
a) = Schichtrand-Ehen: darunter wurden Ehen gezählt, bei denen das jährliche Steueraufkommen der Väter um nicht mehr als 2 fl. oder 4 M. auseinanderlag oder in der Familie der Frau nicht mehr als 2, in der Familie des Mannes dagegen mindestens 4 Erben vorhanden waren. b) = Ehen mit vorehelich gezeugten/geborenen Kindern. Traf auch a) zu, so wurde die Eheschließung unter a) gezählt. c) = Ehen von Oberschicht-Männern mit Frauen aus der oberen Mittelschicht, auf die weder a) noch b) zutraf.
Anders stand es mit den Mädchen aus der oberen Mittelschicht; sie waren ernsthafte Partner für die Oberschichtsöhne. Zwar war die Mobilität zwischen diesen beiden Schichten, wenn man die (im Schaubild mit »a)« gekennzeichneten) Heiraten zwischen jeweils an der Schichtgrenze liegenden Partnern berücksichtigt, erheblich geringer, als es auf den ersten Blick aussieht, dennoch verlor die Oberschicht während des 19. Jahrhunderts ihre anfänglich fast totale Exklusivität und mußte beträchtliche Einbrüche der oberen Mittelschicht in ihre Heiratsdomäne hinnehmen. Denn gleichzeitig, d.h. ab dem Schnittjahr 1823, konnten sich auch etliche Söhne aus der oberen Mittelschicht mit Oberschichttöchtern verehelichen. 12 136
Schaubild III: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Männern der oberen Mittelschicht, 1810-1893 % 100
80 60 40 20 0
1823
1844
1864
1882
1893
a)-c) wie Schaubild II
Dieser Einbruch der O M S - M ä n n e r und -Frauen in den Heiratskreis der Oberschicht vor allem u m die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte mehrere Ursachen: 1. Die Agrarkrise von 1816-1818 und vor allem die danach lang anhaltende Depression der Getreide- und der Grundstückspreise hatten die O b e r schicht in den 20er Jahren unter erheblichen ökonomischen Druck gesetzt. Dieser D r u c k wurde noch verstärkt durch außerordentlich hohe Geburtenziffern in den Jahren 1805-22, also den Jahrgängen, die zwischen 1824 und 1844 heirateten. 1 3 Diese Kombination von Krise und generativem >Fehlverhalten< in der Vorkrisenzeit führte 1823-1844 nicht nur zu einer relativen, sondern auch zu einer absoluten Abnahme der Zahl der Oberschichtfamilien, 1 4 das heißt zu ihrem Absinken in die obere Mittelschicht. Diese abgesunkenen Oberschichtfamilien waren für die eigentliche Oberschicht zweifellos weiterhin heiratsfähig, was zu d e m breiten Bereich von SchichtrandHeiraten bei den Männern der Oberschicht wie der oberen Mittelschicht führte (vgl. Schaubilder II. und III.). 2. In ländlichen Oberschichten ist das Heiratsalter in der Regel (d. h. mit Ausnahme v o n agrarischen Krisenzeiten) niedriger als in den Unterschichten. 1 5 Auch in der Ohmenhäuser Oberschicht sank das durchschnittliche Heiratsalter nach Ü b e r w i n d u n g der Krisenjahre und verschärfte so zusätzlich die Situation auf d e m Heiratsmarkt für diejenigen Oberschichtmänner, die aus wirtschaftlichen Gründen dazu gezwungen wurden, ihre Heiratswünsche aufzuschieben. 137
Schaubild IV: Durchschnittliches Heiratsalter der Männer in Ohmenhausen (inkl. auswärtige Ehen), 1810-1893 1 6
3. Allein aus ökonomischen und demographischen Gründen lassen sich daher die plötzlichen >Liebeserfolge< der jungen Männer und Frauen der oberen Mittelschicht bei den Söhnen und Töchtern der Oberschichtfamilien nicht erklären. Darauf weist auch der sich in Schaubild II seit 1823 öffnende Sektor »b)«: die Mesalliancen auf Grund unehelicher Kinder hin, der sich in beiden Schaubildern zwischen 1844 und 1864 wieder weitgehend schloß. Eine genauere Analyse zeigte, daß zwischen 1823 und 1844 so gut wie alle schichtübergreifenden Heiraten dieses Typs in den 30er Jahren geschlossen wurden. Während dieser Jahre häufte sich in der Oberschicht die Zahl der unehelichen und vorehelich gezeugten Kinder. 1 7 Z u r gleichen Zeit setzten auch generelle Klagen über »das Betragen der ledigen Jugend« ein. Während sich in den Kirchenkonventsprotokollen bis etwa 1815 überhaupt keine Beschwerden über die Ledigen fanden und zwischen 1815 und 1825 lediglich zunehmende »Kinderlehrversäumnisse« bestraft wurden, waren etwa ab 1825 die kleinen Delikte der Jugendlichen Thema fast jeder Konventssitzung: »Spielen bis tief in die Nacht hinein«; regelmäßiger » U n f u g in der Kirche«; Befehlsverweigerungen gegenüber dem Schultheißen und vor allem dem Provisor: »Vor einem Provisor ziehe er keine Kappe ab«; Bewerfen des Provisors »auf dem Kirchhof mit Mauerkoth«; Grobheit einer ledigen Tochter gegen ihre Mutter; mehrfaches »Wandeln in die Lichtkärze [= Lichtstuben]« usw. 1 8 Diese kleinen Ausbrüche von Renitenz und Aufsässigkeit waren ein schichtübergreifendes Phänomen, die Söhne der reicheren Bauern waren daran ebenso beteiligt wie die der kleinen Handwerker. In den 40er Jahren verhandelte der Kirchenkonvent fast keine derartigen Fälle mehr. 138
Die 30er J a h r e w a r e n - ö k o n o m i s c h gesehen - wieder n o r m a l , die A g r a r depression w a r ü b e r w u n d e n , u n d es hatte sich bei den Bauern wieder ein gewisser Wohlstand eingestellt. In der O h m e n h ä u s e r O b e r s c h i c h t j e d o c h m u ß t e geteilt w e r d e n w i e n o c h nie, denn die j u n g e n M ä n n e r u n d v o r allem Frauen dieser Schicht w a r e n allem Anschein nach nicht dazu bereit, aus Rücksicht auf den Erhalt des familialen Besitzes ihre H e i r a t s w ü n s c h e z u rückzustellen. Es scheint, daß diese K o m b i n a t i o n v o n e x t r e m e r K o n k u r r e n z auf d e m H e i r a t s m a r k t einerseits u n d sich gleichzeitig etwas entspannender ö k o n o m i s c h e r Gesamtlage andererseits speziell die J u g e n d l i c h e n der O b e r schicht zu einem Verhalten v e r f ü h r t e , das der bäuerlichen Heiratsstrategie (die in ö k o n o m i s c h schwierigen Zeiten auch implizierte, daß v. a. die M ä d chen z u g u n s t e n des familialen Besitzerhaltes auf die E h e verzichten sollten) zuwiderlief. D u r c h ein liberalisiertes Sexualverhalten u n d steigende Renitenz w u r d e n w ä h r e n d e t w a z e h n J a h r e n die elterlichen Heiratsverbote, die in den oberen Schichten die J u g e n d ganz besonders einschränkten, unterlaufen u n d m e h r Partner der eigenen Wahl gesucht. Für die S ö h n e der Unterschichtfamilien w a r die Lage bei der P a r t n e r w a h l genau u m g e k e h r t w i e f ü r diejenigen aus der Oberschicht: Sie hatten nichts zu verlieren, f ü r sie gab es keinen sozialen Abstieg m e h r . Die graphische Darstellung ihrer sozialen Heiratsmobilität ist deshalb (bis zur J a h r h u n d e r t mitte) ein fast exaktes Spiegelbild derjenigen der Oberschicht.
Schaltbild V: S c h i c h t - H e r k u n f t der v o n O h m e n h a u s e n g e b ü r t i g e n E h e f r a u en v o n U n t e r s c h i c h t - M ä n n e r n , 1810-1893 100
80 60 40
20 0 1823
1844
1864
1882
1893
O b e r s c h i c h t u n d obere Mittelschicht fielen f ü r die j u n g e n M ä n n e r aus der U n t e r s c h i c h t als H e i r a t s m a r k t bis in die 80er J a h r e praktisch a u s . 1 9 Die E h e n zwischen Söhnen aus der U n t e r s c h i c h t u n d T ö c h t e r n aus der unteren M i t t e l 139
Schicht setzten sich (wie diejenigen zwischen Oberschichtmännern und Frauen aus der oberen Mittelschicht) im wesentlichen aus SchichtrandHeiraten und Muß-Ehen zusammen. Denn wie die Angehörigen der oberen Mittelschicht versuchten sich auch diejenigen der jeweils darunter liegenden Schicht scharf abzugrenzen und ganz nach oben zu orientieren. Schaubild VI: Schicht-Herkunft der von Ohmenhausen gebürtigen Ehefrauen von Männern aus der unteren Mittelschicht, 1810-1893 %
Die Heiratspolitik der Familien der unteren Mittelschicht war erstaunlich erfolgreich (vgl. Schaubild VI). Es gelang ihr ein zunehmender Abschluß gegenüber der Unterschicht (1 Ehe 1882-93!) und gegen das Jahrhundertende eine breite Verbindung mit der oberen Mittelschicht (9 Ehen 1882-93!). Vergegenwärtigt man sich den drastischen Rückgang des Grundbesitzes nach 1882 bei der unteren Mittelschicht, 20 dann läßt sich gegen Ende des Jahrhunderts an ihrer Heiratsstrategie deutlich der verzweifelte Kampf um die Erhaltung des bäuerlichen Kleinbesitzes und die Abwehr der Proletarisierung ablesen. Ehen mit Mädchen aus der Unterschicht waren deshalb für die jungen Männer der unteren Mittelschicht tabu. 2 1 Die soziale Heiratsmobilität der Unterschichtmänner schien dagegen zugenommen zu haben. Schaubild V, das den Eindruck vermittelt, als ob die ledigen Burschen der ärmsten Schicht zunehmend mehr Erfolg bei den betuchteren Mädchen gehabt hätten, ist jedoch v. a. für die Zeit nach dem Schnittjahr 1882 stark verzerrt: der Summe von 22 Eheschließungen von Söhnen der unteren Mittelschicht mit Partnerinnen aus Ohmenhausen standen 1883-93 nämlich lediglich 8 solche Heiraten von Unterschichtmännern gegenüber. Das warenjedoch lediglich 38,1% der während jener Zeit von
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ihnen überhaupt eingegangenen Ehen. Die landlose Unterschicht, aus der sich der Großteil der Fabrikarbeiterschaft rekrutierte, war inzwischen sehr viel mobiler geworden und nicht mehr allein auf den heimatlichen Heiratsmarkt angewiesen. 19% der jungen Männer der Unterschicht heirateten in Ohmenhausen eine nicht ortsgebürtige Frau, 42,9% verheirateten sich in einen anderen Ort. Dieser Prozentsatz lag wesentlich über demjenigen der anderen Schichten. 22 Die Öffnung des dörflichen Heiratsmarktes für die Unterschicht war nur scheinbar, das Gegenteil war der Fall: Es fand eine weitgehende Verdrängung der Fabrikler und Habenichtse aus dem Dorf statt. Daß dies mehr ein Hinausgedrängt-Werden als ein freiwilliges Weichen war, zeigt die Entwicklung des durchschnittlichen Heiratsalters bei den Männern der Unterschicht ganz deutlich: Während bei allen anderen Schichten nie ein wesentlicher Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Heiratsalter insgesamt und dem bei Hochzeiten mit ortsgebürtigen Mädchen im Ort bestand, trat bei der Unterschicht nach dem Schnittjahr 1882 eine enorme Diskrepanz zwischen diesen beiden Werten ein. Ehen mit Mädchen aus dem Ort wurden im Alter von durchschnittlich 25 Jahren geschlossen, solche mit Frauen aus anderen Ortschaften erst mit annähernd 29 Jahren (Schaubild IV zeigt aus diesem Grund für die Unterschicht zwei Werte!). Freiwillig scheint die Fabrikler-Jugend das Feld nicht geräumt zu haben. Damit bietet sich für die zweite Jahrhunderthälfte ein sehr einheitliches Bild: Sämtliche Schichten versuchten durch eine sich wieder verschärfende Heiratspolitik, ihren Besitzstand gegen die nach oben drängenden unteren Schichten zu verteidigen. Es entstand wieder eine »geschlossene Gesellschaft nichts hatteLogik des Sachs< der >Logik des Herzens< in Ohmenhausen noch am Ende des 19. Jahrhunderts enge Grenzen. 23 Dennoch ist es verwunderlich, daß diese beiden >Denksysteme< - wenigstens seit der Zeit der Industrialisierung - nicht häufiger in Konflikt miteinander gerieten. Hätte nicht auch im Denken der Jugendlichen eine gewisse Übereinstimmung zwischen ihnen bestanden, hätten nicht die Kameradschaften und ihre Kontrolle der Partnerwahl in dieselbe Richtung gewirkt, so wären derart geschlossene Heiratskreise sicher nicht mehr möglich gewesen. 24 Der Großteil der Jugend scheint sich die Normen und Werte der Partnerselektion, die den Ausbrechern von den Eltern notfalls aufgezwungen wurden, durch die eigene Lebenserfahrung bereits gründlich angeeignet zu haben. In einer Gesellschaft, in der Armut eine ständige Bedrohung und schwere körperliche Arbeit eine gewöhnliche Erfahrung von klein auf waren, wurden Besitz und physische Konstitution automatisch zu Eigenschaften, die den jungen Mann oder das Mädchen, mit dem man einmal zusammen leben und arbeiten wollte, auch liebenswürdig machten. Die alten, lange tradierten >Dorfweisheiten< zeigen das deutlich: »Morgens - unsere Mütter haben doch lange Zöpfe gehabt, und da haben sie eine Schnur hineingeflochten und dahinten rumlangen und das drehen, das haben nicht alle können - beim Schneider da sind sie zusammengekommen [und haben sich gegenseitig die Z ö p f e geflochten]. U n d die Mannen haben immer geschimpft, wenn die Weiber da hinein sind: Jetzt k o m m t sie wieder nicht, und ich sollte das Futter holen auf dem Acker. U n d dann habe ich einen Nachbarn gehabt, der hat immer zu mir gesagt, - da bin ich schon wieder aus dem Krieg gewesen: > Wenn du mal heiratst, dann verlangst zuerst von der Deinigen, . . . daß sie sich selbst flechten kann!< weil die dabei so lang getratscht haben. . . . U n d der Wagners-Christian, das ist auch ein Nachbar, der hat allemal gesagt zu mir: >Wenn du heiratst, dann frag sie zuerst, ob sie einen neuen Acker hat, und wenn sie j a sagt, dann läßt sie laufen!< Da hat man nicht mähen können, da hat's einfach nicht gehauen [wegen der Unebenheiten], da hat man ein Ding [ = einen Schnitt?] ums andere machen müssen, und dann ist das [Korn] doch immer [unter der Sense] unten durch geschlupft, weil das so [schräg]
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gestanden ist . . . Und dann haben sie halt so arg schwitzen müssen und sind kreuznarred [= wütend] geworden und deshalb hat der immer gesagt, wenn sie einen neuen Acker hat, dann läßt sie laufen. « Wer sich sein Leben lang mit e i n e m u n e b e n e n Acker abquälen m u ß t e , der w u r d e eben »kreuznarred« auf seine Frau, w e n n sie diesen m i t in die E h e gebracht hatte. So ein Feld zu besitzen w a r geradezu ein schlechter C h a r a k terzug w i e Arbeitsscheu oder Geschwätzigkeit. Diese Lebensweisheiten w u r d e n bis in dieses J a h r h u n d e r t hinein tradiert. W ä h r e n d sie f ü r die Eltern unserer alten O h m e n h ä u s e r Gewährsleute n o c h bitterer E r n s t w a r e n (wie es die Statistiken zur G e n ü g e zeigen), besaßen sie f ü r die u m die J a h r h u n d e r t w e n d e G e b o r e n e n ü b e r w i e g e n d n u r n o c h a n e k dotischen Wert. Z w a r versuchten i m m e r n o c h Eltern, E h e n »nach d e m Sach« zu e r z w i n g e n , sie standen j e t z t aber meist auf v e r l o r e n e m Posten: »Ich habe eine Frau geheiratet, die hat was gehabt, mein Vater hat auch ein paar Gütle gehabt, aber das ist eben zu wenig gewesen, dann hat es geheißen: Der Fabrikler da, was will denn der?« N a c h d e m Ersten Weltkrieg heirateten die J u n g e n trotz des elterlichen Einspruchs, der m i t d e m Ehegesetz v o n 1875 ohnehin w e i t g e h e n d w i r k u n g s l o s g e w o r d e n w a r . 2 5 Einige zogen v o n d a h e i m aus oder riskierten f ü r ihre Entscheidungsfreiheit l a n g w ä h r e n d e Familienzwiste. »Und, ich muß sagen, . . . es hat noch einige gegeben, da hat es dann von den Eltern geheißen: den läßt du fort oder die läßt du fort, die paßt nicht zu dir und so weiter, das hat es auch gegeben. « »Was hat man dann gemacht?« »Ich weiß auch nicht, haben sie es aufgehört, wie es dann gegangen ist. Also, ich sage ja, es hat auch einige gegeben, wo es die Eltern nicht gelitten haben gegenseitig. Und die einen haben es dann doch ertrotzt und so ist es fortgegangen. Da sind die Eltern dann gegenseitig nicht zusammengekommen, nicht mal bei der Hochzeit. Das ist auch nichts.« D i e Möglichkeit, den Konflikt m i t den Eltern auf sich zu n e h m e n , e r ö f f nete sich erst, seitdem die Fabrikarbeit einem j u n g e n Paar ein ausreichendes E i n k o m m e n (das seit 1875 a u ß e r d e m nicht m e h r nachgewiesen w e r d e n m u ß t e ) sicherte u n d die K i n d e r nicht m e h r v o m A b t r e t e n des Heiratsgutes d u r c h die Eltern abhängig waren: »Viele sind dann ausgezogen von daheim. >Ich nehm den, auch wenn du's nicht haben willst!* Dann ist sie von daheim gegangen. Sie hat ja dann leben können, weil sie aufs Geschäft gegangen ist. Früher hat sie das als Bäuerin nicht können. Da wäre sie in der Luft gehängt. « Diese Konflikte (die f u r uns statistisch nicht m e h r faßbar waren) w u r d e n j e d o c h ausgetragen in einer Zeit, in der d u r c h das e n o r m e B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m seit den 1890er J a h r e n die Vererbung v o n Grundbesitz auch in der unteren u n d teilweise sogar in der oberen Mittelschicht n u r n o c h eine 143
untergeordnete Rolle gespielt haben konnte, die dörfliche Landwirtschaft kaum mehr als soziales Netz funktionierte und die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg die Gültigkeit traditioneller Verhaltensweisen auch in anderen Bereichen in Frage gestellt hatten.
c) Die
Hochzeit
Hochzeiten scheinen diejenigen Ereignisse gewesen zu sein, die am weitesten aus dem dörflichen Alltag herausragten. Es waren Feste, bei denen man sich einmal beim Essen und Trinken gehen lassen konnte, ohne sich gleich die diskriminierende Verdächtigung der Trunksucht und Völlerei zuzuziehen; es waren Anlässe, die - scheinbar - das ganze Dorf zu fröhlicher Geselligkeit vereinten. 26 In Wirklichkeit machten sich gerade an der Art der Hochzeitsfeier die sozialen Unterschiede im Ort besonders deutlich bemerkbar. Das zeigten die mit den älteren Bürgern in Ohmenhausen geführten Gespräche sehr krass. Zunächst schwärmten, wie im folgenden Gespräch, die alten Leute auf Fragen nach den örtlichen Hochzeitsgebräuchen immer von den großen Dorfhochzeiten der Jugendzeit: »Was das für ein Ding gewesen ist! Da ist die Musik vor der Kirche draußen gestanden - und mit Musik vornedrauß bis ans Lokal wo die Hochzeit gewesen ist, mit tätärätä. « . . . »Und wer an der Tafel gesessen ist, der hat ein Lied oder den Marsch wünschen können, den er wollte . . . « »Und da hat es Zuckerkranz gegeben und Hefekuchen. Da hat es noch nicht Torten gehabt und aufgelegten Kuchen!« »Und Wein und Bier?« »Nein, nur Wein - nach dem Essen. Morgens, hat es geheißen, zur Morgensupp', da hat man Bier trinken dürfen. Und das hat der Bräutigam bezahlt. Eben für alle, die in die Kirche sind. Vom Lokal aus ist der Zug dann in die Kirche gegangen. Brautfräulein und Kinder - schön angezogen, ein Kränzle haben die Mädle aufgehabt und die Buben ein Sträußle . . . « »Und da ist man abgeholt worden mit Musik - wenn sie sich's haben leisten können. «
Genau das war jedoch die entscheidende Frage! Die >Aristokratie< ließ es sich noch um die Jahrhundertwende nicht nehmen, richtige Dorfhochzeiten (»Da ist alles dazugegangen, also von jedem Haus jemand!«) zu veranstalten - das war sie ihrem Ruf schuldig. Da spendierte der Bräutigam die »Morgensuppe«, ein Glas Bier für alle Anwesenden, und nach der Kirche aß und trank man zusammen im Adler oder im Ochsen und tanzte und feierte bis spät in die Nacht hinein. 27 »Das war dann eine richtige Hochzeit. Da ist der ganze Flecken - da hätte sich eines geschämt, nicht zur Hochzeit zu gehen. Vom Nachbarn ist natürlich die ganze Familie gegangen . . . « 144
So eine »richtige Hochzeit« war lustig, aber teuer. Leisten konnten sich so ein Fest in Ohmenhausen schon immer nur wenige Familien. Im begüterten Hause Hügle ließ man sich Ende des 18. Jahrhunderts eine Hochzeit etwa elf Gulden kosten. 28 Dafür mußte ein Schneider damals fünf Hosen, fünf Westen und fünf Herrenröcke nähen und wäre damit sicher ein Vierteljahr beschäftigt gewesen - wenn er jemals so viele Aufträge bekommen hätte. An den Hochzeiten zeigte sich also der Wohlstand der Familien, da durfte er einmal guten Gewissens der Dorfbffentlichkeit demonstriert werden; denn man ließ sie ja - wenigstens für einen Tag - etwas daran teilhaben. In den Teilungsakten der kleinen Handwerker: der Schneider, Schuster, Bäcker usw., finden sich keine Rubriken »Hochzeitskosten«. Bei ihnen fiel die Feier damals entweder ganz aus oder war noch viel kärglicher als bei den »Fabriklern« am Anfang dieses Jahrhunderts. Ein betagter Ohmenhäuser Arbeiter berichtete von seinem Hochzeitsfest: » U n d dann haben wir geheiratet. A m Freitagabend um Vi 8 Uhr sind wir aufs Rathaus und u m acht in die Kirch' und u m '/< 9 sind wir schon wieder daheim gewesen. Zehn Personen im ganzen. « » U n d mußten Sie am Morgen [des Hochzeitstags] noch schaffen?« »Ich hab geschafft bis mittags u m Vi drei Uhr. U n d mein Weib ist u m Vi sechs U h r heimgekommen. «
Wo kein Geld war, konnte nicht groß gefeiert werden, gab es keine Musik, blieb auch der Brautwagen, der die Aussteuer der Töchter durchs Dorf ins neue Domizil fuhr, leer: »Wir haben gar nichts gekriegt. Ich habe von daheim nichts gekriegt und sie auch nicht. « Solche »stillen Hochzeiten« ernteten zwar nach dem Ersten Weltkrieg das Lob des Ortsgeistlichen: »Dem Pfarrer ist das recht gewesen . . ., der hat gesagt: Das war einmal eine Hochzeit nach meinem Geschmack«, aber für die Jungen war es immer noch ein schwerer Verzicht: »Denn die Hochzeiten waren früher schön, das kann ich sagen. Oh, also da ist der ganze Fleck gekommen und die Schulkameraden und alles zusammen. Ich bin im Gesangverein gewesen und die haben dann gesungen, da war es einfach schöner, da. Das war ein Trubel im Adler seinerzeit, ein Haufen Leute waren da, Heiland im Himmel, ist es da zugegangen . . ., daß ich gesagt habe: Gott sei dank, daß es vorbei ist [lacht]!«
Dorfhochzeiten waren nicht nur schön, sie waren auch - für das Paar sehr einträglich; denn wer zu einer Hochzeit geladen war, mußte etwas schenken. Von ihren »Gespielen« bekam die Braut in der Lichtstube gefertigte Stücke zur Aussteuer (wobei die Höhe des Wäschestoßes ein Gradmesser für die Beliebtheit des Mädchens war), die übrige Dorfbevölkerung gab zumeist Geld. Von jedem zwei Mark, das machte am Ende der Hochzeit auch ein kleines Vermögen, mit dem das junge Paar etwas anfangen konnte. Die Sache hatte nur einen Haken: 145
»Aber einen Fehler hatte eine Hochzeit: das was einer zur Hochzeit bekommen hat, das hat er nachher, wenn er zu einer Hochzeit ging, wieder abgeben müssen. «
Die dörflichen Hochzeiten hatten ihre eigene Arithmetik. Wer etwas geschenkt bekam, mußte wieder schenken, möglichst denselben Betrag; denn was das junge Paar hier bekam, war nichts anderes als ein zinsloser Kredit des Dorfes, den man an die nächsten Hochzeiter weiterzugeben hatte. 29 So war immer eine begrenzte Summe als Starthilfe für Neuvermählte im Umlauf. Funktionieren konnte dieses System aber nur, wenn man zurückbezahlte, was man bei der Hochzeit eingeheimst hatte. Man mußte deshalb die Geschenke genau notieren: »Wissen Sie, . . . dann hat man doch müssen alles aufschreiben, woher es g e k o m men ist; denn, dann später haben die auch Hochzeit gehabt und dann hat man müssen gucken, aha, dann hat man müssen auch wieder hin. . . . D a hat man immer 2 oder 5 Mark gekriegt, seinerzeit 1925, und so etwas hat man dann aufgeschrieben, die einen haben da - die sind heikel gewesen . . . D a hat man so ein Heft gehabt, da hat man alles reingeschrieben mit den N a m e n und, will ich sagen, mit Straße und w o er wohnt. «
Einer Familie weniger zurückzugeben, als man selbst von ihr bekommen hatte, wäre eine Beleidigung gewesen; denn man hätte ihre Großzügigkeit schamlos ausgenützt. Deshalb mußte man genau Buch fuhren und seine Schulden im Laufe der Jahre pünktlich tilgen. Mit der Hochzeit war die Jugend zu Ende. Wer nicht mehr ledig war, konnte auch nicht mehr zur Äbbehe, schlug sich nicht mehr mit den Kameraden die Nächte um die Ohren. Er war nun ein Familienoberhaupt und richtiger Bürger und hatte sich seiner neuen Stellung entsprechend >ehrbar< zu verhalten. Bereits vor der Hochzeit feierte der Bräutigam deshalb auf der Äbbehe den >Abschied< von den Kameraden und spendierte ihnen ein Faß Bier. »Ja, wir sind zur Krügers-Bäuerin. Z u der sind wir gegangen bis wir geheiratet haben. . . . Ich habe auch meine Hochzeit bei der Krügers-Bäuerin gefeiert - mit den Schulkameraden. «
Die Jahrgänger ihrerseits bedankten sich für diesen Abschied am Hochzeitstag lautstark: » U n d dann hat man geschossen. D a haben sie so Vorderlader gehabt, da hat man Pulver rein. . . . Ha, das hat Schläge getan wie bei einer B o m b e . «
Mit diesen Schüssen hatten auch die Kameraden ihre Aufgaben erledigt. Ihr ehemaliger Genösse war nun mit allen Ehren in seinen neuen Stand eingewiesen.
146
à) Fremde Freier-fremde
Bräute: zum regionalen
Heiratskreis
Nicht alle Ohmenhäuser Jugendlichen konnten ihren Ehepartner im Dorf selbst finden. Besonders die Angehörigen der Unterschicht, die sich ohne Not keiner aus einer höheren Schicht zum Partner wählte, waren vielfach zur Abwanderung gezwungen, wollten sie nicht in Ohmenhausen als ledige Knechte ihr Leben enden. Manche Gesellen ergriffen die Gelegenheit, wenn sich ihnen auf der Wanderschaft eine günstige Möglichkeit zur Eheschließung bot. Einige Mädchen konnten sich »in ihre Stellung« verheiraten. Die Ursachen für die Abwanderung waren sehr verschieden, für alle galt jedoch, daß die Verehelichung und Niederlassung an einem fremden Ort eine Sache war, die wohl überlegt sein wollte, bei der es viel zu berücksichtigen gab und die auch bei weitem nicht jedem gestattet wurde. Die Ortsbehörden hatten ein genaues Auge darauf, wen sie in die Gemeinde einließen und waren verpflichtet, in der jeweiligen Heimatgemeinde sehr detaillierte Erkundigungen über den neuen Bürger einzuziehen: »Wir, die unterzeichnete Schultheiß und Gemeinderath zu Ohmenhausen beurkunden und bekenen hiemit, daß Maria Wohllebin, Tochter des Steffan Wohlleb, Bürger und Bauers Man dahier, vor uns ersehenen sey und uns eröffnet haben, wie Sie mit Gott entschlossen sey, sich in das Ort Bernhausen [bei Stuttgart] zu Verheyrathen und daselbst sich Bürgerlich einzulassen, zu Beförderung solchen Vorhabens eine beglaubte Urkundt ihrer Geburth, Herkommens und bißheriger Auffuhrung . . . nöthig hat . . . Wir bezeugen nun bey unseren obhabenden Amtspflichten, daß obige Maria Vermög anliegenden glaubwürtigen Tauf Scheins nicht nur in Rechtmäsiger Ehe Ehlig erzeugt und gebohren und bei nahe 30 jähr alt, sondern wie Sie sich überhaupt ohne Clage aufgeführt, so daß man ihro nichts Unrechts nachzusagen wisse. Überigens was das Vermögen belangendt, so besitzt dieselbe nach des Vatters Versprechen An Grund Stüke Viétel Baum garten . . . 2 vtl. Akers im Espach . . . 21 Ruten im unteren breiten wasen . . ., sämtliche Güter sind Eigen . . . Eigenes Vermögen und für sich gespartes besitzt dieselbe paarGeldt 66. f Fahrniß Stüke für 115.f Dis Eigene für sich erspartes wird Einem Wohll. Gemeinderath in Bernhausen auch wohl bekant seyn. . . . Deren zu Wahrer Urkundt . . . Den 29tenSeptbr 1828 . . .« 30
Sich im Jahr 1828 aus einem Dorf bei Reutlingen in ein Dorf bei Stuttgart zu verheiraten, war ein Schritt, dessen Tragweite heute nur schwer nachvollziehbar ist. Er erforderte viel Mut (und setzte deshalb meist eine schlechte wirtschaftliche Lage im Heimatort voraus); denn er bedeutete den Anfang eines wirklich neuen Lebens: Es wurde in diesem Fall bei der Heirat nicht nur die Jugendlichen- gegen die Erwachsenenrolle getauscht, sondern es mußten 147
ganz neue Sozialbeziehungen errichtet, ein neues Grundwissen - was wem gehörte, wann wo gearbeitet wurde usw. - erlernt und eine neue Identität (Was gilt die neue Familie im Ort? Was gilt man selbst in der neuen Familie?) gefunden werden. Die Stellung der Maria Wohlleb als zukünftige Bäuerin und ihre soziale Integration bei den Bernhäuser Frauen war ungewiß, auch wenn sie schon seit längerer Zeit dort in Diensten stand und somit Ort und Leute bereits kannte. Denn zum einen machte sie mit ihrer Heirat den Bernhäuser Mädchen Konkurrenz, die Eindringlinge in ihren Heiratsmarkt natürlich genauso ungern sahen wie die Burschen, sich jedoch nicht so handgreiflich dagegen wehren durften wie jene und deshalb nur durch den sozialen Ausschluß dieser fremden Frau ihr Mißfallen über eine solche Heirat kundgeben konnten. Zum anderen stand, wer auswärts heiratete, immer in dem Verdacht, daß er zu Hause keinen Partner finden konnte, weil er »nichts rechts« war: »Ihre geschwei [ = Schwägerin] habe ihr ins Gesicht gesagt, wenn du etwas rechts wärst, wärst du nicht auf hie hergekommen sondern wäre auch in ihrem Ort untergekommen . . , « 3 1
Gegen diese Ressentiments nützte die zu jeder Verehelichung notwendige Bescheinigung eines >guten Prädikats< (»Wie Sie sich auch vonJugenden auf Ehrlich . . . aufgeführt, daß man ihro nichts Unrechts nachzusagen wisse«) durch das Schultheißenamt wenig; 3 2 denn sie lagen auf einer anderen Ebene, auch wenn sie sich eines ähnlichen Vokabulars wie die Behörden bedienten. Daß jemand »nichts Unrechtes« nachgesagt werden konnte, hieß noch lange nicht, daß er »etwas rechts« war - besonders dann nicht, wenn er aus einem anderen Ort stammte. Diese Unsicherheit der Zukunft vor allem im Bereich der Sozialbeziehungen wurde noch verstärkt durch den Zwang, alle Rückzugsmöglichkeiten aufgeben zu müssen. Mit der Ausbezahlung seines Anteils hatte man an die Familie keine Ansprüche mehr zu stellen und an die Gemeinde schon gar nicht mehr. Denn wer sich in die Fremde verheiratete, hatte auf das heimatliche Bürgerrecht zu verzichten und mußte sich in die neue Gemeinde bürgerlich aufnehmen lassen. Ein Wegzug ins fünf Kilometer von Ohmenhausen entfernte Dorf Jettenburg kam - in mehr als nur formaler Hinsicht - einer Auswanderung nach Amerika gleich: »Nachdem ich . . . mich entschlossen habe, in Jetenburg, Oberamts Tübingen, wohnhaft zu werden, so habe ich das in meinem Geburts-Ort Ohmenhausen mir zuständig gewesene Burger-Recht unter Beystand meines Vaters . . . mit gutem Wißen und Willen aufgekündet, mich deßen vollkommen begeben und entschlagen, so daß ich und meine N a c h k o m m e n in dem Ort Ohmenhausen wegen dieses neu aufgesagten Burger-Rechts keinen Aufenthalt, Genuß und Freyheit mehr zu suchen haben, sondern ich und meine N a c h k o m m e n aller damit verbunden gewesenen Rechten gänzlich verlustig sind. Ich verbinde mich zugleich, vor meinem Wegzug alle an mich zu machende Ansprüche gütlich oder rechtlich zu erledigen und biß zur Erörterung meiner bißherigen Obrigkeit zu unterwerfen. « 3 3
148
Wenn der Ehemann oder die Ehefrau früh starben, davonliefen oder sich scheiden ließen, so hatte der zurückgebliebene Partner (und umgekehrt) praktisch keine Möglichkeit, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Die Äcker waren verkauft, und die Gemeinden hatten normalerweise kein Interesse daran, die Schiffbrüchigen wieder an Bord zu nehmen. Sich an einen fremden Ort zu verheiraten, war somit ein Schritt, zu dem man durchaus »mit Gott entschlossen« sein mußte. Entsprechend selten (vor allem gemessen an der relativ hohen Mobilität gerade der jungen Frauen) kamen solche auswärtigen Hochzeiten vor. Während der ganzen vorindustriellen Zeit mußten Mädchen aus allen Schichten des Orts in Dienst gehen, der größte Teil von ihnen kehrte jedoch zur Hochzeit wieder nach Ohmenhausen zurück. Über 70% der Mädchen aller Schichten heirateten noch in denjahren von 1810 bis 1823 einen aus Ohmenhausen stammenden Mann (vgl. Tab. VI). In den folgendenjahren stieg - bedingt durch das Bevölkerungswachstum und die Agrarkrisen von 1816/17 und 1846/48 und deren lang anhaltende Folgen - die Zahl der Auswärtsheiraten der Frauen beträchtlich an. Gleichzeitig zeigt die Statistik, daß sich die Heiratswanderung mehr und mehr zu einem Unterschichtenphänomen entwickelte. Dies wird besonders deutlich am Heiratsverhalten der Unterschichtmänner (vgl. Tab. VII), von denen am Ende des Jahrhunderts über 40% ihren Ehepartner auswärts suchten bzw. suchen mußten. 34 Aber auch bei den Jugendlichen der beiden Oberschichten war die Quote der auswärts geschlossenen Ehen teilweise beträchtlich, hier besonders bei den Mädchen. Ihre Mobilität war dadurch, daß sie wie die aus den Unterschichten stammenden Mädchen in Dienststellungen gehen mußten, wesentlich höher als die ihrer Brüder, die entweder auf dem elterlichen Hof blieben oder einmal eines der besseren Handwerke (Schmied, Wagner usw.) im Dorf ausüben würden. Gleichzeitig war es durchaus im Sinne der familialen Besitzerhaltungspolitik, wenn sich ab und zu Söhne oder Töchter in der Fremde verehelichten; denn in diesen Kreisen bestand das Problem häufig nicht darin, daß man ein Geschwisterteil ausbezahlen oder ihm ein Pachtgeld für die überlassenen Äcker geben mußte, sondern daß der Grundstücksmarkt so begrenzt war, daß man für sein Geld keinen Boden erwerben konnte. Wenn ein Familienmitglied den Ort verließ, so war das für die übrigen eine Gelegenheit, ohne preissteigernde Konkurrenz ihr Eigentum vergrößern zu können. In Krisenzeiten dagegen, wenn die Mobilität am größten war, kehrte sich diese Rechnung genau um: Ein sich auswärts verheiratendes Kind mußte für seinen Anteil an den Äckern und Gebäuden eine dem im Kataster dafür festgehaltenen Wert entsprechende Summe ausbezahlt bekommen. 3 5 In Krisenjahren sanken jedoch die Grundstücks- und Gebäudepreise beträchtlich, da Bargeld knapp war. Wer Kinder oder Geschwister mit Bargeld abzufinden hatte und deshalb Güterstücke verkaufen mußte, konnte in solchen Zeiten viel verlieren. Die Kinder, die nach auswärts heirateten, wurden 149
Tab. VI: Eheschließungen von Ohmenhäuser Frauen in Ohmenhausen und auswärts, 1810-1893 Zus. in Ohmenhausen in Ohmenhausen nach auswärts mit Ohmenmit auswärtigem häuser Partner Partner
Jahr
abs.
%
abs.
1810 OS - 2 3 OMS UMS US
11 18 13 27
8 14 11 19
72,7 77,8 84,6 70,4
1824 OS - 4 4 OMS UMS US
34 40 31 34
25 28 23 18
73,5 70,0 74,2 52,9
1845 OS - 6 4 OMS UMS US
25 45 37 34
15 40 31 19
60,0 88,9 83,8 55,9
1865 OS - 8 2 OMS UMS US
31 28 57 32
24 22 38 16
77,4 78,6 66,7 50,0
1883 OS - 9 3 OMS UMS US
14 13 41 18
12 10 19 5
85,7 76,9 46,3 27,7
1 10 7
1810 OS - 9 3 OMS UMS US
115 144 179 145
84 114 122 77
73,0 79,2 68,2 53,1
583
397
68,1
zus.
%
%
14,8
27,3 16,7 15,4 14,8
2,9 7,5 9,7 5,9
8 9 5 14
23,5 22,5 16,1 41,2 36,0 11,1 16,2 38,2
1
5,6
4 1 3 3 2
-
abs. 3 3 2 4
—
-
1
4,0
-
-
-
-
2
5,9
9 5 6 13
1 2 5 2
3,2 7,1 8,8 6,3
6 4 14 14
19,4 14,3 24,6 43,8
-
-
7,7 24,4 38,9
2 2 12 6
14,3 15,4 29,3 33,3
3 7 18 17
2,6 4,9 10,0 11,7
28 23 39 51
24,3 16,0 21,8 35,2
45
7,7
141
24,2
Quellen: EvKGOh, Ehe- und Familienregister.
Anm.: Eheschließungen von Pfarrern und Lehrern bzw. deren Kindern wurden nicht mitgezählt. Es wurden nur die Erstehen gezählt. Aus diesem Grund weichen die Summen der Eheschließungen in Ohmenhausen mit Ohmenhäuser Partnern in Tab. VI und VII voneinander ab.
deshalb zur Solidarität verpflichtet und mußten wenigstens vorübergehend auf ihr Erbe verzichten bzw. der neue Schwiegersohn mußte - wie im folgenden Fall - die schriftliche Zusicherung geben, daß er die versprochene Mitgift nicht gerichtlich einklagen werde, falls sie ihm nicht sofort und vielleicht auch nicht in der ausgehandelten H ö h e ausbezahlt würde.
150
Tab. VII: Eheschließungen von Ohmenhäuser Männern in Ohmenhausen und auswärts, 1810-1893
Jahr
Zus.
in Ohmenhausen mit Ohmenhäuser Partner abs.
%
1810 O S - 2 3 OMS UMS US
5 12 21 16
5 12 19 11
100 100 90,5 68,8
1824 OS - 4 4 OMS UMS US
28 26 25 35
23 21 22 22
1845 OS - 6 4 OMS UMS US
17 36 36 32
1865 OS - 8 2 OMS UMS US
in Ohmenhausen mit auswärtigem Partner abs.
%
nach auswärts
abs.
%
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
2
12,5
2 3
82,1 80,8 88,0 62,9
3 2 2 10
10,7 7,7 8,0 28,6
2 3 1 3
7,1 11,5 4,0 8,6
14 34 28 20
82,4 94,4 77,7 62,5
1 1 6 6
5,9 2,8 16,7 18,8
2 1 2 6
11,8 2,8 5,6 18,8
19 25 52 49
14 17 31 23
73,7 68,0 59,6 47,0
1 3 10 8
5,3 12,0 19,2 16,3
4 5 11 18
21,1 20,0 21,2 36,7
1883 OS - 9 3 OMS UMS US
8 9 30 21
6 9 22 8
75,0 100,0 73,3 38,1
1
12,5
1
12,5
1810 O S - 9 3 OMS UMS US
77 108 164 153
62 93 122 84
502
361
zus.
-
-
-
9,5 18,8
-
4 4
13,3 19,0
4 9
13,3 42,9
80,5 86,1 74,4 54,9
6 6 22 30
7,8 5,6 13,4 19,6
9 9 20 39
11,7 8,3 12,2 25,5
71,9
64
12,7
77
15,3
Quellen: EvKGOh, Ehe- und Familienregister. Anm.: Eheschließungen von Pfarrern und Lehrern bzw. deren Kindern wurden nicht mitgezählt. Es wurden nur die Erstehen gezählt. Aus diesem Grund weichen die Summen der Eheschließungen in Ohmenhausen mit Ohmenhäuser Partnern in Tab. VI und VII voneinander ab.
»Ich, Balthes Klein, Bürger und Schneider zu Hinterweiler . . . verspreche hiemit wohlgedachtlich und wissentlich, daß ich niemals eine Forderung oder Ansprache an den Gemeinderath zu Ohmenhausen machen werde, wenn ich auch die meine[r] Braut, Katharina Katzer von da, von deren Vater . . . versprochene und in deren Geburts Brif enthaltene 300 f. . . . Heurathgut nicht gleich und auch nicht ganz erhalten sollte. Da ich selbst wohl weiß, daß die Feldgüte[r] gegenwärtig in keinem 151
Preiß sind und die Bauers Leute bereits sonst durch Nichts als durch einen Güter Verkauf ihre Kinder mit baar Geld Aussteuer und Heurathgüter geben können. Ohmenhausen d. 8ten Septbr. 1821 Baldes Klein.« 36
Viele junge Paare trafen solche Bestimmungen gerade in den Krisenzeiten besonders hart. Sie bedeuteten oft, daß diese nicht heiraten konnten. Für den Balthes Klein war eine derartige Zusage allerdings nicht besonders schlimm; denn er konnte notfalls auch von dem nur 5 Kilometer von Ohmenhausen entfernten Hinterweiler aus die ihm dort zustehenden Äcker bewirtschaften. Die beiden Ortsmarkungen grenzten aneinander und markungsübergreifender Besitz war durchaus üblich. Man muß deshalb bei der Betrachtung der regionalen Heiratsmobilität die Entfernung mit berücksichtigen: 37 Der Großteil aller auswärtigen Ehen wurde in Orten im Umkreis von 5 Kilometern geschlossen, wobei allerdings eine genaue Schichtentrennung zu beobachten ist: Die Oberschichtkinder, vor allem die Mädchen, heirateten in den südwestlich bis nordwestlich gelegenen Bauerndörfern, diejenigen aus der Unterschicht in Betzingen, Reutlingen und der weiteren Umgebung. 75% der auswärtigen Heiraten von Oberschichtmädchen fanden im Zeitraum von 1810-1893 im Umkreis von 5 km (so z.B. 8 von den 9 auswärtigen Heiraten zwischen 1845 und 1864), weitere 7% in 5 bis 10 km Entfernung statt. Ganz ähnlich waren die Relationen im umgekehrten Fall, bei den Einheiraten Auswärtiger in Ohmenhausen: Der Großteil der Partner kam (wiederum besonders bei der Oberschicht) aus der nächsten Umgebung. Bei den einheiratenden Frauen war dies noch auffallender als bei den Männern. Tab. VIII: Einzugsgebiet auswärtiger Ehepartner bei Heirat und Niederlassung in Ohmenhausen, 1810-1893
Entfernung
auswärtige Frauen Zahl %
auswärtige Männer Zahl %
0 - 5 km 5-10 km 10-20 km sonst. Württ. Baden Hessen Schweiz unbek.
29 19 8 6
17 5 8 11 1 1
insg.
64
45,3 29,7 12,5 9,4
-
-
1 1
1,6 1,6
-
-
100
37,8 11,1 17,8 24,4 2,2 2,2 -
2 45
4,4 100
Quellen: E v K G O h , Heiratsregister u. Familienregister
Die Verteilung auf die Geschlechter war bei den Einheiraten in das Dorf genau umgekehrt wie beim Heiratsabzug: Während mehr Mädchen als Burschen sich in die Fremde verheirateten, holten sich wesentlich mehr 152
junge Männer auswärtige Bräute in den Ort (vgl. oben Tab. VI und VII). Auswärtige Freier waren prinzipiell unerwünscht - die ledigen Burschen sahen sie nicht gern und auch die Eltern (besonders diejenigen der Oberschicht) waren selten für derartige Verbindungen. Denn in Zeiten, in denen es kein Land zu kaufen gab, nützte noch soviel Bargeld nichts: Der fremde Bräutigam konnte nie ein großer Bauer in Ohmenhausen werden. Da war es viel vorteilhafter, einen einheimischen, vielleicht etwas ärmeren Mann zu ehelichen - und wenn sich keiner fand, ledig zu bleiben. Das verlangte die Solidarität mit der Familie, deren soziale Position durch jede Mesalliance stark gefährdet worden wäre. Wo es nichts zu teilen gab, brauchte man derartige Bedenken allerdings nicht zu hegen. In den beiden unteren Schichten heiratete deshalb seit der Industrialisierung eine namhafte Anzahl auswärtiger Männer ein. Bei den männlichen Jugendlichen hatte diese Außenorientierung bereits etwas früher eingesetzt, aber ebenfalls nur in der Unterschicht (vgl. oben Tab. VI und VII). Die erhöhte regionale Arbeitsmobilität der Unterschicht führte zu einer größeren Heiratsmobilität. Ermöglicht wurde diese (abgesehen von der durch die Fabrikarbeit veränderten materiellen Lebensgrundlage) durch die neue Ehegesetzgebung von 1871 bzw. 1875, die auf Heimatrecht, ausreichenden Nahrungsstand und gutes Prädikat als Ehevoraussetzungen verzichtete und das elterliche Vetorecht wesentlich einschränkte. Rechtliche und wirtschaftliche Schranken waren einer regionalen wie sozialen Heiratsmobilität nun nicht mehr gesetzt. Gebrauch machten von dieser neuen Freizügigkeit in größerem Umfang jedoch nur die Unterschichten. Wer im Dorf noch >etwas hatteGefallene Bräute< a) Statistisches zu den unehelichen Kindern und zur vorehelichen
Sexualität
Die Burschen, die bei der Hochzeit ihres Kameraden Salut geschossen hatten, durften nicht selten nur wenige Monate danach ihre Kanonen erneut laden - wenn nämlich vor Ablauf der offiziellen Frist< getauft werden mußte: »Also bei einer Taufe . . . wenn sie rausgekommen sind, dann haben die Schulkameraden - und gerade wie bei ihm oder bei mir, wo bälder ein Kind dagewesen ist - , dem hat man geschossen, daß Ohmenhausen gewackelt hat. « 153
Für diese Spätfolgen ihres jugendlichen Treibens fühlten sich die Kameraden offensichtlich noch mitverantwortlich. Jugendliche Sexualität wurde bislang aus der Darstellung des Ohmenhäuser Jugendbrauchtums weitgehend ausgeklammert, da Formen >offiziös< gestatteter, von den Burschenschaften kontrollierter vorehelicher sexueller Kontakte in Ohmenhausen nicht nachzuweisen waren. 1 Die Akten schweigen über diesen Bereich fast vollständig, und entsprechende Fragen können in Interviews mit alten Leuten nur vorsichtig gestellt werden und erhalten selten direkte Antworten. Allein aus den demographischen Erhebungen zu unehelich geborenen oder vorehelich gezeugten Kindern lassen sich deshalb einige Anhaltspunkte zum Sexualverhalten und zur Sexualmoral der Ledigen und zur Funktion der Kameradschaften fur diesen Bereich erschließen, wobei allerdings diese amts- und aktenkundig gewordenen Folgen weder den ganzen Bereich jugendlicher Sexualität umfassen noch alleine diesem zuzuordnen sind. 2 Im ausgehenden 18. und vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg in ganz West- und Mitteleuropa die Illegitimitätsquote stark an mit am stärksten in Württemberg. 3 Auch in Ohmenhausen war die Zunahme der unehelichen Geburten im 19. Jahrhundert eine äußerst auffallende demographische Erscheinung: von 5,3% aller Geburten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wuchs die Illegitimitätsquote auf 12,3% zwischen 1845 und 1864 (vgl. unten Tab. IX). In derselben Zeit (1777-1864) verdoppelte sich auch der Anteil der vorehelich gezeugten, d. h. bis zu sieben Monaten nach der Eheschließung geborenen Kinder. U m die Mitte des Jahrhunderts wurden 18,1% aller in Ohmenhausen geborenen Kinder vor der Ehe empfangen. 4 U m genauere Aussagen über voreheliche Sexualität machen zu können, muß man diese (in Tab. IX erfaßten) Zahlen nochmals spezifizieren: Vorehelich gezeugt werden kann immer nur ein Kind pro Familie. Erst der Anteil der pränuptial gezeugten Kinder an der Zahl der Erstgeburten der Ohmenhäuser Frauen läßt deshalb Rückschlüsse auf die Häufigkeit vorehelichen Geschlechtsverkehrs zu. Auch in bezug auf die unehelichen Kinder ist aus diesem Grund speziell der Anteil unehelicher Erstgeburten an der Gesamtzahl der erstgeborenen Kinder von Interesse. 5 Der Anteil dieser unehelichen und vorehelich gezeugten Kinder an der Gesamtzahl der Erstgeburten stieg zwischen 1777 und 1864 von 41,1 % auf 61,2% (Vgl. unten Tab. X), vorehelicher Geschlechtsverkehr war also eher die Regel als die Ausnahme. Die Zeitspanne von etwa zehn Jahren zwischen Geschlechtsreife und Heirat wurde somit keineswegs abstinent verbracht, zumal wenn man berücksichtigt, daß bei weitem nicht jeder Geschlechtsakt Folgen nach sich zog, sondern die Fruchtbarkeitswahrscheinlichkeit lediglich bei ca. 8% lag. 6 Solche Durchschnittszahlen könnten zu dem übereilten Schluß verleiten, daß sich bei den Jugendlichen trotz aller elterlichen und staatlichen Heiratsbeschränkungen, schwieriger räumlicher Verhältnisse und strenger kirchli154
Tab. IX: Uneheliche und vorehelich gezeugte Kinder in Ohmenhausen, 1777-1905 (absolut u. in % der Gesamtgeburtenzahl) Jahr
Gesamt- uneheliche Kinder vorehelich gezeugte uneheliche und geburtenKinder vorehelich zahl gezeugte Kinder abs.
%
%
abs.
%
3,0
63
8,3
-
-
4 4 6
2,5 2,4 3,7
1 8 19 37
0,8 4,9 11,4 22,7
abs. 23
1777 zus. - 1804
759
40
5,3
1805 OS - 2 3 OMS UMS US
122 163 166 163
1 4 15 31
0,8 2,5 9,0 19,0
zus.
614
51
8,3
13
2,1
64
10,4
OS OMS UMS US
91 222 243 197
10 19 15 42
11,0 8,6 6,2 21,3
6 9 9 7
6,6 4,0 3,7 3,6
16 28 24 49
17,6 12,6 9,9 24,9
zus.
753
86
11,4
31
4,1
117
15,5
OS OMS UMS US
92 114 241 178
1 7 27 42
1,1 6,1 11,2 23,6
6 3 19 8
6,6 3,5 7,9 4,5
7 10 46 50
7,7 9,6 19,1 28,1
zus.
625
77
12,3
36
5,8
113
18,1
OS OMS UMS US
53 32 127 104
2 2 4 14
3,8 6,2 3,1 13,5
3 4 5 11
5,7 12,5 3,9 10,6
5 6 9 25
9,4 18,7 7,1 24,0
zus.
316
24
7,6
21
6,6
45
14,2
zus.
522
39
7,5
?
?
?
?
1824 -44
1845 -64
1865 -72
1896 1905 Quellen: E v K G O h , Taufregister, Familienregister; W ü r t t e m b e r g i s c h e Gemeindestatistik, 2. Ausg. nach d e m Stand v o n 1907, Stuttgart 1910. Die Kinder von Lehrern u n d Pfarrern w u r d e n bei der Gesamtgeburtenzahl nicht mitberücksichtigt. Auswärts geborene Kinder w u r den n u r dann berücksichtigt, w e n n sie im C l i n i c u m in T ü b i n g e n oder an d e m Wohnsitz der Eltern einer v o n auswärts s t a m m e n d e n Frau geboren w u r d e n u n d nachweislich in O h m e n h a u sen a u f w u c h s e n . Ausgeschlossen aus dieser Statistik blieb daher der - statistisch ohnehin n u r unzuverlässig erfaßbare - Bereich der Sexualität weiblicher Dienstboten.
eher und obrigkeitlicher Sanktionen gegen ledige Mütter eine äußerst libertine Sexualkultur entwickelt hätte, die v o n der Moral der Kirche ebensowenig wissen wollte w i e v o n der v o n den Eltern repräsentierten bäuerlichen 155
Tab. X: Uneheliche und vorehelich gezeugte Erstgeburten in Ohmenhausen, (1777-1804) 1805-1872 (absolut u. in % der Gesamtzahl der Erstgeburten) Jahr
Erstgeb. uneheliche Kinder vorehelich gezeugte ges. Kinder abs.
%
abs.
%
abs.
%
146
39
26,7
21
14,4
60
41,1
OS OMS UMS US
11 21 32 30
1 4 11 19
9,1 19,0 34,4 63,3
zus.
94
35
24 42 39 42
1777 zus. - 1804 1805 -23
4 4 3
19,0 12,5 10,0
1 8 15 22
9,1 38,1 46,9 73,3
37,2
11
11,7
46
48,9
8 17 12 24
33,3 40,5 30,8 57,1
5 9 8 4
20,8 21,4 20,5 9,5
13 26 20 28
54,2 61,9 51,3 66,7
147
61
41,5
26
17,7
87
59,2
18 17 60 49
1 5 23 29
5,6 29,4 38,3 59,2
6 3 17 5
33,3 17,6 28,3 10,2
7 8 40 34
38,9 47,1 66,7 69,4
144
58
40,3
30
20,8
89
61,2
OS OMS UMS US
9 7 23 28
2 2 4 10
22,2 28,6 17,4 33,7
3 4 5 10
33,3 57,1 21,7 35,7
zus.
67
18
26,9
22
32,8
1824 OS - 4 4 OMS UMS US zus. 1845 -64
OS OMS UMS US zus.
1865 -72
uneheliche und vorehelich gezeugte Kinder
-
-
.
5 6 9 20 40
55,6 85,7 39,1 71,4 59,7
Quellen und Anmerkungen wie Tab. IX.
Besitzerhaltungsstrategie. Daß zumindest letzteres nicht zutraf, zeigt ein Blick auf die Schichtverteilung der unehelichen Geburten (vgl. oben Tab. X ) : Einer Illegitimitätsquote v o n 6 3 , 3 % in der Unterschicht stand in den Jahren von 1805 bis 1823 in der Oberschicht lediglich eine v o n 9 , 1 % gegenüber. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts waren uneheliche Kinder ganz eindeutig ein U n t e r s c h i c h t p h ä n o m e n - u n d damit auch die voreheliche Sexualität zumindest der Mädchen. 7 Diese Diskrepanz glich sich in den folgenden Jahren weitgehend aus, in den Jahren v o n 1824 bis 1844 standen den 66,7% vor der Ehe gezeugten Erstgeburten der Unterschichtfrauen bereits 5 4 , 2 % in der Oberschicht gegenüber. 156
Man muß jedoch auch diesen nur auf die Erstgeburten bezogenen Unehelichkeitsstatistiken mißtrauisch gegenüberstehen; denn was sie verschweigen, ist, wie viele Mädchen, die die Geschlechtsreife in einem gegebenen Zeitraum erreichten, wirklich sexuellen Kontakt vor der Ehe hatten. U m dies festzustellen, muß man die Stärke der Geburtsjahrgänge mit berücksichtigen. Im Zeitraum von 1805 bis 1823 wurden in der Unterschicht 71 Mädchen geboren, insgesamt 42 von ihnen erreichten das 20. Lebensjahr und waren am Ende der nächsten Phase, im Jahr 1844, somit zwischen 21 und 39 Jahre alt. Diese Altersspanne umfaßt zwar nicht die ganze Fruchtbarkeitsperiode einer Frau, jedoch ihre sexuell aktivsten Jahre. 8 Korreliert man der Größe dieser Kohorte die Zahl der unehelich geborenen bzw. vorehelich gezeugten >Erstkinder< des Zeitraums von 1824 bis 1844, so ergibt sich, daß 66% der Unterschichtmädchen vorehelichen sexuellen Kontakt gehabt haben müssen. In der unteren Mittelschicht waren es (nach derselben Berechnungsmethode) 52,6%, in der oberen Mittelschicht 50% und in der Oberschicht 31%. Bis zur Jahrhundertmitte lebte somit der Großteil der Oberschichtsmädchen in der Zeit zwischen Geschlechtsreife und Hochzeit »zölibatär« (obwohl diese 31% vielleicht auch fur die Oberschicht bereits eine »sexuelle Revolution« (Shorter) dargestellt haben!), während der Großteil der Mädchen der Unterschicht schon vor ihrer Heirat sexuelle Erfahrungen gesammelt hatte. 9 Die Schichtspezifik des vorehelichen Sexualverhaltens hatte vor allem zwei Gründe: 1. Bei den Frauen der Unterschicht stieg bis nach der Jahrhundertmitte das Heiratsalter kontinuierlich an und lag drei bis fünf Jahre über dem der Oberschicht und 1864 annähernd beim 30. Lebensjahr im Durchschnitt (vgl. unten Schaubild VII). Die staatlichen und vielleicht auch die familialen Eheverbote verlängerten die Ledigen-Zeit in dieser Schicht derart, daß die Wahrscheinlichkeit, daß diese Jahre nicht »Spur«-los10 an den Mädchen vorüber gingen, hier etwa doppelt so hoch war wie bei denen der Oberschicht. 2. In manchen Unterschichtfamilien war die »Unzucht« endemisch: Ledige Mütter gebaren Töchter, die wieder zu ledigen Müttern wurden usw. und dies nicht nur in solchen Familien, bei denen die Töchter absolut keine Aussicht auf Verehelichung hatten (wie z. B. bei einer seßhaft gemachten Vagantenfamilie), sondern teilweise auch bei den kleinen Handwerkern. 11 Dies deutet darauf hin, daß in der Unterschicht die Sexualität der Kinder weit weniger unter Kontrolle gehalten wurde als in der Oberschicht. In diese Richtung weisen auch Einträge in den Kirchenkonventsprotokollen wie der folgende: »Ferner wurde Schuster Roth citirt, und ihm gesagt, daß Johannes Katzer, der mit s. Tochter Bekanntschaft, und von dem sie bereits ein Kind geboren hat, innerhalb 4 Wochen aus s. Haus müsse, indem eine wilde Ehe nicht geduldet werden könne, und 157
er widrigenfalls er diesem Befehl nicht folge leiste, um 1 Reichsthaler gestraft werden. « 1 2 Die Schustersfamilie war eine von jenen, bei denen das Gebären von unehelichen Kindern >erblich< war. Ein Grund dafür war ganz offensichtlich, daß den Kindern relativ große Freiheiten zugestanden wurden. Die beschuldigte Tochter war nämlich keine von ihren Eltern unabhängige alte Jungfer, sondern ein Mädchen von gerade 21 Jahren, und ihr Liebhaber keineswegs eine gute Partie, die es im Interesse der Familie zu unterstützen galt, sondern ein ebenso armer Schneiderssohn. Eine wilde Ehe im Hause des Schultheißen wäre undenkbar gewesen. Wo es keinen Besitz zusammenzuhalten und keine soziale Position zu verteidigen galt, lebte es sich sehr viel ungenierter. Dies galt auch noch für den nächsten Zeitabschnitt, die Jahre von 1845 bis 1864: Über 57% der Unterschichtmädchen, die zwischen 1824 und 1844 geboren wurden und in jener Periode dann die Gruppe der zwanzig- bis vierzigjährigen Frauen bildete, 13 hatten während dieser Jahre voreheliche sexuelle Kontakte. In der unteren Mittelschicht waren es sogar über 71% der jungen Frauen. Die entsprechenden Quoten für die Oberschicht und obere Mittelschicht - 33,3% bzw. 14,5% - nahmen sich dagegen wieder sehr
Schaubild VII: Durchschnittliches Heiratsalter der Frauen in Ohmenhausen (inkl. auswärtige Ehen), 1810893
1823
1844
1864
Quellen: E v K G O h , Eheregister u. Familienregister I
158
1882
1893
bescheiden aus. Das zwischen 1845 und 1864 immer noch steigende durchschnittliche Heiratsalter der Unterschichtfrauen, das zu jener Zeit mehr als vier Jahre über dem der Oberschichtmädchen lag (vgl. Schaubild VII), und das dadurch immer weiter verlängerte soziale Zwangszölibat überstieg die Toleranzgrenze dieser jungen Frauen offensichtlich. Wer (wie die Mädchen aus der Oberschicht) die sichere Aussicht hatte, sich noch vor dem funfundzwanzigsten Lebensjahr verheiraten zu können, der hatte es auch leichter, >keusch< zu bleiben. Die Entwicklung des schichtspezifischen Sexualverhaltens der Mädchen kann hier nicht bis in dieses Jahrhundert hinein weiterverfolgt werden, da aufgrund eines beschränkten Zugangs zu den Kirchenbüchern diese Zahlen nur bis 1872 ausgezählt werden konnten. Es lassen sich jedoch anhand des zugänglichen Materials die Tendenzen der weiteren Entwicklung wenigstens andeuten: Aus den Tabellen IX und X war ein stetiger Rückgang der Zahl der unehelichen Kinder einerseits und ein kontinuierlicher Anstieg des Anteils der vorehelich gezeugten Kinder andererseits zu ersehen. Dies deutet auf einen wichtigen Wandel im Charakter der vorehelichen sexuellen Beziehungen der Ohmenhäuser Jugend hin: ihre zunehmende Bindung an den zukünftigen Ehepartner. Anhand der Zahlen der offiziellen Unehelichkeitsstatistik 14 und der Klage des Pfarrberichts von 1898, daß unter »hundert Eheschließungen, welch letztere namentlich seitens der Männer in jugendlichem Alter stattfinden, . . . kaum zehn [sind], dabei die Braut als Jungfrau vor den Altar tritt«, 15 läßt sich die Entwicklungstendenz der vorehelichen Sexualität bis gegen das Jahrhundertende folgendermaßen skizzieren: Intimer Verkehr vor der Ehe beschränkte sich mehr und mehr auf den zukünftigen Ehepartner bzw. zog, sofern dabei ein Kind gezeugt wurde, sofort die Heirat nach sich. Dieser Trend wurde besonders wirksam, seit die Reform des Ehe- und Bürgerrechts auch den Unterschichten Heiraten ohne den Nachweis eines »ausreichenden Nahrungsstarides« ermöglichte. 16 Wahrscheinlich machten die Mädchen der Unterschicht, die dadurch von ihrem überdurchschnittlich lang andauernden Zölibat bzw. der Angst vor unehelichen Kindern befreit wurden, von dieser Möglichkeit, sexuelle Beziehungen mit Aussicht auf eine nachfolgende Ehe eingehen zu können, besonders regen Gebrauch. Denn als Fabrikarbeiterinnen waren sie unabhängig und hatten auf elterliche Heiratsvorschriften am allerwenigsten Rücksicht zu nehmen. Aber auch diejugend der Oberschicht hatte an diesem Wandel der vorehelichen Sexualität ihren Anteil. Folgt man den Pfarrberichten, so war diese Entwicklung ein schichtübergreifendes Phänomen. Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Fabrikarbeit bzw. Armut und »SittenVerderbnis« finden sich in Beziehung auf die Sexualmoral der Jugend in dieser Quellengattung seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr. 159
Schaubild VIII: Prozentualer Anteil der ehelichen, unehelichen und vorehelich gezeugten Kinder an der Gesamtzahl der Erstgeburten in Ohmenhausen 1777-1895 %
100
80 60
40
20 0 180S 1823 1864 186418721862 1895 Quellen: EvKGOh, Taufregister, Familienregister I
Allerdings sind diese Berichte kein unbedingt verläßlicher Indikator, und man m u ß gerade bei Vermutungen über den Wandel vorehelicher Sexualität in den landwirtschaftlichen Oberschichten (wie dies z. B. der prozentuale Rückgang vorehelicher Konzeptionen und Geburten in der Kiebinger O b e r schicht zwischen 1870 und 1929 deutlich zeigt) sehr vorsichtig sein. 1 7 Insgesamt verweist diese zunehmend deutlichere Verbindung von vorehelichem Geschlechtsverkehr und Eheschließung jedoch auf ein für das jugendliche Sexualverhalten wichtiges M o m e n t : Intime Beziehungen zwischen Jugendlichen setzten ein bestimmtes Lebensalter voraus und waren kein Phänomen der frühen Jugend. Da man selbst fur Arbeiterjugendliche davon ausgehen kann, daß eine bewußte Geburtenkontrolle bis in dieses Jahrhundert hinein nicht praktiziert w u r d e , 1 8 kann das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen somit als Richtlinie für den Beginn vorehelicher Sexualbeziehungen angen o m m e n werden. Darauf deutet auch hin, daß (mit einer Ausnahme: der oben zitierten Tochter des Schusters Roth!) keine ledige Mutter jünger als einundzwanzig Jahre alt, ein Großteil sogar älter als fünfundzwanzig Jahre alt war. 1 9 Es scheint daher ein brauchmäßig gefordertes Mindestalter für sexuelle Kontakte gegeben zu haben, das etwa in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts gelegen haben m u ß und das außerordentlich selten >unterlaufen< wurde. Faßt man diese Beobachtung mit den anderen Ergebnissen der Heiratsstatistiken zusammen, so ergibt sich ein relativ genaues Bild von den Mechanismen der Partnerwahl und damit auch von den Aufgaben und Funktionen der Kameradschaften und des von ihnen getragenen Jugendbrauchtums: 160
1. Autonomes Jugendbrauchtum, wie es oben anhand der Tänze, Spaziergänge, Äbbehes etc. für Ohmenhausen geschildert wurde, stellt immer eine Gefahrenquelle für den sensitivsten Bereich traditioneller bäuerlicher Gesellschaften: die besitzorientierte Partnerwahl dar. Denn wo Jugendliche verschiedenen Geschlechts ohne elterliche Überwachung zum Zweck der Partnerwahl zusammenkommen, ist >menschliches Versagen< vorprogrammiert. Die Furcht davor führte zu den diversen staatlichen und kirchlichen Versuchen der »Domestizierung« und »Famiiiarisierung« der weiblichen Lichtstuben. 2. Während aber in manchen Gegenden Europas die Burschenschaften aktiv und frühzeitig die ersten sexuellen Kontakte der jungen Leute einleiteten und überwachten, übernahmen die Ohmenhäuser Kameradschaften diese Funktion mit ziemlicher Sicherheit in institutionalisierter Form nicht. Dies läßt sich (neben dem Fehlen archivalischer Hinweise) aus der Schichtspezifik der Illegitimität wie der Heiraten schließen. Zwar gibt es m. W. keine weiteren statistischen Untersuchungen über den Zusammenhang von starkem Jugendbrauchtum und sozialer Heiratsmobilität etc., aber derart geschlossene Heiratskreise und eine so stark auf die Unterschichten konzentrierte voreheliche Sexualität scheinen bei einer >aktiven< Eheanbahnungsfunktion von Burschenschaften unwahrscheinlich. Die Fehltritte müßten häufiger und sozial breiter gestreut sein. Die Ohmenhäuser Kameradschaften >tolerierten< somit sexuelle Kontakte allenfalls im direkten Vorfeld der Eheschließung. 3. So scheint den Kameradschaften vor allem eine autonome Überwachungsfunktion< zugekommen zu sein: Das hohe Alter der ledigen Mütter wie auch die Schichtspezifik der Eheschließungen sprechen zwar auch für die gute Kontrolle der Eltern über die Mädchen in den oberen Schichten, machen aber primär die Bedeutung der gegenseitigen Überwachung in den Jugendgruppen deutlich. Denn die Jugendlichen hatten sich ihre Freiräume (und damit auch die >GefahrenquellenKlassenstruktur< zu erschüttern. 4. Die positive Funktion der Kameradschaften und des Jugendbrauchtums für die Partnerwahl bestand vor allem darin, den Jugendlichen die Gelegenheit zu geben, die bestehenden Wahlmöglichkeiten zu nützen, d. h. herauszufinden, mit welchem der wenigen in Frage kommenden Partner man am besten >harmoniertedicke Ende< folgte, kam es für die Mädchen zu einem bösen Erwachen: Schimpf und Schande in der Familie und im Dorf, Diskriminierung in der Kirche, Strafe beim Oberamt und wirtschaftliche Not allenthalben waren die unausweichlichen Folgen. Die finanziellen Schwierigkeiten begannen gleich bei der Geburt des Kindes: Wer bezahlte die Hebamme, wer die sonstigen Kindbettkosten? Wenn der Liebhaber zu seiner Tat stand, hatte er weitgehend dafür aufzukommen: 12 £1. mußte Philipp Roth 1848 für die Geburtskosten seiner unehelichen Tochter zahlen - ein angemessener Preis, aber viel für einen armen Taglöhner. 20 War der Schwängerer nicht auszumachen oder wollte das Mädchen seinen Namen nicht preisgeben, so hatte sie bzw. ihre Familie diese Kosten selbst zu tragen. Den Unterschichtmädchen blieb in solchen Fällen nur der Weg ins Tübinger Clinicum, wo sie kostenlos von ihrer Last befreit wurden. Die eigentlichen finanziellen Schwierigkeiten fingen aber erst nach der Entbindung an, vor allem dann, wenn sich der Vater seinen Pflichten zu entziehen versuchte. Da es nun um größere Summen ging, lohnte es sich, notfalls zu prozessieren. Leicht war das nicht, weil im Zweifelsfall - wie bei folgender Vaterschaftsklage - Aussage gegen Aussage stand: »Privatgenugthuung wegen unehelicher Schwängerung p. p., fur jetzt die Zulässigkeit einer Zeugin betreffend . . . Z u m Behuf des Beweises des Grunds der Klage, welchen der Beklagte in Widerspruch zieht, trat die Klägerin frey willig Zeugenbeweiß an, und übergab zu diesem Endzweck Beweis-Artikel, von welchen ein Theil über die Aechtheit einer von dem Beklagten zur Zeit der Mitternacht ausgestellten Urkunde in welcher er der Klägerin für das erste von ihr gebohrene Kind 200 £1. innerhalb 2 Jahren zu bezahlen verspricht, handelt. Bey der Ausstellung dieser Urkunde war niemand zugegen als die Mutter der Klägerin, sie benannte daher auch diese als Zeugin u. bat um deren Abhörung, um neben dem durch Vergleichung der Handschriften unternommenen Beweis über die nehmliche Urkunde, noch weitere Glaubwürdigkeiten der Aechtheit der Urkunde zu erreichen. . . .« 21
Die 200 fl., die der Mann (ein verheirateter Bauer aus Bronnweiler) der Geschwängerten angeblich versprochen hatte, waren kein erpresserischer Preis für die Geheimhaltung seines Namens, sondern eher der ortsübliche Richtsatz fur Alimente. Sieben Jahre lang hatte ein Mann für ein außerehelich geborenes Kind zu bezahlen. In den 70erjahren waren das 40 fl. pro Jahr oder 250 fl auf die Hand. Davon mußte das Kind und zum Teil auch die Mutter leben. Der Trick mit der »zur Zeit der Mitternacht ausgestellten Urkunde« zog jedoch in diesem Fall genauso wenig wie der Versuch, die ins Vertrauen gezogene Mutter als Zeugin aufstellen zu lassen. Sie wurde - dem Gesetz gemäß - in diesem Fall fur befangen erklärt. Zwar ist das endgültige Urteil nicht erhalten, aber da das Gericht in dubio pro reo zu entscheiden 162
hatte, wird der Liebhaber frei ausgegangen sein und das Mädchen mit leeren Händen dagestanden haben. Wenn der Vater nicht auszumachen oder gar nach Amerika entflohen war, dann gerieten die jungen Frauen in eine besonders schwierige Lage. Anna Langfeldt zum Beispiel, deren Eltern früh gestorben waren und deren Erbe verpachtet wurde, konnte, als sie von einem unbekannten Vater ein uneheliches Kind bekam, von dieser Pacht nicht leben, obwohl sie als Tochter aus der oberen Mittelschicht nicht wenig geerbt hatte. Sie mußte deshalb beim Waisengericht beantragen, daß sie ihre Äcker selbst bewirtschaften durfte, u m wenigstens ausreichend Nahrungsmittel zu haben: »Ohmenhausen den 15. Merz 1857. Anna Tochter des weiland J a k o b Langfeldt Bürger und Bauer dahier erscheint heute bei ihrem unterzeichneten Pfleger und bringt vor da sie jezt ein uneheliches Kind habe so wiße sie sich und ihr Kind nicht anders zu ernähren als wenn sie ihre im besitz habende Güterstük selbst anblümen und einheimsen dürfe. Der Pfleger hat hiegegen nichts einzuwenden zumal da der Verdienst einer Weibsperson nicht hinreichen würde zwei Persohnen zu ernähren. « 2 2
Ledige Mütter aus der Unterschicht hatten keine derartigen Ressourcen, auf die sie notfalls, wenn die Alimente ausfielen, zurückgreifen konnten. Ihre Kinder kamen in ein Waisenhaus oder wurden u m die Kost bei Bauern verdingt, sobald sie arbeitsfähig waren, eben weil der Taglohn einer Frau allein nicht ausreichte, u m »zwei Personen zu ernähren«. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß uneheliche Kinder - wenigstens in den Unterschichten - wesentlich geringere Überlebenschancen hatten als ehelich geborene. Die Unterernährung aus Armut machte sie >von Natur aus< anfälliger gegen Krankheiten (vgl. Tab. XI). Nicht mehr an >natürliche< Ursachen glauben kann man allerdings bei der erstaunlichen Diskrepanz der Sterblichkeitsraten ehelicher und unehelicher Kinder in den beiden oberen Schichten, wo prozentual und teilweise sogar absolut die Sterblichkeit der unehelichen Kinder wesentlich über derjenigen in den Unterschichten lag. Wenn also in Ohmenhausen Kindsmord als »postnatale Geburtenkontrolle* betrieben wurde, dann war dies im 19. Jahrhundert vor allem ein Oberschichtphänomen. Der Verlust der Ehre wie der Aussicht auf eine materiell gesicherte Zukunft scheint die begüterten Töchter in größere Bedrängnis gebracht und mehr Haß gegen den unerwünschten Nachwuchs in ihnen hervorgerufen zu haben als die Armut und N o t bei den Mädchen der Unterschichten. Bei ihnen waren uneheliche Kinder ohnehin beinahe die Regel, die familiäre Moral weniger streng. Ein Verlust der Ehre traf diejenigen nicht so hart, denen ein sozialer Aufstieg sowieso verwehrt war. 2 3 Der kirchliche Druck auf die »Bescholtenen« war in Ohmenhausen etwas geringer als in anderen Orten, w o zum Beispiel »gefallene Weibspersonen . . . bei der Teilnahme am h. Abendmahl sich nicht unter die ehrbaren Frauen noch unter die unbescholtenen ledigen Töchter mischen«
163
Tab. XI: Kleinkindersterblichkeit ehelicher und unehelicher bzw. vorehelich gezeugter Kinder in Ohmenhausen, 1805-1872 ehel. ge- davon totgeboren od. vorehel. ge- davon totgeboren zeugte u. im 1. Leb .jähr gest. zeugte u. ge- od. im 1. Leb .jähr geborene borene Kingest. der Kinder
Jahr
1805 -23
1824 -44
1845 -64
1865 -72
abs.
abs.
%
OS OMS UMS US
119 155 148 126
26 35 43 35
zus.
548
OS OMS UMS US
abs.
abs.
%
21,8 22,6 29,1 27,8
1 8 19 37
1 3 9 13
100,0 37,5 47,4 35,1
139
25,4
66
26
39,4
75 194 219 148
17 50 68 29
22,7 25,8 31,1 19,6
16 28 24 49
7 15 7 20
43,8 53,6 29,2 40,9
zus.
636
164
25,8
117
49
41,9
OS OMS UMS US
87 103 195 128
18 30 50 43
20,7 29,1 25,6 33,6
7 10 46 50
4 4 16 16
57,1 40,0 34,8 32,0
zus.
513
141
27,5
113
40
35,7
OS OMS UMS US
49 26 119 79
16 6 30 21
32,7 23,1 25,2 26,7
5 6 9 25
3 4 1 8
60,0 66,1 11,1 32,0
zus.
273
73
26,7
45
16
37,2
Quellen: E v K G O h , Tauf-, Sterbe- u. Familienregister
durften. »Wenn ein uneheliches Kind getauft wird, so schweigt beim Eintritt des Taufzuges in der Kirche das Orgelspiel und es herrscht völlige Stille, zu Zeichen der Trauer der Kirche über die Versündigung wider das göttl. Gebot. «24 Dergleichen Sitten waren in Ohmenhausen nicht bekannt. Stark dagegen war hier der Druck aus der Gemeinde: von den Familien, dem Dorfklatsch und selbst den Gespielen. »In Beziehung auf die Zulassung zu den Sakramenten findet nirgends [im Dekanat Reutlingen] etwas besonders statt. Dagegen bietet die Behandlung der Bescholtenen in mehreren Orten des Bezirks Eigenthümlichkeiten dar. In Betzingen, Wannweil und Ohmenhausen, wo noch eine besondere, von anderen Orten abweichende Tracht der ledigen Mädchen besteht, dürfen nach einer alten Sitte solche, die uneheli-
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che geboren haben, sich dieser Tracht nicht mehr bedienen und müssen sich in die Tracht der verheuratheten Weiber kleiden. « 2 S
Der Ausschluß aus der Gruppe der Ledigen wurde (so war es wenigstens nach dieser Umfrage aus dem Jahr 1853 in vielen anderen Orten) von diesen selbst betrieben. Die Ausgrenzung der »gefallenen Weibspersonen« war eine Form der Stabilisierung der standhaft Gebliebenen, die ihnen die lange Sublimation erleichterte. Denn hätte die Hingabe ans >Lustprinzip< keine sozialen Folgen nach sich gezogen, dann wäre das >Realitätsprinzip< in Kürze hoffnungslos unterlegen gewesen. An dieser Befestigung des >Realitätsprinzips< bauten allerdings die Erwachsenen angestrengt mit. Noch am Anfang dieses Jahrhunderts drohten manche Eltern mit Familienausschluß oder anderen schlimmen Konsequenzen, um die Töchter auf dem Pfad der Tugend zu halten. Zwei alte Männer erinnerten sich an die Drohungen ihrer Eltern: »Wehe, wenn du heimkommst und ich höre, daß dein Mädle eins kriegt, hat mein Alter gesagt. Dann darfst du nicht mehr heim. « »Ha, die haben einem doch den Teufel an die Wand gemalt und noch viel Zeugs dazu.«
Aufklärung erhielten die Kinder und Jugendlichen keine. Der Farrenstall (in dem die Zuchtstiere des Dorfes gehalten wurden) war fur sie tabu, das Gesundheitsbuch wurde vor ihnen weggeschlossen. (»Wenn ich da zur Tür hereingekommen bin, hat die Mutter das [Gesundheitsbuch] zugemacht und in den Kasten hinein. «) Selbst die fur jeden sichtbaren Spuren der Menstruation der Frauen (»Die haben doch gar keine [Unter-]Hosen angehabt«) wurden den fragenden Kindern nicht erklärt. »Im K o n s u m ist einmal ein Weib vor mir gestanden und w o sie weg war, und ich daran gekommen bin, da ist ein Blutfleck auf dem Boden gewesen. Als ich daheim gewesen bin, hab ich's meiner Mutter gesagt. Da hat sie gesagt: Vielleicht hast du's nur gemeint. Vielleicht hat sie ein Stück Fleisch in ihrer Tasche gehabt oder Nasenbluten. «
Das Wissen um die eigene Biologie war bei den Jugendlichen gering, die Wahrscheinlichkeit, daß ein >Fehltritt< mit einem Kind endete, deshalb groß. Gute Aufsicht über die Mädchen und Druck auf die ledigen Mütter scheint von den Eltern immer noch als wirkungsvollstes Verhütungsmittel angesehen worden zu sein. Selbst Schauergeschichten aus der Vergangenheit mußten dazu herhalten, in den Mädchen die Angst vor der Schande zu befestigen: »Meine Mutter hat erzählt, solche ledigen Mütter hätten mit dem Leiterwagen durchs D o r f fahren müssen und jeder durfte einen Stein hinaufwerfen. «
Für diese Sitte ließ sich kein Beleg finden, sie mag eher die Erfindung einer besorgten Mutter als vergangene Wirklichkeit gewesen sein. Es gab genügend andere Möglichkeiten, den Spott über die »Geschwächten« auszu165
schütten und ihren Gang durchs Dorf (auch noch in diesem Jahrhundert) zum Spießrutenlauf werden zu lassen: » D a haben sie doch aufeinander mit Fingern gedeutet. Die kriegt eins! Ledig! So eine Rotznase! Ledig! Das ist früher eine Schand' gewesen!« » D a haben die Frauen früher gesungen, das weiß ich noch von der . . ., wie istdas noch gegangen: Mädle, man sieht's am Schurz, hinten ist er lang und vorne ist er kurz!«
So endete fur viele Mädchen die Jugend vorzeitig, ungewollt, traumatisch, und nur die Starken, die allen Verlockungen der Jugend siegreich widerstanden hatten, konnten im Rückblick ganz sicher sagen: »Früher hat man doch keine Pille gehabt und es ist auch menschlich gewesen, oder nicht?«
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V. Zusammenfassende Interpretation
Die bisherige Darstellung des Ohmenhäuser Jugendlebens folgte den w i c h tigsten Stationen u n d Erfahrungsbereichen im Lebenslauf von der Konfirmation bis zur Hochzeit und versuchte, innerhalb dieser einzelnen Abschnitte die historischen Entwicklungslinien aufzuzeigen. Im folgenden werden die Ergebnisse dieses Kapitels unter systematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt und interpretiert. In einem ersten Abschnitt werden die in der Einleitung aufgeführten Fragestellungen Rosenmayrs noch einmal aufgegriffen. Dessen f ü n f »Dimensionen des soziologischen Jugendbegriffs« als Leitlinie folgend, soll danach gefragt werden, w o gravierende Veränderungen oder U m b r ü c h e während des 19. Jahrhunderts im O h m e n h ä u s e r J u gendleben stattgefunden haben. 1 Z u m zweiten wird versucht werden, die lebensgeschichtliche Bedeutung der beschriebenen Formen des Erwachsenwerdens zu erschließen. Theoretische Modelle z u m Verlauf und zur biographischen Funktion der Adoleszenz sollen am O h m e n h ä u s e r Material erprobt und geprüft werden.
1. Jugend in O h m e n h a u s e n . Zusammenfassungen aus soziologischer Sicht Die erste der von Allerbeck und Rosenmayr formulierten Dimensionen des Jugendbegriffs, Jugend als »Phase im individuellen Lebenslauf«, impliziert eine doppelte Fragestellung: z u m einen die entwicklungspsychologische Frage nach der lebensgeschichtlichen Bedeutung der jeweils individuellen J u g e n d zeit; z u m anderen die soziologische Frage nach den gesellschaftlich determinierten Verlaufsmustern der einzelnen Biographie. Hier soll zunächst der zweite, soziologische Aspekt dieser Fragestellung aufgegriffen werden. Es sind dafür vor allem die Ergebnisse der verschiedenen statistisch-demographischen Erhebungen von Bedeutung. Konfirmation und Hochzeit markierten während des gesamten U n t e r s u chungszeitraums den Beginn u n d das Ende der Jugend. Mit diesen beiden im lokalen B r a u c h t u m verankerten Grenzen jener Altersphase war jedoch kein >Zeitplan< für den individuellen Lebenslauf vorgegeben. A n f a n g und Ende der Jugend konnten nahe beieinander liegen, sie konnten aber auch weit voneinander entfernt sein. Das Alter bei der Konfirmation stand zwar — v o n Ausnahmen abgesehen - fest; außerordentlich variabel war aber das Heirats167
alter. Die ökonomischen Schwierigkeiten während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen es in Ohmenhausen kontinuierlich ansteigen und machten somit die Jugend zu einer Lebensspanne, die im Durchschnitt bis zu fünfzehn Jahre für die jungen Männer und bis zu dreizehn Jahre für die jungen Frauen dauern konnte. Erst das Einkommen aus Fabrikarbeit seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ermöglichte den Jugendlichen frühere Eheschließungen. Die Dauer der Jugend senkte sich dadurch um etwa drei Jahre für beide Geschlechter. 2 Dieser Trend war in sich jedoch keineswegs einheitlich. Durch eine Spezifikation des durchschnittlichen Heiratsalters nach Schichten wurde versucht, die großen Unterschiede, die bereits bei der zeitlichen Ausdehnung der individuellen Jugendphasen innerhalb einer Geburtskohorte bestehen konnten, zu verdeutlichen. Jedoch nahm auch diese breite soziale Streuung in der jeweiligen Dauer des Jugendalters unter dem Einfluß der Industrialisierung ab. Besonders stark glichen sich die ursprünglich sehr breit gestreuten sozialen Heiratsalter der jungen Frauen aneinander an. Die Phase der Jugend wurde somit in Ohmenhausen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kürzer und in ihrem sozialen >timing< homogener. 3 Aber nicht nur die schichtspezifischen Zeitpläne wurden einheitlicher, sondern auch die damit verbundenen Lebensformen. Brachte im vorindustriellen Ohmenhausen die Schichtherkunft für die einzelnen Jugendlichen ganz unterschiedliche Erfahrungen mit sich, so wurden diese durch die Ausbreitung der Fabrikarbeit weitgehend nivelliert: Vor 1860 wurde der eine ein Bauer und blieb zeit seines Lebens daheim; der andere fand eine Lehrstelle im Ort oder auswärts und verließ dabei schon früh das Elternhaus, wurde schließlich Geselle und kam während der Zeit der Wanderschaft >in die Welt< hinaus; manche mußten zum Militär, viele wanderten aus. Durch die leichten Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in den nahen Fabriken sank seit den 1860er Jahren die regionale Mobilität und erhöhte sich die Zeit der Koresidenz mit den Eltern. Dadurch entfiel der für die vorindustrielle Jugend charakteristische, stufenweise Übergang zu einer selbständigen Lebensführung. Wer mit den Eltern lebte, schuldete ihnen in der traditionellen Gesellschaft unbedingten Gehorsam. Diese Regel änderte sich in Ohmenhausen langsamer als die übrige Lebenswelt und galt bis in dieses Jahrhundert hinein. War in vorindustrieller Zeit das Jugendalter sozial- und geschlechtsspezifisch uneinheitlich in ganz verschiedene Stadien der Abhängigkeit von den Eltern gegliedert, so nahm diese Flexibilität des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenalter im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stark ab. Für die Fabrikjugend bildeten allenfalls die nun allgemeine Erfahrung der Militärzeit oder einige altersgebundene Lohnerhöhungen Zäsuren innerhalb der Jugend. Beides änderte jedoch am prinzipiellen Abhängigkeitsverhältnis von den Eltern nichts. Die schichtspezifisch unterschiedliche Terminierung bestimmter Übergänge ins Erwachsenenalter hatte jedoch in vorindustrieller Zeit nicht zur 168
Folge, daß die Jugendlichen in Ohmenhausen keine >soziale Einheit< gebildet hätten. Bedingt durch die geringe Komplexität der dörflichen Sozialstruktur, die Homogenität von Sozialisationsbereichen wie Familie und Schule und vor allem durch die starken Traditionen im Jugendbrauchtum bestanden schon immer eine Fülle gemeinsamer Erfahrungen und Ähnlichkeiten im Handeln, in den Ansichten und im täglichen Ablauf des Lebens der Einzelnen. Dies schien auch in den vorausgegangenen Kapiteln gewisse Verallgemeinerungen zu rechtfertigen und erlaubte die Behandlung >der< Ohmenhäuser Jugend als »soziale Teilmenge« (Allerbeck/Rosenmayr) der dörflichen Gesellschaft. 4 Liest man die Ausführungen zum Ohmenhäuser Jugendleben aus dieser gruppensoziologischen Perspektive, so wird man folgende Merkmale besonders hervorheben können: Die Kameradschaften, die organisatorischen Grundeinheiten der Ohmenhäuser Jugend, waren eine Fortsetzung der Schulklassen. Im Gegensatz zu den meisten modernen Jugendgruppen handelte es sich bei ihnen nicht um weltanschaulich begründete Zusammenschlüsse, sondern um lokal streng begrenzte, nur nach dem Alter gegliederte >peer-groupspeer-groups< war weitgehend autonom, d. h. von den Erwachsenen nicht beeinflußt, jedoch stark von der unter den Jugendlichen selbst herrschenden Altershierarchie determiniert. Innerhalb der einzelnen Kameradschaften mag es Führer und eine gewisse soziale Rangordnung gegeben haben, zwischen den Gruppen begründete allein das Alter die jeweils überlegene Autorität. Trotz ihrer Autonomie waren die Kameradschaften eine von der Mehrzahl der Erwachsenen anerkannte, im lokalen Brauchtum verankerte Institution^ In der Teilnahme daran kam deshalb keine besondere Opposition der Jugendlichen gegen das Elternhaus zum Ausdruck. Andererseits war durch die starke Position der Kameradschaften im Freizeitbrauchtum der Jugend den Eltern jede Gelegenheit genommen, ihrerseits auf die >PeerWahl< ihrer Kinder kontrollierend einzuwirken. Allerdings war dies im Dorf auch kaum notwendig; denn der von den Eltern dabei insgeheim beabsichtigte Effekt, daß über eine »starke Ähnlichkeit sozialschichtmäßiger Herkunft« jugendlicher Freundschaftsgruppen »auf Umwegen« der kulturelle Gehalt des elterlichen Milieus wieder auf die Jugendlichen« eindringt, s war bei den Ohmenhäuser Kameradschaften durch die strikte lokale Begrenzung ihres Gültigkeitsbereichs und die relativ hohe Homogenität des dörflichen Lebens ohnehin gewährleistet. 6 Dies wurde besonders deutlich im Bereich der Partnerwahl, wo gerade die von den Kameradschaften hergestellte Ö f fentlichkeit bei der Freundschaftsanbahnung die Gefahr der Abweichung von der elterlichen Norm verringerte. Diese affirmative »kulturelle Vermittlungsfunktion« (Rosenmayr) der Kameradschaften zeigte sich auch 169
noch in anderen Bereichen: Starke Identifizierung mit dem D o r f und seinen Belangen wurde durch den ausgeprägten Territorialismus der Jugendgruppen hervorgerufen; die Bindung an geltende N o r m e n wurde durch die Beteiligung der Kameradschaften an Polizeiaktionen gefördert; durch die unterschiedliche Gestaltung der Freizeit von männlicher und weiblicher Jugend wurde ein bestimmtes Rollenverhalten unterstützt. Seit der Zeit der Industrialisierung hatten die Kameradschaften die zusätzliche Stabilisierungsfunktion, daß sie die Jugendlichen während ihrer Freizeit im D o r f hielten und so eine der steigenden Arbeitsmigration proportionale Z u n a h m e der Heiratsmobilität verhinderten. Betrachtet man Jugend nicht im lokalen, sondern im gesamtgesellschaftlichen Kontext, so kann sie nicht ohne weiteres als »soziale Teilmenge« beschrieben werden. In der traditionellen Gesellschaft war die Einbindung der Jugendlichen in lokale Gruppen sehr viel stärker als alle überregionalen jugendspezifischen Gemeinsamkeiten. Für die ländliche Jugend traf diese Dominanz des lokalen Bezugs selbst in Arbeiterdörfern wie Ohmenhausen mindestens bis zum Ersten Weltkrieg zu. N o c h den alten Frauen und M ä n nern, die von uns in Ohmenhausen befragt wurden, stand ein Ohmenhäuser Greis näher als ein Betzinger, Reutlinger oder gar Stuttgarter Jugendlicher. Jungsein allein begründete keinen automatischen überregionalen Z u s a m menhang, geschweige denn ein Zusammengehörigkeitsgefühl. 7 Dieser Partikularismus der Jugend hing nicht zuletzt damit zusammen, daß ¡Jugendlichkeit in der dörflichen Welt auch noch nach der Jahrhundertwende kein » Wertbegriff« (Allerbeck/Rosenmayr) sein konnte - weder aus der Sicht der Erwachsenen noch aus der der Jugendlichen selbst. Innovationsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit, die in der modernen Leistungsgesellschaft besonders hervorgehobenen >Tugenden< der Jugend, waren im kleinbäuerlichen Milieu Ohmenhausens im 19. Jahrhundert weder spezielle Eigenschaften der jungen Generationen, noch wären sie besonders gefragt gewesen. J u gend war eine vor allem durch Ledigsein, ökonomische und soziale Abhängigkeit definierte Altersklasse, aus der alle so schnell wie möglich zu entk o m m e n suchten. Trotz großer Freiheiten außerhalb der Arbeitszeit wurde der »unvollkommene Status« (Allerbeck/Rosenmayr) von den Jugendlichen als drückend empfunden, war die Erlangung der vollen Erwachsenenrechte ihr wichtigstes Ziel. Das ist verständlich; denn die saisonale >Narrenfreiheit< während der Winterabende konnte den Z w a n g zur Subordination während der übrigen Zeit kaum aufwiegen. Dieser »unvollkommene Status« der Ohmenhäuser Jugend soll im folgenden näher betrachtet werden. Es wurde bereits ausgeführt, daß die Dauer der Jugend und die Formen der Abhängigkeit der Jugendlichen von den Eltern schichtspezifisch stark variierten, daß diese unterschiedlichen Lebensbedingungen der Jugend jedoch während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Industrialisierung wesentlich an H o m o g e n i tät gewannen. Mit derartigen Feststellungen läßt sich jedoch die Frage, ob
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bzw. inwiefern sich die soziale Stellung der Jugend als Altersgruppe, d. h. ihre Position »innerhalb des gesamten Netzwerkes der sozialen Altersschichtung« 8 im Dorf während des 19. Jahrhunderts gewandelt hat, nicht hinreichend beantworten. Versucht man aus dieser Perspektive ein Fazit zu ziehen, so fallt es zum einen schwer, geeignete Kriterien dafür zu finden; zum anderen erscheinen die Entwicklungstendenzen hier als außerordentlich ambivalent und kaum auf einen Nenner zu bringen: Gesetzliche Erweiterungen der Rechte des Jugendlichen, die häufig als Statusindikatoren herangezogen werden, können aus der Perspektive des Ohmenhäuser Jugendlebens kaum als ein geeigneter Maßstab für den Wandel der gesellschaftlichen Stellung der Jugend angesehen werden. Der Liberalisierung der Ehegesetze zum Beispiel folgte in Ohmenhausen zumindest in den besitzenden Schichten bis zur Jahrhundertwende keine wesentliche Lockerung der an der Besitzerhaltung orientierten Heiratspraxis. Ebensowenig wie die Erweiterung der Selbstbestimmungsrechte der Jugendlichen bei der Verehelichung machte sich in Ohmenhausen ihre zunehmende >Beschützung< durch den Gesetzgeber positiv bemerkbar. Verkürzte Arbeitszeit in Betzingen bedeutete für die jungen Leute einerseits vermehrte Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft, andererseits weniger Lohn und damit aber auch sinkende Bedeutung für die Familienökonomie. Auf keinen Fall jedoch scheinen durch derartige Maßnahmen die Einsicht in die Eigenart und die Bedürfnisse der Jugendlichen erhöht worden zu sein. 9 Nimmt man demographische Phänomene, zum Beispiel das Sinken oder Ansteigen des durchschnittlichen Heiratsalters oder die Quote der Verehelichten in der Gruppe der fünfzehn- bis vierundzwanzigj ährigen, als Statusindikatoren, wie dies F. Musgrove für die Bestimmung der gesellschaftlichen Position der Jugend in England versucht hat 10 , so kommt man in Ohmenhausen zu eindeutigen Trendperioden nur beim durchschnittlichen Heiratsalter. Dieses stieg für Frauen wie für Männer bis in die 1860er Jahre (mit schichtspezifischen Variationen) kontinuierlich an und fiel anschließend eben so kontinuierlich wieder ab. 1 1 Allerdings sagt das in Ohmenhausen mehr über die allgemeinen wirtschaftlichen Nöte, als über Statusveränderungen der Jugend aus. Denn die Eheschließung war im bäuerlichen Milieu ein zu sensitiver Bereich, als daß sie zum Hauptkriterium für Statusveränderungen gemacht werden dürfte, ohne Faktoren wie zum Beispiel die Kameradschaften und die brauchmäßig zugestandenen Jugendfreiheiten mit zu berücksichtigen. Daß hier während des ganzen 19. Jahrhunderts keine Einschränkungen von den Erwachsenen gemacht werden konnten, ist für den Status der Jugend genauso bezeichnend wie die Konstanz weitgehender Fremdbestimmung bei der Partnerwahl und die Unveränderbarkeit der Definition der Altersrollen. Jugend in Ohmenhausen war gekennzeichnet durch ein bisweilen prekäres, insgesamt aber durch das Jugendbrauchtum weitgehend gesichertes Gleichgewicht von Fremd- und Selbstbestimmung, Freiheit und Unterdrückung. Diese Bereiche standen einander unvermittelt 171
gegenüber. Für die Jugendlichen, die als Bauern, Handwerker oder Fabrikarbeiter immer im D o r f blieben, gab es weder allmähliche Übergänge während der individuellen Jugendzeit noch gravierende Veränderungen im Zuge der sozio-ökonomischen Strukturveränderungen der Gemeinde i m 19. Jahrhundert. Die erste wichtige Zäsur bildete auch in der Frage des sozialen Status der Jugend der Erste Weltkrieg. Auf keine der wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen vor dem Ersten Weltkrieg reagierte die Ohmenhäuser Jugend auf eine besondere und aktive Weise. Es gab keine politischen Protestbewegungen, an denen sich die Ohmenhäuser Jugend nachweislich beteiligt hätte, kein besonderes gewerkschaftliches Engagement, nicht einmal Aufruhr gegen die Eltern. Wenn man mit Rosenmayr diejenigen Kohorten als Generationen definiert, die »auch gemeinsame, historisch bedeutsame Aktivitäten erzeugt« 1 2 haben, dann kann man nur feststellen, daß es Jugendgenerationen in diesem Sinn in Ohmenhausen während des 19. Jahrhunderts nicht gegeben hat. Einzelne mögen auch 1848 engagierte Demokraten gewesen sein; eine revolutionäre Bewegung, die einen Großteil der Jugend ergriffen hätte, kam in O h m e n hausen nicht zustande. Einzelne mögen auch schon früh aktive Gewerkschaftsmitglieder, Sozialdemokraten oder Kommunisten gewesen sein; ihre >Heimat< sah die Ohmenhäuser Jugend trotz ihrer Fabrikarbeit in diesen politischen Organisationen nie. Sie verband noch u m die Jahrhundertwende ausschließlich die örtliche Jahrgangsorganisation. Erst in den Jahren vor dem Weltkrieg, als auch in Ohmenhausen die Jugend von der allgemeinen >Vaterlandsbegeisterung< ergriffen wurde, fand sie Anschluß an überlokale Bewegungen und konnte sich zum ersten Mal als Teil einer Generation, als Teil des »jungen Deutschland« fühlen. Dies war der Beginn des großen Umbruchs, der mit der vollständigen Auflösung des traditionellen Jugendbrauchtums nach dem Krieg endete.
2. »Jugend und Krise« : Überlegungen zur historischen Sozialisationsforschung »Die zentrale psychologische Frage der Jugend« ist aus der Sicht moderner Psychoanalyse »die Bildung der Ich-Identität«, 1 also jener Entwicklungsvorgang, durch den der heranwachsende Mensch die kindlichen Formen der bloßen Identifizierung mit Vater, Mutter, anderen nahestehenden Personen und ihren sozialen Funktionen produktiv (d. h. auf diese alten Identifizierungen aufbauend) überwindet »und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt«. 2 Dieser Prozeß des Erwachsenwerdens verläuft heutzutage beim Großteil der westlichen Jugend mehr oder minder krisenhaft, selten ganz unproblematisch. Die Krisen der Adoleszenzphase sind jedoch keine anthropologische K o n 172
stante in dem Sinne, daß sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen als solche in Erscheinung treten oder gar die gleichen Verlaufsformen annehmen müßten. 3 Dies bedeutet, daß Form und Inhalt der für die Jugend einer Gesellschaft typischen Krisen des Adoleszenzalters ganz zentralen Aufschluß geben können über die wichtigsten und problematischsten Sozialisationsanforderungen jener Gesellschaft, ihr Bild von Erwachsensein usw. Der Jugendforschung bietet sich damit in der Beobachtung und Interpretation der Verlaufsformen von Adoleszenz(krisen) eine gute Möglichkeit, historische Sozialisationsforschung i. e. S. mit einer historischen Sozialpsychologie zu verbinden. 4 Im folgenden wird das Ohmenhäuser Material nochmals aus dieser Perspektive betrachtet werden. Für die Einteilung bestimmter Verlaufsformen von Adoleszenz(krisen) und die Analyse ihrer lebensgeschichtlichen Funktion wird dabei Eriksons »psychosoziale Entwicklungstheorie« als heuristisches Modell herangezogen werden. Dem Psychoanalytiker liefern die Stadien und Krisen der frühkindlichen Entwicklung die Kategorien zu einer allgemeinen Einteilung adoleszenter Verhaltensweisen und gleichzeitig den Schlüssel zu ihrer Interpretation. Der historischen Sozialisationsforschung, der die Verbindung von frühkindlicher Erfahrung und Jugendkrise im Einzelfall kaum zugänglich ist, bieten diese Kategorien zum einen einen Leitfaden zum Aufspüren typisch adoleszentaler Verhaltensweisen und die Möglichkeit, Einzelbeobachtungen in einen kohärenteren Zusammenhang zu stellen (wobei es dabei allerdings nicht auf deren tiefenpsychologische Herleitung, sondern auf die Frage nach den Gründen ihrer konkreten, zeit- und milieuspezifischen Ausformung ankommt). Z u m anderen läßt sich die Eigenart vergangenen Jugendlebens aus der kontrastiven Perspektive moderner klinischer und sozialpsychologischer Beobachtungen sehr viel schärfer herausarbeiten, als dies einem immanenten Interpretationsversuch möglich wäre. Und schließlich fällt umgekehrt aus sozialisationshistorischer Sicht auf einige Theoreme der modernen Entwicklungspsychologie ein relativierendes Licht. 5 Erikson vereint bei seinem Versuch, die Verzahnung von Ich-Entwicklung und Umwelt genauer zu fassen, Freuds Theorie der infantilen Sexualität mit detaillierten Erkenntnissen über physisches, psychisches und soziales Wachstum des Kindes in einer »epigenetischen Entwicklungstheorie«. Jedes der kindlichen Entwicklungsstadien ist danach durch eine »eigene spezielle Verletzlichkeit«, 6 d. h. durch die Dominanz eines besonderen psychosozialen Konfliktes gekennzeichnet, dessen produktive Lösung unerläßlich für das Wachstum der gesunden oder »vitalen« Persönlichkeit ist, indem dadurch (nach dem Prinzip der Epigenese) die produktive oder regressive Konfliktlösung der nachfolgenden Entwicklungsstadien mit determiniert wird. In fast allen der fünf Phasen, in die Erikson die kindliche Entwicklung einteilt (Säuglings-, Kleinkind-, Spiel- und Schulalter und Adoleszenz) spielen die psychosozialen Konfliktpunkte der jeweils vorausgegangenen oder nachfolgenden Stadien ebenfalls eine Rolle; sie spitzen sich jedoch normaler173
weise nicht zur Krise zu. 7 In der Pubertät allerdings »werden alle Identifizierungen und alle Sicherungen, auf die man sich früher verlassen konnte, erneut in Frage gestellt.« 8 In der Pubertät besteht somit die Gefahr, daß sämtliche früheren Krisen noch einmal aufbrechen, daß dadurch jene meist vorübergehenden Regressionen eintreten, die häufig für das auffällige Verhaltenjugendlicher in jenem Alter verantwortlich sind. Im ersten Stadium der kindlichen Entwicklung, dem Säuglingsalter, geht es um den »Eckstein der gesunden Persönlichkeit« 9 : das Urvertrauen. Dessen Verletzung durch die Frustration v. a. oraler Bedürfnisse birgt die Gefahr eines Umschlagens in »Ur-Mißtrauen« in sich, das in späteren Lebensphasen »radikale Regressionen« zur Folge haben kann. Diesem Bedürfnis des Säuglings nach Vertrauen in andere (und in sich selbst) korrespondiert nach Erikson in der >normal< verlaufenden Pubertät die leidenschaftliche Suche des »Jugendlichen nach Menschen und Ideen, an die er glauben kann, was Menschen und Ideen bedeutet, in deren Dienst es lohnend scheint, sich selbst als vertrauenswürdig zu erweisen.« 1 0 Hervorgerufen wird diese erneute Aktualität der >Vertrauensfrage< und damit auch jene so auffällige Bereitschaft der Jugendlichen, sich an Gruppen, Führer und Ideologien anzuschließen, durch die in der Pubertät aufbrechende Ungewißheit des Jugendlichen, ob »zwischen dem, was er während der langen Jahre der Kindheit gewesen ist, und dem, was er in der antizipierten Zukunft zu werden verspricht« 1 1 eine Kontinuität besteht. Diese Ungewißheit resultiert aus den raschen physischen Veränderungen des Jugendlichen einerseits und aus der Unsicherheit seiner sozialen Rolle andererseits. 12 Wo junge Menschen (ζ. B. weil sie von einem Elternteil dazu >auserwählt< wurden, durch ihre berufliche Zukunft besondere Opfer, die die Eltern für die Erziehung des Kindes erbracht hatten, zu rechtfertigen) das Gefühl haben, in Bahnen gedrängt zu werden, die nicht die ihren sind, kann es sein, daß sie sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen, »wie man es sonst nur von Tieren kennt, die plötzlich um ihr Leben kämpfen müssen. « 1 3 Aus dem Bedürfnis nach Hingabe und Vertrauen und der Notwendigkeit, drohende Identitätsdiffusion durch die Antizipation einer klar umrissenen Zukunft abzuwehren, erklärt sich nach Erikson der starke Hang Jugendlicher, sich an ideologische Systeme bzw. die sie vertretenden Gruppen und Führer anzuschließen. »Jugend steht im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie muß zwischen verschiedenen Lebensformen wählen. . . . eine Ideologie [bietet] den Angehörigen dieser Altersgruppen stark vereinfachte, aber präzise Antworten für ihre unklare innere Verfassung und die drängenden Fragen, die sich aus dem Identitätskonflikt ergeben. « 1 4
Viele Jugendliche sind bereit, für die Verwirklichung solch antizipierter Zukunft, die die Möglichkeit künftiger Selbstbestimmung und "Verwirklichung verspricht und so gegenwärtige Desorientierung überwinden hilft, 174
mit »fanatischem Einsatz« zu kämpfen. Das sagt nichts über die inhaltlichen Qualitäten dieser »Ideologien«; sie können je nach sozioökonomischem Hintergrund und besonderer Konfliktlage der Jugend konservativ oder revolutionär, humanistisch oder totalitär sein. Sie erfüllen jedoch eine für die Ich-Integration der Jugendlichen in dieser Phase notwendige Funktion und sind gleichzeitig wesentliches Agens sozialen Wandels im Wechsel der Generationen. »Wir sagten, daß jede Generation, um in die Geschichte einzutreten, eine Identität finden muß, die in Einklang mit ihrer eigenen Kindheit steht und in Einklang mit einem ideologischen Versprechen in dem wahrnehmbaren historischen Prozeß. Aber in der Jugend beginnen die Gesetzestafeln der Kindheitsabhängigkeit sich langsam zu wenden: es ist nicht länger nur Sache der Alten, den Jungen den Sinn des Lebens zu erläutern. Es sind die Jungen, die durch ihre Reaktionen und Aktionen den Alten sagen, ob das Leben, wie es ihnen dargestellt wird, ein vitales Versprechen bietet, und es sind die Jungen, die in sich die Macht tragen, diejenigen zu bestätigen, die sie bestätigen, die Macht zu erneuern und zu regenerieren, zu verwerfen, was verrottet ist, zu reformieren und zu rebellieren. « l s
In Ohmenhausen war von solch rebellierender, emanzipatorischer Z u kunftsorientierung der Jugend wenig zu spüren. Leidenschaftliche Hingabe an Führer und Ideologien oder »fanatischer Einsatz« für eine selbstgestaltete Zukunft - diese wohl auffälligsten Verhaltensmerkmale eines großen Teils der bürgerlichen Jugend während der letzten zweihundert Jahre spielten im Selbstfindungsprozeß der Ohmenhäuser Jugendlichen keine Rolle. Wo die berufliche Zukunft der Kinder durch Besitz und soziale Stellung der Familie weitgehend vorgezeichnet war; wo durch starke Verhaltenstraditionen die Interaktionsformen in der Familie, zwischen den Nachbarn oder zwischen arm und reich stark normiert und der öffentlichen Kontrolle unterworfen waren; wo der Großteil der Erziehung von klein auf nicht auf die Ausbildung der »selbstgemachten Identität« (Erikson) einer autonomen PersönlichkeitObrigkeiten< (Kirche, Schule, Gemeinderat) und der Dorföffentlichkeit (Nachbarschaft) überwacht; auf der Solidarität innerhalb von Verwandtschaft und Nachbarschaft beruhte das gesamte Wirtschaftssystem des Dorfes; Besitz war die Achse, um die sich in einer Armuts- und Subsistenzwirtschaft notwendigerweise alles drehte. Zum anderen gab es für die älter werdenden Kinder selten die schmerzliche Entdeckung, daß die Eltern selbst ganz anders handelten, als sie es die Kinder lehrten; denn die prinzipielle Öffentlichkeit der Familie ließ den Eltern zu derartigem >Doppelleben< keinen Spielraum. 17 Außerdem lag durch das Zusammenfallen von Familienleben und Arbeit in der Zeit vorder Fabrikindustrialisierung ihr ganzes Verhalten, ihr ganzer Tageslauf auch den Kindern immer offen. Das Wertesystem, das den Kindern vermittelt wurde, war klar bestimmt und hatte fast durchweg konkrete alltagspraktische Bedeutung - von der Forderung, daß man »Vater und Mutter ehren« solle bis zu deren eindrücklicher Warnung vor den Folgen der »Unzucht«. Die kirchliche Moral kam den materiellen Zwängen entgegen und machte einen festen Bestand an Normen selbstverständlich, einleuchtend und nicht in Frage zu stellen.18 Auch die Lockerung der Religiosität eines Teils der Bevölkerung im Zuge der Einbeziehung Ohmenhausens in die Industrialisierung änderte (wie die Interviews zeigten) wenig an der selbstverständlichen Gültigkeit dieser sozialen Normen. Und zu Konflikten um die Religiosität selbst wird es (nach unseren Recherchen und Materialerhebungen) nur vereinzelt gekommen sein; denn noch um die Jahrhundertwende hatte man mit den Jugendlichen in der Familie wenig über Anfechtungen oder Bestärkungen im christlichen Glauben gesprochen, war (im Unterschied ζ. B. zu pietistischen Gemeinden) die eigene Religiosität kein Gegenstand fortgesetzter Reflexion. So wurde in den meisten Familien in Ohmenhausen, wenn der sonntägliche Kirchgang wirklich zum Streitpunkt wurde, nicht über Inhalte gesprochen, sondern Ungehorsam bestraft. 19 Damit wurde zwar einerseits manches Bedürfnis nach geistiger Auseinandersetzung unterdrückt und manche Möglichkeit zu größerer intellektueller Selbständigkeit verspielt, andererseits wurde aber auch eine Menge inneren Drucks, der in religiösen bürgerlichen und vor allem in pietistischen Familien schwer auf den zweifelnden Jugendlichen lag, beseitigt bzw. in äußeren Druck umgewandelt, für den es andere Möglichkeiten und Formen der Verarbei176
tung gab. Er machte die gedankliche Auseinandersetzung mit der Religion, an deren Ende die autonome Annahme oder Verwerfung derselben zu stehen hätte, letztendlich überflüssig. 20 Die Funktion einer »Ideologie« im Sinne Eriksons, die das »Bedürfnis nach Hingabe« der Jugendlichen hätte stillen können, hatte die Religion in Ohmenhausen jedenfalls nicht, wie eben überhaupt eine »ideologische« Bindung der Jugend, die mit den vonErikson angeführten Beispielen verglichen werden könnte, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Ohmenhausen nicht feststellbar ist. Der Enthusiasmus zum Beispiel, mit dem ein großer Teil der deutschen akademischen Jugend 1813 in die Befreiungskriege gegen Napoleon gezogen war, mußte Ohmenhäuser Jugendlichen unverständlich gewesen sein, denn für sie hörte das Vaterland damals an der Ortsgrenze auf, bedeutete >Heimat< den elterlichen Hof, der allein Sicherheit und Zukunft garantierte. 21 Über das Dorf hinaus engagierte sich die Ohmenhäuser Jugend erst mit der beginnenden Gewerkschaftsbewegung und dem Aufkommen paramilitärischer Jugendorganisationen vor dem Ersten Weltkrieg. Die Auflösung der alten Strukturen des dörflichen Lebenszusammenhangs machte auch sie empfanglich für die »großen Ideale« der Zeit. Als die >Heimat< ihren konkreten Sinn verlor, konnte das >Vaterland< von ihnen Besitz ergreifen. Als die Emanzipation des Lebens von den Gesetzen des Bodens die Gefahr der Proletarisierung eines Teils der Bevölkerung mit sich brachte, gewannen neuartige Ideen von sozialer Gerechtigkeit, Menschenwürde und vielleicht sogar Klassenkampf für sie an Bedeutung. Daß die Jugendlichen hierbei im Sinne von Eriksons Adoleszenztheorie neue »Menschen und Ideen« suchten und fanden, an die sie glauben und denen sie sich selbst als »vertrauenswürdig« erweisen konnten, kann angenommen werden. Inwiefern dadurchjedoch produktive Lösungen normativer Krisen (die v. a. in solchen Zeiten des Umbruchs zu erwarten sind) induziert wurden, bleibt unklar. Denn mit dem »Jungdeutschland« zu marschieren oder der Gewerkschaft anzugehören, war nichts, was einen in Konflikt mit den Eltern und den von ihnen vertretenen Werten bringen mußte, war nichts, wodurch Position und Autorität der Eltern geschwächt worden wäre; denn diese Aktivitäten bezogen sich weder auf die Politik im Dorf noch auf die Strukturen der Familie. Gerade gewerkschaftliches Engagement führte in Ohmenhausen nicht zu wirklich proletarischem Selbstbewußtsein. Die dörflichen Werte und Komponenten sozialer Identität blieben weiterhin dominant. Man setzte immer noch mehr Vertrauen in das Gewohnte, identifizierte sich stärker mit Familie und Dorf als mit den Genossen - einerseits, weil das Dorf immer noch reale Lebensgrundlage war, andererseits, weil man nur hier wahrscheinlich jene »Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion« (Freud) verspürte, auf die jede kulturelle Identität gründet. 22 Heftige Adoleszenzkrisen als Strategien der Befreiung aus mentalen und gesellschaftlichen Fesseln sind in den Konfliktfeldern von Vertrauen, Selbst177
vertrauen und Zukunftsperspektive bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bei der Ohmenhäuser Jugend nicht vorgekommen. 2 3 Die Familie jedenfalls war nicht der Ort, an dem Verhaltensunsicherheit oder Lust auf Rebellion auf Verständnis gestoßen, geschweige denn zugelassen worden wäre. Dies läßt sich auch an den anderen Konfliktfeldern, die nach Eriksons epigenetischer Theorie die Adoleszenz bestimmen, deutlich zeigen: So entspricht dem im Kleinkindalter (im Zusammenhang von Entdeckung und zunehmender Beherrschung des Analbereichs) erwachten Gefühl von Autonomie bzw. dessen >KrisenpartnerMaterialorganisch< in eine Welt hinein, in der schon die Kinder und Jugendlichen die festen, sich in allen Bereichen des täglichen Lebens und vor allem in der Arbeitsteilung manifestierenden Rollen von Mann und Frau zu übernehmen hatten, die sich erst im Zuge der Industrialisierung etwas zu lockern begannen. Die Jugendlichen wurden so kaum in Tätigkeiten hineingezwungen, bei denen sie sich der »Lächerlichkeit oder dem Zweifel an sich selbst« hätten ausgesetzt fühlen müssen; denn jeder hatte eben seine Aufgabe: Die Buben lernten das Dreschen, Mähen oder Pflügen, aber sie mußten keine Handarbeiten verrichten usw. Diese Rollen waren nicht flexibel, mit ihnen konnte man nicht experimentieren - wollte man sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Dies galt vor allem für die männliche Jugend. Ein Bursche, der auf die Äbbehe eine Handarbeit mitgebracht hätte, war genausowenig denkbar wie später ein hausarbeitender Mann. Daran änderte auch die Industrialisierung praktisch nichts - außer daß die Frauen und Mädchen auch noch einen 179
Teil der Männerarbeit in der Landwirtschaft verrichten mußten, daß die Definition ihrer Rollen sehr viel unbestimmter wurde als diejenige der Männer. Die vollständige Einbindung in verantwortliche, weil zum Überleben der Familie dringend notwendige Arbeit setzte sofort nach der Schulentlassung im vierzehnten Lebensjahr (und teilweise noch früher) ein. Über die berufliche Zukunft der Jugend war somit entschieden, bevor sie eigentlich ihre Neigungen und Fähigkeiten hätte erproben können. Dies wird möglichen Widerstand gebrochen haben, bevor er sich dezidiert artikulieren konnte. Die Verantwortlichkeit der Jugend fur das eigene Durchkommen und das der Familie gab ihrer Existenz einen anderen Gegenwarts- und Realitätsbezug, verlieh ihnen ein anderes Selbstbewußtsein als dies der bürgerlichen Jugend möglich war, die sich (von den Zwängen des täglichen Broterwerbs freigestellt) der Vorbereitung für den >Ernst des Lebens< erst zu widmen hatte. Die bürgerliche Jugend besaß große Möglichkeiten, war aber gleichzeitig auch hohem familialem Erwartungsdruck ausgesetzt; 31 sie mußte Meinungen ausprobieren und sich an Ideale binden, weil ihre Identität primär von dem abhing, was sie dachten und konnten, von dem, was sie aus sich machten und nicht von dem, was sie besaßen und woher sie kamen. Die Jugendlichen des Bürgertums waren lokal kaum gebunden, schlossen sich mit Gleichgesinnten hier und dort zusammen (und sei es nur durch Briefwechsel) und bereiteten sich dadurch auf ein Leben vor, das große regionale und soziale Mobilität beinhalten konnte. Daraus resultierende Unsicherheiten im normativen Bereich mußten durch ideologische Bindungen und die Frustrationen über das Leben und Lernen im luftleeren Raum ihres »psychosozialen Moratoriums« (Erikson) durch Aktionismus, durch eine Betonung ihres Jungseins »bis zur Katastrophe« 32 ausbalanciert werden. Jugend in Ohmenhausen hatte keinen oder nur partiellen Moratoriumscharakter. Eine Ideologie der Jugendlichkeit im Sinne bürgerlicher Jugendbewegung gar konnte nie Teil des Selbstverständnisses dieser Jugendlichen werden. Der Übergang in den Erwachsenenstatus wurde unter keinen U m ständen hinauszuzögern versucht, sondern blieb immer erstrebenswert. Man wollte zu den Pflichten des Erwachsenenlebens auch dessen Rechte und Freiheiten. Jugend war in Ohmenhausen deshalb auch in den Augen der Jugendlichen selbst ein defizitärer >ZustandZustand< häufig unerträglich lange dauerte, brachte jedoch auch für die Ohmenhäuser Jugendlichen Konflikte, die schließlich das Maß des Ertragbaren überstiegen hätten, wenn nicht der strengen Subordination in der Familie ein Bereich absolut familienfreier, autonom regulierter Freiheit institutionalisiert gegenüber gestanden hätte: die Kameradschaften und ihre Aktivitäten, ein >Moratorium an Winterabenden^ Die Kameradschaften hatten Ventilfunktion, die gerade deshalb so wichtig war, weil es innerhalb der Familie kaum Möglichkeiten gab, pubertäres Verhalten auszuleben 180
und Konflikte auszutragen. Die stillschweigende Einpassung in die Hierarchie der Familie war nur die eine Seite der Medaille des Ohmenhäuser Jugendlebens. Daß diese Jugend auch ihre Krisen hatte, daß »emotionale Ambivalenz« (Freud) gegenüber den Eltern und ein Bedürfnis nach Erwachsensein und Selbständigkeit Spannungen erzeugten, haben die Ausführungen zum Jugendleben wohl deutlich gezeigt. Aber der Großteil ihrer Krisen und Spannungen waren derart, daß sie in diesen Kameradschaften gelöst werden konnten, daß sie eigentlich durch die Einräumung eines Freiraumes schon gelöst waren; denn die Jugendlichen aus Ohmenhausen mußten sich im Gegensatz zu bürgerlicher Jugend nicht gegen den Zugriff einer intensiv die Persönlichkeit zu formen suchenden Erziehung von seiten der Eltern und der Schule zur Wehr setzen. Während bei dieser jeder Befreiungsversuch den inhaltlichen Konflikt mit den Erziehern und ihren internalisierten Vertretern unvermeidlich machte, konnte sich die Ohmenhäuser Jugend einfach physisch der elterlichen Aufsicht entziehen (und hatte ein brauchmäßiges Recht dazu) und war dadurch (fast) allen Drucks ledig. So konnten die Jugendlichen zum Beispiel auf den Äbbehes rauchen und trinken und brauchten kein schlechtes Gewissen dabei haben, weil jeder wußte, daß sie es taten. Sie hätten es aber nie gewagt (und brauchten es auch nicht), dies vor den Eltern zu tun - und wenn sie es doch wagten (als 17-, 18jährige Frontheimkehrer nach dem Ersten Weltkrieg), dann erduldeten sie die väterliche Prügelstrafe dafür widerspruchslos. Auch die Ohmenhäuser Jugendlichen nahmen, wenn man so will, >Zukunft< vorweg, aber nicht durch geistig-ideologische Antizipation im Sinne Eriksons, sondern durch brauchmäßig zugestandene, meist mit Symbolcharakter versehene kleine Freiheiten. 34 Die Winterabende auf den Äbbehes waren eine Zeit ohne Arbeitszwang (wenigstens für die Burschen), ohne Unterordnung und Gehorsam, eine Gelegenheit zu symbolischer Vorwegnahme späterer Männlichkeit durch Rauchen, Trinken und Politisieren, ein Feld zur Erprobung sozialer Fähigkeiten (von der Solidarisierung mit den Gleichaltrigen bis zu ihrer Dominierung) und nicht zuletzt der Liebe. All das verweigerten die Familien den Kindern und Jugendlichen weitgehend, aber ohne diese >Übungen< konnte man auch in Ohmenhausen nicht vom Kind zum Erwachsenen heranreifen. Die von der Familie vorgegebenen Handlungsmuster und Elemente der Identitätsbildung reichten auch in den einfachen dörflichen Verhältnissen nicht zu sicherem Handeln als Erwachsener aus: Formen des freieren U m gangs zwischen den zukünftigen Dorfgenossen wie zwischen den Geschlechtern mußten eingeübt werden, denn nicht alle Interaktionen waren in vorstrukturiertes Rollenverhalten eingebunden. Die sozialen Normen des Dorfes mußten aktiv angeeignet (ζ. B. die Respektierung der Besitzverhältnisse durch Bestrafungsaktionen wie gegen den Kleedieb Walter), und die Vertretung und Durchsetzung der eigenen Interessen mußte gelernt werden. 3S 181
Die Kameradschaften wirkten so als Sozialisationsinstanz vor allem in drei Richtungen: Zum einen führten sie die Jugendlichen aus dem eingeschränkten bzw. einschränkenden Handlungsfeld >Familie< heraus und ermöglichten ihnen, in der Interaktion mit den peers ihre eigene Identität (vor allem durch die Integration der verschiedenen schicht-, familien- und geschlechtsspezifisch vorgegebenen Rollen) aufzubauen und jenen Grad von Autonomie im Handeln zu erlangen, der auch im Dorf von Erwachsenen verlangt wurde. 3 6 Andererseits vermittelten die Kameradschaften über die verschiedenen Formen symbolischer und realer Identifizierung mit dem Dorf (ζ. B. durch die lokale Tracht oder die Territorialkämpfe), mit bestimmten Rollen, Gruppen und sozialen Normenjene »gleiche seelische Konstruktion«, die als Grundlage eines starken »Wir-Gefuhls« (Vierkandt) die Gruppenidentität der zukünftigen Ohmenhäuser verstärkte. 37 Schließlich leisteten die Kameradschaften Orientierungshilfe für den eigenen Lebenslauf. Durch die strikte Jahrgangsgliederung der Gruppen wurde die lange Zeit der Jugend in überschaubare Phasen sich allmählich erweiternder Rechte eingeteilt: Wie weit der Jugendliche im Alter vorangeschritten war, wie lange er noch auf das Ende der Jugend würde warten müssen, konnte er an der Entfernung seines Tanzplatzes vom Dorf, am Standort seiner Kameradschaft beim Treff am Waaghaus oder an seiner Funktion im >Krieg< gegen die Betzinger sehr sinnfällig ablesen. Ein Vorpreschen und Aneignen nicht zustehender Reviere und Funktionen gab es auch unter den Kameradschaften nicht. Wie in der Familie herrschte unter ihnen die Autorität des Alters - nur konnte hier gegen den Stachel gelockt, konnten ältere Kameraden geneckt und die Prügel, die man dafür einsteckte, gemeinsam ertragen werden. In gleicher Funktion übten die Kameradschaften eine gewisse Aufsicht über den Kollektiven Krisenbereich< der Sexualität aus. Sie verhinderten einerseits durch ihre gegenseitige Aufsicht ein zu frühes Voraneilen in dieser im Verlauf der Pubertät immer bedrängender werdenden Frage. Andererseits verhalfen sie den Jugendlichen zu Kontakten mit dem anderen Geschlecht, erzwangen sie beinahe, und führten die Jungen und Mädchen so aus der Phase sexueller Latenz und Geschlechterfeindschaft hinüber in einen regelmäßigen und geregelten Umgang mit dem jeweils anderen Geschlecht. Derartige kollektive Bewältigungsversuche individueller Entwicklungskrisen wirkten nicht nur entlastend für den einzelnen, sondern verankerten vielleicht mehr als alle anderen Sozialisationserfahrungen in den Jugendlichen ein »Wir-Gefuhl«, und ließen den Prozeß ihrer Individuation weitgehend in einer Gruppenidentität aufgehen, die sie eng in die zukünftige Dorfgemeinschaft einband. Individuelle Identität wurde dadurch für die Jugendlichen weniger in einem Gefühl von Selbstsein und Autonomie als vielmehr in dem sicheren Bewußtsein von lokaler und sozialer Zugehörigkeit erfahrbar.
182
VI. Exkurs: Besitzstruktur und soziale Schichten in Ohmenhausen im 19. Jahrhundert
Der demographische und ökonomische Wandel veränderte im Laufe des 19. Jahrhunderts den Charakter des Dorfes und damit die Lebensbedingungen und -erfahrungen der Jugendlichen wie der Erwachsenen. Aus dem Bauerndorf wurde über ein Weberdorf ein Pendlervorort von Fabrikarbeitern mit starker agrarischer Bindung. Diese großen Linien suggerieren allerdings eine Einheitlichkeit der Sozialstruktur des Dorfes, die nie vorhanden war. Zu allen Zeiten gab es auch in Ohmenhausen Arme und Reiche, Bauern und Knechte. Wirtschaftskrisen oder Überbevölkerung trafen die verschiedenen Schichten im Dorf ganz unterschiedlich, wurden von ihnen jeweils anders erfahren und verarbeitet. Die Zukunftsperspektive eines B a u ernsohns hatte mit derjenigen der Schreinerskinder im 19. Jahrhundert wenig gemein. Eine Sozialgeschichte der Jugend einer so kleinen Gruppe, wie sie die Bevölkerung dieses Dorfes darstellt, muß dies berücksichtigen, sie kann nicht generalisierend von >der< Dorf- oder gar Landjugend sprechen und gewinnt demzufolge erst durch eine mikroanalytische Betrachtungsweise ihre Berechtigung. 1 Trotz der - verglichen mit einer städtischen Bürgerschaft - unbestreitbar größeren Einheitlichkeit in der Lebens-, Arbeits- und auch Denkweise der ländlichen Bevölkerung war jedes D o r f eine >Klassengesellschaft< fur sich. Es gab reiche Bauern, die auch von einer schlechten Ernte sich und ihre Familien ernähren konnten; es gab aber auch Arme, die selbst in guten Erntejahren täglich der Hunger quälte. Der Grundbesitz war in der bäuerlichen Welt deshalb das wesentliche Kriterium der sozialen Hierarchie. Das galt auch für die ländlichen Handwerker. Denn nach einer schlechten Ernte hatten sie meistens weder Aufträge noch etwas zu essen, konnten sich zumindest fur ihren Verdienst nicht mehr ausreichend Nahrungsmittel kaufen. Gewinne aus handwerklicher Produktion wurden deshalb in Ohmenhausen immer in Grundbesitz oder Gebäude investiert. Die Prosperität eines Gewerbes war am immobilen Besitz der Handwerkerfamilie ablesbar. Die Berufsbezeichnungen selbst sagten in Ohmenhausen deshalb wenig über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten >Schicht< aus: es konnte sich ein Mann als >Weber< bezeichnen und doppelt so viel Land besitzen wie ein armer Bauer und deshalb auch entsprechend hoch in der Achtung des Dorfes stehen. 2 183
Ein allgemeines Modell zur Schichtanalyse ländlicher Bevölkerungen kann es nicht geben. Jeggle entwickelte jedoch in seiner Kiebingen-Studie eine Methode, die (schon um der Vergleichbarkeit der Ergebnisse willen) mit kleinen Modifikationen auch für Ohmenhausen herangezogen werden soll. Jeggle ging in zwei Schritten vor: 1. Für die Bestimmung der Schichtgrenzen nahm Jeggle als erstes Kriterium die Frage, ob eine Familie von ihrem Besitz entweder nie oder sogar in Krisenzeiten leben konnte. Nie von ihrem Besitz leben konnte eine Familie, die weniger als einen Hektar besaß; fast immer konnte sie davon leben, wenn sie über mehr als drei Hektar verfugte. Damit sind die Grenzen von Ober- und Unterschicht markiert. Zwischen diese Unter- und Oberschicht piaziert Jeggle eine breite »Mittelschicht«, die in guten Jahren einigermaßen, bei Mißernten kaum von den Erträgen ihrer Landwirtschaft existieren konnte. 2. Eine Einteilung nur nach den Besitzgrößen wäre jedoch zu schematisch, würde Variablen wie Bodenqualität, Witterung etc. außer acht lassen. Jeggle nahm deshalb den v o m Reinertrag der Äcker ausgehenden Steuerkatasteranschlag bzw. die danach zu bezahlende Steuer zum Einteilungsmaßstab. Denn dieser Katasteranschlag war »die >konkrete Abstraktion< des Besitzes, enthielt das, was der Besitzer mit dem Besitz anfangen konnte. « 3 Diese Steuersätze teilte Jeggle d a n n - anhand eines Steuerdurchschnittswertes pro Hektar - in eine den obigen Besitzmaßstäben ungefähr entsprechende Skala ein: 0 - 2 0 Kreuzer Jahressteuer entspricht einem Hektar und bedeutet Unterschicht usw.
Diese Einteilung kann allerdings nicht schematisch auf andere Orte übertragen werden, denn das württembergische Steuersystem ging nicht von einem fixen Prozentsatz des Reinertrags, sondern von einer im voraus festgelegten, weil vom Staat benötigten Summe aus, die dann j e nach der Finanzkraft der jeweiligen Oberämter auf diese verteilt und von diesen wiederum nach einem bestimmten Schlüssel an die Gemeinden weitergegeben wurde. Diese legten sie schließlich auf die verschiedenen Einkommensarten (Grund, Gewerbe, Gebäude, Kapital) um und zogen sie dementsprechend von ihren Bürgern ein. Bei einer Schichteinteilung nach dem Steueraufkommen müssen deshalb (in Württemberg) die Schichtgrenzen für jeden Ort individuell festgelegt werden. Eine Orientierung an den Besitzgrößen gewährleistet jedoch die Vergleichbarkeit. 4 U m der in Ohmenhausen im Vergleich zu Kiebingen sehr viel stärkeren gewerblichen Durchsetzung des Ortes Rechnung zu tragen, wurde der Schichteinteilung nicht allein die Grundsteuer, sondern die gesamte, aus Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer zusammengesetzte Jahressteuer zugrundegelegt. Das führte zu einer nicht unerheblichen Entlastung der U n terschicht zugunsten einer breiteren >Mittelschicht< (Vgl. Schaubild I X ) . 5 Von Interesse sind bei Schaubild I X besonders die durch vertikale Linien markierten Schnittpunkte der beiden, die Anzahl der Grund- bzw. Gesamtsteuerzahlenden repräsentierenden Kurven. Sie fallen ziemlich exakt mit den nach Durchschnittswerten errechneten 1-, 3- und 6-Hektar-Grenzen zusam184
Schaubild IX: Anzahl der Grund- und Gesamtsteuerzahler pro Steuerbetrag in Gulden (auf- bzw. abgerundet) im Steuerjahr 1864/65 50
40
30
20
to 0
0
1 2
3
4
5
6
7 8
9
10 11 12 Ο Κ IS 16 17 18 19 20 fi.
men. Bis zu 2 fi. Steueraufkommen entspricht einem Grundbesitz von 1 ha, 6 fl. einem von 3 ha usw. Diese Steuerkurven verlaufen für alle Stichjahre annähernd identisch, die markanten Schnittpunkte liegen immer in nächster Nähe zu den nach den Besitzgrößen vorher berechneten Schichtgrenzen. Dies bestätigt zum einen die Richtigkeit der Jeggleschen Einteilung (für den Realteilungsbereich des mittleren Neckarraums), zum anderen legte es j e doch nahe, eine Vier-Schichten-Einteilung vorzunehmen 6 : Es gab in Ohmenhausen eine Unterschicht, die aus absoluten Habenichtsen (>NonvalentenÜberhang< von der untersten Schicht hinzu, also diejenigen, die ein wenig Land und vielleicht ein kleines Haus besaßen. Diese untere Mittelschicht bestand überwiegend aus den bessergestellten kleinen Handwerkern (ζ. B. Zimmerleuten), vielen Webern und an ihrem oberen Rand schon aus Bauern. Deutlich abgegrenzt von dieser unteren war eine rein agrarische obere Mittelschicht. In diesem Bereich kreuzen sich in Schaubild I X die beiden Kurven mehrfach, jedoch nur scheinbar unübersichtlich. In Wirklichkeit verlaufen sie mit einer Verschiebung von etwa 1 fl. parallel. Das ist genau der Steuersatz für ein besseres Bauernhaus. Gewerbliches Einkommen spielte in der oberen Mittelschicht so gut wie keine Rolle mehr. Von dieser Schicht setzte sich mit (beim Grundsteueraufkommen) deutlichem Abstand 185
noch eine agrarische Oberschicht ab, die pro Familie wenigstens 6 ha Land besaß. Mit dieser Vier-Schichten-Einteilung sind zwar manche der folgenden Ohmenhausen-Statistiken im Bereich der Oberschichten (nur dort!) nicht mehr direkt mit denen der Kiebingen-Studie vergleichbar, gewinnen aber selbst an Prägnanz. Daß die Absonderung einer rein agrarischen Oberschicht sinnvoll war, zeigen die Statistiken vor allem zur sozialen Heiratsmobilität. Deutlich wird dies aber auch bereits, wenn man die Entwicklung der Schichten während des gesamten 19. Jahrhunderts überblickt (vgl. Schaubild X ) : Schaubild X: Anzahl der vollständigen Ohmenhäuser Familien nach ihrer Schichtzugehörigkeit, 1823-1893 7
Etwa 10 Familien bildeten in Ohmenhausen eine fast hermetisch abgeschlossene Oberschicht, die ihren Besitzstand und ihre Macht zäh durch das gesamte Jahrhundert behauptete. Eine im Gemeindearchiv erhaltene »Grundvermögens Ertragsberechnung der bestvermöglichen Bürger dahier« aus dem Jahr 1815 8 listet den Grundbesitz von elf Ohmenhäuser Familien auf. Diese hatten zusammen etwa 46 ha »aigen Land«. Rechnet man bei allen jeweils noch einen halben Hektar Allmendland und ein paar gepachtete Äcker dazu, 9 so werden diese elf Familien zusammen 55 bis 60 ha (oder jede Familie etwas über 5 ha) bewirtschaftet haben. Die landwirtschaftliche Betriebszählung vom Juni 1895 zählte in Ohmenhausen 13 Betriebe zwischen 5 und 10 ha (keinen über 10 ha!), die zusammen 88 ha Land bebauten. Aufjede Familie kamen also im Durchschnitt 6,7 ha. 1 0 Zwischen diesen elf Familien des Jahres 1817 und den dreizehn Familien von 1895 lassen sich ausnahmslos mehr oder weniger direkte geneaologische Verbin186
düngen ziehen, und man kann während des ganzen 19. Jahrhunderts beliebige Schnitte durch die Sozialschichtung des Dorfes anlegen und wird immer Angehörige dieser 10 bis 15 Familien, die gut 20% des Bodens kontrollierten, als lokale Oberschicht finden. Dies läßt bereits den Druck ahnen, der in dieser Schicht auf die Partnerwahl der Kinder ausgeübt wurde, um Besitz und Macht in den Familien zu erhalten. 11 Ein entsprechendes Bild bieten die beiden unteren Schichten. Bei ihnen führte das an der steigenden Anzahl der Familien sichtbare Bevölkerungswachstum zu einer enormen Zunahme der Schichtbreite. Der vorübergehende Rückgang der Unterschicht zwischen 1844 und 1864 war eine Folge der Auswanderung der Ärmsten während der Krisenjahre. In einer prozentualen Verteilung der Familien auf die einzelnen Schichten kommt dieser Einbruch bei der Unterschicht besonders deutlich zum Vorschein (vgl. Schaubild XI). Schaubild XI: Prozentuale Verteilung der vollständigen Ohmenhäuser Familien auf die vier Schichten (berechnet nach dem Gesamtsteueraufkommen), 1823-1893 1 2 % 100
OS
OMS
-
80 60
-
40
-
UMS
US
20 -
0
1827
1844
1864
1882
1893
Der Rückgang der Unterschicht wurde verstärkt durch die Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur. Die überproportionale Zunahme der Textilhandwerker, besonders der Weber (Vgl. oben Tab. Ilau. b), führte zu einem besonders starken Anwachsen der unteren Mittelschicht, und zwar vor allem >auf Kosten< der Unterschicht. Dies zeigt ein Vergleich der Schichteinteilung nach dem Gesamtsteueraufkommen mit einer nur auf der Grundsteuer basierenden Berechnung (vgl. Schaubild XII). 187
Schaubild XII: Prozentuale Verteilung der vollständigen Ohmenhäuser Familien auf die vier Schichten (berechnet nur nach demjeweiligen Grundsteueraufkommen), 1823-1893 1 3
Durch fortschreitende Güterzersplitterung und Mißernten verlor das agrarische Einkommen in den unteren Schichten schon um die Jahrhundertmitte zunehmend an Bedeutung, wurde für den größten Teil der Bevölkerung das Einkommen aus Handwerk und Hausindustrie zur unerläßlichen Existenzgrundlage. Erstaunlich ist bei dieser nur auf dem Grundsteueraufkommen beruhenden Einteilung die lang anhaltende Konstanz der Schichtbreiten. Bis in die 80er Jahre blieben die prozentualen Relationen zwischen den Schichten annähernd unverändert. Daran läßt sich bereits ablesen, daß bis dahin dem ökonomischen Strukturwandel kein eigentlich sozialer gefolgt ist. Die Mobilität nach oben war extrem gering, jede Schicht verteidigte ihren Besitzstand und versuchte Aufsteiger abzuwehren; denn die Heirat mit einem weniger begüterten Partner bedeutete meist einen irreversiblen materiellen und gesellschaftlichen Abstieg. Bei aller wirtschaftlichen, politischen und demographischen Turbulenz blieb so das Sozialgefuge Ohmenhausens bis in die 80er Jahre extrem stabil, geradezu starr. Die wenigen Oberschichtler konnten ihren Besitzstand erfolgreich verteidigen, die vielen Unterschichtler keine Umverteilung des Lands herbeifuhren. Doch dieses Äquilibrium der Schichten war äußerst künstlich und basierte ganz auf der durch die starke Auswanderungsbewegung herbeigeführten Bevölkerungsstagnation. Als durch die Möglichkeit, in den nahen Fabriken Geld zu verdienen, die Auswanderungs welle in den 80er Jahren aufhörte und die Bevölkerung explosionsartig anwuchs, geriet deshalb innerhalb kürzester Zeit das alte Gleichgewicht durcheinander, stieg der Anteil der annähernd landlosen Unterschichtfamilien auf über 80% an. 188
Allerdings spiegelt ab den 80er Jahren keines der beiden Schaubilder (XI und XII) die wirklichen Schichtverhältnisse wider; denn in beiden Graphiken mußte das Fabrikeinkommen unberücksichtigt bleiben, da es von den Gemeindesteuerbüchern nicht erfaßt wurde. Die »Fabrikler« waren jedoch zumindest seit den 90er Jahren nicht mehr ohne weiteres den dörflichen Unterschichten zuzuordnen. Die ökonomische Bedeutung der Fabrikarbeit war dafür inzwischen in Ohmenhausen viel zu groß. Anstatt eines erneuten Anwachsens der Unterschicht nach 1864 wird sich deshalb eher der Bereich der unteren Mittelschicht »trompetenförmig« geöffnet (vgl. die gestrichelte Linie in Schaubild XI) und etwa 60% der Ohmenhäuser Familien umfaßt haben.
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VII. Abkürzungen
AHR ASG EvKGOh fl. Gde GG GRProt. I& Τ JbbdHGK JIH KKP KZfSS LKAS OA OAB Pb PfGRP SARt/Oh SOWI StALb StASig WJB
American Historical Review Archiv fur Sozialgeschichte Evang. Kirchengemeinde Ohmenhausen Gulden ( = 60 Kreuzer) Gemeinde Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Gemeinderatsprotokoll Inventuren und Teilungen Jahresberichte der Handels- und Gewerbekammern in Württemberg Journal of Interdisciplinary History Kirchenkonventsprotokoll Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Landeskirchliches Archiv beim Oberkirchenrat Stuttgart Oberamt Oberamtsbeschreibung Pfarrbericht Pfarrgemeinderatsprotokoll Gemeindearchiv Ohmenhausen im Stadtarchiv Reutlingen Sozialwissenschaftliche Informationen für Studium und Unterricht Staatsarchiv Ludwigsburg Staatsarchiv Sigmaringen Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie, hg. v. J. G. D. Memminger. Stuttgart 1818ff. (Seit 1839 hg. v. Statistisch-topographischen Bureau.)
x./xr. ZfGS ZfPäd ZWLG
Kreuzer Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Pädagogik Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte
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VIII. Anmerkungen
I. Einleitung 1 Einen zusammenfassenden Überblick über »anthropologische, historisch-soziologische und demographische Grundlagen«: des Jugendalters gibt mit reichhaltiger Bibliographie L. Rosenmayr, Jugend, in: R. König (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 6, Stuttgart 1976 2 , S. 44-97. Eine allgemeine wissenschaftsgeschichtliche Einleitung in das Forschungsthema >Jugend< geben H.-P. Schäfer, Jugendforschung in der D D R . Entwicklungen, Ergebnisse, Kritik, München 1974, S. 22ff.; Rosenmayr, Jugend, S. 16ff. u n d j . u. V. Demos, Adolescence in Historical Perspective, in: Journal o f Marriage and the Family, Bd. 31, 1969, S. 632-638. Unter stärkerer Berücksichtigung geistesgeschichtlicher und pädagogischer Aspekte: A. Flitner u. W. Hornstein, Kindheit und Jugendalter in geschichtlicher Betrachtung, in: ZfPäd, Bd. 10, 1964, S. 311-339, sowie W. Hornstein u. A. Flitner, Neuere Literatur zur Geschichte des Kindes- und Jugendalters, in: ZfPäd, Bd. 11, 1965, S. 66-85. Vgl. zum Forschungsstand allgemein auch U . Herrmann u.a., Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie, München 1980. 2 W. Hornstein, Aspekte und Dimensionen erziehungswissenschaftlicher Theorien zum Jugendalter, in: F. Neidhardt u. a., Jugend im Spektrum der Wissenschaften, München 1970, S. 51-202, hier: S. 157. Zur Funktion von Kindheit und Jugend in der traditionellen Gesellschaft vgl. P. Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1975, sowie J . R. Gillis, Geschichte der Jugend. Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen in Europa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Weinheim 1980, S. 17ff. Ganz ähnlich beschreibt dies J . F. Kett, Rites o f Passage. Adolescence in America 1790 to the Present, New York 1977. Allgemein zum folgenden auch W. Hornstein, Jugend in ihrer Zeit. Geschichte und Lebensformen des jungen Menschen in der europäischen Welt, Hamburg 1966, sowie M . Rassem, Entdeckung und Formierung der Jugend in der Neuzeit, in: H. v. Hentig u. a., Jugend in der Gesellschaft. Ein Symposion, München 1975, S. 98-117. 3 Vgl. dazu Hornstein, Aspekte, v.a. S. 159ff. Allgemein zur bürgerlichen Erziehung vgl. jetzt auch den Sammelband von U . Herrmann (Hg.), >Die Bildung des Bürgerst Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert, Weinheim 1982, und ders., Kindheit und Jugend im Werk Joachim Heinrich Campes. Pädagogische Anthropologie und die Entdeckung des Kindes im Zeitalter der Aufklärung, in: Neue Sammlung, Bd. 15, 1975, S. 464—481, sowie die interessante Sammlung autobiographischer Quellen v o n j . Schlumbohm (Hg.), Kinderstuben. Wie Kinder zu Bauern, Bürgern, Aristokraten wurden 1700-1850, München 1983, v.a. S. 14ff. und S. 302ff. Wie sehr diese Veränderung von Leitbildern im Bürgertum eine Folge des tiefgreifenden Wandels in der Erwachsenenwelt waren, zeigt prägnant zusammenfassend H. Rosenbaum, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1982, v.a. S. 261 ff. Rosenbaum stellt ebd., S. 280 ff. unter Bezugnahme auf J . H. van den Berg, Metabletica. Über die Wandlung des Menschen. Grundlinien einer historischen Psychologie, Göttingen 1960, auch die veränderte >Psychodynamik< bürgerlicher Erziehung gut dar. 4 Zu den Bedingungen, unter denen sich Jugend in einer Gesellschaft als soziale Gruppe formiert, gibt es bislang nur soziologische Literatur. Vgl. v. a. S. N. Eisenstadt, Von Generation zu Generation, München 1966, sowie F. H. Tenbruck, Jugend und Gesellschaft. Soziologische
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Anmerkungen zu Seite 11-12 Perspektiven, Freiburg 1962. Zur Kritik an diesen stark dem Strukturfunktionalismus verschriebenen Theorien vgl. Rosenmayr, Jugend, v. a. S. 112 u. 158ff., ebenso T. v. Trotha, Z u r Entstehung von Jugend, in: KZfSS, Bd. 34, 1982, S. 254-277. 5 Z u m Begriff der sozialen Reproduktion vgl. ζ. B. J. Ehmer, Familie und Klasse. Zur Entstehung der Arbeiterfamilie in Wien, in: M. Mitterauer u. R. Sieder, (Hg.), Historische Familienforschung, Frankfurt 1982, S. 300-325, hier: S. 302: »Während Reproduktion im allgemeinen die Schaffung aller jener Bedingungen bezeichnet, die fur den kontinuierlichen Ablauf des gesellschaftlichen Produktionsprozesses . . . erforderlich sind, meint soziale Reproduktion im besonderen den Aufbau und die Fortschreibung entsprechender sozialer Beziehungen, die Reproduktion spezifischer Klassen, Schichten und Berufsgruppen und ihres spezifischen Zusammenhangs. . . . Soziale Reproduktion meint, daß sich das gesellschaftliche Leben nicht durch die Vermehrung abstrakter Menschen oder die Wiederherstellung abstrakten Arbeitsvermögens fortsetzt, sondern durch die Existenz von Angehörigen sozialer Klassen, Schichten und Berufsgruppen . . . mit einem spezifischen, historisch bestimmten sozialen Profil (Verhältnis zu den Produktionsmitteln, Qualifikation, Persönlichkeitsstruktur u. a. m.).« 6 Eine umfassende Sozialgeschichte der Jugend aus dieser Perspektive ist noch nicht geschrieben. Relativ gut erforscht ist der Wandel von Leitbildern in der Pädagogik und Sozialarbeit. Vgl. dazu z.B. U. Herrmann, Was heißt >Jugend