Elite: Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 9783486707304, 9783486588286

Das Buch untersucht, weshalb der Elite-Begriff erst nach 1945 in Deutschland eine tragende Rolle zur Beschreibung der po

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German Pages 628 [636] Year 2009

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Elite: Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik
 9783486707304, 9783486588286

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Reitmayer · Elite

Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit |

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Band 28

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Morten Reitmayer

Elite Sozialgeschichte einer politischgesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik

R. Oldenbourg Verlag München 2009

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2009 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Roman Clemens: Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton (1929) © Theaterwissenschaftliche Sammlung, Universität zu Köln Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Typodata GmbH, München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58828-6

Inhalt Vorwort

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Einleitung: Eine akteursorientierte Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen

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1.

2.

3.

Die Schauplätze des Geschehens 1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien 1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes 1.3 Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit 1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen Orientierung durch Differenzbestimmung: Die Einteilung der sozialen Welt in Elite und Nicht-Elite (Masse) 2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik 2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite 2.2.1 Konstitutive Eigenschaften einer Wert- und Charakter-Elite 2.2.2 Christliche Wertbindung 2.2.3 Askese 2.2.4 Unabhängigkeit und Verantwortung 2.2.5 Aporien der Wert- und Charakter-Elite Legitimation: Die Elite als der relevante Teil der Gesellschaft . . . 3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!" 3.1.1 Karl Mannheim: Planungselite im Massenzeitalter .. 3.1.2 Gaetano Mosca und die Erfindung der politischen Elite 3.1.3 Liberale Elitetheorien im Diesseits von Angebot und Nachfrage 3.1.4 Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" Eliten-Modelle in den 1950er Jahren 3.1.5 Der Archimedische Punkt: Elite, Herrschende Klasse und die politische Willensbildung in der Demokratie 3.1.6 Ausbreitung und Vulgarisierung: Die politische Elite aus Sicht der Politiker 3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite 3.2.1 Eine antibürgerliche Elite der Askese 3.2.2 Fehlende Elite, fehlende Legitimation 3.2.3 Historische Eliten 3.2.4 Elite und Prominenz

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6 4.

5.

Inhalt

Handlungswissen und Rollenfindung: „Führung" als spezifisches Elite-Handeln 4.1 Führung als Handeln der Elite: „Führer" heißt nicht „Führung" 4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte innerhalb der Unternehmerschaft 4.3 Führung im Betrieb Die neue symbolische Ordnung: Elite-Bildung durch die soziale Magie individueller Auslese 5.1 Versuche der Elite-Bildung 5.1.1 Vorläufer in der ersten Jahrhunderthälfte 5.1.2 Die Rolle der Evangelischen Akademien 5.1.3 „Pädagogische" Elite-Bildung 5.1.4 Politische Elite-Bildung: Der Traum vom Oberhaus . 5.2 Von der Elite zu den Eliten. Die Pluralisierung des Begriffs . 5.2.1 Robert Michels und die Tradierung des Elite-Begriffs 5.2.2 Die Rezeption und Wirkung der Arbeiten Vilfredo Paretos 5.2.3 Der kalte Blick der konservativen Avantgarde 5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa 5.3.1 Das theoretische Fundament des verwissenschaftlichen Elite-Begriffs 5.3.2 Macht und Herrschaft: importierte Kategorien 5.3.3 Die Vollendung der Elite-Doxa

307 307 324 356

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Zusammenfassung und Ausblick

561

Abkürzungsverzeichnis

577

Quellenverzeichnis

579

Literaturverzeichnis

589

Personenregister

623

Vorwort Dieses Buch hat eine verhältnismäßig lange Geschichte. Ihren Ausgangspunkt nahm sie im Trierer Graduiertenkolleg „Westeuropa in vergleichender historischer Perspektive". Viele Freunde, Kollegen und Förderer haben sein Entstehen seitdem hilfreich begleitet. Entscheidende Impulse gab Prof. Lutz Raphael, dessen methodologische Phantasie an den wichtigen Wegpunkten half, Denkblockaden zu überwinden. Ruth Rosenberger und Hannes Platz haben nicht nur Teile des Manuskripts einer kritischen Lektüre unterzogen, sondern waren vor allem immer wieder bereit, Gedanken und Befunde des Forschungsprozesses zu diskutieren. Doris Schirra und Stefanie Middendorf waren jedoch die ersten Opfer der Prosa dieses Projekts. Während des Arbeitsprozesses hatte ich immer wieder die Möglichkeit, Entwürfe und Teile der Studie zur Diskussion zu stellen. Besonders die Debatten im Trierer Neuzeit-Colloquium und auf den frühjährlichen „Viermächtetreffen" zwangen mich, Argumentationsstränge und Denkfiguren zu präzisieren oder zu verwerfen. Materielle Unterstützung erfuhr diese Untersuchung von verschiedenster Seite: Der Erich-Dorp-Fonds, die FAZIT-Stiftung sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft ermöglichten durch Stipendien die Kontinuität der Arbeit. Prof. Detlef Junker setzte sich nicht nur für ein Stipendium des Vereins zur Förderung der Schurmann-Bibliothek e.V. ein, sondern schuf auch zusammen mit Philipp Gassert die herzliche Arbeitsatmosphäre am CurtEngelhorn-Lehrstuhl. Prof. Heinz Bude vermittelte den unbürokratischen Beistand des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Normand Päpidoux leistete unersetzliche Hilfe in der letzten Arbeitsphase des Projekts. Die Gutachter der Habilitationsschrift, die diesem Buch zu Grunde liegt, gaben ebenso wie die Herausgeber der „Ordnungssysteme" wertvolle Anregungen für die Überarbeitung und vor allem für die Kürzung des Manuskripts. Ihnen allen sei hiermit nochmals herzlichst gedankt! Gewidmet ist dieses Buch meiner Frau Doris, for all the reasons.

Einleitung: Eine akteursorientierte Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen „Bur-Malottke widersprach man einfach nicht. Er hatte zahlreiche Bücher essayistisch-philosphisch-religiös-kulturgeschichtlichen Inhalts geschrieben. Er saß in der Redaktion von drei Zeitschriften und zwei Zeitungen. Und er war Cheflektor des größten Verlages." Heinrich Boll: Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. „Auch verleiht es einem Menschen keine geringe Macht Uber den andern, wenn er die Autorität besitzt, Prinzipien zu diktieren und unantastbare Wahrheiten zu lehren". John Locke: Essays. „Misstraue den Erneuerungen der menschlichen Gattung, wenn die Kurie und die Fürstenhöfe davon zu reden beginnen!" Umberto Eco: Der Name der Rose.

In unserer Gegenwart ist das Reden über Eliten fast allgegenwärtig. Ob sich Topmanager in Davos treffen, Politikern Planlosigkeit und Versagen vorgeworfen wird oder Universitäten versuchen, ihr Prestige zu mehren - überall wird der Elite-Begriff zur Bezeichnung von Erwartungen und Erfahrungen eingesetzt. Diese Ubiquität des Terminus „Elite" verführt leicht zu der Annahme, Eliten habe es immer und überall, in jeder Gesellschaft und zu allen historischen Zeiten gegeben, und sie würden auch in allen zukünftigen menschlichen Gesellschaften die ausschlaggebende Rolle spielen. Kaum jemals wird dabei die Frage gestellt, ob denn auch der Elite-Begriff schon immer zur Bezeichnung dieses vorgeblich überhistorischen Phänomens verwendet wurde. Gleichzeitig existiert eine im methodologischen Reflexionsgrad und in ihrem Erklärungsanspruch durchaus aufgefächerte wissenschaftliche Literatur, die zwar in ihrer Breite wie in ihrer modelltheoretischen Ausdifferenziertheit vielleicht noch nicht mit ihren amerikanischen und französischen Vorbildern mithalten kann 1 ) - so dass es nach wie vor möglich ist, das geringe empirische Wissen über die deutschen „Eliten" zu beklagen; 2 ) ein seit den frühen Ar-

') „Einen deutschen Bourdieu über die feinen Unterschiede [zwischen den „oberen Schichten" nach 1945, M.R.] gibt es nicht", so Hartmut Kaelble: Nachbarn, S. 184. 2 ) So etwa das Monitum von Hans-Peter Schwarz: „Die Führungsschichten in der Adenauer-Ära sind wissenschaftlich noch nicht richtig entdeckt". Schwarz: Ära Adenauer, S.405.

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Einleitung

beiten Ralf Dahrendorfs eingeführter Topos der westdeutschen „Eliteforschung" 3 ) - , die aber einer konstanten publizistischen Aufmerksamkeit versichert ist. In der Tat wird das Spannungsverhältnis zwischen politisch-publizistischen Reflexionen und (sozial-)wissenschaftlichen Arbeiten über den Gegenstand „Elite" allenfalls für zurückliegende Epochen thematisiert, so gut wie nie jedoch für gegenwärtige Erörterungszusammenhänge - und, so wird man hinzufügen müssen, am wenigsten von denjenigen, die von dieser epistemologischen Komplizenschaft am meisten profitieren. Die vorliegende Arbeit versucht nicht, den bestehenden Elite-Theorien eine weitere, vermeintlich neue hinzuzufügen. Auch ist nicht beabsichtigt, bestimmte soziale Gruppen als „Elite" zu identifizieren und empirisch auf ihre sozialen Merkmale hin zu untersuchen. Stattdessen soll der Terminus „Elite" als Umschreibung eines „sozialen Glaubens" begriffen werden, das heißt als eine politisch-soziale Ordnungsvorstellung, deren Durchsetzung nicht linear als Reaktion auf sozialstrukturelle Veränderungen zu erklären ist, wie sie in Modellen des Wandels von der Klassengesellschaft zur „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft" oder der „Verwandlung" der Klassengesellschaft selbst 4 ) und anderen auf den gesellschaftlichen Strukturwandel abstellende Konzepte ausgedrückt werden, sondern durch die Konkurrenz derartiger Ordnungsvorstellungen untereinander und damit durch die Arbeitsbedingungen derjenigen, die solche Vorstellungen hervorbringen und verbreiten. In diesem Sinne ist der Glaube an die Existenz und Notwendigkeit von „Eliten" als ein „Meinungsphänomen" anzusehen, wie es unlängst von Monique de Saint Martin vor allem unter Rückgriff auf Überlegungen von Maurice Halbwachs am Beispiel des französischen Adels vorbildlich untersucht wurde. 5 ) Dieser Glaube und seine Durchsetzung, so die These der Arbeit, stellen einen der wichtigsten Ausschnitte der westdeutschen Ideengeschichte nach 1945 dar, denn die Stabilität der zweiten deutschen Demokratie verdankte sich ganz wesentlich der Tatsache, dass an die Stelle der verschiedenen konfliktorientierten und Kompromisse verdammenden Ordnungsentwürfe, die in der Weimarer Republik vorgeherrscht hatten - beispielsweise der radikale Führer-Glaube oder das Denken in Klassen-Kategorien - , nun mit dem Glauben an die Existenz und Notwendigkeit einer „Elite" eine sozial ausgleichende und längerfristig demokratiekompatible „gedachte Ordnung" getreten war. Die Verwendung des Elite-Begriffs als Bezeichnung einer gedachten sozialen Ordnung ist mithin als ein durch und durch historisches Phänomen anzusehen.

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) Dahrendorf bezeichnete 1962 die Unternehmer der Ära Adenauer als „unbekannteste Führungsgruppe der deutschen Gesellschaft". Ralf Dahrendorf: Eine neue deutsche Oberschicht? Notizen über die Eliten der Bundesrepublik, in: Die Neue Gesellschaft 9.1962 H . l S. 18-30, hier S.25. 4 ) Prägnant formuliert von: Vester: Klassengesellschaft. 5 ) Saint Martin: Adel, S. 11-13.

Einleitung

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Eine solche Annahme provoziert jedoch sofort die Frage nach den Gründen dafür, dass die Zeitgenossen sehr schnell nach 1945 den Elite-Begriff zur Umschreibung ihrer Erfahrungen und Erwartungen aufgriffen - was sie zuvor nicht getan hatten. Anders gesagt, was leistet der Elite-Glaube - besser als konkurrierende Ordnungsentwürfe - für die spezifischen politisch-ideellen Bedürfnisse der Zeitgenossen? 6 ) Und diese These wirft die Frage nach den Ausbreitungswegen und den Akteuren auf, die die Verbreitung dieses Meinungsphänomens betrieben, und nach den Wegen, auf denen der Elite-Glaube und die weiteren mit ihm verbundenen Annahmen, aber auch konkurrierende Entwürfe zirkulierten. Aus diesen Leitfragen ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen. Die erste betrifft den Untersuchungszeitraum: Wie diese Arbeit zu zeigen versucht, ist die Verwendung des Elite-Begriffs nach 1945 tatsächlich grosso modo als ein Novum in der neueren deutschen Ideengeschichte anzusehen, weshalb die Analyse, von einem kürzeren begriffsgeschichtlichen Rückblick abgesehen, erst mit der Nachkriegszeit einsetzt. Des weiteren ist die Ausgestaltung des sozialen Glaubens an die Existenz und Notwendigkeit einer Elite und seine Ausdifferenzierung in unterschiedliche Elite-Konzepte wie dasjenige der „Macht-Elite", der „Funktions-Elite" und so weiter sowie seine Durchsetzung im Wesentlichen zur Mitte der 1960er Jahre abgeschlossen, so dass der Untersuchungszeitraum in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts endet. Seit dieser Zeit beschränken sich die empirischen wie die theoretischen Arbeiten zur deutschen „Elite" in vielerlei Hinsicht auf die Wiederholung des immer Gleichen - beispielsweise wurden danach keine grundsätzlich neuen Elite-Modelle mehr entwickelt, der theoretische Gehalt des Elite-Begriffs ist also gewissermaßen ausgeschöpft so dass die publizistischen wie die wissenschaftlichen Erörterungen faktisch die Funktion besitzen, die Dominanz der Elite-Doxa (zu diesem Terminus technicus gleich unten mehr) zu sichern und zu vertiefen. Die zweite Konsequenz aus diesen Leitfragen besteht in der Notwendigkeit, zumindest skizzenhaft auch die konkurrierenden Ordnungsentwürfe zu modellieren, gegen die die Elite-Doxa sich durchsetzte beziehungsweise die sie verdrängte, sowie den sozialen Raum zu bestimmen, auf den - allein - sich die These von der Dominanz der Elite-Doxa beschränkt, was im zweiten Teil dieser Einleitung geschehen soll.

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) Trotz dieser Betonung der genuin historischen Orientierungs- und Legitimationsbedürfnisse in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 in Westdeutschland soll hier keineswegs ein ideengeschichtlicher Sonderweg gesucht werden; ein solches Bemühen verbietet sich schon angesichts der weiten Verbreitung von auf dem Elite-Begriff basierenden symbolischen Ordnungen in zahlreichen westlichen Industriegesellschaften. In mancherlei Hinsicht ist allerdings von einer relativ späten Durchsetzung des Elite-Glaubens in Deutschland (im Vergleich zu seinen westlichen Nachbarn) auszugehen, keinesfalls aber von einem deutschen Exzeptionalismus.

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Einleitung

Mit diesen Leitfragen ordnet sich die vorliegende Arbeit zunächst in die neueren Strömungen zur Ideengeschichte der Bundesrepublik ein. 7 ) Fünf derartige, sich teilweise überlagernde Strömungen sind dabei hervorzuheben: 8 ) Zunächst die neuere wie die ältere Erforschung der deutschen „Elite", soweit diese nicht ohnehin in den Untersuchungszeitraum fällt (1); sodann die besonders in jüngster Zeit stark hervortretenden vorwiegend disziplingeschichtlichen Arbeiten, die sich hauptsächlich mit den Humanwissenschaften der frühen Bundesrepublik und deren personellen wie ideengeschichtlichen Wurzeln in der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen (2); die neuere und ältere Konservatismus-Forschung, soweit diese ideengeschichtlich ausgerichtet ist. Damit wird nicht unterstellt, dass es sich bei der Elite-Doxa um ein genuin und exklusiv konservatives Gedankengut handelt, sondern eine Akteurs-Ebene angesprochen, die wegen der Dominanz konservativer Intellektueller und Ideen während der ersten zwei Drittel des Untersuchungszeitraums notwendigerweise aufzusuchen ist (3); vor allem in jüngerer Zeit sehr einflussreich gewordene Studien zur „Amerikanisierung" beziehungsweise „Westernisierung" spezifischer intellektueller Milieus in Westdeutschland (4); sowie schließlich die Untersuchungen zur „Liberalisierung" der bundesdeutschen Gesellschaft als Voraussetzung des Erfolgs der politischen Demokratie (5). Zu (1): Am Ende des Untersuchungszeitraums hatten sich die beiden wichtigen heute bestehenden Formen der Beschäftigung mit „Eliten" vollständig herausgebildet, nämlich die publizistische Debatte mit zeitkritischen Diagnosen und politischen Appellen einerseits und die sozialwissenschaftliche Erforschung historischer und zeitgenössischer „Eliten" oder Elite-Gruppen andererseits. Die mannigfaltigen Zwischenformen, aus denen diese beiden Formen im Laufe des Untersuchungszeitraums hervorgegangen waren, sind dabei niemals verschwunden, haben demgegenüber aber relativ an Bedeutung verloren. Hier muss jedoch nur die politikwissenschaftliche und die soziologische Auseinandersetzung mit „Eliten" skizziert werden. Einen bis in die Gegenwart reichenden Traditionsstrang der sozialwissenschaftlichen „Elitenforschung" stellen die nach den Orten ihres Entstehens benannten „Elitestudien" dar: Die erste und die zweite „Mannheimer Elitestudie" von 1968 und 1981 sowie die „Potsdamer Elitestudie" von 1995. Dazwischen lag die vom nahezu gleichen Bearbeiterkreis um den Politikwissen7

) Das Fehlen einer Übersicht über die Ideengeschichte der Bundesrepublik - wie es sie für die politische Geschichte vielfach, aber auch für die Wirtschaftsgeschichte und die Sozialgeschichte(n) längst gibt - machte sich bei den Vorarbeiten zur vorliegenden Untersuchung schmerzhaft bemerkbar. Allgemeine Überblicke geben Ball und Bellamy (Hg.): Cambridge History; Grebing: Geschichte der sozialen Ideen; Fetscher und Münkler (Hg.): Handbuch. 8 ) Die Auseinandersetzung mit neueren Positionen zur Geschichte der Medien und Orte und des Selbstverständnisses westdeutscher Intellektueller wird im nachfolgenden Kapitel geführt.

Einleitung

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schaftler Rudolf Wildenmann durchgeführte (nicht durchgehend so titulierte) „Bonner Elitestudie" aus dem Jahr 1972. Die Jahreszahlen beziehen sich dabei auf das Erstellen des jeweiligen maschinenlesbaren Codebuches der Datenerhebung, nicht der Veröffentlichungen. 9 ) Der empirische Aufwand dieser sehr politiknahen Forschungen 10 ) - die erste „Mannheimer Elitestudie" wurde vom Bundeskanzleramt finanziert, die „Bonner Elitestudie" von der Konrad-Adenauer-Stiftung - steht dabei in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer methodischen Reflexionshöhe. 11 ) So wurden für die erste Mannheimer Studie bereits mehr als 800 Interviews mit Personen aus einem Kreis von 1450 „Spitzenpositionsträgern" geführt; 12 ) für die Untersuchung 1972 war die Zahl der Interviews mit insgesamt 1825 mehr als verdoppelt worden, und 1981 waren es noch immer 1744.13) Für die „Potsdamer Elitestudie" wurden dann nicht weniger als 2341 Interviews realisiert. 14 ) Dieser immense Aufwand war die logische Folge des Anspruchs auf eine Vollerhebung der Daten über die Inhaber der - vorab geschätzten - rund 4000 „Führungspositionen der Bundesrepublik Deutschland". Angetrieben wurde er jedoch zumindest bei den ersten drei Untersuchungen - bei der „Potsdamer" Studie wurde das Design nicht unerheblich verändert 15 ) - von verhältnismäßig einfach strukturierten Vorannahmen und Leitfragen der Untersuchungen: „Wer gehört zur Machtelite der Bundesrepublik?" beziehungsweise „Elite: das sind die Mächtigen". 16 ) Zur Beantwortung dieser Fragen griffen die Forscherteams bemerkenswerterweise nicht auf die ausführlichen Überlegungen von C. Wright Mills zurück, der den Terminus bereits in den 1950er Jahren in die Diskussion eingeführt

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) Ergebnisse der ersten „Mannheimer Elitestudie" sind unter anderem Wildenmann·. Eliten; sowie Enke: Oberschicht. Aus der zweiten „Mannheimer Elitestudie" ging u. a. hervor Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt. Aus dem Umkreis der „Potsdamer Elitestudie" wurden veröffentlicht BUrklin und Rebenstorf. Eliten, sowie (ohne ausdrücklichen Bezug) Rebenstorf: Politische Klasse. 10 ) Beispielsweise veröffentlichte Rudolf Wildenmann, der spiritus rector dieser Arbeiten, im Frühjahr 1982 einen Artikel in der Zeit mit der sprechenden Überschrift „Die Elite wünscht den Wechsel. Unsere oberen Dreitausend: Mehr ,rechts' als .links'" - ein überraschendes Ergebnis! Dietrich Herzog fragte 1991 in APuZ: „Brauchen wir eine Politische Klasse?", und Wilhelm Bürklin konstatierte 1994 „Das Ergrauen der Grünen". n ) Ähnlich formuliert die Kritik bei Hartmann: Elite-Soziologie, S. 66/67. 12 ) Enke: Oberschicht, S. 1-4. 13 ) Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt, S. 85/86. 14 ) Machatzke: Potsdamer Elitestudie, S.65, S.37, auch für das Folgende. 15 ) Die zentrale Veröffentlichung bestand nun nicht mehr in einer Monographie, sondern in einem umfangreichen Sammelband, und der auch terminologisch sich von der Hauptveröffentlichung wie von den Vorgängern absetzende wichtigste Beitrag der Herausgeberin Hilke Rebenstorf erschien nicht nur ohne direkten Bezug auf das Gesamtprojekt (und in einem anderen Verlag) und ohne jeden Verweis auf die Schriften des Mitherausgebers des Sammelbandes Wilhelm Bürklin, sondern unternahm weitaus umfangreichere methodische Anstrengungen als zuvor geleistet. 16 ) Hoffmann-Lange: Eliten in der Demokratie, S. 11; dies.: Wer gehört zur Machtelite der Bundesrepublik?

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hatte, 17 ) sondern bedienten sich eines eher schlichten positionalen Ansatzes, der zwar in der Lage ist, auf relativ einfachem Wege ein Untersuchungssample zu generieren, durch die Vorabfestlegung der Positionen, über die Daten erhoben werden, 18 ) die Leitfrage „Wer gehört zur Machtelite der Bundesrepublik?" aber schon vor Beginn der empirischen Arbeit beantwortet und damit die Forscher in Gefahr bringt, einem Zirkelschluss zu erliegen. 19 ) Diese von Politikwissenschaftlern erarbeiteten Studien zielen - abgesehen von den zitierten polemisch-publizistischen Leitfragen - vor allem auf die politischen Einstellungen nationaler Entscheidungsträger sowie unter dem Stichwort „Elitenkonsens" auf die, aus dem alten Problem des Verhältnisses zwischen Demokratie und „Eliten" erwachsene Frage nach den Spielräumen für Konsens und Konflikt innerhalb des politischen Systems. Konzeptionell stützte sich dabei vor allem Hoffmann-Lange bemerkenswerterweise vor allem auf die eher antidemokratischen Theorien von Lowell Field und John Higley.20) Bei ihrer Konzentration auf die Inhaber von Herrschaftspositionen thematisierten die verschiedenen Autorenteams um Rudolf Wildenmann bis 1981 den Aspekt der Auslese, aus dem sich das Wort „Elite" immerhin ableitet, nur ganz am Rande. Die Rekrutierung der „Elite" oder „Eliten" stand also ganz im Hintergrund. Das änderte sich erst mit der „Potsdamer Elitestudie" der 1990er Jahre, die sich vor allem in den Beiträgen von Hilke Rebenstorf durch einen deutlich erhöhten methodischen Aufwand auszeichnet. 21 ) Es ist verhältnismäßig leicht, die Leerstellen dieses rund dreißig Jahre lang die empirische Elitenforschung in der Bundesrepublik unangefochten dominierenden Traditionsstranges auszumachen: Die Kämpfe zwischen den einzelnen Elitegruppen um die kollektiv erzeugten Profite wurden ebenso wenig thematisiert wie die Auseinandersetzungen zwischen Individuen auf dem Weg in die Elite; trotz der in der „Potsdamer Elitestudie" intensiven Beschäftigung mit den Kategorien Pierre Bourdieus unternahmen die Autoren keine Anstrengungen, den im Begriff des symbolischen Kapitals zusammengefassten Überlegungen zur Gewichtung der verschiedenen Kapitalsorten zueinander nachzugehen, was es ermöglicht hätte, eben jene Konflikte systematisch zu untersuchen. (Vermutlich ist dies die Folge der Fokussierung der Forschungen auf politisch definierte Macht.) Vor allem aber fand die Abgrenzung der „Elite" in ihrer sozialen Praxis gegenüber dem Rest der Gesellschaft zu wenig Beachtung; es blieb bei einer Beschreibung der Elite „auf dem Papier". 22 ) Aus 17

) Mills: Power Elite. ) Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt, S. 86-90. 19 ) Es macht die Sache nicht besser, dass Hoffmann-Lange zur ausführlichen Erläuterung ihrer Methode ausgerechnet auf ein unveröffentlichtes Manuskript verwies. HoffmannLange: Eliten, Macht und Konflikt, S.86. 20 ) Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt, S. 19-34; Field und Higley: Eliten; vgl. auch die Einleitung von Dieter Ciaessens, ebd., S.7-11. 21 ) Rebenstorf: Politische Klasse, S. 114-76; dies.: Karrieren; Welzel: Rekrutierung. 22 ) Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen"; ders.: Wie eine soziale Klasse entsteht. 18

Einleitung

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diesem Grund, und weil die politische Macht der Elite in der Bundesrepublik a priori als demokratisch und damit legitim angesehen wurde, blieben auch Reflexionen darüber, mit welchen Mitteln die Elite ihre Herrschaft aufrecht erhält und ihre Interessen durchsetzt und wie sie die Kontrolle über die Institutionen zu ihrer eigenen Reproduktion aufrecht erhält, ausgespart. Bekanntlich waren bereits in den 1960er Jahren Überlegungen angestellt worden, als zentralen Indikator für die Macht von Eliten in demokratisch verfassten Sozialstaaten das Ausmaß anzusehen, in dem ihnen die Absicherung der ungleichen Verteilung von Besitz und Einkommen gelingt. 23 ) Die Mannheimer Elitestudien griffen diese Überlegungen jedoch nicht auf. Der Modus ihrer Darstellung blieb derjenige der Evidenz: Die Existenz der Elite ist fraglos und selbstverständlich, die ungleiche Verteilung sozialer Macht ebenso. Die politikwissenschaftliche Eliteforschung besaß damit offensichtlich die Funktion, den Elite-Glauben, den Glauben an die Existenz (und die Notwendigkeit) der Elite zu bestärken. In der Perspektive der vorliegenden Untersuchung verblieben ihre Protagonisten damit auf einer vorkonstruktivistischen, ja sogar vorkritischen Ebene. Bemerkenswerterweise dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis sich an diesem insgesamt eher konservativen 24 ) Strang der Eliteforschung empirisch erhärtete Kritik entzündete. Diese verbindet sich vor allem mit den bahnbrechenden Studien Michael Hartmanns, der zur Mitte der 1990er Jahre mehrere Studien über wirtschaftliche Führungskräfte (zunächst Juristen und Informatiker) veröffentlichte, darunter 1996 eine teilweise auf einer Neuauswertung von Daten aus der „Mannheimer Elitestudie" von 1981 beruhende Monographie über die Rekrutierung von Spitzenunternehmern. 25 ) Das zentrale intellektuelle Anliegen Hartmanns lässt sich sicher in dem Versuch erkennen, das Moment der Leistungsauslese, das seit den 1960er Jahren unter Verweis auf die systemnotwendige Bedeutung von Leistung und Erfolg das zentrale Element der Rechtfertigungslogik für die sozial hochselektive Besetzung von Spitzenpositionen darstellt, als Ideologie zu demaskieren, wie es im Titel einer seiner Folgeveröffentlichungen zum Ausdruck kommt. 26 ) Zu diesem Zweck untersuchte er zunächst quantifizierend ein Sample von Spitzenunternehmern nach ihrer sozialen Herkunft und führte parallel dazu qualitative Interviews mit Spitzenmanagern und Personalberatern. Hartmanns empirische Ergebnisse sind ernüchternd für alle diejenigen, die auf einen verbreiterten Zugang zu den ökonomischen Spitzenpositionen angesichts der Bildungsexpansion

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) Vgl. dazu Bottomore: Elite, S. 40/41; Hartmann·. Mythos, S. 177. ) Um an dieser Stelle nicht politisch zu argumentieren, sei nur auf den Finanzier der Elite-Studie von 1972 sowie auf die Veröffentlichungsorte einiger Gelegenheitsschriften dieser Autoren hingewiesen. So publizierte Ursula Hoffmann-Lange 1986 einen Beitrag über „Aufstiegsbedingungen in die Elite" in einem von Konrad Adam herausgegebenen Sammelband der Hans Martin Schleyer-Stiftung, Wilhelm Bürklin 1993 über „Wertewandel" in einem Band der Hanns-Seidel-Stiftung. 25 ) Hartmann: Topmanager. 26 ) Hartmann·. Mythos, bes. S. 15-20. 24

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der 1970er Jahre und der angenommenen fortschreitenden Durchsetzung meritokratischer Gesellschaftsprinzipien hoffen: Die deutschen Topmanager der 1990er Jahre rekrutieren sich zu über 60% aus dem „gehobenen Bürgertum", jeweils weitere rund 10% stammen aus Familien anderer Selbständiger und gehobener Beamter. 27 ) Hartmann gelangte zu dem Schluss, dass bei der sozial exklusiven Auswahl für die unternehmerischen Spitzenpositionen der klassenspezifische Habitus des Bürgertums mindestens prämiiert werde, wenn nicht sogar von ausschlaggebender Bedeutung sei. 28 ) In zwei weiteren Schritten untersuchte Hartmann zunächst auf breiter empirischer (prosopographischer) Grundlage die Herkunft und privatwirtschaftlichen Laufbahnen promovierter Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 und stellte sodann anhand der Sekundärliteratur Vergleiche über die soziale Selektivität der Bildungssysteme in den USA, Frankreich, Großbritannien, Japan und der Bundesrepublik an. 29 ) Mit den Ergebnissen seiner Studien, die er auch in zahlreichen Aufsätzen publizierte, repräsentiert Hartmann heute zweifellos die Spitze einer ebenso kritischen wie methodisch avancierten empirischen Sozialforschung der bundesdeutschen „Eliten". Allerdings changiert Hartmanns Elite-Begriff zwischen dem Konzept einer breiteren „Herrschenden Klasse" und einer enger definierten „Funktions-Elite". Obwohl Hartmann insgesamt den Klassen-Begriff vorzieht, 30 ) dürfte ihm die Verwendung des Elite-Begriffs doch jene Aufmerksamkeit gerade wirtschaftspublizistischer Medien sichern, die zu seiner großen Präsenz in der gegenwärtigen Elite-Diskussion beigetragen haben. Obwohl Hartmann damit über ein empfindlicheres Sensorium für die semantische Ebene unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnungsbegriffe wie „Leistungsgesellschaft" und „Klassengesellschaft" verfügt und allenthalben Termini wie „Ideologie" und „Credo" verwendet, thematisiert auch er die Frage, aus welchen Gründen der soziale Glaube an die Existenz einer nach Leistungsgesichtspunkten auserlesenen „Elite" weit verbreitet ist, nicht beziehungsweise lediglich ideologiekritisch in der Denkfigur des Gegensatzpaares wahr-unwahr. Die Warnung, die Hans-Gerd Schumann bereits 1980 in einem klugen, von der deutschen Elite-Forschung jedoch weitgehend ignorierten Aufsatz aussprach, dass nämlich „die meisten Elite-Lehren selbst Ergebnisse und Reaktionen auf die Verunsicherung von Standortbestimmungen sozialer Klassen und Schichten darstellen, nicht eigentlich wissenschaftliche Theorie, nämlich systematische Aufarbeitung empirischer Befunde darstellen, sondern Reduktionen fragmentierter sozialer Erfahrungen, Befürchtungen, Wertgefährdungen, also auch ideologische Rechtfertigungen und Verschleierungen sind" 31 )

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) ) 29 ) 30 ) 31 ) 2S

Hartmann: Hartmann·. Hartmann: Hartmann: Schumann:

Topmanager, S. 31/32. Topmanager; ders.: Klassenspezifischer Habitus. Mythos; ders.: Elitesoziologie. Mythos, S. 174-82; ders.: Elitesoziologie, S. 76-107, S. 175-85. Führungsschicht, S.211.

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und dass deshalb diese Erfahrungen, Rechtfertigungen und Erwartungen Teile der mittels des Elite-Begriffs ausgedrückten symbolischen Ordnung darstellen, berücksichtigte auch Hartmann nicht. Hartmanns Arbeiten markieren damit gewissermaßen die Grenze der Möglichkeiten, einen sozialen Glauben herauszufordern, ohne den Weg der Analyse der Produzenten und Verbreiter von Glaubensphänomenen zu beschreiten. Im Übrigen lässt sich als Gemeinsamkeit der wichtigsten Vertreter beider Forschungsstränge die starke Orientierung an den Analysekategorien Pierre Bourdieus, vor allem denjenigen des (ökonomischen und kulturellen) Kapitals und teilweise auch des Habitus-Konzepts feststellen. Diese Einheitlichkeit der Methodensprache erleichtert zweifellos die Verständigung über Forschungsinteressen und -ergebnisse, ablesbar nicht zuletzt an den Überkreuzverflechtungen der Autoren bei Sammelbandveröffentlichungen. Allerdings ist auch festzuhalten, dass diese Rezeptionsweise zu einer „objektivistischen" BourdieuLektüre geführt hat (die nicht wenig an die verkürzte Weber-Rezeption deutscher Historiker in den 1960er und 70er Jahren erinnert), in der die Überlegungen des französischen Soziologen zum Zusammenhang zwischen sozialem Raum und symbolischer Ordnung, zwischen inkorporierten Wahrnehmungsschemata der Akteure, politischer Repräsentationsarbeit und der Genese von sozialen Großgruppen wie „Klassen" keine Rolle spielen beziehungsweise ausdrücklich abgelehnt werden. 32 ) Jüngste sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen markieren über die beiden vorgestellten Positionen hinaus nur geringe konzeptionelle Fortschritte. Gerade die avancierte soziologische Forschung müht sich nach wie vor an der Gegenüberstellung der Konzepte „Klasse" und „Elite" 33 ) und der Klärung von deren Adäquanz. Zwei bemerkenswerte Versuche der Öffnung sollten hier gleichwohl vermerkt werden. So hat Michael Vester vorgeschlagen, durch die Einführung des Durkheim'schen Konzepts der lebensweltlich konstituierten Milieus in die Elite-Debatte aus der mehr politisch als sozialwissenschaftlich fruchtbaren Gegenüberstellung „Elite oder Klasse?" auszubrechen. 34 ) Und Tomke Böhnisch hat auf die Bedeutung der Ehefrauen für die Ausprägung der „oberen Milieus" (Vester) aufmerksam gemacht, denen die Spitzenunternehmer entstammen beziehungsweise in denen sie sich bewegen. 35 ) Beide Beiträge könnten den Blick dafür öffnen, dass „Klassen" und „Eliten" nicht allein aus dem objektivierenden Blick der Sozialwissenschaftler entstehen, sondern durch politische Repräsentationen und besonders durch die Verbreitung politisch-gesellschaftlicher Ideen, eben der

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) Vgl. Hartmann: Elitesoziologie, S. 105-07. ) Stellvertretend seien hier, neben den zitierten Arbeiten von Krais und Hartmann, nur genannt Krais: Zugänge, sowie dies.: Spitzen (in einem Sammelband mit dem sprechenden Titel „Oberschichten - Eliten - Herrschende Klassen"). 34 ) Vester: Ansätze. 35 ) Böhnisch: Gruppenbild. 33

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gedachten Ordnung „Klasse" oder „Elite", weshalb die Kämpfe um die symbolische Ordnung (Bourdieu) Teil der Analyse von „Eliten", ihrer Macht, ihrer Morphologie und ihrer Reproduktion sein müssen. Genau dazu soll diese Studie einen Beitrag leisten. Die jüngste politikwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Elite-Thema stellt angesichts dieses Problemzusammenhangs keinen modelltheoretischen Fortschritt dar. Der von Herfried Münkler mitherausgegebene Sammelband über „Deutschlands Eliten im Wandel" verbleibt in seinen zentralen Fragestellungen im Raum normativen Meinungswissens. So diskutiert der Herausgeber in seinem einleitenden Beitrag das - für ihn offensichtlich fraglos feststehende - zweimalige „Elitenversagen" in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: 36 ) Einmal im Ersten Weltkrieg, als die „Eliten" des Kaiserreichs „nicht in der Lage waren, den Weg zu einem Verhandlungsfrieden zu beschreiten", und zweitens in den frühen 1930er Jahren, als es den Weimarer „Eliten" nicht gelang, die Verfassung gegen deren Feinde zu verteidigen. Schon diese Problemstellung ist offensichtlich unhistorisch, denn beide Male verhielten sich die fraglichen Sozialgruppen nun einmal gemäß der von ihnen selbst definierten Interessen und Weltanschauungen und nicht gemäß der Moral des rückschauenden Betrachters. Man mag die fraglichen historischen Weichenstellungen als verheerend ansehen und die Verantwortlichen moralisch verurteilen; das Verdikt des „Versagens" evoziert die Frage nach dem historischen Maßstab des Handelns. Vor allem aber bleibt der Elite-Begriff selbst ungeklärt; Münkler versucht in seiner konzeptionellen Einleitung zwar, das Konzept der „Leistungselite", wie es sich aus dem funktionalen Elite-Ansatz Hans Peter Dreitzels entwickeln lässt, seines ideologischen Kerns zu überführen. Doch unterschlägt er dabei den zentralen (funktionalistischen) Angelpunkt in Dreitzels Argumentation, dass nämlich „Leistung" der Elite-Angehörigen gar nicht vom Urteil anderer Individuen abhängt, sondern dass die Mitglieder der „Elite" die systemnotwendigen Leistungen erbringen und Werte durchsetzen. Auch wird die Behauptung Münklers, der Elite-Begriff sei in der frühen Bundesrepublik „diskreditiert" und auf eine kleine akademische Nische beschränkt gewesen, 37 ) durch einen Beitrag im gleichen Sammelband dementiert. 38 ) Insofern sind Antworten auf die oben entwickelten Leitfragen von dieser Seite nicht zu erwarten. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich neuerdings bemüht, einen empirisch tragfähigen Elite-Begriff zu entwickeln. 39 ) Dabei zeigen sich die Schwierigkeiten des Methodenimports aus anderen Disziplinen besonders deutlich, etwa wenn die Arbeiten Bourdieus als Studien zu einer erneuerten Elite-The-

36

) ) 38 ) 39 ) 37

Münkler: Nutzen, S. 26-28. Münkler. Nutzen, S. 29/30. Bluhm und Straßenberger: Elitedebatten. Seemann: Eliten(n); Prehn: Deutungseliten - Wissenseliten.

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orie wahrgenommen werden. 40 ) Das Dilemma, einen historischen Elite-Begriff zu konzipieren und gleichzeitig überhistorische Konstanten vorauszusetzen, 41 ) führt offensichtlich tief hinab in die Aporien des Elite-Glaubens. Zu (2): Ideengeschichte als Disziplingeschichte oder zumindest als Geschichte einer akademischen „Schule" zu schreiben, ist sicherlich einer der stärksten historiographischen Trends in der neueren Zeitgeschichtsschreibung 4 2 ) Im Vordergrund stehen dabei einerseits die Fragen nach den biographischen, methodischen und thematischen Wurzeln der westdeutschen Humanwissenschaften in den völkischen beziehungsweise den engeren nationalsozialistischen Kontexten der Weimarer Republik und des Dritten Reichs; andererseits die politisch-ideellen Grundlagen der Bundesrepublik. 43 ) Besonders in der Geschichtswissenschaft wird spätestens seit dem Frankfurter Historikertag 1998 die Frage nach den personellen Kontinuitäten über die Zäsur 1945 hinweg mit der Suche nach den Ursprüngen methodischer Innovationen verbunden. 44 ) Im Fragehorizont der Untersuchung des Elite-Glaubens stellen sich allerdings sehr schnell die Politikwissenschaft und vor allem die Soziologie als weitaus einflussreicher, weil an der Verbreitung dieses Glaubens viel stärker beteiligt heraus als die Geschichtswissenschaft. Auch ist in diesem Fragehorizont die Suche nach personellen Kontinuitäten 45 ) von geringerem Belang als diejenige nach Kontinuitäten und Brüchen in den von der Fachsoziologie produzierten politisch-gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen. Hier ist in erster Linie auf die Untersuchung Paul Noltes über „Selbstentwurf und Selbstbeschreibung" der deutschen beziehungsweise der westdeutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu verweisen. 46 ) Im soziologischen Begriff der „Gesellschaft", der nach 1945 als Kategorie der Beschreibung und Untersuchung ältere Konzepte wie „Volk" oder „Masse" abgelöst habe, versucht Nolte den Nachweis zu führen, dass die Entideologisierung der Fach40

) Bourdieu hat selbst klargestellt, dass der Elite-Begriff eine selbstlegitimatorische Bezeichnung des „Staatsadels" darstellt und einen sozialen Glauben bezeichnet. Bourdieu·. Staatsadel, S. 382-88. 41 ) Prehn: Deutungseliten - Wissenseliten, S. 29/30. 42 ) Eine frühere, in ihrer Verbindung von lebensweltlich-biographischen Skizzen und disziplin- beziehungsweise ideengeschichtlichen Werkanalysen äußerst anregende Studie dieser Art ist Wiggershaus: Frankfurter Schule. 43 ) Exemplarisch Albrecht: Gründung; Hacke: Begründung. 44 ) Vgl. die auch im Internet (unter dem Titel „Fragen, die nicht gestellt wurden") veröffentlichte Interview-Reihe mit fast 20 namhaften Historikern aus dem Umkreis des von Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle herausgegebenen Sammelbands „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus"; sowie als Auswahl die Arbeiten von Etzemüller. Sozialgeschichte; Oberkrome: Volksgeschichte; Chun: Moderne; Eckel: Transformationen; Berg: Lesarten; als Polemik Mommsen: Kontroversen; schon früher Schulze: Geschichtswissenschaft. 45 ) Vgl. die Beiträge in dem von Günther Lüschen herausgegebenen Sammelband „Deutsche Soziologie nach 1945" sowie die zahlreichen Aufsätze von Karl-Siegbert Rehberg und von Carsten Klingemann. 46 ) Nolte: Ordnung.

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Soziologie, der Verzicht der Soziologen auf die Orientierung an utopischen Entwürfen wesentlich zur Stabilität der Bundesrepublik und zum Gelingen der zweiten deutschen Demokratie beigetragen habe. Dieser Argumentationsgang ruft allerdings einige Probleme auf. 47 ) Zunächst ist der Befund der „Entideologisierung" in Zweifel zu ziehen: Wie Michael Hochgeschwender in seiner Studie über den Kongress für Kulturelle Freiheit gezeigt hat, handelte es sich bei der These vom „Ende der Ideologien" um ein internationales ideengeschichtliches Phänomen, 48 ) dessen Propagandisten sich von Anfang an dem Vorwurf ausgesetzt sahen, lediglich eine neue Ideologie zu verbreiten. Im Übrigen impliziert die Annahme eines „Abschieds von der Utopie" die Vorstellung, die westdeutschen Sozialwissenschaften hätten nach 1945 auf ihre zeitdiagnostischen, sozialphilosophischen und allgemein gesellschaftspolitisch orientierenden Ansprüche zugunsten einer gewissermaßen reinen und professionellen, vorzugsweise streng empirisch verfahrenden Sozialforschung verzichtet. Zweifellos existierte das Programm einer „reinen Soziologie", wie es von Rene König verfochten wurde. Doch auch König schrieb nicht nur für Fachsoziologen, sondern wandte sich immer wieder selbst an eine „gebildete Öffentlichkeit" und nahm damit Orientierungsfunktionen wahr. Und nicht umsonst ist nicht König, sondern Helmut Schelsky der heimliche Held in Noltes Darstellung. Von diesem übernimmt Nolte unter anderem die Feststellung, dass sich die westdeutsche Gesellschaft von einer Klassen- zur Nivellierten Mittelstandsgesellschaft gewandelt habe, dass der Klassenbegriff nicht mehr zur Analyse und Beschreibung dieser Gesellschaft tauge, und wertet diese Befunde als Faktoren der Auflösung destruktiver sozialer Spannungen. Dagegen muss jedoch eingewandt werden, dass Schelsky mit seiner Propaganda gegen den Klassenbegriff ein dezidiert politisches Programm verfolgte. Mit anderen Worten: Nolte, der die Absicht verfolgt, eine intellectual history der Soziologie 49 ) zu schreiben, interpretiert die politisch-gesellschaftlichen Äußerungen des Soziologen dort als feststehende empirische Befunde (was ganz sicher in Schelskys Absicht gelegen hatte), wo eine ideengeschichtliche Kontextualisierung derartiger Aussagen und der hinter ihnen stehenden politischweltanschaulichen Strategien notwendig gewesen wäre. In dieser Hinsicht waren für die vorliegende Untersuchung einerseits Studien von Pierre Bourdieu über die Genese des Literarischen Feldes in Frankreich leitend, andererseits Arbeiten, die sich mehr oder weniger direkt auf Bourdieus Konzepte beziehen, etwa von Joseph Jurt, und die dabei verschiedene Teile des Literarischen und des Intellektuellen Feldes im 20. Jahrhundert in den Blick nehmen. 50 ) Hier werden vorbildlich belletristische und zeitkri-

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) Dass Noltes Buch bei zahlreichen Rezensenten auf Bedenken stieß, vermerkt van Laak'. Soziologie, S.426. 4S ) Hochgeschwender: Freiheit, S. 534-47. 49 ) Nolte: Ordnung, S. 16. 50 ) So etwa Jurt: Das Literarische Feld; Pinto und Schultheis (Hg.): Streifzüge.

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tische Texte in ihre literarischen, intellektuellen und sozialen Kontexte gestellt und die Strategien der Autoren, aus denen diese Texte hervorgingen, rekonstruiert. In diesen Zusammenhang gehören auch Überlegungen Lutz Raphaels, die „Weltanschauung" des Nationalsozialismus als „ein politisch kontrolliertes, aber intellektuell offenes Meinungsfeld aufzufassen", in dem auch nach 1933 keine „Kanonisierung der parteieigenen Ideologie" erfolgte und in dem auch keine Orthodoxie existierte, die „den unterschiedlichen weltanschaulichen Kontrollinstanzen Beurteilungskriterien und Entscheidungskompetenz übertragen hätte". 51 ) Alle diese Untersuchungen thematisieren ausdrücklich die Kämpfe zwischen Akteuren in unterschiedlichen Feldern kultureller Produktion, ihre Interessen und Profitmöglichkeiten (die nicht eng materiell definiert werden dürfen), kurz, sie dienen als Vorbilder für eine Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen. In diesen Zusammenhang gehört auch die umfangreiche Monographie Christoph Weischers, die exemplarisch den Aufstieg der empirischen Sozialforschung in ihren institutionellen Einbindungen, ihren Praktiken und Leitbildern untersucht. 52 ) Weniger vielversprechend erscheinen demgegenüber die Versuche, Ideengeschichte auf eher traditionelle Weise als weitgehend entkontextualisierte intellektuelle Biographie zu schreiben. Selbst Volker Kruse, der mit seiner Arbeit über einige der letzten Vertreter der geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie (Eduard Heimann, Alfred von Martin und Hans Freyer) ein solches Verfahren gewählt hat, verspricht sich bezeichnenderweise davon weniger einen Zugewinn an Wissen über die Ideenlandschaft der Nachkriegszeit, in der die Zeitdiagnosen jener Wissenschaftler angesiedelt sind, oder über die Genese ihrer Ideen, sondern vielmehr eine Wiederbelebung deren zeitdiagnostischen, gesellschaftsdeutenden Potenzials zum Nutzen der gegenwärtigen Fachsoziologie. 53 ) Ähnliches gilt für die Arbeit von Christian Thiess, der Ideen Theodor W. Adornos und Arnold Gehlens zum besseren Verständnis unserer Gegenwart aufbereitet hat. 54 ) Für die Beantwortung der oben entwickelten Leitfragen fehlt diesen Ansätzen gerade die akteursorientierte Dimension, die das intellektuelle Handeln der fraglichen Wissenschaftler in den historischen Kontext einbettet und die Logik ihrer intellektuellen und wissenschaftlichen Produktion rekonstruiert. Zu (3): Auch wenn bereits darauf hingewiesen wurde, dass es sich weder beim Elite-Glauben noch bei den verschiedenen Elite-Theorien um ein genuin oder exklusiv konservatives Gedankengut handelt, so ist doch festzustellen, dass der Elite-Begriff nach 1945 in Westdeutschland hauptsächlich von konservativen Intellektuellen aufgegriffen und verwendet wurde und dass er in erster Linie einen Wandel des konservativen Denkens und Deutens ausdrückte. 51

) ) 53 ) 54 ) 52

Raphael: Ordnungsdenken, S. 28-30. Welscher. Empirische Sozialforschung. Kruse'. Zeitdiagnosen. Thiess: Krise.

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Die moderne ideengeschichtliche Konservatismus-Forschung beginnt in Deutschland mit der bahnbrechenden Studie Karl Mannheims über das Entstehen und die sozialen Träger des „Altkonservatismus" der Restaurationszeit, die erstmals 1927 in Teilen veröffentlicht wurde. Mannheim hat in seiner Untersuchung des „Altkonservatismus" gleich mehrere wegweisende Analyseoperationen vorgenommen. Wie wenige Jahre später Ludwik Fleck spricht Mannheim von einem (konservativen) „Denkstil", dessen innere Einheit und „Bauprinzip" er zu rekonstruieren versucht. 55 ) Methodisch will er dabei nicht „von einem geschriebenen Buch zum anderen" gehen, sondern den spezifischen „Erfahrungszusammenhang" entwickeln, aus welchem die Texte der konservativen Autoren hervorgingen. Das Ziel besteht im Nachweis des „seinsgebundenen Charakter(s) allen Denkens". 56 ) Mannheim nahm einerseits mit seiner Gegenüberstellung des liberalen und des konservativen Denkens, in welcher er zwischen dem auf ein abstraktes System hinzielenden liberalen Denkstil und der aufs Konkrete und den Einzelfall sich richtenden konservativen Denkweise unterscheidet, eine inhaltliche Bestimmung dieser Denkrichtungen vor. Andererseits legte er mit der Denkfigur, dass das konservative Denken als reflexiv gewordener Traditionalismus (damit meinte er das bloße Festhalten am Althergebrachten) entstanden sei, die Grundlagen für einen relationalen Konservatismus-Begriff. 57 ) Die neuere Konservatismusforschung, die zunächst hauptsächlich von Politikwissenschaftlern betrieben wurde, hat dieses Reflexionsniveau nicht zu halten vermocht. Teils dürfte der Grund dafür in den anders gearteten Systematisierungsinteressen zu suchen sein, etwa in Kurt Lenks Studie, die chronologische und typologische Raster vereint und kreuzt. 58 ) Die soziale Grundierung des konservativen Denkens, seine „Seinsgebundenheit" (Mannheim) geht dabei allerdings verloren, so dass zwar die Topoi konservativer Meisterdenker (Massenmachiavellismus, totaler Staat, Sekundäre Systeme) präzise geordnet und aufgeschlüsselt werden, aber die Logik ihrer intellektuellen Produktion im Dunkeln bleibt und damit auch die Frage nach der sozialen Reichweite ihrer Ideen und den Gründen für ihren tatsächlichen Erfolg auf dem Markt der Meinungen. Am Ende erscheinen jene Topoi nur noch als eine unbewegte Struktur aufeinander verweisender „Konstanten" konservativen Denkens. Andere Ursachen für das relativ geringe Methodenbewusstsein der politikwissenschaftlichen Konservatismusforschung dürften ebenfalls in deren spezifischen Fragehorizonten liegen. Vor allem sich als kritisch verstehende Wissenschaftler scheinen in den 1970er Jahren versucht zu haben, in einem politisch-intellektuellen Zirkelschluss konservative Wissenschaftler, Publizisten und Politiker des Konservatismus zu überführen. So hat sich Helga Gre55

) ) 57 ) 58 ) 56

Mannheim·. Konservatismus, S.53. Mannheim·. Konservatismus, S.47. Mannheim·. Konservatismus, S. 92-98, S. 109-36. Lenk: Konservatismus.

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bing in ihrer verdienstvollen und sehr materialreichen Studie um den Nachweis der bleibenden Demokratiefeindlichkeit des westdeutschen Konservatismus bis etwa 1970 bemüht. Dabei sind jedoch notwendige Differenzierungen auf der Strecke geblieben: zwischen einflussreicheren und unbekannten Autoren, zwischen verschiedenen Textgattungen und zwischen unterschiedlichen Strömungen des Konservatismus, die vielleicht nicht alle gleichermaßen der Demokratie ablehnend gegenüber standen. 5 9 ) Zwischen diesen beiden Ansätzen bewegt sich die bekannte Studie von Martin Greiffenhagen, der mit Lenks Buch die Kombination chronologischer und typologischer Abschnitte teilt, weshalb sich die Kapitelüberschriften teilweise recht ähnlich lesen. 60 ) Beide Bücher besitzen dadurch auch große Handbuchqualitäten. Analog zu Grebings Arbeit läuft bei Greiffenhagen der politische Impuls in Form der Ideologiekritik, der den „Aufweis eines spezifisch deutschen Dilemmas: der Unmöglichkeit, in der bisherigen Weise konservativ zu sein", zum Ziel hat und damit zusammenhängend „versucht eine Theorie konservativen Denkens in Deutschland" zu entwickeln. 61 ) Letztlich tendiert diese anregende Arbeit jedoch dazu, die Logik der Sache (des konservativen Denkens) mit einer Sache der (epistemischen) Logik zu verwechseln, wenn sie den Autoren gedanklich Inkonsequenzen und argumentative Brüche nachweist, anstatt der praktischen Logik von Produktion und Verbreitung konservativer Ideen nachzugehen. Alle drei Studien vernachlässigen jedoch sowohl die sozialhistorische Dimension politisch-intellektueller Arbeit als auch durch ihren ideologiekritischen Ansatz die Frage nach der jeweiligen Attraktivität konservativer Denkfiguren für bestimmte Gruppen in verschiedenen historischen Epochen. In genau dieser Richtung hat zuletzt Jerry Z. Muller weitergearbeitet, indem er den Prozess der Entradikalisierung des deutschen Konservatismus nach 1945 am Beispiel Hans Freyers nachgezeichnet hat, ohne sich dabei allerdings mit der wichtigsten Gegenposition (derjenigen Grebings) auseinanderzusetzen. 62 ) Schließlich hat weitere zehn Jahre später Axel Schildt eine Überblicksdarstellung des „Konservatismus in Deutschland" vorgelegt, die in mancherlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Lenks und Greiffenhagens Arbeiten darstellt. 63 ) Schildt zeichnet nicht nur ein differenziertes Bild der unterschiedlichen konservativen Strömungen nach 1945, ihm gelingt auch der Brückenschlag zwischen der intellectual history konservativer Ideen und der Geschichte der politischen Parteien. Allerdings werden weder die Bedingungen deutlich, unter denen in der frühen Nachkriegszeit Spielarten des Konservatismus zu dominieren vermochten, deren intellektuelle Reizlosigkeit offenkundig war

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) Grebing: Konservative. ) Greiffenhagen: Dilemma. 61 ) Greiffenhagen: Dilemma, S. 22/23, S. 11/12. 62 ) Muller: God. 63 ) Zu Schiidts Kritik an Lenk und Greiffenhagen vgl. ders.: Konservatismus, S. 17/18; zur Kritik an Grebing S.212. 60

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(und über die sich Schildt entsprechend mokiert), und aus welchen Gründen sich bis Mitte der 1950er Jahre die Denkfiguren eines „modernisierten", „technokratischen" Konservatismus durchsetzen konnten. Schließlich bleiben die Umstände der meines Erachtens zu recht als „zweite große Neuorientierung des deutschen Konservatismus" (nach dessen Friedensschluss mit der parlamentarischen Demokratie) apostrophierten Amalgamierung mit dem ökonomischen Neoliberalismus im Dunkeln. Das „Elite-Problem" taucht in allen diesen Arbeiten allenfalls am Rande auf, obwohl dieses Phänomen, wie zu zeigen sein wird, für die Entwicklung des Nachkriegskonservatismus eine außerordentlich große Rolle gespielt hat. 64 ) Dies liegt vermutlich an dem Umstand, dass die Autoren den Gegenstand „Elite" für ein rein sozialwissenschaftliches Instrument der Klassifikation halten und - im Gegensatz zu den „Massen", dem „technischen Staat" oder der „organischen Konstruktion" nicht für ein Meinungsphänomen. Insofern stellt die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zur Ideengeschichte des deutschen Konservatismus dar. Zu (4): Bei der Erforschung des Transfers von Ideen aus den Vereinigten Staaten und allgemeiner aus den westlichen Gesellschaften nach Deutschland, der unter den Begriffen „Amerikanisierung" beziehungsweise „Westernisierung" gefasst worden ist, treten vier recht unterschiedliche Perspektiven hervor. Zunächst steht „Amerikanisierung" für den Problemzusammenhang der Hoffnungen, vor allem aber der Ängste der Zeitgenossen, dass sich unter dem ökonomischen und soziokulturellen Einfluss der Vereinigten Staaten traditionelle Bindungen und Vorstellungen auflösen könnten: Bindungen zwischen den Geschlechtern und an bestimmte ethische Normen und soziale Verhaltensweisen, Vorstellungen über den Vorrang der Ideen vor materiellen Interessen und so weiter. 65 ) Die zweite, etwas engere, nichtsdestoweniger in der Forschung heftig umstrittene Perspektive begreift „Amerikanisierung" als Ausdruck für die verschiedenen mittelbaren und unmittelbaren US-amerikanischen Einflüsse auf deutsche Unternehmen und Unternehmer, aber auch auf die gesamte Wirtschaftsordnung. 66 ) Eine dritte Perspektive verbindet sich mit dem in Tübingen entwickelten Konzept der „Westernisierung", das den transatlantischen Ideentransfer zum einen grundsätzlich in unterschiedliche Richtungen thematisiert, zum anderen im Wesentlichen auf strategische Einflussgruppen fokussiert, 67 ) die diesen Transfer bewerkstelligten, und schließlich M

) Das gilt auch für die neuere Übersichtsdarstellung von Schildt: Konservatismus. ) Vgl. Lüdtke et al. (Hg.): Amerikanisierung; Saldern: Überfremdungsängste. β6) Hier ist in erster Linie an die Arbeiten Volker Berghahns zu denken, vgl. Berghahn: Reconstruction; ders.: Amerikanisierung; ders.: Conceptualizing. Heftige Kritik von Erker: „Amerikanisierung"; abgewogen jetzt Kleinschmidt: Der produktive Blick; ders.: Comment/Section Labor Relations; vorsichtig skeptisch Bühren Weg. 67 ) Insofern tut die Ankündigung, mit der Untersuchung „transatlantischer Mittler" würde nun ein neuer akteursorientierter Zugang gewählt, der Tübinger Westernisierungsforschung ein wenig Unrecht, zumal sich der versprochene akteursorientierte Ansatz im Sammelband von Bauernkämper et al. im Wesentlichen als konventionelle biographische 65

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eine relativ eng umrissene historische Phase der Westernisierung vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der 1960er Jahre untersucht hat.68) Viertens wird der vage Terminus „der Westen" spätestens seit 1990 als affirmative Umschreibung eines virtuellen Raumes verwendet, in welchen die Geschichte der Bundesrepublik oder sogar die neuere deutsche Geschichte überhaupt teleologisch mündet oder münden sollte; beispielhaft für diese Perspektive sind sprechende Titel wie „Der lange Weg nach Westen" oder „Ankunft im Westen".69) Gemeinsam ist diesen Beiträgen, die Geschichte der Bundesrepublik als „Erfolgsgeschichte" zu betrachten, wobei der „Erfolg" in der Realisierung von parlamentarischer Demokratie und freiheitlicher Grundordnung und häufig auch in der Annahme des Endes des „deutschen Sonderwegs" besteht (nicht umsonst wird die „Ankunft" im „Westen" mit der deutschen Wiedervereinigung gleichgesetzt).70) In mancherlei Hinsicht handelt es sich bei dieser Perspektive um eine Umkehrung (oder Bestätigung) der erstgenannten, denn was Zeitgenossen zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik von den amerikanischen Einflüssen befürchteten (und wenige erhofften) - wie „Massenkultur" und Massendemokratie -, wird nun zum Maßstab der Überwindung vormoderner Überhänge und des Schleifens antidemokratischer Barrieren gewählt.71) In dieser Perspektive ideengeschichtlich argumentierende Untersuchungen verbinden mit der „Amerikanisierung" das Ende der „elitären" geisteswissenschaftlichen Orientierung in den Humanwissenschaften und der Publizistik in Deutschland (gewissermaßen einen verspäteter Niedergang der deutschen Mandarine), 72 ) während die Mentalitäts- und Kulturgeschichte den Abbau rigider Verhaltensnormen, die Entformalisierung der Lebensweisen und die Ausprägung eines zivilen Habitus in den Vordergrund stellt.73) Methode entpuppt. Bauernkämper et al.: Einleitung, S. 24/25. Vgl. die Beiträge von Jarausch (Amerikanische Einflüsse), Forner (Sprachrohr), Payk („Amerikakomplex"), Moore (Heimat) und Bauernkämper (Demokratie) in diesem Sammelband. ®) Die klassischen Veröffentlichungen sind Doering-Manteuffel: Dimensionen; Hochgeschwender. Freiheit; Sauer: Westorientierung; Kruip: „Welt"-„Bild" (mit einer guten Abgrenzung von „Amerikanisierung" und „Westernisierung", S. 19-33); Angster. Konsenskapitalismus; zusammenfassend Doering-Manteuffel: Wie westlich (vgl. dort die Bemerkungen zur den zeitlichen Zäsuren, S.5-19). 69 ) Winkler: Der lange Weg nach Westen Bd. 1 und Bd. 2; Schildt: Ankunft im Westen. Heftige Kritik an Winkler und dessen Verwendung des Terminus „Westen" als „historische Leerformeln" übte Geiss: Deutsche Geschichte. Auch wo die entsprechenden Untersuchungen diese Perspektive nicht unbedingt einnehmen, werden sie derart wahrgenommen. Vgl. die Sammelrezension von Christof Mauch: Westen. 70 ) Vgl. neben dem zweibändigen Werk von Winkler auch Tenfelde: 1914-1990; Jarausch: Umkehr, S. 137-203. Das Buch von Schildt „Ankunft im Westen" trägt den Untertitel: „Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik" (Hervorhebung von M.R.). 71 ) In diesen Zusammenhang gehören auch die meisten Beiträge in den Sammelbänden von Bude und Greiner (Hg.): Westbindungen; und Bauernkämper et al. (Hg.): Demokratiewunder. 72 ) Beispielhaft dafür ist Ermarth: „Amerikanisierung"; ders.: The German talks back. 73 ) Exemplarisch Maase: Amerikanisierung; ders.: BRAVO Amerika.

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Die Forschungen zur Amerikanisierung oder Westernisierung der deutschen Gesellschaft haben das Wissen über die deutsche Wirtschafts-, Ideenund Kulturgeschichte enorm vertieft. Insofern liegt die Frage nach amerikanischen oder anderen „westlichen" (französischen oder englischen) Einflüssen auf die Ausprägung des Elite-Glaubens in der Bundesrepublik nahe. Es kann jedoch bereits an dieser Stelle konstatiert werden, dass sich für die 1950er Jahre ein solcher Einfluss nicht feststellen lässt. Diese einzige Quelle, mit dem sich ein solcher Einfluss belegen ließe, ein Buch des in Westdeutschland durchaus bekannten amerikanischen Soziologen James Burnham 74 ), beeinflusste in diesem Jahrzehnt die westdeutschen Diskussionen so gut wie gar nicht. Im Abschnitt über die Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" Eliten-Modelle während der 1950er Jahren wird den Ursachen dafür im Einzelnen nachgegangen. Auf den zweiten Blick wird jedoch verständlich, warum es sich bei diesen Diskussionen zunächst um eine intellektuelle „Nabelschau" westdeutscher Publizisten und Wissenschaftler handelte: Zunächst sahen diese sich vor die Aufgabe gestellt, aus eigenen Traditionen eine neue Rechtfertigungslogik für die politische und soziale Ordnung der Bundesrepublik zu entwerfen, so dass der Blick auf ausländische Modelle und Theorien erst verhältnismäßig spät - zu Beginn der 1960er Jahre - erfolgte, dass heißt zu einem Zeitpunkt, als die Grundlagen für die Dominanz der Elite-Doxa bereits gelegt waren. Wollte man dagegen die modernisierungstheoretisch imprägnierte teleologische Linie der Zeitgeschichtsforschung an dieser Stelle fortsetzen, so gerieten die ideengeschichtlichen Ambivalenzen, die mit der Durchsetzung des Elite-Glaubens in der Bundesrepublik verbunden waren, sehr schnell aus dem Blick. Zu (5): Die Forschungen zur „Liberalisierung" von Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik sind mindestens ebenso sehr von modernisierungstheoretischen Vorannahmen 75 ) geprägt wie die Amerikanisierungs-Debatten, 76 ) was in diesem Ausmaß jedoch nicht unbedingt für den Westernisierungs-Ansatz gilt. Damit stellt sich die Frage, welche Triebkräfte für die „politischen Umorientierungsprozesse" der „Fundamentalliberalisierung" (Herbert) verantwortlich waren und welche Zäsuren in diesem Prozess auszumachen sind. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nur eine Minderheit der Freiburger Arbeiten, die dem Liberalisierungs-Ansatz verpflichtet sind, ideengeschichtliche Absichten verfolgen. Obwohl Dirk Moses nicht unmittelbar der Freiburger LiberalisierungsGruppe zugerechnet werden kann, hat er mit seiner These, dass es die Generation der „45er" gewesen sei, der die Bundesrepublik ihre Stabilität wie ihren unbezweifelbar demokratischen Charakter verdankt, deren Forschungen nachhaltig beeinflusst. Diese Generation der während der 1920er und frühen 30er Jahre Geborenen habe zu Unrecht den Vorwurf der „68er" auf sich gezo74

) Burnham: Machiavellisten. ) Explizit bei Herbert: Liberalisierung, S. 12/13. 76 ) Gassert: Amerikanismus, bes. S. 537/38. 75

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gen, der Demokratie(sierung) in der Bundesrepublik eher im Wege gestanden zu haben. 77 ) Umgekehrt wird damit die Bedeutung der „68er" als zweiter Gründungsgeneration der Bundesrepublik, die erst die Demokratie in der westdeutschen Gesellschaft verankert habe, stark relativiert. Dieser These hat sich vor allem Christina von Hodenberg in ihren Untersuchungen über die „Massenkommunikationsöffentlichkeit" des politischen Journalismus zwischen 1945 und 1973 angeschlossen. Hodenberg kommt darin zu dem Ergebnis, dass die journalistische Praxis einer kritischen politischen Berichterstattung - zentraler Bestandteil jeder Repräsentativverfassung - sich in der Bundesrepublik erst im Verlauf der 1960er Jahre ausgebildet habe und dass es die Generation der 45er war, die diese Praxis gegen das eher quietistische Selbstverständnis des „Konsensjournalismus" durchsetzte, nachdem sie um 1960 begann, die Entscheidungspositionen im journalistischen Feld zu infiltrieren. In ihrem Verständnis von politischer Öffentlichkeit fielen dagegen die Repräsentanten der 68er Generation in „antiliberale und der Kulturkritik ähnliche Denkmuster zurück". 78 ) Als „Kernzeit des kulturellen Wandels in der Bundesrepublik" sieht Hodenberg dabei die „langen 60er Jahre", geteilt in die „Aufbruchsjahre" zwischen 1957 und 1965 und die „Protestjahre" von 1966 bis zum Ende ihres Untersuchungszeitraums. 79 ) Die Jahre 1965/66 bilden damit den Scheitelpunkt dieser „Kernzeit": Danach glaubten die 45er (und mit ihnen Hodenberg), ihre demokratischen Errungenschaften gegen die Wiederkehr antidemokratischer Bewegungen verteidigen zu müssen. Allerdings bestätigt das andere Freiburger ideengeschichtliche Projekt diese Chronologie nicht. Moritz Scheibe gelangt in seiner Erforschung der Ausbreitung partizipatorischen Gedankenguts zu dem Ergebnis, dass der Prozess der „Demokratisierung der Gesellschaft" zwar ebenfalls in den ausgehenden 1950er Jahren seinen Anfang nahm, jedoch zu einer scharfen Polarisierung um 1970 führte, die sich erst im Verlauf der 1980er Jahre entspannte. 80 ) Und hier scheinen Vertreter der 45er Generation eher eine retardierende als eine vorantreibende Rolle gespielt zu haben. Auch wenn die Anordnung der von Scheibe angeführten Felder der Demokratisierung - Einstellungen zur Kindererziehung, Mitspracheforderungen in der katholischen Kirche, Schul- und Hochschulverfassung, Debatten um Regierungserklärungen, die Ausgestaltung militärischer Befehlsstrukturen - ein wenig heterogen und arbiträr erscheint, 81 ) so weisen seine Befunde doch auf andere Phaseneinteilungen und Zäsuren hin, als Hodenberg sie verallgemeinert hat.

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) Moses: Die 45er. ) Hodenberg·. Konsens, S. 86. 79 ) Hodenberg: Konsens, S. 83/84. 80 ) Scheibe: Suche. 81 ) Auch methodisch erscheint derzeit noch fraglich, inwieweit der von Scheibe verwendete Diskurs-Begriff in der Lage ist, eine präzise Abgrenzung der untersuchten Phänomene zu begründen. 78

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Festzuhalten bleibt angesichts der inzwischen deutlich verbreiterten, doch derzeit noch kein einheitliches Bild ergebenden Literaturlage, dass die Eigenlogik und eigene Zeitlichkeit ideengeschichtlicher Prozesse vermutlich andere Zäsuren und Phaseneinteilungen ergibt als bei genuin sozialhistorischen Entwicklungen und dass zwischen beiden auch nur geringe Interdependenzen bestanden. Allem Anschein nach wurde die Produktion und Verbreitung von Ideen noch am stärksten von Einflüssen aus dem politischen Feld berührt, ohne dass dies jedoch zu unmittelbaren Übereinstimmungen führen musste. Am deutlichsten werden diese unterschiedlichen Eigenlogiken bei einer Betrachtung der 1950er Jahre, weil diese Dekade bisher am besten erforscht ist. Während die Sozialgeschichte mittlerweile einhellig die starke Dynamik dieses Jahrzehnts unter den Stichworten „Modernisierung im Wiederaufbau" beziehungsweise „Modernisierung unter konservativen Auspizien" 82 ) betont, schwankt die Beurteilung der westdeutschen Ideenlandschaft dieser Zeit zwischen dem Postkartenmotiv einer „Abendröte der bürgerlichen Kultur" in der „posttotalitären Ideenlandschaft" 83 ) einerseits und dem befremdeten Blick auf einen Konservatismus andererseits, der sich in skurrilen Abendland-Debatten verlor, während die Avantgarde der nachwachsenden Bildungselite Amerikahäuser besuchte, bevor einem neuen technokratischen Konservatismus in den 1960er Jahren die Aussöhnung mit der Moderne gelang.84) Gegen beide Richtungen lässt sich einwenden, dass sie die Bedeutung der 1950er Jahre für die Ideengeschichte der Bundesrepublik unterschätzen, weil sie beide davon ausgehen, dass vom Ideenbestand dieses Jahrzehnts schon in der folgenden Dekade kaum etwas geblieben war. Im Gegensatz dazu betont die vorliegende Untersuchung zunächst die Bedeutung des Zusammenbruchs von 1945 als ideengeschichtliche Zäsur, und zwar vor allem hinsichtlich der grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Mit der Kriegsniederlage brach eben nicht allein das nationalsozialistische Terrorregime zusammen, sondern eine längere Tradition deutscher Großmachtpolitik und deutscher Obrigkeitsstaatlichkeit, in der die „machtgeschützte Innerlichkeit" den Intellektuellen einen festen und privilegierten Ort in der Gesellschaft verschafft hatte. Der Zusammenbruch bisher gültiger Ordnungsvorstellungen bewirkte ein politisch-ideelles Vakuum, das es ermöglichte, in beschränktem Umfang neue oder bislang marginale Ideen zu verbreiten. Gerade weil der Zusammenbruch auch das Ökonomische Feld erreicht hatte, und zwar auf betrieblicher wie überbetrieblicher Ebene, 85 )

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) Schildt und Sywottek (Hg.): Modernisierung; Kleßmann: Schiff, S.485; ders:. Das Haus. ) Schwarz'. Ära Adenauer, S. 417-30. Ein wenig widersprüchlich zu diesem Bild des abendlichen Verblassens ist, dass Schwarz an anderer Stelle über die gleiche Zeit von einer „Renaissance der bürgerlichen Gesellschaft" spricht. Ebd., S. 445-53. 84 ) Hier ist auf die einschlägigen Arbeiten von Axel Schildt zu verweisen. Schildt: Konservatismus, S. 211-46; ders.: Moderne Zeiten, S. 324-50; ders.: Abendland, passim. 85 ) Vgl. auch Plumpe: Industrielle Beziehungen, S. 406-10.

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wurde das Ausfüllen dieses Vakuums so dringlich, und die intellektuellen Lösungen, die während der 1950er Jahre für die Orientierungs- und Legitimationsprobleme gefunden wurden, erhielten hier eine Dauer weit über das Ende des Untersuchungszeitraums hinaus. Die politisch-gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe, die während dieser Zeit diskutiert wurden, umkreisten dabei nicht einfache, aber utopische Dichotomien wie „Demokratie oder Diktatur" oder „Gleichheit oder Ungleichheit", sondern sie thematisierten ebenso konkret wie umfassend das Wesen und die Rechtfertigung der Verteilung aller gesellschaftlicher Kräfte. In dieser Perspektive lässt sich die Nachkriegszeit bis etwa 1960 als eine Phase der intensiven Suche nach neuen politisch-ideellen Grundlagen für Politik und Gesellschaft charakterisieren, in der gleichzeitig die Integration der konservativen Herrschafts- und Funktionsträger (das heißt der Mehrheit der Intellektuellen, Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer), die der Weimarer Republik noch ablehnend gegenüber gestanden hatten, gelang. Nach 1960 erfolgte dann eine Öffnung dieses grundsätzlich gefestigten Meinungsraumes. Angesichts dieser Literaturlage sind zur Beantwortung der oben skizzierten Leitfragen nach den sozialen Funktionen politisch-gesellschaftlicher Ideen und ihren Trägern, nach den intellektuellen Kämpfen um diese Ideen und nach den Ursachen ihres Wandels einige methodische Erweiterungen der Ideengeschichte notwendig. Denn während die Konservatismus-Studien sich auf ein bestimmtes politisch-ideelles und soziales Spektrum beschränken (müssen) und die disziplingeschichtlichen Arbeiten ihren Fokus auf überwiegend noch kleinere Denkkollektive („Schulen") verengen, was der Untersuchung der Ausbreitungsrichtungen von Ideen ebenfalls enge Grenzen setzt, haben sich die politikwissenschaftlichen und soziologischen „Elite-Forschungen" so gut wie gar nicht um die politisch-moralischen Grundlagen der Akzeptanz und Verbreitung ihrer Untersuchungsergebnisse gekümmert und die spezifischen Interessen der beteiligten Intellektuellen und Wissenschaftler eher vernachlässigt. Aufgeschlossen für den Import, die Verbreitung und vor allem die sozialen Träger von Ideen hat sich der Tübinger WesternisierungsAnsatz gezeigt, der jedoch den Akteuren im Wesentlichen ein planvolles, bewusstes, kalkuliertes und zum Teil sogar instrumentelles Umgehen mit Ordnungsentwürfen, ihren Wirkungen und Funktionen unterstellt. Die ebenfalls sozialhistorisch verfahrende Liberalisierungs-Forschung schließlich tendiert dazu, den ideengeschichtlichen Wandel auf den Generationenwechsel zu reduzieren und das Eigengewicht und damit die gesellschaftliche Bedeutung sozialer Ordnungsentwürfe sowie die Eigenlogik politisch-ideeller Auseinandersetzungen demgegenüber zu vernachlässigen. Die oben geforderten methodischen Erweiterungen müssen also darauf ausgerichtet sein, Antworten auf die Leitfragen nach den sozialen Funktionen politisch-gesellschaftlicher Ideen über „Eliten", nach ihren Trägern, nach den intellektuellen Kämpfen um diese Ideen und den Ursachen ihres Wandels zu finden. Eine solche „Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen" wird

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also zunächst davon ausgehen, Ideen als „gedachte Ordnungen" 8 6 ) oder „Ordnungssysteme" 87 ) zu betrachten und diese als Produkte sozialen Handelns anzusehen, mit anderen Worten, sie wird akteursorientiert vorgehen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass politische Ideen vermutlich in allen sozialen Gruppen zirkulieren und dass sich folglich in allen sozialen Gruppen Akteure finden lassen, die (im weitesten Sinne) politische Ideen verbreiten, wird sich die vorliegende Untersuchung auf solche Akteure und ihre Handlungsfelder beschränken, die quasi professionell mit dem Hervorbringen und Verbreiten von politischen Ideen beschäftigt sind, also Wissenschaftler, Politiker, Intellektuelle und so weiter. Die soziale Logik des während des Untersuchungszeitraums wichtigsten dieser Handlungsfelder wird im folgenden Kapitel ausführlich erläutert, so dass hier der Hinweis genügen mag, dass der sozialgeschichtliche Ansatz eben durch das Interesse an den besonderen Anforderungen, denen diese Akteure unterliegen, und an den spezifischen Interessen, die sie bei ihrer Produktion und Distribution von Ideen verfolgen, konstituiert wird. In jedem Fall arbeiten die Produzenten und Arbitrageure von politisch-gesellschaftlichen Ideen in ausdifferenzierten sozialen Handlungsfeldern und unterliegen dort den jeweiligen feldspezifischen Zwängen und Logiken, weil sie an den Sinn des Spiels im Feld glauben (im Sinne von Bourdieus illusioS8)), sie konkurrieren um die feldspezifischen Profite, und die Kompetenzen und Einsätze in diesem Spiel sind nicht von Feld zu Feld (etwa aus dem ökonomischen in eines der wissenschaftlichen Felder) übertragbar. Mit anderen Worten, die Sozialgeschichte politischer Ideen ist weitgehend dem Feldansatz Pierre Bourdieus verpflichtet. 89 ) An dieser Stelle ist noch der Hinweis wichtig, dass die hier untersuchten politisch-gesellschaftlichen Ideen - und vermutlich nicht einmal politische Ideen im engeren Sinne - gar nicht aus dem Politischen Feld selbst stammen müssen, sondern sie werden von einem Feld in ein anderes getragen, angereichert, verändert und so weiter, und sie reagieren dabei auf die speziellen Bedürfnisse der Akteure in diesen Handlungsfeldern: Gerade darum ist die Analyse der Verbreitungswege, auf denen Ideen verwandelt werden, von so großer Bedeutung. Die Akteursorientierung einer Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen sollte jedoch nicht dazu verleiten, das intellektuelle Wollen des jeweiligen Autors in den Vordergrund zu stellen. Der hier verwendete Ansatz fragt 86

) Dies in Anlehnung an den Ausschreibungstext des Schwerpunktprogramms „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit", S.525. 87 ) Raphael: Ideen, S. 13. 88 ) Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 122^16, bes. S. 122-25. 89 ) Bourdieu hat gemeinsam mit seinen Mitarbeitern zahlreiche Einzelstudien über verschiedene Felder, etwa dasjenige der großen Universitäten, das Literarische Feld oder dasjenige der Führungskräfte von Großunternehmen erarbeitet, nicht jedoch eine geschlossene Darstellung zur Theorie (und Konstruktion) sozialer Felder veröffentlicht. Als Einführung empfiehlt sich Bourdieu: Eigenschaften; ders.: Habitus und Feld.

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nicht, was Autoren in Wahrheit intentional ausdrücken wollen, noch danach, was ihre Ideen uns heute zu sagen haben oder wer sie als erster formuliert hat. Auch in dieser Hinsicht ist eine Erweiterung gegenüber den verdienstvollen Methoden der traditionellen Ideengeschichte gegeben. 90 ) Die Perspektive ist vielmehr weitgehend funktional auf die Leistungen politisch-gesellschaftlicher Ideen für ein soziales Gebilde beziehungsweise auf das Ausmaß dieser Leistungen gerichtet. Diese funktionale Sichtweise impliziert den Verzicht auf die Interessen und Vorannahmen der Ideologiekritik. Ordnungsentwürfe wie die Elite-Doxa stellen als Formen eines sozialen Glaubens gerade keine instrumentell, ja manipulativ einsetzbaren „partikularen" Ideologien (Mannheim) dar. Es verhält sich vielmehr so, wie Maurice Halbwachs über den Adel geschrieben hat: „Im Übrigen darf man nicht glauben, es handele sich da um ein einfaches Täuschungsmanöver, man habe nur das Untertanenvolk missbrauchen und in ihm den Glauben aufrecht erhalten wollen, dass die Oberklassen eine menschliche Kategorie höherer Art sei, weil sie sich auf verdienstvolle Vorfahren berufen könnten und sich in ihnen physische und geistige Eigentümlichkeiten erhielten und erneuerten, die erblich weitergegeben würden und den persönlichen Wert ihrer Mitglieder erhöhten. Mit der Fiktion des adligen Blutes verbindet sich für die Adelsträger eine aufrichtige Überzeugung: sie glauben wirklich, ihre Gruppe sei der wertvollste, unersetzlichste und zugleich der aktivste und wohltätigste Teil des Sozialkörpers, er sei in gewissem Sinne die raison d'etre der Gesellschaft. Man muss diesen Glauben analysieren, der sich nicht einfach auf kollektiven Größenwahn zurückführen lässt, sondern auf einer recht genauen Einschätzung der Natur und der Rolle einer adeligen Klasse beruht." 91 )

Die Ideologiekritik benötigt, um den mangelnden Wahrheitsgehalt aufzudecken, den die Ideologie als solche charakterisiert, einen Standpunkt höherer Wahrheit, höher zumindest als derjenige der betreffenden Ideologie. In dieser Hinsicht ist die Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen tatsächlich „freischwebend" (um eine weitere Reminiszenz an Karl Mannheim zu machen 92 )): Ziel ist es nicht, Ideen als Ideologien zu kritisieren, sondern, die historische Relevanz von politisch-sozialen Ideen zu rekonstruieren. Andererseits bedarf unsere funktionale Perspektive einer akteurs- und handlungstheoretischen Erweiterung, um die sozialen Bedingungen der Produktion politischgesellschaftlicher Ideen wirklich konzeptionell fassen zu können. Diese Ideen stellen den Akteuren und Gruppen, die sie rezipieren und verwenden, das notwendige Orientierungswissen (und die Orientierungsgewissheit), Legitimationswissen und Handlungswissen zur Verfügung, das soziales Handeln überhaupt erst sinnvoll - und damit möglich - macht. Die verschiedenen Umschreibungen für den „sozialen Glauben" an das „Meinungsphänomen" „Elite" sind bis hierhin als „politisch-soziale Idee" 90

) Vgl. als neueren Literaturüberblick Llanque: Ideengeschichte. ) Halbwachs·. Gedächtnis, S. 304/05. 92 ) Mannheim: Ideologie und Utopie (hier S. 134/35), auf den einige der hier skizzierten methodischen Überlegungen zurückgehen. 91

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oder als „gedachte Ordnung" bezeichnet worden. Im Folgenden sollen diese Bezeichnungen im Terminus technicus der Doxa verdichtet werden. Mit diesem von Bourdieu in die Wissenssoziologie93) eingeführten Begriff lassen sich diejenigen Wissensbestände kennzeichnen, die ausdrücken, „was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird": „Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden und die als solche sich erst in der Retrospektive, dann, wenn sie praktisch fallengelassen wurden, zu erkennen geben." 94 ) In dieser Perspektive drücken unterschiedliche Elite-Modelle oder -Theorien die Elite-Doxa nicht einfach aus, sondern die Elite-Doxa entsteht erst in der Diskussion über diese Modelle und Theorien als jener Bereich des Selbstverständlichen, der den fraglosen Vorannahmen dieser Ideen zu Grunde liegt und der dadurch die Grundlage der Diskussion bildet, dass er nicht in Frage gestellt wird.95) In diesem Zusammenhang von Diskussion und dem aus der Diskussion Ausgesparten und ohne Intention und Kalkül Ausgeschlossenen erschließt sich die Konzeption der Doxa als „sozialer Glaube". Die den Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung zu Grunde liegende Denkfigur von der „Durchsetzung" der Elite-Doxa umschreibt daher nicht nur die bloße Ausbreitung bestimmter Ideen im Sinne einer Diffusion, sondern auch und vor allem die systematische, gleichwohl nicht unbedingt intendierte Verdrängung konkurrierender Doxa sowie die zunehmende Selbstverständlichkeit des Elite-Glaubens unter den Akteuren in bestimmten sozialen Feldern. Geht man davon aus, dass die Elite-Doxa eine umfassend gedachte gesellschaftliche Ordnung mit weitreichendem Deutungs- und Orientierungsanspruch darstellt, so ist es notwendig, zunächst einzelne Kernelemente zu isolieren, die die grundlegenden sozialen Wissens- und Sinnbedürfnisse der Menschen beziehungsweise diejenigen bestimmter sozialer Gruppen zu befriedigen im Stande sind. Soziale Ordnungsentwürfe im Sinne der Doxa stellen also politisch-ideelle Sinnstiftungsleistungen dar, die es den Menschen ermöglichen, heterogene Erfahrungen und Daseinskontingenzen zu bewältigen, das heißt sie erzeugen jenen Sinnkosmos, ohne den Individuen und Gruppen nicht dauerhaft handeln, ohne den politische Institutionen nicht bestehen und ohne den soziale Ordnungen nicht gerechtfertigt werden können. Mit den Worten Max Webers ausgedrückt: Sie bewirken, „dass das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ,Kosmos' sei oder: werden könne und solle."96) Im 93

) Vgl. Knoblauch: Wissenssoziologie, S.221. Gerade dieser Überblick über den neuesten Stand der Disziplin zeigt allerdings auch, dass das Konzept der Doxa bislang kaum praktische Anwendung in der Wissenssoziologie (und der Wissenschaftsgeschichte) findet. 94 ) Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S.331. 95 ) „Gerade kraft seiner eigenen Existenz schafft das Universum das Universum der Meinung, d.h. das Universum dessen, was als selbstverständlich hingenommen wird." Bourdieu·. Entwurf einer Theorie der Praxis, S.331. 96 ) Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Einleitung), in: RS I, S. 237-75, hier S.253.

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Vokabular der Begriffsgeschichte ließe sich sagen, dass derartige soziale Ordnungsentwürfe die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte zu strukturieren vermögen. 9 7 ) Die Grundelemente eines Ordnungssystems wie der Elite-Doxa entsprechen dabei gewissermaßen den einzelnen grundlegenden ideellen Anforderungen, die an einen solchen Sinnkosmos gestellt werden, und stellen verdichtete Deutungsleistungen dar, die sich in Form einfacher „Glaubenssätze" ausdrücken lassen. Auf diese Weise ist es möglich, den Kern der Elite-Doxa wie denjenigen aller konkurrierender Ordnungssysteme in einfachen Sätzen zusammenzufassen, die ihre Orientierungsleistung, ihr Legitimationspotenzial, ihren Beitrag zu einer handlungsleitenden Rollenfindung sowie ihre inhaltliche Bestimmung und Ausfüllung konstituieren. Diese grundsätzlichen Vorannahmen müssen auf folgende Problemstellungen antworten: 1. Nach welchem Prinzip erfolgt die grundsätzliche Einteilung der gegenwärtigen Gesellschaft oder sogar einer jeden Gesellschaft in Vergangenheit und Zukunft (beispielsweise anhand der Verteilung materieller Güter oder Machtbesitz, nach einer Auswahl durch eine moralische Instanz, durch einen göttlichen Heilsplan, durch Tradition)? Die primäre Funktion einer gedachten gesellschaftlichen Ordnung besteht in ihrer Orientierungsleistung. Die Einteilung der sozialen Welt in eine überschaubare Anzahl von Gruppen ermöglicht es, grundlegende Differenzbestimmungen vorzunehmen. Die Individuen und Kollektive und alle ihre individuellen und kollektiven Attribute lassen sich damit in eine einfache Ordnung bringen. Gerade in hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften, deren Teilsysteme sich in ständiger Bewegung befinden, besteht eine besonders hohe Nachfrage nach derartigen Orientierungsangeboten. 2. Welche der durch diese Einteilung geschaffenen sozialen Gruppen spielt die gesellschaftlich ausschlaggebende Rolle, beziehungsweise worin besteht die Abstufung ihrer sozialen Bedeutung? Welches Rechtfertigungsprinzip legitimiert also das Teilungsprinzip? Gerade Ordnungsprinzipien, die auf der ungleichen Verteilung materieller Güter beruhen und damit keine eigenen ethischen Grundlagen hervorbringen, bedürfen steter Legitimation. Auch hier lässt sich an Überlegungen Max Webers anschließen, der von einem „sehr allgemeinen Bedürfnis" gesprochen hatte: „Der Glückliche begnügt sich selten mit der Tatsache des Besitzes seines Glückes. Er hat darüber hinaus das Bedürfnis: auch noch ein Recht darauf zu haben. Er will überzeugt sein, dass er es auch ,verdiene'; vor allem: im Vergleich mit anderen verdiene. Und er will auch glauben dürfen: dass dem minder Glücklichen durch den Nichtbesitz des gleichen Glückes ebenfalls nur geschehe, was ihm zukommt. Wenn man unter dem allgemeinen Ausdruck: .Glück' alle Güter der Ehre, der Macht, des Besitzes und Genusses begreift, so ist dies die allgemeinste Formel für jenen Dienst der Legitimierung, welchen die Religion [lies: eine

97

) Vgl. Koselleck. Erfahrungsraum.

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politisch-soziale Idee, M.R.] dem äußeren und inneren Interesse aller Herrschenden, Besitzenden, Siegenden, Gesunden, kurz: Glücklichen zu leisten hatte: Die Theodizee des Glückes." 98 )

Eine solche Theodizee des Glückes - oder eine Soziodizee der „Elite" - tendiert dazu, die betreffende Gruppe, also den als wichtigsten oder gar als einzig relevanten anerkannten Teil der Gesellschaft jeder grundsätzlichen Kritik zu entziehen. 3. Worin besteht das spezifische Handeln der durch das Teilungsprinzip geschaffenen und durch das Rechtfertigungsprinzip legitimierten Gruppen (zum Beispiel Kampf, Seelsorge und Arbeit, oder: Profitmaximierung, Herrschaftsausübung und so weiter)? Denn Ordnungssysteme müssen den Angesprochenen ein auf deren Lebenswelt anwendbares Handlungswissen offerieren. Auch hier sollten relativ einfache Normen als Orientierungspunkte des Handelns genügen. 4. Wodurch werden schließlich die verschiedenen sozialen Gruppen „inhaltlich" konstituiert (etwa durch den Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln, oder durch Ansehen und rechtlich-politische Privilegien)? Die inhaltliche Ausfüllung eines Ordnungssystems liegt gegenüber den anderen drei Grundelementen auf einer leicht verschobenen Ebene, weil sie keine „Antwort" auf ein Sinnbedürfnis darstellt, sondern gewissermaßen das Bauprinzip für diejenige soziale Gruppe liefert, auf die sich die gedachte Ordnung gründet. Diese Grundelemente müssen in den konkreten Elite-Konzepten, die von den Autoren entworfen werden, keineswegs kohärent und widerspruchslos zueinander stehen. Im Gegenteil, die Ordnungsentwürfe, die hier als Doxa bezeichnet werden, sind keine kohärenten und wissenschaftlich-analytischen Anforderungen standhaltenden Ideen-Gebilde, sondern Produkte eines sozialen Glaubens, gewissermaßen „säkulare Heilsgüter", die den Menschen Orientierung und Handlungsleitung verschaffen, eine symbolische Ordnung der sozialen Welt ausdrücken und das Potenzial für Kritik wie Legitimation für soziale Gebilde enthalten. Hierfür mag ein weiterer Rückgriff auf Max Webers religionssoziologische Untersuchungen das Verständnis erleichtern, denn seine Feststellungen über Religionen lassen sich auch auf die Formen und Inhalte sozialer Glaubensgebilde übertragen. Diese Gebilde sind „so wenig wie die Menschen ... ausgeklügelte Bücher. Sie [sind] historische, nicht logisch oder auch nur psychologisch widerspruchslos konstruierte Gebilde. Sie [tragen] sehr oft in sich Motivreihen, die, jede für sich konsequent verfolgt, den anderen hätte in den Weg treten, oft ihnen schnurstracks zuwiderlaufen müssen. Die ,Konsequenz' [ist] hier die Ausnahme, und nicht die Regel." 99 )

Aus diesem Grund liefe in der Perspektive einer Sozialgeschichte politischgesellschaftlicher Ideen auch ein ideologiekritischer Ansatz, der einzelne

9S

) Weber: Wirtschaftsethik, in: RS I, S.242 (Hervorhebung im Original). ) Weber: Wirtschaftsethik, in: RS I, S.264.

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(oder alle) Elite-Modelle und -Theorien der inneren Widersprüchlichkeit überführt, ins Leere. Die ideengeschichtliche Bedeutung politisch-sozialer Ordnungsentwürfe bemisst sich in sozialhistorischer Perspektive weder nach ihrer Kohärenz noch nach ihrer Realitätsadäquanz. Gleichwohl müssen die verschiedenen Theorien und Modelle nach dem Grad ihrer Ausdifferenziert heit beurteilt werden, wobei den Urteilsmaßstab stets das Spektrum der Möglichkeiten (im Wesentlichen also der Vergleich mit bereits vorhandenen und bekannten Modellen) bildet. Auch die Realitätsadäquanz einer Theorie, beispielsweise Hans Peter Dreitzels Theorie der „Funktionselite" aus dem Jahr 1962,10°) stellt ein Kriterium dar. Realitätsadäquanz lässt sich „messen", also objektivieren. Zum Beispiel ist es möglich, die Behauptung individueller Leistungsauslese, eines der Kernelemente der Elite-Doxa und tief im Glauben von Unternehmern und Publizisten verankert, angesichts der Ergebnisse der empirischen Sozialforschung über die Selbstrekrutierung der Großunternehmerschaft eindeutig in den Bereich des Meinungswissens zu verweisen (und die Funktion dieses Meinungswissens zu erforschen). Vielleicht kann zum Problem der Realitätsadäquanz ganz allgemein gesagt werden, dass diese sich für Teilprobleme auch ohne umfassenden Wahrheitsanspruch, der „zurück" in die Ideologiekritik führen würde, feststellen lässt. In den Beziehungen zwischen einer Doxa und den einzelnen Theorien und Modellen, die diese „gedachte Ordnung" vorzugsweise - keineswegs ausschließlich und allein - konstituieren, muss neben dem Problem der Kohärenz noch ein zweiter Gesichtspunkt geklärt werden, nämlich derjenige der sozialen Träger der Ideen. In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Elite-Konzepte von den verschiedenen Autoren durchaus mit klaren politisch-ideellen Zielen und in absichtlicher Beziehung zu anderen bereits existierenden Konzepten entworfen werden. Die „Konzepte" entsprechen dabei den Produkten einzelner „Denkkollektive" und damit einzelnen „Denkstilen" im Sinne Flecks. 101 ) Die Elite-Doxa ist jedoch nicht an bestimmte Denkstile gebunden, und sie bleibt den Akteuren als Raum des Selbstverständlichen verborgen beziehungsweise sie wird als reines „Meinungswissen" nicht problematisiert. Sie übt auch weder einen „Denkzwang" auf die Produktion der verschiedenen Konzepte aus, etwa indem sie für die Kohärenz der einzelnen Aussagen sorgt: Schon die vielen Mischkonzepte, die Elemente unterschiedlicher Doxa vereinen, beweisen das Gegenteil. Ebenso wenig ordnet sie vorzugsweise - in diskursanalytischer Perspektive - die Aussagen zum Thema oder bringt sie gar selbst hervor. „Denkzwänge" oder „stilgemäßes Denken" führen zur Entwicklung neuer Theorien und Modelle, die - wenn sie beispielsweise im sozialwissenschaftlichen Feld produziert werden - durchaus

10

°) Dreitzel·. Elitebegriff. ) Fleck: Entstehung.

101

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Anforderungen der Kohärenz und Erklärungskraft unterliegen können. Für den Bereich des fraglos Selbstverständlichen trifft dies jedoch nicht zu. Dennoch bildet die Doxa ein System von Elementen, die zueinander weitgehend widerspruchsfrei stehen können. Diese Widerspruchsfreiheit wird im historischen Prozess der Ausreifung politisch-gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe durch die Konkurrenz der Produzenten zueinander, für die die Kategorie der Kohärenz in unterschiedlichem Ausmaß (vor allem bei den Wissenschaftlern) ein professionell verankerter modus operandi ihrer intellektuellen Arbeit darstellt, irgendwann tatsächlich erreicht. Es gibt also einen historisch rekonstruierbaren Prozess der Genese und Entwicklung und auch des Verschwindens solcher politisch-sozialen Ordnungsentwürfe, etwa der Führer-Doxa, die heute in der Bundesrepublik weitgehend verpönt ist. Lenkt man die Perspektive dieser methodischen Vorentscheidungen auf die Akteure, das heißt auf die Autoren, Redner, Zuhörer und Leser, so stellt sich den Sprechern und ihren Rezipienten die Doxa als ein Code dar, dessen Gebrauch - also seine Verwendung als sprachliche Handlung - die Elemente der Doxa (Orientierung, Legitimation und Handlungswissen) aktiviert und damit deren politisch-ideelles Potenzial entfaltet. Dabei ist davon auszugehen, dass tatsächlich stets alle diese Elemente gleichzeitig aktiviert werden, weil die NichtVerwendung einzelner Bestandteile, der Verzicht nur durch das bewusste sprachliche Handeln der Autoren möglich wäre, was jedoch bedeuten würde, die Doxa dem Bereich des fraglos Selbstverständlichen zu entreißen und sie in Frage zustellen - das geschah jedoch während des Untersuchungszeitraums nicht. Gleichzeitig macht dieser Umstand die Sprache des Codes mehrdeutig und interpretationsoffen. Der Code stellt damit gewissermaßen die handlungstheoretische Seite der Doxa dar, indem er als generatives Prinzip sinnproduzierende sprachliche Produkte hervorbringt. Das Konzept des „kulturellen Codes" ist bereits von Shulamit Volkov und Hans Ulrich Gumbrecht in die neuere Historiographie eingeführt worden.102) Gumbrecht hat Codes als Gegensatzpaare konzipiert (beispielsweise Authentizität versus Künstlichkeit, oder Individualität versus Kollektivität) und die Ideengeschichte der Weimarer Republik unter Rückgriff auf Überlegungen Foucaults und Luhmanns als Ensemble derartiger Codes, aber auch „zusammengebrochener Codes" und „Dispositive" untersucht. In dieser Komplexität wird sein ausdifferenziertes, aber stärker für synchrone Analysen geeignetes Modell hier jedoch nicht aufgegriffen, um stattdessen die handlungsorientierte Seite des Code-Konzepts zu verwenden. Folgt man den Ausgangsüberlegungen bis hierhin, so bleibt abschließend das Umfeld zu klären, in welchem sich die Elite-Doxa und der Elite-Code bewähren, der Markt der Meinungen, auf dem sie sich durchsetzen mussten, oder anders gesagt: Der Raum der verschiedenen Ordnungsentwürfe, mit denen

102

)

Volkov: Antisemitismus als kultureller Code; dies.: Wort; Gumbrecht:

1926.

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die Elite-Doxa konkurrierte, muss noch skizziert werden. Neben dem EliteGlauben lassen sich während des Untersuchungszeitraums fünf weitere übergreifende politisch-gesellschaftliche Ideenkomplexe identifizieren: (1) Der Glaube, im „Zeitalter der Massen" zu leben, stellte gewissermaßen das Komplementärmodell zur Elite-Doxa dar - bekanntlich wird von „EliteMasse-Gegensatz" gesprochen - und bezeichnet eine illegitime oder gestörte Ordnung. Die Massen-Doxa ist historisch älter als der Elite-Glaube, der zu guten Teilen gerade aus den Legitimationsproblemen des Massen-Zeitalters entwickelt wurde. Aus diesem Grund ist der Massen-Doxa ein eigener Abschnitt der Arbeit gewidmet, auf den hinzuweisen hier genügen kann. (2) Spätestens seit der Jahrhundertwende und mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs stellte der Führer-Glaube die wichtigste Idee zur politischgesellschaftlichen Ordnung in Deutschland dar. Dieser Glaube beruht auf der Vorstellung, dass der „außeralltägliche" (im Sinne Webers: charismatische) Führer der von ihm befehligten Gefolgschaft überhaupt erst zu ihrer Bestimmung verhilft, also beispielsweise aus der „Masse" das „Volk" zusammenschmiedet: „Volk sein heißt Volk werden unter des Führers Hand". 103 ) Wie schon Kurt Sontheimer bemerkt hat, trägt der Führer-Glaube ausgesprochen messianische Züge. 104 ) Sontheimer hat auch auf das größte modelltheoretische Problem der Führer-Doxa aufmerksam gemacht: „Wie aber wird jemand zum Führer? Wer liest ihn aus? Wer bestätigt seine Führerschaft?" Die Antwort verweist hier weniger auf den unmittelbaren Erfolg des Führer-Handelns als auf die außeralltäglichen Mächte wie das „Schicksal" oder „die Geschichte" einerseits, auf das Prinzip des sich selbst schaffenden Führers andererseits: „Der Führer kann nicht gemacht, kann in diesem Sinn auch nicht ausgelesen werden; der Führer macht sich selbst, indem er sich als Führer weiß und will."105) Der Führer, und dieser Hinweis soll bereits hier gegeben werden, übt seine Macht durch das Prinzip Befehl und Gehorsam in einer extrem asymmetrischen Machtbeziehung aus. Die Verbreitung, ja Dominanz dieser Führer-Doxa war keineswegs auf das Deutschland der 1930er Jahre beschränkt, sondern findet sich in ganz Südund Mittelost-Europa der Zwischenkriegszeit.106) In Deutschland dürfte der Aufstieg der Führer-Doxa spätestens in der Bismarckzeit begonnen haben, und bereits die frühe Hitler-Bewegung berief sich auf die Führer-Figur Bismarck.107) Nach 1945 war die Führer-Doxa weitgehend diskreditiert und konnte im politischen Raum nicht mehr artikuliert werden - im ökonomischen

103

) Hans Freyer, zitiert nach Schreiner: Politischer Messianismus, S.239. ) Sontheimer: Antidemokratisches Denken, S. 214-22, bes. S. 217-19, auch für das Folgende. 105 ) Zitiert nach Sontheimer: Antidemokratisches Denken, S.219. 106) vierhaus: Faschistisches Führertum. 107 ) Schreiner: Politischer Messianismus, S. 242-44. 104

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Feld überdauerte sie deutlich länger aber das Vakuum, das ihr Verschwinden hinterließ, konnte erst nach einigen Jahren gefüllt werden. (3) Der Eindruck, in einer Klassen-Gesellschaft zu leben und entsprechend handeln zu müssen, war in Deutschland vermutlich selbst auf seinem Höhepunkt im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik 108 ) nur innerhalb der organisierten Arbeiterschaft sowie unter einigen dieser nahestehenden und deshalb marginalisierten Sozialwissenschaftlern und Intellektuellen verbreitet. Da es sich auch bei der Klassen-Doxa nicht um eine ausdifferenzierte Theorie, sondern um ein Meinungsphänomen handelte, lässt sich dieser Glaube im Wesentlichen als die Vorstellung beschreiben, die bisherigen wie die gegenwärtigen Gesellschaften seien von Klassenkämpfen geprägt, wobei „Klassen" gesellschaftliche Großgruppen darstellten, deren Angehörige durch gleichgelagerte materielle - im Wesentlichen: ökonomische - Interessen verbunden seien. Die Interessen der unterschiedlichen Klassen wurden dabei zumeist als gegensätzlich betrachtet (so dass die Annahme ihrer zumindest teilweisen Komplementarität bereits zum „Klassenverrat" stigmatisiert werden konnte), weshalb deren typische Handlungsweise der Kampf um diese Interessen sei. Die materiellen Verteilungskämpfe, in denen sich die Klassengegensätze niederschlagen, stellen in diesem Horizont in der Regel Nullsummenspiele dar, das heißt der Vorteil der einen Seite besteht im Nachteil der anderen, weshalb ein „Klassen-Ausgleich" kaum denkbar ist und die „Klassenkämpfe" einen oft unversöhnlichen Charakter annehmen. KlassenTheorien und -Modelle mussten nicht, konnten aber eschatologisch überhöht werden, indem als das historische Ziel aller gesellschaftlichen Entwicklung die finale Auseinandersetzung zwischen zwei Klassen und der unvermeidliche Sieg der einen von beiden ausgegeben wurde, an dessen Ende alle Klassengegensätze überwunden sein würden. Auch hier gilt, dass der Quellenbegriff „Klasse" sich keineswegs immer und ausschließlich auf diesen Klassen-Begriff beziehen muss, sondern ebenso gut „Elite" wie „Stand" meinen kann - eine semantische Unschärfe, die sich in jedem Fall nur aus dem Kontext erschließt. Es ist offensichtlich, dass in der englischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in der der Klassen-Begriff zur Beschreibung und Selbstverortung eine überragende Rolle gespielt hat, aufgrund der nicht vorhandenen marxistischen Aufladung des Klassen-Begriffs die Klassen-Doxa eine ganz andere Ausprägung fand als in der deutschen. Insofern die Erörterungszusammenhänge der Reden über die soziale Welt im 20. Jahrhundert in hohem Maße nationalstaatlich organisiert und von ebensolchen Erfahrungen geprägt waren, stellen die in diesen Diskussionsfeldern jeweils dominierenden spezifischen Mischungsund Überlagerungsfigurationen ideengeschichtlich fortdauernde nationale

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) Kocka: Stand - Klasse - Organisation.

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Spezifika in Europa dar, die natürlich auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin überprüft werden können und müssen. 1 0 9 ) Es ist offensichtlich, dass ein solches politisch-gesellschaftliches Ordnungsmodell mit den nach geregelten Rahmenbedingungen strebenden Arbeitsformen einer Bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trägergruppen nur schwer zu vereinbaren ist. Aus diesem Grund fand die Klassen-Doxa niemals eine große Verbreitung in den bürgerlichen Gruppen der deutschen Gesellschaft. In diesem Sinne stellt die sozialhistorische Modellannahme eines „klassenbewussten Bürgertums" einen Widerspruch in sich dar. Ja, es lässt sich sogar die These wagen, dass die relative politische „Schwäche" des deutschen Bürgertums zwischen 1850 und 1950 auch und gerade aus dem Fehlen eines seiner Morphologie und seinen Reproduktionsformen adäquaten politisch-ideellen Ordnungsentwurfs resultierte, wie die Elite-Doxa ihn nach dieser Zeit darstellen sollte. Die Widerlegung der Klassen-Theorien stellte von Anfang an eine der wichtigsten selbstgewählten Aufgaben der deutschen Soziologie dar; eine Aufgabe, die auch nach 1945 nicht beendet schien. Insofern stellte diese Aufgabe auch eine große intellektuelle Herausforderung dar, überlegene Ordnungsentwürfe vorzulegen und auf allen möglichen Wegen zu verbreiten. (4) Während des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts stellte zweifellos das Vertrauen auf oder die Suche nach einer (neo-)ständischen oder korporativen Gesellschaftsordnung den größten Konkurrenten für alle KlassenTheorien dar. Vor allem die katholische Kirche mit den Sozialenzykliken „Rerum Novarum" aus dem Jahr 1891 und „Quadragesimo anno" aus dem Jahr 1931, aber auch religiös ungebundene konservative Wissenschaftler, Politiker und Intellektuelle propagierten in der Zwischenkriegszeit Modelle einer berufsständischen Organisation der Gesellschaft. 110 ) Diese entfalteten auch eine starke politische Durchschlagskraft, die ihren Zenit im österreichischen „Ständestaat" unter Engelbert Dollfuß, aber auch in den iberischen Diktaturen Francos und Salazars, in Vichy-Frankreich (das heißt in den katholischen Ländern Westeuropas) und in fast ganz Osteuropa erreichte. Neo-ständische oder korporative Modelle wurden dabei ganz ausdrücklich zur Abwehr des Klassen-Denkens und der vermeintlich destruktiven Dynamik der Klassenkämpfe

109

) Eric J. Hobsbawm hat 1988 gegenüber den deutschen Bürgertumsforschern, die gerade die „Schwäche des deutschen Bürgertums" beklagten, pointiert ausgeführt, dass „es dem britischen Bürgertum mitnichten an Klassenbewusstsein gemangelt" habe. Hobsbawm·. Die englische middle-class, S. 106; allgemein Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dem marxistischen britischen Historiker ein Klassengegensatz vor Augen stand, der in der englischen Geschichte gerade nicht durch marxistische Theorien philosophisch überhöht und verschärft wurde, sondern sich durch besondere sozio-kulturelle Ausprägungen und das Einschmelzen ganz unterschiedlicher Attribute der gesellschaftlichen Ordnung habituell in die Akteure einsenkte. Vgl. auch Marwick: Class; Cannadine: Class. n0 ) Mayer-Tasch: Korporativismus.

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entwickelt.111) Im Kern kreisten alle diese Modelle um die Vorstellung, durch das Schaffen berufsständisch-korporativer Gliederungen sei es möglich, den Klassenkampf dergestalt lahm zu legen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der oder den gleichen Korporation(en) die Rahmenbedingungen ihres beruflichen Handelns gemeinsam festlegten. Auch sollte das Prinzip der Subsidiarität an die Stelle eines interventionistischen („totalen") Wohlfahrts- und Steuerungsstaates treten. Auf welche Weise in diesen Aushandlungsprozessen die Radikalisierung der ja nach wie vor faktisch weiter bestehenden Interessengegensätze in klassenkampfartige Konfliktformen vermieden werden könnte, ließ sich jedoch nicht modelltheoretisch klären. Zum Konzept der „Konfliktpartnerschaft" im „Konsenskapitalismus", das heißt der Anerkennung konfligierender, gleichwohl legitimer Interessen der Konfliktparteien bei grundsätzlichem Einverständnis über das gemeinsame Interesse am Fortbestehen der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung zur Wohlstandsvermehrung, führte vom Boden der Stände- oder Korporations-Doxa aus kein Weg. Während die einflussreiche katholische Soziallehre die Ausgestaltung der Korporations-Doxa 112 ) vor allem hinsichtlich der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital beförderte, beschäftigten sich nichtkatholische Intellektuelle stärker mit den Beziehungen zwischen den Korporationen und dem Staat und verliehen diesem Ordnungsmodell seine spezifisch „antiparlamentarische Spitze",113) die zumindest bei einigen katholischen Entwürfen fehlte. Nach 1945 befanden sich die Standes-Doxa und die mit ihr verbundenen Vorannahmen und Modelle in Westdeutschland in der Defensive. Eine Orientierung an den iberischen Diktaturen wurde zwar von manchen konservativen Intellektuellen propagiert, besaß aber kaum Realitätsgehalt. Obwohl die katholische Soziallehre in modernisierter Form, verbunden vor allem mit dem Namen Oswald von Nell-Breuning, zunächst sehr einflussreich blieb (sichtbar vor allem in der Akzeptanz der Mitbestimmung und der Ausgestaltung des Sozialstaates) und ständische Elemente im Verlauf der 1950er Jahre auch immer wieder in die inhaltlich Füllung des Elite-Begriffs mit eingeschmolzen wurden (etwa in der Vorstellung einer „Elite" als „Orden"), hatte eben die „antiparlamentarische Spitze" die Stände-Doxa weithin diskreditiert. Die Ausgestaltung der politischen Ordnung im engeren Sinne ließ sich auf ihrer Grundlage nicht bewerkstelligen, und als echte Alternative zur Elite-Doxa fand sie keine prominenten Fürsprecher.

1U ) Vgl. Stegmann und Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S.736-44. 112 ) Es dürfte klar sein, dass in diesem Sinne die Korporations-Doxa von allen nicht-normativen sozialwissenschaftlichen Korporatismus-Modellen zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Staat und großen Interessenverbänden streng unterschieden werden muss. 113 ) Vgl. Kondylis: Konservativismus, S. 494-500, bes. S. 495-97.

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(5) Erst in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums, nämlich um 1960, wurden schließlich Überlegungen formuliert, die sich im Verlauf der beiden folgenden Jahrzehnte zur Partizipations-Doxa verdichteten. Diesen Ideen ist gemeinsam, dass sie die Teilhabe möglichst vieler Menschen zunächst an den Prozessen der politischen Willensbildung, dann auch an der Gestaltung der Sozialbeziehungen in ganz unterschiedlichen sozialen Feldern propagierten. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass seit etwa 1960 Forderungen nach Teilhabe und Selbstbestimmung im Bildungssystem, im Militär und in der katholischen Kirche, 114 ) aber auch in den Beziehungen zwischen den Bürgern und der Polizei oder zwischen Patienten und Ärzten sowie im kulturellen Konsum erhoben wurden. 115 ) Dennoch blieb die politische Teilhabe der klassische Ort der Partizipations-Doxa. Einen frühen emphatischen Ausdruck verlieh Jürgen Habermas 1961 diesen Ansprüchen in der Studie „Student und Politik", wo er sich gegen eine „sozialtechnische Auffassung" von Demokratie als reines „Set von Spielregeln" wandte und das „Wesen" der Demokratie erblickte, dass „sie die weitreichenden gesellschaftlichen Wandlungen vollstreckt, die die Freiheit der Menschen steigern und am Ende vielleicht ganz herstellen können. Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein." 116 )

Zugespitzt formuliert verdichtet sich die Partizipations-Doxa in dem Satz „Demokratie braucht (möglichst viele) Demokraten", wo im Horizont der Elite-Doxa der Satz lautet „Demokratie braucht eine Elite". Eine direkte intellektuelle Konfrontation zwischen Modellen und Theorien dieser beiden ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraums allerdings aus. Es steht zu vermuten, dass der Aufstieg der Partizipations-Doxa mit einer tiefen ideengeschichtlichen Zäsur in den 1970er Jahren einher ging, weil nun erstmals seit rund 200 Jahren gesellschaftspolitische Ordnungsentwürfe nicht mehr von angenommenen sozialen Großgruppen, ihrer Morphologie, politischen Bedeutung und sozialen Funktion ausgingen, sondern gerade die Existenz derartiger Gruppen (mit Ausnahme der „Elite"!) verneinen. Für die Gegenwart darf vermutet werden, dass die Partizipations-Doxa in den bundesdeutschen Oberklassen-Milieus keine Rolle spielt, in den Milieus der mittleren sozialen Lagen jedoch durchaus weit verbreitet sein dürfte. Die These von der fortgesetzten Dominanz der Elite-Doxa bis heute muss also dahingehend präzisiert werden, dass diese Dominanz nur für konkret bezeichnete und in der vorliegenden Arbeit untersuchte Orte herrscht und dass alle Hinweise darauf deuten, dass diejenigen Institutionen, die den Aufstieg in

114

) Scheibe: Suche. ) Siegrist: Wie bürgerlich, S.224. U6 ) Habermas et al.: Student, S. 15. 115

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gesellschaftliche Spitzenpositionen regulieren und kanalisieren, in einer Weise gesteuert werden, die den Glauben an die Elite durch Auswahl der Leistungsfähigsten als Steuerungsprinzip permanent reproduziert. Mit diesen Leitfragen, methodischen Instrumenten und erkenntnisleitenden Vorannahmen verortet sich die vorliegende Untersuchung und das ihr zugrunde liegende Modell einer Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen zwischen den eingeführten Analyseverfahren der Begriffsgeschichte einerseits und der historischen Diskursanalyse andererseits. Auch wenn für eine solche Positionsbestimmung an sich eine umfassende Kompetenz in den impliziten Voraussetzungen, technischen Verfahren und Methodenproblemen der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik, der Diskursanalyse wie den „languages" der „Cambridge School" notwendig wäre, die der Verfasser für sich nicht beanspruchen kann, so soll doch zum besseren Verständnis der Ziele und des Vorgehens in dieser Untersuchung zumindest der Versuch einer Einordnung unternommen werden. Die Abgrenzung von den genannten Richtungen beruht dabei in erster Linie auf der Akteursorientierung des hier verfolgten Ansatzes. Bei der Lektüre begriffsgeschichtlicher Arbeiten, gerade bei denjenigen auf dem hohen Niveau von Reinhart Koselleck und Jörn Leonhard, stellt sich immer wieder der Eindruck ein, als würde den Begriffen selbst eine handelnde Qualität zugesprochen, die meines Erachtens doch ihren Urhebern und Verbreitern zukommen müsste. 117 ) Mit dieser Vernachlässigung der Handlungsebene korrespondiert übrigens eine häufig passivische Konzeptionalisierung von jenen Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten, die ein historischer Grundbegriff aufspannt, das heißt im Vordergrund stehen die „passiven" Erfahrungen, die sich in einem Grundbegriff niederschlagen - gelegentlich heißt es auch, Begriffe seien „Indikatoren der Geschichte" 118 ) - , während die aktive, vielleicht sogar instrumentelle Verwendung des Begriffs möglicherweise zu sehr in den Hintergrund gerückt wird - aktiv handelt der Begriff dann nur noch selbst (etwas überspitzt ausgedrückt). 119 ) Hier erscheint der Text losgelöst von den Autoren und Lesern, obwohl Begriffsgeschichte doch den Anspruch erhebt, Teil einer erweiterten politischen Sozialgeschichte zu sein. Jedenfalls ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass für ein Interesse am Zusammenhang zwischen sozialer Welt und ihrer symbolischen Ordnung der Blick der Begriffsgeschichte einfach zu „textimmanent" ist. Dies zeigt sich meines Erachtens vor allem an den Leitfragen und der Modellbildung der neueren Begriffsgeschichte, etwa in Leonhards Liberalismus-Studie. Im Vordergrund stehen die Genese und die langfristigen Bedeutungsverschiebungen historischer Grundbegriffe. Leonhard hat dafür ein komplexes, stufenförmiges 117

) Leonhard: Liberalismus, S.20/21. ) Vgl. Bödeker: Begriffsgeschichte als Methode, S.84. 119 ) Zur Kritik an der Begriffsgeschichte „als einer Geschichte der Sprache ohne Sprecher" vgl. Bödeker: Ausprägungen, S. 12-15. lls

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Modell der „Semantogenese" entwickelt. 120 ) Allerdings können sich wandelnde Erfahrungen und Erwartungen, die derartige Verschiebungen bewirken, selbstverständlich nur in langen Untersuchungszeiträumen verfolgt werden, und das Problem, wie gruppenspezifisch diese Erwartungen und Erfahrungen sind, rückt dabei in den Hintergrund. Auch die Schwierigkeit, dass die Chancen, Erfahrungen und Erwartungen zu formulieren, aus vielen Gründen unter den Menschen höchst ungleich verteilt sind, stellt in der begriffsgeschichtlichen Methodologie einen blinden Fleck dar. Vor allem in den noch einmal komplexeren Gesellschaften, mit denen es die Zeitgeschichte zu tun hat - im Gegensatz zu den europäischen Gesellschaften des 18. und frühen ^ . J a h r hunderts, an denen die Begriffsgeschichte als Methode entwickelt wurde scheint mir dieses Problem nicht umgehbar. Schließlich noch ein Wort zur Auswahl der Materialgrundlage: Der Vorwurf an die ältere Begriffsgeschichte, einseitig die Höhenkammliteratur zu privilegieren, ist bekannt. Und so hat die erweiterte Wortfeldanalyse ihre Quellenbasis zwar sehr viel breiter angelegt. 121 ) Dies gilt vor allem für das Projekt von Rolf Reichardt, nämlich das Handbuch der politisch-sozialen Grundbegriffe in Frankreich. Doch kann und muss die Zeitgeschichtsschreibung gegenüber der bloßen Addition einer Vielzahl möglicher Quellen (Almanache, Katechismen, Sitzungsprotokolle, Flugschriften usw.), also der Ausweitung des Quellenkorpus über die „klassische" Analyse von Lexika, Periodika und monographischen Texte hinaus, auch Quellen über die systematischen Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Veröffentlichungsmöglichkeiten erschließen. Und sie muss Konzepte für die Analyse dieser Zusammenhänge entwickeln - jedenfalls wenn sie auf Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte aus ist. Diese Aufgabe mag für das 18. Jahrhundert schwierig sein, im 20. Jahrhundert sollte das notwendige Material auffindbar sein. Umgekehrt muss die Sozialgeschichte politisch-gesellschaftlicher Ideen keine kohärenten Korpora über einen sehr langen Zeitraum sammeln, weil ihre Untersuchungszeiträume wohl eher kürzer sind. Für eine Abgrenzung gegenüber der historischen Diskursanalyse ist zunächst darauf hinzuweisen, dass durch den inflatorischen Gebrauch des Diskurs-Begriffs die spezifischen Regelwerke, die die Diskursanalyse - sei es im Sinne der Linguistik, 122 ) sei es im Sinne der Foucault'schen Diskursanalyse 123 ) - und ihren Wert als Analyseinstrument ausmachen, häufig in den Hintergrund treten. 124 ) Mitunter fungiert der Diskurs-Begriff bloß als scheinwissenschaftliche Umschreibung für bloßes „Gerede".

120

) ) 122 ) 123 ) 124 ) 121

Leonhard: Liberalismus, S. 73-75. Lottes: „The State of the Art", S. 32-35. Busse et al. (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Vgl. als neueren Literaturüberblick Diaz-Bone: Entwicklungen. Landwehr: Geschichte des Sagbaren, S. 67.

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Dagegen bestehen durchaus Ähnlichkeiten der Ziele, etwa der Erforschung der nicht hinterfragten Wissensbestände einer Gesellschaft, des Ausschlusses nichtkonformer Aussagen oder der konstituierenden Bedeutung von Textkorpora, mit diskursanalytischen Methoden. 125 ) Wichtiger erscheinen in sozialgeschichtlicher Perspektive jedoch die Orte der Debatten und des Austausche von Ideen sowie die Konkurrenz zwischen Aussagesystemen. Vor allem aber treten in der historischen Diskursanalyse gerade die für die jeweiligen historischen Zeitpunkte spezifischen Bedürfnisse von Akteuren nach Orientierung und die Produktion von Ideen in einem Spiel von Angebot und Nachfrage gegenüber der Ordnung letztlich selbsttätig „handelnder" Diskurse zurück. Gerade die spezifischen historischen Bedingungen des Hervorbringens und Verbreitens von Wissen über die Ordnung der Gesellschaft und die gegenseitige Beeinflussung von unterschiedlichen Wissensbeständen und -formen sowie die besonderen Interessen und Einsätze der beteiligten Akteure stehen im Vordergrund einer Sozialgeschichte politischer Ideen. Zwar zielt auch die Foucault'sche Diskursanalyse auf die Untersuchung symbolischer Ordnungen, doch stehen hier die Formation von Diskursen und die Organisation von Aussagen im Vordergrund. Auch das Subjekt, das eine Aussage macht, findet hier seine Aufmerksamkeit, doch erscheint vorerst fraglich, auf welche Weise die Diskursanalyse im Rahmen ihres Fokus auf die Einheit eines Diskurses die beispielsweise von Lottes geforderte „Verhandlung von Sachverhalten und Problemen" 126 ) thematisieren könnte. Hinsichtlich der oben skizzierten Leitfragen nach der Entstehung und Durchsetzung eines sozialen Glaubens und nach den Arbeitsbedingungen der Akteure, die an diesen Prozessen beteiligt waren, bestehen durchaus Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel in der Vernachlässigung der Frage, was Autoren oder Sprecher mit ihren Texten „eigentlich gemeint" hatten. 127 ) Doch gerade in der „letzten" Zielsetzung wird der Unterschied deutlich, denn die vorliegende Arbeit geht nicht der Macht hinter den Diskursen nach, sondern den spezifischen Funktionen politisch-gesellschaftlicher Ideen. Was die Materialgrundlage angeht, so sind der Begriffsgeschichte die Orte, von denen sie ihre Quellen bezieht (also in erster Linie Lexika und so weiter), konzeptionell gewissermaßen vorgegeben, und die Sozialgeschichte politischer Ideen muss diese Orte immer erst konstruieren, wohingegen die Historische Diskursanalyse die größte Auswahl hat, weil die Diskurse ja theoretisch an jedem Ort Aussagen produzieren können. Das Quellenmaterial der vorliegenden Untersuchung 128 ) gliedert sich in vier Hauptgruppen. Weil die Genese und Durchsetzung der Elite-Doxa weder aus Selbstzeugnissen noch aus den vereinzelten großen Werken weniger Meis125

) ) 127 ) 128 ) m

Landwehr: Geschichte des Sagbaren, S. 171; Daniel·. Kompendium, S.354. Lottes: „The State of the Art", S.45 (Hervorhebung von M.R.). Landwehr: Geschichte des Sagbaren, S.80. Die Orthographie wurde, soweit nötig, der neuen Rechtschreibung angepasst.

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terdenker zu erschließen ist, sondern als ein öffentlich ausgehandelter Prozess der Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen wie von publizistischem Meinungswissen betrachtet wird, besteht ein großer Teil der Quellen aus veröffentlichtem Material. Als wichtigste Hauptgruppe wurden die großen westdeutschen Kulturzeitschriften sowie einige angrenzende Periodika zwischen 1945/48 und 1966 systematisch ausgewertet. Auf die Eigenarten dieser Medien (etwa der Merkur, die Frankfurter Hefte oder der Monat) wird im ersten Kapitel ausführlich eingegangen. Hier genügt der Hinweis, dass in diesen Zeitschriften nicht nur die frühesten Texte über den Gegenstand „Elite" erschienen und kontinuierlich Beiträge zum Thema publiziert wurden; der Raum der großen Kulturzeitschriften stellte während des Untersuchungszeitraums auch den wichtigsten Ort der Produktion und Zirkulation von politisch-gesellschaftlichen Ideen dar. Da es sich bei diesem Schrifttum überwiegend um Monatshefte von 80 bis 100 Seiten Umfang handelte, findet die Ideengeschichte hier ein überaus reichhaltiges Material. Zweitens wurden die Tagungsprotokolle dreier Evangelischer Akademien, nämlich Hermannsburg/Loccum, Bad Boll und Mülheim an der Ruhr durchgesehen. Diese bislang von der zeithistorischen Forschung noch kaum wahrgenommenen Quellen sind nur zu einem kleinen Teil unmittelbar veröffentlicht worden; allerdings wurden die hier gehaltenen Referate häufig in den Kulturzeitschriften publiziert. Durch die teilweise überlieferten Diskussionen über die Vorträge ist es darüber hinaus möglich, stichprobenartig die Reaktionen und den Umgang der Rezipienten mit den hier vorgestellten Ideen zu analysieren. Eine Verortung der Akademien im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik findet sich im ersten Kapitel. Drittens ist zusätzlich zu einigen eher publizistischen Einzelveröffentlichungen die zeitgenössische wissenschaftliche Literatur zum Thema „Elite" untersucht worden. Dieser Diskussionsstrang ist jedoch nicht als grundsätzlich getrennt von den publizistischen Arbeiten anzusehen, sondern als ein parallel verlaufender, sich in Überlappung, Abgrenzung und Komplementarität dazu verhaltender Strom der Wissensproduktion. Die Beziehung zwischen Wissenschaftlichem und Intellektuellem Feld und damit die Kontextualisierung der verschiedenen Schriften wird in den jeweiligen Kapiteln und Unterkapiteln unternommen. Als vierte Hauptgruppe wurden schließlich, soweit zugänglich, die Überlieferungen aus den Redaktionsarchiven der Kulturzeitschriften herangezogen, weil hieraus wertvolle „Innenansichten" aus der Produktion und Zirkulation der untersuchten Ordnungsideen gewonnen werden konnten. Dieses Material relativiert nicht die Analyseergebnisse der veröffentlichten Schriften, sondern es ermöglicht die Rekonstruktion der Arbeitslogik im Feld der gehobenen Publizistik und damit die sozialhistorische Kontextualisierung der ausgewerteten Quellen. Die vorliegende Arbeit ist nicht im strengen Sinne chronologisch aufgebaut. Vielmehr erschien es notwendig, zunächst die sozialen Orte der Auseinander-

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Setzungen über das Elite-Thema möglichst genau zu beschreiben, um eine Vorstellung von den Akteuren, den Verbreitungswegen und den Phasen der Ausbreitung der Elite-Doxa zu gewinnen. Die nachfolgenden drei Kapitel sind jeweils einer der primären politisch-ideellen Funktionen einer solchen Doxa gewidmet: ihrer Orientierungskraft, ihrem Legitimationspotenzial und ihrem Beitrag zur handlungsleitenden Rollenfindung der Individuen und Gruppen, die einem solchen sozialen Glauben anhängen. Im abschließenden Kapitel wird dann der Verlauf der inhaltlichen Füllung und Konturierung der Elite-Doxa nachgezeichnet und untersucht. Erst an dieser Stelle ist es zum Verständnis der Ergebnisse dieser Untersuchung auch notwendig und sinnvoll, einen historischen Rückblick auf frühe - gescheiterte - Versuche zu werfen, sich des Elite-Begriffs zu bedienen. Auch die Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs als ein relativ spätes Phänomen im Verlauf der Ausbreitung Elite-Doxa wird hier näher beleuchtet. Gewissermaßen subkutan liegt der vorliegenden Arbeit dann doch ein chronologisches Muster zu Grunde: Denn nach 1945 mussten in der Tat zunächst die Voraussetzungen zur Arbeit an politisch-gesellschaftlichen Ideen neu geschaffen werden. Und bei den Auseinandersetzungen um diese Ordnungsentwürfe standen tatsächlich zunächst deren mögliche Orientierungs- und Legitimationsleistungen sowie das von ihnen bereitgestellte Handlungswissen im Vordergrund, bevor ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden zu klären, was „Elite" denn tatsächlich sei.

1. Die Schauplätze des Geschehens Die wichtigsten Schauplätze der Diskussion politisch-gesellschaftlicher Ideen befanden sich lange Zeit in solchen Bereichen des Intellektuellen Feldes, in denen Orientierungs- und Deutungswissen nicht nur für ein wissenschaftliches, sondern für ein „allgemeines" Publikum produziert wurden. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, verbinden sich mit unseren Vorstellungen von „Elite" doch ausdifferenzierte soziologische und politikwissenschaftliche Modelle und empirische Untersuchungen, die von professionellen Sozialwissenschaftlern in langen Untersuchungsreihen erarbeitet wurden. Dies gilt jedoch nicht für die Phase der frühen Debatten in Westdeutschland über „Elite" und „Eliten" während der ausgehenden 1940er und 50er und teilweise selbst noch der 60er Jahre, wie bereits ein flüchtiger Blick auf eine Liste der Veröffentlichungen zum Thema aus den ersten zwei Nachkriegsdekaden zeigen würde. Die damals zur Diskussion gestellten Konzepte waren zunächst nicht für die Anwendung etwa als Analyserahmen der empirischen Sozialforschung bestimmt, sondern zur Deutung der Gegenwart und zur Orientierung in der unübersichtlichen Nachkriegsgesellschaft. Um den Wandel und die Einflüsse der besonderen Kräftekonstellationen, die an diesen Orten herrschten, auf den Verlauf jener Diskussionen berücksichtigen zu können, sollen diese Schauplätze im Folgenden näher untersucht werden.

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien Die Medien der frühen Debatten über gesellschaftliche Ordnungsentwürfe bestanden zum einen aus den Aufsätzen in einer Reihe von Zeitschriften, die sich unter anderem dadurch auszeichneten, dass hier gerade nicht fachwissenschaftliche Kontroversen ausgetragen wurden, sondern (für Rezipienten mit ausreichendem Interesse und Bildungshorizont) „allgemeinverständliche", dem Anspruch nach universal relevante und gültige Problemstellungen und Thesen diskutiert wurden. Der Kreis der Autoren und Leser dieser sogenannten „Kulturzeitschriften" überschnitt sich dabei zu großen Teilen mit dem zweiten wichtigen, hier in Rede stehenden Schauplatz der Diskussion: den Tagungen einiger Evangelischer Akademien. Der Begriff Kulturzeitschrift bedarf einer gewissen Präzisierung, denn er ist alles andere als eindeutig, zumal bereits über die Titulatur des Mediums keine Klarheit besteht: Politisch-literarische Zeitschrift 1 ), Literarische Zeitschrift, 2 ) ') Pross: Literatur und Politik (Untertitel: „Geschichte und Programme der politisch-literarischen Zeitschriften"). 2 ) King: Literarische Zeitschriften.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

politisch-kulturelle Zeitschrift, 3 ) Literatur- und Kulturzeitschrift, 4 ) Qualitätsmagazin, Monatsschrift, gehobene Publizistik - alle diese Bezeichnungen waren und sind im Gebrauch. Sie verweisen auf die etwas unscharfe, nicht durch dauerhafte Institutionen abgesicherte und ebenso wenig durch eine klar festgelegte Arbeitsteilung im Intellektuellen Feld zu bestimmende Funktion dieser Zeitschriften. Dennoch ist in jeder dieser Bezeichnungen etwas Richtiges enthalten: Kulturzeitschriften erscheinen in der Regel monatlich, was bereits die Auswahl der hier veröffentlichten Inhalte und Textgattungen einschränkt: Für die Berichterstattung und den Kommentar tagespolitischer Geschehnisse ist der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Erscheinen der Zeitschrift zu groß. Andererseits konzentrieren sie sich auch nicht auf die - tendenziell wissenschaftlichen Normen gehorchende - Analyse sozialer und kultureller Phänomene, weil die Arbeit an diesen Untersuchungen häufig einen noch viel größeren zeitlichen Abstand zum Untersuchungsgegenstand erzwingt. Derartige Analysen (beispielsweise der Ursachen des Nationalsozialismus) in Kulturzeitschriften zu erwarten, geht an der Funktion dieser Medien vorbei und führt zu verzerrten Vorstellungen von der Ideenlandschaft einer Zeit. Die Erscheinungsweise legte diese Zeitschriften also auf die Funktion und damit auf das Genre der (zwischen Bericht und Analyse angesiedelten) Deutung bestimmter Phänomene fest. Auch diese Deutung bedurfte einer gewissen Zeitnähe zum Phänomen; daher finden sich in den Redaktionsunterlagen der hier untersuchten Magazine immer wieder Hinweise auf Terminzwänge und -Schwierigkeiten. Auch erwogen die Herausgeber mehrerer Kulturzeitschriften, etwa der (allerdings halbmonatlich erscheinenden) Gegenwart und der Frankfurter Hefte, die sich beide auch dem Kommentar tagespolitischer Ereignisse verpflichtet fühlten, den Aufbau von in kürzerem Abstände erscheinenden „Schwester"-Blättern, um dem Problem von Terminzwängen und der Zielsetzung der Texte besser begegnen zu können. 5 ) Diese Bemühungen scheiterten allerdings in der Regel. Auch vom Umfang her waren die Kulturzeitschriften durch ihre Deutungsfunktion bestimmt: Mit etwa 80 bis 100 Seiten pro Heft, in dem einzelne Artikel selten die Länge von zehn oder zwölf Seiten überschritten (nur ganz wenigen Autoren wurde mehr Platz eingeräumt; diese Aufsätze wurden dann auf mehrere Hefte zur Fortsetzung verteilt), und einem umfangreichen Rezensionsteil boten sie Raum für intensive, gleichwohl offene bzw. die weitere Auseinandersetzung öffnende Erörterungen, kaum jedoch für umfangreiche Untersuchungen.

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) Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften. ) Glaser: Deutsche Kultur, S.261ff. 5 ) Vgl. die Geschäftsberichte der Frankfurter Societäts-Druckerei, in deren Verlag die Gegenwart erschien, aus den 1950er Jahren. Zu den Plänen der FH-Redaktion zu einer Wochenzeitschrift mit dem Titel „hier und heute" vgl. Stankowski: Linkskatholizismus, S. 128-30. 4

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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Weiterhin handelt es sich bei Kulturzeitschriften in der Tat, allerdings weder ausschließlich noch einheitlich, um „literarische" Zeitschriften, weil sie von Magazin zu Magazin in unterschiedlichem Ausmaß - fiktionale Texte (Lyrik, Erzählungen, Roman- und Dramenfragmente) abdrucken. Doch literarische Zeitschriften im engeren Sinne, das heißt Zeitschriften, die ausschließlich oder überwiegend schöne Literatur veröffentlichen oder kommentieren, stehen hier nicht zur Diskussion und werden auch nicht als Kulturzeitschrift bezeichnet. Auf zweierlei Phänomene verweist das Wort „Kultur" in dieser Titulatur: Zum einen setzten sich die Autoren in diesen Zeitschriften mit Gegenständen der sogenannten „Hochkultur", also den „schönen Künsten", auseinander (in Buchrezensionen, Theaterberichten, Künstlerportraits, Aufsätzen über eine Stilrichtung oder eine künstlerische Epoche). Derartige Texte machten auch einen großen Teil des Umfangs der Magazine aus, und sie bildeten (ausweislich der von den Zeitschriften veranstalteten Leserumfragen) einen der attraktivsten und nachgefragtesten, für den ökonomischen Erfolg unentbehrlichen Bestandteile. 6 ) Zum anderen und wichtiger noch definiert der Terminus „Kulturzeitschrift" die zentrale Funktion dieser Medien, denn „Kultur" als ein „System von Bedeutungen" (Geertz) 7 )stellte tatsächlich den wahren Mittelpunkt dieser Medien und ihrer Autoren dar. Vor allem die vom Umfang und ihrem Ort im Heft (als Eingangstext, „Hauptaufsatz" usw.)8) her privilegierten Artikel, zuweilen hervorgehoben in eigenständigen Rubriken („Zur geistigen Situation der Zeit", wie in der Universitas), letztendlich jedoch praktisch alle hier erscheinenden Texte zielten in erster Linie auf die Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser Deutungsanspruch zeigte sich in einzelnen Aufsätzen über die Kulturkritik als solche und in ihren Regeln, 9 ) und besonders deutlich in Anzeigen 10 ) sowie in Rezensionen. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. 6

) Dies ergab beispielsweise die Leserumfrage, die der Monat 1954 durchführte, H. 72, S. 590-95. Benno Reifenberg, einer der Herausgeber der Gegenwart (die sich sehr viel auf ihren „Literarischen Ratgeber" zu Gute hielt), wurde von dem Degussa-Direktor Erich Altwein angesprochen, „der ein sehr zustimmender Leser der Gegenwart ist, jedoch vermisst, dass sie nicht regelmäßig Referate über Musik und Theater bringt." DLA, NL Reifenberg, Verschiedenes, Die Gegenwart, Redaktionskonferenzen (18.6.1955). 7 ) Geertz: Religion, S.46. 8 ) Die einzelnen Zeitschriften waren selbstverständlich unterschiedlich gegliedert, wobei die wichtigste Einteilung in allen von ihnen diejenige in Aufsatz- und Rezensionsteil war. Rezensionen konnten jedoch durchaus in Umfang und Form Aufsatzcharakter annehmen. Die wichtigsten Artikel (von der Bedeutung des Inhalts und/oder des Autors her) standen am Anfang der Hefte oder wurden (wie bei den Frankfurter Heften) als „Hauptaufsätze" gekennzeichnet. Sie unterschieden sich auch durch ihr Druckbild vom Rest des Heftes. 9 ) Adorno: Essay als Form; Max Berne: Über den Essay und seine Prosa, in: Merkur 1.1947, S. 414-24. 10 ) Diese Anzeigen erschienen bemerkenswerterweise vor allem in anderen Kulturzeitschriften sowie in Büchern der gehobenen Publizistik und Belletristik - ein Verweis auf den arbeitsteiligen Zusammenhang dieser Medien.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

In einem den amerikanischen Besatzungsbehörden vorgelegten Plan für die Zeitschrift Die Wandlung definierte Dolf Sternberger die Aufgabe der Essays als „Kernstück jeder Nummer", sie sollten „stets die Elemente ins Auge fassen und die Grundbegriffe zu finden suchen ... Überall wird es sich nicht allein um Darstellung und Analyse, sondern zugleich immer um das Maßstäbliche handeln, um die Normen des Denkens, Sprechens und Betragens, in Recht, Sitte, Wirtschaft und Gesellschaft". 11 ) Für die Rubrik „Tagebuch" - die, wie sich zeigen sollte, Sternberger allein vorbehalten blieb - hatte dieser „nicht an die eigentliche journalistische .Reportage' gedacht, sondern an höhere Formen der Schilderung". 12 ) Diese Kulturkritik beanspruchte also, wesentliche Aussagen über die Gegenwart zu treffen, und dies auch in einer sprachlichen und formalen Weise zu tun, die eine höhere Wertigkeit als die journalistische Massenproduktion der Tagespresse zu besitzen reklamierte. In gleicher Weise charakterisierte sich die Gegenwart in einer Anzeige, die in der Deutschen Rundschau erschien: „Die deutsche vielschichtige Welt... wird nur von klar empfindenden Menschen verstanden und gedeutet. Die Herausgeber erheben den Anspruch, so zu empfinden. Sie stellen in einer festen Sprache dar, welche Kräfte, welche Personen den Zustand unserer Nation bestimmen. Sie entwerfen das Bild der Hauptströmungen im Deutschland dieser Tage". 13 ) Aussagen dieser Art in den Selbstbeschreibungen der Medien unterstreichen ihren umfassenden Deutungsanspruch, der hier noch deutlicher zum Vorschein kommt als in den normativen Aufsätzen über die Aufgaben von Kulturkritik. Das vielleicht pointierteste Beispiel zum Selbstverständnis der Herausgeber findet sich im Encounter, der anglo-amerikanischen Partnerzeitschrift des Monats innerhalb des Kongresses für Kulturelle Freiheit - die beiden Zeitschriften tauschten regelmäßig Artikel aus und bedienten sich des gleichen Autoren-Pools, Melvin Lasky wechselte 1958 die Rolle eines Herausgebers des Monats mit derjenigen des Encounters. Die Zeitschrift sah sich als Ort der „intelligent discussion of every possible subject from international politics to the latest Fellini film. Its ambition is to define the climate of opinion" Andere Zeitschriften positionierten sich ganz ähnlich: „Das Dunkel um uns soll sich lichten. Wir wollen alle mithelfen, das Undurchsichtige und das Rätselhafte, das uns bedroht, zu klären", darin sahen die Herausgeber der Frankfurter Hefte die Aufgabe ihrer Zeitschrift. Schließlich eine letzte Stimme: „Der Monat will... durch den unge-

u

) Zitiert nach Waldmüller. Wandlung, S. 19 (Hervorhebung im Original). ) Ebd. 13 ) Deutsche Rundschau 79.1953, S.1327; ganz ähnlich die Anzeige der Gegenwart in: Deutsche Rundschau 80.1954, S. 1099: Die Zeitschrift „sucht in Kenntnis der nationalökonomischen Theorie, aber nicht dogmatisch an sie gebunden, den Sinn des Wirtschaftens zu ergründen, die wirtschaftliche Entwicklung wegweisend zu deuten und durch sorgfältige Beobachtung des Wettbewerbs die Marktwirtschaft zum richtigen Gleichmaß des Lebensstandards zu leiten." 14 ) Encounter Vol. VIII No 1 (1957), S.2 (Hervorhebung von M.R.). 12

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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hinderten Gebrauch freier und auf das wesentliche gerichteter Verstandeskräfte die Bedeutung von Vergangenheit und Gegenwart erfassen." 15 ) Komplementär zu der Akteursgruppe der Autoren, also der Produzenten und Verbreiter von Ideen, bestand das „Publikum" allem Anschein nach aus der relativ kleinen, aber soziokulturell verhältnismäßig homogenen und in ihren Werthaltungen bildungsbürgerlich geprägten Gruppe der „Gebildeten". Hier bestand Einigkeit, dass es möglich sei, im Medium der „Kultur", das heißt der künstlerischen Ausdrucksformen die Gegenwart verbindlich deuten zu können und auf diese Weise sogar zu Feststellungen zu gelangen, die den Ergebnissen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen überlegen seien. Herausragende Beispiele für diese Form intellektueller Arbeit, der Zeit- und Kulturkritik in Gestalt einer Geschichtsphilosophie auf der Grundlage von Erörterungen über die schönen Künste bilden sicherlich die in den Medien der gehobenen Publizistik erschienenen musikphilosophischen Arbeiten Theodor W. Adornos und die Auseinandersetzungen Arnold Gehlens mit der modernen Bildenden Kunst (unter dem Stichwort der „kulturellen Kristallisation"). 16 ) Auf diese Weise wurden die hier diskutierten kulturellen Güter vollends in symbolische Güter verwandelt, deren Aneignung oder Handhabung als Zuordnungsprinzipien innerhalb der symbolischen Hierarchie fungierten und - derart vermittelt - Orientierung und Legitimation in der sozialen Ordnung verschaffen konnten. All die philosophischen Essays, Buchrezensionen, Konzertberichte, soziologischen Erörterungen, geschichtsphilosophischen Ausflüge, Kunstbetrachtungen und Manifestationen, die in den Medien der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit zirkulierten, standen daher nicht allein „für sich", sondern sie enthielten stets Wertangaben über die mit diesen kulturellen Gütern verbundenen sozialen Praktiken. Stets stellten sie Einsätze im Kampf um die Bewahrung oder Veränderung der sozialen Ordnung dar (man denke nur an die soziale Wirkung der Bekräftigung der Distanz zwischen „ernsthafter" und „Unterhaltungs"-Musik oder spezieller an die Auseinandersetzungen über 15

) Zitiert nach Pross: Literatur, S.324, S. 345/46. ) Theodor W. Adorno: Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, in: Merkur 5.1951, S. 53546; ders:. Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Merkur 7.1953, S. 537^8; ders.: Die gegängelte Musik, in: Der Monat Nr. 56 (1953), S. 177-83; ders.: Das Altern der Neuen Musik, in: Der Monat Nr. 80 (1955), S. 150-58; ders.·. Theater - Oper - Bürgertum, in: Der Monat Nr. 84 (1955), S. 532-38; ders: Zum Verständnis Schönbergs, in FH 10.1955, S. 418-29; ders.: Alban Berg, in: Merkur 10.1956, S. 643-51; ders.: Die Funktion des Kontrapunkts in der Neuen Musik, in: Merkur 12.1958, S. 27-48; ders.: Die Meisterschaft des Maestro. Über Toscanini, in: Merkur 12.1958, S. 924-37; ders.: Musik und Neue Musik, in: Merkur 14.1960, S. 410-25; Arnold Gehlen: Trompe L'Oeil-Malerei, in: Merkur 10.1956, S. 195-200; ders.: Über die gegenwärtigen Kulturverhältnisse, in: Merkur 10.1956, S. 520-31; ders.: Soziologischer Kommentar zur modernen Malerei, in: Merkur 12.1958, S. 301-15; ders.: In die Freiheit verstrickt. Zur Situation der modernen Kunst, in: Merkur 14.1960, S. 301-07; ders.: Über kulturelle Kristallisation, in: Anthropologische Forschung, S. 311-28; ders.: Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, in: Anthropologische Forschung, S. 78-92. 16

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1. Die Schauplätze des Geschehens

„neue Musik" und Jazz, die in den 1950er Jahren die westdeutschen Kulturzeitschriften füllten. 17 ) Sie wandten sich ausdrücklich nicht an ein fachwissenschaftliches Publikum, sondern an die „allgemeine" Öffentlichkeit der gehobenen Publizistik, weshalb ihre Urheber für sie auch einen allgemeinen Geltungsanspruch erhoben. Gleichzeitig wirkten die Werturteile in jenen Stellungnahmen mit am Stiften jenes „Sinns", welcher der sozialen Ordnung aus der Sicht der Akteure ihre Evidenz und Selbstverständlichkeit und damit ihre Legitimität verlieh. Aus diesem Grund enthielten auch die genuin literarischen Auseinandersetzungen jener Zeit - etwa die verbreiteten zeitgenössischen Gegenüberstellungen der Werke Elisabeth Langgässers und Heinrich Bolls (die sich unter dem Rubrum „Auf der Suche nach dem großen katholischen Nachkriegsroman" zusammenfassen lassen) - stets moralische und politischideelle Aussagen über die soziale Welt dieser Zeit. Die immense Bedeutung „hochkultureller" Güter innerhalb der Werthaltungen der Bewohner des Literarisch-Politischen Universums - Autoren wie Publikum, das ja aufgrund seines überdurchschnittlichen Bildungskapitals seinerseits aus zumindest potenziellen Autoren bestand - erklärt auch die zentrale Position der Kulturzeitschriften im Intellektuellen Feld, die sich nicht zuletzt in der noch zu erörternden „literarischen Prominenz" ihrer Autoren ausdrückte. Sie konstituierten sich ja gerade durch den Abdruck literarischer Texte und den großen Anteil von Kommentaren, Berichten und Auseinandersetzungen mit den schönen Künsten. Die Bezeichnung dieser Sinnproduktion als „Kulturkritik" verweist auf die starke hermeneutische Prägung dieser Tätigkeit. Denn der Ausgangspunkt all ihrer Weltdeutungen bestand in der Auslegung sichtbarer und verborgener Zeichen und ihrer Verknüpfung zu einem sinnvollen Ganzen in einer „Zusammenschau". Die „Zielsetzung" des Merkurs definierte der Herausgeber Hans Paeschke etwa als „Zusammenschau der wissenschaftlichen und literarischen, der philosophischen und künstlerischen Probleme unserer Zeit". 1 8 ) Was Paeschke hier mit dem Begriff der „Zusammenschau" bezeichnete, war jedoch nicht der Versuch, einen allgemeinen Überblick über wissenschaftliche und intellektuelle Trends dadurch zu geben, dass alle möglichen Themen in Form einer Revue einfach und beziehungslos nebeneinander gestellt würden. Vielmehr versuchten die Herausgeber des Merkurs immer wieder, sich von dem Zeitschriftenkonzept einer derart arbeitenden „Rundschau" abzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass das Literarisch-Politische Feld seine Struktur durch

17 ) Hier ist v. a. an die zitierten Beiträge von Theodor W. Adorno zu denken, die aus einer ihrem geschichtsphilosophischen Selbstverständnis nach oppositionellen oder kritischen Perspektive dazu tendierten, die soziale Ordnung in Gestalt der Gegensätze zwischen hoch und niedrig, würdig und unwürdig, wahr und unwahr, gebildet und ungebildet, Elite und Masse zu reproduzieren. 18 ) D L A , D: Merkur, Paeschke an den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft (11.5.1962).

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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Konkurrenzbeziehungen erhielt, konnte diese Abgrenzung nur in Form der Abgrenzung von anderen Kulturzeitschriften geschehen. Nirgends kommt dieses Phänomen derart deutlich zum Ausdruck wie in dem folgenden Schreiben Paeschkes an den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft (in dem allerdings der wissenschaftliche Charakter des Merkurs, dem Adressanten des Schreibens entsprechend, etwas überhöht wurde): „Was den Merkur von den übrigen sog. Allgemeinen Kulturzeitschriften in Deutschland unterscheidet (Monat, Frankfurter Hefte, Akzente, Neue Rundschau u.a.), die in reiner oder gemischter Form fast alle auf Literatur und (oder) Politik zentriert sind, ist die Verarbeitung streng wissenschaftlicher Themen und Probleme. Natürlich geschieht das nicht in der Form der auf bestimmte Gebiete spezialisierten Fachzeitschriften. Der Merkur begnügt sich aber auch nicht damit, durch ein Nebeneinander von Beiträgen aus den verschiedensten Forschungsgebieten eine Überschau zu geben (wie etwa die Universitas). Sein Bemühen gilt vielmehr einer Art synoptischer Zusammenschau: welche Fragestellungen laufen quer durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und wo konvergieren, wo divergieren die Antworten. Es geht, um mit einem Stichwort zu reden, um eine vergleichende Problemkunde",19)

In diesem Sinne sollte avancierte Zeitkritik nicht mit den Problemstellungen und nach den Verfahren der strengen Analyse, des genau definierten Vergleichs und der kontrollierten Synthese arbeiten, um Aussagen von begrenzter Reichweite zu entwickeln, sondern mittels Verknüpfen scheinbar unverbundener, in neuer Perspektive jedoch relevant erscheinender Phänomene umfassende und allgemeingültige Deutungen entwerfen. „Das Ganze als Ganzes zu sehen" sei nur durch Überwindung disziplinarer Grenzen möglich, meinte Walter Dirks. 20 ) „Ganzheit" ließ sich nur „anschaulich" erfassen, durch „Schau", nicht als bloße Addition ihrer einzelnen Bestandteile (nach dem Rundschau-Prinzip), und auch nicht in den Verfahren der „zergliedernden" Analyse positivistischer Wissenschaften, 21 ) weshalb Paeschke auch dem „Geist des neo-Positivismus" im Merkur keinen Platz einräumen mochte. 22 ) Anders gesagt, stand bei der Produktion von Orientierungswissen nicht die disziplinar gebundene Verfahrenskontrolle im Produktionsprozess, sondern die Deutungsleistung des Endprodukts im Vordergrund. Aus diesem Grund handelt es sich um ein tiefgreifendes Missverständnis intellektueller und publizistischer Arbeit als solcher, wenn in historischer Perspektive etwa den in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit geführten Debatten vorgehalten wird, dass sie „nach allgemeinen ethischen Grundorientierungen tasteten", statt „eine präzise und schonungslose Analyse der jüngsten Vergangenheit" zu leisten 23 ): Derartige Vorwürfe verwechseln die Ansprüche an humanwissenschaftliche Arbeit (Ge19

) DLA, D: Merkur, Paeschke an den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, o. D. (1966) (Hervorhebungen im Original). 20 ) Dirks: Die Rolle der Publizisten, in: FH 2.1947, S. 1191/92. 21 ) Vgl. Bourdieu: Ontologie, S. 36/37. 22 ) Paeschke: Kann keine Trauer sein, S. 1169. Ganz ähnlich äußerte sich Max Horkheimer: Philosophie als Zeitkritik, in: Der Monat 1960, H. 138, S. 12-22, hier S. 14. 23 ) Beispielsweise Krohn: Geistige Reserven, S. 116/17.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

nauigkeit, Verfahrenskontrolle, Vorurteilslosigkeit, begrenzte Reichweite der Aussagen) mit denjenigen an genuin intellektuelle Aufgaben (Orientierung, Legitimation und Kritik, genereller Deutungsanspruch). 24 ) Einen radikalen Ausdruck für das Prinzip der „Zusammenschau" fand bemerkenswerterweise ein Wissenschaftler, der Soziologe Alfred Weber, in seinen Ausführungen über den „Sinn des geschichtlichen Daseins": „Alle spezialistische wissenschaftliche Arbeit, in der ein Bezug auf ein lebenswichtiges Universelles nicht mehr zu erkennen ist - worunter ich auch metaphysisch oder transzendent Universelles mitverstehe ist abzubauen oder umzugestalten ... Jede noch so spezialistische Arbeit muss aus dem Bewusstsein und einer klaren Einsicht ihres Verknüpftseins mit solcher Universalität getan werden. Von da allein erhält sie Leben, Wärme, Berechtigung." 25 ) Am Ende der „Zusammenschau" stand im Idealfall ein neues Deutungskonzept, zumindest aber die Anknüpfung an vorhandene Deutungsmuster. Durch die Deutung der Gegenwart, möglichst eingebettet in ein übergreifendes Ordnungskonzept - etwa das „technisches Zeitalter" oder das „Massenzeitalter" - erfüllte die Kulturkritik ihre Orientierungsleistung. Denn Orientierung zu verschaffen, eine „Ortsbestimmung der Gegenwart" (Alexander Rüstow) 26 ) vorzunehmen, die ideellen, politischen und kulturellen (kaum oder gar nicht jedoch die ökonomischen!) Maßstäbe ihrer Bewertung zu prüfen und zu diskutieren, darin sahen die Autoren wie die Herausgeber ihre vornehmste Pflicht und darin bestand auch die zentrale Funktion der Kulturzeitschriften im Intellektuellen Feld. Den „deutsche(n) Geist zwischen gestern und morgen" zu verorten, 27 ) Antworten auf die Frage: „Wo stehen wir heute?" zu geben 28 ) oder eine „Bestandsaufnahme" 29 ) davon vorzunehmen, was „in der 24)

So etwa Linnemann, der in der publizistischen Arbeit der späten 1940er Jahre „stringente Auseinandersetzungen über Fragen der politischen und sozialen Ordnung" vermisst und darüber spottet, dass „Debatten über Rilke und Goethe" lauter gewesen seien „als solche um die Fragen der künftigen Lebensverfassung im besetzten Deutschland", ohne auf den Gedanken zu kommen, dass um solche Fragen gerade in der Form von Debatten über kulturelle Güter und deren Wert gestritten wurde und dass im Publizistischen Feld eben andere Maßstäbe und Nachfragestrukturen herrschen als im Feld der Humanwissenschaften. Linnemann: Die Sammlung der Mitte und die Wandlung des Bürgers, S. 185. Weber. Der dritte oder der vierte Mensch (Untertitel: „Vom Sinn geschichtlichen Daseins"), S.233. 26) Rüstow. Ortsbestimmung. Das Werk trägt den bezeichnenden Untertitel: „Eine universalgeschichtliche Kulturkritik". 27) Moras und Paeschke (Hg.): Deutscher Geist. 28) Bahr (Hg.): Wo stehen wir heute? 29) Richter (Hg.): Bestandsaufnahme (Untertitel: „Eine deutsche Bilanz"). Dieser Titel bezeichnet allerdings nicht den Syntheseversuch im Umkreis einer existierenden Zeitschrift, wie es beim vorigen (Universitas) und beim vorvorigen {Merkur) der Fall ist. Allerdings handelte es sich um eine Art Vermächtnis der Zeitschrift Der Ruf, deren Mitherausgeber Richter war (Richter. Freiheit, S. 11, S. 14, S. 19). Allerdings verzichtete dieser nach dem Scheitern des Rufs für längere Zeit darauf, ein neues Zeitschriftenprojekt ins Leben zu rufen - zum Glück, wie der Herausgeber des Merkurs, Paeschke, fand. Hans Paeschke·. Kann keine Trauer sein, in: Merkur 32.1978, S. 1169-93, Zitat S. 1176/77. 25)

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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Bundesrepublik an Entscheidendem geschah und welche Perspektiven sich aus diesem Geschehen für die Zukunft abzeichnen" - diese Aussagen beschreiben recht präzise die Bemühungen um jene Orientierungsleistung. Übergreifende Ordnungskonzepte wie dasjenige des „Zeitalters der Massen" oder eben die Elemente der Elite-Doxa ermöglichten es den Akteuren, einzelne Phänomene (beispielsweise die Verführbarkeit der Menschen durch Propaganda und Werbung, die Vereinsamung des Individuums, die soziale Öffnung des Bildungssystems, Probleme der politischen Demokratie, die Abnahme religiöser Bindungen) zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen oder als Teil eines Ganzen zu erkennen und darüber hinaus die spezifische Relevanz eines solchen Einzelphänomens zu ermessen. Die Produktion und erst recht die Zirkulation derartiger Orientierungsentwürfe mit universalem Geltungsanspruch, die ihrer Natur nach auch die Grenzen etwa der einzelnen akademischen Disziplinen zu transzendieren beanspruchten, bildeten die wichtigste Form, in der die Kulturzeitschriften ihre Orientierungsfunktion ausfüllten. Und solange der Elite-Begriff oder ein bestimmtes Elite-Konzept nicht den Gegenstand genuin wissenschaftlicher Untersuchungen darstellten, sondern ganz auf ihre Orientierungsfunktion gerichtet waren (also etwa bis 1960), solange stellten die Kulturzeitschriften auch das wichtigste Medium der Verbreitung und Durchsetzung der Elite-Doxa dar. Zeitschriften waren jedoch nicht die einzigen Medien der Diskussion solcher Ordnungsentwürfe, wenn auch in den Jahren unmittelbar nach 1945 eben bei weitem die wichtigsten. Zunehmend erschienen Einzelveröffentlichungen auf dem Buchmarkt, darunter seit 1955 die äußerst einflussreiche Taschenbuchreihe „rowohlts deutsche enzyklopädie", in der prominente Autoren, nämlich die mittlerweile etablierte einstige Avantgarde der deutschen Sozialwissenschaften (darunter Helmut Schelsky, Arnold Gehlen, Alexander Mitscherlich, Peter Hofstätter) zu niedrigen Preisen und in hohen Auflagen ihre Ideen einem breiten Publikum nahe bringen konnten. In diesen Büchern, Zeitschriften, Vortrags- und Schriftenreihen, in den Nachtprogrammen der Rundfunkanstalten 30 ) sowie ansatzweise in den Feuilletons der Tages- und Wochenpresse entfaltete sich eine Literarisch-Politische Öffentlichkeit, deren Erzeugnisse einerseits die spezifischen Wissens- und Orientierungsbedürfnisse des „gebildeten" Publikums befriedigten und die andererseits durch die kollektive Teilhabe an diesen Erzeugnissen die Gruppe der „Gebildeten" stets aufs Neue hervorbrachte. Allerdings war diese Doppelfunktion der intellektuellen Arbeit in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit an bestimmte historische Bedingungen gebunden: Einerseits mussten die Wissens- und Orientierungsbedürfnisse der Akteure (und zwar der Autoren wie des „gebildeten" Publikums, das ja seinerseits aus zumindest potenziellen Autoren bestand) hinreichend einheitlich sein, um gemeinsame intel-

30

) Schildf. Abendland, S. 83-110; Boll: Nachtprogramm.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

lektuelle Anstrengungen zu unternehmen (unabhängig davon, ob diese komplementär zueinander standen oder miteinander konkurrierten). Andererseits mussten diese Anstrengungen auch möglichst alle Bereiche des intellektuellen Lebens und damit tendenziell alle „Gebildeten" erreichen und erfassen, um jene Homogenität der Wissens- und Orientierungsbedürfnisse zu bewahren. Neben den Zeitschriften müssen wir uns allerdings noch einer zweiten Institution zuwenden, die während des Untersuchungszeitraums für die Verbreitung der in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit entworfenen und debattierten Ordnungskonzepte von besonderer Bedeutung war: Gemeint sind die Tagungen bestimmter Evangelischer Akademien. Die Gründung und Entwicklung der hier interessierenden Akademien ist in der neueren Literatur hinreichend ausführlich beschrieben worden und muss deshalb nicht ausführlich dargestellt werden.31) Wichtig erscheint mir an dieser Stelle nur, dass es sich bei diesen Institutionen um ein gänzlich neues Phänomen handelte, denn die ersten kirchlichen Akademien wurden - trotz einiger Vorläuferbestrebungen 32 ) - erst nach 1945 gegründet. Die treibenden Kräfte der Gründungen waren Eberhard Müller, später Leiter der ältesten Evangelischen Akademie in Bad Boll, der Tübinger Professor für Theologie Helmut Thielicke sowie der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje. In den nicht immer deckungsgleichen Motiven der Gründer verdichtete sich der Versuch, einerseits die evangelischen Kirchen theologisch gegenüber der Moderne zu öffnen und andererseits verloren gegangenes Terrain im Intellektuellen und im Politischen Feld und gegenüber der Katholischen Kirche zurückzuerobern. Um diese Ziele zu erreichen, entwickelten Thielicke, Müller und Lilje zwei wesentliche neue Elemente, die die evangelische Akademiearbeit auszeichneten. Erstens das Konzept der „Begegnung" von Akteuren aus unterschiedlichen sozialen Feldern auf dem Boden der Evangelischen Kirche (das heißt der Akademien), wobei in unserem Zusammenhang die Tagungen der „Begegnung" einflussreicher, aber unterschiedlichen politischen, sozialen und intellektuellen Zielen verpflichteter Unternehmer, Wissenschaftler, Beamter, Politiker, Gewerkschafter usw. im Vordergrund stehen; und zweitens das „Gespräch" zwischen ihnen als ergebnisoffenen, lediglich moderierten und nicht durch religiöse oder moralische Unterweisung geprägten persönlichen Austausch zwischen ihnen.33) Müller verdichtete diese Überlegungen auch in einem Beitrag für das „Evangelische Soziallexikon", das bis Ende des Unter31

) Schilde. Abendland, S.111^9; Treidel·. Akademien, S. 27-46; ders:. Kirche, S.189-209. ) Die Denkschrift „Communio sanctorum" zur Planung einer Evangelischen Akademie aus dem Oktober 1942 ist abgedruckt in: Boventer (Hg.): Akademien, S. 32-34. 33 ) Im ersten Prospekt über die Arbeit der Akademie Bad Boll aus dem Jahr 1946 hieß es: „Die Welt erwartet die Botschaft der Kirche, aber sie wartet darauf, dass es eine Botschaft für das wirkliche Leben und eine Antwort auf die Zweifel der heute lebenden Menschen ist.... Es genügt nicht, dass die Kirche nur predigt. Sie muss in Rede und Gegenrede ohne auszuweichen dem Zweifel des modernen Menschen standhalten." Zitiert nach Müller: Anfänge, S. 14. 32

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

57

suchungszeitraumes und darüber hinaus in zahlreichen Auflagen erschien.34) Beide Elemente, die „Begegnung" zwischen einander bislang indifferent oder sogar konfrontativ gegenüberstehenden Akteuren, wie die „Gesprächs-"Form dieser Tagungen wurden sowohl von Müller, Lilj e und den leitenden Akademiemitarbeitern als auch von den Referenten und Teilnehmern als neu, persönlich eindrucksvoll und produktiv wahrgenommen. Weil diese Form der Akademiearbeit in erster Linie in den beiden Akademien Bad Boll und Hermannsburg/ Loccum kultiviert wurde und weil sich zunächst nur diese beiden Akademien auf jene möglichst hochkarätigen Referenten (bis hinauf zum Bundespräsidenten Theodor Heuss und dem Bundeskanzler Konrad Adenauer) und eine prominente Teilnehmerschaft - das heißt auf ein Zusammentreffen von Akteuren aus den unterschiedlichen Regionen des Feldes der Macht - konzentrierten und sich deshalb die Konstituierung und Ausbreitung der Elite-Doxa hier besonders gut verfolgen lässt, stehen diese beiden Akademien im Vordergrund der Darstellung, wobei gelegentlich kontrastierend die Arbeit der Evangelischen Akademie Mülheim an der Ruhr herangezogen wird. Bad Boll und Hermannsburg/Loccum waren übrigens auch die ältesten und größten Evangelischen Akademien. 35 ) Das Konzept der „Begegnung" umfasste neben dem Zusammenführen von Akteuren aus unterschiedlichen sozialen Feldern vier weitere wesentliche Merkmale: Erstens wurden mehrheitlich nicht-kirchliche Referenten für problembezogene Vorträge engagiert, das heißt die Kirche verzichtete hier auf ihr Deutungsmonopol. Die Position der Referenten im Intellektuellen Feld sollte dabei annähernd der sozialen Positionen der Zuhörer entsprechen, mit anderen Worten: Je einflussreicher die anvisierten Teilnehmer waren, desto prominenter mussten die aufgebotenen Vortragenden sein. Zweitens bemühte man sich im Anschluss an die Referate um eine möglichst offene Aussprache, eben in Form des „Gesprächs". Drittens wurden die Veranstaltungen von religiösen Handlungen eingerahmt, doch standen diese eindeutig nicht im Vordergrund, sondern waren vom unmittelbaren Zweck zu einem Mittel herabgestuft, das die Teilnehmer auf einen konstruktiven Austausch „einstimmen" sollte, nämlich durch den Versuch, in „Stille und Besinnung" Abstand von den Tagesgeschäften zu verschaffen. Viertens schließlich wurden die Tagungen auch für Katholiken geöffnet, und zwar nicht nur für Teilnehmer, sondern sogar für katholische Referenten. 36 ) Dies zielte weniger 34

) Müller. Kompromiss, Sp. 709-12. ) Vgl. die Angaben über die Teilnehmerzahlen der Akademietagungen und die Etats der Akademien zwischen 1952 und 1962 bei Treidel: Dokumentation. 36 ) Beispielsweise sprach Eugen Kogon im Dezember 1966 auf der Loccumer Tagung „Die Weltgesellschaft" in der Podiumsdiskussion über „Die Weltgesellschaft und das Potential Deutschlands" (LI 14, S. 86-100). Über eine Tagung in der Akademie Herrenalb im September 1962 berichtete Kogon: „Die Tagung hatte eine deutliche religiöse Prägung, die von mir als Katholik wohltuend und in keiner Weise als aufdringlich empfunden wurde." ASD/FH Ordner 193 (19.12.1962). 35

58

1. Die Schauplätze des Geschehens

auf eine neue ökumenische Vereinigung als vielmehr auf eine möglichst breite Basis für die „Begegnung" und das „Gespräch" zwischen Menschen unterschiedlicher Provenienz. Auch wenn die Auswahl der Referenten vor allem in den 1950er Jahren sicherlich einen Schwerpunkt im konservativen Spektrum zeigt, und zumal sie auch durch die ideologische Überhöhung des Kalten Krieges eingeschränkt wurde: Ein Pluralismus der politisch-ideellen Standpunkte und der Dialog zwischen Vortragenden und Zuhörern einerseits, zwischen Vertretern der unterschiedlichen Standpunkte andererseits kennzeichnen die Boller und Loccumer Akademiearbeit. Übersicht 1: Referenten in Loccum und Bad Boll nach sozioprofessionellen Kategorien in v.H., 229 ausgewählte Tagungen37)

Kleriker und Akademiemitarbeiter Wissenschaftler Publizisten usw. Politiker und hohe Beamte Offiziere Unternehmer Gewerkschafter div. k.A. Gesamt

LOCCUM, Ν = 398

BAD BOLL, Ν = 192

GESAMT, Ν = 553

6,3 33,9 7,4 21,4 0,8 10,8 2,3 0,8 16,3 100,0

8,3 27,1 6,3 12,5 0,5 24,5 2,6 3,1 15,1 100,0

6,9 30,4 7,2 18,8 0,7 14,8 2,4 1,6 16,9 99,7

Genau wie die nach 1945 emphatisch gefeierte offene und freie Debatte in den Kulturzeitschriften entsprang das kompromissorientierte Gesprächsmodell Müllers und Liljes einer spezifischen Deutung der Weimarer und der nationalsozialistischen Erfahrung: „Der Mangel an solcher Gesprächskultur war ein Grund für das Zerbrechen des Weimarer Staates." 38 ) D e n n die „ideologische Verhärtung" zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen und Milieus habe damals konstruktive Kompromisse unmöglich gemacht. Aus diesem

37

) Weil die Protokolle der frühen Boller und Hermannsburger Tagungen nicht vollständig überliefert sind und aufgrund der tendenziellen Überschneidung von „Begegnungstagungen" mit anderen Akademieveranstaltungen ähnlichen Charakters ist eine exakte Quantifizierung der Zusammensetzung der Vortragenden nicht möglich. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Anteil der Referenten ohne unmittelbaren kirchlichen Hintergrund im Laufe der Zeit weiter zunahm. Ausgewählt wurden die sog. großen „Begegnungstage", auf denen mehrheitlich Unternehmer, hochrangige Politiker und Beamter sowie prominente Wissenschaftler und Publizisten als Teilnehmer und Referenten erschienen. Nur auf diesen Tagungen wurden die in Rede stehenden Ordnungsentwürfe ernsthaft diskutiert. Die rund doppelt so hohe Anzahl von Referenten in Loccum bei gleich vielen Tagungen resultiert vor allem aus den zahlreicheren „Rundgesprächen" und Podiumsdiskussionen mit zahlreichen Diskutanten in der Hannoverschen Akademie, die aufgrund der Kurzreferate mitgezählt wurden. Dies betrifft vor allem die Gruppe der Unternehmer, deren Anzahl ansonsten weitaus niedriger anzusetzen gewesen wäre! 38 ) Müller: Miteinander reden, S.223 (auch für das Folgende).

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

59

Grund sah Müller in der neuen, dialogischen „Kultur des Gesprächs" in den Akademien einen wichtigen, notwendigen „Beitrag zum geistigen Wiederaufbau Deutschlands." Die Akademien waren nicht der einzige Ort, an dem Müller und Lilje ihre Vorstellungen von „Gespräch" und „Begegnung" mit dem Ziel der Überwindung bestehender Gegensätze in die Praxis umzusetzen versuchten; Thomas Sauer hat bereits entsprechende Bemühungen des „Kronberger Kreises" untersucht. Zwischen diesem Kreis und besonders der Akademie Hermannsburg/Loccum bestanden über die Person Liljes hinaus auch weitere Überschneidungen, und zwar in Form der Gastredner in Loccum (zum Beispiel Otto A. Friedrich und Heinrich Kost). 39 ) Die Hoffnung der Protagonisten des Akademiegedankens jedoch, die Form des Gesprächs würde möglichst auf jeder Tagung zu einem quasi materiellen Ergebnis (ζ. B. in Form einer Denkschrift) führen, erfüllte sich nicht. Gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure setzte sich vielmehr eine GesprächsPraxis durch, die sich zum einen durch die Akzeptanz und das Anerkennen der Position des Gegenübers und zum anderen durch die Übernahme der (von den Referenten verbreiteten) Deutungen aus dem Intellektuellen Feld auszeichnete. Diese Deutungen vermochten den Teilnehmern aus unterschiedlichen Milieus und mit unterschiedlichen Interessen Aufschluss zu geben über die jeweilige Relevanz ihrer Streitpunkte und auf diese Weise in der Tat zu einer Verständigung zwischen kontroversen Positionen beizutragen. Unabhängig davon, ob die Teilnehmer wirklich gegensätzliche Positionen im sozialen Raum einnahmen (wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer) oder ob konkurrierende Deutungen in den Vorträgen zur Diskussion gestellt wurden (oder beides): Stets mussten die Akademiemitarbeiter ein Minimum an Neutralität wahren, um das „Gespräch" zu ermöglichen. Die Rolle der Akademien als neutrale Orte ist denn auch wiederholt hervorgehoben worden.40) Bereits eine sehr frühe Sichtweise beurteilte diese Funktion der Akademien außerordentlich positiv, etwa des Amerikaners Louis Lochner, der sie als ein Ort der freien Diskussion und als „neutrale Mittler" zwischen Unternehmern und Arbeitern ansah.41) Der typische Ablauf einer solchen „Begegnungs"-Tagung lässt sich gut veranschaulichen an der Ende Januar 1954 in Loccum stattfindenden Veranstaltung „Partner-Verantwortung", einem „Gespräch zwischen Unternehmern und Betriebsräten". 42 ) Der Akademie war es darum gegangen, ,.führende [Hervorhebung von M.R.] Männer und Frauen aus den beiden Lagern der

39

) Sauer. Westorientierung?, S. 240-51. ) Treidel: Akademien, S.39; Bolewski: Akademien (Bolewski war seit 1955 Akademieleiter in Loccum). 41 ) Lochner: Tyrann, S. 301-03; Cattepoel: Sozialreise, S. 16-18, S. 244-46. 42 ) Einen Eindruck vom „Geist" dieser Tagungen gibt der Bericht des Redakteurs des Monats, Helmut Jaesrich: Berlin und keine anderen. Brief aus Loccum, in: Der Monat Nr. 115 (1958), S.3-7. 40

60

1. Die Schauplätze des Geschehens

Sozialpartner zu gemeinsamen Gesprächen ... in der besonderen Atmosphäre Loccums in verständnisvoller Offenheit" zusammenzuführen.43) Die Betonung der Auswahl von unternehmerischen Führungskräften war in der Tat zentral, denn nach einer der ersten Tagungen, auf denen noch tastend nach Veranstaltungsformen, -inhalten und -teilnehmerkreisen gesucht wurde, beklagte sich der Syndikus der Industrie- und Handelskammer Hannover, Hans Joachim Fricke, im November 1946 auf einer Konventssitzung in Hannover, „dass bei einer Tagung für führende Männer des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft nicht zuviel Inspektoren eingeladen würden.... Bei einer Tagung wie der gegebenen müsse das gesellschaftliche Niveau gehalten werden."44) Einige Wochen später wiederholte Fricke sein Monitum auf einer Folgesitzung,45) doch in den nächsten Jahren scheinen derartige Beschwerden nicht mehr aufgetreten zu sein. Seit dieser Zeit verbürgten die „Tage der Stille und Besinnung für leitende Männer der Wirtschaft" (erst seit 1957 wurden in Bad Boll „leitende Männer und Frauen" eingeladen) eine weitgehend homogene Teilnehmerschaft aus unternehmerischen Spitzenkräften, bei einer Reihe von Tagungen ergänzt durch höhere Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte.46) Diese meist dreitägigen Wochenendtagungen (daneben wurden auch bis zu fünftägige Wochentagungen veranstaltet) mit 60 bis 100 Teilnehmern begannen üblicherweise mit einem Einführungsreferat durch den Akademiedirektor oder sogar durch den Landesbischof, in dem weltliche und religiöse Probleme miteinander verknüpft wurden (hier: Johannes Doehring: „Welt im Umbruch! Kirche im Aufbruch?"). 47 ) Ausführlich wurde vor allem in der ersten Hälfte der 1950er Jahre über die Situation in der DDR bzw. in der kommunistischen Hemisphäre überhaupt gesprochen: Auf der in Rede stehenden Tagung zeigte man zunächst einen Film („Eine Frage des Ostens"), dann lieferte der Generalsuperintendent Dr. Günter Jacob aus Cottbus „Ein(en) Bericht aus dem Osten". Erst mit dem Abklingen der ideologischen Überhöhung des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verschwand dieser Tagungsbestandteil. Auch der Sonnabend wurde dann häufig mit einem Referat des Akademiedirektors eingeleitet (hier: „Persönliche Freiheit und soziale Verbundenheit"), darauf folgten zwei aufeinander bezogene Vorträge: je ein Re-

43

) L024, S. 1. M) Zitiert nach Treidel·. Kirche, S. 196. 45 ) „Es waren allerhand Leute da, die wir eigentlich gemeint hatten, aber auch andere, die man nur als Füllsel bezeichnen kann. Wir wenden uns an Leute, die aus dem tätigen Leben kommen. Die Teilnehmer für den nächsten Kursus für Wirtschaftler sollen durch persönliche Werbung zusammengestellt werden." Zitiert nach Treidel: Kirche, S. 196. 46 ) „Tage der Stille und Besinnung" wurden in Hermannsburg/Loccum für zahlreiche Berufsgruppen veranstaltet, so 1949 bis 1952 für Beamte, Erzieher, Arbeiter und Angestellte, Bauern, Ausbildungsleiter in Industrie und Handwerk usw. 47 ) Johannes Doehring: Welt im Umbruch! Kirche im Aufbruch?, in: L024, S. 3-5. Ähnlich: Hanns Lilje: Die Wirtschaft im Bereich der Kultur, in: L021, S.3-6; Johannes Doehring: Der universale Auftrag des Unternehmers, in: L026, S. 3-5.

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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ferat eines hochrangigen Gewerkschaftsführers (Fritz Fricke, Mitglied des DGB-Bundesvorstands: „Die Gewerkschaft im Ringen um neue Grundlagen") und eines Spitzenunternehmers (Ernst Wolf Mommsen, Vorstandsmitglied des Düsseldorfer Phoenix: „Der Unternehmer zwischen den ,Es-Mächten"'), bevor der Höhepunkt der Tagung erreicht wurde: Ein „Rundgespräch der Verantwortlichen" (sie!), das heißt eine Podiumsdiskussion zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern, wobei man entsprechend der damals in Loccum und anderswo herrschenden Vorstellung von „Verantwortlichkeit", die personal definiert und dem „Funktionär" gegenübergestellt wurde48), darauf achtete, möglichst keine Vertreter von Spitzenverbänden (also „Funktionäre") einzuladen - bei der Arbeiterschaft ließ sich das natürlich nicht völlig umgehen - , sondern „persönlich Verantwortliche", das heißt (Eigentümer-)Unternehmer, einen Betriebsrat und sogar einen einfacher „Jungarbeiter". Beschlossen wurde dieser Sonnabend von der Hausmusik eines hannoverschen Quartetts. Der Sonntag war dann stärker religiös betont. Nach einem Gottesdienst unter der Leitung des Akademiedirektors sprach dieser über „Die Freiheit eines Christenmenschen" und betonte den Gegensatz zwischen dem revolutionären (französischen) Freiheitsbegriff und dem Lutherischen, der auf die „wahre, innere Freiheit" ziele; danach referierte der Kieler Professor für Sozialethik Heinz-Dietrich Wendland, der sehr häufig in Loccum auftrat, über „Christliche und kommunistische Hoffnung", womit das Thema des ideologischen Systemkonflikts erneut aufgegriffen wurde, und der Loccumer Mitarbeiter Dr. Gerd Heinz-Mohr beschloss die Tagung mit einem Vortrag über „Das Lachen in der Kirche". Die Tagungen in Bad Boll verliefen ähnlich,49) erstreckten sich jedoch häufig über fünf Tage (einschließlich des Wochenendes). Über den Verlauf dieser Tagungen sind wir hauptsächlich durch die Protokolle orientiert, die die Akademien anfertigten. In der Regel beruhten sie in Loccum während der 1950er Jahre offenbar auf Kopien der schriftlichen Vortragsfassungen und einigen Diskussionsnotizen; in Bad Boll beschränkte man sich längere Zeit mit kurzen Zusammenfassungen der Referate und der Aussprachen, bevor seit den 1960er Jahren Tonbandabschriften angefertigt wurden. Diese Protokolle waren zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt, vermutlich um den Charakter der Diskretion dieser ungewohnten „freien Aussprache" zu wahren, wurden jedoch häufig den Teilnehmern zugeschickt.50) Neben der Tagespresse51) be48

) Auf dieser Tagung ζ. B. von Johannes Doehring: (Zwischenfazit), in: L024, S. 15. ) Beispielsweise die beiden Veranstaltungen „Tage der Stille und Besinnung für Männer der Wirtschaft" im Mai 1948 und im Mai 1950. 50 ) Dass dieses Beharren auf Vertraulichkeit spezifischen generationellen Erfahrungen geschuldet war, die die Tagungsteilnehmer der 1960er Jahre dann nicht mehr belasteten, vermutete auch Hans Bolewski, der langjährige Loccumer Akademiedirektor. Bolewski: Akademien, S.70. 51 ) Vgl. die Reichweite der Berichterstattung über die Akademietagungen in der Tagespresse bei Treidel·. Dokumentation, S. 25-40. 49

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1. Die Schauplätze des Geschehens

richteten auch einige Kulturzeitschriften über die Tagungen, allen voran die Universitas, die ihre Leser ganz regelmäßig über die Tagungsarbeit informierte; bemerkenswerterweise tat dies auch Der Arbeitgeber, das Organ der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. 52 ) Übrigens wurden Redaktionsmitarbeiter beziehungsweise Herausgeber der Zeitschriften wiederholt persönlich als Referenten oder zumindest als Teilnehmer eingeladen. 53 ) Vor allem aber veröffentlichten die Vortragenden ihre Referate häufig als Aufsätze in den Zeitschriften 54 ) oder gelegentlich auch als Einzelveröffentlichungen, 55 ) wenn sie nicht ohnehin bereits verfertigte Manuskripte, etwa von im Druck befindlichen Büchern, vortrugen. Diese Praxis schuf auf den Akademietagungen einen zwanglosen funktionalen, nämlich komplementären Zusammenhang zwischen der gehobenen Publizistik und den Evangelischen Akademien, das heißt zwischen der kontinuierlichen Produktion und Distribution thematisch beschränkter oder verdichteter Ordnungsentwürfe in den Kulturzeitschriften, der diskontinuierlichen Produktion umfangreicher und umfassender Konzepte in Buchform und der unregelmäßigen, aber sich gleichwohl verlässlich wiederholenden persönlichen Auseinandersetzung zwischen Produzenten und Konsumenten derartiger Orientierungsangebote. Die Form der „Begegnung", in der Akteure aus unterschiedlichen sozialen Feldern auf „neutralem Boden" zusammentrafen, und die Kultur des „Gesprächs", an dessen Ende ein inhaltlicher Kompromiss der Beteiligten als Ergebnis stehen sollte, bewirkten also zusammengenommen die Herausbildung einer Rhetorik, die auf die Überwindung bisher bestehender sozialer, politischer und intellektuelle Gegensätze ausgerichtet war. Diese zusammenfas-

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) Beispielsweise: Auf Tuchfühlung in Loccum, in: Der Arbeitgeber 6.1954, S. 140, über die Begegnungstagung „Partner - Verantwortung" (L024); Kritik der Herrschaft, in: Der Arbeitgeber 8.1956, S. 79/80, über einen gleichlautenden Vortrag von Heinz-Dietrich Wendland, in: L043, S. 20-25; Diagnose statt Prognose, in: Der Arbeitgeber 8.1956, S.42729, über eine Tagung für „Leitende Männer der Wirtschaft" in Bad Boll (BB027). 53 ) An die Gegenwart und die Frankfurter Hefte gingen offenbar mehrfach Einladungen. DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Protokolle der Redaktionskonferenzen (25.5.1955, 18.6.1955). „Während Ihrer Abwesenheit bin ich von Loccum zu der Tagung des Gespräches für Journalisten eingeladen worden, konnte aber nicht annehmen. Ich schicke Ihnen das Programm jedenfalls zu, es ist nicht uninteressant. Wenn Sie also etwa Lust hätten, Heuss über die Stilfragen der Demokratie sprechen zu hören, würde ich das natürlich sehr begrüßen. Der Ideenreichtum der Evangelischen Akademien ist doch beachtlich." DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Korrespondenz, Briefe an Michael Freund (18.6.55). 54 ) Beispielsweise veröffentlichte Arnold Gehlen seinen Vortrag „Das Ende der Persönlichkeit", den er im Dezember 1955 auf der Loccumer Tagung „,Der reiche Mensch' in der Welt von morgen - Tagung für Wirtschaftler (,νοη der Kraft des Abstandes')" gehalten hatte, unter gleichem Titel (mit einem angehängten „?") im folgenden Jahr im Merkur (10.1956, S. 1149-58). 55 ) Besonders prominent: Das Referat von Gerhard Schröder: Elitebildung und soziale Verpflichtung, gehalten in Bad Boll im Januar 1955 im Rahmen der Tagung „Studentische Gemeinschaften" (BB013), erschien in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst (1955,1957 bereits in der fünften Auflage).

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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senden Kompromissformeln („jede Gesellschaft besteht aus der Elite und der Masse"; „keine Gesellschaft kann ohne eine Elite bestehen"; „jede Demokratie braucht Eliten"; „die Elite prägt und führt die Gesellschaft") transportierten dann die zentralen Elemente der Elite-Doxa; auf sie wird noch im Einzelnen zurückzukommen sein. Die neue Redeweise über die Gesellschaft schuf damit ein neues Meinungswissen über die Gesellschaft und damit eine neue symbolische Ordnung, in der soziale Konflikte marginalisiert wurden. Ein zentraler Bestandteil dieser neuen symbolischen Ordnung war die EliteDoxa. Um die Ausbreitung der Elite-Doxa im Raum der Geschäftswelt zu verfolgen - eines der zentralen Anliegen dieser Arbeit bieten sich also die Tagungen der Evangelischen Akademien Bad Boll und Hermannsburg/Loccum besonders an, weil sie gezielt die Unternehmer als Publikum umwarben. Obwohl beide Akademien mit ihrer Arbeit selbstverständlich nicht allein auf Unternehmer zielten und sich die Mehrzahl der Tagungen auf andere Zielgruppen konzentrierte, 56 ) stieß das Umwerben der Unternehmer in anderen Landeskirchen auf wenig Begeisterung, 57 ) weshalb die Arbeit anderer Akademien hier nur am Rande oder gar nicht berücksichtigt wird. Das Gleiche gilt für Katholische Akademien oder entsprechende Einrichtungen, und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen. Zweifellos profitierte auch die Katholische Kirche von der Suche nach Halt und Orientierung in der Nachkriegszeit. Doch existierten bei ihr keinerlei Einrichtungen, die ähnliche Veranstaltungen wie die Evangelischen Akademien Bad Boll und Hermannsburg/Loccum durchführten und die für die hier in Rede stehenden Fragen von Bedeutung gewesen wären. Erstens lieferte die Katholische Kirche keine spezifischen Orientierungsangebote für Unternehmer, wie Bad Boll und Loccum sie unternahmen. Zwar wurde bereits 1949 der Bund Katholischer Unternehmer gegründet, der auch von Anfang an die Unterstützung der Kirche erhielt (sein erster „geistlicher Berater" war der spätere Münsteraner Bischof Joseph Höffner). 5 8 ) Doch blieb der Bund verhältnismäßig klein - seine Mitgliederzahl stagnierte bis Ende der 1970er Jahre unterhalb der Marke von 600 Einträgen - , und vor allem fehlten ihm die zugkräftigen Namen prominenter Großunternehmer. Dadurch blieb seine Ausstrahlung auf die Diskussionen innerhalb der Geschäftswelt sehr begrenzt. In Bad Boll betrachtete man den Bund auch keineswegs als ernsthafte Konkurrenz. 59 ) Und auch inhaltlich hatte der Bund der Mehrzahl der Unternehmer wenig zu bieten. Zwar beteiligten sich seine Mitglieder in den ersten 56

) Wie bereits betont wurde, ist die Abgrenzung zwischen den Tagungstypen und damit zwischen den Zielgruppen nicht immer eindeutig zu ziehen. Im Jahr 1951, dem ersten, in dem anscheinend die Loccumer Tagungsprotokolle kontinuierlich überliefert sind, wurden neun Tagungen protokolliert, davon richteten sich zwei an Unternehmer. 57 ) Treidel·. Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland, S. 99-111. 58 ) Vgl. hierzu wie für das Folgende Schmidt·. Gerechtigkeit, bes. S. 17-70. 59 ) Treidel·. Evangelische Akademien, S. 70/71.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Jahren an der zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzung jener Zeit, dem Mitbestimmungsthema. Doch nachdem der Bochumer Katholikentag 1949 - unter Beteiligung des Bundes - eine äußerst arbeitnehmerfreundliche Stellungnahme verabschiedet hatte 60 ) und diese in der Folgezeit durch prominente katholische Sozialtheoretiker wie Oswald von Nell-Breuning auch weiterhin propagiert wurde, blieb die katholische Soziallehre für die Mehrzahl der westdeutschen Arbeitgeber, die der Mitbestimmung durch Arbeitnehmer bekanntlich ablehnend gegenüberstand, offenbar wenig attraktiv. Nach der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952 widmete sich der Bund zunächst anderen, weniger kontroversen Themen (Rentenpolitik, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, Familienpolitik). Diese Debatten schreckten Unternehmer außerhalb des Verbands nicht ab, aber sie waren zu peripher, um anziehend zu wirken. Nach 1960 kam es im Bund dann zu einem deutlichen „Linksruck" im Zusammenhang mit der Wahl Hermann Josef Wallraffs zum Nachfolger Höffners. Wallraff vertrat gerade in der Mitbestimmungsfrage eine ausgesprochen arbeitnehmerfreundliche Position auf der Linie Neil-Breunings. Innerhalb der Geschäftswelt hatte sich der Bund damit wider Willen (Wallraffs Ansichten waren verbandsintern höchst umstritten) 61 ) vollends ins Abseits manövriert. Auch im Franz-Hitze-Haus in Münster, einer der wichtigsten akademieähnlichen Einrichtungen der Katholischen Kirche, scheint erst im Winter 1958/59 eine erste gezielt für Unternehmer ausgerichtete Tagung veranstaltet worden zu sein. Zum Vergleich: Die Evangelischen Akademien Bad Boll und Hermannsburg/Loccum begleiteten mit ihren Programmen die Unternehmer durch die Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung auch über 1952 hinaus, als es galt, sich mit den veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen zu arrangieren. Die beiden Evangelischen Akademien bezogen dabei regelmäßig Arbeitnehmervertreter mit ein und suchten durch ihre Gesprächskultur einen Ausgleich der gegensätzlichen Positionen zu erreichen. Auch wenn sie keine eindeutige Arbeitgeber-Linie vertraten, boten ihre Tagungen für auch nur ansatzweise kompromissorientierte Unternehmer bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes attraktive Orientierungs- und Gesprächsangebote. Der katholische Kardinal Höffner kam dagegen 1968 zu dem Schluss: „Die katholische Soziallehre hat sich verhältnismäßig selten mit dem typisch Unternehmerischen befasst." 62 ) Zweitens sprechen nicht nur institutionelle, sondern auch inhaltliche Gründe für die geringe Bedeutung katholischer Akademien für das Hervorbringen und das Verbreiten der Elite-Doxa in den Raum der Geschäftswelt hinein und damit gegen die Berücksichtigung derartiger Einrichtungen. Wie Axel Schildt 6°) Man sprach daraufhin vom „Bochumer Betriebsunfall" (sie!), vgl. Schmidt: Gerechtigkeit, S. 92. 61 ) Schmidt: Gerechtigkeit, S. 97. 62 ) Zitiert nach Koehne: Selbstbild, S.71.

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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herausgearbeitet hat, wurde dort „die pädagogisch-instruktive und religiösmissionarische Funktion gegenüber dem Dialog hervorgehoben". 63 ) Gerade die ergebnisoffene Diskussion war während der 1950er Jahre nicht das Anliegen der katholischen Akademiemitarbeiter, sondern Belehrung und Schulung, teilweise in der Form mehrwöchiger, geschlossener Lehrgänge. Für Intellektuelle und Unternehmer auf der Suche nach neuen Orientierungsangeboten und Ordnungsmodellen, die an den Zeitschriften wie an den Evangelischen Akademien besonders die offene und freie Diskussion schätzten, waren die katholischen Akademien daher keine geeigneten Orte des Austausche von Ideen, zumal die prominenten Meisterdenker als Referenten an den katholischen Akademien aufgrund deren Tagungskonzeptionen kaum auftreten konnten. Hinzu kommt ein weiterer inhaltlicher Umstand: Die Vordenker der katholischen Soziallehre interessierten sich während des Untersuchungszeitraums verhältnismäßig wenig für Elitekonzepte. Der Begriff der Herrschaft, der den evangelischen wie den konfessionell ungebundenen Diskussionskreisen aufgrund deren spezifischer, unten im Einzelnen zu erörternden Deutung der nationalsozialistischen Herrschaft (in der vor allem die enthumanisierenden Auswirkungen aller tendenziell auf Gewalt und Unterwerfung beruhenden Herrschaftsformen betont wurden) problematisch geworden war, erschien in den katholischen sozialphilosophischen Diskussionen in keiner Weise diskreditiert. Aus diesem Grund waren dezidiert katholisch gebundene Intellektuelle auch wenig bemüht, neue, den Begriff der Herrschaft vermeidende Ordnungskonzeptionen zu entwickeln. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zwei zu Beginn der 1950er Jahre erschienene Schriften des katholischen Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini, „Das Ende der Neuzeit" aus dem Jahr 1950, sowie „Die Macht", die ein Jahr später erschien. Guardini, zu dieser Zeit Professor für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie in München, zeigte vor allem Ende der 1940er Jahre eine außerordentliche publizistische Präsenz. So veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze in den Frankfurter Heften64), thematisch weit gespannt von der Auslegung biblischer Gleichnisse über Abhandlungen zu Kunst und Literatur (etwa über Dostojewski und Rainer Maria Rilke) bis zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Seine Position im Intellektuellen Feld der 1950er Jahre war aufgrund dieser thematischen Breite seiner Arbeit derart stark, dass Arnold Gehlen, der nie um eine spitzzüngige Bemerkung verlegen war, ihn in einem Brief an Hans Paeschke als „Universalinterpreten" titulierte.65)

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) Schildt. Abendland, S. 151-65, Zitat S. 151. ) Die Verbindung zwischen Guardini und den Herausgebern der Frankfurter Hefte dürfte auf die 1920er Jahre zurückgegangen sein, als Walter Dirks vorübergehend Sekretär Guardinis war. 65 ) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (18.6.57). M

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Die beiden hier anzuführenden Einzelschriften folgten der Logik der Orientierungsfunktion einer politisch-ethisch-ideellen Publizistik, was schon in ihren Untertiteln sichtbar wird: „Ein Versuch zur Orientierung" bzw. „Versuch einer Wegweisung". Vor allem „Das Ende der Neuzeit" erzielte eine große Resonanz, ablesbar an zahlreichen Rezensionen 6 6 ) und einer Kontroverse mit Clemens Münster, seinerzeit Redaktionsmitglied der Frankfurter Hefte, die im Hochland ausgetragen wurde (in den Frankfurter Heften behielt sich Walter Dirks den Kommentar zu beiden Werken Guardinis vor). 67 ) Teil dieser Kontroverse war Münsters Vorwurf, Guardini verwende unklare Bestimmungen der Begriffe „Masse" und „Persönlichkeit". Für den hier zu diskutierenden Problemzusammenhang genügt allerdings der Hinweis, dass die Massen-Doxa (die weiter unten noch eingehender analysiert werden wird) für Guardini den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen darstellte. Guardini sah in den „Massen" das Signum der Zeit 6 8 ) und befand sich damit in vollständiger Übereinstimmung mit den außer-katholischen Debatten um 1950. Das Gleiche gilt auch für andere von Guardini eingenommene Positionen, etwa der konservativen Veilustperspektive und einer gewissen Skepsis gegenüber der Demokratie. 69 ) Anders als der politisch-intellektuelle mainstream, wie er in den Kulturzeitschriften und an den Evangelischen Akademien artikuliert wurde, problematisierte Guardini jedoch an keiner Stelle den Begriff der „Herrschaft" im Sinne einer konkreten Herrschaftsordnung, was bei einer Auseinandersetzung mit der Kategorie „Macht" ja immerhin nahe gelegen hätte. Im Gegenteil, Guardini vertrat die Ansicht, dass Macht und ihre Ausübung ja durch eine christlich orientierte Sinngebung zu legitimieren seien. Im Kontext eines „universellen", ontologischen Machtbegriffs und der biblischen Rechtfertigung ihres Gebrauchs 7 0 ) blieb der abstrakte Begriff der „Herrschaft" für Guardini ungebrochen positiv: „In dieser Machtbegabung, in der Fähigkeit, sie zu gebrauchen und in der daraus erwachsenden Herrschaft besteht die natürliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen." Konkrete Herrschaftsformen diskutierte Guardini nicht, da seine Argumentation auf ein Plädoyer für die Bindung des Gebrauchs der Macht (unabhängig von den unterschiedlichen bestehenden Ordnungen) gerichtet war. Von dieser Position aus (wie sie auch in den intellektuell seit jeher ambitionierten Stimmen der Zeit11) artikuliert wur-

M) z . B . Karl August Horst: Zeitkritisches Purgatorium, in: Merkur 6.1952, S. 794-97. 67 ) Ende der Neuzeit? Kritik von Clemens Münster. Erwiderung von Romano Guardini, in: Hochland 44.1951/52, S. 102-20; Walter Dirks: Das Ende der Neuzeit ist nicht das Ende des Menschen, in: FH 7.1952, S. 26-35. 68 ) Guardini: Neuzeit, S. 65-67. 69 ) Vgl. Guardini: Macht, S. 91/92. 70 ) Ebd., S.21, S.23, S.27, Zitat S.28. 71 ) Die Stimmen der Zeit, eine von Jesuiten herausgegebenen katholischen Kulturzeitschrift, besaßen „von allen katholischen Nachkriegszeitschriften die längste Tradition", da sie bereits seit 1871 erschienen. Von der Brelie-Lewien: Katholische Zeitschriften, S.62.

1.1 Das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien

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de) 7 2 ) war keine weitere Legitimierung der Machtausübung notwendig, solange das intellektuelle Interesse nicht auf die Herrschaftsposition bestimmter sozialer Gruppen gerichtet wurde - was Guardini nicht tat. Die Argumentationsfigur, dass die traditionellen und legitimierten „Führungsgruppen" nach 1945 (oder 1933) verschwunden seien und dass auch die Form der überkommenen Herrschaftsübung angesichts der gewandelten politischen und sozialen Bedingungen hinfällig geworden sei, spielt in seinen (wie in anderen dezidiert „katholischen") Schriften dieser Zeit beispielsweise keine Rolle. Es ist bemerkenswert, dass einer der ganz wenigen Texte aus dem Milieu des intellektuellen Katholizismus, der den Zusammenhang zwischen sozialen Problemen der Gegenwart und Gruppen von Herrschaftsträgern thematisierte, vollkommen den ständischen Konzepten einer „organischen Gesellschaftsauffassung" verhaftet blieb. 73 ) Während also für katholische Intellektuelle die Kategorie der Herrschaft gerade nicht problematisch geworden war, sah dies auf protestantischer Seite ganz anders aus - man denke nur an das großangelegte Unterfangen Alexander Rüstows, der in der dreibändigen „Ortsbestimmung der Gegenwart" gerade den Ursprüngen von Herrschaft und dem Zusammenhang zwischen Herrschaft und Freiheit (der dritte Band trug dann den dramatischen Untertitel: „Herrschaft oder Freiheit?") nachging. 74 ) Alles in allem lässt sich daher feststellen, dass für katholisch gebundene Intellektuelle kein „Denkzwang" bestand, intellektuelle Arbeit in die Konstruktion von sozialen Ordnungsmodellen wie „Elite" zu investieren. Das über die Nachkriegszeit hinaus nun einmal unter den Angehörigen der Oberklassen weit verbreitete Orientierungsbedürfnis konnte daher institutionell seitens der katholischen Akademien und inhaltlich durch die katholische Soziallehre nicht befriedigt werden. Drittens fanden die katholischen Diskussionen innerhalb des LiterarischPolitischen Feldes wenig Resonanz. Während zum Beispiel die Universitas regelmäßig über die Tagungen der Evangelischen Akademien berichtete, finden sich über vergleichbare katholische Aktivitäten allenfalls spärliche Informationen. Gleiches gilt für die Zeitschrift Der Arbeitgeber, dem Verbandsorgan des Bundesverbandes deutscher Arbeitgeberverbände, der eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Ideen aus den Debatten der Intellektuellen in den Raum der Geschäftswelt hinein spielte. Die Universitas räumte dabei den Aktivitäten beider Kirchen in der festen Rubrik „Friedensarbeit der Kirche" (sie!) durchaus gleichen Raum ein. Doch die dort dokumentierten katho-

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) Z.B. Felix zu Löwenstein S.J.: Schichtenproblem und Oberschicht, in: Stimmen der Zeit Bd. 143.1948/49, S. 401-12; ders.: Das Zeitalter der Masse, in: Stimmen der Zeit Bd. 146.1949/50, S.l-10; ders.: Demokratie als Aufgabe, in: Stimmen der Zeit Bd. 148.1959/51, S. 12-23. 73 ) Löwenstein S.J.: Schichtenproblem und Oberschicht, bes. S. 410. 74 ) Rüstow entstammte einem pietistischen Elternhaus. Meier-Rust: Geschichtsdeutung und liberales Engagement, S. 17.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

lischen Veranstaltungen hatten überwiegend im Ausland (rund zur Hälfte im Vatikan) stattgefunden, und bei denjenigen im Inland handelte es sich aus den oben erläuterten Gründen nicht um mit den evangelischen Akademietagungen vergleichbare Formen. Selbst die „katholischen" Frankfurter Hefte - die tatsächlich über beide großen christlichen Kirchen berichteten und die immerhin die ständige Rubrik „Religion und Kirche" auswiesen dokumentierten offenbar eher die Arbeit der zwei Evangelischen als diejenige katholischer Akademien. 75 ) Viertens schließlich ist hinsichtlich der Unternehmer auf den Umstand hinzuweisen, dass in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre die Zahl der katholischen Unternehmer deutlich kleiner war als diejenige der evangelischen. Helge Pross und Karl W. Boetticher kamen noch 1971 zu dem Schluss: „Söhne aus katholischen Familien [von Töchtern war bezeichnenderweise gar nicht erst die Rede, M.R.] treten entweder seltener in ein Wirtschaftsunternehmen ein oder haben dort schlechtere Aussichten zu avancieren." 76 ) Von den 538 Führungskräften in Unternehmen, über die Pross und Boetticher Informationen zur Konfession vorlagen, waren nur gut ein Viertel (25,6%) römisch-katholisch. Ein Blick auf die Altersverteilung zeigt, dass der Anteil der Katholiken mit abnehmendem Alter deutlich zunahm, von 17,3% bei den über 60-Jährigen auf 30,8% bei den unter 40-Jährigen. Die Daten wurden 1965 erhoben. Mit anderen Worten: Der oben genannte Anteil von rund 25% katholischen Unternehmern spiegelt den Zustand am Ende des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit. 77 ) Während der 1950er Jahre und vor allem während der kritischen, formativen Phase um 1950, als das Orientierungsbedürfnis der Unternehmer sehr groß war und sich auch die Kommunikationswege und -orte der Geschäftswelt langsam verfestigten, muss der Anteil der Katholiken deutlich darunter gelegen haben. Kurz und gut: Katholische Unternehmer bildeten während des Untersuchungszeitraums eine deutliche Minderheit, und aus dieser Minorität ließ sich offenbar nur ein kleiner Teil von der sozialphilosophischen Diskussion an katholischen Institutionen ansprechen. Aus diesen Gründen spielten spezifisch katholische Diskussionen weder für die Ausprägung unterschiedlicher Elite-Konzepte noch für deren Verbreitung in die Unternehmerschaft hinein eine entscheidende Rolle und werden daher auch nicht weiter berücksichtigt.

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) Eduard Schröder. Evangelische Akademien, in: FH 4.1949, S. 167/68. ) Pross und Boetticher: Manager, S.49. 77 ) Pross und Boetticher: Manager, S.50/51.

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1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

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1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes „Alle Menschen sind Intellektuelle ... aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen ". 78J

Die bisher gewissermaßen „spontan" verwendeten Bezeichnungen „Intellektuelle", „Literarisch-Politische Öffentlichkeit", „Intellektuelles Feld" bedürfen nun einer weiteren Präzisierung. Anders als die Geschichtswissenschaft, die sich den westdeutschen Intellektuellen vorwiegend aus der Forschungsperspektive konkreter, kollektiv oder institutionell ausgerichteter Problemzusammenhänge (etwa der Bedeutung bestimmter Gruppen von Historikern, Soziologen, Gewerkschaftlern oder Publizisten für die Verbreitung ausgewählter Ideengefüge 79 )) genähert hat und dabei den übergreifenden Begriff des Intellektuellen nicht als analytische Kategorie verwendete, gehen Germanistik, Politikwissenschaft und Publizistik häufig von einer „Phänomenologie des Intellektuellen" aus. 80 ) Dies mag den spezifischen Wissensbedürfnissen dieser Disziplinen entsprechen (War Albert Einstein ein politischer Intellektueller? Welche Rolle sollen Intellektuelle in der Demokratie spielen? Welche Auswirkungen hat die politisch-ideelle „Heimatlosigkeit" von Intellektuellen auf ihre Zeitdiagnosen?). 81 ) Um die Durchsetzung bestimmter Ideen, also „gedachter Ordnungen" zu untersuchen, das heißt um eine genuin historische Fragestellung zu entwickeln, bedarf es jedoch eines Bruchs mit der in den oben genannten Arbeiten verwendeten „ontologischen" Definition, die nach dem „Dasein und Sosein des Intellektuellen" fragt („was ist ein Intellektueller"). 82 ) Definiert man nämlich die Sozialfigur des Intellektuellen anhand von Wesensmerkmalen, etwa dass er „der Mensch, der nicht aufhören kann, zu denken" 83 ), oder ein „Aufklärer und Moralist auf eigene Rechnung und Gefahr" 8 4 ) sei - in positiver Sicht bei Julien Benda oder Jean-Franqois Lyotard verpflichtet auf die Verteidigung universaler und interessenfreier Werte, in negativer Sicht bei Schumpeter und Gehlen als „aktive Feindseligkeit gegen eine [jede bestehende, M.R.] Sozialordnung", gepaart mit dem Fehlen direkter

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) Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1500. ) Vgl. etwa die Arbeiten von Etzemüller: Sozialgeschichte; Nolte: Ordnung; Hochgeschwender: Freiheit; Angster. Konsenskapitalismus; Chun: Bild; Sauer: Westorientierung?; Hacke: Philosophie. 8°) Jäger: Schriftsteller, S. 1. 81 ) Scheideier: Einstein; Brunkhorst: Kritiker; Llanque: Intellektuelle. 82 ) Schlich: Geschichte(n), S.5 (Hervorhebung im Original). Heftige Kritik an Schlichs Vorgehen bei Morat: Intellektuelle, S. 594/95. 83 ) So Wolf Lepenies, zitiert bei Jäger: Schriftsteller, S. 3. M ) Heinz-Winfried Sabais, zitiert bei Jäger: ebd., S.4. 79

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Verantwortlichkeit und von Kenntnissen aus erster Hand 8 5 ) so besteht die Gefahr, dass bei der Diagnose der Auflösung der intellektuellen Substanz geradezu zwangsläufig eine Verrats- oder Verlustgeschichte erzählt wird, etwa in der bekannten Formulierung Bendas als „Verrat der Intellektuellen", die von hohem polemischen Wert sein kann, zur Aufklärung der aufgeworfenen Fragen jedoch wenig beiträgt. Angesichts dieser methodischen Schwierigkeiten ist es durchaus bemerkenswert, dass in die neuere Ideengeschichte der Bundesrepublik Antonio Gramscis Konzept des „organischen Intellektuellen" so gut wie überhaupt keinen Eingang gefunden hat. 86 ) Dieses Fehlen ist umso bemerkenswerter, als sich Pierre Bourdieu, auf den sich die neuere Intellektuellen-Geschichte hauptsächlich beruft, in dieser Hinsicht wiederholt auf Gramscis Konzept bezogen hat. 87 ) Die Ursache mag in der allgemeinen Diskreditierung marxistischer Modelle liegen, sicherlich auch in einer engen - eben „organischen" - modelltheoretischen Bindung dieses Intellektuellen-Begriffs an ihre sozialen Mutter-Gruppen, in der Regel also an bestimmte Klassen und Klasseninteressen. Außerdem ist die Bindung des Intellektuellen-Begriffs an eine bestimmte Berufsgruppe, Klasse oder Schicht bekanntlich mit guten Gründen schon von Karl Mannheim verworfen worden. 88 ) Doch die Alternative, die Intellektuellen jenseits dessen durch die Ausübung einer spezifischen Rolle zu definieren, die aus ihrer „Bestimmung" oder „Mission" resultiere, 89 ) unterschlägt die besonderen sozialen Bedingungen, denen die intellektuelle Arbeit unterliegt. 90 ) Aus diesen Gründen wird hier als analytische Kategorie eine handlungsorientierte Arbeitsdefinition verwendet: Intellektuelle sollen ganz allgemein verstanden werden als die Sinn-Stifter der sozialen Welt, deren spezifische Arbeit in der Deutung aller möglichen politischen, sozialen und kulturellen Phänomene besteht. Diese gewissermaßen „überhistorische" Arbeitsdefinition intellektueller Arbeit orientiert sich offensichtlich nicht an der Vorstellung der „Geburt" des modernen, gegenüber feldfremden Zwängen autonomen Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre. 91 ) Aus ihr ergibt sich vielmehr die Notwen85

) Schumpeter: Kapitalismus, S.235; Arnold Gehlen: Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat, in: Merkur 18.1964, S. 402-13, hier S.402. 86 ) Dies wird beispielsweise deutlich an dem von Hübinger und Hertfelder herausgegebenen Sammelband „Kritik und Mandat", und zwar sowohl an den einzelnen Beiträgen als auch an den konzeptionellen Einführungen der beiden Herausgeber. Vgl. Gramsci: Gefängnishefte, Bd. 7, S. 1497-1532. 87 ) Z.B. Bourdieu: Staatsadel, S.411; ders.: Korporativismus, S.60. 88 ) Mannheim: Ideologie, S. 102-28, S. 134-43; ders.: Konservatismus, S. 143-46. 89 ) Jäger. Schriftsteller, S . l . ®°) Zu den konzeptionellen Problemen einer normativen Intellektuellen-Definition vgl. Hertfelder: Kritik, S. 18-21. 91 ) Nach Christophe Charle („Naissance des Intellectuels 1880-1900"). Charles Sozialgeschichte der Intellektuellen im 19. Jahrhundert beginnt dagegen keineswegs in der 3. Republik. Charle: Vordenker der Moderne. Auf ungleich niedrigerem Reflexionsniveau Bering: Der Intellektuelle, S. 198-204.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

71

digkeit einer weitergehenden Differenzierung, weil Intellektuelle ihrer Deutungsarbeit - nicht nur während des Untersuchungszeitraums - unter höchst verschiedenen Arbeitsbedingungen nachgingen und -gehen. An dieser Stelle ist damit weniger der jeweilige politische Ordnungsrahmen gemeint, der wesentlich über den Grad der Autonomie intellektueller Arbeit bestimmt, 92 ) als vielmehr die soziale Position, die den Habitus der Akteure formt, ihre Stellung im Intellektuellen Feld und damit ihre jeweiligen Handlungsmöglichkeiten, -zwänge und -Strategien festlegt, ihre Profitmöglichkeiten und nicht zuletzt ihre illusio (Bourdieu), das spezifische wertrationale Einverständnis mit dem ganzen Sinn des (intellektueller) Spiels überhaupt determiniert. Hier bietet es sich an, auf Typologien der Religionssoziologie Max Webers zurückzugreifen, der aus den verschiedenen „Formen der Beziehungen zu den übersinnlichen Gewalten" unterschiedliche religiöse „Berufe" voneinander abgrenzte, wobei sich eine sozialhistorische Untersuchung der Intellektuellen an Webers Typus des Propheten, des Priesters und des Zauberers orientieren kann. 93 ) Allerdings ist dabei eine bloße Übertragung der Kategorien ebenso zu vermeiden wie die Beschränkung auf Analogien; vielmehr erlaubt die Orientierung an Webers Typologie die Ermittlung von relationalen Strukturähnlichkeiten, die anhand der Rekonstruktion gruppenspezifischer Habitusformen eine vertiefte Analyse der spezifischen Handlungsstrategien der untersuchten Akteure, aber auch der Kämpfe zwischen ihnen ermöglichen. In dieser Perspektive lassen sich vorerst zwei bis drei unterschiedliche Typen von Intellektuellen voneinander differenzieren: Erstens der Schriftsteller-Intellektuelle, dessen soziale Position und intellektuelle Produktion in erster Linie auf der Diskontinuität seiner Arbeit (und Vergütung) sowie auf seiner personengebundenen Gabe als literarischer Künstler beruhen und dessen politisch-literarische Werke sich tendenziell durch die größte Reichweite ihres Deutungsanspruches und ebenso durch die größte Freiheit gegenüber der Artikulation sozialer Phantasmagorien auszeichnen. Zweitens der Wissenschaftler-Intellektuelle, konstituiert durch die Regelmäßigkeit des wissenschaftlichen Betriebs (und seiner Einkünfte), zu welchem er durch spezifisches Wissen und Qualifikationen befähigt wird, und dessen intellektuelle Werke in der Regel durch die geringere Reichweite ihrer Erklärungsansprüche sowie durch die größere Überprüfbarkeit ihrer Behauptungen, kurz: durch die größte Systematik gekennzeichnet sind. Die Unterscheidung zwischen Schriftsteller-Intellektuellen und Wissenschaftler-Intellektuellen wird sich in dieser Arbeit als wesentlich für die Erklärung der Ausbreitung und Durchsetzung der EliteDoxa erweisen. Schließlich sind drittens Experten als Inhaber eines eng abgegrenzten bereichsbezogenen Fachwissens zu nennen, die - schon durch ihren

92

) Die Notwendigkeit der Autonomie intellektueller Arbeit hat gerade Bourdieu mehrfach betont. Bourdieu: Politisches Kapital; ders.: Korporativismus. ) Weber: WG, S. 245-381. Instruktive Überlegungen zur Weiterführung von Webers Religionssoziologie finden sich bei Bourdieu: Das religiöse Feld.

93

72

1. Die Schauplätze des Geschehens

schwierigeren Zugang - lediglich punktuell in die Debatten des Intellektuellen Feldes einzugreifen vermochten.94) Bei diesen Experten handelte es sich hauptsächlich um Politiker und Unternehmer, deren Interventionen nur akzidentiell geduldet wurden. Diese gewissermaßen befristete Zulassung war unter anderem eine Folge der während des Untersuchungszeitraumes wirksam exekutierten Hegemonie gewisser literarischer Anforderungen an die Texte, die in den wichtigsten Medien des Intellektuellen Feldes veröffentlicht wurden - und damit auch an die Ideen, die hier zirkulierten - und die sich in der besonderen, weiter unten erläuterten „Bildungssprache" sowie in gleichsam literarischen Sprachtechniken konkretisierten. Aus diesen Anforderungen ergab sich nicht nur die starke Position der Schriftsteller-Intellektuellen, denen es am leichtesten fiel, derartigen sprachlichen Ansprüchen zu genügen (und die ihrerseits bestrebt waren, derartigen Anforderungen eine möglichst weitgehende Verbindlichkeit zu verschaffen). Sie wirkten auch faktisch als Ausschlusskriterien gegenüber allen Akteuren, deren sprachliches Kapital für solcherart Artikulationen zu gering war (was vor allem Unternehmer, aber auch Politiker betraf). Diese Anforderungen marginalisierten während des Untersuchungszeitraums aber auch die „reinen" Journalisten, deren Ansehen verhältnismäßig gering war, weshalb sie vor allem innerhalb der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit als einer zentralen Region des Intellektuellen Feldes als zumindest teilweise literarisch orientierte Essayisten auftreten mussten. Angesichts des spezifischen intellektuellen Profils der Kulturzeitschriften überrascht es nicht, dass während der langen 1950er Jahre der Typus des „Schriftsteller-Intellektuellen" die intellektuelle Produktion dominierte, das heißt Akteure, die sich gleichzeitig belletristisch, journalistisch und publizistisch betätigten. Dies zeigt sich am großen Anteil der Schriftsteller-Intellektuellen an der Gesamtpopulation der vier wichtigsten Kulturzeitschriften (Tab. 1 und 2), wohingegen der Anteil der Wissenschaftler-Intellektuellen (aus Verfahrensgründen hier: Professoren) stagnierte bzw. abnahm (Tab. 3). Tabelle 1: Anzahl der Autoren in den untersuchten

Merkur D e r Monat Universitas Frankfurter Hefte Gesamt

Kulturzeitschriften

1950

1955

1960

1965

Ges.

76 75 71 93 315

88 76 103 74 341

72 90 94 84 340

94 101 96 73 364

330 342 364 324 1360

Unterstellt man, dass Schriftsteller-Intellektuelle auch heute noch einen gewichtigen Teil der Autorenschaft derartiger Zeitschriften darstellen, so ist doch zu berücksichtigen, dass sich die Position von Kulturzeitschriften innerhalb des Intellektuellen Feldes dramatisch verändert hat, und damit auch die 94

) Zum Begriff des Experten vgl. Raphael·. Experten; ders:. Verwissenschaftlichung.

73

1.2 D i e soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

ideengeschichtliche Bedeutung ihrer Autoren, mit anderen Worten, die Population des Feldes dürfte sich mit dessen morphologischem Wandel ebenfalls grundlegend gewandelt haben. Weitere Untersuchungen zu diesem Problem stellen bis auf weiteres ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Tabelle 2: Anteil der „Schriftsteller-Intellektuellen" Kulturzeitschriften in v.H.

Merkur Der Monat Universitas Frankfurter Hefte

untersuchten

1950

1955

1960

1965

46,8 54,5 6,0 44,4

52,6 61,3 10,0 51,1

50,0 73,8 4,8 55,1

73,2 68,0 12,6 58,0

Tabelle 3: Anteil der Professoren

Merkur Der Monat Universitas Frankfurter Hefte

unter den Autoren der vier

unter den Autoren der

Kulturzeitschriften in v.H.

1950

1955

1960

1965

25,0 33,3 74,6 13,8

31,8 20,9 63,1 9,5

30,5 10,0 76,6 7,1

17,0 6,9 70,8 9,6

Versteht man also diese verschiedenen Gruppen von Intellektuellen als die Sinn-Stifter der sozialen Welt und als Interpreten aller politischer, sozialer und kultureller Phänomene, so ist damit ausdrücklich keine Fixierung auf die Figur des „modernen", in der Dreyfus-Affäre geborenen Intellektuellen beabsichtigt. Vielmehr ist diese Arbeitsdefinition an den überhistorischen Intellektuellen-Begriff Max Webers angelehnt, denn „Intellektuellenschichten besitzen nach Weber in allen Kulturen und zu allen Zeiten eine Schlüsselstellung für die Systematisierung persönlicher Lebensführung und die Rationalisierung sozialer Ordnungen." 95 ) „Sinn zu stiften" soll hier deshalb bedeuten, eine „sinnvolle" (symbolische) Ordnung zu schaffen und damit Orientierungswissen zu produzieren, indem autoritativ die grundlegenden und für jede Orientierung in der sozialen Welt notwendigen Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge, über- und unterzuordnen, bleibend und vergänglich, würdig und unwürdig, notwendig zu tun und überflüssig, relevant und irrelevant im Sein und Sollen dieser Welt festgelegt und stets aufs Neue bekräftigt werden. 96 ) Die Orientierungsfunktion intellektueller Arbeit betonte zum Beispiel Walter Dirks, als er 1952 festhielt: „Immer geht es darum, unseren wahren Ort und unsere wahre Stunde in der Geschichte des Heils, in der Geschichte des menschlichen Geistes und nun auch in der Geschichte der Gesellschaft und der politischen Ordnungen und Unordnungen zu erken-

95

) Hübinger: Rollen, S.33. Vgl. Weber. Wirtschaftsethik, in: RS I, S. 251-53. ) Vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 147-79, bes. S. 172/73.

%

74

1. Die Schauplätze des Geschehens

nen, und immer gilt es, aus dieser Wahrheit über unseren Ort so viel über den richtigen Weg auszumachen, wie ein Mensch, der kein politischer Hochstapler sein will, das redlich zu tun vermag." 97 ) Die intellektuelle Arbeit besteht eben darin, alle menschlichen Handlungen und Attribute in Form der Auslegung jener Unterscheidungsprinzipien zu deuten (und auf diese Weise den Prinzipien auch alle Praktiken zu unterwerfen). Immer gehört zu dieser Arbeit auch die Bipolarität von „Machtkritik und Machtstabilisierung" (Hübinger), die in der vorliegenden Untersuchung aufgrund der zumeist „indirekten Rede" über die Gesellschaft während des Untersuchungszeitraums unter den Stichworten „Legitimation" und „Delegitimation" behandelt wird. 98 ) Weil durch die Prüfung, Klassifizierung und Deutung tendenziell alle Praktiken und Attribute bewertet werden, können sie als Unterscheidungsmerkmale zwischen allen Akteuren fungieren, die sie handhaben. Die soziale Welt stellt sich ihren Bewohnern als diese symbolische Ordnung dar, das heißt als ein System von Zeichen, die über die Bedeutung der sie umgebenden und ihnen entgegengebrachten Handlungen und Objekte (die ihrerseits in einer wechselseitigen Beziehung zum sozialen Status derjenigen stehen, die sie hervorbringen bzw. besitzen) Aufschluss geben. Der soziale Raum funktioniert wie ein Raum unterschiedlicher, sich aufeinander beziehender und den sozialen Status dieser Akteure ausdrückender Handlungsweisen und Lebensstile, das heißt als ein symbolischer Raum, weil das Handeln der Akteure von ihren Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata strukturiert wird. 99 ) Die symbolische Ordnung der sozialen Welt besteht also aus einer komplexen symbolischen Hierarchie sozialer Handlungen. Der Kampf um diese Hierarchie, das heißt um die symbolischen Hierarchien der sozialen Welt, bildet das Metier der Intellektuellen. Sie sind word-maker, die sich als world-maker betätigen. „Was Macht der Sprache genannt wird, gründet in der Macht, die unformulierten Erfahrungen zu objektivieren, sie öffentlich werden zu lassen". 100 ) Denn als Sinn-Stifter können sich Intellektuelle nicht damit begnügen, ihre Weltdeutungen in privater Intimität zu entwerfen. Vielmehr folgt aus dem oben erwähnten Anspruch auf universale Gültigkeit ihrer Deutungen auch die Notwendigkeit ihrer möglichst weitgehenden Verbreitung. In diesem Sinne ist die Ideen-Produktion nicht selbstgenügsam, sondern immer auf die Konsumenten ausgerichtet, mag deren Kreis auch noch so klein sein. Der Gestus intellektueller Arbeit und das Erzeugungsprinzip des Intellektuellen Feldes lassen sich daher ausdrücken als „Ideen produzieren und verbreiten um einer sinnvollen Ordnung willen", oder prägnanter als „dire des choses

97

) Walter Dirks: Das Ende der Neuzeit ist nicht das Ende des Menschen, in: FH 7.1952, S. 26-35. 98 ) Hübinger: Rollen, S. 35/36. ") Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen", S. 17-23. 10 °) Bourdieu: Theorie der Praxis, S.333; ähnlich der.s.: Soziale Klasse, S. 124/25; ders.: Sozialer Raum und „Klassen", S. 19/20.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

75

tel quel sont"m), was den Anspruch auf den Realitätsgehalt der produzierten Deutungen hervorhebt: den Orientierung suchenden Menschen sagen, was, warum und wie die Welt wirklich ist und sein soll. Dabei ist Kritik jederzeit möglich, weil stets das Sein dem Sollen gegenübergestellt wird. Immer produzieren Intellektuelle daher auch Legitimation und Delegitimation. In den Worten eines der prominentesten zeitgenössischen Akteure hieß das: „Die großen Themen des Menschen und der Zeit in eigener Wahl und Bestimmung abzuhandeln", beizutragen, dass „der Mensch" wieder „Mittelpunkt einer Ordnung" werde (auf diesen locus communis der Zeit wird noch näher einzugehen sein!). Als „den Mann [sie!] der die Wahrheit sagt", so definierte Walter Dirks „die Rolle der Publizisten". 102 ) Noch pathetischere Worte fand 1956 der Loccumer Akademiedirektor Johannes Doehring, der die Akademiearbeit als „Hofprediger- oder Beichtvateramt in der Demokratie" 1 0 3 ) bezeichnete und ihren Geist als „tapfer sein, zur Zeit und zur Unzeit sagen was ist und sagen was sein soll". 104 ) D i e zentrale Position der Kulturzeitschriften im Intellektuellen Feld manifestierte sich während des Untersuchungszeitraums nicht zuletzt in dem Umstand, dass die entscheidenden Debatten über das Selbstverständnis der westdeutschen Intellektuellen, ihre Aufgaben, Möglichkeiten und Versäumnisse, über die Definition der Sozialfigur des Intellektuellen überhaupt in diesen Medien stattfanden. 1 0 5 )

101

) Eine französische Zeitschrift machte dieses Prinzip ausdrücklich zu ihrem Titel, nämlich Tel Quel. Vgl. Jurt: Das literarische Feld, S. 296-330. Der Begriff des tel quel zur Bezeichnung dieses Erzeugungsprinzips in Form des Gestus, „die Dinge beim Namen zu nennen", deutlich zu sagen, was ist, findet sich jedoch auch bei deutschen Autoren, etwa den Herausgebern der Gegenwart. Im Mai 1950 schrieb Max von Brück an Benno Reifenberg: „Sagen Sie mir bitte, wieweit ich wegen der ,Harzburger Front' gehen kann. Wahrscheinlich würde der Verlag (Wirthle) sehr unglücklich sein, wenn ich allzu deutlich werde. Das ist ja klar. Wie deutlich darf und soll ich werden? Ich kann natürlich das Alles auch nur andeuten. Die Dinge auch nur halb beim Namen nennen, außer uns wird es niemand tun, wird natürlich ein Zeter und Mordio bei den Wagnerianern hervorrufen. Ich möchte gern diese Frage mit der Redaktion abstimmen, es ist telquel ein Politikum erster Ordnung." DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Korrespondenz, Briefe an Reifenberg von Max von Brück (31.5.1950). Der fragliche Artikel erschien dann im Juni: Max von Brück: Es geht um Wagner, in: Die Gegenwart 5.1950, Nr. 12, S. 9-12. 102 ) Walter Dirks und Eugen Kogon (Doppelartikel): Die Rolle der Publizisten, in: FH 2.1947, S. 1185-99, Zitat S.1185. Ähnlich Eugon Kogon: „Was haben wir als politische Publizisten konkret zu tun? Die Wirklichkeit zu beobachten und darzustellen, die Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, die Richtung durch unser Wort mitzubestimmen". Ebd., S. 1193. 103 ) Dies war offensichtlich eine Anspielung auf die Loccumer Tagung „Der Publizist als Beichtvater?" (L037) aus dem Vorjahr. 104 ) Johannes Doehring: Die Verantwortung der Verantwortlichen, in: L052, S. 23-43, Zitat S. 35. 105 ) Eine Auswahl: Jose Ortega y Gasset: Über das Denken. Krisis des Intellektuellen und Krisis der Intelligenz, in: Merkur 7.1953, S. 601-25. Mitte der 1960er Jahre verdichtete sich diese Diskussion, im Merkur beispielsweise angestoßen von Arnold Gehlen: Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat (mit einer Vorbemerkung von Hans

76

1. Die Schauplätze des Geschehens

Die grundlegenden Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata ermöglichen den Akteuren die Orientierung im sozialen Raum und machen ihr Handeln erst sinnvoll, das heißt abgestimmt auf die Chancen und Anforderungen, die sich in ihm bieten und stellen, und produzieren durch ihre kollektive Übereinstimmung auch einen Konsens unterschiedlicher Akteure über die soziale Welt.106) Doch sind diese Schemata stets auch umstritten, zum einen weil sie ein spezifisches Moment der Unschärfe tragen, die ihre notwendige symbolische Elastizität und Anpassungsfähigkeit gewährleistet (weil die Objekte und Handlungen in einer sich ständig verändernden Welt niemals in eine eindeutige und unveränderliche symbolische Hierarchie zu bringen sind), und zum anderen weil die Individuen und Gruppen je nach ihrer sozialen Position ein Interesse an der Bewahrung oder Veränderung der Klassifikationen haben, von denen ihre sozialen Positionen abhängig sind. Aus diesem Grund ist der Kampf um die Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata eine grundlegende Dimension aller sozialen Kämpfe. 107 ) Unterschiedliche Sinnzusammenhänge oder Ordnungsentwürfe konkurrieren jedoch nur deshalb miteinander, weil zuallererst ihre Produzenten miteinander in Wettbewerb stehen. Die wichtigsten Akteure in diesen symbolischen Auseinandersetzungen sind die primären Produzenten jener Klassifikationssysteme: die Intellektuellen. In ihrer Deutungsarbeit und Ideenproduktion stehen sie grundsätzlich in Konkurrenz zueinander. Die Art und Weise, in der die konkurrierenden Urheber unterschiedlicher Deutungskonzepte diesen Wettbewerb austragen - ob durch gegenseitiges Ignorieren, allerlei Bemühungen um Errichtung eines Monopols (gegebenenfalls mit Gewalt) oder in Form der freien aber geregelten Diskussion - ist abhängig von kulturellen Traditionen sowie der Verfassung und der Institutionen des Marktes für Ideen und Deutungen. Um der weiteren Untersuchung nicht weiter vorzugreifen, sei hier nur vermerkt, dass in Westdeutschland nach 1945 die Möglichkeit zur freien Diskussion miteinander so aussichtsreich war wie selten zuvor. Derartige Orientierungsanforderungen bestehen also ununterbrochen in modernen, hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften, deren Teilsysteme ständiger Bewegung unterliegen. Allerdings folgt die Intensität dieser Anforderungen auch jenem gesellschaftlichen Wandel: Gerade soziale Krisen verlangen nach einer Deutung der Geschehnisse, und in Momenten des Zusam-

Paeschke), in: Merkur 18.1964, S. 401-13; Adolf Arndt: Antikritik durch Tabu?, in: ebd., S. 653-55; Rudolf Augstein: Schwärmer, noch zu besänftigen, in: ebd., S. 655/56; Hans Erich Nossack: Wir Intellektuelle, in: ebd., S. 657-60; Rolf Schroers: Politik und intellektuelles Engagement, in: ebd., S, 661-63; Ralf Dahrendorf: Angst vor dem Hofnarren?, in: ebd., S. 663-67; Rüdiger Altmann: Das intellektuelle Niveau der Politik, in: ebd., S. 667-70. 106 ) Beispiele für die Art und Weise, in der das Konzept des Standes das soziale und politische Handeln im Preußen des Vormärz prägte - „durch ein ganzes Netz von Symbolen, mit deren Hilfe die Menschen ihre jeweilige soziale Welt wahrnehmen und ordnen konnten" -, zeigt Berdahl: Anthropologie, S.270. 107 ) Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

77

menbruchs vertrauter Ordnungsmuster - einer häufig zu beobachtenden Folge schwerer Krisen - besteht eine außergewöhnlich große Nachfrage nach Konzepten, die die irritierenden Ereignisse erklären und auf diese Weise einen Sinn - mag er auch noch so verabscheuungswürdig sein - geben. Zusätzlich zu den Auswirkungen und Zwängen der Intellektuellen Kämpfe unterliegen die gedachten Ordnungen derartigen Konjunkturen. Unmittelbar nach Kriegsende war das Orientierungsbedürfnis in der westdeutschen Bevölkerung sicherlich größer als etwa zehn Jahre später. Die Ideen-Produktion, das Deuten und Sinn-Stiften ist daher nicht nach einmal getaner Arbeit beendet, sondern eine permanente Aufgabe, wie schon Max Weber festgestellt hat. 108 ) Diese Definition intellektueller Arbeit ist jedoch nicht derart zu verstehen (wie eine sozialharmonische Lesart es tun könnte und liberal-konservative Intellektuellen-Definitionen es tun), dass das Wesen der Intellektuellen-Existenz im dauerhaften Hüten des kulturellen Erbes einer Gesellschaft bestünde. 109 ) Vielmehr ist daran zu erinnern, dass stets eine Mehrzahl von Sinnzusammenhängen miteinander konkurrieren, dass die Objekte, auf welche die Klassifikationsschemata der symbolischen Ordnung angewendet werden (etwa in den Auseinandersetzungen über gegenständliche und abstrakte Kunst nach 1945, über die philosophischen Verankerungen und den daraus folgenden politisch-ideellen Orientierungs- und Legitimationschancen, 110 ) aber auch in den Debatten über die soziale und politische Bedeutung der Existenz einer Schicht von Menschen, die von ihren privaten Geschäften „abkömmlich" [im Sinne Max Webers] ist, bis hin zur Beurteilung bestimmter charakterlicher Dispositionen), niemals vollkommen eindeutig festgelegt sind und dass jene Sinnzusammenhänge das Produkt unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Akteure und deren intellektueller Arbeit darstellen. 111 ) Der intellektuelle Wettbewerb findet allerdings, darauf ist hinzuweisen, nicht zwischen festen Gruppen oder Institutionen statt. Auch wenn Autoren sich immer wieder zu recht dauerhaften Bündnissen zusammenfinden, legen sie doch großen Wert auf die Individualität und Originalität ihrer Produktion. Und doch sind die Ergebnisse ihrer Arbeit stets Produkte kollektiver Anstren108

) Weber: Wirtschaftsethik, in: RS 1, S.564 (Hervorhebung im Original). ) So etwa Jens Reich, zitiert nach Jäger. Schriftsteller, S. 5. 110 ) Vgl. Sedlmayr. Verlust der Mitte (mit dem sprechenden Untertitel: „Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit"), und die publizistische Debatte um dieses Buch. Vgl. als Auswahl: Karl Thieme: Verlust - und Gewinn, in: FH 5.1950, S. 670-73; S. Ostreicher: Noch einmal Sedlmayrs Buch, in: ebd., S. 673-75; Joachim Felix Hoppenstedt: Dämonie der modernen Kunst, in: Merkur 4.1950, S. 225-29. Diese Debatte setzte sich mit Sedlmayrs folgenden Veröffentlichungen fort. Gustav Hillard: Eine „Summa" der Kathedrale, in: Merkur 6.1952, S. 90-93; Martin Gosebruch: Atheistische Kunst?, in: Merkur 6.1952, S. 496-99. Vgl. auch Warnke: Von der Gegenständlichkeit und der Ausbreitung der Abstrakten, passim; Bühren Kulturkreis; Hermand: Wiederaufbau, S. 428-33. ln ) Bourdieu: Das intellektuelle Feld. 109

78

1. Die Schauplätze des Geschehens

gungen, nicht zuletzt, weil die Autoren zu vorgegebenen intellektuellen Anforderungen und Positionen Stellung beziehen (müssen) und in der Durchsetzung ihrer eigenen Ideen stets auf das Eingehen von Koalitionen und vor allem auf die jeweils vorherrschenden, ganz spezifischen Orientierungs- und Legitimationsbedürfnisse des „Publikums" angewiesen sind. Daher und insofern ist das Sinn-Stiften „eine soziale Tätigkeit katexochen". 112 ) Nicht nur die Autoren standen untereinander im Wettbewerb. Die Zeitschriften als Publikationsorte konkurrierten ihrerseits um die vielversprechendsten Ideen und die bekanntesten Autoren. Zu keiner Zeit ist in einem solchen Kampf ein vollständiger und endgültiger Sieg möglich - dieser Umstand hielt die Arbeit der Akteure in ständiger Bewegung, in der sie auf dem „Markt der symbolischen Güter" 1 1 3 ) versuchten, ihre Ideen durchzusetzen. Auf diese Weise bestand immer die Möglichkeit, die Klassifikationsprinzipen der symbolischen Ordnung (in der unmittelbaren Nachkriegszeit etwa die Forderungen nach „ganzheitlichen" Sozialmodellen oder nach der christlichen Wertbindung gesellschaftlicher Entscheidungsträger) zu verändern. Beispielsweise lässt sich zeigen, dass der Verschiebung in der Diskussion über unterschiedliche Elite-Konzepte, weg von der Wert- und Charakter-Elite und hin zur Macht- oder Funktionselite als dominierendes Modell eine Verschiebung der Klassifikationsprinzipien vorausging. In dieser Verschiebung machte das seit 1945 vorherrschende Axiom von der notwendigen Bindung der Herrschaftsträger an positiv definierte ethische Normen als Voraussetzung einer jeglichen legitimen sozialen Ordnung der Auffassung von der Freiheit von jeglicher diesbezüglicher Wertbindung in der humanwissenschaftlichen Analyse Platz. Das Axiom von der notwendigen Wertbindung stellte jedoch nicht nur eine bestimmte Einstellung dar, die während der 1950er Jahre unter den westdeutschen Intellektuellen vorherrschte, sondern bildete ein zentrales Element im Selbstverständnis dieser Akteure, die sich in der Tat nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur als Hüter der humanistischen Werte der (geteilten) Nation verstanden, weshalb jene Verschiebung in der Diskussion auch erst erfolgen konnte, nachdem ein grundlegender Wandel im Intellektuellen Feld eingesetzt hatte und eine neue Generation von Akteuren aufgetaucht war, die sich durch ein weniger ethisch-kustodiales Selbstverständnis auszeichnete. Der Konkurrenzkampf zwischen den Akteuren im Feld bildet daher gewissermaßen den Motor für die immer neuen intellektuellen Anstrengungen, zeitgemäße Ordnungsentwürfe hervorzubringen und durchzusetzen. 114 ) Der Ort dieser fortgesetzten Produktion und Distribution sinnstiftender Ordnungsentwürfe wird hier und im Folgenden als „Intellektuelles Feld" bezeichn2

) Dies in Anlehnung an Fleck: Entstehung, S. 129. ) Bourdieu: Regeln, S. 227-79. 114 ) Ein Beispiel für ein anderes Unterfeld der Wissens-Produktion mit ähnlichen Dynamiken bildet zweifellos die Geschichtswissenschaft. Vgl. Raphael: Erben. 113

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

79

net; Schauplatz all jener Kämpfe und Bündnisse um die Deutungshoheit über die soziale Welt. Damit bildet es eine besondere Region innerhalb des weiten kulturellen Feldes mit seinen zahlreichen hochspezialisierten Unterfeldern, deren Bewohner mit der Erzeugung aller möglicher Formen von Wissen, kulturellen Gütern und Dienstleistungen beschäftigt sind (in den Institutionen des Bildungssystems und den wissenschaftlichen Disziplinen, in der Kunst, Literatur, Theater und Musik mit all ihren weiteren „populären" und „anspruchsvollen" Unterfeldern usw.). In diesem Intellektuellen Feld zirkulierten Güter, Ideen und Wissensbestände aus diesen benachbarten Feldern, mit denen es in einem komplexen Austauschverhältnis steht. Zweifellos trieb die Konkurrenz die Autoren an, sich gegenseitig mit immer neuen Deutungen, Manifesten, Forderungen und Ordnungsentwürfen zu überbieten, und fungierte auf diese Weise als Motor der Produktion. Dies lag schon im Grundprinzip der intellektuellen Auseinandersetzung begründet, die ja von der Konfrontation unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Standpunkte lebt. Das „Ideen produzieren und verbreiten um einer sinnvollen Ordnung willen" als grundlegendes Erzeugungsprinzip im Intellektuellen Feld spornte sie an, auf einen jeden Entwurf oder eine neue Problemstellung mit einem eigenen Konzept, einer Unterstützung oder einem Gegenentwurf zu antworten. Eine der wichtigsten Spannungslinien, die das Intellektuelle Feld durchziehen, besteht deshalb im Gegensatz zwischen den Neuerern und den Bewahrern des Bestehenden, oder in einer etwas anderen Terminologie im Grundkonflikt zwischen Avantgarde und Orthodoxie (oder dem mainstream). Aufgrund der konservativen Dominanz im Intellektuellen Feld während der 1950er Jahre nahm dieser Grundkonflikt damals in erster Linie die Gestalt eines Spannungsverhältnisses zwischen einer Avantgarde an, die konservatives Gedankengut an gewandelte Verhältnisse anzupassen strebte, und einer Orthodoxie, die ein bloßes Zurück zu vertrauten und scheinbar unverbrauchten politischideellen Traditionen predigte. Weil die intellektuelle Arbeit auf den ersten Blick in der Konkurrenz zwischen Individuen ausgefochten wird und die Autoren dabei um die Anerkennung ihrer individuellen Arbeit kämpfen müssen, streben sie nach der individuellen Erkennbarkeit ihrer Produkte durch deren Einzigartigkeit und „Originalität". Auf diese Weise fördert die Konkurrenzsituation im Intellektuellen Feld die ständig neue Produktion von Texten und Argumenten und das Bemühen der Autoren, ihre Ideen möglichst „interessant" und „originell" zu formulieren. Das Ziel dieser Konkurrenzkämpfe besteht in der Deutungshoheit über ein bestimmtes soziales, kulturelles oder politisches Phänomen, wobei mit der Dignität dieses Phänomens auch die Intensität der Auseinandersetzung und die Prominenz der beteiligten Akteure zunimmt, mit anderen Worten: Je „bedeutsamer", das heißt wichtiger ein Phänomen für die symbolische und damit die soziale Ordnung, desto wahrscheinlicher ist es, dass die angesehensten und einflussreichsten Sinn-Produzenten sich an der Kontroverse beteiligen und diese zu monopolisieren versuchen. Für weniger einflussreiche Autoren kann

80

1. Die Schauplätze des Geschehens

dies bedeuten, dass sie von der Debatte ausgeschlossen werden, indem ihre Texte von den renommiertesten Zeitschriften nicht abgedruckt werden und sie auf entlegenere Orte, zum Beispiel minder angesehene Magazine oder Bücher im Selbstverlag ausweichen müssen. Für jüngere Autoren kann sich jedoch auch die Chance bieten, sich mit einem guten, das bedeutet den jeweiligen Anforderungen genügenden Beitrag einen Namen zu machen, wie es sich zum Beispiel für die jungen Nachwuchssoziologen um 1960 zeigen lässt, die die Elite-Diskussion in der Bundesrepublik nachhaltig beeinflussten und damit sehr erfolgreiche Karrieren in ihrer Disziplin starteten. Insgesamt zeigt sich gerade bei den Auseinandersetzungen über die verschiedenen Elite-Konzepte, dass diese von ausgesprochen angesehenen und einflussreichen Intellektuellen, die über ein sehr hohes Deutungskapital verfügten, geführt wurde, was wiederum auf die erhebliche Bedeutung des Themas für die Deutung der Gegenwart in den Zeitdiagnosen der 1950er und 60er Jahren schließen lässt. Die Schauplätze des in dieser Arbeit untersuchten, eng umgrenzten Geschehens stellten jedoch nur einen Ausschnitt des weiteren Intellektuellen Feldes dar. Innerhalb dessen lassen diese Orte sich in einem ersten Schritt am einfachsten lokalisieren, indem man sich den Umfang und die Zusammensetzung des Publikums der hier in Rede stehenden Ordnungsentwürfe vor Augen führt. Sowohl auf der Ebene der Zeitschriften als auch hinsichtlich der beiden Evangelischen Akademien ist die unmittelbare Nachkriegszeit noch immer viel besser erforscht als die intellectual history der frühen Bundesrepublik, trotz einiger in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten. Zu nennen sind hier vor allem drei Forschungszusammenhänge: Erstens die von Helga Grebing angeleiteten Forschungen „Zur politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland. Politisch-kulturelle Zeitschriften 1945-1949",115) zweitens das Münsteraner Projekt „Geschichte der Evangelischen Akademien nach 1945",116) sowie drittens die von Michel Grunewald herausgegebenen Sammelbände über den „Europadiskurs" und über intellektuelle Milieus und ihre Zeitschriften vor und nach 1945.117)

115

) Brelie-Lewien und Laurien: Zur Politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland; BrelieLewien: Katholische Zeitschriften in den Westzonen; Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen. Für die Zeitschriften der Besatzungszeit weiterhin: Waldmüller. Die Wandlung; Vaillanv. Der Ruf; Baerns: Ost und West; Ewald: Die gescheiterte Republik; Forner: „Das Sprachrohr keiner Besatzungsmacht oder Partei". 116 ) Nösser und Treidel: Evangelische Akademien als neue Form des kirchlichen Engagements; dies.: Evangelische Akademien an Rhein und Ruhr; Treidel: Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland; ders.: Die Diskussion um die Mitbestimmungsgesetzgebung; ders.: Evangelische Kirche und politische Kultur im Nachkriegsdeutschland; Nösser: Das Engagement der Evangelischen Akademie Bad Boll. 117 ) Grunewald (Hg.): Europadiskurs; ders. (Hg.): Das linke Intellektuellenmilieu; Grunewald und Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu; dies. (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

81

Zunächst ist zu bemerken, dass sich die Auflagenhöhe der Kulturzeitschriften in wenigen Tausenden berechnete; zusammengenommen konnten sie jedoch während der 1950er Jahre mit gutem Grund den Anspruch erheben, die Gesamtheit der „Gebildeten" zu erreichen. Auf ein Publikum außerhalb des engen Kreises dieser „Gebildeten" (der hier durchaus und ganz entgegen der öffentlichen Beteuerungen der Herausgeber mit dem Kreis der Inhaber höherer Bildungspatente gleichzusetzen ist) zielten diese Zeitschriften zu keiner Zeit. Auf der ersten Strukturachse, die das Intellektuelle Feld durchzog und ihm damit seine Gestalt verlieh und die den sozialen Ort der Produktion anhand der Größe und der sozialen Qualität des Publikums bezeichnet - zwischen dem Pol der eingeschränkten Produktion, der „grundsätzlich dadurch gekennzeichnet ist, dass die Produzenten dort in erster Linie für andere Produzenten produzieren" 118 ), an dem also die Ideen und Texte in winzigen Auflagen für eine handverlesene Leserschaft zirkulierten, und dem entgegengesetzten Pol der Massenproduktion der Tagespresse und der populären Radio(und später: Fernseh-)Programme auf dieser Achse lassen sich die Kulturzeitschriften und mit ihnen die gesamte Literarisch-Politische Öffentlichkeit klar und deutlich in der Nähe des Pols der beschränkten Produktion für ein sozial exklusives, weil mit einem Maximum an Bildungskapital ausgestattetem Publikum verorten. Das Gleiche gilt für die einschlägigen Tagungen der beiden ausgewählten Evangelischen Akademien, die sich an ein ähnliches Publikum wandten (bei denen allerdings das politische und vor allem das ökonomische Kapital gegenüber ihrem Bildungskapital stärker zu Buche schlug) und damit gleichzeitig einer ähnlichen Beschränkung im Umfang des Teilnehmerkreises unterlagen. Für sich allein genommen ließen die niedrigen Auflagen und der geringe Umfang des Publikums die Vermutung zu, dass es sich hier um voneinander isolierte Akteure und Objekte einer sozialen Esoterik oder des Sektierertums handeln könnte, bei denen der Geltungsanspruch ihrer Ordnungsentwürfe nicht über den Kreis eines beschränkten Milieus hinaus ging und deren intellektuellen Anstrengungen, damit und wie „das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller ,Kosmos' sei oder: werden könne und solle" 119 ), selbstgenügsam auf die Bedürfnisse dieses Milieus ausgerichtet wären. Dass dem nicht so war, zeigt sich sofort, sobald man die Kulturzeitschriften und die Akademietagungen auf der zweiten Strukturachse des Intellektuellen Feldes lokalisiert: Sie gibt zugleich Aufschluss über den Grad der Autonomie der Akteure und der Universalität ihrer Deutungen. Während die Produzenten am Pol der größten Autonomie gegenüber feldfremden Einflüssen, etwa kirchlichen Dogmen oder parteipolitischen Interessen unterliegenden Diskussionsbeschränkungen oder einfach materiellen Verwertungszwängen, das heißt am

118

) Bourdieu: Was heißt sprechen?, S.35. ) Weber: Wirtschaftsethik, S.253.

119

82

1. Die Schauplätze des Geschehens

Pol der „reinen" und unreglementierten Debatte auch eine universale Geltung für ihre Zeitdiagnosen beanspruchen durften, unterlagen die Akteure am entgegengesetzten Pol einer Vielzahl ebensolcher Zwänge, und ihre Deutungsangebote konnten daher auch nur von partikularer Gültigkeit sein. Auf dieser Achse sind die Kulturzeitschriften mit ihrem „Forum"-Charakter und die Akademietagungen mit ihrer besonderen „Gesprächs"-Kultur zweifellos am Pol der autonomen Debatte und dem Anspruch auf universale Gültigkeit der Ordnungsentwürfe angesiedelt. Allerdings bestanden auch hier Differenzen: Keineswegs alle Kulturzeitschriften besaßen die Gestalt eines reinen „Forums", viele blieben mehr oder weniger dem Modell der Richtungszeitschrift verhaftet. In jedem Falle jedoch blieben die Herausgeber des Magazins die AlleinEntscheider über die Auswahl der abgedruckten Beiträge. Weder existierten irgendwelche Gutachterkreise, noch war es den Verlagen möglich, direkten Einfluss auf die Auswahl der Autoren auszuüben. Die Frankfurter Hefte zum Beispiel erschienen von Anfang an im „Verlag der Frankfurter Hefte", so dass derartige Versuche gar nicht möglich waren. 120 ) Der Merkur ließ sich im Vertrag mit dem Klett-Verlag ausdrücklich zusichern, dass „der Herausgeber alle Freiheit bei der Gestaltung der Zeitschrift" habe. 121 ) Als weitgehend unabhängige und autonome Vermittler zwischen Produzenten und Konsumenten übten die Herausgeber eine effektive Qualitätskontrolle der Manuskripte aus und sicherten ihren Zeitschriften auf diese Weise auch eine verhältnismäßig autonome Position im Intellektuellen Feld. Wegen der weitgehenden Freiheit von feldfremden Einschränkungen der Diskussion am Pol der Autonomie und Universalität zeigte sich der Nomos des Intellektuellen Feldes, das „Ideen produzieren und verbreiten um einer sinnvollen Ordnung willen", an diesem Ort so ungebrochen wirksam wie nirgends sonst. Und gerade weil die Medien im Zentrum der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit feldfremden Einflüssen nur in verhältnismäßig geringem Maße unterlagen und weil jener Nomos am autonomen Pol am reinsten zu verwirklichen war, beanspruchten die hier publizierenden Autoren für ihre Deutungen nicht nur eine partikulare, auf den engen Kreis eines intellektuellen Teilmilieus beschränkte, sondern eine universale Gültigkeit. Sowohl die erste Achse, die den Umfang der Produktion und die Zusammensetzung des Publikums angibt, als auch die zweite Achse, die den Grad der Autonomie und der Universalität der Produktion bezeichnet, durchziehen nicht nur das weite Feld der Intellektuellen, sondern sie verliehen auch der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit während des Untersuchungszeitraums ihre Gestalt. Aus diesem Grund lässt auch sie sich als ein Feld begreifen, eben als Unterfeld des Intellektuellen Feldes, und in der Tat funktioniert die geho120 ) Von 1946 bis 1954: „Buchverlag der Frankfurter Hefte", 1954 bis 1970 „Neue Verlagsgesellschaft der Frankfurter Hefte". m ) DLA, TNL Paeschke, Vertrag zwischen Hans Paeschke und dem Verlag Ernst Klett (31.10.1967).

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

83

bene Publizistik nach den gleichen Regeln wie die Produktion symbolischer Güter insgesamt. Allerdings stellt das Literarisch-Politische Feld selbstverständlich nur einen Ausschnitt des weiteren Feldes der Intellektuellen dar, schon weil es viel weniger hier tätige Bewohner beherbergt, und schon wegen seiner geringeren Größe sind wir auch gezwungen, einen deutlich kleineren Maßstab für unsere Untersuchung zu wählen. Es ist offensichtlich, dass das heuristische Modell der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit zur Untersuchung ganz anderer Problemstellungen konzipiert ist als der berühmte, von Jürgen Habermas entwickelte Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit, 1 2 2 ) deren Strukturwandel er 1961 untersuchte. Habermas zielte damit auf die Funktionsfähigkeit dieser Öffentlichkeit, in der sich die Privatleute zum Publikum versammelten und die, so die Modellannahme, 1 2 3 ) zwischen bürgerlicher Privatsphäre und (staatlicher) Politik vermittelte. Das Konzept der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit - oder: des Literarisch-Politischen Feldes - dient hingegen in sozialhistorischer Perspektive der Untersuchung der historischen Akteure, ihrer spezifischen Interessen, ihrer Medien und ihrer Arbeitsbedingungen bei der Produktion und Zirkulation von Ideen. In dieser Perspektive besteht das Untersuchungsziel in der Rekonstruktion der sozialen Logik (oder Funktionsweise) desjenigen sozialen Ortes, an dem die grundlegenden Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der sozialen Welt und damit ihrer symbolischen Ordnung hervorgebracht wurden. Bleiben wir bei den Kulturzeitschriften als den wichtigsten Orten der gehobenen Publizistik und bei den beiden mit ihnen korrespondierenden Evangelischen Akademien. Während der 1950er und 60er Jahre unterschieden sie sich hinsichtlich ihrer Auflagenhöhe durchaus erheblich voneinander: Die kleinsten verkauften nur rund 800 (Deutsche Rundschau 1963) bis 2500 Exemplare (Merkur 1950), allerdings zu ihren schlechtesten Zeiten, die größten zwischen 10000 und 12000 (Die Gegenwart 1951) bis 25000 (Der Monat 1960; vgl. Übersicht l). 1 2 4 ) Hier zeigt sich also die Bedeutung des gewählten Maßstabs: Aus der Perspektive der überregionalen Tages- und Wochenpresse nehmen sich alle diese Zahlen marginal aus, zumal die Distanz zwischen beiden Publikationsformen mit der sinkenden Gesamtauflage der Kulturzeitschriften im Laufe der Zeit zunahm. Die hier ausgewählten Zeitschriften lassen sich also auf einer Achse aufsteigender Auflagenhöhe lokalisieren, an deren unterem Ende sich auch die Tagungen der beiden Evangelischen Akademien befanden. 122

) Habermas: Strukturwandel, S. 12/13. ) Die Frage, inwieweit dieses Modell auch realiter in der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts angesiedelt werden kann, wird von der Historiographie kontrovers beurteilt. Vgl. zur Debatte Habermas'. Vorwort zur Neuauflage 1990, in: Sturkturwandel der Öffentlichkeit, S. 11-50. Zur historiographischen Debatte vgl. auch Gestrick. The Public Sphere and the Habermas Debate, und die dort angegebene Literatur. 124 ) Schäfer: Rudolf Pechel, S. 194, S.308; King: Zeitschriften, S.9/10, S.21-23, S.27-30. 123

84

1. Die Schauplätze des Geschehens

Übersicht 2: Charakteristika ausgewählter

Kulturzeitschriften

Name der Zeitschrift

Dauer des Bestehens

Auflage

Ausrichtung

Merkur

1947-

Der Monat

1948-1971

Universitas

1946-

Die Gegenwart

1945-1958

50000 (1947) 2500 (1950) 3900 (I960) 60000 (1947) 25000(1955) 23000(1963) 20000 (1967) 8000 (1971) 15000(1947) 7800 (ca. 1960) 220000 (1947) 65000(1948) 12000 (1951)

Frankfurter Hefte

Forum, Hans Paeschke „reine" Joachim Moras Zeitkritik Forum, antikommu- Melvin Lasky nistisch, international,, Helmut Jaesrich liberal-demokratisch, Fritz R. Allemann Kongress für Peter Härtling Kulturelle Freiheit akademischer Serge Maiwald Rundschau-Typ, H. Walter Bahr konservativ politische und Michael Freund ökonomische Dolf Sternberger Diskussionen, Friedrich Sieburg „weltlich" Bernard Guttmann Max von Brück Robert Haerdter Fritz Hauenstein Herbert Küsel Albert Oeser Benno Reifenberg „links-katholisch" Eugen Kogon Walter Dirks Clemens Münster

1946-1984 75000(1947) (Fusion mit 7000(1961) Die Neue Gesellschaft) 1874-1942, 40000 (1947) konservativ, 1946-1964 20000 (1948) „staatsnah" 3-5000 (1949) 6000 (1960) 800 (1963) 1946-1949 50-100000 links-nationalistisch, „junge Generation" 1945-1949 35000(1946) liberal-bürgerlich 14000 (1949)

Deutsche Rundschau

Der Ruf

Die Wandlung

Herausgeber, in ( ) Redakteure

Rudolf Pechel Harry Pross

Hans Werner Richter Alfred Andersch Erich Kuby Dolf Sternberger (Karl Jaspers, Werner Krauss, Marie Luise Kaschnitz, Alfred Weber)

Quellen: King: Literarische Zeitschriften, passim; Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S.160, S. 550/51; Schäfer-Knesebeck: Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau", S.194, S.308.

I m Z u g e des A u f l a g e n s c h w u n d e s n a h m die G e f a h r des ö k o n o m i s c h e n A u s b e s o n d e r s für e i n e Zeitschrift mit w a c h s e n d e r N ä h e z u m P o l der a m stärksten eingeschränkten Produktion zu, w e n n die Z a h l der Leser e i n e g e w i s s e G r e n z e unterschritt. D i e s e G r e n z e verlief v o n Fall z u Fall unterschiedlich; sie war in der R e g e l abhängig v o n der Bereitschaft d e s Verlages, auch kontinuierliche Verluste zu ü b e r n e h m e n . D i f f e r e n z i e l l e A n g a b e n über die soziale Z u s a m m e n -

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

85

setzung der Leserschaft einzelner Magazine sind kaum möglich, weil nur die wenigsten von ihnen entsprechende Daten überhaupt erhoben haben und die verwendeten sozioprofessionellen Kategorien zu undifferenziert waren. Aus diesem Grund können Aussagen über das unterschiedliche oder aber gleichartige Leserprofil nicht getroffen werden (wobei es sich in der Tat um feine Unterschiede gehandelt haben dürfte, da zumindest gemutmaßt werden darf, dass die Leser aller hier angesprochenen Magazine über ein vergleichsweise sehr hohes Bildungskapital verfügten, worauf ja auch bereits hingewiesen wurde), wohl aber über das Profil der Autoren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst die Art und Weise des Umgangs der Zeitschriften mit den sozialen Merkmalen der Autoren. Während einige Zeitschriften ausführliche Angaben machten, die gelegentlich zur Freude des Historikers geradezu die Form von selektiven Kurzbiographien annehmen konnten, hielten sich andere Magazine in dieser Hinsicht außerordentlich zurück. Mit anderen Worten: Einer Reihe von Zeitschriften war es außerordentlich wichtig, ihren Lesern die soziale Position und gewisse Auszeichnungen der Autoren mitzuteilen, während andere Magazine offensichtlich eine derartige Zuordnung verweigerten, vielmehr die Bedeutung eines Autors allein von der Qualität seiner Argumente (und dem Gedächtnis der Leser) abhängig machten. Und auch wenn sich diese gegensätzlichen Praktiken nicht vollständig mit den Unterschieden in den Auflagenhöhen deckten, so bestand doch immerhin eine sichtbare Korrelation zwischen der Nähe zum Pol der „reinen" intellektuellen Debatte und dem Verzicht auf das Nennen „weltlicher", also auf Meriten außerhalb des Literarisch-Politischen Feldes beruhender sozialer Titel einerseits (etwa beim Merkur) und einem weiteren Verbreitungsgrad in feldfremde Milieus hinein und der Betonung derartiger Würden (zum Beispiel in der Universitas) andererseits. Dieser Befund legt es nahe, die zweite Achse des Literarisch-Politischen Feldes ins Blickfeld zu rücken. Hier sind es qualitative und quantitative Daten, die es erlauben, die einzelnen Zeitschriften zu verorten: Zum einen die Selbstzeugnisse der Herausgeber, die ihre Magazine selbst innerhalb der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit positionierten; zum anderen der Anteil derjenigen Texte, die aus der Feder einer immer gleichen Autorenschaft (oder der Herausgeber selbst) stammen - ein Anteil, der allerdings kaum exakt messbar ist. Beide Daten ergeben ein Bild von den expliziten oder impliziten, stärkeren oder schwächeren Bindungen an feldfremde Ordnungen und Milieus. Bei Zeitschriften am Rande des Literarisch-Politischen Feldes wie den Gewerkschaftlichen Monatsheften, dem Neuen Abendland, der Zeitschrift für Evangelische Ethik oder der Neuen Gesellschaft war diese Bindung auf den ersten Blick erkennbar (an die freien Gewerkschaften, an bestimmte katholisch-konservative Kreise oder an die SPD), und natürlich ebenso bei den Evangelischen Akademien. Bei den Stimmen der Zeit oder Wort und Wahrheit gab der Umstand, dass Jesuiten sichtbar die Mehrzahl der Autoren stellten, und die Nennung des Verlags (Herder in Freiburg bzw. zunächst Herder in Wien) sowie der Untertitel

86

1. Die Schauplätze des Geschehens

(Monatsschrift für Religion und Kultur) Aufschluss darüber, dass es sich um katholische Zeitschriften handelte. 125 ) Einen deutlich höheren Grad an Autonomie beanspruchten die Frankfurter Hefte und der Monat, wie schon in ihren Untertiteln deutlich wird: Zeitschrift für Kultur und Politik bzw. Eine internationale Zeitschrift. Denn das linkskatholische Milieu der Hefte verstand sich ebenso wie der Kongress für Kulturelle Freiheit im Hintergrund des Monats als kritisches und demokratisches Korrektiv gegenüber jedweden Versuchen, die Freiheit der intellektuellen Debatte einzuschränken. Beide Magazine besaßen daher eine Rückkoppelung an Institutionen bzw. Milieus außerhalb des Literarisch-Politischen Feldes, doch ohne dass damit ihre intellektuelle Freizügigkeit eingeschränkt worden wäre, was sie näher an den Pol der autonomen als an den der heteronomen Produktion rücken ließ. Und bemerkenswerterweise finden sich gerade bei diesen beiden Magazinen, sowie im Merkur, der als Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken spätestens seit der ersten Hälfte der 1950er Jahre zu Recht den Anspruch erheben konnte, das Erzeugungsprinzip des Literarisch-Politischen Feldes mit am reinsten zu verkörpern, auch die wenigsten Angaben über Bildungstitel und vor allem über den Beruf und damit die soziale Position der Autoren. Denn am Pol der größten Autonomie der Debatte musste allein die sprachliche und intellektuelle Qualität des Textes zählen und nicht die „mondänen" (beruflichen, politischen oder kirchlichen, nicht einmal die akademischen) Würden der Autoren. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass unter den Autoren, die nicht an die eine oder andere feldfremde Macht gebunden waren, offensichtlich ein deutliches Gefälle im Ansehen der einzelnen Zeitschriften bestand, das heißt des Wertes, in diesem oder in jenem Magazin publizieren zu können. Dieses Ansehen war abhängig von der Nähe oder Ferne der Zeitschriften zum Pol der vollkommenen autonomen Debatte. 126 ) Der Wert der Veröffentlichung in einem diesem Pol naheliegenden Magazin bestand augenscheinlich nicht im zahlenmäßig geringen Verbreitungsradius der hier produzierten und zirkulierenden Ideen, noch in den Honoraren, sondern in der Möglichkeit, die Anerkennung der erbrachten intellektuellen Leistung von den kompetentesten Gutachtern zu erhalten - nämlich aus der Gemeinschaft der angesehensten und deutungsmächtigsten Akteure. 127 ) Die höchste Anerkennung eines Deutungsentwurfs konnte nur von anderen Erzeugern derartiger Güter erfolgen, demgegenüber 125 ) Die Stimmen der Zeit konnten als Nachfolger der Stimmen aus [dem Kloster, M.R.] Maria Laach auf eine ins Jahr 1871 zurückreichende Tradition zurückblicken. Vgl. BrelieLewien: Katholische Zeitschriften, S. 61-64. 126 ) Die gleiche soziale Wirkung des Anspruchs auf Autonomie hat Gertraud Linz im Prestige der westdeutschen Akademien für Künste und Literatur festgestellt. Linz: Prominenz, S. 51/52. 127 ) Dieses Prinzip wirkte auch außerhalb des Literarisch-Politischen Feldes, etwa in der Belletristik, wie Hans Werner Richter es für die Tagungen der Gruppe 47 (übrigens mit Betonung die dort stattfindende „Auslese") beschrieben hat. Richter. Fünfzehn Jahre, S. 12/13.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

87

die Zustimmung eines breiten Publikums in diesem Fall nicht nur wertlos, sondern sogar negativ bewertet werden konnte. Die negative Konnotation des Begriffs der „Prominenz", die sich durch den gesamten Untersuchungszeitraum zieht und auf die noch zurückzukommen sein wird, geht zurück auf diesen Gegensatz zwischen der Abwertung einer Anerkennung durch die „Vielen", der „Masse" (eben in Gestalt der „Prominenz", die gern auf Filmstars oder Sportheroen projiziert wurde), und der Aufwertung der Anerkennung durch die Wenigen, die „Elite". Die Nähe einer Zeitschrift zum Pol der autonomen Produktion lässt sich unter anderem ermessen anhand des Anteils derjenigen Autoren, die Mitglied einer der sechs westdeutschen Akademien der Schönen Künste waren. Da es sich bei diesen Akademien um kooptierende Autorenvereinigungen handelte, erfolgte die Aufnahme in erste Linie nach den jeweils vorherrschenden Kriterien zur Beurteilung der schriftstellerischen Qualität und weniger nach ihrem politischen Engagement, der Höhe ihrer verkauften Auflagen oder Ähnlichem. Mit anderen Worten, diese Autoren verdankten ihre Position im intellektuellen Universum vornehmlich der Anerkennung ihrer Werke durch andere Intellektuelle. Gertraud Linz hat dieses Kollektiv (im Jahre 1960 handelte es sich um 199 Individuen) schon Mitte der 1960er Jahre in einer leider wenig beachteten Arbeit als „Literarische Prominenz" bezeichnet und untersucht. Bei den Akademiemitgliedern handelte es sich zwar um „Schriftsteller", das heißt um Verfasser vornehmlich literarischer Texte, doch beschränkten diese sich nicht auf die Produktion in fiktionalen Genres. Zumindest betätigten sie sich auch als Kritiker, und „grundsätzlich unterscheidet aber den Kritiker vom Autor bzw. Dichter gar nichts. Es gibt kaum einen großen Schriftsteller, der nicht zugleich auch Kritiker gewesen wäre, der sich nicht kritisch mit anderen Dicht- oder Kunstwerken auseinandergesetzt hätte. Es gibt keinen guten Kritiker, dessen kritische Essays nicht mit Fug und Recht als literarische Kunstwerke, als Dichtung bezeichnet werden können, die vollwertig neben Gedicht, Drama, Roman bestehen.

Auf einem von der Akademie der Künste veranstalteten „Berliner KritikerColloquium 1963" erklärte Albrecht Fabri: 128 ) „Geschriebene Kritik ... unterliegt dem gleichen Status wie alle andere Literatur auch: ein Kritiker ist primär Schriftsteller. Zumindest sollte er's sein: eine Kritik, die nicht ein gutes, und das heißt wiederständiges Stück Prosa ist, ist keine. Ein Kritiker taugt, was er als Schriftsteller taugt." 129 )

Bedarf es einer Erwähnung, dass eine solche Aussage darauf zielte, die Genres der Kritik und des Essays gegenüber rein literarischen Texten aufzuwerten

128 ) Albrecht Fabri (geb. 1911), Essayist und Übersetzer, erhielt 1953 den Literaturpreis des Kulturkreises des Bdl, in dem der Herausgeber des Merkurs, Joachim Moras, eine wichtige Rolle spielte. 129 ) Linz: Prominenz, S. 36/37.

88

1. Die Schauplätze des Geschehens

und damit auch die Position des Essayisten gegenüber d e m „reinen" Schriftsteller? Tabelle 4: „Literarische Prominenz" unter den Autoren der Kulturzeitschriften in v.H.

Merkur Der Monat Universitas Frankfurter Hefte

1950

1955

1960

1965

14,5 12,0 4,2 5,4

15,9 15,8 5,8 8,1

18,0 11,1 5,3 10,7

13,8 6,9 4,2 8,2

D i e „Literarische Prominenz" stellte also auch eine „intellektuelle Prominenz" dar, zumal unter den Autoren der Kulturzeitschriften während der 1950er Jahre der Typus des „Schriftsteller-Intellektuellen" dominierte, der sich gleichzeitig und untrennbar belletristisch und publizistisch betätigte. D a s intellektuelle Establishment konstituierte sich dabei zuallererst durch den gesicherten dauerhaften, schnellen und wohletablierten Zugang zu den wichtigsten Medien des Literarisch-Politischen Feldes. Innerhalb des Intellektuellen Feldes wie des Literarisch-Politischen Feldes stellte die A c h s e des Autonomiegrades also eine zentrale D i m e n s i o n der Hierarchisierung dar: Je größer die N ä h e eines Werkes zum Pol der A u t o n o m i e und der universalen Geltung, desto höher sein symbolischer Wert. 1 3 0 ) D e r Erfolg eines Autors und seiner Ideen am Pol der Heteronomie, an dem die Nach130

) Artikuliert wurden diese Maßstäbe in der Publizistik der 1950er und 60er Jahre in der Regel nur anhand von Gegenständen außerhalb ihrer Lebenswelt oder Gegenwart, doch durchaus im Sinne eigener Traditionsbildung. So lobte Curt Hohoff 1956 an den Hören und dem Athenäum anlässlich deren Neudrucks: „Die Wirkung hing ganz einfach mit der literarischen Qualität zusammen. Was hundert .scholastische' (Schiller) Gelehrte nicht vermögen, bringt ein glänzender Autor zustande: eine Fern- und Tiefenwirkung, gegen die keine Breitenwirkung aufkommt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Lebendigkeit einer Zeitschrift, ihr Geheimnis, wird durch den Rang, nicht durch den Umfang ihrer Mannschaft wie ihrer Leserschaft bestimmt." Damit brachte Hohoff das Erzeugungsprinzip des Literarisch-Politischen Feldes inklusive dem Beharren auf einem Rest analytisch undurchdringlicher Irrationalität (das „Geheimnis") ziemlich gut zum Ausdruck. Es ist übrigens bemerkenswert, dass 1962 zur Artikulation des kulturellen Führungsanspruchs der Intellektuellen im Allgemeinen und der „reinen", das heißt freien Publizistik im Besonderen bereits der Elite-Begriff Verwendung fand: „Hören und Athenäum wandten sich an eine soziologisch schwer fassbare Elite aus den Kreisen der souveränen Wissenschaft, des gebildeten Adels, des liberalen mittel- und westdeutschen Theologen und des bei uns damals noch fast unbekannten reinen Literaten, dessen Prototyp die Brüder Schlegel selbst waren. Die sich langsam in Jena bildende romantische Gruppe, eigentlich Clique, mit mancherlei Querverbindungen zum Weimar Goethes, Schillers und Herders, war das Modell einer neuen, freischwebenden (,intellektuellen'), beweglichen und anarchisch denkenden Gesellschaft. Zu ihr rechneten sich die ein- bis zweitausend Leser unserer klassischen Zeitschriften. ... Wir stoßen also auf eine zahlenmäßige Konstante, die proportional bis zum heutigen Tage gilt; die Auflagen unserer besten Kulturzeitschriften bezeugen es." Curt Hohoff: Ursprung und Wirkung literarischer Zeitschriften, in: Merkur 16.1962, S. 478-83, ZitatS. 482/83.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

89

frage des Publikums von feldfremden Interessen bestimmt wurde (etwa der Rechtfertigung bestimmter ökonomischer oder politischer Forderungen) konnte ja auf das bewusste Bedienen dieser Nachfrage unter Vernachlässigung intellektueller Redlichkeit zurückgehen. Demgegenüber bedeutete ein Erfolg am Pol der Autonomie, dass der betreffende Autor sich allein von Vorstellungen und Interessen geistesverwandter Sinnproduzenten und damit von dem kollektiven Ziel hatte leiten lassen, einen Beitrag zum Aufbau einer sinnvollen Ordnung zu leisten. Daher stellten auch die Adjektive, mit denen Autoren oder Zeitschriften polemisch bezeichnet wurden, etwa „amerikanisch" (beim Monat) oder „(links-)katholisch" (bei den Frankfurter Heften) häufig Formen der Denunziation dar, mittels derer die Bezeichneten symbolisch abgewertet werden sollten. 131 ) Derartige Formeln hatten nämlich den Zweck, die Deutungen der Betreffenden auf ein Stereotyp der Voreingenommenheit zu reduzieren und ihnen die Freiheit von feldfremden Zwängen abzusprechen. Um die Dynamik der Auseinandersetzungen in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit zu verstehen, ist es allerdings notwendig, eine dritte Dimension des Intellektuellen Feldes zu berücksichtigen, und zwar den Gegensatz zwischen den Herausforderern und den Verteidigern des intellektuellen mainstream im Sinne eines einmal erreichten, akzeptierten und legitimierten Diskussionsstandes sowie der differenziellen Bewertung der hier diskutierten Gegenstände und Themen. Dieser Gegensatz korrelierte während der langen 1950er Jahre keineswegs vollständig mit sozialen Positionen, jedenfalls wenn diese allein in sozioprofessionellen Kategorien beschrieben werden. Die Verteidiger des mainstream finden sich eben nicht ausschließlich in den etabliertesten Fraktionen des Literarisch-Politischen Feldes, im Gegenteil: Gerade an Akteure ist hier zu denken, die innerhalb dieses Feldes mittlere Positionen einnahmen, etwa an (sozial durchaus etablierte) Professoren mit gelegentlichem Zutritt zu den großen Kulturzeitschriften, an die Kleriker an den Evangelischen Akademien oder an die zahllosen Schriftsteller-Intellektuellen mit durchaus ansehnlichem, aber keineswegs überragendem intellektuellen Prestige, aber auch an Politiker oder Unternehmer, die nur gelegentlich an intellektuellen Debatten teilnahmen, kurz an alle diejenigen dauerhaften und vorübergehenden Bewohner des Intellektuellen Feldes, die ihre nicht geringe Reputation eher der Bewahrung von Traditionen als deren Infragestellung im 131 ) Beispielsweise versuchte der Herausgeber Joachim Moras, seine Zeitschrift in einem Schreiben an Bundespräsident Theodor Heuss, in welchem er um Heuss' Unterstützung für ein fund-raising-Projekt zu Gunsten des Merkurs bat, als einzige unabhängige Kulturzeitschrift „ohne ideologische oder konfessionelle Programmatik" darzustellen und zu positionieren, indem er die wichtigsten konkurrierenden Magazine als abhängig von „Unterstützungen, sei es alliierter (Der Monat), kirchlicher (Hochland, Stimmen der Zeit, Frankfurter Hefte) oder parteipolitischer Herkunft" und damit von einer bestimmten „ideologische(n) oder konfessionelle(n) Programmatik" denunzierte. DLA, D: Merkur, Briefe an Theodor Heuss, Moras an Heuss (7.5.1950). Moras und Heuss kannten sich seit den 1930er Jahren durch ihre Zusammenarbeit in der Europäischen Revue. Paul·. Milieus, S.554.

90

1. Die Schauplätze des Geschehens

Namen einer neuen Avantgarde verdankten. Umgekehrt verfügten die Herausforderer des mainstream - deren Funktion nicht zuletzt in seiner ständigen Erneuerung bestand - nicht selten über ein besonders hohes symbolisches Kapital, wenn sie, wie etwa Arnold Gehlen in den 1950er oder Ralf Dahrendorf in den 1960er Jahren, ihr zertifiziertes Bildungskapital mit einer gewissen sprachlichen Kompetenz und nicht zuletzt mit dem praktischen Sinn für die aktuellen Herausforderungen und Chancen auf dem Markt für Ideen und Deutungsmuster verbinden konnten. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Vollendung der Elite-Doxa um 1960 nicht möglich gewesen wäre ohne die intellektuelle Arbeit einer ganzen Reihe von jungen Nachwuchswissenschaftlern, die ihre Beiträge außerhalb oder am Rande des Literarisch-Politischen Feldes veröffentlichten - in die großen Kulturzeitschriften wurden ihre Ergebnisse dann bemerkenswerterweise von Ralf Dahrendorf getragen. Allerdings muss die biologische Jugend eines Autors nicht bedeuten, dass dieser nur wenig bekannt und mit den Regeln des Feldes nicht vertraut ist, sondern kann ihrerseits ein Kapital darstellen, nämlich als Verkörperung der Erneuerung man denke an das fortdauernd hohe Ansehen der Zeitschrift Der Ruf, die diese sich als Sprecher der „jungen Generation" erwarb. Die Infragestellung - und schließliche Erneuerung - der intellektuellen Orthodoxie konnte also aus zwei Richtungen erfolgen: Von ambitionierten Herausforderern mit noch verhältnismäßig geringem symbolischen Kapital und durch Akteure aus dem intellektuellen Establishment mit sehr großer Deutungsmacht und dem selbstgewählten Avantgarde-Anspruch der permanenten Innovation. Der Gegensatz zwischen den Verteidigern und den Herausforderern des intellektuellen mainstream bewirkte eine kontinuierliche Neuschöpfung von Deutungen und Orientierungsangeboten, weil die Strategien 132 ) der Herausforderer überwiegend daraufgerichtet waren, die sie benachteiligenden symbolischen und sozialen Hierarchien und Kräfteverhältnisse zu verändern, während es im Interesse der Etablierten lag, diese zu bewahren. Hinsichtlich der sozialen Positionen muss an dieser Stelle zunächst ein Blickwechsel vorgenommen werden: von den Zeitschriften zurück zu den individuellen Akteuren, das heißt zunächst zur Hierarchie unter den Autoren. Bei der Durchsetzung der Elite-Doxa besaß schließlich das noch so umfangreiche (und womöglich auf eigene Kosten verlegte) Buch eines Quasi-Gelegenheitsschriftstellers unter Umständen kaum Einfluss auf die Debatte und kann daher getrost relativ vernachlässigt werden gegenüber einem oder mehreren kurzen Aufsätzen eines Intellektuellen mit großer Deutungsmacht in einer renommierten Kulturzeitschrift. Wie erwähnt, waren ihre Zugangschancen zu den Medien der LiterarischPolitischen Öffentlichkeit unterschiedlich verteilt. Zunächst einmal, auch das

132 ) Zum hier verwendeten, ausdrücklich nicht im Sinne bewusster und intentionaler Chancenkalkulation verstandenen Strategie-Begriff vgl. Bourdieu: Regel.

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

91

wurde schon angedeutet, bildete ein überdurchschnittlich hohes Bildungskapital die unentbehrliche Voraussetzung, um an den Debatten der LiterarischPolitischen Öffentlichkeit teilnehmen zu können. Auch wenn dieses Bildungskapital sich nicht umstandslos in BildungsZertifikate umrechnen lässt 133 ) - die einflussreichsten Autoren waren beispielsweise keineswegs sämtlich habilitiert - , so bestanden doch deutliche Korrespondenzen. Die Kulturzeitschriften richteten sich mehr oder minder ausdrücklich an eine „gebildete" Öffentlichkeit, und allein die Lektüre „zeitkritischer" Texte erforderte ein breites Bildungswissen, nicht zu sprechen von deren Produktion. Arnold Gehlen beispielsweise mokierte sich in ausgesprochen antifeministischer Weise gegenüber dem Herausgeber des Merkurs, Hans Paeschke, über die fehlerhafte Verwendung einiger wenig gängiger Fremdworte von Seiten Dorothee Sölles in ihrer Auseinandersetzung mit einem seiner, Gehlens, Texte. 134 ) In einem anderen Brief beklagte er sich über den mangelnden Bildungshorizont der jüngeren westdeutschen Essayisten (besonders der linken), wobei er auch auf jene Unterscheidung zwischen diesem „Bildungshorizont" und den Bildungszertifikaten hinwies: „Zum Thema Unbildung bei Grass usw.: ich weiß, dass Rilke usw. enorme Lücken hatten, auch Th. Mann - ich meine auch nicht Bildungswissen, sondern das, was die Engländer .Background' nennen - so etwas hatte ein Alleswisser wie Litt auch nicht. Es ist mehr die Frage der ersten Generation Intellektualismus, und damit bekommt das Thema seine Schärfe. Das Handicap der ersten Generation kann man heute in einem Studium nicht einholen, bei zwei Studien (heute noch selten, das kommt aber, weil es erst .Seltenheitsrente' abwirft) gibt es wenigstens den stereoskopischen Blick. ... (Mann hatte .Background') ..."•35)

Andererseits zeigt gerade das Beispiel Gehlens, dass die Unterscheidung zwischen dem gesamten Bildungskapital und den Bildungstiteln im Besonderen nicht zu scharf gezogen und zu hoch bewertet werden darf. Seine eigene überaus starke Position im Literarisch-Politischen Feld beruhte zuallererst auf seiner durch Bildungszertifikate verbrieften und legitimierten Fähigkeit, Wissensressourcen aus unterschiedlichen „Wissensfeldern" zu mobilisieren: aus der Anthropologie, der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie (diese Fächer deckte er auf seiner Speyerer bzw. Aachener Professur ab). In seinen nach 1945 entstandenen Texten pflegte Gehlen einen Argumentationsstil, in welchem er philosophische und anthropologische Fragestellungen umformu-

m ) Vgl. Bourdieus Unterscheidung zwischen „institutionalisiertem" und „inkorporiertem" kulturellem Kapital. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, bes. S. 55-63. 134 ) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (28.8.64). 135 ) Gehlen an Paeschke (23.7.62). Drei Wochen zuvor hatte Gehlen an Paeschke geschrieben: „Über die vollkommene Verwahrlosung, die in die Gemüte von Koeppen, Andersch usw. und neuerdings auch leider Enzensberger eingezogen ist, sind wir uns wohl beide klar. Diese Leute bringen nichts mehr auf die Beine, letzten Endes fehlt es einfach an Bildung, es genügt nicht mehr, die paar Semester studiert zu haben - und deshalb müssen sie .politisch' bleiben". Gehlen an Paeschke (2.7.62).

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1. Die Schauplätze des Geschehens

lierte und dann soziologisch oder psychologisch beantwortete (und vice versa), nicht ohne auf die intellektuelle Begrenztheit der sich innerhalb disziplinarer Grenzen bewegenden Autoren hinzuweisen und auch den übrigen Humanwissenschaften, soweit sie auf ihren philologischen Methoden beharrten und den Weg zu systematischeren Ansätzen nicht beschritten, ihre Erklärungskraft überhaupt abzusprechen: „Wo eine Wissenschaft, wie die Geschichtsschreibung, diesen Schritt [zur Verbegrifflichung und Entsinnlichung, M.R.] nicht tun kann, erscheint sie gerade wegen der intakt gebliebenen Anschaulichkeit leicht als unrealistisch und flächenhaft. ... Die klassischen Verfahren z.B. der Geschichtsschreibung, Psychologie usw. werden für die Köpfe größerer Kapazität uninteressant." 136 ) Zu den Köpfen größerer Kapazität rechnete Gehlen zweifellos sich selbst. Die aktive Teilnahme an den hier geführten Auseinandersetzungen setzte nicht nur das erwähnte Bildungskapital, sondern ein erhebliches Maß an freier Zeit voraus, denn zum einen verlangte die Autorentätigkeit das kontinuierliche Verfolgen der Debatten einer ganzen Reihe von Medien (Zeitschriften, Bücher, z.T. Zeitungen), und zum anderen erforderte die Lektüre der mitunter recht anspruchsvollen Texte einen ganz erheblichen Aufwand an Konzentrationskraft. 137 ) Das gilt natürlich erst recht für das Verfassen derselben. Aus diesem Grund bewegten sich die meisten Autoren innerhalb recht enger thematischer (zumeist durch ihren Beruf gezogener) Grenzen, und nur wenige besonders renommierte Intellektuelle mit einem besonders großen und breit gestreuten Bildungskapital konnten es sich erlauben, über diese Grenzen hinauszugreifen. Deshalb stellt die thematische Spannweite der Autoren von Qualitätszeitschriften einen guten Indikator für deren relative Position im Literarisch-Politischen Feld dar, auch wenn es eine methodisch ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe darstellte, diesen Indikator quantifizierend anzuwenden. Zweitens unterschieden sich die Akteure im Literarisch-Politischen Feld hinsichtlich der Reichweite und des Werts ihrer sozialen Beziehungen, mit anderen Worten in ihrem sozialen Kapital, der „Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind."138) Schon eine Einladung durch Hans Werner Richter zu einem Treffen der Gruppe 47 und eine anerkennende Bewertung des Vortrage durch die Gruppenmitglieder konnte dem Autoren „noch am selben Tage einen Verlags- oder Rundfunkvertrag" einbringen.139)

136

) Gehlen: Seele, 1957, S. 25, S. 32 ) Dolf Sternberger berichtete 1963 Hans Paeschke nicht, wie viele, sondern wie wenige Schriften er mit in den Urlaub genommen habe - zuallererst natürlich das neueste Heft des Merkurs. DLA, D: Merkur, Briefe an Dolf Sternberger (7.3.1963). 138 ) Bourdieu: Ökonomisches Kapital, S.63. 139 ) Linz'. Prominenz, S. 96. 137

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

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Derartige feste Gruppen und aus der Mitgliedschaft unmittelbar folgende Verwertungseffekte existierten im Raum der Kulturzeitschriften allerdings nicht. Doch konnten bekannte Autoren durchaus ihren Einfluss geltend machen, um jüngeren Kollegen, mit denen sie sich politisch-ideell verbunden fühlten, Starthilfe zu geben, wie Arnold Gehlen es Weihnachten 1959 in einem Brief an Hans Paeschke, den Herausgeber des Merkurs, tat: „Dr. Schnur habilitiert sich jetzt in Heidelberg in Staatsrecht, ein erstaunlich intelligenter Mann, rechts stehend. Ich kenne ihn von s. Assistententätigkeit hier bei uns lange. Ich mache Sie auch auf den Historiker Dr. Reinhart Koselleck aufmerksam, in Heidelberg Assistent des Historikers Conze. Er hat eben ein ingeniöses Buch ,Kritik und Krise' (Alber, Freiburg) herausgegeben; auch er ein harter Konservativer, die Literatur von daher wird allmählich gut und deutlich."140)

Aus der Perspektive der Zeitschriften-Redaktionen teilte sich das große Lager der potenziellen Autoren in zwei Gruppen: diejenigen, welche von den Herausgebern um einen neuen Beitrag gebeten wurden, und diejenigen, die selbst an die Redaktion herantraten. Erstere besaßen einen hohen „Marktwert" und wurden heftigst umworben, Joachim Kaiser zum Beispiel, um den sich die Frankfurter Hefte wiederholt bemühten. Anlässlich Ingmar Bergmans Skandalfilm „Das Schweigen" schrieb ihm Walter Maria Guggenheimer 1963: „Was Sie dazu zu sagen hätten, drucken wir allemal auch sehr nachträglich."141) Solchen Autoren zahlen die Zeitschriften auch höhere Honorare; ihr intellektueller Marktwert ließ sich also durchaus in einen ökonomischen Vorteil verwandeln. 142 ) Es spricht übrigens für den hohen Kohäsionsgrad des LiterarischPolitischen Feldes (und im hier angeführten Fall für das große Prestige der Herausgeber der Zeitschrift Die Gegenwart), dass auch Autoren, die der Redaktion einer Zeitschrift fest angehörten, von konkurrierenden Blättern um Beiträge gebeten wurden, etwa Dolf Sternberger gelegentlich vom Merkur und vom Monat oder Friedrich Sieburg vom Merkur,143)

140

) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (24.12.59). Allerdings publizierte nur Schnur dann Aufsätze im Merkur, und auch er erst in den 1970er Jahren. Kosellecks Dissertation wurde kurz darauf rezensiert von keinem geringeren als Jürgen Habermas·. Verrufener Fortschritt - Verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, in: Merkur 14.1960, S. 468-77. 141 ) ASD/FH, Ordner 271 (12.8.1963). 142 ) „Unser normales Seitenhonorar beträgt DM 15.- pro Seite. Im Bewusstsein der Geringfügigkeit dieses Satzes ... möchte ich Ihnen den Satz von DM 20 - pro Seite nennen", schrieb Joachim Moras am 6.10.1955 an Dolf Sternberger. Im gleichen Jahr war Der Monat allerdings in der Lage, Sternberger ein Seitenhonorar von über 50 DM anzubieten. DLA, D: Merkur, Briefe an Dolf Sternberger (6.10.55). DLA, NL Sternberger, Briefe an Sternberger, Der Monat an Sternberger (10.3.1955). 143 ) Das Umwerben dieser Autoren erfolgte äußerst offensiv. So schrieb Joachim Moras an 1949 Friedrich Sieburg: „Es ist mir schon lange ein aufrichtiges Bedürfnis, Sie um Ihr freundliches Interesse an unserer Zeitschrift,Merkur' zu bitten, und der Wunsch, eine Arbeit aus Ihrer Feder unseren Lesern zugänglich zu machen, ist schon lange in mir lebendig. Ich habe es mir immer wieder versagt, diesem Wunsch Ausdruck zu geben, weil ich das

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Auf der anderen Seite gerieten die Redaktionen der Kulturzeitschriften immer wieder in die Situation, dass sich aus den ständig in B e w e g u n g befindlichen Debatten der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit eine besondere Problemstellung herauskristallisierte und sie nun möglichst schnell einen Bearbeiter suchen mussten, dass also zuerst das Thema da war und dann erst der Autor. 1 4 4 ) War ein passender Autor nicht sofort zur Hand, wurden entferntere Ressourcen mobilisiert, Erkundigungen eingezogen, wen man hätte beauftragen können, gelegentlich sogar bei konkurrierenden Zeitschriften. 1 4 5 ) Von einer solchen Konstellation profitierten naturgemäß diejenigen A u t o r e n mit einem h o h e n sozialen Kapital, deren Bekanntheitsgrad ihnen kontinuierlich neue Aufträge zuführte. Dieser Bekanntheitsgrad resultierte aus den zurückliegenden erfolgreich lancierten und die Interessen und Bedürfnisse der Leser ansprechenden, gleichzeitig aber „originellen", formal problemadäquaten und den sprachlichen Regeln entsprechenden D e u t u n g e n und Kommentaren, mit anderen Worten: bereits erbrachten Deutungs-Leistungen. Für die A u t o r e n war dabei nicht nur ein möglichst großer Bekanntheitsgrad von Bedeutung, der die Türen zu den wichtigsten Verlagen und Redaktionen öffnete, sondern auch ein möglichst weites Bekanntschaftsnetz mit anderen Intellektuellen, um rechtzeitig über neue intellektuelle Trends informiert zu

Bedürfnis hatte, die Voraussetzungen einer Erfüllung dieses Wunsches mit Ihnen persönlich sorgfältig zu klären. Ihre Arbeitskraft gehört der ,Gegenwart'. Größere Arbeiten, die Sie sicher im Lauf der letzten Jahre abgeschlossen haben, werden Sie unter Umständen ... leichter geneigt sein, einer Monatsschrift - statt der eigenen Wochenschrift - anzuvertrauen". DLA, D: Merkur, Briefe an Friedrich Sieburg (8.7.1949). 144 ) So unsystematisch Material in den Redaktionsarchiven der Kulturzeitschriften archiviert wurde: Eine Frage taucht in den Aktenvermerken und Protokollen der Redaktionssitzungen immer wieder auf: Wen lassen wir über das Thema XY schreiben? Beispielsweise versuchte der Monat 1955 Dolf Sternberger zu überreden, einen längeren Beitrag über die besonders Vermögenden in Westdeutschland („the rich") zu schreiben. DLA, NL Sternberger, Briefe an Sternberger, Der Monat an Sternberger (10.3.1955). 145 ) Beispielsweise erkundigte sich Benno Reifenberg 1958 bei Walter Bähr (Universitas) nach einem Physiker, der für die Gegenwart einen Aufsatz schreiben könnte. Bährs Antwort soll hier wiedergegeben werden, weil in ihr das maßgebliche Kriterium sichtbar wird, das einen Aufsatz in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit von einem „bloß" fachwissenschaftlichen Text abhob: nämlich die allgemeine Bedeutung der hier erörterten Probleme: „Ihre Bitte um den Namen eines Physikers, der zur Methodik der theoretischen Physik einen geeigneten Beitrag für die .Gegenwart' verfassen könnte, möchte ich zunächst mit der Nennung Gerlachs beantworten. Gerlach ist auch einer der wenigen Physiker, die in die Grundfragen tiefer eindringen. In den letzten Monaten habe ich auch zwei Aufsätze Max Borns gedruckt, der sich in den letzten Jahren in ähnlicher Weise mit den Grundfragen befasste. Weniger positiv waren, wie ich vertraulich sagen darf, in den letzten Jahren die Erfahrungen mit den Arbeiten Jordans. Über ein gutes Verständnis verfügt auch Brinkmann, Zürich, doch fehlt ihm eine bestimmte Nähe zum Gegenstand, die die Sache umfängt, ohne sich den Blick auf die größeren Perspektiven versperren zu lassen. Mein Rat wäre also, entweder an Gerlach, München, oder an Born, Bad Pyrmont zu schreiben." DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Korrespondenz, Universitas/Bähr an Die Gegenwart/Reifenberg am 2.4.1958 (Hervorhebungen von M.R.).

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

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sein. 146 ) Dieser Effekt eines umfangreichen sozialen Kapitals dürfte es den in dieser Hinsicht besonders begüterten Autoren ermöglicht haben, ihren eigenen Zeitaufwand für das Beobachten und Verfolgen der vielen parallel verlaufenden intellektuellen Debatten durch einen präzise kanalisierten Austausch mit anderen, unter Umständen in der sozialen Hierarchie niedriger rangierenden und/oder direkt abhängigen, als bloße Zuträger fungierenden Personen zu minimieren. Dies allerdings wiederum nur unter der Voraussetzung, dass die kommunikativen Transaktionskosten in einem sinnvollen Verhältnis zur intellektuellen Qualität der gewonnenen Informationen standen. In jedem Fall besaßen die regelmäßigen Redaktionskonferenzen der Kulturzeitschriften über die Regelung betriebsorganisatorischer Probleme und der Vorbereitung der nächsten Hefte hinaus auch den Zweck, die Teilnehmer über neueste literarische, philosophische, soziologische usw. Debatten und Entwicklungen zu informieren. 147 ) Drittens schließlich ist ein analytisch nicht leicht zu fassendes Differenzierungsmerkmal zu nennen: das sprachliche Kapital der Autoren. Damit ist zunächst nichts anderen gemeint als die Fähigkeit, den sprachlichen Regeln des Literarisch-Politischen Feldes zu genügen. Diese Regeln waren nirgends niedergelegt oder verbindlich kodifiziert, doch sie steuerten zuverlässig den Zutritt zum Feld, denn nicht-regelkonforme Texte wurden von den Redaktionen abgelehnt. Dabei durften die Autoren diese Regeln nicht nur passiv kennen, sondern mussten sie auch aktiv beherrschen, das heißt praktisch handhaben können, indem sie sie orts- und gegenstandsbezogen flexibel 148 ) anwendeten. Angesichts der Konkurrenz zahlloser individueller Kleinproduzenten und dem aus ihr folgenden Bestreben, sich von seinen Konkurrenten auch sprachlich abzuheben, bildete die „persönliche Ausdruckskraft" eine der wichtigsten Dimensionen in der Hierarchie der Autoren. Zweifellos hing der Umfang dieses sprachlichen Kapitals in erster Linie von der Dauer ab, die sein Inhaber in den Bildungsinstitutionen verbracht hatte, und von der Art seiner Bildungs-

146 ) Dies zeigt sich etwa im Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Armin Möhler, in dem ständig auf Bücher und Artikel in diversen Zeitschriften hingewiesen wird bzw. diese Artikel mitverschickt wurden. Schmitt'. Briefwechsel. 147 ) Gemäß der politikzentrierten Ausrichtung der Gegenwart diskutierten die Herausgeber auf den Redaktionskonferenzen ab April 1951 zunächst ausführlich die außenpolitische und dann die innenpolitische Lage Westdeutschlands. DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Verschiedenes, Redaktionskonferenzen 1950-1953. Kleinere HerausgeberGremien wie dasjenige des Merkurs behalfen sich mit umfangreichen Aktennotizen über Lektüren und Gespräche. 148 ) „An der Fähigkeit, die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes gleichzeitig zu erfassen ... und erst recht an der Fähigkeit, sie praktisch zu handhaben ... lässt sich gut jene typische gehobene Sprachfähigkeit messen, die von der Situation absehen und den praktischen Bezug aufbrechen kann, der ein Wort mit einem praktischen Kontext verbindet ... Diese Fähigkeit, verschiedene sprachliche Varianten sukzessiv und vor allem gleichzeitig spielen zu lassen, gehört wahrscheinlich ... zu den besonders ungleich verteilten Fähigkeiten". Bourdieu: Was heißt sprechen?, S. 13/14.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

laufbahn (zum Beispiel, ob er ein kulturwissenschaftliches oder ein naturwissenschaftliches Studium gewählt hatte), nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei der Sprache der gehobenen Publizistik gewissermaßen um eine „Bildungssprache" handelte, das heißt um eine Sprache, deren Sprecher über einen gemeinsamen Wortschatz aus anerkannten Bildungsgütern verfügten, also Buchtitel und -inhalte, Zitate, Autoren, Künstler, Musiker und deren Viten, Gemälden, historische und philosophische Kenntnisse und dergleichen mehr. Fachsoziologisches Wissen als eine spezifische, in unserer Untersuchung wesentliche Form des Wissens über die Gesellschaft konnte als Teil dieser Bildungssprache und damit der Ideen, die in ihrem Horizont denkbar waren, nur etabliert werden, indem es durch eine Orientierung auf geisteswissenschaftliche Begriffe, Fragestellungen und Methoden dem Vokabular dieser Sprache anverwandelt und auf diese Weise dem bestehenden Vokabular kompatibel und in ihm kommunikabel gemacht wurde - ein Prozess, der erst gegen Ende der 1950er Jahre zu seinem Abschluss gelangte. Allerdings ist das im Literarisch-Politischen Feld wirksame sprachliche Kapital nicht mit dem Bildungskapital gleichzusetzen, und zwar aufgrund der besonderen sprachlichen Anforderungen an die Akteure in diesem Feld, die zum Beispiel dahin gehend wirkten, einen „professoralen" Stil (dessen Inhaber jedenfalls über das Maximum an Bildungskapital verfügten) abzuwerten. Nur in dieser gemeinsamen „Bildungssprache", die ihrerseits den „Denkhorizont" der Akteure begrenzte, ließen sich Erfahrungen und Deutungen in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit artikulieren. Diese Sprache ermöglichte es auch, einen ungewöhnlich hohen Anteil an sozialen Phantasmagorien (im Verhältnis zu überprüfbaren Beschreibungen) zu transportieren, also auf die Gesellschaft bezogene Wünsche, Hoffnungen, Assoziationen, Ressentiments und Ängste. Diese Phantasmagorien sind aus wissenschaftlichen wie aus berichterstattenden Medien und Sprachen weitgehend verbannt, doch bildeten sie geradezu einen integralen Bestandteil von Gegenwartsdeutungen. Allerdings mussten diese sozialen Phantasmagorien sprachlich-stilistisch durch die Koppelung an bereits akzeptierte Wissensbestände und Topoi durchgeformt werden, wie sie die „Bildungssprache" bereitstellte. Das gilt vor allem für die Frage, ob es sich um bloß individuell motivierte (möglicherweise aber auch: originelle) oder allgemeingültige (oder aber: „abgenutzte", platitüdenhafte) Urteile und „Weltwollungen" (Mannheim) handelte. Der Grad der Verknüpfung der sozialen Phantasmagorien mit den legitimierten Beständen des Meinungswissens stellte gewissermaßen das Qualitätsmerkmal der gehobenen Publizistik dar. In der Tat unterschieden sich Forums- und Richtungszeitschriften wesentlich durch die Spannbreite der hier formulierbaren Ängste, Vorurteile und Hoffnungen und durch die Art und Weise ihrer Artikulation. Unverhüllte Meinungskundgebungen, etwa die offene Ablehnung demokratischer Regierungsformen ohne die Einbettung in lange geistesgeschichtliche Entwicklungen oder die Anknüpfung an sozialpsychologische Gegenwartsbefunde passierten die Kontrolle durch die Herausgeber nur, wenn sie mit der engen politisch-ideellen

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

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Ausrichtung der Zeitschrift übereinstimmten - genau dieser Mechanismus unterschied Richtungszeitschriften wie das Neue Abendland von Qualitätsmagazinen mit „Forums"-Charakter wie der Monat oder der Merkur, die derartige „simplifizierende" Texte nicht abdruckten. Stoßen soziale Phantasmagorien auf eine breitere Zustimmung, so verdichten sie sich ihrerseits zu Topoi, die dieses Meinungswissen ausdrücken und in andere Felder der Wissensproduktion, in die Politik und selbst in die Ökonomie exportieren können. Umgekehrt lässt die Figuration der vorherrschenden sozialen Ängste, Ressentiments und Wünsche präzisere Aufschlüsse über die Weltbilder der beteiligten sozialen Gruppen zu als dies etwa die Analyse wissenschaftlicher oder berichterstattender Texte ermöglicht; umgekehrt dürfen die Deutungen der gehobenen Publizistik nicht umstandslos als verfahrenskontrolliert gewonnenes Wissen gelesen werden. Vor allem aber zeigt sich die Ausbreitung und Durchsetzung von Ideen während der 1950er und 60er Jahre (und sicherlich erst recht seitdem) nur dann als erfolgreich, wenn es Autoren gelang, im engeren Sinne wissenschaftliches und intellektuelles Kapital zu mobilisieren, das heißt innerhalb ihrer akademischen Profession und gleichzeitig in der Publizistik zu agieren und ihre Ideen zirkulieren zu lassen, und dabei die sprachlichen und formalen Regeln in unterschiedlichen Feldern praktisch zu beherrschen, wie dies am Beispiel Arnold Gehlens oben skizziert wurde. Die Regeln und Zwänge der Sprache der Kulturzeitschriften manifestierten sich nachdrücklich in den Rezensionen (und Laudationes). Gefordert wurden „Klarheit" und ein gewisser „literarischer Stil", jedoch ohne allzu viele Manierismen. Allerdings wurden die sprachlichen Regeln zumeist erst bei deren Übertretung deutlich markiert, so dass es leichter fällt, diese Sprache normativ dadurch zu bestimmen, wie sie nicht sein sollte. Fachsprachen, besonders das sogenannte „Soziologendeutsch", waren ebenso als „Jargon" verpönt wie der „typische deutsche Gelehrtenstil", die „Kathedersprache". Am rigidesten wurden diese Regeln in denjenigen Zeitschriften gehandhabt, die dem Pol der autonomen Produktion am nächsten standen und bei denen deshalb auch die sprachlichen Anreize und Zwänge des Feldes in ihrer reinsten Form wirkten. Hinsichtlich der hier untersuchten Verbreitung von Modellen der sozialen Ordnung betraf dies vor allem die professionellen Urheber derartiger Modelle, das heißt die Professoren der sozial-, wirtschafts- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit ihren wiederkehrenden Gastaufenthalten in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit. 1952 veröffentlichte der Essayist Wolfgang von Einsiedel im Merkur eine Kritik des „Neue(n) Professoren-Deutsch", in der er den „typische(n) deutsche(n) Gelehrtenstil... der Inbegriff des Halbgaren und Ungegorenen, des Schwerfüßigen und Dickflüssigen, des Verstaubten, Geschraubten, Verschlungenen, Verquollenen, mit einem Wort: des Unleserlichen" beklagte.149) Einsiedel verstand seinen Beitrag weniger als das Auf-

149

) Wolfgang von Einsiedel·. Neues Professoren-Deutsch, in: Merkur 6.1952, S. 1080-84.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

decken „zufällige(r) stilistische(r) .Entgleisungen'", sondern wohl in erster Linie als ein Teil des Kampfes um die Sprache als Werkzeug des Intellektuellen, der die Überlegenheit der Publizistik gegenüber der Wissenschaft in der Fähigkeit, Ideen verständlich auszudrücken (wenn nicht sogar, sie präziser zu denken), reklamierte. Einsiedel forderte daher sehr deutlich einen Sprachwechsel zumindest für die Situation, in der sich die angesprochenen Humanwissenschaftler an eine allgemeine - eben die Literarisch-Politische - Öffentlichkeit wendeten. 150 ) Andernfalls verlören diese nicht nur ihr Publikum, sondern auch ihren Anspruch die Gültigkeit ihrer Entwürfe. Aus dieser Negativbeschreibung lässt sich aber auch ein Positivbild gewinnen: Die niedergeschriebenen Ideen mussten selbstverständlich zu Ende gedacht sein, die Sprache sollte leicht, klar, direkt, verständlich, gewandt, wenn möglich elegant klingen. „Documented, well-written and witty, rich in detail and color, as well as thoughtful in conception", so versprach sich der Monat einen (allerdings nicht geschriebenen) Artikel von Dolf Sternberger. 151 ) Zehn Jahre nach Einsiedels Polemik lobte Eduard Rosenbaum im Merkur am neuesten Werk Ralf Dahrendorfs, dass es „nicht einfach .Soziologie', sondern deutsche Prosa" enthielte: „Die völlige Abwesenheit einer zurückweisenden Fachsprache, dessen, was man Jargon' zu nennen pflegt". 152 ) Offensichtlich verfügte Dahrendorf also über ein für einen Fachsoziologen relativ hohes sprachliches Kapital. Auf der obersten Stufe stand jedoch eine Gruppe anderer Intellektueller, keine Wissenschaftler wie Dahrendorf, sondern reine Essayisten wie Friedrich Sieburg, dem seine Kollegen in der Redaktion der Gegenwart wegen seines schriftstellerischen Talents auch sein Verhalten während des Nationalsozialismus verziehen: „Eine so immense Begabung darf nicht brachliegen", schrieb Max von Brück an Benno Reifenberg. 153 ) Allein diesen „reinen" Essayisten war auch das Prädikat des „Schriftstellers" vorbehalten. Von ihrer Arbeit sprach man metaphorisch als „Feder", 154 ) was in der

,5

°) „Man erwartet gewiss nicht, dass die Wortführer des akademischen Geistes gleichzeitig auch berufene Schriftsteller sind. Ist aber die Kathedersprache, jenes Zwitter- und Mischgebilde aus Formel und Einfall, aus Fachjargon und lässigem Umgangston, aus Dialektik und Dialekt, aus Rede und Schreibe in sich schon ein Medium literarischen Ausdrucks?" Ebd., S. 1080. 151 ) DLA, NL Sternberger, Briefe an Sternberger, Der Monat an Sternberger (10.3.1955). 152 ) Eduard Rosenbaum: Ein Organon des Verstehens, in: Merkur 16.1962, S.287-91, Zitat S.287. 153 ) DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Korrespondenz, Briefe an Reifenberg von Max von Brück, Brück an Reifenberg (27.5.1948), übrigens unter der für diese Art der kollegialen Entschuldung, die sofort in eine kollektive (Selbst-)Entschuldung mündete, typischen semantischen Verharmlosung des NS: „Wir haben alle, indem wir überhaupt schrieben, das ist auch Ihre Ansicht, Herrn Urian aufgewartet. Entscheidend ist, ob einer Herrn Urian im Prinzip anerkannte. Das hat Sieburg nie getan." Zu Sieburgs Verhalten zwischen 1933 und 1945 vgl. Krause: Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewusstsein, S. 109-88. 154 ) DLA, ebd. Brück an Reifenberg (27.5.1948).

1.2 Die soziale Logik des Literarisch-Politischen Feldes

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Verlängerung dieser Metapher die „Leichtigkeit" ihres Stils von der oben erwähnten „Schwerfälligkeit" der „Kathedersprache" der Wissenschaftler abhob. Der Begriff und damit die Existenz des „Schriftstellers" besaßen während des gesamten Untersuchungszeitraumes (und vermutlich auch weit darüber hinaus) innerhalb des Literarisch-Politischen Feldes - immerhin einem Ort der vorrangig deutenden und erst danach der belletristischen Produktion! - einen weitaus höheren Rang als der Begriff des „Intellektuellen"; eine Hierarchisierung, die im Wesentlichen auf der Unterscheidung zwischen der schöpferischen Tätigkeit des Schriftstellers und der bloß kritisierenden Aktivität des Intellektuellen beruhte. 1 5 5 ) Obwohl diese Schriftsteller-Essayisten keine schöne Literatur, sondern Deutungen der sozialen Welt in Form der Kultur- oder Zeitkritik produzierten, nahmen sie für sich doch in Anspruch, literarische Gebilde zu schaffen, wie es in dem oben zitierten Diktum des Essayisten Albrecht Fabri zum Ausdruck kommt. Ganz ähnliche Äußerungen finden sich immer wieder bei den wichtigsten Zeit- und Literaturkritikern der 1950er Jahre, etwa Friedrich Sieburg, Ernst Robert Curtius, Max Rychner oder Karl August Horst. 1 5 6 ) Alle drei im Literarisch-Politischen Feld wirksamen Formen von Kapital zusammengenommen - Bildungskapital, sprachliche Kompetenz sowie soziales Kapital - positionierten dann die Autoren hinsichtlich ihres Ranges in der feldinternen Hierarchie, ihres „Marktwertes", den sie auf diesem „Markt der symbolischen Güter" besaßen. Anders gesagt, diese drei Formen des Kapitals summierten sich zum symbolischen Kapital der Akteure, das heißt ihrer Deutungsmacht. 157 ) Doch sind der Marktwert und damit die Deutungsmacht eines Autors niemals eindeutig zu bestimmen, ganz abgesehen von den Schwankungen, denen sie unterliegen kann. Aus diesem Grund müssen auch diejenigen Texte kursorisch untersucht werden, die auf die Diskussion während des Untersuchungszeitraums (und darüber hinaus) folgenlos blieben, und zwar nicht nur hinsichtlich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem intellektuellen mainstream, sondern auch hinsichtlich des symbolischen Kapitals ihrer Urheber. D e n n „die Macht über die Wörter, die zur Benennung der Gruppen oder der sie repräsentierenden Institutionen benutzt werden", die „symbolische Macht, deren Form par excellence die Macht ist, Gruppen zu schaffen, sie zu weihen und zu instituieren", diese Macht war während des Untersuchungszeitraums selbst innerhalb des recht kleinen Literarisch-Politischen Feldes höchst ungleich verteilt. 158 )

155 ) Zu der negativen Konnotation des Begriffs des Intellektuellen in praktisch allen politisch-ideellen Lagern der Weimarer Republik vgl. Bering: Die Intellektuellen; zum Stereotyp des „jüdischen Intellektuellen" vgl. Bluhm: Philosophie. 156 ) Krause: Sonderbewusstsein, S. 218-24. 157 ) Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht, S. 153. 158 ) Bourdieu: Soziale Klasse, S. 124.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

1.3 Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit Das Verlangen nach politisch-ideeller und sozialer Orientierung in der Gesellschaft verschwand keineswegs mit der Überwindung des Schocks der Niederlage von 1945, auch wenn sich dieses Bedürfnis in seiner Verbreitung, seiner Intensität und den Formen seiner Befriedigung wandelte.159) Deutlich abgrenzbar lassen sich die Problemstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren soziale Ordnung sich den Zeitgenossen als in Auflösung und Desintegration begriffen darstellte, von denjenigen der als Zeit von Konsolidierung und materiellem Aufschwung wahrgenommenen nachfolgenden Dekade unterscheiden.160) Bis etwa 1948/50 bedeutete „Orientierung" den Versuch, sich und anderen durch zeitkritische Betrachtungen einen Überblick darüber zu verschaffen, welche soziale Gestalt die deutsche Gesellschaft nach dem „Zusammenbruch" überhaupt besaß, wo und wie man sich in ihr verorten konnte, welche Ideen und Traditionen noch gültig sein konnten bzw. ihre Geltung verloren hatten, oder aber welche neuen Werte und Ziele die Deutschen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus verfolgen sollten. Nach der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik verschob sich die Orientierungsleistung der Zeitkritik hin zur Deutung der von der umgreifenden Wohlstandssteigerung ausgehenden sozialen, kulturellen und „seelischen" Phänomene und Prozesse, etwa in Form der Vorstellung einer allgemeinen „Nivellierung" von Besitz und Bildung, die mit erheblichen Gefahren für die individuelle Freiheit, die Stabilität der Gesellschaft und die Autorität des Staates verbunden sei, der Warnung vor dem „Konsumfetischismus", vor der Sinnentlehrung von Arbeit und Freizeit und vor der Auflösung verbliebener traditioneller Ordnungsgefüge (zwischen den Geschlechtern, den Generationen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder zwischen „Gebildeten" und „Ungebildeten"). 161 ) Um 1960 begann schließlich eine dritte Phase, deren politisch-ideelle Debatten sich mit Begriffen wie „Öffnung" oder „Aufbruch" charakterisieren lassen und in der eine Orientierung auf neue, über die Gegenwart hinausgreifende Zielmarken gesucht wurde. In der „fragmentierten Zusammenbruchsgesellschaft"162) der ersten Nachkriegsmonate schienen alle vertrauten handlungsleitenden Ideen und Traditionen durch millionenfachen Tod, Flucht, Vertreibung und Kriegsgefangen-

159

) Vgl. neuerdings Greven: Politisches Denken. ) Kleßmann: Das Haus. 161 ) Drei typische Beispiele aus den Kulturzeitschriften: Günter Anders: Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Gedanken zu Rundfunk und Fernsehen, in: Merkur 9.1955, S. 401-16, S. 533-49, S. 636-52 (dieser langen Auseinandersetzung mit dem „Massenzeitalter" waren die Herausgeber des Merkurs bereit, außergewöhnlich viele Seiten zuzugestehen); Jürgen Habermas: Notizen zum Missverhältnis von Kultur und Konsum, in: Merkur 10.1056, S. 212-28; Helmut Cron: Der konfektionierte Parvenü, in: Merkur 10.1056, S. 624-28. 162 ) Kleßmann: Traditionen, S.365. 160

1.3 Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit

101

schaft, durch die umfassende Zerstörung materieller Güter sowie durch die Auflösung der staatlichen Ordnung ihre Gültigkeit verloren zu haben. „Jetzt liegen alle großen Ordnungs- und Gesittungsmächte zerschlagen im Schutt", klagte die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schleswig-Holsteins im August 1945.163) Der Philosoph Karl Jaspers diagnostizierte etwa zur gleichen Zeit: „Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die giltigen (sie!) uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewusstsein als Volk." 164 ) Und der Soziologe Alfred Weber nahm 1946 sogar „Abschied von der bisherigen Geschichte". 165 ) Der Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft, die Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte und das allmähliche Bekanntwerden des Ausmaßes der nationalsozialistischen Verbrechen und nicht zuletzt das mehr oder minder deutliche Bewusstsein der Mitverantwortung für die „deutsche Katastrophe" 166 ) - sie bildeten die Ursachen für die weitgehende Orientierungslosigkeit der ehemaligen und zukünftigen Herrschafts- und Funktionsträger. Der nationale Machtstaat hatte seine jahrhundertealte Rolle als ideeller Bezugspunkt - in Form des überlieferten Glaubens an die „Sittlichkeit der Macht" - von Beamten, Offizieren, Professoren, Politikern, Unternehmern und Intellektuellen verloren. 167 ) Je mehr politisches und ökonomisches Kapital die Akteure besaßen und je enger damit ihre ideelle Verbundenheit mit dem sozialen Status quo ante und den Traditionen des Machtstaates war, desto größer zeigte sich zumindest vorübergehend ihre Orientierungslosigkeit. Der Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, ein ehemaliger hoher SAFührer, dem später vorgeworfen wurde, die NS-Politik in Osteuropa in Denkschriften gerechtfertigt zu haben und selbst an Massenerschießungen beteiligt gewesen zu sein (das Verfahren wurde von der Oberstaatsanwaltschaft Bonn

163 ) Wort der Vorläufigen Kirchenleitung an die Gemeinden vom 24.8.1945, zitiert nach Schildt: Ordnungs- und Gesittungsmächte, S.267. 164 ) Zitiert nach Pross: Literatur und Politik, S.318. 165 ) Weber: Abschied von der bisherigen Geschichte. ,66 ) Meinecke: Katastrophe, passim. Meinecke sah den Hauptteil der Verantwortung für die Machtübernahme Hitlers zweifellos im „Druck", der von den verzweifelten „Massen" ausging, bis diese dem Dämon Hitler anheim fielen. Dem deutschen Bürgertum bescheinigte er mangelnde politische Reife. Andere Autoren gingen mit ihrer Kritik an den „Gebildeten" deutlich weiter, etwa Wilhelm Röpke: Deutsche Frage; Rudolf Pechel: In eigener Sache, in: Deutsche Rundschau 69.1946 Η. 1, S. 1-4; Bernhard Guttmann: Die deutsche Republik, in: Die Gegenwart 1.1945 H. 4/5, S. 5-7; Jaspers: Schuldfrage. Die Auseinandersetzung der Intellektuellen mit der Kollektivschuld-These in der Zeitschriftenliteratur schildert Eberan: Wer war an Hitler schuld?, passim, allerdings in recht oberflächlichen Kategorien (Eberan unterscheidet beispielsweise intellektuelle Milieus im Nachkriegsdeutschland entlang des Verlaufs des römischen [sie!] Limes. Auch die von ihr entworfenen Milieus der „Potsdam"- und der „Weimardeutschen" bleiben oberflächlich und in ihrer Kohärenz sehr fragwürdig). 167 ) Für die Historiker hat dies untersucht: Chun: Bild, S. 110-16.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

eingestellt) und den selbst Adenauer als „tiefbraun" bezeichnete, 168 ) drückte diese materielle wie ideelle Verlusterfahrung in der Rückschau mit folgenden Worten aus: „Als nach 1945 nach Jahrzehnten unheilvoller deutscher Entwicklung die Katastrophe hereinbrach, vernichtete sie nicht nur die soziale Ordnung des deutschen Volkes, zerstörte sie nicht nur fast alle seine materiellen Grundlagen, raubte große Teile unseres Volksbodens, brachte Millionen um Heim, Hof und Herd. (...) Die geistige und seelische Leere, der Verlust des religiösen Fundaments, der Verlust der Glaubensfähigkeit breitester Schichten musste schwerer wiegen als der Verlust aller materiellen Güter." 169 )

Dieses intellektuelle Vakuum, das der Verlust oder zumindest die radikale Infragestellung wichtiger bislang gültiger Werte und Traditionen hinterlassen hatte, ließ sich einzig durch kommunikative Prozesse der individuellen und kollektiven Besinnung, der Bestandsaufnahme bisher dominierender wie der marginalisierten oder abgebrochenen, der in- und ausländischen intellektuellen und politischen Institutionen, Paradigmen und Deutungsmuster und der tastenden Suche nach neuen Wegen in einem möglichst freien Austausch aller interessierten Zeitgenossen wieder auffüllen. „Wir dürfen öffentlich miteinander reden. Sehen wir zu, was wir einander zu sagen haben", schrieb Karl Jaspers im Geleitwort der Zeitschrift Die Wandlung.™) Und ganz ähnlich erklärte G.A. Küppers-Sonnenberg in Der Mensch in der Wirtschaft: „Die Kämpfe um die Gültigkeit der letzten Wertmaßstäbe auf allen Wertgebieten (müssen) leidenschaftlich überprüft werden, da viele Maßstäbe durch die Entwicklung überholt sind". 171 ) Das Bedürfnis nach Orientierung traf in den ausgehenden 1940er und den 50er Jahren allerdings auf ein durchaus begrenztes Angebot an Deutungsmustern. Ceteris paribus lassen sich diese Deutungsmuster in ein Spektrum einordnen, dessen Pole von der Interpretation des Jahres 1945 als einem Moment des radikalen Umbruchs, der tiefen historischen Zäsur mit Auswirkungen bis tief in die politische und wirtschaftliche Ordnung hinein (der „Stunde Null", nach der sich fast alles ändern müsse) einerseits und dem Versuch, so viele Traditionsbestände wie möglich in die Nachkriegswelt zu retten, andererseits reichten. Gerade diejenigen Autoren, die besonders energisch verlangten, dem gewandelten Verhältnis auch politisch-ideell Rechnung zu tragen, verbanden ihre Suche nach neuen Ordnungskonzepten mit heftigen Angriffen auf die bisher geltende Privilegienstruktur und auf diejenigen Gruppen, die von dieser Verteilung besonders profitierten. Je größer umgekehrt die soziale Nähe der Autoren zeitkritischer Schriften zum Feld der Macht in der unmit-

168 ) Kleßmann: Doppelte Staatsgründung, S.253; Kittel·. Legende, S. 82-84 (ein bemerkenswerter Versuch, Oberländer von jedem Makel reinzuwaschen). 169 ) Theodor Oberländer. Grußwort, in: L052 (Zehn-Jahres-Feier), S.4-5, hier S.4. 170 ) Zitiert nach Pross: Literatur und Politik, S.318. 171 ) G.A. Küppers-Sonnenberg: Zum Problem der Elitebildung, in: Der Mensch in der Wirtschaft, 5.1955 H. 2, S. 20.

1.3 Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit

103

telbaren Nachkriegszeit war, desto geringer zeigte sich ihre Neigung oder Fähigkeit, neue politisch-ideelle Wege zu weisen; 172 ) je größer wiederum die soziale Distanz zum Intellektuellen Feld, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass die alten und neuen Herrschaftsträger die propagierten neuen Ideen als Hilfe zu einer Neuorientierung überhaupt wahrnahmen und dann verwendeten oder verwenden konnten. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich nun auch die wichtigsten Beiträge in den großen Kulturzeitschriften dieser Zeit verorten. Programmatische Texte, die einen neuen politischen oder intellektuellen Anfang oder eine Ausflucht aus der Sackgasse des „deutschen Weges" 173 ) verheißen konnten, finden sich weder in der Universitas noch im Merkur oder in der Gegenwart. Bis weit in die 1950er Jahre hinein bemühte man sich im Umkreis dieser Magazine, zunächst einmal überhaupt eine (im weiteren Sinne) kulturelle Standortbestimmung vorzunehmen und den „archimedischen Punkt" zu finden, von dem aus ein vorausschauendes Handeln und das Entwerfen neuer Perspektiven erst möglich wäre. 174 ) In Ermangelung neuer Konzepte blieben vorerst nur die Traditionsbestände, an die sich verunsicherte Zeitgenossen halten konnten, und von diesen insbesondere zwei: Erstens die (deutsche, abendländische, europäische) Geschichte als Medium der Vergewisserung über Vergangenheit und Gegenwart, und zweitens die lang bekannte, zum Standardrepertoire der Kultur- und Zeitkritik gehörende und daher in den Oberklassen weit verbreitete Deutung der Gegenwart als „Zeitalter der Massen" - die Massen-Doxa, die im nächsten Abschnitt eingehender analysiert wird. Andererseits stellt die Vorstellung von der Möglichkeit eines vollkommenen politisch-ideellen Neuanfangs gewissermaßen aus dem intellektuellen Nichts heraus eine höchst unhistorische Annahme dar, und der tatsächliche ideengeschichtliche Wandel, der zwischen Kriegsende und der Mitte der 1950er Jahre stattfand, beinhaltete seinerseits eine große intellektuelle Leistung. Bis in die 1950er Jahre hinein war die Vorstellung vom „Massenzeitalter" die dominierende Gegenwartsinterpretation im Literarisch-Politischen Feld und wurde erst allmählich von Autoren, die mit Forschungsergebnissen aus den neuen humanwissenschaftlichen Leitdisziplinen wie Soziologie und Sozialpsychologie argumentieren konnten, in den Hintergrund gedrängt. 1 7 5 )

172 ) Der Merkur etwa, dessen Herausgeber Joachim Moras bereits in der Zwischenkriegszeit als Herausgeber der Europäischen Revue finanzielle Kontakte zur Großindustrie aufgebaut hatte, verlangte seinen Lesern „einen weniger rigorosen Erneuerungswillen ab" als beispielsweise die Zeitschrift Die Wandlung. Vgl. Bock: Modernisierung, S. 159/60. 173 ) Faulenbach: Ideologie, vgl. bes. den Exkurs: „Die Rolle des ,Führertums' in der deutschen Geschichte", S. 289-92. 174 ) Benno Reifenberg: Archimedischer Punkt, in: Die Gegenwart 1.1945/46 Η. 1 S.9-10. 175 ) Als herausragende Studien dieses Übergangs, in denen das Massen-Paradigma noch präsent war, aber doch in den Hintergrund trat, seien hier nur genannt Schelsky: Familie; Gehlen: Seele; Hofstätter: Gruppendynamik (mit dem bemerkenswerten Untertitel: „Kritik der Massenpsychologie"). Vgl. allgemein Nolle: Ordnung, S. 304-18.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Vor allem die Universitas, als akademische Revue konzipiert, entwickelte sich sehr schnell zu einer Instanz der Orthodoxie im Literarisch-Politischen Feld. Unter ihren Autoren dominierte die Professorenschaft, aber gelegentlich schrieben hier auch Unternehmer. Dem konservativen Milieu im Feld der Macht stand die Universitas besonders nahe, und der in Russland geborene Herausgeber Serge Maiwald öffnete frühzeitig die Zeitschrift ausgerechnet bei den zeitkritischen Themen (sowie für anonyme Rezensionen) 176 ) dem NSbelasteten, antidemokratischen, und strikt antikommunistischen Carl Schmitt (dessen abgedruckter Lebenslauf von allen kompromittierenden Daten gereinigt wurde), gerade als dieser seine „Lage als Autor ... prekär" nannte. 177 ) (Der Merkur druckte übrigens nur einen einzigen Aufsatz Schmitts; die unmittelbar darauf einsetzenden Proteste zahlreicher Autoren hielten die Herausgeber offenbar von Wiederholungen ab.178)) Maiwald war auch der wichtigste Verfechter der Massen-Doxa in der Universitas, wo er sich in zahlreichen Artikeln um Orientierungshilfe für die Leserschaft bemühte, die oft unter der weitgehend ihm selbst vorbehaltenen Rubrik „zur geistigen Situation der Zeit" erschienen. Die Ausrichtung dieser Standortbestimmungen war häufig schon in den Überschriften erkennbar: Zwischen „Vergesellschaftung und Vermassung"; „zwischen Freiheit und Diktatur"; zwischen „freiem Geist und totaler Gesellschaft" - in diesem Koordinatensystem verortete Maiwald die Probleme seiner Zeit. 179 ) Die Warnung vor der Vermassung war bis zu seinem Tod 1952 auch sein wichtigstes (wenn nicht sogar sein einziges) intellektuelles Anliegen als Herausgeber. Unter der langen Ägide seines Nachfolgers H. Walter Bähr löste sich die Zeitschrift sehr langsam von der anderswo längst in die Kritik geratenen Massen-Doxa. Dabei trugen nach wie vor viele Aufsätze einen außerordentlich orientierenden Charakter, auch zahlreiche der vordergründig rein berichtenden Texte

176

) Schmitt: Briefwechsel, S.53. ) Schmitt: Briefwechsel, S.72; ders:. Die geschichtliche Tatsache einer europäischen Rechtswissenschaft, in: Universitas 5.1950, S. 385-90; ders.: Drei Stufen historischer Sinngebung, in: ebd., S. 927-31. Maiwald war 1944 von Schmitt habilitiert worden. Van Laak: Gespräche, S. 138. 178 ) Carl Schmitt: Die Einheit der Welt, in: Merkur 6.1952, S. 1-11; vgl. van Laak: Gespräche, S. 150. 179 ) Vgl. Maiwalds Aufsätze in der Universitas aus dem 4. Jahrgang 1949: Der massensoziologische Hintergrund der heutigen Kulturkrise, S. 1167-78; Soziologie der modernen Kultur, S. 1301-19; Medizin und Psychologie in soziologischer Perspektive, S. 1431-53. Aus dem 5. Jahrgang 1950: Grundlinien der modernen Rechtsentwicklung, S. 129-42, S.285302; Die Wendung zum gesellschaftlichen Funktionsprozess im 19. Jahrhundert, S. 403-20, Vergesellschaftung und Vermassung, S. 933^12; Die vorletzte Phase, S. 1087-91; Ex Captivitate Salus, S. 1221-24; Die dritte Kraft, S. 1345-50. Aus dem 6. Jahrgang 1951: Raum gegen Raum, S. 449-56; Zwischen Freiheit und Diktatur, S. 561-69; Die These vom absterbenden Staat, S. 735^14; Freier Geist und totale Gesellschaft, S. 1335^4. 177

1.3 Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit

105

aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften und aus der Medizin. 180 ) Ganzheitliche Gesellschaftsentwürfe, die weiter unten eingehender untersucht werden, hielten sich länger in der Universitas als in anderen Magazinen. So bot die Zeitschrift wenige Anregungen zu einer umfassenden Neuorientierung ihrer Leserschaft, doch leistete die Massen-Doxa - und damit die Zeitschrift - nach 1945 gleichzeitig einer weitgehenden politischen Entradikalisierung seiner Anhänger bzw. der Leser Vorschub. Das Bedürfnis nach politischer und intellektueller Orientierung war also auch im akademischen Milieu nach 1945 sehr hoch. Dagegen finden sich die frühesten Texte, in denen wirklich neue Orientierungsmarken proklamiert wurden, bei denjenigen Autoren und in denjenigen Zeitschriften, die während der NS-Zeit über keinerlei Machtpositionen verfügt hatten. Ihr politisch-ideeller Bezugsrahmen war weniger stark beschädigt; ihnen fiel es daher leichter, an unterbrochene intellektuelle Traditionen wieder anzuknüpfen und diese offensiv zu vertreten, mit anderen Worten: Wege aus der Krise zu weisen. Doch zum restituierten Feld der Macht in Westdeutschland waren ihre Beziehungen eher durch Opposition als durch Integration geprägt. Alfred Andersch beispielsweise, der sich in der Weimarer Republik auf Seiten der KPD engagiert hatte (nach 1933 war er einfacher Angestellter und zeitweilig in Dachau inhaftiert), wies bereits 1946 in dem mittlerweile legendär gewordenen Artikel „Das junge Europa formt sein Gesicht" 1 8 1 ) in seiner Zeitschrift Der Ruf einen Weg, der sich in einfachen Vokabeln fassen ließ: junge Generation, Sozialismus, Humanismus, Europa. 1 8 2 ) Auch Andersch schrieb in den Metaphern der zerbrochenen Ordnung: der „zerstörte Ameisenberg", das „ziellose Gewimmel der Millionen". Doch der radikale Ton, den die Herausgeber und Autoren der sich ausdrücklich als politisch verstehenden Zeitschrift anschlugen, ihre dezidiert oppositionelle Haltung, die sie gegenüber den wiedergegründeten Parteien, der weiterarbeitenden Bürokratie und auch gegenüber den Alliierten (und mehr implizit auch gegenüber der Unternehmerschaft, die sie nicht unzutreffend für die Zerstörung der Weimarer Republik mitverantwortlich machten) einnahmen - Der Ruf setzte sich nach den Vorstellungen seines Herausgebers Hans Werner Richters „in Gegensatz zu allen anderen" 1 8 3 ) - , und nicht zuletzt wohl auch die seltsame Mischung aus Nationalismus und schwärmerischem Sozialismus, die sich in den Artikeln findet, machte die Zeitschrift in den Augen der Herrschaftsträger eher verdächtig, als dass von ihr konkrete Orientierungshilfen zu erwarten gewesen

180 ) Dies gilt beispielsweise für zahlreiche Aufsätze von Pascual Jordan, aber auch für die Artikel diverser Nobelpreisträger wie Max Born oder Albert Einstein. 181 ) Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf, Η. 1 1946, hier zitiert nach: Schwab-Felisch: Der Ruf, S. 21-26. 182 ) Vaillant: Der Ruf, S. 82-100. 183 ) Richter: Almanach, S. 10.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

wären.184) Die Utopie eines sozialistischen Deutschlands in einem vereinten Europa blieb vage formuliert und hielt den Realitäten des aufziehenden Kalten Kriegs nicht stand.185) Ähnliches gilt für die Frankfurter Hefte, deren Herausgeber ebenfalls aus ehemaligen Dissidentenkreisen stammten, deren Programm, ein Amalgam aus katholischem Christentum und Sozialismus, aber weitaus konkreter ausformuliert werden konnte. 186 ) Die Redaktion hatte es mit dem Werben für ihre Vorstellungen anfangs zwar recht behutsam und im Ton weitaus moderater angehen lassen. 187 ) Das Propagieren radikaler Reformen brachte die Zeitschrift allerdings in deutlichen Gegensatz zu Bundeskanzler Adenauer und ebenso durch die deutliche Parteinahme für die Ziele der Gewerkschaften in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung - zur Unternehmerschaft.188) Der Angriff auf den Kanzler kostete die Frankfurter Hefte über 1000 Abonnenten, 189 ) und 1950 mussten Eugen Kogon und Walter Dirks das Scheitern ihrer politischen Ziele eingestehen. „Gegen die restaurativen Interessen" hatten sie die „Schlacht verloren".190) Im Jahr darauf erfolgte ein Gegenangriff in Form einer Abrechnung mit dem deutschen Bürgertum. Unter der Überschrift „Triumph des HindenburgDeutschen" machte der Münchner Philologe und Journalist Friedrich M. Reifferscheidt den Klassenegoismus der deutschen Bourgeoisie (sie!) für die Zer-

184 ) Für Andersch und die Autoren des Rufs war das deutsche Großbürgertum durch seine Kollaboration mit dem NS schlichtweg diskreditiert. Walter Heist'. Das deutsche Volk und die Demokratie, zitiert nach Schwab-Felisch: Der Ruf, S. 174-80; Hans Werner Richter. Parteipolitik und Weltanschauung, zitiert nach Schwab-Felisch: Der Ruf, S. 83-88; vgl. allgemein Vaillant: Der Ruf, bes. S. 100-105. Die im Ruf artikulierten sozialistischen Konzepte fanden andererseits auch niemals die Zustimmung des orthodox-marxistischen Lagers, vgl. etwa Martell: Ein Weg ohne Kompass, passim. Zu der Haltung von Andersch, die strikte Opposition mit einem männlich-soldatischem Nationalismus verband, vgl. Braese: Unmittelbar zum Krieg, S. 49-71. 185 ) Selbst Hans Schwab-Felisch musste in der Rückschau bekennen, dass „im Widerstreit zwischen sozialistischer Utopie und realistischer Einschätzung der Lage im Ruf so manche Fehlkalkulation zu finden" sei. „Analyse und Konzeption der Herausgeber und ihrer Mitarbeiter gerieten innen- und außenpolitisch in einen immer deutlicher werdenden Widerspruch zueinander. Die Hoffnungen schwanden dahin, die Skepsis wuchs." Schwab-Felisch: Einleitung, in: Der Ruf, S. 14/15. 186 ) Stankowski: Linkskatholizismus, S.85. 187) vgl. etwa den Redaktions-Artikel „Ob man ein Programm machen darf?", in: FH 1.1946 Η. 1, S. 10-11, eine Auseinandersetzung mit einem Aufsatz von Karl Jaspers in der Zeitschrift Die Wandlung. Allgemein zu den Frankfurter Heften Stankowski: Linkskatholizismus; von der Brelie-Lewien: Katholische Zeitschriften; Ewald: Republik. 18S ) Eugen Kogon: Das Ende der Flitterwochen in Bonn, in: FH 5.1950, S. 225-28; P. Jakob David: Mitbestimmung und soziale Mündigkeit, in: FH 5.1950, S. 483-91; Walter Dirks: Der Kampf um die Mitbestimmung, in: FH 5.1950, S. 685-92. Vgl. Stankowski: Linkskatholizismus nach 1945, S. 124-27. 189 ) Eugen Kogon: Sorgen vor der Vierer-Konferenz, in: FH 6.1951, S. 153. 190 ) Eugen Kogon et al.: An unsere Leser, in: FH 5.1950, S. 1237.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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Störung der Weimarer Republik verantwortlich. 191 ) Ihren Machtanspruch habe sie dann nach 1945 ungebrochen und erfolgreich durchzusetzen versucht. Als mögliche Antwort empfahl Reifferscheidt - ganz auf der Linie der Zeitschrift - christliche Werte, einen parteipolitisch ungebundenen Sozialismus und die Einigung Europas. Der Hindenburg-Deutsche als „Wesensart", das bedeutete für Reifferscheidt Antiparlamentarismus, die Verbundenheit mit dem autoritären preußisch-deutschen Machtstaat und eine grundsätzliche Ablehnung der Emanzipation und Interessenvertretung der Unterschichten. Das war eine ziemlich präzise Beschreibung für die im Feld der Macht lange Zeit vorherrschenden politisch relevanten Einstellungen. Der Text war allerdings kein Versuch, die deutschen Oberklassen zur inneren Umkehr zu bewegen, sondern ein Angriff auf ihre Wertorientierungen. „Den Hindenburg-Deutschen rückgängig machen", darin sah Reifferscheidt die einzige Möglichkeit, die „deutsche Misere" zu beenden und die Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion bestehen zu können. 1 9 2 ) All das zeigt, dass die großen Orientierungsbedürfnisse der frühen Nachkriegszeit im Wesentlichen durch Versuche befriedigt wurden, an etablierte, nun aber zumindest vordergründig entradikalisierte politisch-ideelle Traditionen anzuknüpfen. Die größte politisch-ideelle Deutungskraft scheint dabei von der schon in der Zwischenkriegszeit weit verbreiteten, nun aber signifikant modifizierten Massen-Doxa ausgegangen zu sein. Wirkliche politische Neuansätze blieben dagegen weitgehend auf kleinere intellektuelle Teilmilieus beschränkt.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen Bevor die einzelnen Elemente der Elite-Doxa, die Argumente, die zu ihren Gunsten angeführt wurden, und die Topoi, die regelmäßig in ihrem Zusammenhang auftauchten, vorgestellt werden, soll zunächst kurz der Rahmen abgesteckt werden, innerhalb dessen die Diskussion sich bewegte und der die Grenzen zog zwischen den möglichen, das heißt den in der Diskussion sinnvoll verwendbaren Argumenten und den in diesem Rahmen nicht verwendbaren Topoi und Beweisführungen. 193 ) Denn nicht nur die unterschiedlichen politischen und sozialen Standorte der Akteure, sondern auch die besondere ideengeschichtliche Konstellation formte den Raum der möglichen, in den Diskussionen verwendbaren Argumente und Topoi. In groben Zügen lassen sich die Dimensionen dieses „Raums der möglichen Argumente und Stellungnahmen" wie folgt skizzieren:

191 ) Friedrich M. Reifferscheidt. Triumph des Hindenburg-Deutschen, in: FH 6.1951, S. 90-100. Reifferscheidt, geb. 1900, war von 1929 bis 1933 Mitglied der KPD gewesen - eine kritische Perspektive auf die deutschen Oberklassen war für ihn nach 1945 also keineswegs neu. Vgl. Laurien: Zeitschriften, S.337. 192 ) Ebd., S. 99/100. 193 ) Vgl. zu diesem Verfahren Bourdieu: Regeln, S. 371-78.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

I. Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Mehrzahl der westdeutschen Intellektuellen den Kalten Krieg während der langen 1950er Jahre nicht allein als einen machtpolitischen Konflikt, sondern in erster Linie als Rivalität zwischen zwei diametral entgegengesetzten Wertesystemen ansahen; ein Umstand, dessen Bedeutung für die Ideengeschichte der frühen Bundesrepublik kaum unterschätzt werden kann. Diese Sichtweise teilten sie bekanntlich mit zahlreichen Intellektuellen in allen westlichen Gesellschaften.194) Die deutsche Teilung und der tiefverwurzelte Antikommunismus beförderten jedoch die ideologische Überhöhung und die hohe Intensität dieser Wahrnehmung in der Bundesrepublik.195) Häufig wurde dabei der Marxismus bzw. der Staatssozialismus sowjetischen Typs als Quasireligion dargestellt (sogar Walter Dirks, sicherlich kein fanatischer Antimarxist, sprach vom „pantheokratischen Anspruch des Bolschewismus",196) und ähnliche Äußerungen finden sich auch in einem ganz anderen intellektuellen Spektrum, etwa bei dem Historiker Franz Borkenau, der dem CCF sehr nahe stand 197 )); damit nahm der Kalte Krieg die Gestalt eines Konfessionskrieges an. Selbstverständlich wurde dem Kommunismus der Status einer echten Religion - schon mangels dessen transzendentaler Bezüge - nicht zugestanden.198) Dies war auch eine Folge der Konjunktur für religiöse Deutungsangebote in der Nachkriegszeit. Die Antwort „des Westens" auf diese Herausforderung konnte in dieser Sichtweise nur in einer vertieften christlichen Wertbindung bestehen. Wie weit verbreitet diese Ansicht war, kann hier nur angedeutet werden. Beispielsweise erklärte der deutsch-russische Kulturphilosoph Fedor Stepun im Dezember 1954 auf einer Unternehmertagung in Bad Boll: Der Kommunismus ist eine religiöse Haltung, aber ohne Gehalt. Der Westen kennt den Gehalt, aber es fehlt ihm die religiöse Haltung. Anders ausgedrückt: Der Kommunismus glaubt mit Inbrunst, aber an das Diesseitige. Der Westen kennt den Glauben an Gott, aber er glaubt und lebt ihn nicht. Das Spezifische des kommunistischen Glaubens (ist) der radikale Antitheismus und Amoralismus; letztlich also ein Pakt mit dem Teufel. Und ein müder Bürger (kann) gegen einen gläubigen Teufel nicht aufkommen. (...) Doch ein solcher Glaube [wie der kommunistische, M.R.] an ein Ziel, eine solche Idee und Vision (sind) eher imstande zu einer Gestaltung der Welt als die realen Vorzüge des Westens, der durch

194

) Vgl. Hochgeschwender: Freiheit?, S.96-118, S.253-64, S.527^7. ) Beispielhaft dafür sind u. a. die Texte von Wilhelm Röpke aus den 1950er Jahren, ζ. B.: Furcht. 196 ) Walter Dirks: Das Ende der Neuzeit ist nicht das Ende des Menschen, in: FH 7.1952, S.35. 197 ) Franz Borkenau: Hundert Jahre Marxismus, in: Merkur 2.1948, S. 321-333. 198 ) Vgl. Rüstow. Ortsbestimmung, Bd. III S. 351-58, mit weiterführender Literatur S.658. „Man hat oft auf den ,religiösen' Charakter des Bolschewismus hingewiesen und auf die mitunter auffallende Ähnlichkeit zwischen seinen Lehren und Institutionen und gewissen Lehren und Einrichtungen des Christentums, vor allem der katholischen Kirche. Viel mehr noch als wissenschaftliche Lehre ist der Bolschewismus tatsächlich pseudoreligiöser Glaube, ja atheistische Erlösungslehre" (Zitat S.351). 195

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

109

ein großes Arbeitspotential und politisches Kalkül, aber ebenso auch durch eine visionslose Zukunftsplanung und durch glaubenslose Politik gekennzeichnet ist." 199 )

Stärker säkular argumentierende Intellektuelle stellten den Ost-West-Konflikt nicht in die religiöse Dimension, sprachen aber gleichwohl von einem „Krieg auf dem Felde der Ideen", wie Rudolf Pechel, Herausgeber der Deutschen Rundschau.200) In jedem Fall ist die Wahrnehmung des Kalten Krieges als Konflikt zweier Wertsysteme nicht gleichzusetzen mit dem verbreiteten Antikommunismus, auch wenn beide Phänomene einander ähnelten und ersteres der Ausbildung des für das letztere typischen manichäischen Weltbildes Vorschub leisten konnte. Antikommunismus war weder die hinreichende Bedingung noch die notwendige Folge dieser Sicht auf den Kalten Krieg, die durchaus zum Bestand des antitotalitären Grundkonsenses der Bundesrepublik gerechnet werden kann. 201 ) „Dieser Kalte Krieg war vor allem ein umfassender Propagandakrieg. Sein Kern war die Nicht-Anerkennung zunächst der faktischen Existenz, dann nur noch der historischen Legitimität der Bundesrepublik." 202 ) Man muss Noltes Urteil nicht in dieser Ausschließlichkeit teilen, um zu erkennen, dass den Ideen-Produzenten in diesem Kampf um Legitimation eine Schlüsselrolle zufiel. Alexander Rüstow etwa war der Auffassung, dass in der Situation einer „kalten Mobilmachung" der „Ideenarbeit" eine besonders hohe Bedeutung zukäme. Denn zur „inneren Festigung und Integration bedürfe der Westen einer gemeinsamen Idee, die der Idee des Ostens" entgegengesetzt werden könne. 203 ) Der „Wettkampf der Systeme im gespaltenen Deutschland [ist] stets auch ein Kampf um Worte gewesen ... Die Worte waren anders oder wurden anders besetzt." 204 ) Die symbolische Arbeit der Intellektuellen richtete sich deshalb auf beiden Seiten darauf, die Bedeutung von Worten zu verändern („Deutschland", „Frieden", „Freiheit") oder neue Begriffe und damit neue Ordnungen durchzusetzen (z.B. „Totalitarismus", „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft") 205 ) Den Ost-West-Konflikt als Kon199

) Fedor Stepun: Kraft und Schwäche von Ost und West, in: Der deutsche Unternehmer zwischen Ost und West, in: BB012, S. 1. Ähnlich Helmut Gollwitzer. Die Welt des Bolschewismus - eine Anfrage an uns, M003, S.8-13. 20 °) Zitiert nach Malende: Vorgeschichte, S.214. 201 ) Schildf. Konservatismus, S. 227/28; Kleßmann: Staatsgründung, S. 251-57. 202 ) Nolte: Deutschland, S.389 (Hervorhebung im Original). 203 ) Meier-Rusf. Alexander Rüstow, S. 96. 204 ) Zitiert nach Jäger. Schriftsteller, S. 10. 205 ) Zu den Bemühungen etwa von Rudolf Pechel, Wilhelm Röpke, Theodor Plivier, James Burnham, Arthur Koestler und anderer Intellektueller vgl. Malende: Vorgeschichte, passim; Nolte·. Ordnung, passim, der allerdings den Interessen und Zwängen der von ihm untersuchten Intellektuellen in ihrer Arbeit an einer „sozialen Sprache" (S.21) keinerlei Aufmerksamkeit zuwendet; zweifellos eine Folge einer Methodenreflexion, wenn unter dem Vorwand der „Forschungspragmatik" Verfahren und analytische Termini der Begriffsgeschichte, der intellektual history, political languages und Diskursanalyse munter durcheinander gewirbelt, aber nicht angewendet werden. - Zum Totalitarismus-Begriff vgl. die Beiträge in Jesse (Hg.): Totalitarismus, v.a. Kraushaar. Eis, S. 453-70.

110

1. Die Schauplätze des Geschehens

kurrenz zweier Wertsysteme zu sehen, bildete im hier verstandenen Sinne die typische, gewissermaßen die professionelle, habituell vorgeformte Wahrnehmung dieses Konflikts durch die Intellektuellen, denen er gleichzeitig die Möglichkeit verschaffte, durch Einbringen ihrer spezifischen Kompetenzen in das Austragen dieses Kampfes um die Deutung von Gegenwart und Geschichte und um die Legitimation des jeweiligen Teilstaats ihren eigenen Interessen und Strategien nachzugehen. Dabei konnten handfeste materielle Beweggründe im Spiel sein. So erklärten die Herausgeber des Merkurs 1951 in einem Werbeprospekt, als die Zeitschrift das drohende finanzielle Aus vor Augen hatte, ihre Sorge um die Zukunft des Merkurs sei „im Grunde die gleiche Sorge, von der die ganze westliche Welt erfasst ist, die sich in einem täglich lauter werdenden Ruf nach dem Schutz der Waffen äußert. Wir, unsere Freunde und unsere Mitarbeiter sind uns einig in der Überzeugung, dass die Verteidigungsbereitschaft des Geistes von der Schärfe der geistigen Waffen und von der Kraft der Sicherheit und dem Selbstbewusstsein, mit dem sie geführt werden, abhängig ist." 206 )

Auf diese Weise beförderte die Sichtweise des Kalten Krieges als ideologische Auseinandersetzung auch die Ausbreitung bestimmter Elemente des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite und damit der Elite-Doxa insgesamt, weil der Beschreibung der ideologisch gefestigten bolschewistischen Kader die Forderung nach der Bildung einer westlichen Wertelite gegenübergestellt wurde. Diese Diskussion erreichte ihren Höhepunkt in ersten Hälfte der 1950er Jahre, nachdem weltpolitisch die explosivste Phase zwischen Verkündung der Truman-Doktrin und dem Ende amerikanischer Überlegungen zum Einsatz von Atomwaffen in Korea zu Ende gegangen war, die deutsche Spaltung 1953 ins Zentrum der Auseinandersetzungen rückte und schließlich nachdem der Elite-Begriff in der Bundesrepublik hinreichend verbreitet und bevor die ideologische Überhöhung des Ost-West-Konflikts wieder im Abklingen begriffen war. 207 ) Bei den westdeutschen Protagonisten handelte es sich dabei auffallend häufig um hochgestellte Personen aus der Evangelischen Kirche, wie Hanns Lilje, die Akademiedirektoren Eberhard Müller und Johannes Doehring, den Berliner Professor für systematische Theologie Hans Köhler und den Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer, Herausgeber des „Evangelischen Soziallexikons" und Vorsitzenden des Sozialethischen Ausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Friedrich Karrenberg, bzw. den beiden Akademien nahestehende Wissenschaftler, aber auch um andere einflussreiche Intellektuelle wie die oben zitierten, nämlich Walter Dirks und Serge Maiwald, oder Theodor Litt. 208 ) Was sie einte, war ihre dominierende Position

206

) DLA, D: Merkur, Entwurf eines Werbeprospekts für den Merkur, übersandt von der DVA (1.2.51). 207 ) Vgl. Hobsbawm: Zeitalter der Extreme, S.289. 208 ) Hanns Lilje: Entscheidung als Aufgabe, in: L031, S.3-6; Eberhard Müller. Sorge, Wagnis, Glaube - Zur Philosophie des Kredits, in: BB019, S.5; Johannes Doehring·. Das Freiheitsverständnis des evangelischen Christen, in: L030, S. 3-5; ders.: Botschaft der Bibel:

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

111

im Intellektuellen Feld, als Herausgeber einiger der wichtigsten Kulturzeitschriften bzw. des „offiziellen Kommentars" der Evangelischen Kirchen zur sozialen Welt in Gestalt des „Soziallexikons" 209 ) oder als Leiter der größten Evangelischen Akademien - Positionen, mittels derer sie den Zugang zu den wichtigsten Medien der intellektuellen Auseinandersetzungen kontrollierten - und gleichzeitig als aktive und renommierte Publizisten. Dies war nur die logische Konsequenz, wenn man die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als Konkurrenz zweier Religionen begriff. Auf der gerade erwähnten Bad Boller Unternehmertagung 1954 versuchten einige Teilnehmer im Anschluss an Stepuns Vortrag, die Frage zu beantworten, „wie die Elite des Westens aussehen müsse, die die Antwort habe auf die Elite des Ostens". 210 ) Diese Aufgabe zu lösen erwies sich als schwieriger denn sie zu stellen. Mehr als den Hinweis auf die Entschlossenheit und den Vorteil der kleinen Zahl (ein Rückgriff auf Überlegungen Moscas 211 )) seitens der Elite des Ostens und auf die „Einschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten" der westlichen Elite vermochten weder Müller noch Stepun zu geben - bevor die weitere Diskussion auf eine zukünftig auszurichtende Tagung verschoben wurde, die offenbar jedoch nicht mehr stattfand. Worin die „Einschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten" der westlichen Elite ihrer Ansicht nach bestanden, ist nicht überliefert. Doch aus den Stellungnahmen auf dieser und auf anderen Boller Unternehmertagungen dieser Zeit lässt sich schließen, dass die Diskutanten dabei an die spezifischen Zwänge demokratisch-parlamentarischer Verfahren und tarifvertragsrechtlicher Regelungen dachten. 212 ) Über die imaginierte „Elite des Westens" lassen sich jedoch ex negativo einige Rückschlüsse ziehen, nämlich anhand der - weit detaillierteren - Schilderungen der sowjetischen Kader-Elite. Eine derartige Darstellung gab beispielsweise der Mitarbeiter des Gesamteuropäischen Studienwerks (Vlotho), Heinz Asendorf, in seinem Vortrag über „ideologische Grundlagen sowjetischer

Der erwählte Mensch, in: L031, S.29-31; Harald von Rautenfeld: Kommunismus und Orthodoxie, in: L005, S. 25-28; ders.: Kommunistisches Experiment als menschliche Vermessenheit, in: L014, S.8-12; Hans Köhler: Die Pseudotheologie des dialektischen Materialismus, in: LX11, S.5-6; Friedrich Karrenberg: Hat der Westen eine Idee?, in: M015, S.309-11; ders.: Die Freiheit im Verständnis des Westens, in: M022, S.3-8; Erwin Metzke: Überwindung marxistischen Denkens, in: L020, S. 29-24, hier S. 32/33; Heinz-Dietrich Wendland: Christliche und kommunistische Hoffnung, in: L024, S. 28-32, hier S. 28/29. 209 ) Karrenberg war nicht nur einer der Herausgeber des „Evangelischen Soziallexikons", sondern auch Mitherausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik, der wohl renommiertesten, weil intellektuell anspruchsvollsten Kulturzeitschrift der Evangelischen Kirchen Deutschlands. Vgl. Jähnichen: Protestantismus. 210 ) Diskussion über den Vortrag von Prof. Dr. Stepun, in: BB012, S.3 21 ') Mosca: Die herrschende Klasse, S.55. 212 ) Walter Bauer: Der Unternehmer zwischen Aktivismus und Fatalismus, in: BB012, Anhang S.l-7; Siegfried Wendt: Die wirtschaftlichen Funktionen des Eigentums, in: BB002, S.9 und S. 11 (Rundgespräch).

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1. Die Schauplätze des Geschehens

Funktionäre" auf einer Unternehmertagung in Loccum 1956.213) Hass, apriorische Parteilichkeit, das Fehlen von Eigenständigkeit und einer selbstverantwortlichen Position sowie das Unterworfensein und Exekutieren fremden Willens - mit diesen Eigenschaften stattete Asendorf die kommunistischen Funktionäre aus. 214 ) Spiegelbildlich mussten die westlichen Elite-Mitglieder durch christliche Nächstenliebe, Vorbildhaftigkeit sowie Verantwortungsbewusstsein - überhaupt durch die Möglichkeit, individuell verantwortlich handeln zu können - qualifiziert sein. Derartige Qualitäten wurden in zahlreichen Ausführungen zum „Eliteproblem" gefordert (wie im Folgenden ausführlicher gezeigt wird), doch die Beschreibung der kommunistischen Funktionäre lieferte gewissermaßen den letzten Beweis für die Notwendigkeit einer christlich gebundenen Wert- und Charakter-Elite. Im Diskussionszusammenhang über gesellschaftliche Ordnungsentwürfe verstärkte die Wahrnehmung des OstWest-Konflikts als ideologische Auseinandersetzung daher die Verbreitung gerade derjenigen Topoi, die sich in ihrer Summe zum Modell der Wert- und Charakter-Elite zusammenfügen ließen, mit konkurrierenden Ordnungsentwürfen wie der Klassen-Doxa dagegen kaum in Übereinstimmung zu bringen waren. Darin lag zweifellos die unmittelbarste und wichtigste Bedeutung des Kalten Krieges für die Durchsetzung der Elite-Doxa in der frühen Bundesrepublik. II. Zweitens ist noch einmal an die oben bereits erläuterte Funktion der beiden Evangelischen Akademien Loccum und Bad Boll zu erinnern. Auf ihren sogenannten „Begegnungstagen" versammelten sich Akteure aus unterschiedlichen sozialen Feldern: Unternehmer, Gewerkschafter, Politiker, hohe Beamte, Wissenschaftler, Kleriker und Intellektuelle. Die Akademien fungierten damit als neutrale Orte, als Foren der offenen Diskussion, auf denen jede Seite bemüht war, auf eine aggressive und polarisierende Freund-Feind-Rhetorik zu verzichten, eigene und fremde Argumente zu prüfen, keine Maximalforderungen zu stellen, sondern nach Möglichkeit zu einem allseitigen Konsens beizutragen. Denn aufgrund der unterschiedlichen, bisweilen sogar gegensätzlichen sozialen, politischen und intellektuellen Positionen der Teilnehmer und Referenten mussten sich alle Akteure auf diesem neutralen Boden einer „neutralen", das heißt einer auf Ausgleich und Verständigung bedachten Sprache bedienen. Dieser Konsens sollte einen Ausgleich der Positionen schaffen und sich im Idealfall in einem neuen Begriff oder Schlagwort zusammenfassen lassen. Dies vollzog sich in der Form, dass die elaborierten Ordnungsentwürfe, die die (Sozial-)Wissenschaftler und Intellektuellen (einschließlich der Kleriker) in ihren Referaten vortrugen, in den Diskussionen zu schlagwortartigen Gemeinplätzen („Gefahr der Vermassung", „der Mensch muss im Mittelpunkt 213

) Dr. Asendorf: Ideologische Grundlagen sowjetischer Funktionäre, in: L049, S.3-8; dasselbe in: LX11, S.6-7. 214 ) Fabian von Schlabrendorff: Führungsschicht und Kollektiv, in: L048, S. 18-29, bes. S. 22-24.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

113

stehen", „der außengeleitete Typ", „totalitäre Bedrohung") verkürzt und verdichtet wurden und von hier aus auch weit über die Grenzen des Intellektuellen Feldes verbreitet werden konnten. 2 1 5 ) Durch das Verdichten der Ordnungsentwürfe in den Diskussionen entstanden auf diese Weise an den neutralen Orten relativ einfach formulierte Topoi in der Form von Gemeinplätzen in der Rede über die Gesellschaft. Sie waren mit verschiedenen intellektuellen und sozialen Positionen kompatibel und deshalb als Ordnungsvorstellungen leicht durchsetzbar. Dies begünstigte das konsensorientierte Konzept der „Elite" gegenüber anderen, etwa auf sozialökonomischen Gegensätzen basierenden Modellen, wie der „Klassengesellschaft". Die Wirkung dieser Gemeinplätze lässt sich mit einem Zitat Pierre Bourdieus verdeutlichen: Die „Grundlage der Einheit des Zeitgeistes ist die gemeinsame ideologische Matrix, das heißt das System der gemeinsamen Schemata, die jenseits des Scheins von unendlicher Verschiedenheit [und intellektueller Originalität, M.R.] die loci communi erzeugen, jenes Gesamt an grob äquivalenten fundamentalen Gegensätzen, die das Denken strukturieren und die Weltsicht organisieren"; 216 ) um hier die wichtigsten zu nennen: die Gegensätze zwischen Elite und Masse, zwischen den „natürlichen" menschlichen Beziehungen und dem Funktionalismus der Technik, zwischen Ganzheit und Zerrissenheit, zwischen gebundener deutscher Freiheit und revolutionärer, totalitärer französischer Freiheit. Aufgrund ihrer großen symbolischen Macht gelang es den beteiligten Intellektuellen, Unternehmern und Politikern, diese Gemeinplätze - und damit den intellektuellen Rahmen der Elite-Doxa - in der Diskussion über die Gestalt der westdeutschen Gesellschaft durchzusetzen. 217 ) Die ungewöhnlich großen Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegsjahre, die oben ausführlich dargestellt wurden, gaben auch den Anlass für eine umfassende Neuformulierung der Gemeinplätze im Reden über die ( w e s t d e u t sche Gesellschaft. Aus diesem Grund bildeten die Jahre zwischen Kriegsende und etwa dem ersten Drittel der 1950er Jahre gewissermaßen die „heroische Zeit" jener Begegnungstagungen und der intellektuellen Arbeit an der Produktion und Verbreitung neuer Ordnungsentwürfe sowie deren schlagwortartiger Verdichtung. Auch wenn die Begegnungstagungen im strengen Sinne nur einen kleinen Teil der Akademiearbeit in Bad Boll und Loccum ausmachten, so stellten doch die weitaus zahlreicheren Tagungen, die mehr oder minder ausschließlich Unternehmern vorbehalten blieben, die Teilnehmer vor die Konfrontation unterschiedlicher Meinungen und Ideen, die von den referierenden Wissenschaftlern, Publizisten, Politikern und Klerikern vorgestellt und verhältnismäßig offen diskutiert wurden. Im Gegensatz zu den „Begegnungstagungen" stellten die Akademien auf diesen Veranstaltungen zweifel215

) Bourdieu und Boltanski: La Production de l'Ideologie dominante. ) Bourdieu: Ontologie, S.33 (Hervorhebung im Original). 217 ) Bourdieu: Sozialer Raum; ders.: Theorie der Praxis, S. 335-77; ders.: Was heißt sprechen?, S. 11-116. 216

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1. Die Schauplätze des Geschehens

los einen „weniger neutralen" Ort dar, doch waren sie noch immer neutral genug, um in Form des „Gesprächs" unterschiedliche Standpunkte zu diskutieren. Hinzu kommt, dass auch die Begegnungstagungen ihren frühen Höhepunkt schon in den Jahren um 1950 erreicht hatten. Die Untersuchung des Entstehens jener Gemeinplätze muss daher gerade bei den frühen Akademietagungen einsetzen. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang sind die „Tage der Stille und Besinnung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer", die in der zweiten Oktoberhälfte 1949 in Loccum abgehalten wurden. Dies war die erste derartige Tagung (die Idee zu einer derartigen Veranstaltung entstand laut Protokoll auf vorangegangenen Seminaren), auf der der - offenbar für außergewöhnlich erachtete - „Versuch entstand, einmal (sie!) beide Seiten des Wirtschaftslebens zu einer gemeinsamen Tagung und zu einer unmittelbaren Aussprache über die aktuellen Probleme der Sozialpolitik zusammenzuführen." 2 1 8 ) Der Versuch scheint für erfolgreich erachtet worden zu sein; die Akademie veranstaltete nur eine Woche später nach dem gleichen Konzept und mit identischen Referenten in Königswinter unmittelbar hintereinander „Tage der Besinnung" zunächst „für Arbeitnehmer der Betriebe im Rheinland und Westfalen" und sodann für die Arbeitgeber. Als Teilnehmer begegneten Unternehmer und Beschäftigte einander auf dem Boden der Akademie hier also nicht, doch beide setzten sich mit Referenten und Ideen aus dem jeweils anderen Lager auseinander. Den „Höhepunkt" der Loccumer Oktober-Tagung bildete denn auch das „Rundgespräch", 2 1 9 ) das heißt die offene Diskussion im Plenum der Teilnehmer. Eingeleitet wurde es von keinem geringerem als dem Landesbischof Hanns Lilje, der der damals weit verbreiteten Überzeugung Ausdruck verlieh, es sei „heute dringend nötig ... von veralteten Schlagworten loszukommen, welche der Wirklichkeit nicht mehr entsprächen". Lilje forderte gar eine Art philosophische „Sprachreinigung". 220 ) Mit dieser Losung von der notwendigen Überwindung veralteter Gemeinplätze, in denen die gewandelte Gegenwart sich nicht mehr ausdrücken lasse, und dem Appell zur Suche nach neuen politisch-ideellen Ordnungskonzepten fand Lilje eine prägnante Formulierung für die intellektuelle Signatur jener Jahre. Seine Losung wurde im Verlauf der Tagung gleich von mehreren Teilnehmern aufgegriffen. 2 2 1 ) Der Satz von der Notwendigkeit, veraltete Ideen zu überwinden, findet sich in zahlreichen Tex-

218

) (Vorbemerkung), in: L002, S. 1. ) Rundgespräch, in: L002, S. 3-7. 220 ) Rundgespräch, S. 3. 221 ) Z.B. von Otto A. Friedrich: Macht und Gewissen im Wirtschaftskampf, in: L002, Anlage 3, S.4-5, hier S.4; Johannes Doehring: Des Menschen Würde vor Gott, in: L002, Anlage 1, S. 1-2, hier S. 2. 219

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

115

ten und Vorträgen jener Zeit 222 ) und bildete nun den Ausgangspunkt für die Erzeugung und Verbreitung neuer Gemeinplätze. Eine Fortführung dieses Schlagwortes von den veralteten Begriffen bestand in demjenigen vom Verschwinden der traditionellen und legitimierten Führungsgruppen der deutschen Gesellschaft. Hier zeigt sich auch die Verlustperspektive, die den deutschen Nachkriegskonservatismus prägte (und zahlreiche intellektuelle Diskussionen über das konservative Milieu hinaus) und auf die im Zusammenhang mit der Legitimationsfunktion der Elite-Doxa noch zurückzukommen sein wird. Für diejenigen, die dieses Schlagwort verbreiteten, bestand demnach im westdeutschen Feld der Macht zumindest ein Legitimationsdefizit, wenn nicht sogar ein soziales Vakuum. Der erste Ansatz zu einer wirklichen politisch-ideellen Neuorientierung in diesen Jahren folgte dabei ziemlich direkt aus den oben genannten Schlagworten und bildete hinsichtlich der nachfolgenden Neuschöpfungen gewissermaßen den primären Gemeinplatz, die inhaltliche Grundlage aller weiteren hier untersuchten Schlagworte. In seiner kürzesten Form handelte es sich um die scheinbar einfache Forderung: „Der Mensch muss (wieder) im Mittelpunkt stehen". 223 ) Er stellte das komprimierte Ergebnis der umfangreichen Diskussionen in der frühen Nachkriegszeit über die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf humane Werte nach der Erfahrung der Zerstörung menschlicher Würde durch den Nationalsozialismus dar. 224 ) Ohne große Übertreibung lässt sich der Gemeinplatz vom Menschen, der im Mittelpunkt stehen müsse, als die sprachliche Verdichtung des politisch-ideellen Basiskonsenses der ausgehenden 1940er Jahre in Westdeutschland bezeichnen. Ideengeschichtlich harrt dieser Gemeinplatz ebenso wie vergleichbare Ausdrucksformen des zeitgenössischen Meinungs- und Orientierungswissens bislang einer vertieften Untersuchung. Dabei handelte es sich um eines der wirkungsmächtigsten zeitgenössischen politisch-ideellen Phänomene! Sogar das Grundgesetz stellte den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt, indem es deren Unantastbarkeit im berühmten Artikel 1 Satz 1 verbriefte. Ausdrücklich begründeten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates bzw. seiner Ausschüsse die Voranstellung der Menschenwürde mit der Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und mit dem Versuch einer „Umkehr im Denken, im Fühlen". 225 ) Den theologischen und geistesgeschichtlichen Ursprüngen des Menschenbildes der Väter und Mütter des Grundgesetzes ist vor allem die rechts222

) Hans-Helmut Kuhnke: Der Wandel unserer sozialen und politischen Ethik in Aufbau und Führung des Unternehmens, in: L001, S. 1-16, hier S. 16; Johannes Doehring: Zur Frage der Elitebildung in der Nachkriegsgesellschaft, in: L009, S. 1-2; Pascual Jordan: Versuche zur Verwirklichung einer verantwortlichen Gesellschaft auf dem Gebiet der Wissenschaft, in: LOH, S. 11-15, hier S. 11. 223 ) Müller. Hauptsache: Der Mensch (Untertitel: „Zur neuen Begegnung von Christentum und Sozialismus"). Vgl. auch Cattepoel·. Sozialreise, S. 16-18, S. 244-46. 224 ) Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften, S. 195-215. 225 ) PRAP 5/1, Ausschuss für Grundsatzfragen, S.52 (von Mangold); S.68 (Schmid).

116

1. Die Schauplätze des Geschehens

wissenschaftliche Forschung wiederholt nachgegangen.226) Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, aus welchen Gründen die Mitglieder des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz „anthropozentrisch", mit der Würde des Menschen als „oberstem Wert" ausrichteten.227) Jedenfalls taten sie dies mit einer Einmütigkeit, die jeglicher Kontroverse über diese Ausrichtung den Boden entzog: Dies gilt sowohl für die Verhandlungen des Ausschusses für Grundsatzfragen wie für diejenigen des Hauptschusses.228) Dass im Grundgesetz der Mensch und seine Würde in den Mittelpunkt gestellt wurde, ist auch nicht pauschal mit der starken Stellung der Kirchen zu jener Zeit zu erklären; das „Evangelische Soziallexikon" dekretierte beispielsweise wenige Jahre später, der Begriff der Menschenwürde sei ein „Schlagwort der aufklärerisch-idealistischen Freiheitsidee" und „kein Thema der Theologie".229) Auch lehnten umgekehrt etwa Theodor Heuss und Carlo Schmid im Hauptausschuss eine theologische Begründung menschlicher Freiheit und Würde ausdrücklich ab.230) Vielmehr wird in der Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes deutlich, dass der Gemeinplatz vom Menschen, der im Mittelpunkt zu stehen habe, einen weitverbreiteten, parteiübergreifenden Konsens ausdrückte und dass dieser Konsens außerordentlich wirkungsmächtig war. Häufig wurde dieser Gemeinplatz in die ökonomische Sphäre übertragen und lautete dann: „Der Mensch muss im Mittelpunkt der Wirtschaft [oder: „des Betriebes", M.R.] stehen." Dieser Gemeinplatz findet sich bereits in der erwähnten Loccumer Tagung von Ende Oktober 1949, wo sich alle an der Diskussion beteiligten Unternehmer, Gewerkschafter, Publizisten, Wissenschaftler und Kleriker auf ihn einigen konnten. 231 ) Die Zustimmung der Gewerkschafter zu einem vorderhand sozialharmonischen (statt konfliktorientierten) und auf das Individuum (statt auf das Kollektiv der Arbeiterklasse) bezogenen Topos konnte umso entschiedener ausfallen, als nur wenige Tage zuvor der DGB-Vorsitzende Hans Böckler in einem Grundsatzreferat über „Die Aufgaben der deutschen Gewerkschaften in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft" auf dem Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes

226) vgl. Pawlas: Grundgesetz, und die dort zitierte Literatur. 227

) Pawlas: Grundgesetz, S.39. ) Auch die Memoiren von Carlo Schmidt, dem Vorsitzenden des Hauptschusses, oder Konrad Adenauers, des Präsidenten des Parlamentarischen Rates, geben über diese Frage keinen Aufschluss. Angesichts von Adenauers Desinteresse an intellektuellen und ethischen Diskussionen ist dies allerdings nicht verwunderlich. Schmid: Erinnerungen, S. 37176; Adenauer: Erinnerungen 1945-1949, S. 149-52. 229 ) Tödt: Menschenwürde, Sp. 896. 230 ) PRVH, S.330. 231 ) In diesem Sinne beteiligten sich u. a. Albin Karl (Vorstandsmitglied des DGB), Otto A. Friedrich (Vorstandsmitglied Phoenix AG), Landesbischof Hanns Lilje, Bergwerksdirektor Premer; Heinrich Kost (Generaldirektor der Deutschen Kohlenbergbauleitung) und der Hamburger Senatspräsident Bogs, in: L002, S.3-7. 228

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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erklärt hatte, dass „der arbeitende Mensch ... inmitten allen wirtschaftlichen Geschehens zu stehen hat". 232 ) Den (einzelnen) Menschen in den Mittelpunkt des Unternehmens zu stellen, dieser Satz ließ sich weiter spinnen, bis ein ganzes Netz sozialharmonischer Gemeinplätze über eine wünschenswerte Wirtschafts- und Sozialordnung entstanden war: „Im Vordergrund der Anstrengungen muss die harmonische Zusammenarbeit aller" im Betrieb, müssen die „menschlichen Beziehungen" stehen; „die (Interessen-)Einheit von Unternehmern und Beschäftigten zeigt sich besonders in der Einheit des Betriebs", in „freiwilliger Partnerschaft". In diesen Zusammenhang - und hier schließt sich der Kreis zu Hanns Liljes oben zitiertem Ausgangsschlagwort - gehört auch der Gemeinplatz": „überkommene soziale Auffassungen (der Gegensatz von Kapital und Arbeit) und entsprechende Schlagworte, ζ. B. Kapitalismus, Sozialismus, Klasse, Macht, Eigentum müssen überwunden werden", der in mancherlei Hinsicht den politischideellen Kulminationspunkt der Produktion und Verbreitung sozialer Gemeinplätze darstellte. Dieses Geflecht sozialharmonischer Redeweisen entsprach im Politischen Feld ziemlich genau der Sammlungsrhetorik, mit welcher zu dieser Zeit die CDU eine Vereinigung aller antisozialistischen Kräfte und Gruppen bis in die Arbeitnehmerschaft hinein, doch unter bürgerlicher Hegemonie, propagierte. 233 ) Dennoch zirkulierten diese Gemeinplätze tatsächlich bis weit in die Gewerkschaften hinein. Die von der Industriegewerkschaft Bergbau herausgegebene Zeitschrift Bergbauindustrie berichtete beispielsweise 1951 über entsprechende Tagungen der Evangelischen Akademien unter der Überschrift „Der Mensch als Mittelpunkt des Betriebes" und erklärte in diesem Zusammenhang: „Die Forderungen dieser Tagungen, den Menschen wieder als Mittelpunkt im Betrieb zu betrachten, kann [sie!], wenn es sich augenblicklich auch noch um eine Theorie handelt, die es verdient, so bald wie möglich in die Praxis umgesetzt zu werden, von den Gewerkschaften nur voll und ganz unterstützt werden. (...) Gewerkschaften und Unternehmer sollten sich nicht nur als Kontrahenten gegenüberstehen, sondern versuchen, nach dem Beispiel der amerikanischen und englischen Gewerkschaften durch eine gute Zusammenarbeit das beste für den Arbeiter und den Betrieb herauszuholen." 234 )

Ganz nebenbei zeigt dieses Beispiel auch, dass die an den Evangelischen Akademien produzierten und zirkulierenden Gemeinplätze auch die Verbreitung des anglo-amerikanischen „Konsenskapitalismus" in der westdeutschen Arbeiterbewegung förderten. 235 )

232

) Protokoll des Gründungskongresses des DGB (bezeichnenderweise veröffentlicht unter dem Titel „Mittelpunkt ist der arbeitende Mensch"!), S. 193. 233

) Vgl. Bosch: Adenauer-CDU, S. 42/43. Aus anderer Perspektive Bergsdorf: Herrschaft, S. 125-71. 234 ) Der Mensch als Mittelpunkt im Betrieb, in: Bergbauindustrie 4.1951, S.358. 235 ) Vgl. Angster. Konsenskapitalismus, passim.

118

1. Die Schauplätze des Geschehens

Bis zur Mitte der 1950er Jahre hatten sich diese sozialharmonischen Gemeinplätze in der Rede über die westdeutsche Gesellschaft so weit durchgesetzt, dass 1955 in einer Allensbacher Umfrage nicht weniger als 69% der Befragten dem Satz (oder Gemeinplatz) zustimmten: „Wir brauchen Zusammenarbeit aller Berufsgruppen". Der konfliktorientierte Klassen-Code fand sich dagegen an den Rand gedrängt; nur 15% entschieden sich für die Losung: „Nur durch Kampf kann die Arbeiterklasse ihre Rechte durchsetzen." 236 ) Dieses zu Beginn der 1950er Jahre gewobene Geflecht von Schlagworten und Redeweisen über die soziale Ordnung fungierte als eine Art generative Matrix, die fortwährend und bis in die 1960er Jahre hinein aufeinander abgestimmte Aussagen über die soziale Welt hervorbrachte. Die weitere Ausbreitung dieser Gemeinplätze ließe sich in den mobilisierenden und integrierenden Parolen der politischen Auseinandersetzungen verfolgen, sicherlich auch in den zu stereotypen Formeln kondensierten Fragen und Ergebnissen der Demoskopie. Denn die in den 1950er Jahren aufblühende Meinungsforschung 237 ) verkürzte notwendigerweise komplexe Problemstellungen ebenfalls zu Schlagworten, um einfache, auf diese Weise quantifizierbare und schließlich politisch und ökonomisch verwertbare Ergebnisse zu erhalten. Um die Präferenzen und Einstellungen der Befragten hinsichtlich der ausgewählten Problemstellungen zu ermitteln, griffen Meinungsforschungsinstitute auf bereits zirkulierende Gemeinplätze zurück, etwa in der bereits zitierten Alternativstellung „Wir brauchen die Zusammenarbeit aller Berufsgruppen - Nur durch Kampf kann die Arbeiterklasse ihre Rechte durchsetzen". Die Ergebnisse, das heißt die präferierten Gemeinplätze, flössen dann wiederum mit dem Anspruch auf Gültigkeit durch Verfahrenskontrolle zurück in die Literarisch-Politische, die wissenschaftliche und die massenmedial vermittelte tagespolitische Öffentlichkeit. Auf Grund dieses Zirkelschlusses ist Skepsis angebracht gegenüber allen in erster Linie auf Umfrageergebnissen gestützten zeithistorischen Annahmen über Persistenz und Wandel von Einstellungen großer Bevölkerungsgruppen. 238 ) Deren gemeinsamer Nenner bestand in der Betonung des Vorrangs des menschlichen Individuums, sozialer Partnerschaft zwischen Unternehmern und Beschäftigten und der konfliktvermeidenden „Überwindung" sozialer Gegensätze. Damit prägten die konfliktvermeidenden und sozialharmonischen Gemeinplätze über die soziale Welt, wie sie in Loccum, Bad Boll und anderen Orten produziert und in Umlauf gebracht wurden, das Meinungsklima der 1950er Jahre sehr tief. Hier ist wiederum an den Ausgang der oben dargestellten Debatten über adäquate Begriffe zur Beschreibung und Unter-

236

) Zitiert nach Schildf. Moderne Zeiten, S.311. ) Weischer: Empirische Sozialforschung, S. 130-46. 238) v g ] etwa das Kapitel „Grundzüge des Einstellungswandels der westdeutschen Bevölkerung" bei Schildf. Moderne Zeiten, S. 306-23. Zur Kritik an der Verwendung von Umfrageergebnissen vgl. Bourdieu: Öffentliche Meinung; ders.: Meinungsforschung. Dagegen aber Weischer: Empirische Sozialforschung, S. 143-45. 237

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

119

suchung der Nachkriegsgesellschaft anzuknüpfen. Das Geflecht der in diesen Auseinandersetzungen geprägten Gemeinplätze über die soziale Ordnung mit ihrer Betonung des Vorrangs des menschlichen Individuums, sozialer Partnerschaft und der konfliktvermeidenden „Überwindung" sozialer Gegensätze führte nicht zuletzt zum (vorübergehenden) Verschwinden der Kategorien Klasse, Macht, Herrschaft, Konflikt und soziale Ungleichheit aus der gehobenen Publizistik oder zumindest zu deren eindeutiger Abwertung. Dieses Ergebnis verstärkte die Durchsetzungskraft der Elite-Doxa außerordentlich. Denn diejenigen Intellektuellen, die bisher die Klassen-Doxa verfochten hatten, sahen sich nun gezwungen, ihre alten Positionen aufzugeben (jedenfalls in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit); andernfalls wurden sie an den Rand des Intellektuellen Feldes gedrängt und fanden auch keinen Zugang zu den wichtigsten neutralen Orten wie den Loccumer und Bad Boller Tagungen. Damit aber verschwand der wichtigste mit der Elite-Doxa konkurrierende Ordnungsentwurf für rund zwei Jahrzehnte aus den politisch-ideellen Debatten. 239 ) Darüber hinaus begünstigte die Dominanz jener Gemeinplätze die Ausbreitung verschiedener Elemente des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite und blockierte andere, konträre Deutungsmuster. Besonders vier dieser eng zusammenhängenden, teilweise einander entgegengesetzten, zum Teil komplementären Elemente sind hier zu nennen: Erstens der Topos von der notwendigen „Ganzheitlichkeit" einer Elite (gemeint war die Warnung vor einer Trennung zwischen persönlicher Haltung und Rollenhandeln der Elite-Individuen); zweitens die Vorstellung, eine Elite bilde sich in allen sozialen Gruppen und Schichten; drittens das Argument, sozioökonomische Merkmale seien zur Positionierung der Akteure im sozialen Raum irrelevant geworden; und viertens die Präferenz verhältnismäßig konfliktarmer Modelle sozialer Über- und Unterordnung. Diese etwas verwirrende und durchaus inkonsistente Menge von Argumenten wird unten noch im Einzelnen zu untersuchen sein. Hier soll nur kurz auf den Wirkungszusammenhang zwischen jenem Geflecht von Redeweisen und der Durchsetzung der Elite-Doxa hingewiesen werden. Denn diese Gemeinplätze definierten die relevanten Problemstellungen im Reden über die Ordnung der Gesellschaft und damit die möglichen Stellungnahmen

239

) Das fast zwei Jahrzehnte dauernde Verschwinden der Klassen-Doxa aus den westdeutschen Diskussionen kann hier nur an den wichtigsten Orten der symbolischen Kämpfe verfolgt werden. In den einschlägigen soziologischen Handbüchern aus den 1950er Jahren (König [Hg.]: Soziologie; Gehlen und Schelsky [Hg.]: Soziologie) findet sich kein Beitrag zum Klassen-Begriff; der populärwissenschaftliche „Leitfaden" von Lambrecht: Soziologie, konstatiert zwar das Vorhandensein von Klassen-Gebilden, kommt jedoch zu dem eindeutigen Schluss, dass der Charakter der Gesellschaft nicht durch die Existenz und das Handeln von Klassen bestimmt werde (S. 309-52). Folgt man Weyers Geschichte der akademischen Disziplin, so befand sich über die Granden hinaus die gesamte westdeutsche Soziologie „in Frontstellung gegen die Marx'schen Klassenanalysen" (Weyer. Soziologie, S. 132/33).

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1. Die Schauplätze des Geschehens

zu diesen Problemstellungen. Die Auswahl möglicher Antworten auf die Frage, welche legitime Gestalt die gesellschaftlich notwendigen Formen der Überund Unterordnung annehmen sollten, wo die Akteure zu finden wären, die die Führungsfunktionen übernehmen könnten und anhand welcher Merkmale sie ausgewählt werden müssten, schließlich, welche Probleme in den Beziehungen zwischen ihrer Individualität und jenen Führungsfunktionen entstünden, wurde beschränkt durch die Vorannahmen, die sich in den Schlagworten vom Menschen im Mittelpunkt, sozialer Partnerschaft und der Überwindung sozialer Gegensätze manifestierten. Denn den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutete als Antwort auf diese Fragen erstens, sozialharmonische Modelle der Vorbildhaftigkeit und der Führung zur Über- und Unterordnung von Individuen und Gruppen zu propagieren und die konkurrierenden Kategorien Herrschaft, Macht und Konflikt zu verwerfen. Axel Seeberg, der Schriftleiter des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes erklärte 1952 in Loccum: „In Deutschland spielen die Berufsstände eine zu große Rolle. Wenn der Mensch als Ganzes betrachtet wird, kommt es nicht zu diesen Gegensätzen. (...) Die Gegenüberstellung Arbeiter und Unternehmer [ist] als eine Fiktion anzusehen." 240 ) In die gleiche Richtung wirkten auch die Schlagworte von der Betonung sozialer Partnerschaft und der Überwindung sozialer Gegensätze. Zweitens erforderten der Partnerschaftsgedanke ebenso wie die Vorrangstellung des menschlichen Individuums, dass sich mit Führungsaufgaben betraute Akteure in allen Gruppen, Berufen und Schichten finden ließen und aus diesen hervorgingen, worauf noch zurückzukommen sein wird. Damit verbunden war die Hoffnung, dass derartige Herrschaftsformen eine machtdominierten Überformung der zwischenmenschlichen Beziehungen verhindern könnte. Soziale Ungleichheit und das daraus folgende Machtgefälle gerieten damit aus dem Blickfeld der Diskussion. Drittens folgte aus dem Gesagten, dass die Führungsindividuen nicht anhand sozioökonomischer Merkmale ausgewählt werden durften, weil dies ebenso sehr den Partnerschaftsgedanken wie die Vorrangstellung des Individuums (unabhängig von dessen sozialer Position) verletzt hätte. Stattdessen sollten Charaktermerkmale und ethische Wertbindungen eine richtige Auslese der Führungskräfte verbürgen und auf diese Weise die Wahrung echter humaner Werte in der Gesellschaft gewährleisten. Damit wurde andererseits die Klassen-Doxa aus dem Raum der Diskussion verwiesen; nicht nur weil in ihr sozialökonomisch motivierte Konflikte im Vordergrund stehen, sondern auch weil die Protagonisten dieser Konflikte (Gewerkschaftsführer und Arbeitgeberfunktionäre) ihre Führungsposition sozioökonomischen Merkmalen verdanken. Schließlich mussten viertens das Führungsindividuum und die Führungsrolle eine Ganzheit bilden, wenn die Einheit des menschlichen Individuums nicht in eine Pluralität aufgelöst, die Einheit der Partnerschaft in Berufsgruppen, Betrieben, Familien und poli-

240

) Axel Seeberg: (Arbeitsbesprechung), in: L015, S. 13-15, hier S. 15.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

121

tischen Verbänden (vor allem im Staat) zerrissen und damit heftige soziale Konflikte evoziert werden sollten. Auf diese Weise erzwangen die in jenem Geflecht von Gemeinplätzen kondensierten Redeweisen über die Gesellschaft, über ihre Gefährdungen und ihre Notwendigkeiten die Entwicklung von Ordnungsmodellen, die auf Führung, Vorbildhaftigkeit und Ganzheitlichkeit basierten, die Existenz von durch vorbildliche Charaktermerkmale und Wertbindungen qualifizierten Führungsindividuen in allen sozialen Gruppen voraussetzten und in denen sozioökonomische Merkmale für die Strukturierung der Gesellschaft kaum eine Rolle spielten. III. Drittens müssen wir noch einmal auf die große Bedeutung der evangelischen Kirchen für die intellektuellen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit zurückkommen. Sie stellten mit ihren Akademien und deren Publikationen nicht nur Foren der Diskussion zur Verfügung, und Kleriker mischten sich in diesen Auseinandersetzungen nicht nur als gesuchte Autoren und Referenten ein (man denke nur an die herausragende Position, die der Theologe Helmut Thielicke im Intellektuellen Feld der 1950er Jahre einnahm) 2 4 1 ); das Christentum bildete auch und vor allem einen zentralen Bezugspunkt in der tastenden Suche nach neuen politisch-ideellen Orientierungen während der Jahre nach 1945. Solange diese Perspektive vorherrschend blieb, waren den Möglichkeiten, neue Ordnungsmodelle zu konstruieren, bestimmte Grenzen gesetzt. Diese Grenzen waren besonders eng für solche Modelle, in denen eine mit der vorherrschenden Auslegung der maßgeblichen sakralen Texte möglichst weitge-

241

) Thielickes Position beruhte auf der Akkumulation eines erstaunlichen Umfangs an sozialem, akademischem, religiösem und intellektuellem Kapital: Als entschiedener, im NS mit Rede- und Reiseverbot belegter Vertreter der Bekennenden Kirche, Leiter des Theologischen Amtes der württembergischen Landeskirche, Professor an den Universitäten Heidelberg, Tübingen und Hamburg, Rektor der beiden letzteren, Präsident der westdeutschen Rektorenkonferenz, Mitherausgeber der Zeitschriften Studium Generale und der ZSfEE, ständiger Mitarbeiter der Universitas und vielfacher Referent an Evangelischen Akademien veröffentlichte er zwischen 1951 und 1964 sein dreibändiges Hauptwerk „Theologische Ethik", „die umfassende theologische Darstellung der modernen Lebenssituation" (Universitas 20.1965, S.446). Thielickes wichtigste Arbeiten beschäftigten sich ebenso wie viele seiner kulturkritischen Essays mit den Problemen einer ethisch geleiteten Lebensführung. Dabei verfügte er als Intellektueller über moralische Glaubwürdigkeit durch seinen Lebensweg, als Vertreter der Kirche über die religiöse Autorität, als Wissenschaftler über die zertifizierte Approbation und als Wissenschaftspolitiker auch über das weltliche Ansehen und die staatlichen Würden, zusammengenommen über den Zugang zu den angesehensten Verlagen (die „Theologische Ethik" erschien bei J.C.B. Mohr in Tübingen), zu den einflussreichsten Zeitschriften und den Vortragsorten mit dem ausgesuchtesten Publikum, um seine Ideen möglichst wirkungsvoll zu präsentieren: Über Lebensführung zu schreiben und mit höchster geistlicher und weltlicher Autorität richtiges von falschem Handeln und Leben zu scheiden, bedeutete nichts anderes als die höchste Form symbolischer Macht auszuüben.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

hend übereinstimmende 242 ) Ordnung sozialer Ungleichheit und politischer Herrschaft gesucht wurde. Zunächst einmal ließen diese Grenzen wenig Raum für Herrschaftsmodelle, in denen das Austragen von Konflikten eine besondere und dazu positiv bewertete Rolle spielen konnte. Harmonische Formen der Über- und Unterordnung, die dem Gebot der Nächstenliebe folgten und die Trennung zwischen innerer, seelischer „Freiheit" und „äußerer", weltlicher „Dienstbarkeit" respektierten, befanden sich dagegen im Einklang mit dieser Perspektive, die bis über die Mitte der 1950er Jahre hinaus zum Beispiel aus dem Kreis der Evangelischen Akademien sehr offensiv propagiert wurde. Der gedankliche Kern dieses Topos bestand sicherlich in dem zentralen Satz aus einem der zahlreichen Referate des Loccumer Studienleiters Johannes Doehring über den Freiheitsbegriff: „Im Dienen offenbart sich erst die wahre innere Freiheit". 243 ) Damit ließ sich unter Berufung auf die Autorität Luthers das Sichfügen in jegliche Herrschaftsbeziehung als gottgewollt rechtfertigen und sogar ein Primat der Geistlichkeit in der Rechtfertigung des Gehorsams begründen. Es ist bemerkenswert, dass Doehring diese Ideen damals vor allem auf Tagungen verbreitete, bei denen Unternehmer, Betriebsräte und Intellektuelle zusammentrafen. Für die Unternehmer erfüllten Doerings Ausführungen eine dreifache Funktion: Erstens rechtfertigte es ihr Verhalten zwischen 1933 und 1945, dessentwegen sie während des ersten Nachkriegsjahrzehnts nicht nur von den Alliierten, sondern auch von den Gewerkschaften heftig angegriffen wurden. 244 ) Denn „ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan", 245 ) womit gesagt war, dass die Unternehmer auch während des Nationalsozialismus ihren Geschäften nachgehen mussten (und konnten), ohne ihre seelische Freiheit zu verlieren und sich damit schuldig zu machen. Zweitens ermahnte diese Freiheits-Konzeption die Vertreter der Beschäftigten, „[ihrer] Sache [dem Betrieb, M.R.] mit Hingebung [zu] dienen" und den ungeteilten betrieblichen („äußerlichen") Führungsanspruch der Unternehmer aus innerer christlicher Freiheit anzuerkennen, da ihrem Seelenheil mit „äußerlicher", „leiblicher" Freiheit doch nicht geholfen wäre. Drittens schließlich bestärkten Doehrings Worte die Unternehmer in ihrem Führungs242

) Ein gutes Beispiel für die intensive hermeneutische Arbeit, die dabei gelegentlich vollbracht wurde, ist der Text von Werner Jentsch: Evangelium und Elite, in: Anstöße, Nr. 5/6 Dezember 1958, S. 147-67. 243 ) Johannes Doehring: Die Freiheit eines Christenmenschen - Gedanken aus und zu der berühmten Schrift Martin Luthers, in: L024, S. 224-27, hier S.25. Doehring referierte 19531955 auf mindestens fünf Tagungen, die überwiegend für Unternehmer ausgerichtet wurden (L021, L023, L024, L026, L034) über dieses Thema (ähnliche Vorträge nicht mitgerechnet), wobei er stets und vor allem den Gegensatz zwischen „innerer Freiheit" und „äußerer Dienstbarkeit" betonte. Dieser Freiheitsbegriff stieß auf den Unternehmertagungen auf keinerlei Widerspruch, und erst 1955 wies Fritz Erler in einer brillanten Polemik die politische Idee einer „innere(n) Freiheit des Christen, der sich noch im Gefängnis frei fühlt", zurück. Fritz Erler: Freiheit und Zucht im staatspolitischen Denken, in: L034, S. 26-30. 244 ) Wiesen: West German Industry, S.3/4, S. 52-93. 245 ) Martin Luther, zitiert von Doehring: Freiheit, S.25/26 (auch für das Folgende).

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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anspruch, indem das unternehmerische Handeln einschließlich des Profitstrebens und der Ausübung betrieblicher Herrschaft als „Dienst" und „wahre Hingebung" an ihre Sache quasi sakralisiert wurde. Die Träger der Herrschaft mussten jedoch umgekehrt auf die Bindung an die christliche Ethik verpflichtet werden, zum einen, weil nur aus dieser Bindung die Kraft zu dieser dienenden und freien Hingebung erwachsen konnte. Zum anderen - und hier verstärkten sich das Christentum als zentraler Bezugspunkt der Diskussion und die Wahrnehmung des Kalten Krieges als ideologischer Konflikt wechselseitig in ihrer Prägekraft für die Debatten über gesellschaftliche Ordnungsmodelle - galt diese religiöse Selbstverpflichtung als notwendig, „weil nur von hier aus eine richtige Stellung zu jenen Ideologien gewonnen werden kann, auf denen die Krankheit Europas beruht." 246 ) Pascual Jordan meinte damit in erster Linie „die ideologische Lehre der Gleichheit aller Menschen" - sie sei „umgefälscht" worden aus der Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott was nebenbei zeigt, welche argumentativen Anstrengungen unternommen wurden, um die religiöse Perspektive mit dem Glauben an die ewige Ungleichheit zu vereinen. Mit diesen Auffassungen machten sich die Theologen und alle diejenigen, die diese Annahmen teilten, auch zu entschlossenen Gegnern der Klassen-Doxa und allen ihren Bestandteilen: auf Kapitalbesitz oder -nichtbesitz beruhende Disparitäten, die zu polarisierenden Gruppenbildungen und schweren wiederkehrenden Interessenkonflikten führen. IV. Viertens ist ein Faktor zu berücksichtigen, der das gesamte Intellektuelle Feld vom Beginn des Untersuchungszeitraumes bis mindestens Mitte der 1950er Jahre prägte, nämlich die vornehmlich geisteswissenschaftliche Orientierung der Soziologie und darüber hinaus der gesamten Humanwissenschaften. Wie auch immer man die Geschichte der (west-)deutschen Soziologie nach 1945 beurteilen, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Strömungen und Ansätze etikettieren und ihren Ertrag einschätzen wird 247 ) - Einigkeit herrscht darüber, dass bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre eine „kultursoziologisch, kulturhistorisch und kulturphilosophisch orientierte Soziologie" dominierte, 248 ) repräsentiert durch Namen wie Leopold von Wiese (der erste Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie), Helmut Plessner (der Nachfolger Wieses), Alfred Weber oder Alexander Rüstow (1953 bis 1957 Vorstandsmitglied der DGS). 249 ) „Die zumeist philosophische Orientierung traf übrigens auch für die Arbeiten von Theodor W. Adorno und Arnold Geh-

246

) Pascual Jordan·. Probleme der Elitebildung, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955 H. 1,S. 16-18, hier S.17. 247 ) Dazu kontrovers: Lepsius: Entwicklung, S. 25-70, und Tenbruck: Deutsche Soziologie, S. 71-107. 248 ) Ludz: Bedeutung, S.269. 249 ) Vgl. Rehberg: Stunde Null, S. 26-44.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

len zu", also der nächst jüngeren Soziologen-Generation.250) Auch auf den von der DGS abgehaltenen Soziologentagen dominierten bis Ende der 1950er Jahre philosophische und kulturkritische Themen, die häufig in „völlig unwissenschaftlichen Referaten" behandelt wurden, „deren inhaltliche Aussagekraft [gemessen an wissenschaftlichen Standards, M.R.] mehr als zweifelhaft ist", so dass Johannes Weyer zu dem Schluss kommt, dass „die Fachsoziologie in der Regel auf den Soziologentagen weitaus unterrepräsentiert war".251) Die Gegenposition einer empirisch arbeitenden und theoriegestützten Einzelwissenschaft, für die besonders Rene König eintrat, musste sich im Verlauf der 1950er Jahre erst mühsam gegen diese Richtung durchsetzen,252) auch wenn König bereits 1955 die Herausgeberschaft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie übernahm. Denn die Vertreter der älteren Generation wie Alfred Weber lehnten eine „wertfreie" Soziologie offen ab.253) Der epistemologische Preis, der dafür zu zahlen war, bestand in einer Vernachlässigung der Kategorienbildung für die empirische Forschung. Auch in der jungen Disziplin der Politikwissenschaft waren die Vorbehalte gegenüber der Politischen Soziologie, die sich bereits in den frühen 1950er Jahren in empirischen Arbeiten dem Thema „Elite und Demokratie" annahm, erheblich.254) Kein geringerer als Ernst Fraenkel verdammte sie „in pervertierten, weil verabsolutierten Form als politischer Soziologismus, der mit der Soziologie der Politik nicht in einem Atem genannt werden sollte". Fraenkels Urteil war dabei durchaus politisch-ideell (statt im engeren Sinne wissenschaftlich) motiviert: Er befürchtete eine „Schwächung der jungen westdeutschen Demokratie durch eine politische Soziologie, die „einer Revolutionstheorie als Grundlage zu dienen (vermag). Wenn alle Ideen nichts anderes als Ideologien darstellen, wenn alles Denken in einer klassengespaltenen Gesellschaft klassengebunden ist, kann es notwendigerweise auch nicht das Minimum eines an der Idee eines Gemeinwohls ausgerichtetes Gemeinschaftsdenken geben, das unerlässlich ist, um einen pluralistisch strukturierten Staat lebensfähig zu erhalten. Unter Zugrundelegung der Prämisse eines extremen Soziologismus der Politik stellt sich ein pluralistischer Staat als ein Widerspruch in sich selbst dar und ist daher - quo erat probandum - zur Selbstauflösung verurteilt." 255 )

250

) Ludz'. Bedeutung, S.265. Wiese, Plessner, Weber und Rüstow waren zwischen 1868 und 1892 geboren, Adorno und Gehlen 1903 bzw. 1904. Auch Rene König (geb. 1906) gehörte zu dieser jüngeren Generation. Gehlen lobte beispielsweise Hans Freyers 1955 erschienene „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" „aus der meisterhaften und kunsterfahrenen Feder eines unserer ersten Soziologen", und kam zu dem Schluss: „Die Philosophie ist eine der gültigen Formen, in denen der Mensch seinen Erlebnissen, eine Zeit ihren Verwirrungen überlegen bleiben kann: In diesem Sinne ist das Buch Freyers der Form nach philosophisch, wenn es die Philosophie auch inhaltlich ignoriert". Arnold Gehlen: Zu Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, in: Merkur 9.1955, S. 578-82. 251 ) Weyer. Soziologie, S. 107/08. 252 ) Vgl. Lepsius: Entwicklung, S. 40. 253 ) Weber. Einführung, S.37. 254 ) Vgl. allgemein Mohr: Politikwissenschaft, S. 268-78. 255 ) Zitiert nach Ludz: Bedeutung, S.279.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

125

Tatsächlich hatte Otto Stammer - vor allem gegen ihn richteten sich diese Angriffe - bereits 1955 in seiner kurzen Begriffsbestimmung der „Politischen Soziologie" diese als „Gegenwartswissenschaft" bezeichnet, die eine „sorgfältige Analyse der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit" betreibe und der „strukturellen und funktionellen Wirklichkeit" nachgehe. 256 ) Knapp zwei Jahrzehnte später, am Ende seiner wissenschaftlichen Karriere, setzte Stammer sich in einem sowohl einführenden wie bilanzierenden Handbuch noch einmal mit dem Selbstverständnis und den Aufgaben der Politischen Soziologie sowie mit seinen Gegnern (namentlich Fraenkel, Arnold Bergstraesser und Wilhelm Hennis) auseinander und grenzte sich dabei erneut ausdrücklich davon ab, politische Strukturen „unter dem Kriterium des ,bonum commune' politischen Handelns auch in der pluralistischen, rechtsstaatlichen Demokratie wertend zu beurteilen." 257 ) Es war genau dieser tendenziell jeden politischen Standort unter Ideologieverdacht stellende Werterelativismus einer konsequent autonomen, das heißt einzig der Konsistenz und Einheitlichkeit ihrer eigenen Kategorien und Verfahren verpflichteten Soziologie der politischen Ideen, Institutionen, Parteien und Bewegungen, welcher den Widerstand der kulturphilosophisch interessierten, hermeneutischen Verfahren verbundenen und vor allem in erster Linie auf außerwissenschaftliche politisch-ideelle Bezugspunkte festgelegten Humanwissenschaftler heraufbeschwor. Auch in der Pädagogik beispielsweise erfolgte „die Preisgabe der geisteswissenschaftlichen Tradition zugunsten einer streng empirischen Wende" erst Anfang der 1960er Jahre. 258 ) In der Geschichtswissenschaft begann der Aufstieg der Sozialgeschichte zwar etwas früher, doch dauerte es hier auch länger, bis sie sich gegenüber der traditionellen geistesgeschichtlich verstandenen Historik durchgesetzt hatte. 259 ) Diese Wertorientierung, ja Wertverpflichtung teilten jene Soziologen, Pädagogen, Historiker usw. in ihrem geisteswissenschaftlichen Selbstverständnis bis Ende der 1950er Jahre mit der Mehrzahl der Autoren der Diskussion im Literarisch-Politischen Feld sowie mit weiten Teilen des Publikums der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit. 260 ) Damit erhöhte die ausdrücklich nichtfachspezifische, sondern „allgemeine" d.h. universale kulturphilosophische Perspektive ihrer Arbeiten („eine Kultursoziologie, die eingebettet ist in die Anschauung und den Stoff der Universalgeschichte") deren Orientierungs-

256

) Stammer: Politische Soziologie, S.277. ) Stammer und Weingart: Politische Soziologie, S. 19. 258 ) Ple: Wissenschaft, S. 265. 259 ) Etzemüller. Sozialgeschichte, passim; Chun: Bild, passim. 26 °) Meurer: Zeitvertreib, S.211/12, S.222/23. Zur Werte-Suche und Werte-Verbundenheit des Publikums, v.a. unter dem Stichwort des „Humanismus", vgl. von der Brelie: Katholische Zeitschriften, S. 170-80; Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften, S. 199-208, S.21528, sowie die weiter unten beschriebenen zeitgenössischen Versuche zur Etablierung einer erneuerten Werteordnung. 257

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1. Die Schauplätze des Geschehens

leistung, indem sie potentiell jedem (gebildeten) Leser 261 ) eine „Ortsbestimmung der Gegenwart" ermöglichte. Das gilt auch und gerade für die Hauptwerke dieser Autoren, nicht nur für ihre Gelegenheitsschriften. Alfred Weber verzichtete beispielsweise in seinem umfassenden Orientierungsversuch „Kulturgeschichte als Kultursoziologie" expressis verbis auf die „exakt soziologische Analyse". 262 ) Seine Leitfrage lautete: „Wo befinden wir uns eigentlich im Strom der Geschichte, nicht als einzelnes Volk, sondern als von diesem Strom fortgetragene Menschheit? Was vollzieht dieser Strom mit uns? (...) Wir haben das Bedürfnis, die unerhört verworrene gegenwärtige Situation zu klären, uns über ihre Bedeutung zu orientieren, indem wir das Treibende des Geschichtsstromes, seinen Lauf, seine Gestaltenbildung und seine Dynamik überblicken, in der Hoffnung, dadurch etwas von unserem eigenen Geschick zu erfassen." 263 )

Genau diese universale Perspektive übernahm Alexander Rüstow in einem Zitat Webers für sein großangelegtes Hauptwerk, weshalb diese Passage hier wörtlich wiedergegeben sei - sie verband eben zwei der wichtigsten Autoren der geisteswissenschaftlichen Soziologie miteinander. 264 Leopold von Wiese hatte bereits 1951 in einem parallel in der Universitas und im American Journal of Sociology erschienenen Aufsatz über die „Aufgaben der Soziologie in der Gegenwart" die Ausgangsfrage ,,alle[r] Nachdenkenden ... überall auf der Welt" formuliert: „Was hat es denn mit dem Menschen auf sich?, was will er, was kann er, was soll er? Dabei greift man ins Allgemeine ... man hat ein Verlangen, etwas von Humanum zu verstehen." 265 ) Wiese verwarf in seiner Antwort die „Realsoziologie" der Tests, Feldforschung und Statistik - das heißt eine Soziologie, die nichts als soziologische Erkenntnisse hervorbringen wollte - , weil deren „Übergeschäftigkeit... vom Wesentlichen in die seichten Zonen des Belanglosen" abzugleiten drohe, und warb für die „Rückführung der Einzelerscheinungen auf allgemeine Gesetze". 266 ) Wiese und seine Kollegen trieben Soziologie aus dieser Perspektive für „alle Nachdenkenden" und verbanden auf diese Weise ihre fachwissenschaftlichen

261

) Der vorgestellte Rezipient dieser Texte war offenbar stets männlichen Geschlechts und bürgerlicher Herkunft; nicht nur wegen der zur Lektüre notwendigen Bildung und freien Zeit („Muße"), sondern auch weil die Orientierungsangebote nur Akteuren, die sich in einer männlich-bürgerlichen Lebenslage befanden, ihren Wahrnehmungsweisen und Problemstellungen adäquat und damit sinnvoll erscheinen konnten. 262 ) Weber. Kulturgeschichte, S.7 (Vorwort zur ersten Auflage). 263 ) Weber: Kulturgeschichte, S. 17. 264 ) Rüstow: Ortsbestimmung, Bd.I S. 13/14. 265 ) Leopold von Wiese: Die Aufgaben der Soziologie in der Gegenwart, in: Universitas 6.1961, S. 1169-74, Zitat S.1171. In diesem Aufsatz grenzte sich von Wiese zwar von der „geschichtsphilosophischen Soziologie" deutlich ab, datierte diese aber ohnehin auf die Zeit „bis etwa 1900" und ließ für die Gegenwart nur zwei Forschungsrichtungen gelten: die kultursoziologische (ungenannt meinte das diejenige Alfred Webers) und die „beziehungssoziologische" - also seine eigene! 266 ) Ebd., S. 1174.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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Arbeitsergebnisse mit den Wissens- und Orientierungsbedürfnissen einer weiteren bildungsbürgerlichen Zuhörer- und Leserschaft. Auf diese Weise verband das geisteswissenschaftliche Selbstverständnis die Humanwissenschaftler durch den Bezug auf ein gemeinsames „Bildungswissen" 267 ) mit ihrem Publikum. Rüstow, Weber, Plessner, Gehlen und andere rekurrierten in ihren Vorträgen und Aufsätzen immer wieder auf den humanistischen Bildungskanon (Aristoteles, Goethe, Homer, Nietzsche, Wagner, Schopenhauer etc. 268 )), der während der gesamten 1950er Jahre gewissermaßen die Lingua franca der gesamten Literarisch-Politischen Öffentlichkeit darstellte. Denn die allgemeine Bekanntheit kanonisierter Bildungsgüter ermöglichte den Austausch individueller Erfahrungen und Anschauungen und deren Transzendierung in einer Sphäre universaler Gültigkeit. Auch sprachlich verband der gemeinsame Bildungshorizont daher soziologische Autoren mit den Lesern im Literarisch-Politischen Feld. Übereinstimmende stilistische Anforderungen 269 ) und das geringe Ausmaß sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bildeten einen zusätzlichen Riegel gegenüber der Entwicklung eigener Fachsprachen, sicherte damit also die Verständlichkeit der Texte für eine breitere Leserschaft. Zusammengenommen verknüpften diese Umstände die soziologische Fachdiskussion mit den weiteren Debatten im Intellektuellen Feld bis weit in die 1950er Jahre hinein. Diese Konstellation sollte von erheblicher Prägekraft für das gesamte Intellektuelle Feld sein. Vor allem verbürgte sie eine personelle Nähe zwischen der soziologischen Fachwissenschaft und der weiteren Literarisch-Politischen Öffentlichkeit, in der Soziologen als vielfach nachgefragte Autoren 2 7 0 ) und Referenten auftraten und auf diese Weise dem Orientierungsbedürfnis des Publikums entgegenkamen, was sich nicht zuletzt in den zahlreichen Aufsätzen niederschlug, die sie außerhalb enger Fachzirkel in den Kulturzeitschriften veröffentlichten. Die Verpflichtung auf außerwissenschaftliche, allgemeine moralische Kategorien bildete darüber hinaus eine der entscheidenden Rahmenbedingungen der Diskussionen über gesellschaftliche Ordnungsmodelle. Denn die zu dieser Zeit propagierten Entwürfe zeichneten sich konsequenterweise durch die ge-

267

) Vgl. die Beiträge in Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum, Teil 2. ) Man vergleiche etwa die Namensregister der einschlägigen Veröffentlichungen. Aber selbst in Fachkreisen diente der Bezug auf dieses Bildungswissen als Diskussionsgrundlage, vgl. etwa die Debattenbeiträge von Eduard Wesener und Adolf Grabowsky auf dem 11. Soziologentag (1952), S. 136 (auf einer Textseite fünf Nennungen Goethes und Schillers sowie ein Zitat E.M. Remarques). 269) vgl e twa Leopold von Wiese: Die Modetorheiten in den Sozialwissenschaften. Bemerkungen zu Prof. Pitrim Sorokins neustem Werk, in: Universitas 12.1957, S. 405-12. 270 ) Beispielsweise bemühten sich die Herausgeber wiederholt und nachdrücklich um Aufsätze von Dolf Sternberger oder Arnold Gehlen. DLA, D: Merkur, Briefe an Dolf Sternberger, Moras an Sternberger (16.8.1955), Moras an Sternberger (6.10.1955), Paeschke an Sternberger (2.8.1957); DLA, D: Merkur, Briefe an Arnold Gehlen Paeschke an Gehlen (23.1.1960). 268

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1. Die Schauplätze des Geschehens

forderte Wertgebundenheit aus. Das bedeutete zum einen, dass weniger die deskriptive und analytische Qualität eines Ordnungsmodells den obersten Maßstab für seine wohlwollende Aufnahme und erfolgreiche Verbreitung bildete, als vielmehr seine Wertgebundenheit. Und zum anderen bewirkte diese ideengeschichtliche Konstellation, dass in den vorherrschenden Ordnungsentwürfen die ethischen und moralischen Qualitäten gegenüber sozioökonomischen Merkmalen zur Bezeichnung von Individuen und Gruppen privilegiert wurden. Mit anderen Worten: Die geisteswissenschaftliche orientierte Soziologie bestimmte den Rahmen der Diskussion über Eliten-Konzepte dergestalt, dass Wertbindungen und Charaktermerkmale stets die Oberhand gegenüber politischer Macht, Reichtum, Ansehen oder der Bekleidung gesellschaftlicher Spitzenpositionen gewannen. Oder andersherum: Solange die Mehrzahl der Soziologen sich als Geisteswissenschaftler verstand, war die Wahrscheinlichkeit außerordentlich hoch, dass sie Modelle einer Wert- und Charakter-Elite propagierten. Mit der vorwiegend geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der Soziologie dieser Zeit hing auch zusammen, dass ihre Vertreter zumeist bestrebt waren, das Dasein der Menschen und das Schicksal des menschlichen Individuums (häufig in universalgeschichtlicher Perspektive) aus seinen „Bedingtheiten in der Daseinsstruktur" zu ergründen. So sah beispielsweise Alfred Weber „Wesen und Aufgaben der Soziologie" in der „Analyse des menschlichen Geschicks in diesem Daseinsgesamt" des „In- und Miteinander menschlicher Existenzen und Objektivationen". 271 ) In dieser philosophisch-anthropologischen und vor allem auf das einzelne Individuum fokussierten „ganzheitlichen" Perspektive lag es nahe, jegliche Zerlegung des Handlungsrahmens eines oder mehrerer Akteure in unterschiedliche Funktionen und Rollen als Auflösung der Integrität und Identität und damit als Gefahr der Zerstörung des Subjekts zu begreifen. 272 ) Die Folge war, dass sich die auf diesen Vorannahmen beruhenden Eliten-Konzepte ebenfalls durch einen ausgesprochen „ganzheitlichen" Zug auszeichneten. Zweierlei ist damit gemeint: Zum einen durften bei den Elite-Individuen persönliche Haltung und elitäre Rolle nicht auseinander treten, ohne die Wertgebundenheit des Elite-Handelns zu gefährden: „Funktionelle Seite und personelle Seite ... müssen ... sich bei der Elite decken", erklärte der Soziologe und Wirtschaftsgeograph Adolf Grabowsky auf dem Soziologentag 1952.273) Zum anderen sollte die Aufspaltung der bestehenden Elite oder deren Neubildung, in unterschiedlich funktional ausdif-

271

) Weber. Einführung, S. 12. ) „Für eine Soziologie, die bei komplizierten Konstellationen in der bisher weitgehend üblichen Art kasuistisch und funktionalistisch vorgeht, besteht die Gefahr, dass nicht nur die menschliche Spontaneität zu kurz kommt, sondern dass hierbei auch der Mensch als Ganzes als soziologischer Tatbestand nicht mehr gesehen wird." Weber: Einführung, S.35 (Hervorhebung im Original). 273 ) Verhandlungen des 11. Soziologentags, S. 138. 272

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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ferenzierte Teileliten verhindert werden. Die Bedeutung der Dominanz einer geisteswissenschaftlich ausgerichteten Soziologie für die Diskussion über Ordnungsentwürfe der Gesellschaft ging aber noch weiter. Denn ähnlich der oben beschriebenen Wirkung des Geflechts von Gemeinplätzen begrenzte der kategorische Rahmen der kulturphilosophisch verstandenen Humanwissenschaften die Möglichkeiten, Machtbeziehungen und soziale Konflikte anders als mit negativer Konnotation versehen in die Entwürfe zu integrieren. Im Vordergrund ihrer Modelle und ihres Begriffsapparates standen durch „geistig-seelische" Kräfte bestimmte Sozialbeziehungen, 274 ) die durch ihre machtbestimmte Überformung und das dadurch ausgelöste Freisetzen von ihnen innewohnenden Konfliktpotenzialen der Gefahr der Desintegration und Destruktion ausgesetzt waren. Die Wahrnehmung des Kalten Krieges als ein Wertekonflikt und der endemische Antikommunismus der frühen 1950er Jahre verstärkten (auch) bei Fachsoziologen diese Furcht vor sozialen Konflikten und Desintegrationsprozessen. 2 7 5 ) Aus diesem Grund bot sich nicht nur das Propagieren sozialharmonischer Formen für die Ausübung der auch in der Gegenwart notwendigen Herrschaftsfunktionen an. Den Desintegrationsprozessen mussten Möglichkeiten des Gegensteuerns entgegengesetzt werden, und wertgebundene Eliten konnten durch Vorbildhaftigkeit und Führung die dazu erforderlichen Integrationskräfte freisetzen. Die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Soziologie für die hier untersuchten Diskussionen darf jedoch nicht deterministisch verstanden werden. Sie trug lediglich zur Begrenzung des Diskussionsrahmens bei, trennte mögliche, im Denkhorizont der Akteure sinnvoll verwendbare Argumente von unmöglichen, sinnlosen. Offenkundig beeinflusste jedoch das vorherrschende Selbstverständnis der die Diskussion bestimmenden Vertreter der humanwissenschaftlichen Disziplinen die Auseinandersetzungen um die symbolische Ordnung der Gesellschaft und damit die Durchsetzung der Elite-Doxa vor allem in den frühen 1950er Jahren, indem ihre disziplinbedingten Vorannahmen die Ausbreitung bestimmter, weiter unten im Einzelnen zu unterscheidenden Elemente des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite förderten. V. Fünftens schließlich muss die Tatsache in Rechnung gestellt werden, dass während der gesamten 1950er Jahre die Auseinandersetzungen im Intellektuellen Feld von konservativen Denkweisen bestimmt wurden. Damit sind nicht allein offen rückwärtsgewandte, wenn auch zeitweilig - aufgrund ihrer Verbindungen zu Politik und Kirchen - einflussreiche Bewegungen wie die „Abend-

274

) Dies zeigt bereits ein flüchtiger Vergleich der Inhaltsverzeichnisse der soziologischen Einführungs- und Grundlagentexte der frühen 1950er Jahre, etwa von Alfred Weber oder Max Graf Solms, mit denjenigen aus der zweiten Hälfte der Dekade, etwa von Rene König herausgegebene Sammelbände; die entsprechenden Werke aus der Mitte der 1950er Jahre (Bernsdorf, Gehlen und Schelsky, Ziegenfuß) markieren ziemlich genau den Übergang. 275) v g l e ( W a jig b e j Weyer zitierten Äußerungen Wieses, des Vorsitzenden der DGS. Weyer: Soziologie, S.46, S.58.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

ländische Aktion" gemeint, die noch vor Ende des Jahrzehnts ins verdiente Vergessen entschwanden. 276 ) Auch ging dieser Konservatismus nicht allein in „düstere(r) Endzeitstimmung, traditionelle(m) Antimodernismus, Technikpessimismus und schrullige(m) Antiurbanismus und (dem) larmoyante(n) Beklagen der Massenherrschaft" auf, 277 ) auch wenn alle diese Topoi selbstverständlich in den Debatten zirkulierten und bis Mitte der 1950er Jahre tatsächlich wichtige Strömungen innerhalb des westdeutschen Konservatismus darstellten. Man wird ihnen nämlich die großen politisch-ideellen Anpassungsleistungen gegenüberstellen müssen, zu denen der westdeutsche intellektuelle Konservatismus sich nach 1945 herausgefordert sah und die er im Wesentlichen auch erbrachte: Zu nennen sind hier nur der Abschied vom obrigkeitsstaatlich verfassten und außenpolitisch expansiven Reich sowie vom FührerIdeal (und den letzten Resten monarchisch-aristokratischer Traditionen) als wesentliche politische Bezugspunkte, das Arrangement mit der parlamentarischen Demokratie, das auf die Erhaltung der eigenen soziokulturellen Prägekraft gerichtet war (und das deshalb nicht als „Demokratisierung" missverstanden werden sollte), sowie als neue „positive" Orientierungen die Entdeckung „Europas" und des „freien Westens" sowie des marktwirtschaftlich verfassten Industriekapitalismus durch das Verschmelzen mit dem politischökonomischen Liberalismus. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass in diesen ideengeschichtlichen Konjunkturen die Debatten über die Existenz einer oder mehrerer Elite(n) auch nicht verstummten, wie von Schildt angenommen, sondern sich wandelten ihre weitgehend ungebrochene Kontinuität bis in unsere Gegenwart oder zumindest ihr Wiederauftauchen im Zeichen der „geistig-moralischen Wende" um 1980 wäre sonst auch schwer erklärlich. 278 ) Unangefochten waren jene Topoi jedoch auch zu ihrer Blütephase nicht; 279 ) die Frage nach den Ausformungen und vor allem nach den Konjunkturen der zahlreichen unterschiedlichen konservativen Strömungen ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht zu entscheiden. Drei Momente des Nachkriegskonservatismus erscheinen meines Erachtens für die Beurteilung seines Einflusses auf die zeitgenössischen symbolischen Kämpfe und für die sich in ihnen vollziehende Durchsetzung der Elite-Doxa von besonderer Relevanz: Erstens herrschte bis weit in die 1950er Jahre in den konservativen Zeitdiagnosen eine Verlustperspektive vor, die weit über das 276

) Zur sog. „Abendland-Bewegung" vgl. Schildt: Abendland, S. 21-82; Plichta: Erneuerung, S.319-43. 277 ) Schildt: Konservatismus, S.236. 278 ) Ebd.; ders.: Abendland, S. 142. 279 ) Man bedenke etwa, dass eine der wichtigsten konservativen Publikationen nach dem Zweiten Weltkrieg, Hans Freyers „Weltgeschichte Europas", bereits 1948 erschien und auf Anhieb einen enormen Erfolg darstellte (die zweite Auflage folgte 1954), der seinen Urheber u. a. auf die Podien zweier Historikertage trug. Vgl. Schulze: Geschichtswissenschaft, S. 282-84, S. 292-98.

1.4 Intellektuelle Rahmenbedingungen

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„Normalmaß" der Orientierung an der Vergangenheit im konservativen Denkstil hinausging. Dies wird schon im Titel einer der einflussreichsten Gegenwartsdeutungen um 1950 augenfällig, nämlich Hans Sedlmayrs Buch „Verlust der Mitte". 280 ) Der Münchener Kunsthistoriker unternahm darin den Versuch, die Bildende Kunst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als „Symptom und Symbol der Zeit" zu deuten. Sedlmayr diagnostizierte dabei eine „Hypertrophie der niederen Geistesformen im Menschen auf Kosten der höheren" und versammelte in seinen „Beobachtungen höherer Art" auf kleinstem Raum ein Maximum an konservativen Verlust-Topoi: „4. Loslösung vom Boden; 5. Zug zum Unteren; 6. Herabsetzung des Menschen; 7. Aufhebung des Unterschieds von ,Oben' und ,Unten'". 281 ) Auch in dem oben erwähnten Sammelband „Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen" wird die Verlustperspektive deutlich, etwa in Wolfgang von Einsiedels Aufsatz „Land ohne Mitte" oder in den Beiträgen von Bruno Snell, Albert Mirgeler und Michael Freund über die Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, die den Niedergang der Deutungskraft historischer Perspektiven beklagten („die Deutschen haben ... den historischen Boden unter den Füßen verloren"). 282 ) Erst durch das Ausmaß der Auflösung traditioneller politisch-ideeller Bezugspunkte und durch die daraus resultierende Orientierungskrise wurde ja der Ehrgeiz der Intellektuellen entfacht, sich von überkommenen Ordnungsvorstellungen zu lösen und nach neuen Ideen zu suchen, von denen eine das Konzept der Wert- und CharakterElite war. Zweitens begegneten die meisten konservativen Intellektuellen etwa bis zu Adenauers zweitem Wahlsieg 1953 der parlamentarischen Demokratie mit deutlicher Skepsis, die sich erst im Verlauf der sich herauskristallisierenden bürgerlichen Hegemonie in Politik und Gesellschaft aufzulösen begann. 283 ) Drittens schließlich zeichneten sich die Zeitdiagnosen des Nachkriegskonservatismus in ihrer Mehrzahl tatsächlich durch einen außerordentlichen Mangel an intellektuellem Tiefgang aus. Realitätstüchtigkeit und Universalität sowie Konsistenz der Argumentation scheinen als Kategorien des Austauschs zwischen professionellen Kulturproduzenten zumindest vorübergehend weitgehend dispensiert gewesen zu sein. Die sogenannte „Zeitschriftenschwemme" erlaubte einer außergewöhnlich großen Anzahl von Autoren, ihre Texte in einer der zahlreichen, um diese Autoren konkurrierenden Zeitschriften zu veröffentlichen. Dieser Wettbewerb ging zwangsläufig zu Lasten der Quali-

28

°) Sedlmayr: Verlust. Die erste Auflage erschien 1948; bis 1965 folgten sieben weitere Auflagen, einschließlich der Taschenbuchausgabe erreichte das Buch bis dahin eine Gesamtauflage von 180000 Exemplaren. 281 ) Sedlmayr: Verlust, S. 161, S. 143. 282 ) Snell: Altertumswissenschaft; Mirgeler: Geschichte; Freund: Geschichte (u.a. ein Plädoyer gegen die zeithistorische Untersuchung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus), Zitat S.319. 283) vgl. Berghahn: Recasting Bourgeois Germany.

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1. Die Schauplätze des Geschehens

tätsmaßstäbe. Daher dauerte es bis in die 1950er Jahre hinein, bis die stark reduzierte Anzahl an Zeitschriften eine Reetablierung des Qualitätsstandards ermöglichte, weil die Marktkräfte jetzt die Zeitschriften begünstigten und nun die Herausgeber die Kontrolle über den Zugang zum publizistischen Markt zurück gewannen. Erst unter diesen Umständen konnten sich die Entwürfe der konservativen Avantgarde, die diesen Standards weitaus eher gerecht zu werden versuchten, gegen ihre Konkurrenten im Laufe der 1950er Jahre durchsetzen. Denn die verschärfte Konkurrenz unter den Autoren zwang erst jetzt zu verstärkten intellektuellen Anstrengungen, und die einstige Avantgarde unter den konservativen Intellektuellen (wie Arnold Gehlen, Helmut Schelsky oder Ernst Forsthoff) erlangten nun sogar eine dominierende Position: Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass sich ihre Konzepte sogar über die Grenzen des Intellektuellen Feldes hinaus durchgesetzt hatten („Nivellierte Mittelstandsgesellschaft", „Technisches Zeitalter", „Sekundäre Systeme"). Gleichzeitig wirkten diese Momente strukturprägend weit über das konservative Milieu im Intellektuellen Feld hinaus, denn auch Liberale wie Alexander Rüstow oder Wilhelm Röpke teilten nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit die Skepsis gegenüber der „unbeschränkten Massendemokratie" dies zeigt sich etwa in der positiven Rezeption des weiter unten eingehend zu erörternden Werkes von Gaetano Mosca. So fand das Verschmelzen von Konservatismus und Liberalismus, das für die politische Geschichte der Bundesrepublik strukturprägend geworden ist, in ideengeschichtlicher Perspektive unter konservativen Vorzeichen statt. Und aufgrund der deutschen Teilung verbreitete sich die Verlustperspektive von Konservativen über Liberale bis hin zu sozialistisch eingestellten Intellektuellen. Eine konservative Betrachtungsweise wurde also von der Mehrzahl der westdeutschen Intellektuellen geteilt - weit über den engeren Kreis der Konservativen strikter Observanz hinaus.284) Und konkurrierende politisch-ideelle Strömungen waren durch Verfolgung und Emigration stark geschwächt. Auf dieser Konstellation beruhte die konservative Hegemonie im Literarisch-Politischen Feld bis zur Mitte der 1950er Jahre. Die ideologische Überhöhung des Kalten Krieges, die Dominanz sozialharmonischer Gemeinplätze im Reden über die Gesellschaft, die große Bedeutung der (evangelischen) Kirchen für die Auseinandersetzungen im Intellektuellen Feld, die überwiegend geisteswissenschaftliche Ausrichtung der Sozialwissenschaften sowie schließlich die konservative Hegemonie im Literarisch-Politischen Feld: Diese Momente steckten den Rahmen der möglichen Argumente und politisch-ideellen Positionen - die „Grenzen des Sagbaren" in der Suche nach neuen Sozialmodellen während der ausgehenden 1940er und beginnenden 50er Jahre ab.

284

) Schilds: Moderne Zeiten, S.330/31.

2. Orientierung durch Differenzbestimmung: Die Einteilung der sozialen Welt in Elite und Nicht-Elite (Masse) Die vornehmste Funktion einer politisch-gesellschaftlichen Idee besteht in ihrer Orientierungsleistung. Eine solche Orientierungshilfe ist zumindest in komplexeren Gesellschaften notwendig, in denen es dem Einzelnen unmöglich ist, den verschlungenen Prozessen politischer Herrschaft oder der Arbeitswelt aus unmittelbarer Anschauung und aus eigenem Verständnis zu folgen. Der Anthropologe, Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen drückte diesen Sachverhalt mit folgenden Worten aus: „Unsere eigenen gesellschaftlichen Zustände (sind) uns selbst nicht ohne weiteres durchsichtig, zum mindesten nicht selbstverständlich. Es liegt dies einmal an der Kompliziertheit des Aufbaus solcher Gesellschaften, eines Aufbaus, der sich selbst in Wandlungen befindet, und an der Vielheit der Tendenzen, die sich kreuzen oder verstärken". 1 ) In dieser Perspektive lässt sich die Durchsetzung der Elite-Doxa zuallererst auf ihre erfolgreiche Orientierungsleistung zurückführen. Aus diesem Grund werden im Folgenden zunächst die besonderen Orientierungsbedürfnisse der Nachkriegszeit dargestellt, das heißt die „Hochkonjunktur" der Nachfrage nach neuen Ordnungsideen, und deren allmählicher Rückgang im Verlauf der 1950er Jahre. Daran anschließend erfordert das Verständnis der erfolgreichen Orientierungsleistung von Elite-Konzepten eine Strukturanalyse der MassenDoxa: Der Glaube an die Existenz oder zumindest an die Notwendigkeit einer Elite lässt sich nur erklären vor dem Hintergrund der besonderen Problemlagen und Phantasmagorien, die sich in der Vorstellung verdichteten, im „Zeitalter der Massen" zu leben. In einem dritten Schritt müssen die intellektuellen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre - die Zeit, als zum ersten Mal in nennenswertem Umfang Texte zum Eliten-Thema in deutscher Sprache erschienen - skizziert werden. Erst das Zusammenwirken zahlreicher Einzelfaktoren, die zusammen jene Rahmenbedingungen bildeten, ermöglichte die Durchsetzung der Elite-Doxa in der Bundesrepublik. Nachdem auf diese Weise die Konstellation politisch-ideeller Kräfte rekonstruiert worden ist, können die einzelnen Elemente der ältesten in der Bundesrepublik diskutierten Elite-Konzepte hinsichtlich ihrer Orientierungsleistung im Einzelnen untersucht werden. Die ideengeschichtliche Analyse des Redens über die Wertbindungen und Charakterqualitäten der Elite stehen daher im Mittelpunkt dieses Kapitels.

') Gehlen: Situation, S. 127.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik In der Massen-Doxa konvergierten und kulminierten die wichtigsten orientierenden Sozialmodelle der Zeitkritik und der Sozialwissenschaften während der ausgehenden 1940er und frühen 50er Jahre. Und die Durchsetzung der Elite-Doxa, die schnell ihre eigenen Orientierungskraft entfaltete, ist ohne die Kenntnis der Massen-Doxa schwerlich zu verstehen; entstand doch die Vorstellung von der Notwendigkeit (und schließlich auch von der Existenz) einer Elite als Antwort auf die Probleme, die das „Massenzeitalter" hervorgebracht zu haben schien. Die Massen-Doxa als Ausgangspunkt der Beschreibung, Charakterisierung und Kritik der Gegenwart zu wählen, bedeutete zunächst einmal, einige gravierende Vorentscheidungen darüber zu treffen, welche Phänomene, Kräfte und Entwicklungsrichtungen für die „gegenwärtigen Kulturverhältnisse" (wie es oft hieß) denn in erster Linie formprägend seien. Mit anderen Worten: Mit den Begriffen „Masse" und „Vermassung" wurde - wie bei allen derartigen Ordnungskonzepten - der Diskussion über Kultur und Gesellschaft ein kategoriales Raster der Wahrnehmung und Deutung vorgegeben, das nur bestimmte Phänomene und Argumente den Raum der Debatte erreichen ließ, während andere Darlegungen und Topoi diesen Filter nicht passieren konnten und deshalb von der Debatte ausgeschlossen blieben. Vor allem privilegierte die Massen-Doxa die Wahrnehmung individual- und sozialpsychologischer sowie soziokultureller Phänomene gegenüber sozialökonomischen Beziehungen und Problemen. Eine Verschiebung des Wahrnehmungs- und Deutungsrasters, wie sie im Laufe der 1950er Jahre mit dem Verschwinden der Massen-Doxa eintrat, bewirkte daher auch, dass nun über andere Gegenstände diskutiert werden konnte und wurde, während vordem im Zentrum der Debatte stehende Erörterungen in den Hintergrund traten oder völlig verschwanden. Dies war kein plötzlich eintretender Umschlag, durch den die gesamte Diskussion schlagartig und quasi über Nacht umgedreht wurde, sondern ein gleitender Wandel, der sich über eine ganze Reihe von Jahren erstreckte und in dem sukzessive einzelne Argumente und Topoi fallen gelassen und durch neue ausgetauscht wurden. Die sozialen Verwerfungen des Krieges und der fragmentierten Zusammenbruchsgesellschaft wurden ganz allgemein als Nivellierung wahrgenommen, mit anderen Worten: Die Zeitgenossen waren sich nach 1945 einig, in einer weitaus egalitäreren Gesellschaft zu leben als vor 1933 oder 1939. Allerdings schien den Beobachtern bis in die 1950er Jahre die Gestalt der westdeutschen Gesellschaft noch derartig fließend zu sein, dass sich ein empirisch erhärtetes Modell zu ihrer Beschreibung und Untersuchung noch nicht herauskristallisieren und effektiv durchsetzten ließ. Zu unscharf, diffus und widersprüchlich erschienen den Beobachtern die Konturen der einzelnen sozialen Gruppen und der sie formenden Kräfte. In einem jedoch war sich die Mehrheit der Intellektuellen einig: nämlich darin, im Zeitalter der Massen und der Vermas-

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

135

sung zu leben. Was darunter genau zu verstehen sei, blieb weithin unklar, und in mancherlei Hinsicht widersprachen sich die Protagonisten der Diskussion. Im Horizont der Massen-Doxa müssen hier zwei Wirkungsebenen unterschieden werden, die kollektive und die individuelle. Kollektiv, so lassen sich die Autoren der Kulturkritik zusammen fassen, ist das Phänomen der „Masse" durch eine Überzahl von Menschen an einem Ort, durch ein Überhandnehmen affektuellen Verhaltens zu Ungunsten ihres rationalen Handelns und durch Nivellierung und Werteverfall charakterisiert. „Die Fähigkeit zum kritischen Vernunfturteil geht damit verloren und es findet eine Rückkehr zu einem primitiveren Stadium der geistigen Entwicklung statt." 2 ) Auf der individuellen Ebene bedeuten Masse und Vermassung die Atomisierung des Individuums in der „Vereinsamung" und gleichzeitig den Verlust seiner Individualität durch einen zunehmenden Konformismus, eine „Uniformierung" des Lebens. „,Masse' bedeutet das Absinken einer Gemeinschaft in einen Zustand, der gekennzeichnet ist durch den Verlust des Selbstseins, durch die Abdankung der Person, die Angleichung, die Uniformierung und den Konformismus, ,Masse' ist individualitätslos und individualitätsfeindlich." 3 ) Auf beiden Wirkungsebenen unterstellt die Massen-Doxa also einen Verlust an Menschlichkeit, eine Enthumanisierung, die die Menschen tendenziell in Herrschaftsordnungen führt, welche nach 1945 allgemein als „totalitär" bezeichnet wurden. In der zeitkritischen Praxis finden sich diese beiden analytisch voneinander zu unterscheidenden Wirkungsebenen freilich nicht säuberlich getrennt, sondern sie flössen zumeist ineinander. 4 ) Es ist verhältnismäßig einfach, den Massen-Code in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen: Die sozialen Gegenstände, die mit ihm beschrieben wurden, die Ursachen, auf die diese Phänomene zurückgeführt wurden, die sozialen und kulturellen Folgen, die ihm zugeschrieben wurden, und schließlich seine Bedeutung für die Legitimität des politischen Systems und der Sozialverfassung einer Gesellschaft stehen dabei im Vordergrund. Die beiden letzten Punkte werden im Zusammenhang mit einem der einflussreichsten Texte zur Massen-Problematik, Jose Ortega y Gassets Buch „Der Aufstand der 2

) De Man: Vermassung und Kulturverfall, S.51. ) Werner Kägi: Falsche und wahre Gleichheit im Staat der Gegenwart, in: Universitas 8.1953, S. 7-3542, Zitat S.739 (Hervorhebungen im Original). 4 ) Ζ. B. bei Serge Maiwald: „Bei der Vermassung handelt es sich indessen um die Entstehung und Existenz einer Kollektivpsyche, die unmittelbar, also ohne Umweg über das individuelle Bewusstsein, das heißt die cerebralen Funktionen des Einzelnen, das psychische Verhalten derselben in Form kollektiver Dispositionen bestimmt und beherrscht. (...) In der bürgerlichen Gesellschaft gibt es noch eine echt persönliche innere Sphäre (Religion, innerer Vorbehalt). Die Vermassung indessen ergreift in wachsendem Umfang auch diese psychische Seite, indem sie den Einzelnen allmählich zu einer Funktion der Kollektivpsyche umwandelt. Die Bewusstseinsvorgänge werden hier unmittelbar über die Einzelpsyche von der Kollektivpsyche her bestimmt. Es gibt hier im Prinzip, im Rahmen dieses Systems, keinen spezifisch persönlichen freiheitlichen Raum mehr." Maiwald: Vergesellschaftung und Vermassung, S. 942. 3

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Massen", diskutiert. Beginnen wir daher mit der Ebene der sozialwissenschaftlich und publizistisch beobachteten Sozialphänomene. Als Zeitdiagnose unterstellte es zuallererst einen Zustand fortgeschrittener sozialer Desintegration und individueller Bindungslosigkeit großer, öffentlich sichtbarer und agierender Menschenmengen, hervorgerufen durch die Auflösung überkommener Ordnungen und mündend in ein Übermaß an sozialer Egalität. Diese Egalität glaubten die Propagandisten der verschiedenen Massen-Konzepte nach 1945 vor allem im Zugang zu den Institutionen der höheren Bildung, in der Einkommens- und Vermögensverteilung, im Konsumverhalten und nicht zuletzt in der Verteilung politischer Macht beobachten zu können. Eine egalitäre Sozialstruktur - in den Worten der Zeit: die Nivellierung - bedrohte aber die Privilegien der Oberklassen und wurde weit über das Literarisch-Politische Feld und die Evangelischen Akademien dementsprechend als Gefahr wahrgenommen. „Der extreme Egalitarismus - die Inflation der Gleichheit - , der kein Oben und kein Unten mehr anerkennt, ist allerdings ein Ausdruck der Vermassung. Er ist nicht der Boden für die Demokratie, sondern für die Autokratie, für die Tyrannis."5) Der Gegenentwurf, wie er in den verschiedenen Elite-Konzepten der 1950er Jahre und darüber hinaus formuliert wurde, integrierte diese Annahmen sogar zu weiten Teilen, indem er auf der strengen Dichotomie zwischen den beiden alleinig existierenden Sozialgruppen beruhte: zwischen der Minorität und der Majorität, das heißt zwischen der Elite und der Masse. Bereits hier wird deutlich, dass die Vorstellung, im Zeitalter der Massen zu leben, für Intellektuelle eine Anforderung und einen Ansporn darstellte, dieser als zutiefst unrechtmäßig angesehenen Sozialverfassung ein legitimes Ordnungsmodell entgegenzustellen. Je nach ihrem politisch-ideellen Standort entwickelten die beteiligten Intellektuellen dabei unterschiedliche Vorstellungen über die Ursachen des Entstehens der Massengesellschaft. Autoren, die zumindest zeitweilig dem Marxismus nahe gestanden hatten, wie Geiger und Michels, sahen die kapitalistische Produktionsweise als Movens an; eine Einschätzung, die anscheinend auch Vertreter der Konservativen Revolution teilten.6) Doch die Mehrzahl der durch ihre Herkunft und ihre Berufe tief im Bürgertum verwurzelten Intellektuellen der Jahre nach 1945 war nicht bereit, die Wirtschaftsordnung als solche - weder die vor 1933 noch diejenige danach und auch nicht die der Gegenwart - für diese Entwicklung verantwortlich zu machen und damit in Frage zu stellen. Bezeichnend dafür sind die Autoren des von Albert Hunold herausgegebenen Sammelbandes „Masse und Demokratie", die der radikal wirtschaftsliberalen Moni Pelerin Society angehörten (neben Hunold Louis Baudin, F. August von Hayek, Hans Kohn, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow,

5

) Kägv. Das Massenproblem, S.97. ) Breuer. Anatomie, S. 64-69.

6

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

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Helmut Schoeck) oder ihr zumindest nahe standen. 7 ) Sie artikulierten noch 1957 eine geradezu hysterische Massenphobie - zu einem Zeitpunkt, als die Massen-Doxa im westdeutschen Literarisch-Politischen Feld bereits spürbar an Boden verloren hatte - und verwendeten zwar viel intellektuelle Energie darauf, die politischen Folgen der „Vermassung" zu beschreiben und auszudeuten, doch gingen sie den Ursachen der Massengesellschaft und der Vermassung überhaupt nicht nach. Das bedeutet übrigens nicht, dass das radikal dichotome Gesellschaftsbild, welches diese Autoren mithilfe des MassenCodes ausdrückten, ohne weitere politisch-ideelle Folgen geblieben wäre: Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen, die Röpke und andere aus diesem Gesellschaftsbild zogen, bestanden in der Vorstellung einer ebenso dichotom und unausweichlich gestellten „Wahl zwischen freier Marktwirtschaft und kollektivistischer Befehlswirtschaft russischen Typs". Zwischen diesen beiden radikalen Alternativen war für Röpke kein Mittelweg denkbar: „Ein .Mischsystem', das den Markt behält, aber solchen Eingriffen unterordnet, muss einer .vollkollektivistischen' Diktatur durch die Verwirrung der Antriebe unterlegen sein: wenn es nicht selbst in der Diktatur endet, so versagt es und gefährdet dadurch die westliche Welt" - so verstand und kommentierte Richard Löwenthal das wirtschaftspolitische Gutachten, das Röpke im Juli 1950 im Auftrag der Bundesregierung verfasst hatte. 8 ) (Löwenthal sprach nicht ganz unberechtigt von den „mythischen Grundzügen seiner [Röpkes] Betrachtungsweise".) Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass sich Röpke in dieser Argumentation ausgerechnet auf Gaetano Mosca berief, was bereits auf die noch eingehender zu untersuchende intellektuelle Beziehung zwischen den Protagonisten des Ordo-Liberalismus und dem italienischen Antidemokraten mit zeitweiliger Nähe zum italienischen Faschismus verweist. 9 ) Die Massen-Doxa, die auch für Mosca den Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen und poli-

7

) Der Sammelband vereinigte die Referate einer Vortragsreihe, die das Schweizerische Institut für Auslandsforschung - dessen volkswirtschaftliche Abteilung Hunold leitete und von der aus er die europäischen Aktivitäten der Mont Pelerin Society koordinierte - veranstaltet hatte, und die ausdrücklich als Gegenveranstaltung der Mailänder Tagung des Kongresses für Kulturelle Freiheit vom September 1955 gedacht war. Der CCF stand bei den Marktradikalen wie Hunold und Hayek in dem dringenden Verdacht der „Verwischung und Aufweichung der Fronten" im Kalten Krieg: „Es war daher verständlich, das Friedrich Hayek in seinem Schlusswort in Mailand erklärte, man habe hier nicht von der Zukunft der Freiheit gesprochen, sondern einen Nachruf auf sie gehalten." Vgl. Roth: Klienten des Leviathan, S.31; Hunold: Geleitwort, in: ders. (Hg.): Masse und Demokratie, S.8/9. 8 ) Richard Löwenthal: Der Mythos des XIX. Jahrhunderts. Bemerkungen aus Anlass des Röpke-Gutachtens zur deutschen Wirtschaftspolitik, in: FH 5.1950, S. 1278-99, Zitate S. 1278/79. Bundeskanzler Adenauer sah übrigens „die Richtigkeit der von der Bundesregierung eingeschlagenen Wirtschaftspolitik ... eindeutig bestätigt". Röpke: Gegen die Brandung, S. 192 (dort auch Auszüge des Gutachtens, das sich im Wesentlichen mit der Währungsreform und den danach eingeschlagenen ordnungspolitischen Maßnahmen beschäftigte). 9 ) Röpke: Civitas Humana, S.89.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

tischen Arbeit darstellte, erfüllte ihre handlungsleitende Orientierungsfunktion also auch weit außerhalb des Intellektuellen Feldes. Alles in allem: Je näher die Autoren dem Ökonomischen Feld standen - und die Mitglieder der Mont Pelerin Society standen ihm näher als fast jedes andere hier in Rede stehende Kollektiv desto geringer war offenbar die Neigung, auch nur ökonomische Einzelaspekte in die Ursachenanalyse des Massen-Phänomens mit einzubeziehen, ja eine solche Analyse überhaupt zu beginnen. 10 ) Genau so wichtig wie der Hinweis auf dieses offenkundige Desinteresse der westdeutschen Intellektuellen an den historischen und soziologischen Wurzeln der „Vermassung", die ja einen der wichtigsten publizistischen Gegenstände der ausgehenden 1940er und frühen 50er Jahre darstellten, erscheint mir im Übrigen der Umstand, dass es gerade die Vagheit dieser Ursachenanalyse ermöglichte, die Massen-Doxa ohne größere Konflikte, ja geradezu unmerklich aufzulösen und durch eine Reihe neuerer, sich teilweise ergänzender Ordnungsvorstellungen zu ersetzen, deren bekannteste sich in den Schlagworten „Technisches Zeitalter" und „Nivellierte Mittelstandsgesellschaft" ausdrücken lassen. Intellektuelle, die in größerer Distanz zum ökonomischen Feld standen, zeigten bei der Ursachenanalyse weniger Scheu, auch wenn kein relevanter Akteur im Literarisch-Politischen Feld die kapitalistische Produktionsweise angriff. Vielmehr bestand ein sehr weitgehender Konsens über die Annahme, dass es die moderne Entwicklung und die industrielle Produktionsweise - in West und Ost! - seien, die die Menschen aus ihren alten sozialen Bindungen gerissen und auf diese Weise zur kollektiven und individuellen „Vermassung" geführt hätten. Auch diese Deutung verblieb in der Erforschung der Ursachen für das - wie ihre Anhänger meinten - drängendste soziokulturelle Problem der Zeit im Ungefähren: Über einige allgemeine Annahmen über die Auswirkungen der Arbeitsteilung und der Technisierung von Berufs- und Lebenswelt gingen ihre Texte nicht hinaus. Allerdings konnten die westdeutschen Intellektuellen neben den Büchern von Ortega und de Man auch auf eine Reihe amerikanischer Studien verweisen, die die westdeutschen Diskussionen in dieser Hinsicht außerordentlich stark beeinflussten. Vor allem drei Namen sind hier zu nennen: James Burnham, Peter F. Drucker und David Riesman. Dieser Wissenschaftsimport ist noch nicht eingehender untersucht worden, so dass hier eine Skizze genügen muss. 11 ) Burnham, dessen „Regime der Manager"

10 ) Dies gilt auch für Alfred Müller-Armack, den Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik sowie der Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium, etwa in seinem Vortrag: Regenerationskräfte der menschlichen Gesellschaft, in: L012, S.8-13. n ) Besonders enttäuschend ist hier Ple: Wissenschaft und säkulare Mission, der ja die Bedeutung der amerikanischen Sozialwissenschaft für den „geistigen Aufbau der Bundesrepublik" (Untertitel) untersucht, bei dem die hier genannten Autoren jedoch überhaupt nicht auftauchen. Verstreute Hinweise finden sich bei Hochgeschwender: Freiheit, und Nolte: Ordnung.

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

139

zwar ausdrücklich und unübersehbar mit einem (nichtmarxistischen) Klassenmodell arbeitete, verwendete jedoch an den entscheidenden Textstellen den Massen-Begriff. 12 ) Für die erfolgreiche deutsche Rezeption nicht weniger ausschlaggebend war vermutlich die durchgehende Verlustperspektive, die die Grundthese des Buches bestimmte, dass nämlich die von der modernen Industriewirtschaft und der Bürokratisierung wirtschaftlicher und politischer Abläufe hervorgebrachte Gruppe der Manager das Ende der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft herbeiführe bzw. in eine „Managergesellschaft" verwandle. In dieser Hinsicht sah Burnham auch keinen Unterschied zwischen Stalinismus, Hitlerdiktatur und New Deal! Derlei Äquidistanzmodelle (vom Standpunkt einer wünschenswerten Ordnung aus gesehen) und jene Verlustperspektive konvergierten geradezu punktgenau mit der in der frühen Bundesrepublik vorherrschenden intellektuellen Dominanz eines traditionellen Konservatismus. 13 ) Tatsächlich waren Burnhams Ideen im Intellektuellen Feld Westdeutschlands zu dieser Zeit außerordentlich präsent; dazu trugen neben der Übersetzung von „The Managerial Revolution" 1948 ins Deutsche und seines Nachfolgers „Die Machiavellisten" nur ein Jahr später mehrere Beiträge aus seiner Feder vor allem im Monat sowie zahlreiche positive Rezensionen bei. 14 ) Drucker und Riesman arbeiteten nicht so ausdrücklich mit Klassenmodellen wie der frühere Trotzkist Burnham, und sie unterschieden sich auch von diesem in ihren Fragestellungen. Dennoch blieben auch bei ihnen die Einflüsse marxistischer Ansätze nicht verborgen. 1 5 ) Und wie Burnham sahen sie kapitalistische und kommunistische Industriegesellschaften auf dem Weg zur „Einsamen Masse". Während Drucker allerdings bereits Anfang der 1950er Jahre mit Übersetzungen eigener Texte auf dem publizistischen Markt in der Bundesrepublik präsent war, 16 ) blieb David Riesmans „The lonely Crowd" von seinem Erscheinen im August 1950 bis 1956 nur im Original verfügbar. Eine erste Ausgabe bei Luchterhand erhielt sehr freundliche Besprechungen. 17 ) Zwei Jahre später erschien das Buch in der auflagenstarken Reihe 12

) Burnham·. Manager, S.112 und v.a. S.302 („Bändigung der Massen"). ) Vgl. etwa die Rezension von Helmut Schelsky: Berechtigung und Anmaßung in der Managerherrschaft, in: GMH 1.1950, S. 131^0. 14 ) James Burnham: Die kommende Niederlage des Kommunismus. Waffen des Kalten Krieges, in: Der Monat 1950 Nr. 20, S. 190-97; ders:. Die Rhetorik des Friedens, in: Der Monat 1950 Nr. 22/23, S. 448-55; ders.: Die Machiavellisten. Neben der genannten Rezension von Helmut Schelsky z.B. Herbert von Borch: Soziologie heute, in: Merkur 5.1951, S. 291-95, bes. S. 293/94. 15 ) Vgl. etwa die Rezension von Druckers „The New Industrial Society" (New York 1950) von Otto Forst de Battaglia: Gesellschaft unterm Seziermesser, in: FH 7.1952, S. 638-41; Riesman: Die einsame Masse, S. 122-25, S. 260/61. 16 ) Vgl. etwa: Peter F. Drucker: Die totale Revolution der Gesellschaft durch das Fließband, in: FH 5.1950, S. 262-76; ders.: Gesellschaft am Fließband. 17 ) Zum Beispiel durch den „wissenschaftlichen Schriftsteller" Lothar von Strauß und Torney, in: Universitas 12.1957, S. 307/08. 13

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

„rowohlts deutsche enzyklopädie". Vor allem Arnold Gehlen und Helmut Schelsky hatten Riesmans Arbeit schon vorher durch zahlreiche Verweise in ihren eigenen Schriften bekannt gemacht; 18 ) Schelsky schrieb eine Einführung für den ,,rde"-Band. 19 ) Die weitere Rezeption ist aufschlussreich für den politisch-ideellen Wandel im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik. In dessen literarisch-politischem Zentrum, in dem sich mittlerweile der Merkur etabliert hatte, wurde „Die einsame Masse" nun ironisch als populärwissenschaftliche „Soziologie für Konsumenten" zerpflückt, die den Ansprüchen einer inzwischen autonom gewordenen Soziologie nicht mehr gerecht werden konnte. 2 0 ) Vor allem aber stieß die sozialökonomische Leerstelle der Ordnungsentwürfe aus den späten 1940er und frühen 50er Jahren selbst im Zentrum des Intellektuellen Feldes nicht mehr auf uneingeschränkte Akzeptanz: Die „Schwäche seiner Grundposition", erkannte der Rezensent Riesmans in folgendem Umstand: „Da Riesman radikaler Anti-Materialist ist, kann er nicht gut die Produktionsverhältnisse oder gar die Spezialisierung des Arbeitsprozesses für die Entwicklung der Dinge verantwortlich machen". 2 1 ) Die Bedeutung Riesmans für die deutsche Diskussion liegt vor allem darin, dass mit ihm die „Sozialpsychologisierung" der Massen-Doxa zum Abschluss gelangte. Als politische Kraft, imstande, die bürgerliche Ordnung herauszufordern, waren die „Massen" endgültig von der intellektuellen Bühne verschwunden. Das bedeutete jedoch nicht, dass Riesman sich nicht für politische Entwicklungen interessiert hätte: Der „außengeleitete Typ", aus dem sich die „einsame Masse" bildete, habe die Politik in ein Konsumgut verwandeln, dessen Preis sich nach Angebot und Nachfrage bildete, mit der Folge, dass an die Stelle genuiner politischer Führer Manager von Interessengruppen („vetogroups") getreten seien. Mit dieser Abneigung gegen die „Funktionäre" traf Riesman auch in Deutschland weitverbreitete Ressentiments. 22 ) Auch in seiner verwandelten Form bezeichnete die Massen-Doxa daher eine gestörte, illegitime Ordnung. Doch genauso wichtig wie diese neue politische Implikation der Massen-Gesellschaft war die sozialpsychologische Gestalt jenes „außengeleiteten Typus" selbst. In ihm verdichteten sich gleich mehrere bürgerlich-konservative Verlustängste nach 1945. Der außengeleitete Typ muss nämlich zuallererst als Nachfolge der - rundum positiv bewerteten - „innengeleiteten" Lebensweise der Vergangenheit verstanden werden, die sich durch „persönliche, verinnerlichte Werthaltungen prinzipieller Art" auszeichnete, wohingegen Riesmans Beschreibung der „außengeleiteten" Lebensweise ein Abbild des Konformismus und der „mora-

18 ) Arnold Gehlen hatte im Februar 1957 sogar auf einer Loccumer Unternehmer-Tagung einen Vortrag unter dem Titel „Die einsame Masse" gehalten, in: L053, S. 40-44. 19 ) Schelsky. Einführung, in: Riesman·. Die einsame Masse, S.7-19. 20 ) Erich Franzen: Soziologie für Konsumenten, in: Merkur 12.1958, S. 183-86. 21 ) Ebd., S. 185. 22 ) Riesman: Die einsame Masse, S. 220-39, bes. S.225.

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

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lischen „Nivellierung" (Schelsky) gibt. Die umfassende Konsumhaltung des „außengeleiteten" Typus - bis hin zu Politik und den Gütern der „Hochkultur" - bestätigte weitere Ressentiments der „gebildeten" Leser in Westdeutschland und dürfte einen der Auslöser für die vehemente Betonung des weiter unten zu erörternden Askese-Topos als Elite-Qualität dargestellt haben. Hier war endgültig der hysterische Ton der „Vermassungs"-Szenarien verschwunden, der die Texte der deutschen Liberalen um Wilhelm Röpke, aber auch zahlreicher traditioneller Konservativer zu Beginn der 1950er Jahre ausgezeichnet hatte. Im Gegenteil, Helmut Schelsky als Exponent des „neuen" Konservatismus, der die Entwicklungen der Moderne nicht mehr rundweg als Auflösung gewachsener Ordnungen ablehnte, sondern in ihnen auch neue Potenziale zur Einschränkung von Emanzipations- und Partizipationswünschen erkannte, konnte in seiner Einführung der „außengeleiteten" Lebensweise auch positive Züge abgewinnen: Vor allem im politischen Desinteresse (der „Skepsis") der „einsamen Masse" sah er einen Garanten einer stabilen politischen Ordnung. Etwas schwieriger als eine formale Analyse der Massen-Doxa gestaltet sich eine Unersuchung seiner Konjunkturen und des diesen Wechsellagen und Trends folgenden Wandels und der Abfolge unterschiedlicher Masse-Konzeptionen. Genau wie die Elite-Doxa wurde auch die Massen-Doxa mit einer mehr als zwanzigjährigen Verspätung aus dem französischen Sprachraum importiert. Es ist bezeichnend, dass sie in der Wilhelminischen Ära keinerlei Verwendung fand: Bürgerliche Ängste und Phantasmagorien richteten sich zu dieser Zeit gerade auf die Disziplin der organisierten Arbeiterschaft, nicht auf (scheinbar oder wirklich) spontane, unkontrollierte und gewalttätige Zusammenrottungen großstädtischer Menschenmengen ganz unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit. 23 ) Erst die Erfahrungen der Massenstreiks während des Ersten Weltkriegs, der Revolution und der nachfolgenden Kämpfe bis zur sogenannten „Stabilisierungsphase" der Weimarer Revolution sowie der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der nicht zuletzt aus dem Schisma der Arbeiterbewegung hervorgegangene Radikalismus in Teilen der Arbeiterschaft, der Arbeitslosen und proletarisierter Kleinbürger ließen das Phänomen der „Masse" auch in Deutschland sichtbar werden. 24 ) Mit den Arbeiten von Theodor Geiger und Robert Michels nahm sich sehr schnell die Soziologie des Themas an, wobei Geiger auf dem analytischen Zusammenhang zwischen dem

23

) Wehlen Gesellschaftsgeschichte, Bd. III S. 796-99; Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. IIS. 557. 24 ) Die Untersuchung von Helmut König ist an einer chronologischen Untersuchung der Massen-Phantasmagorien offensichtlich uninteressiert, doch zeigt ein Blick auf die Erscheinungszeit der zitierten Literatur, dass sich vor 1918 fast ausschließlich französische Autoren mit diesem Gegenstand beschäftigten und erst danach auch deutsche Intellektuelle. Vgl. aber seine „Übersicht" in König: Zivilisation, S. 143.

142

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Massen-Phänomen und der revolutionären Aktion des Proletariats beharrte, während Michels sich auf die Beziehung zwischen der (ebenfalls proletarischen) Masse und ihren Führern konzentrierte. 25 ) In der veränderten Konstellation nach 1945 spielten die Überlegungen Geigers dann allerdings keine Rolle mehr. 26 ) Unter dem Eindruck Le Bons, dessen Buch bereits 1908 ins Deutsche übersetzt worden war, begannen nun Autoren wie Michels, Sigmund Freud, aber auch zahlreiche sozialkonservative „Mandarine" und intellektuelle Freikorpskämpfer, die Massen-Doxa mit den Attributen des „Pöbels" auszustatten: amorph, brutal, unpersönlich, triebhaft, sexualisiert, feminin. 27 ) In dieser Situation traf Jose Ortega y Gassets 1930 erstmalig auf Deutsch erschienenes Buch „Der Aufstand der Massen" auf einen wohlvorbereiteten Boden. Dieses Werk leistete einen entscheidenden Beitrag zur Ausbreitung und Befestigung der Massen-Doxa in Deutschland. Ihre anderen wichtigen Vordenker - die gleichzeitig auch die Verfechter der modernen Elite-Doxa waren, also Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto, Georges Sorel, Robert Michels und Gustave le Bon - wurden (mit Ausnahme der beiden letzteren) erst ab 1950 ins Deutsche übersetzt und erreichten dann bei weitem nicht die hohen Verkaufszahlen, die Ortegas Buch kontinuierlich erzielte. Obwohl bereits 1929 geschrieben und nur ein Jahr später ins Deutsche übersetzt, entfaltete sich seine volle Wirkung doch erst nach 1945 in zahlreichen Auflagen. 28 ) 1956 erschien es auch in Taschenbuchform in der Reihe „rowohlts deutsche enzyklopädie". All die konservativen Topoi, die in diesem Büchlein versammelt sind, aufzuzählen, ist schier unmöglich. Seine Bedeutung für die zeitkritischen Diskussionen während der ersten Nachkriegsdekade lässt sich wohl nur erklären, wenn man erstens seine einzigartige Position im Intellektuellen Feld und zwei-

25

) Vgl. die Zusammenfassung bei Nolte: Ordnung, S. 118-27. ) Geiger aus diesem Grund vorzuwerfen, er habe „die auffälligsten sozialen Veränderungen des 20. Jahrhunderts so radikal wegdefiniert" und sich damit selbst der „Chance, die Wahrnehmungsmuster und die Sprache diesen Veränderungen anzupassen", begeben, wie Nolte es tut - anstatt den sozialen Wandel zwischen 1920 und 1950 zum Ausgangspunkt zu machen und die marginale Position Geigers im Intellektuellen Feld nach 1945 sowie die personellen Kontinuitäten konservativen Denkens in die Nachkriegszeit zu berücksichtigen -, verrät wohl eher das intellektuelle Anliegen, die Protagonisten der Transformation der Massen-Doxa in das Konzept der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (vor allem Helmut Schelsky, Noltes „Helden" einer endlich „modernen", postideologischen, positivistischen Sozialwissenschaft) posthum mit neuen wissenschaftlichen Weihen zu versehen. Nolte: Ordnung, S. 235-73, S.325, S. 334/35; vgl. auch seine abfälligen Bemerkungen über Geiger S.313. 27 ) König: Zivilisation, S. 207^5; Ringer: Gelehrten, S. 229-^3; Theweleit: Männerphantasien, Bd. IIS. 7-141. 28 ) Bis 1934 scheint die Auflage bei der Deutschen Verlagsanstalt nicht über 20000 Exemplare hinausgelangt zu sein. 1947 erschien das Buch erneut bei der DVA, nun in einer Auflage von 50000 Stück. 1955, noch bevor es in der sehr erfolgreichen Rowohlt-Reihe erschien, hatte es bei der DVA eine Auflage von 114000 erreicht. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums (1965) und zehn Jahre nach Ortegas Tod hatte „Der Aufstand der Massen" fast 200000 Käufer gefunden. 26

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

143

tens das geschichtsphilosophische Vakuum dieser Zeit berücksichtigt. Zum einen fungierte Ortega als eine ausländische Autorität, die aussprach, was einem deutschen Autor in einer derartigen Offenheit möglicherweise übelgenommen worden wäre, wie die Verachtung für die „Massen" oder das Bekenntnis zu einer extrem „aristokratischen" (oder „elitären") Deutung von Geschichte und Gesellschaft. 29 ) Ortega war auch nicht durch den Faschismus diskreditiert, nicht einmal durch den spanischen, sein Name war dem Publikum seit längerem bekannt, und als nicht religiös argumentierender Katholik sprach er das katholische wie protestantische Publikum Westdeutschlands an. In zahlreichen Schriften (einige davon im Merkur und in der Universitas) und Vorträgen, darunter auch vor dem Kulturkreis des BDI 3 0 ), konnte er seine Vorstellungen in der gesamten literarisch-politischen Öffentlichkeit und darüber hinaus in die Milieus der westdeutschen Oberklassen ausbreiten. Zum anderen sahen sich biologistisch bzw. rassistisch argumentierende und zyklisch aufgebaute Geschichts- und Kulturtheorien nach ihrer Bindung an den Nationalsozialismus weitgehend diskreditiert. 31 ) Vom vormals sehr einflussreichen Oswald Spengler erschien nach 1945 wenig Neues, und nur ein Band mit Reden und Aufsätzen wurde 1951 neu aufgelegt. 32 ) Auf einer Loccumer Unternehmer-Tagung erfuhr seine große These vom „Untergang des Abendlandes" deutliche Ablehnung. 3 3 ) Doch war mit dem Untergang des Deutschen Reiches weder das Bedürfnis nach kulturphilosophischer Orientierung noch dasjenige nach Ordnungskonzepten, die kulturkritische Reflexionen und den Ausdruck eines tiefen Unbehagens an den prägenden Kräften der Zeit ermöglichen sollten, verschwunden. Die zeitweise sehr lebhafte deutsche Rezeption von Arnold Toynbees großangelegtem geschichtsphilosophischem Werk „A Study in History" 3 4 ) folgte der gleichen Logik, zumal es zeitweilig den Anschein hatte, als träte Toynbee in Deutschland das Erbe Oswald Spenglers an: Wie Ortega verfügte Toynbee über das Prestige und die relative Unangreifbarkeit des ausländischen Intellektuellen, dessen Ideen nach zwölf Jahren erzwungener Abgeschlossenheit viel Neugier erweckten, und wie bei Spengler ermöglichte die Darstellung des Aufstiegs und Niedergangs von Kulturen in universaler Perspektive einer Verortung der Gegenwart (auch wenn diese nun eher melancholisch als „pessimistisch" ausfiel). 35 ) Die

29

) Ortega: Aufstand, S. 16, S. 114. ) Wiesen: Industrialists, S. 17. 31 ) Adorno: Spengler nach dem Untergang, in: Der Monat 1950 Nr.20, S. 115-28; ders.: Wird Spengler rechtbehalten?, in: FH 10.1955, S. 841^16; Franz Borkenau: Spengler - weitergedacht, in: Der Monat 1955 Nr. 87, S. 47-55. 32 ) Spengler: Reden und Aufsätze. Erst 1959 erschien eine neue (gekürzte) Auflage seines Klassikers „Der Untergang des Abendlandes". 33 ) Dirk Cattepoel: Die Geschichtsdeutung Spenglers und Toynbees - Versuch und Versuchung, in: L0X7, S. 11-14. 34 ) Toynbee: Weltgeschichte, zuerst 1949. 35 ) Dies war auch der Tenor von Cattepoels Referat. 30

144

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Rolle der „schöpferischen Minderheiten" im historischen Geschehen fügte sich dabei im Übrigen aufs Beste in die beginnende Diskussion über die Bedeutung von „Eliten" ein. Zurück zu Ortega: Die Nachfrage nach übergreifenden Deutungsmustern befriedigte dieser, indem er die Brücke von der älteren zu einer neueren Ausformung der Massen-Doxa schlug: von den revolutionären (Arbeiter-)Massen zum allgegenwärtigen sozialpsychologischen Phänomen der „Vermassung". Einerseits griff er durchaus bekannte Topoi auf, indem er in brillantem Stil voller antiegalitärem Abscheu „die Tatsache der Überfüllung" als Verlust exklusiver sozialer Orte darstellte: „Jetzt plötzlich erscheinen sie zu Verbänden zusammengefasst, und unsere Augen sehen überall nur Mengen. Überall? Nein; gerade an den vornehmsten Stellen, die, als verhältnismäßig verfeinerte Schöpfungen der menschlichen Kultur, vorher ausgewählten Gruppen, mit einem Wort den Eliten vorbehalten waren." 36 ) Und er erläuterte, „warum die Massen in alles eingreifen, und warum sie nur mit Gewalt eingreifen".37) Dies waren bekannte Gegenstände des Massen-Codes seit Gustave Le Bon.38) Andererseits, und das machte das Buch für deutsche Leser nach 1945 so interessant, definierte Ortega die „Massen" nicht mehr als aufrührerische Unterschichten (die in der Bundesrepublik auch gar nicht mehr zu finden waren), sondern als soziales Aggregat psychologischer Verhaltensweisen. Auf der Grundlage „materieller Unbeschwertheit" sah er in der Gestalt des „Massen-" oder Durchschnittsmenschen" (Ortega verwendete beide Termini synonym) einen „absurden Seelenzustand" entstanden, der sich durch die „ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum seiner Person" sowie eine „grundsätzliche Undankbarkeit" auszeichne. Auf diesen Topos der Begehrlichkeit des Massenmenschen wird weiter unten unter dem Stichwort der „Pleonexie" noch ausführlich zurückzukommen sein. Eine „geistig-moralische Selbstzufriedenheit" sei die Folge.39) Diese „moralische Krise"40) resultierte für Ortega aus der Tatsache, dass „die Massen (sich) von den Eliten nicht mehr führen (lassen), sie verweigern ihnen Gehorsam, Gefolgschaft, Respekt, sie tun sie ab und nehmen selbst ihren Platz ein."41) Eben darin bestand für ihn der „Aufstand der Massen". Eine solche Deutung der nachlassenden Fähigkeit, in einer zusehends demokratischer und pluralistischer werdenden Gesellschaft verbindliche moralische und politisch-ideelle Normen formulieren und durchsetzen zu können, traf genau den Nerv kulturkritisch gestimmter Beobachter der durch einen rasanten Wirtschaftsaufschwung und wachsenden Wohlstand in breiten Bevölkerungsschichten gekennzeichneten 1950er und

36

) ) 38 ) 39 ) 40 ) 41 ) 37

Ortega·. Aufstand, S.9. Ortega: Aufstand, dort v.a. Kap. I und VIII. Le Bon\ Psychologie der Massen (Orig.: Psychologie des foules, zuerst 1895). Ortega·. Aufstand, S.51, S.54. Ebd., S. 179. Ebd., S. 18.

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

145

60er Jahre. Deshalb war Ortegas Sicht der Dinge auch mit der Wahrnehmung deutscher Nachkriegsintellektueller aus ganz verschiedenen sozialen und politisch-ideellen Positionen umstandslos in Übereinstimmung zu bringen, zumal er die Geisteswissenschaften, also die akademische Herkunft der meisten Kulturkritiker, ausdrücklich nicht für die moralische Krise verantwortlich machte. 42 ) Denn worin die Deutungen so unterschiedlicher Autoren wie Helmut Cron, 43 ) Jürgen Habermas („entfremdeter Konsum" 44 )), Wilhelm Röpke, 45 ) Friedrich Sieburg („Vom Menschen zum Endverbraucher" 46 )), Karl Wilhelm Böttcher, 47 ) Hans Freyer oder Arnold Gehlen („Mensch trotz Masse") 48 ) in den 1950er Jahren konvergierten, war die Annahme, dass der wachsende materielle Wohlstand der „Massen" keineswegs deren moralisches oder geistiges Niveau verbessert habe. Gleichzeitig verband diese Autoren die Vorstellung, dass auch große Teile der Herrschenden vom neuen Luxus korrumpiert worden seien oder jedenfalls die Fähigkeit zu moralischer und ideeller Führung verloren hätten. Mit anderen Worten: Auch die alte Oberschicht war von der „Vermassung" erfasst worden. Verhältnismäßig neu und konträr zur obrigkeitsstaatlichen Tradition war in Deutschland die Vorstellung, den starken Staat nicht als Lösung des Problems, sondern als Teil des Problems selbst zu sehen. Hier spielte bei den Lesern die Erfahrung des nationalsozialistischen Gewaltstaates mit der Ablehnung des modernen demokratischen Wohlfahrtsstaates in den 1950er Jahren zusammen. Mit der Warnung vor der „Verstaatlichung des Lebens" traf Ortega den Nerv des konservativen Publikums erst in der Nachkriegszeit. 49 ) Vor allem aber suchte Ortega die Lösung nicht darin, die Massen dem Diktat eines autoritären Führers zu unterwerfen (diese Möglichkeit besaß in Westdeutschland keinen Realitätsgehalt mehr). Im Gegenteil, an Kritik an den Herrschenden oder zumindest an Teilen von ihnen wurde nicht gespart: Zum einen in der Gestalt des „zufriedenen jungen Herrn", der Figur des durch ererbten Reichtum verweichlichten, moralisch indifferenten und deshalb verantwortungslosen und letztlich vor seiner Führungsaufgabe versagenden biologischen, aber nicht charakterlichen „Erben", in dem Ortega sogar ein 42

) Ebd., S. 82. ) Helmut Cron: Der Hunger nach Sozialprestige, in: Merkur 9.1955, S. 1109-22; ders.: Der konfektionierte Parvenü, in: Merkur 10.1956, S. 624-28. Cron war Chefredakteur der in Stuttgart erscheinenden Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung. M ) Jürgen Habermas: Die Dialektik der Rationalisierung, in: Merkur 8.1954, S. 701-24; ders:. Notizen zum Missverhältnis von Konsum und Kultur, in: Merkur 10.1956, S. 220/21. 45 ) Wilhelm Röpke·. Die Massengesellschaft und ihre Probleme, in: Universitas 12.1957, S.785-98. ^ Sieburg: Untergang, S. 145-92, bes. S. 177-86. 47 ) Karl W. Böttcher: Die neuen Reichen und die Neureichen in Deutschland, in: FH 6.1951, S. 331-38. **) Arnold Gehlen: Das Ende der Persönlichkeit?, in: Merkur 10.1956, S. 1149-58; ders.: Mensch trotz Masse, in: Wort und Wahrheit, 7.1952, S. 578-84. Vgl. ders.: Seele, S. 80/81. 49 ) Ortega: Aufstand, S. 113-23. 43

146

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Epochenzeichen sah. 50 ) Nur am Rande sei hier vermerkt, dass Ortegas Apologie des (keineswegs allein physisch gedachten!) Kampfes als höchste Form individueller Selbstverwirklichung, die er dem „zufriedenen jungen Herrn" entgegenhielt, dabei ein altes (bürgerliches wie aristokratisches) konservatives Stereotyp beschwor. Zum anderen beschwor Ortega die „Barbarei des Spezialistentums" und fügte sich damit ein in die noch eingehender zu erläuternde Ablehnung der Sozialfigur des „Funktionärs", der seine Machtmittel einer illegitimen Ordnung verdankte, und die Gefahr des Verlusts der Ganzheitlichkeit menschlichen Daseins in der modernen, „mechanischen" Arbeitswelt; ebenfalls ein vertrauter Topos der intellektuellen Auseinandersetzungen der 1930er, 40er und 50er Jahre. Übrigens findet sich der Begriff der Elite bei Ortega, der in der Nachkriegszeit zu den älteren Autoren gehörte und seine intellektuellen Konzepte aus Erfahrungen des ersten Jahrhundertdrittels schöpfte, nur eher en passant. 51 ) Doch zur soziologischen Analyse erwies sich die Massen-Doxa als ziemlich unbrauchbar, weshalb sie die Fachsoziologie in den ausgehenden 1950er Jahren verabschiedete oder vollkommen transformierte 52 ) - eine Auseinandersetzung, die interessanterweise an einem der Schnittpunkte zwischen Wissenschaftlichem und Literarisch-Politischen Feld, etwa in den Gewerkschaftlichen Monatsheften oder der Universitas, stattfand, 53 ) während der 13. Deutsche

50

) Ortega: Aufstand, S.94-104 (Kap. 11: „Die Epoche des .zufriedenen jungen Herrn'"). ) Z.B. Ortega: Aufstand, S.18. 52 ) Bezeichnenderweise übte gerade Rene König, der Protagonist einer rein wissenschaftlichen, sich von jeglicher Kulturkritik fernhaltenden Soziologie, 1956 eine umfassende Kritik an den Begriffen „Masse" und „Vermassung", und zwar durchaus außerhalb der engen fachsoziologischen Diskussion, nämlich auf dem X. Europäischen Gespräch in Recklinghausen. Rene König: Masse und Vermassung, in: G M H 7.1956, S. 463-70; ders.: Artikel „Masse" in: Fischer Lexikon Soziologie, S. 166-72. 53 ) Im 7. Jahrgang der Gewerkschaftlichen Monatshefte (1956) findet sich eine ganze Reihe von Beiträgen prominenter Sozialwissenschaftler, die sich wie König kritisch mit Klassenwie mit Massen-Konzepten auseinandersetzten, etwa Karl-Martin Bolte: Strukturwandel der Gesellschaft und soziale Reformen, S. 86-91; Leopold von Wiese: Vom Proletarier zum Arbeiterbürger, S. 344-48; Heinz Kluth: Kräfte und Tendenzen im gesellschaftlichen Spannungsfeld der Gegenwart, S. 349-56; Siegfried Landshut: Die Auflösung der Klassengesellschaft, S. 451-57; Ernst Fraenkel: Startgleichheit und Klassenschichtung, S. 457-60; Alexander Rüstow: Gruppeninteressen und Gesamtinteressen, S. 460-62; Eugen Kogon: Herrschaftsmöglichkeit und Herrschaftswille, S. 471-72; Oswald von Nell-Breuning: Eigentum und Verfügungsgewalt in der modernen Gesellschaft, S.473-78. Bei einem Großteil dieser Beiträge handelte es sich um Referate, die im Rahmen des „Europäischen Gesprächs" 1956 in Recklinghausen über „die Beschaffenheit der Gesellschaft" gehalten worden waren ( G M H 7.1956, S. 449-50). In der Universitas schlug sich diese Diskussion mit der für die Zeitschrift üblichen Verspätung nieder; aus dem Jahrgang 11.1956 ist hier lediglich zu nennen Helmut Schelsky: Der gesellschaftliche Umwandlungsprozess der Gegenwart, S. 449-58. Im folgenden Jahrgang zeigte sich auf bemerkenswerte Weise der Übergang von der geisteswissenschaftlich orientierten zur „autonomen" Soziologie: Einerseits schrieben Leopold von Wiese über „Die Modetorheiten in den Sozialwissenschaften" (S. 405-12) und Wilhelm Röpke über „Die Massengesellschaft und ihre Probleme" (S. 785-98), anderer51

2.1 Die Orientierungsleistung der Massen-Doxa in der Zeitkritik

147

Soziologentag 1956 nach einem Bericht Erwin Scheuche noch ganz in den traditionellen Bahnen der geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie verlief. 54 ) Auch in die demokratische Verfassung der Bundesrepublik, ihrer Nachbarn und Verbündeten war die Massen-Doxa kaum zu integrieren, und im polemischen Gebrauch wurde sie im Lauf der 1950er Jahre von Helmut Schelskys Entwurf der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft" abgelöst. Als sich Frank Thieß, einer der einflussreichsten Exponenten der konservativen „Inneren Emigration" (Thieß hatte den Begriff geprägt), noch 1960 Maeterlinck zitierend mit den Worten erregte: „Im Termitenhaufen werden die Götter des Kommunismus zu unersättlichen Molochs. Je mehr sie erhalten, desto mehr fordern sie. Und sie bestehen auf ihren Forderungen, bis dass das Individuum vernichtet und sein Elend vollständig geworden ist", da hatte er sich damit bereits hoffnungslos vom mittlerweile erreichten Diskussionsstand im Intellektuellen Feld entfernt. 55 ) Die Verbreitung der Massen-Doxa in Westdeutschland während der ersten Nachkriegsdekade ist nur zu verstehen, wenn man zum einen ihre mögliche Ubiquität in Rechnung stellt: Sie war mit allen möglichen politischen und intellektuellen Standorten und Denkstilen vereinbar. Schon die ältere Vorstellung von den revolutionären proletarischen Massen - die allerdings noch nicht der Massen-Doxa im engeren Sinne zuzuordnen ist! - vermochte im gesamten politisch-ideellen Spektrum zwischen Rosa Luxemburg und Oswald Spengler Fuß zu fassen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass diese Idee sich den deutschen Intellektuellen nach 1945 gewissermaßen von selbst anbot. Denn aus der Publizistik und Propaganda vor und nach 1933 war sie ihnen vertraut. 56 ) Auch wenn sich Inhalte und Bedeutungen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber der Zwischenkriegszeit wesentlich verschoben hatten, stand sie in der Nachkriegszeit auf dem Markt gedachter Ordnungen der Gesellschaft weithin konkurrenzlos dar. Den sozialen Raum in völkischen und biologistischen Kategorien zu beschreiben, verbot sich angesichts deren nationalsozialistischer Kontaminierung. Das Konzept der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft, das von der theoretischen und empirisch arbeitenden Soziologie seit den späten 1950er Jahren propagiert wurde und in den 60er Jahren eine beispiellose Konjunktur erlebte, traf in der frühen Nachkriegszeit noch auf weitgehende Ablehnung, wobei die Furcht vor der individuellen und sozialen Desintegration im Vordergrund stand. Denn in diesen Jahren bestand der oberste Wert, nach dem sich die Akzeptanz sozialer Ordnungsmodelle be-

seits berichtete Rene König über den „Gestaltwandel des Mittelstandes" (S. 261-65) und die „Sozialpsychologie der gegenwärtigen Familie (S. 1247-56); eine Mittelposition nahm Arnold Gehlen ein: Bürokratisierung und Daseinssicherung, S. 43-47. 54 ) Erwin K. Scheuch: Traditionsfreudige Soziologen, in: GMH 7.1956, S. 758-61. 55 ) Thieß: Die Schlange, S. 131^2, Zitat S. 137/38. 56 ) Vgl. König·. Zivilisation und Leidenschaften; Blättler: Der Pöbel, die Frauen; Moscovici: Das Zeitalter der Massen. Vgl. als Literaturüberblick Genett: Angst, Hass und Faszination.

148

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

maß, in deren Ganzheitlichkeit. Das gilt auch für die Antipathie gegenüber dem Konzept der Klassengesellschaft, mit dem sozialökonomische Konflikte in den Vordergrund gestellt wurden. Diese galten den westdeutschen Intellektuellen der ausgehenden 1940er und 50er Jahre ja gerade zu überwinden, wurden sie doch mit dem Untergang der Weimarer Republik (wenn nicht schon des Kaiserreiches) ebenso in Verbindung gebracht wie mit dem marxistischen Gegner im beginnenden Kalten Krieg. Zudem war ein Großteil seiner ehemaligen Verfechter abwesend: von den Nationalsozialisten ermordet oder ins Exil getrieben. Diesem vorübergehenden Fehlen ernsthaft konkurrierender Ordnungskonzepte verdankte sich die Spätblüte der Massen-Doxa. Auch wenn ihre Dominanz im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik die 1950er Jahre nicht überlebte, so zeitigte sie doch zumindest eine dauerhafte Wirkung: Sie bildete gewissermaßen die Brutstätte derjenigen Kräfte, die der Elite-Doxa während der ersten Phase ihrer Durchsetzung die Schubkraft verliehen. Aus diesem Grund lässt sich die Durchsetzung der Elite-Doxa nicht ohne Kenntnis der Grundzüge der Diskussion über die „Massen" erklären.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite Hat man die Diskussion über das Zeitalter der Massen und die ihm angeblich innewohnenden Gefahren bis hierhin verfolgt, berücksichtigt man ferner die oben dargestellten Rahmenbedingungen intellektueller Produktion und die Bemühungen, neue Kategorien zur Beschreibung und Orientierung in der Nachkriegsgesellschaft zu finden, und stellt schließlich die politisch-ideelle Konstellation in Westdeutschland nach 1945/49 in Rechnung, so ergeben sich sehr schnell einige Konsequenzen für das Spektrum an möglichen denk- und durchsetzbaren Ordnungskonzepten dieser Zeit. Die machiavellistische Zähmung der Massen durch einen Massenführer oder durch eine kleine Herrschaftsclique hatte ebenso ausgespielt, wie ein auf etwas breiterer Grundlage agierendes autoritäres Regime zur Unterwerfung und gewaltsamen Beherrschung der Massen, auch wenn zumindest das zweite Modell noch immer über eine zum Teil nicht unerhebliche Unterstützung bei konservativen Intellektuellen verfügte. 57 ) Die Führer-Doxa hatte in der Zwischenkriegszeit eine erhebliche Anziehungskraft auf die europäischen Intellektuellen ausgeübt, und zwar vor allem in den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges und den neuen Republiken in Mittel- und Osteuropa. 58 ) Das Regierungssystem der liberalen

57

) Vgl. etwa Martini·. Das Ende aller Sicherheit, und seine lobenden Worte für die Regimes von Franco und Salazar, S. 326-36. Der ursprünglich geplante Titel des Buches lautete „Das Ende der Demokratie". 58 ) Bernecker. Europa; Mai: Europa, S. 169-201. Zur in Deutschland typischen Überhöhung der „Einzelpersönlichkeit" des großen Staatsmannes vgl. Chun: Moderne, S. 106-16, bes. S . l l l .

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

149

Demokratie war hier kaum verwurzelt und schon kurz nach 1918/19 erheblichen Belastungsproben ausgesetzt, die die wenigsten von ihnen erfolgreich meisterten. In dieser Situation sahen die Intellektuellen zwischen Deutschland und Griechenland, dem Baltikum und Italien oder der iberischen Halbinsel in der Zerstörung der Demokratie durch einen diktatorisch die Massen zähmenden Führer die einzige Möglichkeit, soziale Stabilität und europäische Kultur zu bewahren. Bemerkenswerterweise begannen die westeuropäischen Intellektuellen, in deren Heimat parlamentarische Systeme länger etabliert waren, sich schon zu dieser Zeit in Richtung der Elite-Doxa zu orientieren. An die Existenz parlamentarischer „Eliten" gewöhnt und ohne die Belastungen der Weltkriegsniederlage, erschien ihnen das Führer-Modell offenbar weniger attraktiv, obwohl sie die Verachtung für die Massen durchaus teilten. 59 ) Denn während jenes Modell darauf beruhte, dass der Führer autoritär und vor allem autokratisch die Einheit von Macht und Geist unter relativer Marginalisierung der „Geistigen" herstellte, besaß die Elite-Doxa den unschätzbaren Vorzug, den Intellektuellen selbst als Hüter des kulturellen Erbes der Nation eine der, wenn nicht die zentrale Position im Feld der Macht zuzusprechen. 60 ) Das EliteDenken entsprach damit dem Bedürfnis nach einer verbindlichen Sinnstiftung und dem Anspruch auf die Gestaltungskompetenz der sozialen Welt, verbunden mit der Erfahrung terroristischer Gewaltherrschaft im Nationalsozialismus, der nun ein neues Ordnungskonzept gegenübergestellt werden sollte. Übrig blieben nach 1945 in der Bundesrepublik nur demokratische und rechtsstaatlich eingehegte Herrschaftsformen und vor allem die Möglichkeiten der „Entmassung": Damit war gemeint, den Prozess der „Vermassung" durch allerlei Maßnahmen rückgängig zu machen und Menschen zu finden, die diejenigen Werte und Eigenschaften verkörperten, die dem Massendasein entgegengesetzt sein sollten, auf dass diese Auserwählten der Masse als Vorbild dienen oder zumindest das Gemeinwesen vor den Auswüchsen des Massenzeitalters bewahren konnten. 61 ) Augenfällig wird diese Gegenwartsdeutung

59

) Mai: Europa, S.30-51; ders.: Agrarische Transition (dort auch die neueste Literatur). Allerdings verbleibt Mai auf der Ebene einer Lektüre der „Höhenkammliteratur", der in Ermangelung einer Sozialgeschichte der Träger dieser Ideen die Erklärung für deren politisch-soziale Wirksamkeit fehlt. Vgl. als Fallbeispiel der britischen Intellektuellen vor 1939, allerdings durchaus in europäischer Perspektive: Carey: Hass. Vgl. zu diesem Problem die bei Mannheim: Mensch und Gesellschaft, S. 95/96 angeführte frühe französische Literatur, von der in Deutschland (Mannheims Buch entstand im Exil) offenbar nicht die geringste Notiz genommen wurde. 61 ) „Inwieweit ist eine ,Personalisierung' der Masse in der Daseinsform von heute möglich, eine solche, die der Masse zunehmend innere Kompetenz gibt?" Weber. Einführung, S.65; ders.: Mensch, S.202; ähnlich ders.: Abschied, S. 193-97; des weiteren Wilhelm Röpke: Die Massengesellschaft und ihre Probleme, Universitas 12.1957, S.785-98; ders.: Kapitel „Entmassung und Entproletarisierung", in: Civitas Humana, S.268-86; Rüstow: Vitalpolitik gegen Vermassung, S. 215-38; Schlabrendorff. Führungsschicht und Kollektiv, S.25. Derartige Vorstellungen zeitgenössischer Historiker werden auch dargestellt bei Eckel: Transformationen, S. 164/65, allerdings ohne Hinweis auf die damaligen Ängste vor der „Vermassung".

150

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

bereits in den Überschriften so mancher Texte, die sich mit „Masse" und „Elite" beschäftigten, beispielsweise Arnold Gehlens Vortrag „Mensch trotz Masse" oder Heinz Zahrnts Schrift „Probleme der Elitebildung" mit dem sprechenden Untertitel „Von der Bedrohung und Bewahrung des Einzelnen in der Massenwelt". 62 ) Erst die Deutung der Gegenwart als Zeitalter der Massen machte also die Elite-Doxa zur Lösung aktueller Probleme und darüber hinaus ganz grundsätzlich als neues, Orientierung und Legitimation verschaffendes handlungsleitendes Ordnungsmodell für die Akteure im Feld der Macht (Intellektuelle, Unternehmer und Politiker) attraktiv und seine Durchsetzung möglich. Die besondere, seit den ausgehenden 1940er Jahren herrschende Konstellation politisch-ideeller Rahmenbedingungen begünstigte dabei insbesondere die Ausbreitung des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite. D e n n wenn „Auslese gegen Masse gesetzt werden" sollte, die Massengesellschaft sich aber gerade durch das Fehlen einer „gemeinsamen Wertordnung" auszeichnete, dann musste die der „Vermassung" sich entgegenstemmende Elite eine Wert-Elite sein: „Elite und Wert sind dabei niemals zu trennen. Wertfreie Eliten sind überhaupt keine". 6 3 )

2.2.1 Konstitutive Eigenschaften einer Wert- und Charakter-Elite Die Konzepte der Wert- und Charakter-Elite beruhten im Wesentlichen auf der Positionierung eines Individuums in der Gesellschaft durch seine charakterlichen und moralischen Qualitäten. Diese Qualitäten ersetzten die materiellen, also sozial bedingten Merkmale, auf denen z.B. die unterschiedlichen Modelle sozialer Klassen beruhten. Nicht mehr der Beruf, das Vermögen, Bildungstitel, soziale Herkunft oder besondere sichtbare Statussymbole waren demnach relevant für die Bestimmung der sozialen Position, sondern eine vor allem an christliche Normen gebundene und somit vorbildliche Lebensführung, persönliche Autorität und die Fähigkeit und Selbstverpflichtung zu verantwortungsbewusstem Handeln. Diese Konzepte besaßen drei konstitutive Eigenschaften, die ihre große Orientierungsleistung ermöglichten: Erstens das zentrale Moment der Dichotomie, auf dem alle Eliten-Konzepte aufgebaut sind, das heißt auf der Einteilung der gesamten sozialen Welt in die Elite und die Nicht-Elite (oder Masse). Diese einfache, alle Differenzierungen und die Komplexität moderner Gesellschaften auf eine simple Zweiteilung reduzierende Teilung war in der Massen-Doxa bereits angelegt und von Mosca und Pareto in die Elite-Diskussion eingeführt worden. Mosca hatte das zentrale Kapitel „Die politische Klasse" seines Buches mit den berühmt gewordenen Sätzen eingeleitet: „Unter den beständigen Tatsachen und Tendenzen des 62

) Arnold Gehlen·. Mensch trotz Masse, in: Wort und Wahrheit 7.1952, S. 579-86; Zahrnf. Elitebildung. 63 ) Schoeps: Konservative Erneuerung, S. 118.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

151

Staatslebens liegt eine auf der Hand: In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Anfang der Zivilisation bis zu den vorgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt oder geleitet wird." 64 ) Und Vilfredo Pareto hatte fast zur gleichen Zeit geschrieben: „Das mindeste, was wir tun können, ist die Einteilung der Gesellschaft in zwei Schichten, d. h. eine Oberschicht, in der sich üblicherweise die Herrschenden, und eine Unterschicht, in der sich die Beherrschten befinden. Diese Tatsache ist so offensichtlich, dass sie sich zu allen Zeiten sogar dem wenig erfahrenen Beobachter aufgedrängt hat, und ebenso offensichtlich ist die Zirkulation zwischen diesen beiden Schichten. (...) Eine herrschende Klasse findet man überall." 65 ) Beide Texte verwendeten den Begriff der „Elite" an diesen zentralen Stellen nicht. Nackt und unverhüllt tritt der Herrschaftscharakter in ihren politischen und soziologischen Modellen hervor. Eine Bindung an höhere, gar christliche Werte sucht man dagegen bei beiden Autoren vergebens. Gerade weil die „politische Klasse" keine Herrschaft der moralisch „Besten" darstellen sollte, blieb Mosca auch gegenüber Paretos Verwendung des Elite-Begriffs skeptisch, denn Mosca mochte die moralische Vorbildlichkeit nicht vom Elite-Begriff trennen. 66 ) Die Schriften von Mosca und Pareto waren zu Beginn unseres Untersuchungszeitraumes allerdings noch nicht ins Deutsche übersetzt, wenn auch einigen deutschen Sozialwissenschaftlern bereits bekannt. Sicherlich kannte Nicolaus Sombart ihre wichtigsten Schriften. Sombart veröffentlichte im November 1946 einen Aufsatz im Ruf, dessen hier ausgewählte Passage sich wie eine Paraphrase oder Zusammenfassung der beiden obigen Zitate liest: „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass jede mehr oder weniger differenzierte Gesellschaft ihr Gefüge dadurch erhält, dass von einer gewissen Stufe an ihre Funktionen von Individuen ausgeführt werden, die über ein besonderes Maß an geschulter Intelligenz innehaben. Es besteht also die Zäsur zwischen O b e r schicht' und ,Unterschicht', ohne die keine menschliche Gesellschaft gedacht werden kann. Es ist eine Frage der Epoche, wo die Zäsur liegt... Immer aber kann man die Schicht, die oberhalb dieser Linie liegt, als Elite bezeichnen." 67 ) Wie Mosca und Pareto, so teilte auch Sombart die Gesellschaft in zwei Gruppen ein: in eine Unterschicht und eine Oberschicht, die er im Gegensatz zu Mosca, aber in Übereinstimmung mit Pareto als „Elite" bezeichnete. Dafür verzichtete Sombart vollständig auf den Klassenbegriff und vor allem auf den Herrschaftscharakter in seinem Gesellschaftsmodell. Klassenkämpfe, Unter-

Mosca·. Klasse, S.53. ) Pareto: Trattato, zitiert nach Wurster: Herrschaft und Widerstand, S.99. 66 ) Mosca: Die herrschende Klasse, S.363. 67 ) Nicolaus Sombart, Studenten in der Entscheidung, in: Der Ruf, Heft 7, 15.12.1946; hier zitiert nach: Schwab-Felisch (Hg.): Der Ruf, S.88. 65

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

werfung und Gehorsam waren nicht die Topoi, auf denen westdeutsche Intellektuelle nach 1945 ihre Ordnungsentwürfe aufzubauen bereit waren. Sombart sprach von den Funktionen der „geschulten Intelligenz" und von der Notwendigkeit, die Gesellschaft in Elite und Nichtelite einzuteilen. Dies waren auch die Themen, die sich durch die gesamte westdeutsche Diskussion über die „Elite" während der 1950er Jahre zogen. Diese einfache Zweiteilung der Gesellschaft versprach zwar gerade in der „fragmentierten Zusammenbruchsgesellschaft" erhebliche Orientierungsmöglichkeiten, weil ein jedes Individuum nur in eine von zwei Kategorien eingeteilt werden musste, um seinen Status festzulegen. Doch sprach sie jeder Form der Sozialstrukturanalyse Hohn - beispielsweise wäre es vollkommen unmöglich gewesen, den in Deutschland seit langem eingebürgerten Begriff des „Mittelstandes" mit diesem dichotomen Modell in Übereinstimmung zu bringen, weil dieser gerade die „Mitte" zwischen Ober- und Unterschicht und also zwischen Elite und Nichtelite betonen musste. Daher hätte sich dieses außerordentlich komplexitätsreduzierende Gesellschaftsmodell auch sicherlich nicht in der Diskussion durchsetzen lassen, wenn es sich nicht in vielerlei Hinsicht mit den Erfahrungen, Ängsten, Phantasmagorien und Interessen der an seiner Durchsetzung beteiligten Akteure, ob Politiker, Intellektuelle oder Unternehmer, in Übereinstimmung befunden hätte. Wie sich zeigen lässt, passte sich das Modell der Wert- und Charakter-Elite während der 1950er Jahre auf vollkommene Weise in die oben dargestellten Rahmenbedingungen intellektueller Diskussionen ein. Die dichotome Einteilung der Gesellschaften war in der Massen-Doxa bereits angelegt und musste folglich aus den bekannten Ideensystemen nur übernommen werden. Mittels der Modelle einer Wert- und Charakter-Elite ließen sich deshalb auch offene Bekenntnisse zur gesellschaftlichen Ungleichheit formulieren offensichtlich ein elementares Interesse zahlreicher zeitgenössischer Akteure aus den Oberklassen - , ohne dass diese Behauptungen innerhalb des die Publizistik der 1950er Jahre bestimmenden semantischen Feldes überprüfbar oder angreifbar gewesen wären.68) Und die Unterscheidung zwischen Elite und Masse erfolgte ja anhand des Besitzes bzw. Nichtbesitzes der für die Zugehörigkeit zur Nicht-Masse erforderlichen Qualitäten. Angesichts der semantischen Verschiebung des Massen-Begriffs nach 1945 führte die Genese der Elite aus dem Horizont der Massen-Doxa nahezu zwangsläufig zur Koppelung des Elite-Begriffs an moralische und charakterliche Qualitäten. Dass diese Unterscheidungsweise in Form der Wert- und Charakter-Elite die geforderten Qualitäten nur einer kleinen Gruppe von Menschen vorbehielt, war dabei ebenso sehr auf die Übernahme zentraler Vorannahmen in der Massen-Doxa zurückzuführen wie den lebensgeschichtlichen Katastrophenerfahrungen der Diskutanten geschuldet. Zahlreiche Wissenschaftler und Intellektuelle mach68

) Vgl. etwa Rack: Elite, S.17; Weinstock·. Demokratie und Elite, in: Die Sammlung 5.1950, S. 449-58; sowie die im Abschlusskapitel untersuchte Debatte über soziale Bedingungen der Elite-Bildung.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

153

ten für die Verheerungen des Jahrhunderts die gesellschaftliche Mehrheit verantwortlich, die sich an den Verbrechen und Zerstörungen beteiligt habe, während die kleine integre Minderheit zu schwach gewesen sei, diese zu verhindern.69) Zweitens ist die konstitutive Unscharfe des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite zu berücksichtigen. Nicht allein der scheinbar saubere Schnitt durch die Gesellschaft führte zur Konstruktion eines unterkomplexen und außerordentlich unscharf gezeichneten Sozialmodells. Die weitverbreitete Überzeugung, dass durch die Verluste und Zerstörungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit eine sozioökonomische „Nivellierung" erfolgt sei, weshalb materielle Güter ihre gesellschaftsstrukturierende Kraft verloren hätten, wurde bereits erwähnt. Auch Bildungspatente verbürgten nicht mehr für einen gehobenen Status, das war die lebensgeschichtliche Erfahrung zahlreicher Akademiker in der Not- und Mangelzeit der ausgehenden 1940er Jahre. Gerade deshalb erschien es ja notwendig, neue Kategorien zur Orientierung in der Gesellschaft zu finden. Der Besitz moralischer und charakterlicher Qualitäten bot sich daher den Angehörigen der Oberklassen in dieser Konstellation wie von selbst als neues Auslese- und Zuordnungskriterium aus. Denn tatsächlich wurde von den Autoren der Erwerb und Besitz der zur Elite qualifizierenden Charakterwerte implizit stets an den Besitz eines hohen ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals gekoppelt, diese Koppelung jedoch explizit zumeist verleugnet. „Das Wort Elite (wie es hier, gewissermaßen wissenschaftlich gebraucht wird) ist jedoch frei von jedem Odium der Exklusivität, die ihm im Sprachgebrauch, gemessen an vergangenen Sozialstrukturen, vielleicht noch anhaften mag. Er ist eine Qualitätsbezeichnung, weiter nichts", hatte Sombart geschrieben. Allerdings zeichnete er gleich darauf doch wieder ein (unscharfes) Sozialprofil dieser Elite: „Ein amerikanischer Senator oder irgendein Partei-Boss fällt nicht weniger darunter als der Edelmann und fabrikbesitzende Bourgeois von ehedem. Mehr, jeder Ingenieur, jeder Lehrer, jeder höhere Beamte, jeder Richter, jeder Kolchos-Kommissar gehört heute dazu, jeder der an der Instandhaltung seiner Gesellschaft - auf dass sie nicht in Anarchie oder Primitivität zurückfalle - leitend teilhat."70) Zwischen bloßer „Qualitätsbezeichnung" und einem neuen Terminus für Funktions- und Herrschaftsträger changierte Sombarts - und nicht nur sein - Elite-Begriff also. Weil aber die Beziehung zwischen moralischen und charakterlichen Qualitäten einerseits und den sie bedingenden sozialen Merkmalen andererseits niemals eindeutig geklärt wurde und sich wohl auch gar nicht explizit klären ließ, ohne die Fiktion der Entkoppelung von Charakterwerten und sozialen Merkmalen zu zerstören, wohnte dem Konzept der Wert- und Charakter-Elite grundsätzlich eine spezifische Unschärfe inne. Die Intensität der Bindung von charakterlichen an soziale Merkmale mochte von Autor zu Autor und von 69

) Laurien: Politisch-Kulturelle Zeitschriften, S. 148-68. ) Sombart. Studenten, S. 89.

70

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Text zu Text bzw. von Anlass zu Anlass schwanken, doch gerade weil die Form dieser Beziehung zumeist unausgesprochen blieb, konnte das Modell der Wert- und Charakter-Elite zur Orientierung und zur Rechtfertigung eines gehobenen sozialen Status verwendet werden. Es versprach den Elite-Individuen moralische und charakterliche Superiorität. In ihrer Gesamtheit brachten die Verfechter derartiger Konzepte weniger ein geschlossenes Modell hervor als vielmehr ein in viele Richtungen und für unterschiedliche, teils komplementäre, teils konkurrierende politisch-ideelle Bedürfnisse offenes Ideengebilde, dessen Konturen je nach Anlass seiner Verwendung feste Gestalt annehmen und wieder verschwimmen konnten. In dieser Formbarkeit und Unscharfe, mit anderen Worten in seiner Anpassungsfähigkeit lag das Orientierungspotenzial der Wert- und Charakter-Eliten-Konzepte, bevor sie aufgrund gewandelter politisch-ideeller Erfordernisse (vor allem der Suche nach stärker pluralistischen Elite-Konzeptionen und dem Interesse der Fachsoziologie an strengeren Begriffsbildungen) teils transformiert, teils aufgegeben wurden. Aus diesem Grund griffe eine reine Beurteilung dieser Konzepte nach Maßstäben innerer Kohärenz oder größtmöglicher Integration sozialwissenschaftlicher Wissensbestände zu kurz. Im Gegenteil: Seinen Erfolg verdankte das Konzept der Wert- und Charakter-Elite (wie die Elite-Doxa insgesamt) wesentlich dieser Unschärfe, die es ermöglichte, über Widersprüche hinwegzugehen und mit dem Elite-Begriff ganz unterschiedliche Inhalte anzusprechen. Damit ist bereits die dritte konstitutive Eigenschaft dieses Ordnungsentwurfs angesprochen: Das Konzept der Wert- und Charakter-Elite musste tendenziell universell anwendbar sein, mit anderen Worten: eine solche Elite musste die plausible Lösung für möglichst viele der drängenden Probleme der Zeit darstellen. Dieser Anforderung kam entgegen, dass bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre hinein kaum vertiefte Untersuchungen zum Elite-Begriff existierten bzw. zirkulierten und die deshalb relativ allgemein gehaltenen Erörterungen eine Wert- und Charakter-Elite zumeist verkürzt als eine individuelle Haltung darstellten. Ortega y Gasset beispielsweise definierte den Begriff „Elite" eher en passant (in einer Fußnote) in folgender, dann allerdings vielzitierter Weise: „Elite ... ist derjenige, der geringschätzt, was ihm mühelos zufällt, und nur seiner würdig erachtet, was über ihm ist und mit einem neuen Anspruch erreicht werden muss ... wer sich angesichts irgendeines Problems [nicht] mit dem Gedanken zufrieden gibt, die er ohne weiteres in seinem Kopf vorfindet". Der „auserwählte Mensch [ist] jener, der mehr von sich fordert als die anderen." 71 ) Und der hannoversche Kunst- und Architekturhistoriker Hermann Deckert definierte 1955 auf der Loccumer Tagung „Freiheit und Zucht" die „Elite" - im Gegensatz zu den „andern" - anhand ihres „intensivere^] Leben[s]" durch „mehr Freiheit und mehr Zucht". 72 ) 71

) Ortega: Aufstand, S. 59, S. 11. ) Hermann Deckert: Freiheit und Zucht - in der künstlerischen Aussage von heute, in: L034, S.3-6, hier S. 6.

72

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

155

Diese quasi „habituelle" und vor allem recht allgemeine Definition der Elitezugehörigkeit ermöglichte umgekehrt die universelle Anwendung des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite. Deckert beispielsweise erwartete von den Eliteindividuen eine Verbesserung der Literatur- und Kunstkritik. Heinz Z ä h m t und Harald von Rautenfeld erhofften sich eine Erneuerung der Dominanz christlicher Werte in der Gesellschaft durch die „geistig Führenden". 7 3 ) Die zwei wichtigsten „Anwendungsgebiete" (auf beide wird noch näher zurückzukommen sein) waren zum einen Probleme der demokratischen Willensbildung, zum anderen Probleme der betrieblichen Führung, die durch eine wertgebundene und charakterlich qualifizierte politische bzw. unternehmerische Elite gelöst werden sollten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zeitdiagnosen der ausgehenden 1940er und 50er Jahre in ihrer Problemstellung sehr allgemein gehalten waren („Vermassung", „Säkularisierung", moralische, geistige und kulturelle „Krise"). Für diese allgemeinen Problemstellungen versprach eine unspezifisch definierte Wert- und Charakter-Elite durch einen „Aufstand der Elite" 7 4 ) die angemessenste, logische und argumentativ zwingende Lösung zu sein. Diese drei konstitutiven Eigenschaften ermöglichten die verhältnismäßig reibungslose Durchsetzung eines Ordnungsmodells, welches die westdeutsche Bevölkerung (und darüber hinaus die gesamte Menschheit!) in eine moralisch und charakterlich überlegene Minderheit und eine in dieser Hinsicht unterlegene Mehrheit aufteilte. Seine einzelnen Bestandteile bildeten keine einfache Hierarchie oder Struktur, und sie lassen sich nicht in eine solche bringen. Denn sie waren vielgestaltig, polymorph, fließend, konstitutiv unscharf und auf unterschiedliche Probleme ausgerichtet. Fragen wir uns, was eine Wert- und Charakter-Elite denn ausmacht, so treffen wir auf ganz unterschiedliche Vorstellungen. Über die Merkmale, die eine solche Elite tragen sollte, über die Elemente, die sie in sich vereinen sollte, herrschte keineswegs vollständige Einigkeit. Allerdings unternehmen die Protagonisten dieser Debatte auch keinerlei Anstrengungen, auf dem Wege einer inhaltlichen Kontroverse, einer Konfrontation unterschiedlicher Entwürfe der Wert- und Charakter-Elite eine Klärung herbeizuführen. Im Gegenteil, manchmal scheint es, als hätten sie sich sogar bemüht, das Modell im Ungefähren zu belassen. 2.2.2 Christliche

Wertbindung

Das wichtigste und als erstes zu untersuchende Element des Ordnungsmodells der Wert- und Charakter-Elite stellt selbstverständlich die Wertbindung der Elite-Individuen dar. Angesichts der Bedeutung religiöser Deutungsmuster

73

) Harald von Rautenfeld (Aussprache), in: L016, S.34; Zahrnt: Elitebildung. ) Röpke: Die Massengesellschaft und ihre Probleme, S. 37.

74

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

während der ersten Nachkriegsdekade ist es kaum verwunderlich, dass bis zum Ende der 1950er Jahre die Bindung an eine dezidiert christliche Ethik im Vordergrund der Diskussion stand. Die Koppelung der Elite-Zugehörigkeit eines Menschen an seine Bereitschaft, nach christlichen Werten zu leben: Dieser Topos findet sich verständlicherweise am häufigsten bei Theologen, die sich an der Diskussion über das „Eliteproblem" beteiligten, und bei einigen der Kirche besonders nahestehenden Autoren. Sie legten zunächst besonderes Gewicht auf das Moment der Wertbindung im Allgemeinen: „Elite kann niemals ein wertfreier Begriff sein", hieß es in der Vorbemerkung zur Tagung „Elitebildung - Eine Aufgabe der höheren Schule?" der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr im Mai 1956.75) Und die Haupttagung der Männerarbeit der Evangelischen Kirche Deutschlands stellte 1958 fest: „Unter Elite verstehen wir die Auslese derer, die ihre, ihnen von Gott gegebenen Gaben für eine Gemeinschaft einsetzen. Keine Gemeinschaft kann den Dienst solcher Eliten entbehren", eine Definition, der sich auch das Treffen des Leiterkreises der Evangelischen Akademien 1958 anschloss.76) Die christlichen Wertbindung sollte jedoch nicht lediglich verstanden werden als ein Versuch der Rechristianisierung; sie sollte vor allem eine echte Elite von einer bloß auf ihre Macht fixierte Gruppe der Herrschenden, von einer „Herrschenden Klasse", unterscheiden.77) Der wohl konsequenteste Versuch, unter Ausschaltung aller sozialökonomischer Kriterien das Modell einer reinen christlichen Wertelite durchzusetzen, die sich durch ihre Bindung an den christlichen Glauben konstituierte, stammt innerhalb der beobachteten Zeiträume und Orte von dem Essener Pfarrer Alfred Burgsmüller. Dieses konsequent wertorientierte, auf religiösem Heilswissen basierende Konzept veröffentlichte Burgsmüller bemerkenswerterweise in einem Medium, dessen Zugänglichkeit von vornherein einer äußerst rigiden sozialen Beschränkung unterlag, nämlich der Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft, deren Hauptaufgabe darin lag, die der Evangelische Akademie Hermannsburg/Loccum nahestehenden nordrhein-westfälischen Unternehmerkreise über das Tagungsgeschehen hinaus mit Diskussionsmaterial zu versorgen und dauerhafter an die Akademie zu binden. Insofern fügte sich sein Beitrag auch außerordentlich passend in jenes Netz von Gemeinplätzen, deren semantische Funktion darin bestand, soziale Gegensätze zu verkleinern bzw. zum Verschwinden zu bringen. Sein Entwurf von „Gottes Elite" verzichtete auf jegliche Bestimmung durch soziale Merkmale. Burgsmüller konstatierte ein allgemeines Suchen nach ei75

) (Vorbemerkung), in: M004, S. 1. ) Zitiert nach Gunther Backhaus: Elite oder Führungsschicht. Ein Problem der pluralistischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 3.1959, S. 364-75, hier S.369. 77 ) Johannes Doehring: Die Frage der Elitebildung in der Nachkriegsgesellschaft (Aussprache), in: L009, S.2. 76

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

157

ner Elite von „Persönlichkeiten", „die mit ihrem Charakter und ihren Gaben die Hoffnung geben, dass sie aus der Vermassung des Fühlens, Denkens und Handelns herausführen." Diese Elite-Persönlichkeiten waren zwar zunächst durch ihren Charakter bestimmt und zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht nur eigensüchtige materielle Interessen verfolgten. Doch vor allem öffnete Burgsmüller seinen Elite-Begriff gegenüber jedem Menschen, der bereit sei, sich „von Gottes Wort erfüllen zu lassen ... [der] bereit ist, die Weisungen seines Geistes zurücktreten zu lassen, auf seine Maßstäbe und Wertungen zu verzichten." Burgsmüller war sich bewusst, dass diese Offenheit der als „Kindschaft Gottes" bezeichneten christlichen Elite in einem gewissen Widerspruch zum herkömmlichen, wenn auch noch wenig fixierten Elite-Begriff stand: „Elite ist der Idealfall des Menschen. Kinder Gottes sind - nach Gottes Willen - der Normalfall des Menschen. (...) Elite ist die Selbstauswahl des Menschen. Ein Kind Gottes zu sein bedeutet die Hineinnahme in göttlicher Erwählung." Allerdings konnte Burgsmüller weder etwas darüber sagen, auf welche Weise die Kinder Gottes denn auf ihre Umwelt Einfluss zu nehmen vermöchten und welche Beziehung zwischen Elite und Macht denn bestünden, noch darüber, wie aus Kindern Gottes eine integrierte und handlungsfähige soziale Gruppe entstehen sollte. Er löste diese Widersprüche zwischen Wertbindung und Einflussmöglichkeiten jedoch nicht auf, sondern erlaubte es dem Leser gerade durch die Koppelung von Elite-Begriff und Glaubensbindung, im eigenen Verhalten die elitäre Sozialqualität als Mitglied einer christlich gebundenen Wertelite anzustreben. In ihrer konsequentesten Ausformulierung lief das Konzept einer christlichen Wertelite ohne sozialökonomische Qualifikation daher auf die sozial neutralste Bestimmung des Elite-Begriffs hinaus. Wenn die reine christliche Wertbindung die Elite - als „Kinder Gottes" - konstituierte, stand die Elitezugehörigkeit in sozialer Hinsicht tatsächlich jedermann und jederfrau offen. 78 ) In eine ganz ähnliche Richtung argumentierte übrigens wenige Jahre später der Jenenser Theologie-Professor Gerhard Gloege, der in den 1950er Jahren mehrfach in Westdeutschland über „Wesen und Bildung von Elite" (sie!) Vorträge hielt und diskutierte, unter anderem in Tübingen mit Arnold Bergstraesser, in der Evangelischen Akademie Bad Boll und auf dem Evangelischen Studententag in Stuttgart. 79 ) Gloege beschäftigte sich ausführlich mit dem gleichen Problem wie Burgsmüller, nämlich dem Zusammenhang zwischen Gottes Auswahl des Volkes Israel, dem Status kirchlicher Gemeinden und dem (neuen) Elite-Begriff. Für unsere Fragestellung genügt hier der Hinweis auf Gloeges Grundannahme und Ausgangsposition: Gott handelt auf Erden durch die von ihm ausgewählte Elite. Daraus ergab sich folgerichtig die normative Bindung dieser Elite Gottes an die „Wahrheit" des christlichen Glaubens

78

) Alfred Burgsmüller: Gottes Elite, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, Η. 1, S.2-5. ) Gloege: Elite.

79

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

und an das christliche Zusammenleben der Menschen. 8 0 ) Auch für Gloege war der Elite-Begriff ausdrücklich sozialneutral: „Elite ist kein aristokratischer Begriff - jedenfalls nicht im Sinne des humanen Denkens." 8 1 ) Kehren wir noch einmal zu Burgsmüller zurück. Mit seinem Text hatte die Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft 1955 eine ganze Diskussionsreihe zum Thema „Elite" eröffnet, die für die dezidiert protestantische Diskussion durchaus beispielhaft war, nicht zuletzt, weil sich zahlreiche Mitdiskutanten auch außerhalb der Zeitschrift, doch im Umfeld der Evangelischen Akademien zu diesem Gegenstand äußerten. In dieser Debatte nahm Burgsmüller den Standpunkt der sozialneutralen Elite-Definition ein. Die übrigen Autoren in Der Mensch in der Wirtschaft bezogen allerdings andere Positionen. Den Auftakt machte der Hamburger Historiker Gustav Adolf Rein. Dieser propagierte in der Zeitschrift kein Konzept einer christlichen Wertelite, sondern ein durch und durch antidemokratisches und antiaufklärerisches Konstrukt, das er in der sozialbiologistischen Sprache völkischer Ideologien der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck brachte. 82 ) Er bezeichnete den „Zusammenbruch" von 1945 als „doppelte Katastrophe: Nationale Entmachtung und soziale Umwälzung". Zu der „sozialen Umwälzung" zählte er sicherlich auch seinen eigenen Lehrstuhlverlust wegen seiner tiefen früheren Bindung an den Nationalsozialismus. Rein suchte in dem Aufsatz nach „Ordnungszellen", die die „Erreger" im „desorganisierten und kranken Volkskörper ... unschädlich" zu machen in der Lage wären. Diese „Ordnungszellen" fand er in Familie und Kirche. Daneben identifizierte er eine Reihe von historischen Eliten, nämlich den Adel und kirchliche Orden. Für die Gegenwart forderte er die Bildung einer „Verantwortung tragenden Schicht, einer eigenständigen organisch in das Ganze eingefügten Elite". 8 3 ) Das bedeutete nichts weniger als die Suspendierung elementarer demokratischer Partizipationsrechte, denn die „Verantwortung tragende Schicht", das heißt diejenige soziale Gruppe, deren Macht und Einfluss hier mit dem Verantwortungs-Topos euphemisiert wurde, sollte „eigenständig" in die Geschehnisse eingreifen, wohingegen „ein von unten gewähltes Funktionärstum ... eine eigenständige Elite (nicht) hervorbringen" könne. Reins Elite-Modell bestand in einer Machtelite avant la lettre, deren Mitglieder in ihren Entscheidungen vor allem frei von demokratischen Kontrollen sein sollten. Die religiöse Dimension - und hier zeigt sich Rein ganz in der Tradition der völkischen Konservativen der Weimarer Republik - spielte dabei als konstituierender Bezugspunkt nur eine untergeordnete Rolle.

80

) Gloege: Elite, S. 98/99, S. 76/77, S. 120. ) Ebd., S. 99. 82 ) Gustav Adolf Rein: Eliten - geschichtlich gesehen, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, Η. 1, S.6-15. 83 ) Rein: Eliten - geschichtlich gesehen, S. 12. 81

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

159

Mit diesem Konzept präsentierte Harald von Rautenfeld, der Schriftleiter von Der Mensch in der Wirtschaft, einen diametral entgegengesetzten Entwurf zu Burgsmüllers sozialneutraler Elite der „Kinder Gottes", nämlich ein Modell, in welchem „Elite" nurmehr eine Apologie undemokratisch herrschender Schichten oder Klassen darstellte. Noch deutlicher drückte es ein anderer Autor im folgenden Heft von Der Mensch in der Wirtschaft aus, nämlich kein geringerer als der kurze Zeit später zum Leiter der nordrhein-westfälischen Landeszentrale für Politische Bildung (zunächst: „Staatsbürgerliche Bildungsstelle") berufene Hermann-Josef Nachtwey. 84 ) Sein Text war kein Originalbeitrag, sondern ein Ausschnitt aus einem ein Jahr zuvor gehaltenen Vortrag, den Rautenfeld glaubte seinen Lesern nicht vorenthalten zu dürfen. 85 ) Nachtwey forderte die Bildung einer „Schicht von nicht auswechselbaren Persönlichkeiten ... die charakterlich, geistig und fachlich erstklassig" sein sollten. Den Terminus der „nicht auswechselbaren Persönlichkeiten" wiederholte Nachtwey gleich darauf noch einmal, um zu zeigen, wie ernst ihm dieser Gedanke einer Elite war, deren Machtposition oberhalb und außerhalb demokratischer Kontrollen verankert sein sollte, um als „Trägerin der Geschichtlichkeit eines Volkes" fungieren zu können. Auch Nachtweys Konzept kam im Kern ohne christliche Wertbindungen aus; erst zum Schluss der abgedruckten Stelle empfahl er - ganz auf Rautenfelds Linie - „bruderschafts- oder ordensähnliche Gemeinschaften" als Orte der Elitebildung. 86 ) Immerhin erschienen beide Texte, derjenige Reins wie dieser aus der Feder Nachtweys, in einem dezidiert religiösen Kontext, nämlich in einer Zeitschrift, die sich bemühte, religiöse Inhalte in die „Welt" zu tragen, die sich also an der Schnittstelle zwischen Amtskirche und den Gläubigen befand. Aus diesem Grund gehören auch die beiden hier vorgestellten „säkularen" Elite-Konzepte in den Diskussionszusammenhang der christlichen Wertelite bzw. des Topos von der notwendigen christlichen Wertbindung einer jeden Elite. In diesem Diskussionszusammenhang stellten beide Texte zunächst Gegenentwürfe zu den weitgehend sozialneutralen Vorstellungen Burgsmüllers und Gloeges dar, um die weitere Debatte voranzutreiben. Rautenfeld sah seine Arbeit ganz als Weiterführung des „Gesprächs" der Akademien, als er das erste Heft zum Elite-Thema mit den Worten einleitete, „die Problematik der Elite (solle) von verschiedenen Standorten her angeleuchtet werden. Das geschieht in den vier Beiträgen fast in der Form eines Rundgesprächs in einer Evangelischen Akademie." 87 ) Allerdings mutete Rautenfeld seiner industriellen Leserschaft keineswegs die Lektüre des ganzen Spektrums der mittlerweile zirkulierenden Elite-Entwürfe in seiner ganzen Breite zu: Weder die prononciert „wertfreien" Modelle

Hermann-Josef Nachtwey. Das Problem der Elite, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, H. 2, S. 27/28. 85 ) Nachtwey: Das Problem der Elite in der Gegenwart. 86 ) Nachtwey. Das Problem der Elite, S.28. 87 ) Harald von Rautenfeld\ Eine Bitte, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, Η. 1, S. 1.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

der „machiavellistischen" Schule noch Stammers Entwurf einer wirklich demokratischen Elite finden sich in Der Mensch in der Wirtschaft auch nur in Spuren. Die Auswahl der hier präsentierten unterschiedlichen Ansätze war also ziemlich eingeschränkt. Es erstreckte sich von Modellen, die vorrangig auf der religiösen Bindung der Eliteindividuen aufbauten und auf soziale Kriterien weitgehend verzichteten, bis hin zu solchen, die vor allem die Charakterqualitäten der Elite betonten und die Elite als eine feste soziale Gruppe innerhalb der Herrschenden Klasse (oder: der „Führungsschicht") ansahen. Die Logik dieser Modelle folgte einem einfachen Muster: Je höher die religiöse Wertbindung veranschlagt wurde, desto sozial offener wurde die Elite konzipiert, je wichtiger die Charakterqualitäten veranschlagt wurden, desto sozial eingeschränkter wurde der Zugang zur Elite gedacht bzw. desto stärker wurde „Elite" zu einem Synonym für die Gruppe der Herrschaftsträger. Dies gilt beispielsweise für den Artikel des Direktors der Evangelischen Akademie Hofgeismar, Werner Jentsch. Auch er sah den Gegensatz zwischen der mit dem Elite-Begriff verbundenen Auslese einiger weniger und dem Heilsversprechen des Christentums für alle Menschen. Und wie Burgsmüller ließ auch Jentsch diesen Widerspruch offen; er schloss allerdings mit einem Aufruf zur Elitebildung durch Erziehung in Kirche (an den Evangelischen Akademien), Schulen und Hochschulen und in der Politik durch Einführung einer „Zweiten Kammer" durch eine Grundgesetzänderung. 88 ) Damit verband Jentsch das Modell der sozial determinierten Charakter-Elite mit der ultrakonservativen Forderung nach einer antidemokratischen Grundgesetzänderung zur Schaffung einer politischen Elite jenseits demokratischer Delegations- und Kontrollverfahren. Im Wesentlichen auf dieser Linie hatte bereits ein Jahr zuvor der Düsseldorfer Pfarrer Will Praetorius in der Zeitschrift Kirche in der Zeit argumentiert.89) Ihm gelang es, in dem kurzen Aufsatz „Zur Diskussion um das Problem der Elite" nahezu alle damals gängigen Elemente der Elite-Doxa, zu Schlagworten verkürzt, auf weniger als drei (großen) Textseiten zu versammeln: Die Gefahr der Vermassung, die Notwendigkeit der Verantwortung, Autorität, Persönlichkeit, Vorbild und Führung, mittelalterliche Ritter als historische Elite und vor allem die Konzeption der Elite als der legitimierte Teil der Herrschaftsträger. Wirklich originell war allenfalls die offene Geringschätzung der von Fachsoziologen beigesteuerten Ideen zum Elite-Denken, die sich vor allem gegen einen weniger auf Wertorientierung als auf Leistungskriterien basierenden Elite-Begriff richtete. Alle diese Einzelbeiträge erhielten ihre Bedeutung erst innerhalb des übergreifenden Erörterungszusammenhanges der Debatten in Der Mensch in der Wirtschaft und der Gespräche an der Evangelischen Akademie Hermanns-

88

) Jentsch: Evangelium und Elite. ) Praetorius: Zur Diskussion um das Problem der Elite.

89

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

161

burg/Loccum. Hier bestand bis gegen Ende der 1950er Jahre eine der engsten Verbindungen zwischen Intellektuellem Feld und dem Raum der Unternehmerschaft überhaupt. Die Folge war, dass die Elite-Doxa in Form der christlichen Wertelite in den Raum der Unternehmerschaft getragen wurde. Tatsächlich sprachen nicht wenige Unternehmer gerade auf dieses Elite-Konzept an. Eine christlich gebundene Elite nach dem Modell der Jünger Jesu - dieses Modell erweckte den Anschein sozialer Indifferenz, weil es keiner materiellen Voraussetzungen bedurfte, um sich durch einen bloßen (allerdings fortgesetzten) Willensakt zu dieser Gemeinschaft zu bekennen. 90 ) Und obendrein wurde die Kategorie der Herrschaft nicht nur in den Hintergrund gestellt, sondern durch die Rhetorik des „Dienens" sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Der „Dienst" verwirklichte auch die strikte Trennung zwischen Elite und NichtElite, zwischen christlich Gebundenen und ideologisch Gebundenen, zwischen Jüngern und Philistern. Der Loccumer Studienleiter Adolf Wischmann propagierte dieses Konzept auf mehreren Loccumer Tagungen mit Führungskräften aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik, 91 ) und auch der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder griff den Dienst-Gedanken auf. 92 ) In diesen Zusammenhang gehört auch die vor allem von Wischman und dem bereits erwähnten zeitweiligen Loccumer Mitarbeiter Harald von Rautenfeld propagierten Idee, eine neue Elite in Form einer ordensähnlichen Gemeinschaft aufzubauen. 93 ) Dieses Projekt bildete eine konsequente praktisch-organisatorische Umsetzung des Modells der christlichen Wertelite. Auch in der Schrift des Theologen Heinz Zahrnt „Probleme der Elitebildung" taucht dieser Topos auf, wenn auch nur als einer unter mehreren. 94 ) Neben all diesen kirchlichen Stimmen stellt sich die Frage, wie weitverbreitet unter den kirchlich weniger gebundenen Intellektuellen diese Vorstellung von einer christlichen Elite überhaupt war. Sie findet sich beispielsweise bei dem Physiker Pascual Jordan, 95 ) der in den frühen 1950er Jahren zahlreiche

„Eliten entstehen dort, wo Menschen bereit sind, eine verbindliche Ordnung auf sich zu nehmen und verantwortlichen Dienst zu tun. Die Freiheit dazu hat jeder." Redaktionelle Einleitung zum Themenheft „Elite", in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, Η. 1, S. 1. 91 ) Adolf Wischmann (zur Außenarbeit), in: L011, S.3/4, hier S.3. 92 ) Schröder: Elitebildung und soziale Verpflichtung, S. 16. 93 ) Vorbilder waren die Baltische Bruderschaft und die Michaelsbruderschaft, auf die sich auch Erwin Rack bezog. Haebler: Geschichte der Evangelischen Michaelsbruderschaft. Adolf Wischmann: Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft, in: L014,S. 2-5, hier S.3. 94 ) Zahrnt: Elitebildung, S. 26-28. 95 ) Jordan, geb. 1902, war Ordinarius für theoretische Physik an der Universität Hamburg. Über Jordans sozialphilosophisches „Hauptwerk" „Der gescheiterte Aufstand" aus dem Jahr 1956 vgl. Lenk: Deutscher Konservatismus, S. 262-^65. Jordan hielt in den frühen 1950er Jahren wiederholt Vorträge in Loccum und stellte auf diese Weise eine Verbindung zwischen der Evangelischen Akademie und breiteren intellektuellen, v.a. naturwissenschaftlich interessierten Diskussionskreisen her, z.B.: Pascual Jordan: Der Mensch im Weltbild der modernen Naturwissenschaften, in: L002, S. 6-7; ders.: Das Physikalische

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Aufsätze in der Universitas veröffentlichte, in denen er eine Brücke zwischen Physik, Religion und Zeitkritik zu schlagen versuchte, und auf den wahrscheinlich auch das unter dem Pseudonym Erwin Rack erschienene Buch „Das Problem der Elite" zurückgeht, 96 ) in dem die Ausbreitung dieses Topos einen breiten Raum einnimmt. Unter der Kapitelüberschrift „Christentum und Herrschaft" träumte Rack darin „von der Zeit, wo die Bezeichnung ,νοη Gottes Gnaden'" der Herrschaft noch eine wirksame Legitimation verschafft hatte, und dekretierte, „dass in Europa nur der christliche Mensch befugter und berufener Regierender gewesen ist und künftig sein kann". Dieses Manifest eines antiquierten Konservatismus war derart antiegalitär und antidemokratisch, antiwestlich und antimodern, dass die ernsthafte Rezeption, die ihm in den frühen 1950er Jahren tatsächlich widerfuhr, fast schon verwundert. Jordan jedenfalls hatte bereits Ende des Jahrzehnts sein intellektuelles Kapital aufgezehrt, und seine Aufsätze erschienen nicht einmal mehr in der Universitas, auch und vor allem nicht in dem von Hans Walter Bähr herausgegebenen Sammelband dieser Zeitschrift. 97 ) Darüber hinaus beriefen sich auch einige CDU-Politiker gelegentlich auf den Topos der notwendigen christlichen Wertbindung einer Elite. Die Aufnahmebereitschaft zahlreicher Unternehmer für das Modell einer christlichen Wert- und Charakter-Elite wurde bereits erwähnt. Dagegen bedienten sich die Sozialwissenschaftler, die sich in den 1950er und 60er Jahren mit dem Gegenstand Elite aus durchaus unterschiedlichen Perspektiven näherten, seiner in keiner Weise, auch wenn sie dieses Konzept zunächst nicht offen attackierten. All dies lässt den Schluss zu, dass der Topos von der notwendigen christlichen Bindung einer Elite einen wichtigen Einsatz in den Auseinandersetzungen der 1950er Jahre um die Durchsetzung eines neuen sozialen Ordnungsmodells darstellte. Den Theologen, die sich an diesen Debatten beteiligten, ging es mit dem Modell der christlichen Wertelite nicht zuletzt um die Suprematie ihrer Kompetenz in den Deutungen der sozialen Welt, während die Mehrheit der religiös nicht gebundenen Intellektuellen diesem Deutungsan-

Weltbild der Gegenwart, in: L008, S.4-8; ders.: Versuche zur Verwirklichung einer verantwortlichen Gesellschaft auf dem Gebiet der Wissenschaft, in: LOH, S. 11-15; ders.: Das Einfluss der Naturwissenschaften auf das Denken unserer Zeit, in: L020, S.4-9; ders.: Anbruch und Wesen des Atomzeitalter, in: L041, S. 16-22. Außerdem schrieb er mehrfach für die Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft. Jordan: Probleme der Elitebildung, ebd.; ders.: Brauchen wir eine neue Ideologie?, in: Der Mensch in der Wirtschaft 6.1956, H. 2, S. 17-23. Ganz ähnlich auch seine Aufsätze in der Universitas: Die Stellung der Naturwissenschaft zur religiösen Frage (1946); ders.: Die Messung der historischen Zeit (1955). 96 ) Rack: Das Problem der Elite, S.35, S.38; vgl. Wischmann: Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft, S.3. 97 ) Der Herausgeber der Universitas, Hans Walter Bähr, erklärte 1958 gegenüber seinem Kollegen bei der Gegenwart, Benno Reiffenberg, „die Erfahrungen mit den Arbeiten Jordans" seien „in den letzten Jahren ... weniger positiv" gewesen. Bähr über Jordan an Merkur in DLA, NL Reifenberg, Die Gegenwart, Korrespondenz, Briefe von Hans Walter Bähr an Reifenberg, Universitas/Bähr an Die Gegenwart/Reifenberg (2.4.1958).

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

163

Spruch zwar nicht offen entgegentrat, ihn aber auch nicht unterstützte. Dieser unausgesprochene gegenseitige „Nichtangriffspakt" behinderte nicht etwa, sondern förderte sogar die Ausbreitung des Konzepts Wert- und CharakterElite und damit die Durchsetzung der Elite-Doxa. Denn zum einen eröffnete sich in dieser Konstellation die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Vorstellungen einer wertgebundenen Elite zu propagieren, ohne eine kontroverse Klärung der Positionen, die diese spezifischen Unscharfen zerstört hätte, herbeiführen zu müssen. Dies vergrößerte die potenzielle und aktuelle Basis für ihre Verbreitung, weil aus ganz unterschiedlichen intellektuellen Neigungen eine Affinität zu diesem Modell erwachsen konnte. Und zum anderen konnten beide Seiten, die religiöse und die weltliche, bis etwa 1960 hoffen, dass jeweils ihre eigenen Entwürfe die Oberhand gewinnen würden, und warben daher fortgesetzt für ihre Entwürfe. In dieser Konkurrenzsituation trieb die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozial neutralen Wertmodellen und sozial exklusiven Charakter-Konzepten die intellektuelle Produktion fortwährend an. Es ist verhältnismäßig einfach, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Vorstellung von der christlichen Wertbindung als Elite-Qualität aufhörte, zu den treibenden Kräften der Entwicklung neuer Elite-Konzepte zu gehören, denn dieses Ende fällt zusammen mit der Auflösung der Rahmenbedingungen für die intellektuellen Auseinandersetzungen, wie sie in den 1950er Jahren dominiert hatten, das heißt mit dem weitgehenden Verlust der starken Position der Amtskirchen, Theologen und religiösen Topoi im Intellektuellen Feld. Im Jahr 1959 veröffentlichte der Pfarrer Gunther Backhaus im 3. Jahrgang der Zeitschrift für Evangelische Ethik, dem neuen intellektuellen Flaggschiff der Evangelischen Kirchen (die ZfEE kam von allen hier ins Blickfeld genommenen evangelischen Zeitschriften dem Standard eines Qualitätsmagazins im Literarisch-Politischen Feld am nächsten, und unter ihren Autoren finden sich prominente Intellektuelle und zahlreiche Referenten der beiden Evangelischen Akademien), einen Aufsatz unter dem Titel „Elite oder Führungsschicht?", in dem er „im Rahmen der Ethik" der Frage nachging, „ob Elite heute möglich und erwünscht ist [und] wie sie nach evangelischem Verständnis aussehen müsste". 9 8 ) Diese Fragestellung entsprach noch ganz dem zur Mitte des Jahrzehnts vorherrschenden Horizont. Die Vorgehensweise von Backhaus war jedoch neu, denn er konzentrierte sich im Wesentlichen darauf, die Argumentationslinien der wichtigsten kürzlich erschienenen Literatur zum Thema zu vergleichen, auf Widersprüche hin zu prüfen und nach Abwägung der Ergebnisse die Ausgangsfrage zu beantworten. Neben oder sogar vor das Aufstellen normativer Aussagen durch das Hinzufügen weiterer Deutungen hatte sich damit die (tendenziell wissenschaftlichen Regeln folgende) Analyse der aktuell zirkulierenden Argumente und Behauptungen geschoben. Normative Aussagen, die ansonsten den Kern der Beiträge über christliche Werteliten zu

98

) Backhaus: Elite oder Führungsschicht, S.364.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

bilden pflegten, vermied Backhaus weitgehend. Schon vom Genre des Textes her hatte sich die Diskussion über religiöse Bindungen damit säkularisiert. Die beiden Schriften, die Backhaus hauptsächlich untersuchte, waren das erwähnte Büchlein von Heinz Zahrnt über „Probleme der Elitebildung" und der Tagungsband der Ranke-Gesellschaft über „Führungsschicht und Eliteproblem". Daneben zog er Arbeiten von Helmut Schelsky, Otto Stammer, Alfred Weber, Hans-Joachim Schoeps und Gaetano Mosca heran. Damit ignorierte Backhaus souverän die Debatte in Der Mensch in der Wirtschaft, und er konnte dies umso eher tun, als seine Wissbegierde eben auf Argumentationslinien statt auf normative Aussagen (aus denen die Aufsätze der Essen-Loccumer Zeitschrift im Wesentlichen bestanden) gerichtet war. Das ganze Verfahren signalisiert die Abkehr von religiös-deutenden Interessen und Denkweisen. Und in der Tat handelte es sich bei seinem Aufsatz um die letzte und in ihrer intellektuellen Anstrengung konsequenteste, klarsichtigste und kompetenteste Auseinandersetzung mit dem Gegenstand einer christlich fundierten Elite. In einer subtilen Deduktion schloss Backhaus dabei unter anderem auf Unklarheiten in Zahrnts Verwendung des Gedankens der Prädestination, dem ein „romantisch gefärbter Vorsehungsglaube" zu Grunde liege. Erst durch diese Unklarheiten werde „Elite theologisch denkbar". 99 ) Dies war ein durchaus bemerkenswerter Gedankenschluss - die christliche Wertelite als Produkt eines Missverständnisses - , doch Backhaus ging noch einen Schritt weiter: In unausgesprochener Übereinstimmung mit Otto Stammer und Alfred Weber (auf beide wies er an anderer Stelle hin) kam auch er nach kritischer Prüfung der vorliegenden Elite-Theorien zu der Schlussfolgerung, dass Wert- und Charaktermodelle mit einer demokratischen Ordnung nicht zu vereinen seien. Allerdings zog Backhaus aus dieser Überlegung - über Stammer und Weber hinaus - auch die letzte Konsequenz und lehnte den Elite-Begriff überhaupt ab: „Der Begriff der Elite gehört heute streng genommen zum Weltanschauungsstaat. Eine präzise Definition kann nur gegeben werden, wo eine Gesellschaft von einer bestimmten Doktrin beherrscht ist. Zur Elite gehört dann, wer der Doktrin in Anschauung, Fähigkeit, diese zu vertreten, und Lebensführung am nächsten kommt. Die alten Geburtsprivilegien eines mittelalterlichen Ständestaates sind zu Gesinnungsprivilegien geworden. Wertelite kann es nur in totalitären oder hierarchisch organisierten Staaten geben. Die Bundesrepublik ist kein solcher. Wer aber einer politischen Elite das Wort redet, muss sich darüber im klaren sein, dass er auf dem Wege ist, sie zu einem Weltanschauungsstaat zu machen, und sei es unter einem angeblich christlichen Vorzeichen." 100 )

Damit lancierte ausgerechnet ein evangelischer Pfarrer einen der entschiedensten, kohärentesten, klarsichtigsten und die Literatur am souveränsten behandelnden Angriff auf die Elite-Doxa, der während des Untersuchungszeitraums zu finden ist. Backhaus - und das hebt seinen Aufsatz endgültig aus dem intellektuellen mainstream der 1950er und selbst der frühen 60er Jahre

") Backhaus: Elite oder Führungsschicht, S.372. 10 °) Backhaus·. Elite oder Führungsschicht, S. 373.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

165

hinaus - schloss mit einem Bekenntnis zur pluralistischen Gesellschaft, in der eine wie auch immer bezeichnete „Elite" seiner Analyse nach keinen Platz habe. D e n n o c h verschwand das Modell der christlich gebundenen Wert-Elite keineswegs vollkommen aus dem R a u m möglicher Aussagen, wurde jedoch zusehends darauf verengt, einen Bestandteil demokratiefernen konservativen Meinungswissens darzustellen. Ein gutes Bespiel dafür gibt das Referat des Militärpfarrers Otto von Huhn auf einer Loccumer Tagung im Jahr 1965, also am E n d e des Untersuchungszeitraums. Huhn „schlug als Arbeitstitel für die Charakteristik der Führung den Begriff der kulturellen Führung vor. (...) Führende sind immer eine Minderheit gewesen. (...) Die kulturelle Führung im weitesten Sinn liegt in den Händen weniger Persönlichkeiten, die in den Reihen der Dichter, der Philosophen, der Industriellen, der Soldaten und der Politiker zu finden sind. Die Demokratie, in der wir leben und die wir auf weite Strecken bejahen [sie!], stellt uns vor folgendes Problem: Wir wollen erreichen, dass der größte Teil der Staatsbürger sich zu gemeinschaftlichem Handeln bewegen lässt, um ein Optimum in bezug auf das moralische Klima herzustellen. Dazu bedarf es aber inmitten der Masse eines Kernes schöpferischer Menschen. So stellt sich die Demokratie als ein Erziehungs- und Eliteproblem dar. (...) Die Elite des Neuen Testaments ist die Gemeinde. Diese hebt sich von der alttestamentarischen Gemeinde dadurch ab, dass es kein Geburtsrecht gibt, das den einzelnen berechtigt, sich zur Elite zu zählen. Die neutestamentliche Gemeinde besteht aus Männern und Frauen, die herausgerufen worden sind aus der Masse. Der einzelne, der herausgerufen worden ist, gehört zur Elite. Elite ist das, was sie ist durch ihr Gegenüber, also durch den, der sie herausgerufen hat. Die Elite in diesem Sinne ist nicht Subjekt, sondern Objekt, denn in der Elite handelt ein anderer. Die Elite ist also ein Hinweis auf den, der eigentlich handelt. Die Neukonzeptierung [sie!] des Elitegedankens ist zweifellos eine Aufgabe, die uns gestellt ist, und ich meine, dass wir die Aufgabe lösen können, wenn wir das Bild der neutestamentlichen Gemeinde und die Art und Weise ihres Zustandekommens vor uns haben. (...) Diese Eliten behalten nur so lange ihr soziales Prestige, wie sie auch den anderen Führungskräften Platz lassen aufzusteigen und gleichzeitig bereit bleiben, ungenügende Angehörige aus ihren Reihen auszuschließen. Eliten zerfallen, wenn sie ihre Stellung monopolisieren. (...) So ist man gehalten, den Führungsauftrag von Gott zu empfangen." 101 ) A n Huhns Ausführungen wird deutlich, wie die Idee einer christlichen WertElite v o m Versuch, nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur eine humane symbolische (und soziale) Ordnung zu begründen, zur Rechtfertigungslehre der Monopolisierung sozialer Macht herabsank. Im G e gensatz zu den Beiträgen der 1950er Jahre, die darauf abzielten, ein „elitäres" Arrangement mit der D e m o k r a t i e zu etablieren, und die auf diese Weise dazu beitrugen, weite Teile des demokratieskeptischen Konservatismus in die repräsentative D e m o k r a t i e zu integrieren, diente dieses Elite-Konzept jetzt lediglich dazu, Machtprivilegierungen gegen deren Demokratisierung zu verteidigen.

101

) Otto von Huhn: Freiheit zur Führung, in: LI08, S. 23-28, Zitat S. 27/28.

166

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

2.23 Askese Das weltliche Gegenstück zum Modell der christlichen Wertelite bildete der Topos von der Askese, in der die Mitglieder einer Elite leben müssten. Seiner bedienten sich überwiegend diejenigen Intellektuellen, die theologischen Deutungsansprüchen eher fern standen. Doch war dieser Topos offenbar attraktiv genug, um auch in den Diskussionen an den Evangelischen Akademien Einzug zu halten. Der wichtigste hier zu nennende Autor ist ohne jeden Zweifel Arnold Gehlen. 102 ) Gehlen hatte bereits in seinem anthropologischen Hauptwerk den „Asketismus ... zu den ganz fundamentalen Erscheinungen der geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner eigenen Konstitution" erklärt, 103 ) doch erst nach 1945 - im Zusammenhang mit seiner nun entwickelten Institutionen-Lehre - bettete er den Askese-Topos in seine Deutung moderner Industrie-Gesellschaften ein. Nun propagierte er den „Ausweg der Askese" - und zwar als einzigen Ausweg - aus der „Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit".104) Dabei konstruierte er zunächst einen Gegensatz zwischen der „Pleonexie" der Massen einerseits und der „Askese" der Elitepersönlichkeit andererseits. Den Begriff „Pleonexie" übernahm er aus den Diskussionen der Zwischenkriegszeit, genauer von Max Scheeler, dessen „Philosophischer Anthropologie" er sich verpflichtet fühlte. 105 ) Der Gegensatz zwischen der Pleonexie der Massen und der Askese des Elite-Individuums wurde damit konstitutiv für die „weltliche" Definition der Wert- und Charakter-Elite: „Das Wort Pleonexie bedeutet gleichzeitig Begehrlichkeit, Anmaßung und Herrschsucht. (...) Man kann es zu einer Definition der Masse benutzen ... Gleichgültig, welche Bildung oder soziale Stellung der einzelne hat: zeigt er Pleonexie, so gehört er zur Masse, während umgekehrt jeder zur Elite zu zählen ist, der Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich und irgendeine Vorstellung hat, wie man über sich hinauswächst."106) Scheeler (aber auch Alexander Rüstow) hatte übrigens von der „grenzenlosen Pleonexie in allen tonangebenden Gruppen" gesprochen und den Begriff damit (anders als Gehlen) zur Kritik an den Herrschenden verwendet.107) Letzterer hingegen nutzte den Terminus, um seine offene Verachtung für die Masse und ihre Lebensweise auszudrücken: „Wer in dieser Nation den Mund noch auftut, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn

102 ) Manche späteren Texte zum Askese-Topos beziehen sich derart ausschließlich auf diesen Autoren, dass sie geradezu als „Gehlen-Exegese" erscheinen, z.B. Wolfgang Böhme: Askese im evangelischen Raum, in: L060, S. 48-55. 103 ) Gehlen: Der Mensch, S.397. 104 ) Gehlen: Das Bild des Menschen, in: Merkur 6.1952, hier zitiert nach: Anthropologische Forschung, S. 55-68, S.66. 105) Vgl. Haeffner: Max Scheeler; ders.: Arnold Gehlen. 106 ) Gehlen: Sozialpsychologische Probleme, S. 24/25. 107 ) Ebd., S.80. Auch Rüstow sprach von der „Pleonexie der Oberschicht". Rüstow: Ortsbestimmung, Bd. 1 S. 189.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

167

ihm einer hineinspuckt. Neid, Verlogenheit, schlichte Unfähigkeit und Frechheit haben da ein nicht bezeichenbares Gebräu ergeben, - dieses Volk verlangt nach der Knute und wird sie bekommen, es hat sie immer mit jener Mischung auf sich gezogen. Es verdient die allgemeine Verachtung und ich finde es richtig, dass man ihm diese Verachtung gleichzeitig klarmacht und es zum Zahlen zwingt", schrieb er an den Herausgeber des Merkurs, Hans Paeschke. 108 ) Das Ausmaß dieser Verachtung unterschied ihn von den übrigen, ebenfalls durchaus konservativen Autoren, die sich damit begnügten, vor der Gefahr der Vermassung zu warnen. Nichtsdestotrotz fand der Topos von der Forderung nach einer asketischen Lebensweise der Elite vor dem Hintergrund der Pleonexie der Massen, der bei anderen Autoren entsprechend weniger scharf gezeichnet wurde, eine weite Verbreitung. Denn Gehlen beließ es nicht bei einem bloßen ressentimentgeladenen Aufruf zum Konsumverzicht; für ihn war die Askese notwendige Voraussetzung geistiger und physischer Produktivität: „Wer die Sachverhalte weiterentwickeln, wer neue Gedanken finden oder Pläne realisieren will... braucht... ein psychologisches Asyl... und das führt uns auf das Thema ,Askese'." 109 ) Die Bindung des Elite-Begriffs an die Kategorie der Askese wiederholte Gehlen mehrfach und fügte sie in das ganze Ensemble seiner Vorstellungen von der Notwendigkeit des Dienstes in „asketischer Entpersönlichung" für die dem „Mängelwesen" Mensch den notwendigen Halt gebenden Institutionen. Auf Gehlens subtile Unterscheidungen der weiteren Funktionen der Askese muss an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 110 ) Hier genügt der Hinweis, dass im Kontext dieser Werte-Diskussion einzig askesegebundene Elite-Individuen aus der seelischen Katastrophe der Massen-Gesellschaft herauszuführen vermochten: „Die ewige Revolution gegen die Bestimmung des Menschen zur Kreatur, zur harten Notwendigkeit und zu mühseligen Pflichten, diese ewige Revolution, aus der der Mensch immer natürlicher und immer schreckenserregender hervorgeht, sie wird nicht eher beendet sein, als bis irgendwelche Eliten und schöpferischen Minderheiten' die ungemeine Herausforderung annehmen, die in der konsequenten und kommandierenden, aber sinnlosen Entwicklung liegt: in dem Trend zum Wohlleben auf der Weltebene." 111 ) Damit ist schließlich die Attraktivität von Gehlens Askese-Idee weit über das Literarisch-Politische Feld hinaus bezeichnet. Die Askese hob den sie praktizierenden Menschen nicht nur durch einen legitimierten Lebensstil von der verachteten Masse ab; sie stellte überhaupt den entscheidenden Weg aus den Zumutungen der Massen-Gesellschaft dar und machte sogar das Schicksal der Menschheit abhängig vom Handeln der Wenigen, der schöpferischen Minderheit der Elite, die sich zum Leben in Askese verpflichtet hatte. In dieser 108

) ) no ) n l ) 109

D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (1.10.61). Gehlen: Urmensch, S.95. Gehlen: Urmensch, S.245; vgl. auch Thies: Krise, S.22J-29. Gehlen: Das Bild des Menschen, S.67.

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2. Orientierung durch Differenzbestiramung

Sichtweise durfte jeder in Askese Lebende legitimerweise für sich eine gesellschaftliche Führungsposition beanspruchen. Und schließlich war das Konzept der Askese-Elite nicht auf die „Gebildeten" beschränkt, sondern schloss die Funktions- und Herrschaftsträger aller sozialen Felder mit ein, alle diejenigen, die in der Lage waren, die „Sachverhalte weiter [zu] entwickeln" und „Pläne [zu] realisieren" - Gehlens Referenzpersonen waren immerhin keine Geringeren als Marx und Lenin.112) Angesichts der weiten Verbreitung des Askese-Topos über das engere konservative Spektrum hinaus variierte allerdings die Gewichtung einzelner Argumente. In weitaus weniger martialischen Worten als Gehlen und mit einem etwas stärker religiös aufgeladenen Askese-Begriff räumte ihm beispielsweise Solms eine geringere Bedeutung als Gehlen ein: „Von Askese kann man also nur dann reden, wenn die Gesinnung des Menschen angesprochen und auf bestimmte, meist transzendente Ziele gerichtet wird."113) Alexander Rüstow wandte sich gegen eine „Abwertungs- oder Verbotsaskese", forderte jedoch Askese als „Aufgabe der Lebensgestaltung für den Einzelnen und die Familie" in Form der „Absage an jede Form der Ostentation, Protzerei und vergleichendes Schielen nach dem Lebensstandard anderer", die er als „soziale Seuche" bezeichnete.114) Überhaupt zeigt sich am Askese-Topos, dass die Grenze zwischen der religiös geprägten Elite-Diskussion mit ihrem Verweis auf die notwendige christliche Bindung einerseits und den „weltlichen" Autoren andererseits nicht scharf gezogen war, sondern fließend verlief. Eine ganze Reihe von Theologen und Akademie-Mitarbeitern schloss sich Gehlens Askese-Forderung bereitwillig an, etwa der Arzt, Psychotherapeut und zeitweilige Mitarbeiter der Evangelischen Akademie Herrenalb Joachim Bodamer, der sich ausdrücklich Gehlens Überlegungen zum Zusammenhang von Elite und Askese anschloss, oder Heinz Zähmt, der sich auf „verschiedenste Geister, die eine Diagnose unserer Massen weit gegeben und über ihre Heilung nachgedacht haben", berief und den Askese-Topos mit zeitkritischen Texten von Romano Guardini, Jacob Burckhardt, Dietrich Bonhoeffer und dem Neuen Testament verknüpfte. 115 ) Es ist bezeichnend für das politisch-intellektuelle Bezugssystem dieser ganzen Diskussion, dass Bodamer auf diesen Seiten die Askese als wirksamstes Gegenmittel gegen den zeitgenössischen Konsumterror empfahl - der sich für ihn nicht wesentlich vom Terror der Konzentrationslager unterschied!116) Gerhard Gloege hingegen verwarf die Idee der Bindung des EliteBegriffs an eine in erster Linie asketische Haltung als oberflächlich, weil nicht

112

) ) 1M ) 115 ) >16) 113

Gehlen: Urmensch, S. 95. Solms: Gesellungslehre, S. 291-93, Zitat S.293. Rüstow: Ortsbestimmung, Bd. 3 S.521. Bodamer: Askese, S. 13-15; Zahrnt: Elitebildung, S. 40-42. Bodamer. Askese, S. 17/18.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

169

durch religiöses Heilswissen, sondern bloß durch diesseitige, weltliche Fragen der Selbstbeschränkung, also durch Konsumverzicht bestimmt. 117 ) Dass der Topos der Askese unter den Intellektuellen der 1950er Jahre über das konservative Milieu hinaus vorübergehend eine derartige Prominenz erlangen konnte, ist erklärungsbedürftig. Zweifellos empfanden viele von ihnen Abscheu oder Verachtung für die Konsumbegeisterung der „Massen" im Wirtschaftswunder. Doch auch sie selbst profitierten vom materiellen Wiederaufstieg. Den Schlüssel zum Verständnis dieses Topos bildet auch hier die Genese des Elite-Konzepts aus dem Geist der Massen-Doxa. Die Anmaßung der Massen, ihre Pleonexie, war von zahlreichen konservativen Intellektuellen für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht worden. Eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen schien daher nur möglich, wenn „verantwortliche Einzelne" sich auf das Gegenteil dieser Anmaßung, eben die Askese, verpflichteten. Dieser Deutung schlossen sich auch die meisten (wenn auch nicht alle) den Kirchen nahestehenden Autoren an, obwohl es sich in mancherlei Hinsicht um ein mit dem Konzept der christlich gebundenen Elite konkurrierendes Modell handelte. Neben der Vorstellung einer christlich gebundenen Elite und dem AskeseTopos existierten noch weitere Ausprägungen des Sozialmodells der Wertund Charakter-Elite. Für Intellektuelle war zweifellos die Verpflichtung auf „Kulturwerte" das attraktivste Konzept. Andererseits musste ein allzu offenes Propagieren eines solchen Elite-Modells geradezu als kollektive Selbstbeweihräucherung der Intellektuellen erscheinen (und den Pleonexie-Vorwurf gerade gegen sie selbst richten). Mit der ihm eigenen Schärfe brachte Arnold Gehlen dies zum Ausdruck: „Ich sprach noch mit keinem Intellektuellen über .Eliten' ohne zu merken, dass er sich dazurechnete. Also: Dünkel und Selbstsucht in der legitimierten Form. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass die Intellektuellen (Professoren, Journalisten, Politiker, Akademiker...) das Volk aus tiefstem Herzen verachten und sich mit den Sozialisten und Klerikalen einig sind, dass es möglichst nichts erfahren soll?", schrieb er 1957 an den Hans Paeschke. 118 ) Allerdings argumentierte Gehlen keineswegs von einem demokratischen oder emanzipatorischen Standpunkt aus, denn er fuhr fort: „Von welchem Standpunkt aus wollen Sie denn jetzt noch moralisch argumentieren, und wie würden Sie sich verhalten, wenn Ihre Tochter mit Leuten aus dem Hinterhof zusammen die Schulbank drücken sollte, und auch die im Hörsaal, bis sie erwachsen ist und einen von denen heiratet - geschweige denn mit Negern?" Daher finden sich in den entsprechenden Texten auch keine tiefergehenden Erörterungen einer „Kulturelite", also einer Elite, deren Mitglieder durch ihre Verpflichtung auf das Bewahren und Erneuern der (deutschen oder abendlän-

117 ns

) Gloege: Elite, S. 119/20. ) D: Merkur, Briefe von Amold Gehlen, Gehlen an Paeschke (1.11.57).

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

dischen) Kulturwerte auserwählt worden wäre. Direkte Hinweise auf eine derartige Selbstsicht von Intellektuellen finden sich nur en passant, etwa in dem bereits zitierten Aufsatz von Nicolaus Sombart im Ruf. Andererseits kreisten die zahllosen Ausführungen über die „Aufgabe" der „Geistigen", im Zeitalter der Massen zumindest Reste der Kultur zu bewahren, um genau dieses Ordnungsmodell. Aus diesem Grund musste die tief in der Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums verankerte Vorstellung von der ausschlaggebenden Bedeutung der „Gebildeten" für das Wohl der Gesellschaft - man denke nur an Treitschkes Bemerkung, dass „Millionen ackern und schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können" 1 1 9 ) - nur noch mit der Idee der Auslese durch Wertbindungen gekoppelt werden, um weite Teile der Intellektuellen bzw. alle diejenigen, die über eine höhere Bildung verfügten, für das Konzept der Wert- und Charakter-Elite empfänglich zu machen. Gerade weil für die Akteure im Intellektuellen Feld die Idee der zentralen Funktion der Gebildeten eine Selbstverständlichkeit darstellte, finden sich zu ihr zwar zahlreiche Hinweise, aber keine ausführlichen Darstellungen. Die besondere ideengeschichtliche Konstellation der 1950er Jahre, als zahlreiche Intellektuelle ein politisch-ideelles Vakuum und ein Vorherrschen materialistischer Orientierungen zu verspüren meinten, verstärkte die Anziehungskraft des Ordnungskonzepts der Wert- und CharakterElite noch weiter.

2.2.4 Unabhängigkeit und Verantwortung I. Nicht nur an die oben dokumentierten Werte sollte das Elite-Individuum gebunden sein, auch über besondere Charaktermerkmale musste es verfügen. Die geforderten Charakterzüge resultierten dabei unmittelbar aus der Diagnose des Massenzeitalters. Eine wertgebundene Elite, die mit persönlicher Autorität ausgestattet durch ihr vorbildliches Wirken die Massengesellschaft prägt und vor der Atomisierung und dem Zerfall bewahrt - so stellten sich die Autoren der frühen westdeutschen Elite-Diskussion eine sinnvolle soziale Neugestaltung vor. Die Auslese der Elite-Individuen konnte daher auch nicht nach sozialökonomischen Kriterien geschehen, sondern nach personengebundenen, charakterlichen Merkmalen. Eine Aufzählung der vielen einzelnen von den unterschiedlichen Autoren verlangten Charakterqualitäten wäre schier endlos. Es war bereits die Rede von einigen: Selbstkontrolle, Selbsterziehung, Selbstdisziplin, Fähigkeit zur Selbstkritik 120 ) - bemerkenswerterweise alles Eigenschaften, die sich auf das Elite-Individuum allein und nicht auf die zu prägende Umgebung beziehen. Auch dies spricht für die zahlreichen konzep-

119

) Treitschke: Der Socialismus, S.2. ) Eberhard Müller. Persönliche Initiative und Verantwortung im Kräftefeld eines Betriebes, in: BB065, S. 45-66, Zitat S.56. 120

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

171

tionellen Schwächen, die die frühen Elite-Konzepte auszeichneten. 121 ) Die zahllosen sozialen Attribute, mit denen die gesuchten Elite-Individuen im Laufe der Diskussion ausgestattet wurden, lassen sich jedoch um zwei zentrale Topoi herum gruppieren: Unabhängigkeit und Verantwortung. Bevor wir uns der semantischen Analyse des Verantwortungs-Topos zuwenden, bei dem es sich am eindeutigsten um einen Charakterzug im engeren Sinne handelte, muss eine soziale „Grundierung" vorgenommen werden. Diese Grundierung wurde bei seinem Gebrauch stets vorausgesetzt, in der Regel jedoch nicht eigens erörtert, so dass es notwendig ist, die unausgesprochenen Voraussetzungen explizit zu machen. Obwohl der Topos stets als Charaktermerkmal behandelt wurde, verwies er doch zuallererst auf die herausgehobene gesellschaftliche Position der derart Bezeichneten. Denn was bedeutet „Verantwortung" anderes als den (wert- oder zweck-)rationalen Umgang mit sozialer Macht? Und genau auf dieser Grundlage verwendeten die beiden Evangelischen Akademien den Begriff auch ganz offiziell, etwa in Vortragstiteln wie „Die Freiheit zur persönlichen Verantwortung in der Wirtschaft" - ein Vortrag auf einer Tagung für Unternehmer, die im Rahmen der Akademie darüber beraten sollten, auf welche Weise den „berechtigten Anliegen der Arbeitnehmer ... Rechnung getragen werden kann", 122 ) was zeigt, dass „Verantwortung" hier in einem ganz paternalistischen (und nicht: demokratischen) Sinne gedacht wurde „Die gesellschaftliche Verantwortung des Akademikers", „Die Verantwortung des Studenten", „Die Bildung der verantwortlichen Person", „Der Weg zu einer verantwortlichen Gesellschaft", „Aufgabe und Verantwortung der Führenden" oder „Gespräch zwischen Unternehmern und Betriebsräten" 123 ) - in letzterem am deutlichsten (eine Sektion der Tagung trug die Überschrift „Rundgespräch der Verantwortlichen"), denn Unternehmensleiter wie Betriebsräte sind ja eben durch ihre Leitungs- oder zumindest Vermittlungsfunktion gekennzeichnet. Bei der Titulatur „die Verantwortlichen" handelte es sich daher um eine euphemistische Umschreibung für Funktions- und Herrschaftsträger, in der das Konstituens ihrer Macht- und Appropriationschancen durch Betonung der moralischen Qualität in den Hintergrund gerückt und legitimiert wurde. Deshalb war es durchaus konsequent, wenn Unterneh-

m

) Der zitierte Vortrag Müllers stammt zwar aus dem Jahr 1961. Wie viele andere Intellektuelle verzichtete jedoch auch Müller darauf, das einmal entwickelte bzw. übernommene Modell im Lauf der Diskussion weiterzuentwickeln. Insofern ist sein Konzept auch 1961 noch dem frühen Diskussionsstand zuzurechnen. 122 ) BB001 (Einladungsschreiben). 123 ) Walter Bauer: Die Freiheit zur persönlichen Verantwortung in der Wirtschaft, in: BB001, S. 1-2; Waldemar Besson: Die gesellschaftliche Verantwortung des Akademikers, in: BB030, S.l-17; Erik Böttcher. Verantwortung des Studenten, in: L050, S. 33-34; Martin Gritz: Die Bildung der verantwortlichen Person, in: BB074, S. 30-32; Karlgustav Härtung: Der Weg zu einer verantwortlichen Gesellschaft, in: L011, S.4-8; Martin Haug: Aufgabe und Verantwortung der Führenden, in: BB055, S. 17-30; Rundgespräch der Verantwortlichen, in: L024, S. 18-24.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

mer und ihnen nahestehende Intellektuelle sich uneins zeigten, ob es sich bei Betriebsräten wirklich um „Verantwortliche" handelte. Dieser ideologische Schleier musste sich durch das offene Aussprechen jener semantischen Verschiebung sofort auflösen. Wohl aus diesem Grund erklärte der KlöcknerDirektor Hans-Helmut Kuhnke auf einer Tagung für junge Unternehmer im Oktober 1953 unter dem Titel „Das Wagnis öffentlicher Verantwortung": „Das Wort Verantwortung verliert schon an Bedeutung, wenn man es ausspricht (...) Verantwortung ist etwas, woran man immer denken, wovon man aber möglichst wenig sprechen sollte." 124 ) Dennoch kam Kuhnke im Verlauf seines Referats auf den Zusammenhang zwischen „Verantwortung" und „Führungsschicht" zu sprechen, und zwar in Verbindung mit Bestrebungen der „Elitebildung": „Politische und wirtschaftliche Verantwortung als Wagnis und Aufgabe ist aber ein Grundproblem. Staat und Wirtschaft benötigen eine so breite Führungsschicht, dass man daran denken muss, ein Reservoir zu schaffen, aus dem diese Kräfte genommen werden können. Nur wenn es eine Reihe Gleichgesinnter gibt, kann die politische und wirtschaftliche Verantwortung des einzelnen so fruchtbar gemacht werden, dass sie im praktischen Leben spürbar wird. Diese Gruppenbildung ganz bewusst zu fördern, ist unsere gemeinsame Aufgabe; sie muss unabhängig bleiben von der jeweiligen Regierung und auch Staatsform (sie!), wenn ein gesundes Wachstum der Gesellschaft gewährleistet werden soll." 125 )

Mit der Formulierung, dass die „Verantwortung" des Eliteindividuums (des einzelnen Angehörigen der „Führungsschicht") „fruchtbar" und „spürbar" gemacht werden sollte, markierte Kuhnke für die Zeit bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre das Maximum dessen, was über den Zusammenhang zwischen moralischen Qualitäten, sozialer Gestalt und gesellschaftlicher Prägekraft gesagt werden sollte und in Anbetracht der Vagheit der vorliegenden Eliten-Konzepte gesagt werden konnte. Die begrifflichen Überlegungen aus den grundlegenden Arbeiten Otto Stammers und Michael Freunds spielten während der ersten Hälfte der 1950er Jahre noch keine Rolle im Literarisch-Politischen Feld. Worin die Verantwortung der „Führenden", der Elite genau bestand, wurde von den verschiedenen Autoren und Referenten im Einzelnen unterschiedlich beschrieben, abgesehen davon, dass durchgehend betont wurde, die Verantwortung müsse personengebunden sein. Unternehmer betonten naturgemäß ihre Verantwortung für ihren Betrieb und darüber hinaus für die gesamte Völkswirtschaft; Intellektuelle und Professoren sahen sich verantwortlich für die kulturellen („geistigen") Grundlagen der Gesellschaft: Der Hamburger Historiker Fritz Fischer nannte es die „Verpflichtung zur Pflege und Weitergabe von gültigen Werten und Ideen". 126 ) Je nachdem, welchem Berufsfeld sie

124

) Hans-Helmut Kuhnke: Die politische und wirtschaftliche Verantwortung als Wagnis und Auftrag, in: L020, S. 18. 125 ) Kuhnke: Die politische und wirtschaftliche Verantwortung, S. 21/22. 126 ) Fritz Fischer. Die politische Rolle der Universität im 20. Jahrhundert, in: L050, S. 5-17, ZitatS. 6.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

173

angehörten, betonten sie die Wichtigkeit ihrer jeweiligen Berufsarbeit, wobei sie sich jedoch stets bemühten, deren Bedeutung für das Allgemeinwohl herauszustreichen. Das Buch „Maschine und Eigentum" des um 1950 publizistisch sehr aktiven Schriftstellers und Essayisten Friedrich Georg Jünger machte den Zusammenhang zwischen der Idee der personengebundenen Verantwortung des Eliteindividuums und des sozialökonomischen Gehalts des Verantwortungs-Topos, der so oft nur implizit blieb, dann allerdings hinreichend deutlich. In seiner Anklage der „zu planetaren Ausmaßen strebende[n] Verflechtung von Verkehrs- und Leistungszusammenhängen" lüftete Jünger nämlich jenen ideologischen Schleier über dem sozialneutral formulierten, aber nicht gedachten Entscheidungsspielraum, den jede Möglichkeit verantwortungsbewussten Handelns voraussetzt, indem er diesen Verflechtungsprozess von Arbeitsteilung und Bürokratisierung für die Zerstörung der „alleinverantwortlichen Entscheidung des unabhängigen Mannes" (sie!) verantwortlich machte. 127 ) Den Grund dafür sah er im Bedeutungsverlust des „echten Eigentums". „Echtes Eigentum" - das konnte für Jünger nur Eigentum an Grund und Boden sein, Urbild der konservativen Sozialutopien schlechthin. Verantwortung ließ sich für ihn nur in Verbindung mit diesem Privateigentum denken und ausüben. Doch „Eigentum wird heute etwas Lästiges, Beschwerliches, allen nur denkbaren Zugriffen ausgesetztes. Um Macht zu erlangen, größere Macht, als sie der Eigentümer je besessen hat, brauche ich heute keine Hazienda von der Größe eines europäischen Kleinstaates; ich tue vielmehr gut, mich mit Grundeigentum gar nicht zu beschweren." Der „Kapitalist" wurde notwendig zum „Maschinenkapitalist, wenn er gedeihen, sich ausweiten, den Umfang seines Betriebs vergrößern will [, muss er] sein eigenes Eigentum auflösen, sich als Eigentümer zurückziehen ... eben dadurch, dass er sich mehr und mehr auf die Maschinerie einlässt, einlassen muss, wenn er bestehen will." Er muss „modernisieren", „rationalisieren", „vertrusten", er wird zum „Manager", zum „Funktionär". 128 ) Diese Entwicklung meinte Jünger übrigens in Kapitalismus und Kommunismus beobachten zu können; auch in dieser Hinsicht folgte Jünger den Argumentationslinien der Massen-Doxa. Dies also war die soziale und ideelle Gestalt des gedachten Elite-Individuums: Männlich sowie durch Eigentum zur unabhängigen Entscheidung qualifiziert und damit in seinem Handeln nur seinem eigenen Wertehorizont verantwortlich - die Übereinstimmung mit konventionellen bürgerlichen Sozialmodellen liegt auf der Hand. Sichtbar werden hier auch die Anknüpfungspunkte zu zwei weiteren Diskussionskreisen, auf die im Weiteren noch zurückzukommen sein wird: Zum einen die Gegenüberstellung von positiv bewertetem Elite-Individuum und 127 ) Hier zitiert nach Karl Thieme: Verlust - und Gewinn, in: F H 5.1950, S. 670-73, Zitat S.670. 128 ) Jünger: Maschine, S. 125, S.32.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

der Negativ-Figur des Funktionärs und zum anderen die Auseinandersetzungen um eine legitime Unternehmer-Definition, die um den Gegensatz zwischen dem Eigentum und der Management-Funktion als Qualifikationskriterium kreisten. Diese Debatten zeigen übrigens, dass sich keineswegs nur Intellektuelle und Sozialwissenschaftler auf die Suchte nach neuen, auf Wertbindungen und Charakterqualitäten beruhenden Ordnungsentwürfen begaben und dass Unternehmer es als notwendig oder vielversprechend ansahen, sich des neuen Elite-Begriffs samt der dazugehörigen Topoi und Semantiken zu bedienen, dass also ein verhältnismäßig enger diskursiver Zusammenhang zwischen Intellektuellem und Ökonomischem Feld bestand. II. Die große Bedeutung des Verantwortungs-Topos während der 1950er Jahre zeigt sich besonders anschaulich an den Tagungsthemen der Evangelischen Akademie Loccum, die stets etwas „dramatischere" Veranstaltungstitel wählte als etwa die Akademie Bad Boll (dort findet sich dieser Topos dann in den Überschriften der einzelnen Referate). Eine Auswahl: „Europäische Verantwortung. Tagung für leitende Männer in der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens" (März 1950); „Das Wagnis öffentlicher Verantwortung - Leitbilder für junge Unternehmer" (Oktober 1953); „Die unternehmerische Verantwortung - ein universeller Auftrag" (März 1953); „Die Verantwortung in Macht und Ohnmacht" (September 1956); „Übernahme der Verantwortung. Tagung für junge Akademiker" (Oktober 1956). Nun sind Unabhängigkeit der Urteilsbildung und Verantwortungsbewusstsein zweifellos ganz allgemein wünschenswerte Kategorien menschlichen Handelns. Im Horizont der Massen-Doxa war jedoch nur eine Minderheit von Personen in der Lage, nach diesen Kategorien zu handeln, weil die Strukturzwänge des Massenzeitalters die Herausbildung eines derartigen Charakterbildes behinderten, wenn nicht unmöglich machten. Vermassung, Nivellierung, „die völlige [Auf-]Lösung der Persönlichkeitswerte" waren nach Ansicht Adolf Wischmanns dafür verantwortlich. 129 ) Unabhängigkeit und Verantwortung wurden so zu einem Privileg der Elitepersönlichkeit. In dieser Perspektive kam auch der gerade skizzierten Askese eine besondere Brückenfunktion zu, denn die Distanz gegenüber den materiellen Verlockungen der Massengesellschaft bildete geradezu die Voraussetzung für die geforderte Charakterbildung. Damit stellt sich die Frage nach der poltisch-ideellen Bedeutung von „Unabhängigkeit" und „Verantwortung": Weshalb legten die Propagandisten der Wert- und Charakter-Elite gerade auf diese beiden Charakterwerte einen besonderen Wert? Wovon unabhängig sollte die Elitepersönlichkeit bleiben, wem gegenüber sollte sie sich verantwortlich fühlen? Die Antwort findet sich in dem Kontext, in den die beiden Kategorien eingebettet wurden.

129 ) Adolf Wischmann: Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft, S.3.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

175

In der Praxis der Diskussionen erfolgte die Darstellung einer wahren Elitepersönlichkeit häufig in Form der Gegenüberstellung von Elitepersönlichkeit und Funktionär, dem „bloß Ausführenden, dem Linientreuen", wie Helmut Thielicke es in Loccum ausdrückte. 1 3 0 ) Diesem „Funktionär" ermangelte gerade die persönliche Verantwortung für sein Handeln, die die Elitepersönlichkeit auszeichnete. 131 ) Schon der oben zitierte Friedrich Georg Jünger hatte das so gesehen: Der Funktionär herrscht verantwortungslos, weil ohne Eigentum: „Nicht dem Eigentum gilt es auf die Finger zu sehen, sondern dem eigentumslosen Funktionär, der in den technisierten Schaltwerken des Staates sitzt ... ganze Bevölkerungen beherrscht und zu technisierten Bestandteilen umformt." 1 3 2 ) Beispielhaft für diese wertende Gegenüberstellung von Elitepersönlichkeit und Funktionär ist ein Artikel Dolf Sternbergers vom März 1951 über die parlamentarischen Auseinandersetzungen zur Montanmitbestimmung, also zum wichtigen Komplex der wirtschafts- und sozialpolitischen Ausgestaltung des neuen Staatswesens. Der Artikel trug die bezeichnende Überschrift „Die Funktionäre und die unabhängigen Personen". 1 3 3 ) Die Auseinandersetzung im Bundestag entzündete sich bekanntlich unter anderem an der Position des Arbeitsdirektors in den montanmitbestimmten Betrieben. 1 3 4 ) Sozialkonservative Parlamentarier (zu denen auch die Freidemokraten zu rechnen sind) sahen durch den Arbeitsdirektor die „freie" unternehmerische Willensbildung innerhalb des Vorstands gefährdet. Sternberger erhob diesen Konflikt zu einer generellen Betrachtung über Probleme repräsentativer Herrschaftsgebilde: „Überall, wo eine neue Körperschaft gebildet wird, entsteht dieselbe Gefahr der Lähmung ihres eigenen Willens dadurch, dass .Vertreter' dasitzen an der Stelle, wo Personen sitzen sollten. Personen, die ,an Anträge und Weisungen nicht gebunden' sind. Das ist der Kern der Sache. (...) Das ist ein Problem der Verfassung nicht einmal bloß von Aufsichtsräten und Vorstandsgremien, sondern ebenso sehr von Parlamenten und Ausschüssen - ein Problem nachgerade unseres gesamten öffentliches Lebens." 135 )

Der Gegensatz, den Sternberger hier entwarf, bestand also zwischen dem weisungsabhängigen Funktionär und der unabhängig handelnden, individuellen Persönlichkeit. Wo die Funktionäre überhand nahmen, da drohte dem Gemeinwesen die Stagnation. Bemerkenswert an diesem Artikel ist übrigens auch die politisch-ideelle Position seines Verfassers: Sternberger war zweifellos nicht zu den Konservativen zu rechnen, was deutlich macht, dass die Verbreitung der Topoi von der Unabhängigkeit und Verantwortung keineswegs

13

°) Helmut Thielicke: Persönlichkeit und Manager, in: L021, S.9-12, hier S. 10. ) L004 (Aussprache), S. 12; ähnlich Thielicke: Persönlichkeit und Manager, S. 10. 132 ) Jünger: Maschine, S. 125. 133 ) Dolf Sternberger: Die Funktionäre und die unabhängigen Personen, in: Die Gegenwart 6.1951, Nr.5 S. 6/7. 134 ) Müller-List: Montanmitbestimmung, S.LXII, S.240, S.242, S. 261/62. 135 ) Sternberger: Die Funktionäre und die unabhängigen Personen, S.7. 13t

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

auf das konservative Milieu beschränkt blieb. Dort stachen allerdings die politischen Schärfen in der Verwendung beider Topoi umso schärfer hervor. Diese Schärfen bestanden vor allem in dem weit verbreiteten Misstrauen nicht nur gegenüber den Institutionen der parlamentarischen Demokratie, sondern darüber hinaus gegenüber allen Formen und Institutionen rein rationaler Herrschaft (im Sinne Webers)136) ohne Beifügung charismatischer oder traditionaler Elemente. Nicht an diese Institutionen sollte sich das Elite-Individuum gebunden fühlen und sich ihnen gegenüber verantworten müssen, sondern an „höhere" Werte, verankert in seinem Gewissen. Der Wiesbadener Rechtsanwalt und spätere Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorf, der den Widerstandskreisen des 20. Juli nahegestanden hatte, erläuterte die Notwendigkeit jener Wertbindung während einer Loccumer Akademietagung im September 1956 am Beispiel der Gegensätze zwischen „Führungsschicht und Kollektiv", zwischen Elite und Funktionär: Den „Unterschied zwischen dem Begriff Führungsschicht auf der einen und dem Begriff Kollektiv auf der anderen Seite" sah er in der Gewissensbindung der Elitepersönlichkeit. „Führungsschicht ist nun einmal die Aristokratie einer Gruppe, während Kollektiv eine geprägte Masse ist, vertreten durch Funktionäre. (...) Während das Kollektiv, vertreten durch seine Funktionäre, nur das Wohl des Kollektivs kennt, während der Funktionär heute nur das tut, rät und vorschlägt, was morgen der Kollektiv tun wird, während zwischen Funktionär und Kollektiv eine unabreißbare Kontinuierlichkeit besteht, während für den Funktionär die volonte des tous maßgebend ist, handelt es sich bei einer Führungsschicht um Menschen, die Herren sind, die sich im letzten Grunde nur ihrem Gewissen gegenüber gebunden fühlen, die deshalb auch der Gruppe dann widersprechen und entgegentreten, wenn es ihnen ihr Gewissen befiehlt. Der Funktionär des Kollektivs ist notwendig ohne Gewissen, während das Mitglied der Führungsschicht unbedingt Gewissen haben muss, wenn es sich nicht selbst aus der Führungsschicht ausschalten will." 137 )

Auf die weitere antidemokratische Argumentationsrichtung Schlabrendorfs im Zusammenhang von „Elite und Demokratie" wird weiter unten zurückzukommen sein. Hier sei zunächst bemerkt, dass die ebenso strikte wie für Redner und Zuhörer offenbar selbstverständliche Unterscheidung zwischen Elitepersönlichkeit und Funktionär den Anhängern dieses Sozialmodells eine erhebliche politisch-ideelle Orientierung verschaffte. Denn jeder Funktions- und Herrschaftsträger (jedes „Mitglied einer Führungsschicht") stand damit vor einer Verhaltensalternative, deren gegensätzlich moralische Beurteilung vollkommen eindeutig war. Gelangte er dabei subjektiv zu der Auffassung, er unterwerfe sein Handeln nur seinem Gewissen, konnte er sich nun in seiner sozial privilegierten Position vollkommen legitimiert sehen. Die politische Pointe dieser Verpflichtung der Elitepersönlichkeit auf die Bindung ihres Handelns ausschließlich an ihr Gewissen sowie dieser Forde-

136

) Weber: WG, S. 122-24. ) Schlabrendorff: Führungsschicht und Kollektiv, a.a.O., S.22.

137

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

177

rung nach Unabhängigkeit lag ganz einfach in dem Versuch, bestimmte politische Ämter oder Einrichtungen den Verfahren der demokratischen Willensbildung zu entziehen, indem die bezeichneten Akteure ihre Verantwortung vor den in ihrem Gewissen verankerten Werten höher einschätzten als ihre Verantwortung gegenüber den Institutionen der repräsentativen Demokratie. Oder wie der Loccumer Pastor Adolf Wischmann es 1952 in dem Vortrag „Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft" ausdrückte: „Es fehlt bei uns außerdem so etwas wie ein verantwortlicher Senat, ein Gremium von Männern, das unabhängig von Parteien, von gesellschaftlichen Vorzügen oder Nachteilen, die Fragen unseres Volkes neu durchdenkt und ein helfendes Wort sagt. (...) Wer an der Spitze steht, muss bereit sein, dem ... Gebot dessen zu gehorchen, der der Herr der Welt ist." 138 )

Offenbar dachte man dabei gar nicht so sehr an die Parlamentarier, denn es findet sich nirgends ein Verweis auf Artikel 38 des Grundgesetzes, der ein imperatives Mandat ausschließt und ihre Entscheidungen einzig ihrem Gewissen unterwirft. Vielmehr zielte dieser gesamte Erörterungszusammenhang auf eine Entkoppelung der Exekutive von der Legislative, wie es in der wohl wichtigsten politisch-intellektuellen Programmschrift aus dem konservativen Milieu der 1950er Jahre, Winfried Martinis „Ende aller Sicherheit", ungeschminkt zum Ausdruck kam. Hier soll es nicht darum gehen, das breite Spektrum antidemokratischer Einstellungen im deutschen Konservatismus nach 1945 nachzuzeichnen, 139 ) sondern eine mögliche, in den 1950er Jahren viel diskutierte politische Konsequenz der Topoi „Unabhängigkeit und Verantwortung der Elite" darzustellen. Martini sorgte sich, unter Berufung auf die 1932 erschienene Schrift „Autoritärer oder totalitärer Staat" des Prager Soziologen Heinz O. Ziegler („die wohl beste Einführung vor 1933", so Armin Möhler 140 )), vor allem um die „Handlungsfreiheit der Exekutive", die „Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit der Regierung": „Es geht einfach darum, vor allem die .große Politik' den Schwankungen und Emotionen zu entziehen, denen sie heute ausgeliefert ist." Denn der Demokratie fehle „die Endgültigkeit eines inhaltlich bestimmten Normensystems oder... die Stabilität einer neuen, privilegierten Führerschicht (...) Indem in der Demokratie das .Fundament aller Regierung' verloren geht, die Eigenverantwortlichkeit des führenden Entscheidungshandelns erschüttert' wird, da Regierung nur noch der Vollzug des Volkswillens ist". 141 ) Die Konsequenz konnte nur sein, das Handeln der Exekutive von den „zufälligen" Ergebnissen demokratischer Wahlen unabhängig zu gestalten: „Wenn 138 ) Adolf Wischmann: Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft, S.3/4. 139

) Vgl. Grebing: Konservative, passim. °) Möhler. Konservative Revolution, S.240. 141 ) Martini: Ende, S.292, S.323, S.315, S.320. 14

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

die Demokratie überhaupt beibehalten werden soll und wenn sie als solche überleben will, dann muss sie, auf welche Weise und in welcher Hinsicht auch immer, wieder zur ,Pseudodemokratie' werden." Und ganz folgerichtig bekannte sich Martini auch zum „autoritären Staat" ä la Franco oder Salazar: „Der autoritäre Staat' hingegen bricht mit den demokratischen Fiktionen, welche den Tatbestand des Herrschens nicht aufheben, sondern nur verdunkeln und in die Bürokratie verlagern, er bekennt sich zur Eigenständigkeit und zum Eigenrecht des Herrschens. So wird jene Instanz geschaffen, ,die unabhängig von diesem sozialen Antagonismus die effektiven Machtmittel und die notwendige Bewegungsfreiheit besitzt, um ihn autoritär zu ordnen. Ohne einen solchen politischen Organisationsaufbau, der freilich nachdemokratische Herrschaft bedeuten würde, ist Führung und ordnende Entscheidung über diesen sozialen Zustand überhaupt nicht möglich.' Im Gegensatz zu den beiden anderen Antworten bekennt sich der autoritäre Staat ,zu den unveränderlichen Grundlagen jeder Herrschaft und damit jeder Staatlichkeit: zu Personalität, Unabhängigkeit, Autorität und Eigenverantwortung der Regierung."

Autoritäre Herrschaftsgebilde waren jedoch auch aus Westdeutschland noch nicht verschwunden, und in diesen Institutionen wurde auch die Elite wirksam: „,Elite' in diesem, gewissermaßen synthetischen Sinne [der Kooptation und Erziehung, M.R.] ist etwas sehr Alltägliches: alle gut funktionierenden Großorganisationen wenden dieses Prinzip an, zum Beispiel die katholische Kirche, die Armeen, das Beamtentum". 142 ) Dies war also die politische Pointe der Topoi „Unabhängigkeit und Verantwortung der Elitepersönlichkeit": Der aus der Skepsis gegenüber der „Massendemokratie" geborene Versuch, vitale Bereiche staatlichen Handelns der Kontrolle einer demokratischen Willensbildung zu entziehen. Der intellektuelle Konsens der frühen 1950er Jahre, der deutlich über das die Diskussion dominierende konservative Milieu hinausging, bestand in der Hoffnung auf eine Wert- und Charakter-Elite, die in der berufsalltäglichen Praxis ihre Wertbindungen über „weltliche" Anreize und Pressionen stellen würde. Stimmen, dass es möglich oder wünschenswert sei, aus dieser Hoffnung die verfassungsrechtliche Konsequenz zu ziehen und Teile des Staatsapparates unabhängig vom Parlament zu machen, finden sich allerdings nur innerhalb dieses Milieus. Es ist jedoch bezeichnend für das politisch-ideelle Klima dieser Jahre, dass diese Stimmen im gesamten Intellektuellen Feld und im Zentrum der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert wurden. 143 ) Eine Einordnung Martinis im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik zur Evaluation der Bedeutung seiner Ideen steht vor gewissen Schwierigkeiten,

142

) Martini·. Ende, S.316, S.323, S.336. ) Beispielsweise rezensierte kein Geringerer als der 5p('ege/-Herausgeber Rudolf Augstein Martinis Buch im Monat; in Loccum diskutierten der Politologe Otto Heinrich von der Gablentz und der Publizist Erich Kuby ausführlich Martinis Thesen. Rudolf Augstein: Stimmzettel gegen Recht und Freiheit?, in: Der Monat 1955 Nr. 76, S. 362-65; Otto Heinrich von der Gablentz: Freiheit als Aufgabe in der Staatsführung, in: L030, S. 32/33; Erich Kuby. Demokratie im Alltag, in: L035, S. 17-25. 143

179

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

denn von dem einmaligen Erfolg des hier zitierten Buches abgesehen hat er in der Ideengeschichte der Bundesrepublik keine tieferen Spuren hinterlassen. 144 ) Als Journalist und Publizist verfügte er nicht über die Ressourcen und das Prestige eines Wissenschaftlers, die der Produktion und Distribution seiner Vorstellungen und Entwürfe eine institutionell abgesicherte Dauer hätten verleihen können, und nach seiner hier zitierten Schrift erreichte er eine breitere Öffentlichkeit nicht mehr. So blieb die Rezeption seiner weiteren Arbeiten auf ein enges konservatives Spektrum beschränkt. 145 ) Doch zumindest in der Mitte der 1950er Jahre wurde Martinis Buch weithin diskutiert; bereits 1957 erschien eine zweite Auflage. Einerseits war dies die Folge zahlreicher freundlicher Rezensionen und Hinweise. So trugen Gustav Stein und Herbert Gross seine Gedanken weit in den Raum der Unternehmerschaft hinein - neben Goethe (!) fand kein Schriftsteller, Politiker oder Unternehmer derart viel Aufmerksamkeit wie Martini in ihrem Buch über „Unternehmer in der Politik", in dem gerade die von jenem diagnostizierten „Strukturfehler der Demokratie" und dessen Bekenntnis zu einer neuen Elite zustimmend kommentiert wurden. Und zum anderen war Martini in dieser Zeit als Autor in den wichtigsten Kulturzeitschriften präsent, etwa im Merkur

und im

Monat,146)

Außerdem referierte er 1955 gleich auf zwei Loccumer Tagungen seine Ideen. 147 ) So blieb die kurze, aber intensive Diskussion über Martinis Buch ein heftiges, aber kurzes Aufleuchten des antidemokratischen Konservatismus im Literarisch-Politischen Feld. Dass es sich nicht wiederholte, zeigt, dass das gesamte Intellektuelle Feld seit den ausgehenden 1950er Jahren politisch nach

144

) Die Behauptung Armin Möhlers, Martinis Bücher hätten „als Korsett der Bundesrepublik Deutschland gedient", weil Martini die Westbindung und den Antikommunismus als „Grundprinzipien der Bundesrepublik" „entwickelt" habe (aber eben nicht die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Abgrenzung vom Nationalsozialismus, die Wirtschaftsordnung usw., M.R.), gilt vermutlich nur für die Wahrnehmung im harten Kern des konservativen Milieus im Intellektuellen Feld. Schmitt: Briefwechsel, S. 184/85. 145 ) Gleich mehrfach bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Geschichte und Nachgeschichte von Martinis früher publizistischer Tätigkeit für den Ruf. Erstens weist es auf den irrlichternden Nationalismus dieser Zeitschrift in den ausgehenden 1940er Jahren hin, dass ein Antidemokrat und Antiamerikaner wie Martini hier regelmäßig Artikel wie „Der überfragte Wähler" (1948) veröffentlichte. Zweitens aber zeigt sich an diesem Autor auch die erfolgreiche Legendenbildung des Rufs - zu der als erstes selbstverständlich die Behauptung gehört, der Ruf sei von den US-amerikanischen Besatzungsbehörden verboten worden - als Zeitschrift mit sozialistischen und europäischen Zielen, denn in dem 1962 von Hans Schwab-Felisch herausgegebenen Band mit Aufsätzen aus dem Ruf fehlt jeder Hinweis auf die Mitarbeit Martinis, geschweige denn, dass ein Beitrag von ihm abgedruckt worden wäre. Vgl. Vaillant: Der Ruf, S. 178; Hans Werner Richter. Beim Wiederlesen des Ruf, in: Schwab-Felisch (Hg.): Der Ruf, S. 8; Schwab-Felisch: Einleitung, in: ebd., S. 18. 146 ) Winfried Martini: Der überfragte Wähler, in: Merkur 8.1954, S. 632-47 (ein mit 15 Seiten für den Merkur jener Zeit nicht eben kurzer Hauptaufsatz!); ders.: Zelle 474 ... Nachspiel zum 30. Juni 1934, in: Der Monat 1957 Nr. 105, S.80-84. 147 ) Martini·. Das Ende aller Sicherheit, in: L035, S.8-16; desgl. in: L039 S. 35-39.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

links zu gravitieren begann. Entscheidend für die hier verfolgte Fragestellung ist jedoch, dass Martini zwei Schlüsselbegriffe des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite - Unabhängigkeit und Verantwortung - als tragende Elemente seines antidemokratischen Politikmodells einsetzen konnte und auf diese Weise die Aufmerksamkeit und das Interesse zahlreicher zeitgenössischer Intellektueller zu wecken vermochte. III. Bei aller Vergänglichkeit des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite ist es jedoch unbedingt notwendig, darauf hinzuweisen, dass diese beiden Gegenstände - Unabhängigkeit und Verantwortung- sich in der publizistischen Diskussion über die Elite bis in die Gegenwart erhalten haben. Als Anforderungen an die Elite wie als deren Beschreibungsmerkmal werden sie auch heute noch formuliert und rechtfertigen nach wie vor die Verteilung sozialer Privilegierungen. 148 ) In dieser Hinsicht erzielte die Diskussion der 1950er Jahre ein Ergebnis von ungeahnter Dauer. Bei der Durchsetzung der Elite-Doxa und dessen Quasi-Monopolstellung auf dem Markt für politisch-soziale Ideen hatte sich nämlich längst eine äußerst wirkungsvolle epistemologische Komplizenschaft zwischen Sozialwissenschaftlern und Publizisten etabliert. Die Effekte dieses funktionalen (nicht persönlichen) Bündnisses sind sicherlich am einfachsten greifbar bei denjenigen Autoren, die ihre „Elitestudien" gleichzeitig im Literarisch-Politischen und im wissenschaftlichen Feld lancieren, weil hier ein und derselbe Autor einerseits seine publizistischen Texte mit dem Wahrheitsanspruch des Wissenschaftlers ausstatten und andererseits seine wissenschaftlichen Arbeiten mit der stilistischen Leichtigkeit des Publizisten versehen und mit dem Wissen um die gesellschaftliche Relevanz seiner Problemstellungen (ein Wissen, das nur außerhalb des „Elfenbeinturms" erworben wird) untermauern kann. 149 ) Die Wirksamkeit dieser Komplizenschaft resultiert jedoch vor allem aus der dynamischen Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen: den Publizisten und intellektuell interessierten Politikern einerseits und den beteiligten Sozialwissenschaftlern andererseits. Eher selten finden sie sich zu solchen gemeinsamen Projekten zusammen, deren Arbeitsergebnisse den wissenschaftlichen und publizistischen Anforderungen der unterschiedlichen Felder der Wissensproduktion, denen die Autoren entstammen, auch standhalten. 150 )

148

) Rüttgers: Demokratie; Grimm: Elite?; Bader: Aufgabe der Elite. ) Z.B. Papcke: Gesellschaft; ders.: Über Eliten. Wie sie sein sollen und doch nicht sind, in: Merkur 52.1998, S. 1118-26. Papcke war zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichungen Professor für Soziologie an der Universität Münster. 150 ) Z.B. Kursbuch Nr. 139/2000: Die neuen Eliten, u.a. mit Beiträgen der Soziologen Michael Hartmann und Beate Krais, des Historikers Joachim Radkau, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und Claus Leggewie sowie der Publizisten bzw. Journalisten Heinz Bude, Susanne Mayer, Frank Sieren und Barbara Kerneck. Vgl. auch Berking et al. (Hg.): Gesellschaft. 149

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

181

Zwar fehlt den D e u t u n g e n der Politiker und Publizisten - die immer noch Konzepte oder Einzelelemente der Wert- und Charakter-Elite favorisieren 1 5 1 ) (einzelne konservative Intellektuelle lehnen dabei sogar gelegentlich die positivistischen Elite-Konzepte der Sozialwissenschaften wegen deren mangelnder Wertbindung ab) 1 5 2 ) - die analytische Tiefe und die empirische Basis wissenschaftlicher Studien. D o c h können sie durch bloßen Hinweis auf diese Studien von deren gewissermaßen beglaubigter Erklärungskraft profitieren, und diese Akteure verfügen über die Kompetenzen und Möglichkeiten, ihre Deutungen mit verhältnismäßig großer Reichweite zu verbreiten. Ihre vollkommen auf genuin politische Effekte abgestellten Texte müssen sich nämlich in der Regel den wissenschaftlichen Anforderungen der Überprüfbarkeit und Brauchbarkeit in der empirischen Forschung nicht stellten. 1 5 3 ) (Diese Feststellung gilt auch für die meisten Vorträge und Schriften von Wissenschaftlern, die sich außerhalb ihrer professionellen Kompetenz zum Thema „Elite" äußern. 1 5 4 )) In solchen Fällen bildet zumeist Gegenwartskritik und Delegitimierung der (politischen) Machthaber das Anliegen der Tagungsveranstalter, Herausgeber und Autoren, mündend in besorgte Fragen wie „Haben wir die Eliten, die wir brauchen?" 1 5 5 ) lsl ) Als neueres Beispiel der Möglichkeit, auch Unternehmer wieder als Charakter-Elite darzustellen („Einfachheit und Nüchternheit", ein „gewisser .Blick'... da Möglichkeiten zu sehen, wo andere nur Hindernisse erkennen"), sei nur genannt Heinz Bude·. Die Hoffnung auf den „unternehmerischen Unternehmer". Über wirtschaftliche Eliten, in: Universitas 52.1999, S. 850-58; ders:. Der Unternehmer als Revolutionär der Wirtschaft, in: Merkur 51.1997, S.866-75. 152 ) So etwa Konrad Adam, der unlängst gegen die prima facie „wertneutrale" Potsdamer Elitestudie polemisierte (Konrad Adam: Berge gibt es auch im Flachland. Wozu Elitenbildung?, in: Universitas 52.1999, S.842^19) und ganz konsequent bei den konservativen Stereotypen in der Diskussion über Eliten (preußische Dienstethik und der Gegensatz zwischen wahrer Elite und Prominenz) landete. Eine derartige Position ist jedoch erst formulierbar, seitdem auch die Mehrheit der konservativen Sozialwissenschaftler empirisch anwendbare Begriffsbestimmungen der „Elite" und entsprechender Untersuchungsverfahren übernommen hat. Dies war während der 1970er Jahre, zu Lebzeiten der westdeutschen Elite-Denker der ersten Stunde, noch anders: Bis dahin waren derartige Abgrenzungen nämlich nicht notwendig, weil die Verfechter von Konzepten der Wert- und CharakterElite in Publizistik und Wissenschaft zu finden waren und teilweise auch gemeinsam auftraten. Vgl. etwa den Band von Kaltenbrunner (Hg.): Rechtfertigung der Elite (mit dem bezeichnenden Untertitel: „Wider die Anmaßungen der Prominenz", also einem durchaus konventionell gewordenen konservativen Topos), der einen durchaus wissenschaftlichen Maßstäben genügenden Beitrag von Michael Freund („Eliten und Elite-Begriffe. Ein Überblick") enthält, ansonsten jedoch vor allem soziale Ängste, Hoffnungen und Phantasmagorien konservativer Publizisten vereint. 153 ) Dies gilt z.B. für die Beiträge in: Walter Raymond Stiftung (Hg.): Elite; desgleichen: Herrenaiber Protokolle Nr. 105/1994: Wer führt morgen? 154 ) Etwa im Falle des Kulturhistorikers Thomas H. Macho: Von der Elite zur Prominenz. Zum Strukturwandel politischer Herrschaft, in: Merkur 47.1993, S. 762-69. 155) Vgl etwa Qiotz e t ai. (Hg.): Die planlosen Eliten (Untertitel: „Versäumen wir Deutschen die Zukunft"?); ähnlich: Loccumer Protokolle 15/1981: Eliteförderung und Demokratie. Sollen, können, dürfen deutsche Hochschulen Eliten bilden?, mit einer Abschlussdiskussion zum Thema „Haben wir die Eliten, die wir brauchen?", S. 108-60.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

Auf der anderen Seite grenzen sich die Sozialwissenschaftler von den Publizisten und deren Modellen der Wertelite zwar vordergründig ab oder ignorieren diese, weil sie inzwischen Konzepte der Macht-, Leistungs- und Funktionseliten verwenden, doch sichert ihnen die Publizistik durch die Vulgarisierung ihrer Studien eine breite Aufmerksamkeit im Wissenschaftlichen wie im Publizistischen und sogar im Politischen Feld, beispielsweise wenn Politiker sich zum Gegenstand „Elite" äußern oder wenn politische Institutionen diesbezüglich Tagungen und Publikationen fördern. 156 ) Hier kreuzen sich die spezifischen Interessen von politischer Publizistik und Sozialwissenschaft: Deutungsmacht über die Gesellschaft unter Zuhilfenahme approbierten Wissens einerseits, Bestätigung der gesellschaftlichen Relevanz für die Produktion von Wissen über die Gesellschaft andererseits. Gerade der Gestus der interessenlosen, distanzierten Untersuchung gleichwohl politisch relevanter Gegenstände dürfte dem losen Forschungszusammenschluss um die Sozialwissenschaftler Rudolf Wildenmann, Wilhelm Bürklin, Hilke Rebenstorf und Ursula Hoffmann-Lange zu seiner mittlerweile dominierenden Position auf dem Gebiet der empirischen Erforschung politischer „Eliten" in der Bundesrepublik verholten haben. 157 ) Diesen nicht abgesprochenen und doch komplementären Anstrengungen verdankt die Elite-Doxa ihre gegenwärtige Monopolstellung im publizistischen und sozialwissenschaftlichen Raum der Bundesrepublik, beispielsweise durch die weitgehende Marginalisierung aller Klassen-Ansätze (wie es sichtbar ist im Verschwinden des Begriffs der „Herrschenden Klasse"). Aus diesem Grund zirkuliert ein Elite-Begriff, der je nach Interesse und Notwendigkeit zwischen Wert-, Charakter-, Leistungs- und Funktionselite changiert. Diese Entwicklung, Folge auch der zunehmenden Autonomie der Sozialwissenschaften seit den 1950er Jahren, wird uns im Zusammenhang mit der Verdrängung des Modells der Wert- und Charakter-Elite durch andere Konzepte seit etwa 1960 wieder begegnen. 2.2.5 Aporien der Wert- und Charakter-Elite Bislang wurden die Unschärfen und inneren Widersprüche des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite nur beiläufig behandelt. Das liegt auch daran, dass überhaupt nur sehr wenige umfangreichere und analytisch-methodisch anspruchsvolle Erörterungen dieses Gegenstandes erschienen sind, die eine vertiefte Diskussion dieses Modells nicht nur herausfordern, sondern aus eige-

156 ) Z.B. wurde der von Georg Wehling besorgte Sammelband „Eliten in der Bundesrepublik Deutschland" (u.a. mit Beiträgen von Ursula Hoffmann-Lange, Dietrich Herzog, Hilke Rebenstorf und Volker Berghahn) 1990 von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. 157 ) Wildenmann: Eliten; Hoffmann-Lange: Konflikt; Bürklin und Rebenstorf (Hg.): Eliten.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

183

nem Recht beanspruchen können. A m breitesten ausformuliert findet sich dieses Konzept in dem großangelegten Buch „Analytische Gesellungslehre", das der Marburger Soziologe Max Graf Solms 1956 veröffentlichte und das er wohl als sein theoretisches Vermächtnis betrachtete. 1 5 8 ) Dieses Buch enthielt die wohl umfangreichste 1 5 9 ) und anspruchvollste, theoretisch und methodisch geschlossenste Darstellung des Konzepts der Wertund Charakter-Elite, weshalb es nahe liegt, dessen Aporien hier zu diskutieren statt anhand kürzerer Texte, die notwendigerweise mit Auslassungen arbeiten mussten. Es ist bezeichnend für Solms' professionelles Selbstverständnis als „Mehrals-Soziologe" und für die methodische Herangehensweise der geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie, dass er gleich eingangs konstatierte, es sei „klar, dass ... das Elitethema nicht im Bereich einer einzelnen Wissenschaft mit der erforderlichen Tiefe und Genauigkeit erfasst werden kann. Eine Kenntnis geistesgeschichtlicher, und zwar insbesondere in diesem Fall vergleichend-religionsgeschichtlicher Zusammenhänge, ist unbedingt erforderlich, da im religiösen Bereich, neben der Welt des künstlerisch-literarischen Gestaltens Elitepersönlichkeiten eine besondere Rolle spielen und zudem viele religiöse Denominationen als Kleinkreise unter dem Gesetz der Elitebildung stehen. (...) Elite-Ideale und Tugenden sind ein psychologisches, aber auch ein psychiatrisches, ein geistesgeschichtliches und ein soziologisches Problem im Gefüge-Gerüst und Geltungssinn. Nur psychologisch, psychiatrisch und geistesgeschichtlich kann das Problem nicht erschöpft werden, nur (formal) soziologisch kann es nicht verstanden werden." 160 )

Mit seinen „soziologisch-geistesgeschichtlichen Gesichtspunkten abseits vom politischen Meinungskampf" hingegen beanspruchte er, „von einer höheren Warte" aus dem Eliteproblem gerecht werden zu können. 1 6 1 ) Solms ging davon aus, dass „die allerverschiedensten seelischen Situationen, die allerverschiedensten Stellungnahmen zu objektiven Werten Eliten konstituieren können". 1 6 2 ) Auch Solms definierte die Elite also als Wert- und Charakter-Elite. In vier Kapiteln widmete er sich den „Eliteidealen", den „Eliteträgern", den „Elitetypen" und dem „Elitevollzug" - letzterer behandelte nicht etwa das der Elite gemäße Handeln, sondern die „Gefährdungen" und Ansprüche an das Elite-Individuum. Bemerkenswerterweise nannte er unter den „Eliteträgern" nur den Heiligen beziehungsweise den Propheten, deren Beziehung zu anderen Menschen

15S ) Das Buch sollte ursprünglich zum 200. Jubiläum des Erscheinens von Montesquieus „Esprit des lois" veröffentlicht werden, was zeigt, welchen Rang Solms für sein Werk beanspruchte. 159 ) Lässt man einmal diejenige „esoterische" Literatur beiseite, die zu keiner Zeit in den Qualitätszeitschriften des Literarisch-Politischen Feldes oder in den Sozialwissenschaften gewürdigt wurde, so stellten die 80 (von insgesamt rund 600) Seiten, die Solms der „Gefügeseite des Eliteproblems" widmete, den ausführlichsten in dieser Zeit unternommenen Versuch dar, ein Modell der Wert- und Charakter-Elite zu entwerfen. 160 ) Solms: Gesellungslehre, S. 280/81 (Hervorhebungen im Original). 161 ) Solms: Gesellungslehre, S.320. 162 ) Solms: Gesellungslehre, S.279.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

- also ihr Handeln als Elite-Individuen - er als „Meister-Jünger-Verhältnis" bezeichnete. 163 ) Hier zeigt sich deutlich, wie stark auch Solms' ausgefeiltes Elite-Theorem noch von der Führer-Doxa geprägt war, denn bei beiden „Eliteträgern" handelte es sich um Solitäre, nicht um Gruppen, nicht einmal um Ansammlungen von Individuen. Beide erhöben sich „oft noch über die Elitekreise", und sie tauchten bei Solms auch nur im Singular auf. 164 ) Und tatsächlich skizzierte er einige Seiten später die „Führernatur" (als Beispiel wählte er Stefan George, in der Tat die perfekte Verkörperung eines kulturellen Führers) als Mittelpunkt des „Elitekreises", anders gesagt, er entwarf ein konzentrisches Gesellschaftsbild mit dem Führer im Zentrum, der Elite als dessen unmittelbare Umgebung und der weiteren Gesellschaft (oder Masse) als äußeren Kreis. 165 ) Kaum je zeigten sich Elite- und Führer-Doxa derart konzeptionell verschränkt wie an dieser Stelle bei Solms. Obwohl Solms eingangs festgestellt hatte, dass „jedes Eliteideal... als Ideal an sich ein Ideal für jedermann" sei, so schränkte er diesen Satz doch gleich wieder ein, denn „erreichbar" sei das Ideal „nach aller historischen Erfahrung stets nur für den kleinen Kreis jener, die nicht nur ,berufen', sondern ,auserwählt' sind. (...) Eliteideale haben also das Besonderssein als grundsätzlich nicht der großen Zahl Erreichbares gemeinsam." 166 ) Konsequent ordnete er den Eliteidealen sechs Elitetypen (Seinseliten, Gesinnungs- und Weltanschauungseliten, Leistungseliten, 167 ) Traditionseliten, Herrschaftstragende Eliten und Protesteliten) so zu, dass sie faktisch alle potenziellen Positionen umfassten, die ein Individuum im Feld der Macht nur einnehmen konnte. Denn wo immer Solms empirisch fassbare Beispiele anführte, handelte es sich um Herrschaftsträger und Inhaber symbolischer Macht: Adel und Patriziat (nur diese beiden Gruppen wurden ausführlicher behandelt), daneben noch evangelische Pfarrer, Künstler und Intellektuelle. Mit einer derartigen Darstellungsweise stand Solms keineswegs allein; sie war vielmehr typisch für die zeitgenössische Diskussion über Wert- und Charakter-Eliten. Schließlich bedeutete ein solcher Gang der Darstellung, dass jeder Angehörige einer stark privilegierten Gruppe versichert sein konnte, qua Position und einem Bekenntnis zu Solms' „Eliteidealen", verstanden in obigem Sinne als „Stellungnahme zu objektiven Werten", der durch Wertbindungen und Charaktermerkmale konstituierten Elite anzugehören. Dass diese objektiven Werte, allen voran der auf Aristote-

163

) Solms: Gesellungslehre, S. 302-06. ) Nicht umsonst waren die betreffenden Abschnitte „Der Heilige" und „Der Prophet" betitelt. Solms: Gesellungslehre, S. 302/03 (Hervorhebungen von M.R.). 165 ) Solms: Gesellungslehre, S. 305. 166 ) Solms: Gesellungslehre, S.287 (Hervorhebung im Original). 167 ) Jeden Modelleisenbahner wird sympathisch stimmen, dass Solms unter den Leistungseliten besonders auf die „Eisenbahnerelite" einging, unter denen „besonders der engere Kreis der Lokomotivführer" hervorrage. Ebd., S.309. Der Leistungsbegriff war hier jedoch bemerkenswerterweise an ein LeistungsefÄos gebunden und fungierte nicht als Auslesekriterium. 164

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

185

les zurückgeführte „Ethos der Mesotes", also des Maßhaltens, von Solms als überhistorisch und unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung gedacht wurden, hätte diesem Elite-Begriff in der unmittelbaren Nachkriegszeit sicherlich eine größere Resonanz gesichert als es dann später in der zweiten Hälfte der 1950er tatsächlich Jahre der Fall war. Denn die Suche nach überhistorischen Fixpunkten war während der durch Orientierungssuche geprägten Zeit nach 1945 sicherlich intensiver als um 1960. Diese Ethik des Maßhaltens und des Ausgleichs führte Solms auch in eine gewisse Distanz zu den oben erörterten Askese-Vorstellungen, weil für ihn Askese nicht notwendigerweise zur Elite führte. Solms unterschied nämlich „elitefördernde und eliteschädigende Askese". 168 ) So stellte die Askese eines von mehreren „Eliteidealen" dar, die alle unter dem „Ethos der Mesotes" standen, das heißt deren Extreme und Gegensätze individuell ausgeglichen werden mussten: Bescheidenheit und Vornehmheit, Kühnheit und Vorsicht, Askese und Libertinage. In den „Eliteidealen" liegt neben dem orientierenden auch das handlungsleitende Element dieses Elite-Konzepts: Maßhalten, Askese, Persönlichkeitsentfaltung, Bescheidenheit und Mut - sie bildeten ein kohärentes System einer durchaus „bürgerlichen", postfaschistischen Ethik, weshalb sich der Begriff auch bei anderen Intellektuellen des „liberal-bürgerlichen" Milieus, etwa bei Alexander Rüstow, findet. 169 ) Allerdings musste diese Ethik zumindest teilweise in Opposition zu den Trägern (vor allem den ökonomischen Trägern) einer WirtschaftswunderGesellschaft geraten, die zwar (ökonomischen) „Mut" honorieren mochten, deren Denk- und Handlungsweise jedoch den Normen des Maßhaltens und schon gar der Bescheidenheit und der (tendenziell libertären) Persönlichkeitsentwicklung recht beziehungslos gegenüberstand. Nicht allein mit ihrer Fokussierung auf reale beziehungsweise historische Funktions- und Herrschaftsträger waren Solms' Ausführungen typisch für die Wert- und Charakter-Modelle, die während der 1950er Jahre die Diskussion beherrschten, sondern auch mit der Unterscheidung zwischen der „echten" und der unechten Elite. Eine solche Unterscheidung, gerade weil sie häufig so vehement formuliert wurde,170) war die notwendige Folge der kaum objektivierbaren, auf bloße (Selbst-)Zuschreibungen bestehenden Differenzierungskriterien. Wie und von wem sollten eine hinreichende „Persönlichkeitsentfaltung" oder „innere Vornehmheit" als Elite-Merkmal bestimmt werden? Deshalb wurde Solms auch nicht müde, immer wieder von der echten Elite, dem echten Elitemenschen und so weiter zu sprechen,171) als ließe sich die konstitutive Unscharfe seiner Konzeption durch eine Sprachregelung auflösen. Wie zahlreiche andere Autoren griff auch er in diesem Zusammenhang

168 ) 169) 170 ) 171 )

Solms: Gesellungslehre, S. 291-93. Vgl. Meier-Rust: Alexander Rüstow, S.261. Z.B. bei Weinstock: Demokratie und Elite, S. 449-58. Solms: Gesellungslehre, S.312, S.313, S.314, S.318, S.321.

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2. Orientierung durch Differenzbestimmung

auf die weiter unten zu analysierende Konstruktion des Gegensatzes zwischen („echter") „Elite" und „Prominenz" zurück. 172 ) Trotz der Elaboriertheit und des interdisziplinären Anspruchs seiner EliteKonzeption und der Breite der behandelten Themen verstrickte sich auch Solms in die Aporien des Modells der Wert- und Charakter-Elite. Denn zum einen musste er auf jegliche wissenschaftliche Erklärungskraft für bestimmte „Elitetypen" verzichten. 173 ) Und zum anderen gelang es ihm nicht, in dieser Konzeption die verschiedenen Wissensbedürfnisse seiner Zeit zu befriedigen. Sein Konzept der Wert- und Charakter-Elite implizierte zwar eine strenge Einteilung der Gesellschaft in die Elite einerseits und die Nicht-Elite andererseits und wurde der konzeptionellen Anforderung, einen Ordnungsentwurf vorzulegen, der die soziale Welt durch eindeutige Grenzziehungen überschaubar macht und dadurch Orientierung ermöglicht, damit theoretisch voll gerecht. Für die Praxis der Übertragung seiner überhistorischen Konzeption auf die Gegenwart der Bundesrepublik (beziehungsweise auf entwickelte Gesellschaften überhaupt) fehlten jedoch die wesentlichen Anknüpfungspunkte. Und auf wissenschaftlicher Ebene gingen die „Eliteideale" an den Kategorien einer autonom gewordenen Soziologie vorbei. Innerhalb der Einteilung des „Fischer-Lexikons Soziologie" von 1958 beispielsweise wären Solms' „Eliteideale" allenfalls noch unter den Stichworten „Mentalität und Ideologie" (was Solms' Intention, diese Ideale als geradezu konstituierend für eine ganze Kultur herauszustellen, vollkommen entgegengelaufen wäre) oder „Geschichtsund Sozialphilosophie" unterzubringen (was auf nichts anderes als eine Historisierung von Solms' gesamten Ansatz innerhalb der Disziplingeschichte, und zwar als ein abgeschlossenes Kapitel, hinausgelaufen wäre). 174 ) Doch weder die nur kurz skizzierte „Gerüstseite" noch die „Gefügeseite" des „Eliteproblems", die für Solms dessen Herrschaftstheorie repräsentierte beziehungsweise die Kategorie der Macht einführte, ließen sich irgendwie produktiv für die Untersuchung von Macht und Herrschaft heranziehen, wie etwa Rene König es programmatisch vorschlug. 175 ) Im Übrigen mangelte es Solms' EliteKonzept stark an innerer Kohärenz. Zwar fand er für das elitespezifische Handeln den Begriff des „Elitevollzugs" und konnte zur Frage der Kohäsion der Elite auf die „Gerüstseite" seiner „Gesellungslehre" verweisen. Doch das Ver-

m

) Solms·. Gesellungslehre, S. 288-90. ) „Aus unerklärlichen Gründen", „es wird stets rätselhaft bleiben", „kann man es sich nicht erklären ... hier hilft nur die dichterische Umschreibung", ein Phänomen, das nur „verstanden, aber nicht erklärt werden kann" - diese Phrasen prägen seine Darstellung des „Elitemenschen" vom Typ der „Seinseliten". Solms: Gesellungslehre S.306/07. 174 ) König (Hg.): Soziologie, S. 88-96, S. 112-22, S. 180-84. 175 ) König veränderte die Begriffsbestimmung Max Webers dabei signifikant, auch wenn er ähnliche Worte zur Definition von „Herrschaft" wählte (als „Chance ... Gehorsam zu finden", beziehungsweise als „institutionalisierte Machtausübung, die zur Differenzierung einer Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte führt"). Vgl. Weber: WG, S.28; König (Hg.): Soziologie, S. 88-96, S. 112-22, S. 180-84. 173

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

187

hältnis der „Elite" zu den Kategorien „Macht" und „Herrschaft" blieb mehr als blass: Solms widmete diesem Problem nur eine knappe Seite, auf der er kaum mehr tat als zu konzedieren, es sei möglich, „die echten Eliten" in Beziehung zu einer „bestehende[n] Machtlage" zu setzen. 176 ) Überdies blieb die Form der sozialen Ausleseprozesse von Eliteindividuen aus der Masse der Nichtelite vollkommen unberücksichtigt. Wenn sich Traditionseliten (denen Solms die größte Aufmerksamkeit widmete) dadurch auszeichneten, dass sie durch ihr Bekenntnis zu „objektiven Werten" aus dem „Eliteschoß" einer traditionalen Oberschicht ausgelesen wurden, dann blieb das „Problem, inwieweit dieselben die Möglichkeit haben verantwortlich in die Ereignisse einzugreifen", 177 ) und zwar jenseits ihrer Machtchancen als Angehörige eben jener Oberschicht. Dieses Problem klärte Solms jedoch gerade nicht; stattdessen lieferte er nur Negativbeispiele: Die Wiederständler des 20. Juli etwa, die zwar „Elitemenschen" dargestellt hätten, aber eben nicht „wirksam" wurden. Das zentrale Problem eines jeden Elite-Konzepts - wie vollzieht sich die Auslese, und in welchem Verhältnis steht sie zum Elite-Handeln? - konnte auf diese Weise nicht gelöst werden. Auf der Ebene des Meinungs- und Orientierungswissens hingegen fehlte Solms' Elite-Konzeption eine stärkere Einbettung in die intellektuellen Fragestellungen und Deutungsbedürfnisse der 1950er Jahre, etwa in Form einer Gegenüberstellung zwischen der wertgebundenen Elite „des Westens" und den bolschewistischen Kadern, oder durch eine stärkere Verlustperspektive auf die fehlenden Institutionen der Elite-Bildung. Und nicht zuletzt unterließ er es, gegenüber seiner Schrift von 1948 die Beziehung zwischen Elite und Demokratie intensiver zu problematisieren. Mit dieser dichotomen Weltdeutung, einer deutlichen Handlungsanleitung, der Marginalisierung oder Euphemisierung der ungleichen Verteilung sozialer Privilegien sowie den ethisierenden Auslesekriterien für die Elite hatte Solms ein differenziertes Orientierungsangebot für Akteure aus den Oberklassenmilieus vorgelegt. Sein Buch machte deutlich, dass Eliten auch im Nachkriegsdeutschland existieren konnten. Doch aus einer Reihe von Gründen blieb die Resonanz auf sein Werk schwach, jedenfalls in den Diskussionen über den Gegenstand „Elite". In den wenigsten allgemeinen und speziellen Nachschlagewerken, wichtigen Aufsätzen oder Monographien wurde sein Buch in den Korpus der Literaturhinweise aufgenommen. 178 ) Es waren aber gerade die176

) Solms: Gesellungslehre, S.318. ) Solms: Gesellungslehre, S. 316. 178 ) Dies gilt etwa für die späteren Auflagen des „Evangelischen Soziallexikons", dessen Lemma „Elite" bis auf das Literaturverzeichnis nach 1954 nicht überarbeitet wurde, für Otto Stammers Beitrag „Elite und Elitenbildung" im „Wörterbuch der Soziologie", sowie für die Artikel „Elite" im „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften" (Louis Baudin, 1961) und in „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft" (Klaus von Beyme, 1966). Die wichtigen Arbeiten von Schluchter, Hofstätter und Papalekas erwähnten Solms überhaupt nicht; Knoll, Jaeggi und Hamann beschränkten sich auf das Nennen des Aufsatzes 177

188

2. Orientierung durch Differenzbestimmung

jenigen Arbeiten der ausgehenden 1950er und 60er Jahre, welche die Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs bewirkten, die Solms' Monographie (und damit seine wissenschaftlichen Konzepte und Erträge) von der konsekrierten wissenschaftlichen Diskussion ausschlossen, und es war ihr systematischer Charakter (als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten - schon durch das um Vollständigkeit der relevanten Titel bemühte Literaturverzeichnis), der diesen nicht nur präskriptiven, sondern auch praktischen Ausschluss (durch die Unmöglichkeit des Rückwärts-Bibliographierens, aber auch durch die Disqualifikation aus dem Korpus erörterungswürdiger Texte, Argumente und Verfahren) aus der weiteren Debatte zum Elite-Begriff besorgte.179) Die Ausnahmen waren selbst eher randständige Publikationen.180) Dies ist bemerkenswert: Immerhin hatte seine 1948 unselbständig erschienene Schrift „Echte Demokratie und Elitegedanke" einige Beachtung gefunden. 181 ) Allerdings hatte dieser Text auch den Nerv der Zeit getroffen, angesichts eines breiten Interesses an den Spielregeln der Demokratie und vor allem der Erfolgschancen der Demokratie in Deutschland. Gegenüber diesem sehr konkreten Argumentationsziel blieb die umfassende Darstellung der Wert- und Charakter-Elite in der „Analytischen Gesellungslehre" in ihrem politischen und sozialen Relevanzbezug reichlich abstrakt. Zunächst einmal litt die Verbreitung von Solms' Thesen darunter, dass der im Stile der Zeitkritik geschriebene Text in Gestalt eines soziologischen Lehrbuches erschien, das durch die „reine" Soziologie, wie etwa Rene König sie propagierte, wissenschaftlich bald überholt wurde. 182 ) Damit wurde auch das Modell der Wert- und Charakter-Elite vom allgemeinen Niedergang der geisteswissenschaftlich orientierten Soziologie erfasst. Die soziologischen Arbeiten der 1960er Jahre konnten und mussten nicht an Solms' Buch anknüpfen. Zudem verfügte Solms nur über eine schwache Position im wissenschaftlichen wie im Literarisch-Politischen Feld. Als außerplanmäßiger Professor ohne Lehrstuhl und das damit verbundene wissenschaftliche Kapital, das die Voraussetzung dafür darstellt, Schüler heranzuziehen und zu protegieren, ohne die Herausgeberschaft einer renommierten Zeitschrift und einer Buchreihe, beschränkt auf das Unterrichten eines Nebenfaches und ohne die prestigereiche Akkumulation von Lehrbefugnissen in unterschiedlichen Disziplinen

von 1948, und Dreitzel erwähnte die „Analytische Gesellungslehre" nur deshalb mehrfach, um sich wiederholt von ihr abzugrenzen. Aber auch Lambrechts populär gehaltene Überblicksdarstellung „Die Soziologie" aus dem Jahr 1958 enthielt in den einschlägigen Passagen keinen Hinweis auf die Arbeiten von Solms. 179 ) Von den einschlägigen und wissenschaftlich bahnbrechenden Arbeiten dieser Zeit (allesamt Dissertationen) verweist nur Hans Peter Dreitzel auf Solms' Buch, und stets nur abwertend. Dreitzel·. Elitebegriff, S.6, S.15. 180 ) Etwa Jentsch: Evangelium und Elite. Doch spielte die Zeitschrift Anstöße weder im Literarisch-Politischen noch im Wissenschaftlichen Feld eine größere Rolle. 181 ) Solms: Demokratie. 182) vgl. Lepsius: Entwicklung.

2.2 Elemente der Wert- und Charakter-Elite

189

wie Psychologie, Anthropologie oder Psychologie verfügte Solms auch nur über ein verhältnismäßig geringes symbolisches Kapital: Er war nicht in der Lage, seine soziologische Kategorienlehre im Wissenschaftlichen Feld auch durchzusetzen. Ähnliches gilt für seine Stellung im Literarisch-Politischen Feld. Solms' Ausführungen waren - der geisteswissenschaftlichen Soziologie entsprechend - durchaus im intellektuellen Horizont und Stil der Zeitkritik geschrieben und sicherlich für ein „allgemein gebildetes" Publikum verständlich, doch erschien kein Auszug oder eine Zusammenfassung in einer der Kulturzeitschriften, und es fand nicht einmal in der Universitas eine Besprechung, geschweige denn, dass es im Merkur oder im Monat rezensiert worden wäre. Dass Solms in der gehobenen Publizistik der frühen 1960er Jahre keinen Anklang mehr fand, ist angesichts deren Politisierung und Links-Orientierung wenig überraschend. Doch selbst in den noch eher politikfernen und politischideell konservativen ausgehenden 1950er Jahren verhallte seine Stimme weitgehend ungehört. Und auch an den einschlägigen Evangelischen Akademien wurde Solms nicht aktiv. Kein Wunder, dass er mit seinem Lehrbuch auch die interessierten Intellektuellen nicht erreichte und in die Unternehmerschaft oder die Politik erst recht nicht durchdrang. Das Werk, eine Art idealistische Theorie sozialer und kultureller Macht, blieb deren Inhabern weitestgehend unbekannt. Und so ist sein Buch gewissermaßen als der intellektuelle Endund Höhepunkt des Modells der Wert- und Charakter-Elite zu lesen, der alle bisher vorgebrachten Argumente und Topoi in sich vereinte und den Diskussionsstand seiner ideengeschichtlichen Epoche wiedergab, aber kaum noch eigene Ausstrahlung besaß. Zu spät und am falschen Ort - dieses Urteil fällte die (Nicht-)Rezeptionsgeschichte über das Werk.

3. Legitimation: Die Elite als der relevante Teil der Gesellschaft Schon in der Einleitung zu dieser Untersuchung ist darauf hingewiesen worden, dass das Legitimationspotenzial der Elite-Doxa keineswegs als bloßes ideologisches Blendwerk anzusehen ist, das manipulativ und instrumentell eingesetzt werden könnte, um zweckgerichtet eine bestehende Privilegienstruktur zu rechtfertigen (oder zu kritisieren). Vielmehr bilden der Glaube an die Notwendigkeit einer Elite und die Vorstellung, die Eliten stellten den tendenziell einzigen relevanten Teil der Gesellschaft dar, ein komplexes politisch-ideelles Potenzial, das Legitimation und Kritik in ganz unterschiedliche Richtungen ermöglicht. Auf den ersten Blick scheint schon Heinrich von Treitschke diesen Glauben in seinem berühmten Wort von den „Millionen" artikuliert zu haben, die „ackern und schmieden und hobeln (müssen), damit einige Tausende forschen, malen und regieren können". 1 ) Doch tatsächlich rechtfertigte Treitschke damals materielle Ungleichheit im Allgemeinen, im Besonderen aber die althergebrachte ständische, und keine „elitäre" Ordnung. Erst Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto entwickelten wirklich auf auserwählten „Eliten" basierende Ordnungsentwürfe, in denen die Elite den wesentlichen Teil der Gesellschaft darstellte. James Burnham formulierte diesen Gedanken dann geradezu paradigmatisch (wobei er allerdings den Begriff „herrschende Klasse" verwendete, um eine „Elite" zu beschreiben!): „Vom Standpunkt dieser Theorie von der herrschenden Klasse aus versteht man unter Gesellschaft die Gesellschaft der herrschenden Klasse. Stärke und Schwäche einer Nation, ihre Kultur, ihre Ausdauer, ihre Blütezeit und ihr Verfall, alles hängt in erster Linie vom Wesen ihrer herrschenden Klasse ab. Noch genauer gesagt, um eine Nation studieren und verstehen zu können, um vorauszusagen, was geschehen wird, bedarf es vor allem und in erster Linie einer Analyse ihrer herrschenden Klasse. Politische Geschichte und politische Wissenschaft sind somit vorwiegend Geschichte und Wissenschaft der herrschenden Klassen, ihres Ursprungs, ihrer Entwicklung, Zusammensetzung, Struktur und Veränderung. Die Theorie von der herrschenden Klase verschafft uns auf diese Weise ein Prinzip, mit dessen Hilfe die unzähligen, sonst so gestalt- und sinnlosen Tatsachen des politischen Lebens systematisch zusammengefasst und verständlich gemacht werden können." 2 )

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!" Die ersten Theorien, die wegen des Legitimationspotenzials der Idee von der Elite als dem einzig relevanten Teil der Gesellschaft hier zu untersuchen sind, stammen nicht aus der Frühgeschichte der Bundesrepublik selbst, sondern aus ') Treitschke: Der Socialismus, S.2. ) Burnham: Machiavellisten, S. 113/14.

2

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3. Legitimation

der Exilzeit (wie bei Karl Mannheim) und aus dem Italien der Jahrhundertwende (Gaetano Mosca). Weil diese Schriften jedoch erst später einem deutschen Publikum zugänglich wurden, beeinflussten diese Theorien die deutsche Ideengeschichte erst nach 1945. Dabei stellte sich ihrer Rezeption, wie zu zeigen sein wird, auch dann noch massive Widerstände entgegen. Im Zeichen der Diskussionen über das Zentralthema „Elite und Demokratie" gelang schließlich ein für die Ideengeschichte der Bundesrepublik höchst bedeutsamer Vorgang, nämlich die Verschmelzung von bisher einander feindselig gegenüberstehenden Ideengebilden des Liberalismus und des Konservatismus. Mit der scharfen Abwendung von Phänomenen der „Massengesellschaft" und der „Massenkultur" und in skeptischer Distanz gegenüber der „Massendemokratie", schließlich in der Betonung der Notwendigkeit einer „bürgerlich" konzipierten „Persönlichkeits-Elite" löste sich eine hundertfünfzigjährige politisch-ideelle Frontstellung auf. Die Entdeckung des Elite-Begriffs gerade auch durch reformbereite konservative Politiker ist dabei als Zeichen für die Aussöhnung des deutschen Konservatismus mit der parlamentarischen Demokratie zu werten, weil eine ungleiche politische Machtverteilung mit dem Insistieren auf den durch Wertbindungen und Charakterqualitäten verbürgten Elite-Status gewählter Politiker gerechtfertigt werden konnte. Die Auseinandersetzung über die Abgrenzung zwischen einer „Elite" und einer „Herrschenden Klasse" schließlich bündelte die verschiedenen Diskussionsstränge und präformierte bis heute wirkend die Ausformung der Elite-Doxa. Denn das zentrale Ergebnis dieser Erörterungen bestand in der Differenzbestimmung zwischen der ihre Herrschaft auf Gewalt und Unterwerfung gründenden Herrschenden Klasse einerseits und der ihren Einfluss durch „Führung" beziehungsweise durch das Ausfüllen gesellschaftlich notwendiger Funktionen andererseits. Andererseits soll in diesem Kapitel das große Kritikpotenzial der EliteDoxa umrissen werden, das schon früh von verschiedenen Akteuren genutzt wurde, was wiederum zur Verbreitung der Elite-Doxa beitrug. Durch verschiedene Formen der Gegensatzbildung - der Gegenüberstellung legitimer Ordnungen mit echten Eliten in der Vergangenheit und dem beklagenswerten Fehlen einer wahren Elite in der Gegenwart oder der Überhöhung des Gegensatzes zwischen der wirklichen Elite und der dem bloßen Schein verpflichteten Prominenz - ließen sich soziale Phänomene, Gruppen und Institutionen, ja die ganze Gesellschaftsordnung stets auch delegitimieren. Die Grundlage dieser Gegenüberstellungen bestanden dabei in der Denkfigur des Gegensatzes zwischen der „echten" und einer „unechten" Elite. 3.1.1 Karl Mannheim: Planungselite im

Massenzeitalter

Der wichtigste Autor, der zum Topos „eine freie Gesellschaft braucht Eliten" zu nennen ist, war zweifelsohne Karl Mannheim. Er kann als der erste deutschsprachige Autor bezeichnet werden, der die Idee der unabdingbaren Notwen-

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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digkeit der Existenz von Eliten in allen gesellschaftlichen Teilbereichen nicht bloß behauptete, sondern eine kohärente Darstellung und Erklärung dieser These vorlegte. Diese Grundannahme, dass das allgemeine Wohlergehen einer jeden Gesellschaft von den Eliten abhinge, bildet einen Kernbestandteil der Elite-Doxa. Mannheim war es sicherlich nicht darum zu tun, diese Grundannahme in der intellektuellen Diskussion durchzusetzen. Seine Absicht war es, eine plausible Erklärung der „Krise" seiner Zeit zu entwickeln. Doch gerade die Überzeugungskraft seiner „Zeitdiagnose" stellte einen äußerst wirkungsvollen Beitrag zur Durchsetzung der Elite-Doxa dar. Karl Mannheim, einer der bedeutendsten Soziologen der Weimarer Republik, blieb nach 1933 im englischen Exil innerhalb seiner Fachwissenschaft isoliert, erreichte jedoch mit seinen zeitkritischen Schriften und Vorträgen einflussreiche Intellektuellenkreise, darunter die christliche Moot um T.S. Eliot. 3 ) In dieser Zeit entstanden auch diejenigen Schriften Mannheims, die seine außerwissenschaftliche Rezeption in Deutschland nach 1945 am stärksten prägten: „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" und „Diagnose unserer Zeit". Die Vortragsform dieser Texte erleichterte ihre Rezeption, und die - unter dem Eindruck von Nationalsozialismus und Krieg entstandene Krisenrhetorik („die gesellschaftlichen Ursachen der gegenwärtigen Kulturkrise" 4 )) passte nur zu gut in die intellektuelle Atmosphäre der Nachkriegszeit. Beides erleichterte die relativ breite Rezeption von Argumenten aus Mannheims Zeitdiagnosen, und zwar gerade seine Ausführungen zum „Eliteproblem" in den 1950er Jahren - für Beiträge eines im Exil verstorbenen jüdischen Emigranten war das nicht eben selbstverständlich. 5 ) Nicht zuletzt Mannheims ausführliche Beschäftigung mit dem „Christentum im Zeitalter der Planung", seinen Thesen über „christliche Werte und die sich verändernde Welt" und seine Überlegungen zur Stellung der Amtskirchen zwischen Massen und Elite 6 ) machten seine zeitkritischen Texte (im Gegensatz zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die in der Bundesrepublik - anders als etwa in den USA - damals keinen Widerhall fanden) für die zahlreichen Akteure interessant, die sich nach 1945 von einer Beschäftigung mit religiösen Inhalten eine intellektuelle Orientierung versprachen, dabei aber auch eine Anpassung der Theologie an die gewandelte Gegenwart erwarteten.

3

) Kettler und Meja: Karl Mannheim, S. 304/05. ) Mannheim·. Mensch, S. 89-137. 5 ) Mannheim wurde von ganz unterschiedlichen - mehrheitlich allerdings konservativen - Intellektuellen als Gewährsmann zeitkritischer Beobachtungen angegeben, z.B.: Serge Maiwald\ Freier Geist und totale Gesellschaft. Zur Lage des geistigen Menschen heute, in: Universitas 6.1951, S. 1335-44, hier S. 1335/36; Leopold von Wiese: Die leitenden Eliten, in: Universitas 10.1955, S.261-71, hier S.261; Otto von der Gablenz: Freiheit als Aufgabe in der Staatsführung, in: L030, S. 30-36, hier S.35; Bosl: Elitenbildung gestern und heute, S.459; Gehlen·. Sozialpsychologische Probleme, S.3. 6 ) Mannheim: Diagnose, S. 157-254, bes. S. 157-59, S. 167-70. 4

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3. Legitimation

Die Bedingungen der Rezeption seines zeitkritischen Hauptwerks „Mensch und Gesellschaft" (das keinesfalls als sein wissenschaftliches Hauptwerk gelten kann) waren allerdings einigermaßen verwickelt. Das Buch erschien auf Deutsch erstmals 1935 in einem niederländischen Verlag, und diese Ausgabe blieb für die deutsche Diskussion fast ein Vierteljahrhundert lang maßgeblich. Die erste englische Ausgabe erschien fünf Jahre nach der deutschen, allerdings in einem derart vermehrten Umfang, dass es nach Inhalt und Argumentationsrichtung „fast ein neues Werk" darstellte. 7 ) In der deutschen Ausgabe von 1935 stand nämlich der zeit diagnostische Aspekt im Vordergrund, greifbar vor allem im zweiten Teil des Buches: „Die gesellschaftlichen Ursachen der gegenwärtigen Kulturkrise". Ähnliches gilt für eine Sammlung von in Großbritannien gehaltenen Vorträgen unter dem Titel „Diagnose unserer Zeit" in der populären „Büchergilde Gutenberg". 8 ) Erst 19589) gab die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine Übersetzung der „vollständigen" englischen Ausgabe heraus, in der die Verlagerung der Argumentationsrichtung bzw. Mannheims eigentliches intellektuelles Anliegen sichtbar wurden: Mannheim hatte nach Auswegen aus der Kulturkrise gesucht, die in der ersten Ausgabe nur diagnostiziert worden war, und diese Wege in Formen der (sozialtechnologischen) Planung gefunden. Daher lautete die Überschrift des neuen Hauptkapitels in der Ausgabe von 1958 denn auch „Freiheit als Ziel der Planung". Mit dieser neuen Perspektive hätte Mannheim allerdings das westdeutsche intellektuelle Publikum der frühen 1950er Jahre auch gar nicht erreicht; hier begann die „Planungseuphorie" erst um I960. 10 ) Bis dahin wurde Planung außerhalb kleiner, den Gewerkschaften oder der SPD nahe stehender Kreise gerade nicht als Ausweg angesehen, sondern als Konstituens der die individuelle Freiheit und Spontaneität bedrohenden Massengesellschaft. Mannheims kulturkritische Aussagen der frühen Ausgabe passten jedoch viel besser in den intellektuellen Rahmen der Nachkriegsjahre, und dies gilt erst recht für seine Stellungnahmen zum Elite-Problem, die im Übrigen in ihrem intellektuellen und wissenschaftlichen Niveau die zeitgenössischen in Westdeutschland verfassten Texte um Längen überragten. Dies allein schon deshalb, weil Mannheim sich als einer der ersten deutschen Intellektuellen die Mühe machte, seine Ausführungen zum Elite-Thema mit empirischen Nachweisen zu unterfüttern. Auch wenn dies noch in der Ausgabe von 1958 nur gleichsam en passant geschah und keinen größeren Raum in seiner Argumentation einnahm, so versuchte er doch als einer der ersten Autoren, die relative Bedeutung der Auslesekriterien „Besitz" und „Leistung" an Hand quantifizierender Befunde ab-

7

) Mannheim: Mensch, S.5 (soweit nicht anders vermerkt, wird im Weiteren die Ausgabe von 1958 zitiert). Vgl. auch die „Vorbemerkung" des Übersetzers dieser Ausgabe, S. XXIII. 8 ) Mannheim·. Diagnose (1952). 9 ) Die Angabe „1951" bei Jaeggi ist falsch. Jaeggi: Elite, S. 161 und passim. 10 ) Ruck: Sommer.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

195

zuschätzen, und zwar bemerkenswerterweise am Fallbeispiel der sozialen Herkunft der Unternehmerschaft der Weimarer Republik. 11 ) Zunächst einmal jedoch stellte auch für Mannheim die Massen-Doxa den Ausgangspunkt der Betrachtungen dar, wenn auch nicht in jener hysterischen Ausformung, die für Teile der westdeutschen Diskussion so typisch war. Die „aufgelöste Massengesellschaft" der „Massendemokratie" war an die Stelle der „liberalen Minderheitendemokratie" des 19. Jahrhunderts getreten und hatte eine Reihe von folgenreichen Zerstörungsprozessen ausgelöst. 12 ) Erstens habe die „Fundamentaldemokratisierung" die Führung der Gesellschaft durch die traditionellen Eliten untergraben. Schon 1935 hatte er im Exil die „allgemeine Führungslosigkeit der Massengesellschaft" auf die „Durchbrechung der Exklusivität der Elitegruppen" und die „Häufung der Elitegruppen" zurückgeführt, mit der Folge, dass „sich keine Gruppe mehr so weit durchsetzen (kann), dass sie die gesamte Gesellschaft zu prägen vermöchte". 13 ) Denn die immer weiter zunehmende Interdependenz unterschiedlicher sozialer Teilsysteme erfordere auch eine verhältnismäßig weite und gleichmäßige Verteilung von Nonnen und Wissensbeständen. Doch gerade daran fehle es. Damit war eines der zentralen Anliegen der Behauptung der Nicht-Existenz einer echten Elite angesprochen: der Nachweis des Fehlens einer legitimen und effektiven Steuerung der Massengesellschaft. Zweitens, so Mannheim, habe die moderne Massengesellschaft stärker als ihre Vorgänger zentrifugale soziale und seelische Dynamiken freigesetzt und gleichzeitig die bestehenden Institutionen und Mechanismen der Integration ausgehöhlt. Diese Desintegrationsprozesse hätten Deutschland in den Faschismus geführt; zur Bewahrung der Freiheit mussten also neue, und zwar durch bewusste Planung koordinierte Formen („Sozialtechniken") der Integration geschaffen werden. Als „gesellschaftliche Ursachen der gegenwärtigen Kulturkrise" analysierte Mannheim 1958 systematisch vier Prozesse: Erstens einen Wandel des Selektionsprinzips der Eliten, zweitens und daraus folgend eine veränderte Zusammensetzung der Elitegruppen, damit verbunden drittens ein Verlust ihrer Exklusivität, und viertens schließlich kulminierten diese drei Bewegungen in der Auflösung der gesellschaftlichen Prägekraft der Eliten. 14 ) Den zentralen Bezugspunkt dieser Prozesse bildete das „liberale" 19. Jahrhundert. Durch diese Verlustperspektive gewannen Mannheims Ausführungen ihre große Übereinstimmung mit den spezifischen Problemstellungen im Intellektuellen Feld Nachkriegsdeutschlands. Zu diesem intellektuellen Einklang - und dieser Tat-

n ) Mannheim kam dabei zu dem Ergebnis, dass „die .organisierenden' Eliten, wie vor allem die führenden Wirtschafts- und Finanzkreise, eine neue fast völlig abgeschlossene Aristokratie" bilden. Mannheim: Mensch, S. 104-07, Zitat S. 105. 12 ) Mannheim: Mensch, S.52-54, S.71-74, S. 114-16, S. 126-28. Die entsprechenden Seitenzahlen in der Ausgabe von 1935 sind: S. 19-22, S. 37-10, S. 73-76, S. 83-85. 13 ) Mannheim: Mensch, S. 101. u ) Mannheim: Mensch, S. 100-28 (1935: S. 64-92).

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3. Legitimation

bestand erwies sich für Mannheims posthumen intellektuellen Erfolg wie für die Durchsetzung der Elite-Doxa von herausragender Bedeutung - trug jedoch vor allem bei, dass er die „gesellschaftlichen Ursachen der gegenwärtigen Kulturkrise" bei den Eliten verortete und nicht in anderen - zumindest theoretisch, aber eben nicht in der zeitgenössischen intellektuellen Praxis möglichen - gesellschaftlichen Problematiken, etwa der Auflösung oder aber der Verhärtung gewachsener sozialmoralischer Milieus oder in funktionalen Spannungen zwischen dem politischen System und sozialen Dynamiken u. a.m. Dass Mannheim an genau dieser Stelle seiner Untersuchung den Elite-Begriff einführen konnte, verdankte er offensichtlich seiner Fachschulung als Soziologe. Seinen eigentlichen Untersuchungsgegenstand bildeten die „Kulturproduzenten" (eine Fortsetzung seiner wissenssoziologischen Forschungsinteressen aus der Zeit vor dem Exil), doch für den Zusammenhang zwischen „Eliten und Intelligenz" musste er in erster Line auf die Schriften Vilfredo Paretos sowie darüber hinaus auf französische, anglo-amerikanische und russische Spezialliteratur verweisen. Aus den entsprechenden Passagen geht hervor, dass Mannheim nicht davon ausging, dass seinen deutschen Lesern derartige Konzepte sozialer Eliten vertraut gewesen wären, so dass sich die betreffenden Seiten wie eine knappe Einführung in eine sozialhistorische Eliten-Theorie lesen.15) (Diese Ausführungen finden sich bereits in der Ausgabe von 1935, lediglich die Literaturverweise waren dort etwas weniger umfangreich.16)) Erst in dieser Perspektive konnte sich Mannheim daran machen, die gesellschaftlichen Ursachen der „Kulturkrise" seiner Zeit im morphologischen Wandel der Eliten zu suchen. Den „Wandel im Auswahlprinzip der Eliten" schilderte Mannheim allerdings keineswegs als simple Nivellierung, Auflösung oder dergleichen (Topoi, die in der westdeutschen Diskussion zunächst vorherrschten); im Gegenteil, er konstatierte eine ausgesprochen paradoxe Entwicklung: Während des 19. Jahrhunderts seien Blut und Besitz die vorherrschenden Auslesekriterien für Adel und Bürgertum gewesen, kombiniert mit dem Leistungsprinzip, das allerdings weniger ausschlaggebend geblieben sei. Diese „Auswahlprinzipien" seinen der „liberalen Minderheitendemokratie" durchaus angemessen gewesen und hätten sich zu jener Zeit erfolgreich bewährt. Die moderne Mehrheitsdemokratie habe dann dazu geführt, dass „das Leistungsprinzip immer häufiger für sich allein zum Kriterium des gesellschaftlichen Erfolgs geworden" sei.17) „Die eigentliche Kulturbedrohung unserer Massengesellschaft" erblickte Mannheim allerdings darin, „dass diese Gesellschaft neuerdings für bestimmte Gruppen gewissermaßen als Prämie im Konkurrenzkampf um die Macht das Leistungsprinzip fallen lässt und plötzlich Bluts- und sonstige Kriterien schafft, 15

) Mannheim: Mensch, S. 95-100. ) Mannheim: Mensch (1935), S. 59-64. 17 ) Mannheim: Mensch, S. 106. 16

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

197

die das Leistungsprinzip weitgehend wieder aufheben sollen." 18 ) Die nationalsozialistische Rassentheorie analysierte er in diesem Zusammenhang als einen Versuch, den Massen „das Privileg des leistungslosen Emporkommens" zu gewährleisten. Eine Massengesellschaft, deren Eliten nicht nach dem Leistungsprinzip ausgewählt wurden, musste geradezu zwangsläufig „zum Faschismus entarten". 1 9 ) Vor allem von den Eliten und den Modi ihrer Reproduktion hing damit also die politische Verfassung einer Gesellschaft ab. Diese Schlussfolgerung gründete vor allem in der Annahme eines Kausalzusammenhanges zwischen der Morphologie der Eliten und deren gesellschaftlicher Führungs- und Integrationskraft. Und in der Tat machte Mannheim die „Durchbrechung der Exklusivität der Elitegruppen" (ein weiterer der genannten Basisprozesse) für die „allgemeine Führungslosigkeit" verantwortlich. Denn ein Signum der modernen Massengesellschaft sah er im quantitativen Anwachsen der Elitegruppen, gespeist aus den relativ offenen Zugangsmöglichkeiten einer liberalen Gesellschaftsordnung mit der Folge, dass keine dieser Teileliten nunmehr „die gesamte Gesellschaft zu prägen vermöchte". Diesen Wandel bezeichnete er als „negativ funktionierende Elitebildung", von der Deutschland nach 1918 besonders stark, Großbritannien noch nicht derart ausgeprägt betroffen gewesen sei. 20 ) Mannheim diskutierte diese Vorgänge hauptsächlich am Gegenstand der „Kulturelite" und nahm damit zum Teil seine wissenssoziologischen Forschungsinteressen der 1920er und frühen 30er Jahre (damals unter dem Begriff der „Intelligenz") wieder auf. 21 ) Da es sich für Mannheim bei der Krise seiner Zeit um eine „Kulturkrise" handelte, lag es für den Soziologen nahe, seine Untersuchung auch bei den „Kulturproduzenten" zu beginnen. Und so widmete er der „Intelligenzschicht" den größten Teil seines Kapitels über die Elite, wobei er zunächst ihren morphologischen Wandel, sodann die Beziehungen zwischen den Kulturproduzenten und -konsumenten und drittens der sozialen Stellung der Intelligenzschicht in der Gesellschaft nachging, bevor er abschließend - erneut unter Verwendung der Massen-Semantik und ihrer Unterscheidungs-Codes - einige Überlegungen zum Wandel der kulturellen und politischen Öffentlichkeit im Übergang von der liberalen zur Massen-Demokratie anstellte. Im hier zu diskutierenden Zusammenhang - der Grundannahme, dass eine freie Gesellschaft wirkliche Eliten braucht - ist vor allem Mannheims These von Bedeutung, dass der soziale Abstieg der Bildungsschichten (und damit auch der Intellektuellen) in ganz Europa nach 1918 eine soziale Entwertung 18

) Ebd., S. 107. ) Ebd., S. 108. 20 ) Ebd., S. 101-03. 21 ) Z.B. knüpfte er an seine Untersuchungen zur Bedeutung der lebensweltlichen Prägungen und intellektuellen Interessen der „Intelligenz" für die Herausbildung des konservativen „Denkstils" an. Mannheim·. Konservatismus (Untertitel: „Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens"), passim, bes. S. 144ff. 19

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3. Legitimation

der von ihnen hervorgebrachten kulturellen Güter zur Folge gehabt habe.22) Dies bildete dann den Auslöser jener Desintegrationsprozesse. Die Lösung, die Mannheim 1935 anbot, blieb allerdings noch vage. Zwar erörterte er auf vielen Seiten Probleme des „Denken(s) auf der Stufe der Planung". Doch als Auswege aus der Kulturkrise erkannte er nur die „äußere" und „innere gesellschaftliche Umformung" der Menschen. Unter letzteren stellte sich Mannheim Initiativen vor, die zu einem späteren Zeitpunkt der Diskussion als „pädagogische Elitebildung" bezeichnet wurden. Er hoffte auf „Pioniertypen", die ihrer „Zeit voraus sind", „Vorstoßtruppen" des „Umbaus der Gesellschaft vom Umbau des Gesamtmenschen her". 23 ) Diese neuen avantgardistischen „Führergruppen" oder „Eliten" sollten „nur erzieherisch und von der Innenseite her" gebildet werden. „Die Lösung kann hier nur darin bestehen, dass man einen Weg findet, der die neuen Vorstoßtruppen trotz ihres bildungsmäßig erworbenen Weitblicks und trotz einer der Realsituation vorauseilenden Humanität genügend herb, umstellungs- und aktionsfähig macht, sodass sie in dem Auf und Ab einer revolutionierten Welt bestehen können." 24 ) „Man wird also Zielbewusstheit und Weitsicht mit ungewöhnlicher Anpassungs- und Aktionsfähigkeit verbinden müssen."25) Das blieb denn doch sehr diffus und im Ungefähren. An welchen sozialen Orten diese neue Eigenschaften- oder Qualitäten-Elite gebildet werden sollte und auf welche Weise sie innerhalb einer freiheitlichen Planungs-Gesellschaft den Umbau der seelischen Struktur voranzutreiben vermöchte, blieb letztlich ungeklärt und wohl auch unklärbar. Doch diesen Charakterzug teilte Mannheims Elite-Konzept mit zahllosen anderen und deshalb behinderte er die Rezeption seiner Ideen nicht. Auf den ersten Blick fallen allerdings einige Unterschiede zur deutschen Nachkriegsdiskussion ins Auge, und zwar bereits in der Terminologie: Der Soziologe Mannheim sprach unbefangen von „Eliten" oder „Elitegruppen" und verwendete damit ein mehr oder weniger pluralistisches Elite-Konzept, in welchem die Teileliten zumindest nach gesellschaftlichen Funktionsbereichen untergliedert sind. Zu dieser Zeit pochten die Intellektuellen in der Bundesrepublik noch mehrheitlich auf die Einheit der einen Elite. Außerdem definierte Mannheim die „Selektionskriterien" der Elite bündig mit „Blut, Besitz und Leistung"26) - eine Formulierung mit erheblicher Langzeitwirkung auf die Konzeption empirischer Studien, wie nicht nur ein Blick in neuere Veröffentlichungen zur deutschen „Wirtschaftselite" zeigt27) - während in Westdeutsch-

22

) Mannheim·. Mensch, S. 117-23. ) Mannheim·. Mensch (1935), S. 194/95. Der Terminus der „Vorstoßtruppen" war Mannheim so wichtig, dass er ihn allein auf S. 195 viermal verwendete. 24 ) Mannheim·. Mensch (1935), S. 195/96. 25 ) Mannheim: Mensch, S. 265/66. 26 ) Ebd., S. 104. 27 ) Vgl. etwa Ziegler: Kontinuität, S.34; Schieder. Führungsschichten, S. 16. 23

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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land wiederum noch das Konzept der durch Wertbindungen und Charakterqualitäten auserwählten Eliteindividuen dominierte. Nun wurden Blut und Besitz - die Auslesekriterien, denen die Sozialgruppen Adel und Bürgertum entsprachen - keineswegs durch das Modell der Wert- und Charakter-Elite ausdrücklich ausgeschlossen, waren vielmehr (wie oben gezeigt) implizit in diesem Modell auch enthalten, aber eben nur implizit. Das Leistungsprinzip hingegen, dem Mannheim in der modernen Demokratie eine immer größere Bedeutung beimaß, war als positiv bewertetes Auslesekriterium kaum mit dem westdeutschen Diskussionsstand der ersten Nachkriegsdekade in Übereinstimmung zu bringen, denn hier bestanden zu enge semantische Beziehungen zum negativ bewerteten „Funktionär" der Massengesellschaft. Doch überwogen alles in allem die Übereinstimmungen mit den Rahmenbedingungen intellektueller Auseinandersetzungen im Nachkriegsdeutschland bei weitem. Vor allem handelte es sich bei der von Mannheim geforderten Elite der „Pioniere" des seelischen Umbaus letztlich um nichts anderes als um eine Wertelite, was sich in den mainstream der Nachkriegsdiskussion aufs Beste einfügte. Dass Mannheim durch den Begriff der „abendländischen Kulturelite" und seine besondere Aufmerksamkeit, die er dieser Gruppe schenkte, auch und gerade die Intellektuellen zur Elite stilisierte und damit auszeichnete, kam seiner Rezeption durch die westdeutschen Intellektuellen nach 1945 ebenfalls entgegen. 28 ) Insgesamt war Mannheims Argumentation auf die Notwendigkeit einer fähigen Elite gerichtet. Ohne eine solche Elite schien die Bewahrung der Freiheit durch die Wahrnehmung kreativer und organisatorischer Aufgaben unmöglich. Der Weimarer Republik habe eine solche Elite gefehlt. Nur die dauerhafte Sicherung der Freiheit (im Sinne einer kontinuierlich erbrachten Leistung) vermochte die jeweiligen Elitegruppen und ihre herausgehobene soziale Position zu rechtfertigen. Die Legitimationseffekte für die westdeutschen Oberklassen der 1950er Jahre konnten im Horizont dieses Modells nur langsam und mittelbar wirksam werden, nämlich erst, wenn die Verankerung, der Ausbau und die Verteidigung einer freiheitlichen Grundordnung über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich zu beobachten war. Damit hatte Mannheim immerhin einen wichtigen Maßstab für die Bewertung konkreter Eliteformationen formuliert, der allerdings erst in den 1960er Jahren relevant werden konnte. Die weiteren Gründe für die wohlwollende Aufnahme von Mannheims Ideen in Westdeutschland nach 1945 sind teilweise schon genannt worden: vor allem das zeitkritische, die Grenzen fachwissenschaftlicher Beschränkung sprengende Genre seiner Texte, die Verwendung der Massen-Semantik, in deren Code Mannheim die moderne Gesellschaft zeichnete, sowie die Verlustperspektive, in welcher er die Auflösung der bürgerlich-liberalen Ordnung des 2S

) Gleiches konnte selbstverständlich für den Terminus „abendländisch" gelten, der nach 1945 eine wahre Renaissance erfuhr, den Mannheim jedoch zu sporadisch verwendete, als dass dieser Gebrauch hätte von Ausschlag sein können. Vgl. Schildt. Abendland, S. 21-82.

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3. Legitimation

19. Jahrhunderts durch die Fundamentaldemokratisierung darstellte. Mannheims starkes Interesse an den Veränderungen der „seelischen Struktur" der Menschen war zumindest kompatibel mit der geisteswissenschaftlichen Orientierung der westdeutschen Sozialwissenschaften, und seine Nähe zum religiös motivierten Kreis der Moot um T.S.Eliot - einer der in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Westdeutschland gefragtesten ausländischen SchriftstellerIntellektuellen29) - dürfte seinen im Exil entstandenen Schriften ein gewisses Vertrauenskapital verschafft haben. 30 ) Und tatsächlich setzten sich Autoren mit ganz unterschiedlichen politischideellen Standorten mit Mannheims Überlegungen zur Bedeutung der Eliten für politische Systeme auseinander. Otto Stammer griff den Gedanken des Zusammenhangs zwischen der Morphologie der Eliten und ihrem Führungspotenzial auf sowie die Forderung nach demokratischer Planung (Stammer war allerdings auch seit 1920 SPD-Mitglied und in der Arbeiterbildung aktiv). 31 ) Rüdiger Altmann, der spätere Vordenker eines Beraterkreises für den Bundeskanzler Ludwig Erhard,32) versuchte hingegen, Mannheim gegen Stammer in Stellung zu bringen, indem er Mannheim als Vordenker des Gegensatzes zwischen Elite und Masse sowie der Notwendigkeit entschlossener und wertgebundener Führung durch eine einheitliche Elite darstellte.33) Theodor W. Adorno schließlich verfasste einen überaus scharfen Angriff auf Mannheims Buch von 1935. Adornos Text, 1937 geschrieben und 1953 veröffentlicht, war getränkt mit hochfahrenden Pauschalurteilen,34) wütenden Vorwürfen,35) böswilligen Missverständnissen (etwa dass sich Mannheim zum

29

) Schildt: Abendland, S. 42/43, S.99, S.109. Der Evangelischen Akademie Loccum gelang es im November 1949, eine Tagung mit T.S. Eliot zu veranstalten, zu der sich „etwa 50 führende Vertreter des deutschen Geisteslebens" versammelten. Die Tagung war völlig auf Eliot zentriert; die Anwesenden formulierten Fragen oder schilderten Problemstellungen, die der englische Gast dann autoritativ beantwortete. L003, S. 1 und passim. 30 ) So war es gerade diese „eigenständigere Würdigung des Ideellen" (im Vergleich zu seinen früheren Arbeiten, die dem „Soziologismus" verhaftet gewesen seien), die an Mannheims „Diagnose unserer Zeit" und an „Mensch und Gesellschaft" von Alfred Weber in seiner „Einführung in die Soziologie" gelobt wurden (S.384). 31 ) Weyer. Westdeutsche Soziologie, S. 409/10. 32 ) Van Laak: Gespräche, S. 262-65; Hentschel: Ludwig Erhard, S. 561/62. Altmann war stellvertretender Hauptgeschäftsführer des DIHT, Mitarbeiter der FAZ und galt als „anerkannter ,Schmittianer"'. Schmitt: Briefwechsel, S.200. 33 ) Rüdiger Altmann·. Politische Eliten, in: Civis Nr. 2 (1954), S. 20-21. 34 ) „Der desillusionierten Attitüde zum Trotz gehört die Wissenssoziologie auf einen vorHegeliansichen Standpunkt. Ihr Rekurs auf die eine Gruppe bildenden Menschen ... setzt eine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und individuellem Sein gewissermaßen transzendental voraus, deren Nichtexistenz einen der vordringlichsten Gegenstände der kritischen Theorie bildet. (...) Dialektische Begriffe sind nicht in formalsoziologische übersetzbar', ohne an ihrer Wahrheit Schaden zu nehmen." Adorno: Bewusstsein, S. 32/33, S.39. 35 ) „Soziologie meinte an ihrem Ursprung Kritik der Prinzipien der Gesellschaft, der sie sich gegenüberfand. Wissenssoziologie begnügt sich mit Reflexionen über den Jägersmann im grünen oder den Diplomaten im schwarzen Frack." Ebd., S.39.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

201

Fürsprecher einer „autoritären Demokratie mit Planung", ja einer „diktatorischen Einrichtung der Gesellschaft" mache) 3 6 ) und auftrumpfenden Belehrungen („Vulgärmarxismus") gegenüber dem längst verstorbenen Mannheim. Und doch griff Adorno das entscheidende - und an dieser Stelle unserer Untersuchung im Vordergrund stehende - Moment eines jeden Elite-Modells auf: die Rechtfertigung der Ungleichheit in einem sozialen System durch die Leistungen der in dieser Ungleichheit Privilegierten, der Elite. Mannheim hatte die Existenz von Eliten und die traditionellen Selektionskriterien Blut, Besitz und Leistung einfach als gegeben vorausgesetzt, ohne diese von einem bestimmten politisch-ideellen Standpunkt aus weiter zu problematisieren. Diese Auffassung kritisierte Adorno scharf als „positivistisch": „Der Positivist, der sine ira et studio die Tatsachen registriert, ist bereit, mit ihnen die Phrasen hinzunehmen, welche die Tatsachen verschleiern. Eine solche Phrase ist der Elite-Begriff selber. Seine Unwahrhaftigkeit besteht darin, dass die Privilegien bestimmter Gruppen teleologisch für das Resultat eines wie immer gearteten objektiven Ausleseprozesses ausgegeben werden, während niemand die Eliten ausgelesen hat als etwa diese sich selber. Mannheim aber sieht bei der Verwendung des Elite-Begriffs von der gesellschaftlichen Macht ab. Er gebraucht ihn lediglich formalsoziologisch .deskriptiv'. Das erlaubt es ihm, auf die je Privilegierten alles erwünschte Licht fallen zu lassen. Zugleich aber ist der Elite-Begriff so gewandt, dass die gegenwärtige Not durch irgendwelche gleichfalls ,neutrale' Störungen des Elitemechanismus ohne Rücksicht auf die politische Ökonomie von oben her deduzierbar wird." 37 ) Den Elite-Begriff selbst als falsche Phrase zu demaskieren, das war ein Angriff auf den Drehund Angelpunkt in Mannheims Argumentation. Es war aber auch ein Angriff auf die Elite-Doxa als solche: Der Vorwurf lautete ja nicht nur, dass der EliteBegriff Privilegien rechtfertige und von der effektiv bestehenden gesellschaftlichen Machtverteilung ablenke, sondern dass er grundsätzlich realitätsinadäquat sei. Und in der Tat hatte Mannheim die Ausleseprozesse der Elite an keiner Stelle daraufhin problematisiert, welche Gruppen die Kontrolle über die Auslesemechanismen und -Institutionen ausübten und materiell von der Elitenherrschaft der „liberalen Minderheitendemokratie" profitierten. Daher konnte Adorno Mannheim auch empirische Versäumnisse vorwerfen: „Die Mangelnde Homogenität der Eliten ist eine Fiktion." 3 8 ) An dieser Stelle zeigt sich daher auch, mit welch harten Bandagen die Kämpfe im Intellektuellen Feld gelegentlich ausgetragen wurden. Mannheim hatte für seine These von der gewandelten Zusammensetzung der Eliten immerhin mit quantitativen Daten argumentiert. Adorno, der sich im Vollbesitz des Wissens um die philosophische Überlegenheit der Kritischen Theorie mit derlei Vulgarismen nicht Adorno: Bewusstsein, S.38, S.41 (Hervorhebungen von M.R.). ) Adorno: Bewusstsein, S.27, S. 29/30, Zitat S.29. 38 ) Ebd., S.29. 37

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3. Legitimation

lange aufhielt, schreckte in seiner Entgegnung auch vor feuilletonistischen Platituden („wer nicht hineinpasst, wird draußen gehalten") nicht zurück. Zweifellos richtete sich der zentrale Angriff Adornos nämlich auf gewisse Implikationen von Mannheims Wissenssoziologie, die mit den philosophischen Ansprüchen der Kritischen Theorie unvereinbar waren: „Mit seiner Behauptung, alles Wissen sei ,seinsgebunden', schien Mannheim die fundamentale marxistische Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Bewusstsein zu untergraben, eine Unterscheidung, an der die Kritische Theorie ausdrücklich festhielt", wie Martin Jay zutreffend kommentiert. 39 ) Die Behauptung der „Seinsgebundenheit" jeglichen Wissens musste das Selbstverständnis der Kritischen Theorie, und aller Philosophie überhaupt an einem zentralen Punkt in Frage stellen. Daher war Adorno auch keineswegs der einzige Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, der sich mit Mannheim auseinandergesetzt und diesen dabei scharf angegriffen hatte. Herbert Marcuse etwa polemisierte im gleichen Jahr, in welchem Adorno seinen Aufsatz verfasst hatte: Die Kritische Theorie „ist an dem Wahrheitsgehalt der philosophischen Begriffe und Probleme interessiert ... Das Geschäft der Wissenssoziologie dagegen betrifft immer nur die Unwahrheiten, nicht die Wahrheiten der bisherigen Philosophie." 40 ) Und auch Horkheimer war in einer früheren Studie mit seinem Frankfurter Kollegen ins Gericht gegangen. 41 ) Adorno allerdings gelang es, den Überlegenheitsanspruch der Kritischen Theorie gegenüber der „Einzelwissenschaft" 42 ) der Mannheim'schen Wissenssoziologie nun sowohl auf dem philosophischen wie auf dem soziologischen Feld zu begründen, und hier an dessen stärkstem Punkt, nämlich Mannheims auf die neueste soziologische Literatur gestützte Einführung einer Elite-Theorie. Dieser Fähigkeit, Sozialphilosophie mit dem Rekurs auf avancierte empirische Forschung und gleichzeitig die Suprematie der Philosophie gegenüber den bloßen „Einzelwissenschaften" zu behaupten, verdankte die Kritische Theorie sicherlich ihre enorme Durchschlagskraft im Intellektuellen Feld. Theoretisch unterkomplex und empirisch ungenügend, das war letztlich Adornos Urteil über Mannheims Elite-Konzept.

39

) Jay\ Phantasie, S.88. ) Zitiert nach Jay: Phantasie, S. 88. 41 ) Jay: Phantasie, S.88, S.358. 42 ) Dieser Suprematieanspruch war in der Kritischen Theorie, die ja von Anfang an den Ehrgeiz besessen hatte, Sozialphilosophie und empirische Sozialwissenschaft miteinander zu vereinen, jenseits der individuellen Präferenzen ihrer einzelnen Protagonisten außerordentlich tief verwurzelt. Wie Rolf Wiggershaus geschrieben hat, traf die Fachwissenschaften „mit der positivistischen Wissenschaftstheorie ... wachsende Verachtung". Und Erich Fromm schrieb im März 1938 an Horkheimer: „Eben las ich einen so schönen Satz, dass ich ihn Ihnen abschreiben will, obwohl Sie ihn wahrscheinlich kennen: ,Wer sich mit den Einzelwissenschaften abgibt, aber keine Philosophie treibt, der gleicht den Freiern der Penelope, die sich mit den Sklavinnen einließen, da sie die Herrin nicht gewinnen konnten.'" Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 211/12.

40

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Allerdings blieb Adorno mit seinem Frontalangriff auf den Elite-Begriff letztlich allein. Obwohl sein Aufsatz nicht nur in der Zeitschrift Aufklärung, sondern etwas später auch in dem dann mehrfach wiederaufgelegten Sammelband „Prismen" abgedruckt wurde, blieb er auf die westdeutsche Diskussion zum Elite-Begriff praktisch folgenlos. Über das Ende des Untersuchungszeitraums hinaus griff kein Autor, der sich mit dem Elite-Begriff auseinandersetzte, Adornos Argumente auf, sein Text erschien auf keiner Literaturliste zu diesem Thema. An der mangelnden Prominenz des Autors kann dies nicht gelegen haben; eher schon an der Überschrift des Aufsatzes, der keinen Hinweis auf das Elite-Thema gab. Diese Nicht-Rezeption zeigt jedoch auch, wie resistent die gesamte Diskussion über das Sozialmodell „Elite" bereits Mitte der 1950er Jahre gegenüber grundsätzlicher Kritik geworden war. 3.1.2 Gaetano Mosca und die Erfindung der politischen Elite Wollte man den Beitrag Karl Mannheims zur Elite-Diskussion in einem einzigen Satz zusammenfassen, so könnte dieser wohl lauten: „Planung für eine freie Gesellschaft braucht Eliten!" Eine der zentralen Fragen in den westdeutschen Diskussionen zum Elite-Thema während der 1950er Jahre zielte jedoch auf den Zusammenhang zwischen Demokratie und Elite, was ja nicht ganz das gleiche ist. Ließen sich diese beiden politisch-ideellen Kategorien überhaupt vereinen? Oder bedingten sie einander sogar? Die politisch-ideelle Brisanz dieser Debatte verdankt sich der Tatsache, dass während der 1950er Jahre im konservativ gestimmten Intellektuellen Feld der Bundesrepublik zahlreiche Autoren große Resonanz fanden, die Demokratie als vollkommene politische Gleichheit aller Staatsbürger definierten und von dieser Definition aus die Unmöglichkeit wirklicher Demokratie postulierten. Waren Demokratie und Elite jedoch miteinander vereinbar, dann schlossen sich auch Demokratie und relative politische Ungleichheit, das heißt eine ungleiche Verteilung politischer Machtchancen, nicht aus. Von dieser Position aus gelang mit der Zeit die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie durch den politischen Konservatismus der Bundesrepublik. Eine Grundlagen für diese Auseinandersetzung lieferte das 1950 auf Deutsch erschienene, berühmt gewordene Buch „Die herrschende Klasse" von Gaetano Mosca, im Original als „Elementi di Scienza Politica" zuerst 1923 erschienen. 43 ) Die gesamte wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Literatur, die in den 1950er und 60er Jahren den Zusammenhang zwischen „Elite und Demokratie" erörterte, arbeitete sich an diesem Text ab. Wie be-

43

) Der Kern des Buches entstand zu Beginn der 1890er Jahre und wurde unter dem gleichen Titel 1895 veröffentlicht. 1923 erschien die wesentlich vermehrte und überarbeitete zweite Auflage. Die dritte Auflage 1938 erhielt einige Anmerkungen letzter Hand, in denen sich der mittlerweile achtzigjährige Mosca vorsichtig vom italienischen Faschismus distanzierte. Ins Deutsche übersetzt wurde die 4. Auflage von 1947.

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reits der italienische Originaltitel und der deutsche Untertitel des Werks klarmachten, hatte Mosca sich bemüht, „Grundlagen der politischen Wissenschaft" zu legen, die sich keineswegs ausschließlich mit Problemen der Demokratie und der Elite beschäftigten. Dennoch war es gerade die Erörterung dieser Gegenstände, denen Moscas Buch seinen (zweifelhaften) Ruhm verdankt. Die antidemokratische Zielrichtung dieser Grundlegung war nämlich offensichtlich. Es ist unbestritten, dass einer der Hauptimpulse von Moscas Schaffen in dem Versuch bestand, die logische Inkonsistenz und praktische Unmöglichkeit aller egalitären, demokratischen, „kollektivistischen" Politikmodelle seiner Zeit zu beweisen. 44 ) „Das Hauptthema seines ganzen Werks besteht aus einem verheerenden Angriff auf die ganze theoretische Basis der demokratischen und parlamentarischen Doktrin", meine James Burnham, der damit keineswegs ein Verdammungsurteil sprechen wollte. 45 ) Dem intellektuellen Kampf gegen den „Kollektivismus" widmete Mosca das umfangreichste Kapitel des Buches, der „Widerlegung des historischen Materialismus" fast ein ganzes weiteres. 46 ) Mit dem allgemeinen Wahlrecht hatte sich Mosca bereits in früheren Schriften beschäftigt; darüber hinaus „fügen (wir) an dieser Stelle keine Widerlegung dieser Lehre ein, denn dies ist die Aufgabe dieses ganzen Werkes". 47 ) Ihm genügte vorab die Feststellung, „dass die Gewählten meist nicht, wie die Theorie behauptet, Vertreter der Mehrheit ihrer Wähler sind". Denn jedes Politikmodell, in dessen Zentrum das allgemeine Wahlrecht, das heißt das Mehrheitsprinzip stand, musste einem der wichtigsten Elemente in Moscas „Grundlagen der politischen Wissenschaft", nämlich dem Beweis, dass stets und überall in menschlichen Gesellschaften das Minderheitsprinzip wirksam sei, konträr entgegenstehen. Und so „erledigte" Mosca die politische Demokratie in seinem Hauptwerk auf wenigen Seiten. Vier kurze Hinweise genügten ihm dabei. Erstens sei die Annahme, die Demokratie stelle einen engeren Kontakt zwischen Regierenden und Regierten her, grundfalsch: „Tatsächlich muss auch die despotischste Regierung große Vorsicht walten lassen, wenn es sich um die Verletzung der Gefühle, Überzeugungen und Vorurteile oder um eine ungewohnte finanzielle Belastung der Mehrheit handelt." 48 ) Zweitens sei mit der Demokratie nur zu häufig ein Niedergang moralischer Standards verbunden, gerade weil in der Regel die Besitzenden und Gebildeten viel besser organisiert seien als die tumben Massen. „Unter solchen Umständen siegt unausweichlich diejenige organisierte Minderheit, die am meisten 44

) Benedetto Croce musste daher den Vorwurf, Moscas Buch sein „antidemokratisch", als ungenau zurückweisen, um den wissenschaftlichen Ertrag der Arbeit zu retten. Croce: Geleitwort, in: Mosca: Die herrschende Klasse, S. 8/9 (ursprünglich eine Rezension des Buches in Critica [1923]). 45 ) Burnham: Machiavellisten, S. 131. 46 ) Mosca: Die herrschende Klasse, S. 226-70, S. 345-65. 47 ) Ebd., S.55; vgl. auch seinen Verweis auf S. 134, Anm. 1 (auch für das Folgende). 48 ) Ebd., S. 136/37 (auch für das Folgende).

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Geld ausgibt und betrügt." Drittens führe das allgemeine Wahlrecht zu Ineffizienz und politischer Stagnation, weil noch die schlechteste herrschende Klasse von größerer politischer Vernunft beseelt sei als die verständigste Masse: „Die Volksabstimmung (beschränkt) nicht nur die Macht der herrschenden Klasse, sondern sie kann zu einem ernsten Hindernis für jede Reform werden. Denn die regierende Klasse, selbst wenn sie egoistisch und korrupt ist, hat immer mehr Verständnis für die Notwendigkeiten von Reformen als die Mehrheit der Regierten." (In diesem nicht weiter begründeten Axiom wird Moscas Abscheu gegenüber allen demokratischen Politikformen besonders greifbar.) Und viertens schließlich bedeutete für Mosca die Teilhabe der Massen an der Herrschaft nichts weniger als den Schritt in die Tyrannei: „Die im Namen des Volkes sprechende Volksvertretung wird zum unverantwortlichen und anonymen Tyrannen, wenn sie, wie im parlamentarischen Regime, aus einem Organ der öffentlichen Diskussion zum Inhaber der legitimen Macht und ihres Prestiges wird. Dann lastet auf der gesamten Verwaltung und Rechtsprechung eines der schlechtesten Regimes, das die wirkliche Mehrheit einer modernen Gesellschaft erdulden kann" - ein Topos, in welchem ebenso wie oben seine negative Bewertung der Demokratie deutlich wird. All diese Ressentiments übertrug Mosca auf das Problem des Wahlrechts. Dem Repräsentativsystem räumte er die größten Chancen dann ein, wenn die Zahl der Wähler auf die herrschende Klasse selbst beschränkt bliebe: „Alles in allem funktioniert das liberale Prinzip daher am besten, wenn die Wählerschaft hauptsächlich aus der zweiten Schicht der herrschenden Klasse besteht, die das Rückgrat aller großen politischen Organisationen bildet. (...) Nur unter diesen Bedingungen [dass „die Kandidaten nicht auf die Denkweise und die Gefühle der ungebildetsten Schicht Rücksicht nehmen müssen"] kann die Verantwortlichkeit der Gewählten vor ihren Wählern mehr als eine reine Illusion sein, und das ist eine der Hauptvoraussetzungen für ein liberales Regime." 49 ) Die Trennung zwischen Demokratie und Parlamentarismus, die Mosca hier vornahm, stellte im Rahmen seiner Untersuchung nicht lediglich eine historisch-genetische und auch nicht nur eine systematisch-funktionale, sondern auch und vor allem eine politisch-ideelle und moralische Unterscheidung dar. Dem Repräsentativsystem konnte Mosca noch positive „Ausnahmeperioden" abgewinnen (denen allerdings stets die Gefahr einer Lähmung des Regierungswillens entgegenstünde, wenn die Exekutive in zu große Abhängigkeit von der Legislative geriete); 50 ) die A/assendemokratie lehnte er aus tiefstem Herzen ab. Mosca hing somit letztlich einem idealisierten „liberalen" Politikmodell des 19. Jahrhunderts an, in welchem eine verantwortungsbewusste, führungsstarke und moralisch integre obere Mittelschicht unter Ausschluss der breiten Bevölkerungsschichten durchaus mittels parlamentarischer Verfahren die Ge49

) Ebd., S. 335. ) Beispiele lieferte für ihn die Geschichte Großbritanniens und der USA; ebd., S.324, S.217. 50

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3. Legitimation

schicke der Nation lenkt. An diesem Punkt berührten sich Moscas Ideen mit denjenigen liberaler Denker der Nachkriegszeit wie Wilhelm Röpke, die im folgenden Abschnitt untersucht werden. Diese inhärente antidemokratische Tendenz seiner „Grundlagen" wurde schnell erkannt: Der Verfasser einer intellektuellen Biographie Moscas, James H. Meisel, beginnt seine Darstellung mit einer persönlichen Erinnerung an seine Heidelberger Studienzeit während der 1920er Jahre: „Die Eingeweihten (raunten) uns, den Jüngeren, den gefährlichen Namen zu: den Namen dessen, der die Demokratie endgültig widerlegt habe. Wer war es - Marx? Mitleidiges Lächeln. Mosca war der Mann." 51 ) Umso erstaunlicher ist es auf den ersten Blick, dass der Übersetzer, der deutsch-österreichische Historiker und Publizist Franz Borkenau, in seiner „Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe" mit keinem Wort auf diese politischen Implikationen von Moscas Werk einging. Borkenau war immerhin während der 1920er Jahre aktives Mitglied der KPD gewesen, hatte auch nach seinem Bruch mit dem Stalinismus im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft und gehörte nach 1945 dem Kongress für kulturelle Freiheit an, wo er zum radikal antikommunistischen Flügel um Arthur Koestler gehörte. Außerdem hatte er sich einen Namen als bedeutender Totalitarismustheoretiker gemacht. 52 ) Und gerade für eine sich explizit als antitotalitär und antikommunistisch verstehende Politikwissenschaft waren die Konzepte Moscas auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges um 1950 offensichtlich außerordentlich attraktiv. Diese Konzepte, tief verwurzelt in der politischen Ideengeschichte und vorgetragen unter ständigem Bezug auf Plato, Aristoteles, Montesquieu und Machiavelli, 53 ) liefen am Ende auf das klassische Ideal einer „gemischten Verfassung" aus repräsentativen und autoritären Elementen unter politischer Ausschaltung der „Massen" hinaus. 54 ) Die Ursache für ihre Attraktivität liegt auch hier in der verbreiteten Perzeption, im Zeitalter der Massen leben zu müssen. Auch Mosca sprach ganz selbstverständlich vom „Sturmwind der sozialen Gleichheit" und beschrieb die Massengesellschaft als eine Welt der gestörten Ordnung. 55 ) Wurde diese Wahrnehmung geteilt - und das war zwischen 1945 und 1955 weithin der Fall - , so waren auch die von Mosca aufgeworfenen Fragen nach dem Zusammen51

) Meisel: Mythus, S.7. ) Hochgeschwender. Freiheit, S. 100, S.235, S.260. Borkenau veröffentlichte vor allem in den Jahren um 1950 sehr häufig Aufsätze im Monat und im Merkur. 53 ) Dies waren auch die meistzitierten Referenzautoren bei Mosca, neben Rousseau und Marx, von denen er sich allerdings beständig abgrenzte. 54 ) Mosca: Die herrschende Klasse, besonders S.346; ders.: Theorie, in: Meisel·. Mythus, S. 385-93, bes. S.393 (bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung Meiseis des Schlusskapitels von Moscas „Storia delle dottrine politiche" von 1933). In Moscas Terminologie müsste man wohl sagen: Eine politische Verfassung, in der sich das „liberale" und das „autokratische Prinzip", und eine Form der Eliten-Rekrutierung, in der sich die „demokratische" und die „aristokratische Tendenz" die Waage halten. Vgl. Mosca: Die herrschende Klasse, S. 321/22. 55 ) Mosca: Die herrschende Klasse, S.335, S.347. sz

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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hang zwischen einer wünschenswerten politischen Ordnung und der Rolle der „politischen Klasse" (oder Elite) nach wie vor aktuell. Doch so einflussreich Moscas Werk für die Ausbreitung der Elite-Doxa auch war, den Elite-Begriff verwendete er keineswegs, im Gegenteil, Mosca sprach durchgehend von der „politischen Klasse", aus der in der Übersetzung die „herrschende Klasse" wurde. 56 ) Er verwarf sogar ausdrücklich den Terminus „Elite" und seine Verwendung durch Vilfredo Pareto mit der bemerkenswerten Begründung, dass der Elite-Begriff eine moralische Bewertung der politisch Herrschenden beinhalte, die er als unpräzise ablehne. 57 ) Dies ist vor allem aus dem Grund bemerkenswert, weil Mosca selbst als politisch engagierter Kritiker seiner Zeit mit seiner „politischen Klasse" in Wahrheit eine Wertund Charakter-Elite beschrieb: 58 ) „Abgesehen von allen Vorteilen der Organisiertheit bestehen die herrschenden Minderheiten meistens aus Individuen, die der Masse der Beherrschten in materieller, intellektueller, sogar in moralischer Hinsicht überlegen sind, oder sie sind wenigsten Nachkommen von Individuen, die solche Vorzüge besaßen." 59 ) Diese Begriffswahl störte die Mosca-Rezeption, etwa James Burnham oder Michael Freund, keineswegs in ihrer Gleichsetzung der Termini „Elite" und „Herrschende Klasse" unter ständigem Verweis auf Moscas Werk. Anstatt uns nun der damit angesprochenen persönlichen Beziehung zwischen Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto zuzuwenden (einem von Neid und gegenseitigen Vorwürfen vergifteten Verhältnis, in dessen Zentrum der Streit um das Urheberrecht auf die Theorie der sozial ausschlaggebenden Minderheit stand), und obwohl wir so einigen Ergebnissen dieses Teils der Untersuchung vorgreifen, müssen wir uns einem der „Vermächtnisse" Moscas an die weiteren Diskussionen über Eliten zuwenden, auf welches dieses Zitat verweist. Wir finden hier eine derjenigen Denkfiguren, welche durch die Rezeption seines Werkes besonders einflussreich auf jene Diskussionen wirkten. Die gedachten Angehörigen von Moscas politischer oder herrschender Klasse zeichneten sich nämlich nicht nur durch besondere Eigenschaften (charakterliche Qualitäten und besondere Wertbindungen) gegenüber der Masse der Bevölkerung aus; diese Eigenschaften würden auch hauptsächlich auf dem Wege der Vererbung weitergegeben: „Es könnte sehr wohl sein, dass es zur Entfaltung gewisser geistiger und vor allem moralischer Eigenschaften, die für das Ansehen und für die Erfüllung der Aufgaben einer herrschenden Klasse von höchster Bedeutung sind, einer Aufeinanderfolge von mehreren Generationen derselben Familie in hoher sozialer Stellung bedarf." 60 ) Damit war nun keines-

56

) Dies gilt auch für die englische erschien. 57 ) Mosca: Die herrschende Klasse, 58 ) Meisel: Mythus, S. 15/16. 59 ) Mosca·. Die herrschende Klasse, 60 ) Mosca: Die herrschende Klasse,

Übersetzung, in welcher der Terminus „ruling class" S. 363. S.55. S.340.

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3. Legitimation

wegs gemeint, dass er die Ansicht vertreten hätte, biologische Faktoren seien entscheidend für die Ausbildung und Weitergabe der erforderlichen Qualitäten jener Wert- und Charakter-Elite. Mosca dachte an Vorgänge sozialer, nicht biologischer Vererbung: „Die Mitglieder einer solchen Aristokratie verdanken ihre besonderen Eigenschaften nicht so sehr dem Blut, das in ihren Adern fließt, als ihrer besonderen Erziehung, die bestimmte geistige und moralische Neigungen gefördert und andere unterdrückt hat." 61 ) Mosca formulierte damit jenen später weit verbreiteten Topos, der besagte, dass Eliten nicht nur zumindest teilweise auf „natürlichen" Ungleichheiten beruhten, sondern dass für die Ausbildung dieser gewünschten Merkmale lange Perioden stabiler sozialer Ungleichheit vorteilhaft wären. Auf diese Weise war die Basis gelegt für die Annahme, Wert- und Charakter-Eliten bildeten sich nahezu ausschließlich innerhalb der Oberklassen einer Gesellschaft bzw. stellten einen Teil dieser Oberklassen dar. Deshalb sei soziale Ungleichheit nicht nur unvermeidlich, sondern auch wünschenswert. Mosca beschrieb die Ursachen für die soziale Vererbung der für die Herrschaftsausübung notwendigen persönlichen Eigenschaften ausgesprochen scharfsichtig: „Erstens tendieren alle politischen Klassen zur faktischen, wenn auch nicht immer zur gesetzlichen Erblichkeit. Alle politischen Kräfte haben die Eigenschaft, die man in der Physik die Trägheit nennt, d. h. eine Tendenz, im gegebenen Zustand zu verbleiben. Reichtum und kriegerische Tüchtigkeit erhalten sich in gewissen Familien leicht durch moralische Traditionen und durch Vererbung. Die Praxis der hohen Politik, die Gewohnheit und selbst die Fähigkeit zum Behandeln großer Fragen erwirbt sich viel leichter, wenn man mit ihnen von Kindheit an vertraut ist. Auch wo akademische Grade, wissenschaftliche Kultur, standesgemäßes Verhalten und besondere Ausleseprüfungen den Zugang zu den öffentlichen Ämtern öffnen, bleibt noch immer, französisch ausgedrückt, den Vorteil der position dejä prises bestehen. Prüfungen und Wettbewerbe mögen theoretisch allen zugänglich sein, aber in Wirklichkeit hat die Mehrzahl nie die Mittel zur Bestreitung der Kosten einer langen Vorbereitung, und viele andere sind nicht im Besitz familiärer und sonstiger Verbindungen, um von vornherein den rechten Start zu finden und das Tasten und die Fehler zu vermeiden, die in einem ungewohnten Milieu ohne Führer und Helfer unvermeidlich sind." 62 )

Er nahm diese vollkommen zutreffenden Beobachtungen jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer Sozialkritik, die (etwa aus einer rein leistungsorientierten Perspektive) die Erbprivilegien der Oberklassen und ihre Startvorteile im Wettkampf um Machtpositionen zum Gegenstand gehabt hätte; im Gegenteil: Für ihn - und für viele seiner Leser - war das ewige Bestehen derartiger Ungleichheiten nur der Beweis der These, dass wahre Demokratie niemals zu verwirklichen sei. Systematisch gesehen ist dieser Topos von der ewigen Ungleichheit sicherlich der Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen, die Mosca in den „Elementi di Scienza Politica" anstellte. Zugleich formulierte er damit eines der zentralen Elemente der Elite-Doxa - sein Satz, dass es „in allen Gesellschaften

61

) Ebd., S. 62-64. ) Mosca: Die herrschende Klasse, S. 61/62.

62

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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... zwei Klassen" gebe, „eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird", ist oben schon zitiert worden. Auch wenn dieser Gedanke nicht auf ihn selbst zurückging, so gehört er doch im Rahmen der intellektuellen Arbeit am EliteBegriff (zu der er allerdings einen entscheidenden Beitrag leistete) zum Nucleus der Grundannahmen, aus denen die Struktur der weiteren Elemente der Elite-Doxa hervorging. Dabei war Mosca so sehr überzeugt von jener ewigen Zweiteilung der Gesellschaft in eine herrschende Minderheit und eine beherrschte Mehrheit, dass er sich gar nicht weiter bemühte, in seiner „Theorie" weitere Legitimationsgründe für diese Ordnung zu finden. Denn wenn die Existenz einer herrschenden Klasse in jeder menschlichen Gesellschaft eine unumstößliche Gewissheit und Notwendigkeit darstellte, war eine allgemeine Rechtfertigung jenseits der Einzelfälle weder notwendig noch möglich. Das bedeutet nicht, dass Mosca der Meinung gewesen wäre, derartige Rechtfertigungen seien grundsätzlich nicht notwendig, nur war hier keine inhaltliche A-priori-Generalisierung möglich. Für die jeweiligen situativ wirksamen Legitimationskonstruktionen fand er sogar einen besonderen Begriff: die „politische Formel". Doch stellt diese „politische Formel" als analytischer Begriff keine generelle Rechtfertigung der Eliten-Herrschaft, in Form ihrer besonderen Fähigkeiten, ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Kultur oder Ähnlichem dar. Mosca wollte die Existenz der herrschenden Klasse und ihre Funktion nicht rechtfertigen, sondern das Minderheitenprinzip gegen die Vertreter des Majoritätsprinzips, aber auch gegen die Advokaten des Führer-Glaubens logisch beweisen: „Aber der Mann an der Spitze des Staates könnte gewiss nicht ohne die Unterstützung einer herrschenden Klasse regieren, die seinen Befehlen Respekt verschafft und für ihre Durchführung sorgt. Er mag einen einzelnen oder einige Mitglieder der herrschenden Klasse seine Macht fühlen lassen, aber er kann sie nicht als Ganzes vor den Kopf stoßen oder sie beseitigen. Und selbst wenn das möglich wäre, müsste er sofort eine andere ebensolche Klasse schaffen, denn ohne deren Unterstützung wäre seiner Tätigkeit völlig gelähmt." 63 ) Die letzte Rechtfertigung der Elite-Herrschaft bestand für ihn in der Universalität und Überzeitlichkeit ihrer bloßen Existenz. Andererseits vertrat Mosca genau wie nach ihm Mannheim die Auffassung, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Morphologie der Eliten und dem Wohlergehen einer Gesellschaft bestand: „Vom Standpunkt der Forschung aus gesehen liegt die Bedeutung des Begriffs der politischen Klasse darin, dass deren wechselnde Zusammensetzung über die politische Struktur und den Kulturstand eines Volkes entscheidet." 64 ) Die soziale Gestalt der Elite stellte für Mosca also die einzige Determinante des politischen Systems und seiner Institutionen dar. Diese Denkfigur bildete die Ausgangsfragestellung der ersten empirischen Arbeiten westdeutscher Politikwissenschaftler zur Funktionsweise der modernen Demokratie. 63 M

) Ebd., S.54. Historische Beispiele gab Mosca v.a. auf den Seiten 96-106, ebd. ) Ebd.,S.54.

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3. Legitimation

Für deutsche Leser entstand allerdings ein semantisches Problem: Mosca hatte im Original von der „politischen" oder „regierenden" Klasse gesprochen, aus der in der Übersetzung eben die „herrschende" Klasse geworden war. Sowohl die Kategorie der Herrschaft als auch diejenige der Klasse, wie immer sie inhaltlich gefüllt wurden, waren zumindest vorübergehend diskreditiert und innerhalb des Intellektuellen Feldes deshalb weitgehend marginalisiert. Dies dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass die deutsche Mosca-Rezeption zunächst weitgehend auf Sozial- (vor allem Politik-)Wissenschaftler beschränkt blieb, die in dieser Frage noch die geringsten Berührungsängste zeigten. Für die deutschen Leser der Jahre nach 1950 konnte Mosca in dieser Hinsicht also nur wenige Anstöße geben. Auf einem anderen Gebiet war Moscas „Theorie der herrschenden Klasse" dagegen viel geeigneter, die westdeutsche Debatte anzuregen, nämlich auf demjenigen der Auslese und Zusammensetzung der herrschenden Klasse oder Elite. Die Angehörigen der herrschenden Klasse zeichneten sich für ihn dadurch aus, dass sie über die entscheidenden sozialen Kräfte - also physische Gewalt (Militär), Religion, Wissenschaft und Ökonomie geboten. 65 ) Zwischen diesen Machtgruppen und zwischen den Aufsteigern innerhalb dieser Felder herrschte in den Augen Moscas eine unablässige und harte Konkurrenz: „Die Konkurrenz zwischen den Individuen gilt in jeder sozialen Gruppe dem Kampf um die höchsten Stellungen, um Reichtum, um Führung und um den Besitz jener Mittel, die einem Menschen die Verfügung über Tätigkeit und Willen vieler anderer Menschen sichern." 66 ) Bis zu diesem Punkt zeigte das Konzept der „herrschenden" oder „politischen Klasse" prima facie keinen großen Unterschied zu ähnlichen Begriffen wie „Oberschicht", „Oberklassen", „Führungsgruppen", „soziale Eliten" usw. Alle diese Modelle koppeln die Zugehörigkeit zu den derart umschriebenen Kollektiven an den Besitz überdurchschnittlicher sozialer Macht unterschiedlicher Herkunft. Mosca betonte lediglich etwas stärker die Bedeutung der Konkurrenz für die Auslese, die Bewährung im „Kampf um Vorrang". Dabei ging er davon aus, dass eine zur Herrschaft unfähige Herrschende Klasse früher oder später durch eine andere ersetzt würde - durch deren langsamen Aufstieg oder durch eine Revolution. Auf der anderen Seite hielt Mosca jedoch auch das „moralische Niveau" der herrschenden Klasse für wichtig. Denn „moralische Eigenschaften" und charakterliche Qualitäten bildeten in seiner Theorie die Voraussetzung zur Herrschaftsausübung wie zum sozialen Aufstieg in die Herrschende Klasse, und diese Eigenschaften wurden in den betreffenden Familien ausgebildet und tradiert. Hierzu zählte er vor allem „Arbeitsfähigkeit", „Energie", den „Willen zur Herrschaft", „Menschenkenntnis" und eine „gewisse Gefühllosigkeit". 67 ) Wir sehen also: Nicht allein die Herrschaftspositionen und die soziale 65

) Ebd., S. 56-61. ) Ebd., S. 36. 67 ) Ebd., S. 326, S. 351. 66

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Zusammensetzung durch Aufstieg und Abstieg interessierten Mosca in seiner Theorie, sondern ebenso die moralischen und charakterlichen Qualitäten, über welche die Mitglieder der herrschenden Klasse verfügen sollten. Ausbildung und Weitergabe dieser Eigenschaften würden in erster Linie durch familiäre Traditionen gefördert; eine plausible und mehrfach wiederholte Annahme. 68 ) Denn da es sich bei jenen Tugenden um die Voraussetzungen für den Erfolg im harten sozialen Wettbewerb handelte, wurden diese Erfolgsgeheimnisse vor allem innerhalb der Familien, die davon profitiert hatten, weitergegeben. Ohne den Antrieb zu rastlosem Herrschaftswillen durch familiäre Traditionen entstünden dagegen gerade bei erblich (ständisch) abgeschlossenen Eliten „Schlaffheit", „Sinnlichkeit" und „Frivolität" mit der Folge, dass „den herrschenden Klassen jede Möglichkeit der Beeinflussung der Gedanken und Gefühle der Massen" abhanden käme: „Sie verlieren die Fähigkeit, die Massen zu führen." Und nicht nur für die Herrschaftsausübung, sondern auch für den sozialen Aufstieg, der vielleicht einmal in eine Herrschaftsposition führen könnte: „Arbeitsfähigkeit" und der „dauernde Wille, aufzusteigen und oben zu bleiben" gehörten für ihn dazu. Dies waren durchaus bürgerliche Tugenden, die nur von einem ( g r o ß b ü r gerlichen Habitus hervorgebracht werden konnten. 69 ) Auch wenn Mosca in seiner Untersuchung viele historisch erfolgreiche Aristokratien beschrieb (wobei dann das Arbeitsethos begreiflicherweise eine geringere Rolle spielte), so konnten deutsche Leser der 1950er Jahre Moscas Aussagen durchaus als Rechtfertigung bürgerlicher Herrschaft verstehen. Dass die Aristokratie sozial und politisch im Nachkriegsdeutschland keine Rolle mehr spielen konnte, ließ sich erleichtert feststellen oder beklagen (was häufiger der Fall war!) 70 ) - an der Tatsache ließ sich nicht vorbei sehen. Die Ergebnisse Moscas, der ja von längeren Perioden stabiler sozialer Ungleichheit zur Ausbildung und Tradierung der notwendigen moralischen und charakterlichen Qualitäten ausgegangen war, ließen sich auf zwei unterschiedliche Weisen interpretieren, die sich in der intellektuellen Praxis jedoch durchaus verbinden oder überschneiden konnten: Entweder hatten die Verheerungen der Kriegs- und Nachkriegszeit alle sozialen Voraussetzungen für die Bildung einer moralisch und charakterlich legitimiert regierenden Gruppe zerstört - dann waren die politischen Machthaber der jungen Bundesrepublik keine legitim herrschende Gruppe, weil ihnen die ethisch-politischen Qualifikationen fehlten. Eventuell konnte man sich bemühen, stabile soziale Bedingungen zur Bildung einer echten Elite wiederherzustellen. Oder aber die soziale Machtverteilung, die ja auch nach 1945 große Ungleichheiten hatte bestehen lassen - was spätestens Mitte der 1950er Jahre unübersehbar wurde, als sich die „fragmentierte Zusammen68

) Ebd., S.61, S.63, S.326, S.340-46, S.351 (auch für das Folgende). ) Vgl. Reitmayer:,Bürgerlichkeit'. 70 ) Dieser Topos ist im Zusammenhang mit zeitgenössischen Forderungen nach Einrichtung eines „Oberhauses" durch Umwandlung des Bundesrates zu sehen. 69

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3. Legitimation

bruchsgesellschaft" weitgehend konsolidiert hatte und das Konzept der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft erklären half, weshalb diese Ungleichheiten nun kein relevantes (und zu beseitigendes) Problem mehr darstellten - bot eben doch die Sicherheit und Grundlage für eine stabile „bürgerliche" Herrschaft (in sozialökonomischem wie in sozialmoralischem Sinne). Mosca vermittelte also die Möglichkeit für eine „negative" wie für eine „positive" Bewertung der politischen Zeitverhältnisse der 1950er Jahre, und diese beiden Richtungen, mit denen eben auch gegensätzliche Annahmen zum Stand der Elite-Bildung in Westdeutschland verbunden waren, stellten tatsächlich die beiden wichtigsten Positionen in den Auseinandersetzungen um das Ordnungsmodell „Elite" während dieser Zeit dar. Ein ganz anderes Problem bereitete Moscas Theorie den (zu dieser Zeit nicht sehr zahlreichen) 71 ) empirisch arbeitenden Politikwissenschaftlern, die sich unter dem Oberbegriff der „Politischen Soziologie" für die sozialen Bedingungen einer funktionierenden Demokratie interessierten. Dolf Sternberger, Otto Stammer, aber auch Michael Freund entdeckten sehr schnell das 1950 erschienene Buch. Stammer lenkte den Blick sehr früh auf die Untersuchung der sozialen Gestalt der politischen Elite einer Demokratie, und genau in diesem Zusammenhang setzte er sich mit Moscas Theorie der herrschenden Klasse auseinander. 72 ) Stammer richtete zielsicher das Augenmerk auf den schwachen Punkt in Moscas Theorie, als er die Frage stellte, „ob die Schichten, die Mosca im Sinne hat, wirklich Klassen nach dem hergebrachten Begriffe sind, d.h. verhältnismäßig breite, zusammengefasste und gesellschaftliche Gruppierungen mit einheitlicher gesellschaftlicher Funktion und einem gemeinsamen sozialen Habitus." 73 ) Tatsächlich war die Bestimmung der „politischen Klasse" bei Mosca eigentümlich vage geblieben: Umfasste sie - streng positional und von Individuen ausgehend - im engeren Sinne allein die Inhaber der Herrschaftspositionen, oder weiter gefasst alle diejenigen, die gemäß der Reproduktionslogik dieser Klasse ernsthafte Chancen haben, derartige Positionen zu erreichen (worauf seine Ausführungen über die Bedeutung der Familie für die Ausbildung und Weitergabe der erforderlichen Herrschaftsqualitäten hindeuten)? Stammer löste dieses Problem auf einem äußerst eleganten semantischen Wege: „In Wirklichkeit meint Mosca mit seinen politischen Klassen' Eliten." Für Stammer war genau dies der Ausgangspunkt für den Entwurf seiner eigenen, noch zu erörternden funktionalistischen ElitenDefinition. Bei ihm wird besonders deutlich, wie aus der Auseinandersetzung mit Moscas Buch der Impuls zur Weiterentwicklung des Elite-Begriffs ausging· Ein kurzes Resümee von Moscas Theorie mag erklären, weshalb das Buch eines bei Erscheinen der deutschen Übersetzung bereits verstorbenen Autors, 71

) Vgl. Mohr. Politikwissenschaft. ) Stammer: Elitenproblem (zuerst 1951), S. 196-202, bes. S. 200/01. 73 ) Ebd., S. 200. 72

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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ein Werk, dessen antidemokratische Argumentationsrichtung unübersehbar war, dennoch Einzug in die Diskussion fand. Die vielleicht wichtigste Ursache lag wohl darin, dass seine „Grundlagen der politischen Wissenschaft" in erster Linie eine ausgefeilte Eliten-Theorie darstellten. Anders formuliert: Die Untersuchung eines jeden politischen Systems musste bei der politischen Elite ansetzen und sich auf diese konzentrieren - und konnte sich auch weitgehend auf diese beschränkten. Für die oben gestellte Ausgangsfrage nach der möglichen Vereinbarkeit der Kategorien Elite und Demokratie bedeutete dieser „Primat der Elite", dass auch in der repräsentativen Demokratie soziale Ungleichheiten und Privilegierungen bestehen bleiben konnten und blieben, mit anderen Worten: Moscas Theorie ermöglichte zumindest das legitimierte Fortbestehen sozialer Disparitäten in einem System formaler politischer Egalität. Diese Denkfiguren kamen der westdeutschen Suche nach einer neuen symbolischen Ordnung im Feld der Macht sehr entgegen. Auf die Elite kam es also an, auf ihre Fähigkeit und auf ihre Integrität: In diesem Topos, einem Kernelement der Elite-Doxa, lag für Mosca auch die Legitimation des politischen Systems enthalten. Für diejenigen westdeutschen Leser, die sich auf diese Argumentation einließen, hing die Legitimation der jungen Bundesrepublik damit von der Gestalt und dem Verhalten ihrer politischen Elite ab. In den Auseinandersetzungen zum Thema „Elite und Demokratie" gab Mosca (zusammen mit Pareto und Michels) die Grundrichtung der Argumentation für zahlreiche konservative Erörterungen vor. Diese bestand aus zwei basalen Annahmen, nämlich erstens, dass die Verwirklichung „wahrer" Demokratie unmöglich und in schlechtem Sinne utopisch sei, und zweitens, dass jede politische Ordnung faktisch auf der Existenz und Arbeit von „Eliten" beruhe. Genau diese Argumentationsrichtung ermöglichte es den demokratieskeptischen westdeutschen Konservativen, sich in das neue politische System einzufügen - statt wie in der Weimarer Zeit auf einen grundsätzlichen Konfrontationskurs zu gehen - und nur die weitere Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, nicht aber die bestehende parlamentarische Demokratie zu bekämpfen. 3.1.3 Liberale Elitetheorien im Diesseits von Angebot und Nachfrage I. Moscas Theorie der herrschenden Klasse war zwar offenkundig antidemokratisch, aber nicht grundsätzlich gegen Repräsentativsysteme gerichtet. Im Gegenteil, den Verfassungen einiger Länder - namentlich denjenigen Großbritanniens und der U S A - gestand Mosca durchaus Vorbildhaftigkeit zu; allerdings hatte er den Bestand von Repräsentativverfassungen auch von der moralischen Integrität der Mittelklassen abhängig gemacht. Diese Annahmen machten sein Werk außerordentlich interessant für eine Reihe deutscher Intellektueller, die sich im liberalen Spektrum verorten lassen und die sich positiv auf Moscas Werk bezogen. Allerdings setzten sich diese Autoren nur in geringem Maß systematisch mit dem Elite-Begriff auseinander - ihr intellek-

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3. Legitimation

tuelles Anliegen bestand eher in der Warnung vor den Gefahren der „Vermassung" als im Ausloten der Möglichkeiten einer „Elitebildung" und zudem sind diese Texte weit verstreut. Insgesamt reflektieren sie auf eigentümliche Weise den Diskussionsstand der späten 1940er und frühen 50er Jahre, und bei einigen von ihnen handelte es sich um Akteure mit Einflussmöglichkeiten weit über das Intellektuelle Feld hinaus. Diese Autoren, die über ein sehr hohes intellektuelles Kapital verfügten und die gleichzeitig die Amalgamierung des westdeutschen Liberalismus mit dem Konservatismus verkörperten, formulierten das Orientierungs- und Meinungswissen der 1950er Jahre fast par excellence; in ihren Texten verdichteten sich die intellektuellen Rahmenbedingungen dieser Zeit und die konstitutiven Merkmale der Vorstellungen von einer Wert- und Charakter-Elite. Eine der frühesten und positivsten Würdigungen fand Moscas Werk in den Schriften von Wilhelm Röpke. In seinem Buch „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart" von 1942 blieben die Referenzen noch kurz, doch mit größerem zeitlichen Abstand zum Erscheinen der englischen Ausgabe, die Röpke in dieser Zeit offenbar intensiv benutzte, nahm auch die Zustimmung zu Moscas Thesen zu. „Civitas Humana", nur zwei Jahre später erschienen, stützte sich dann bereits an zentralen Punkten auf die Überlegungen des Italieners. Diese Bücher erschienen im Schweizer Exil, wo Röpke seit 1937 eine Professur (in Genf) bekleidete, und auch nach 1945 blieb Röpke dem Züricher Verlag Eugen Rentsch treu, der seine Bücher in zahlreichen Auflagen auch in Westdeutschland erfolgreich vertrieb. In „Civitas H u m a n a " stützte sich Röpke stärker als zuvor oder danach auf Moscas Befunde und Thesen. Drei größere Problemzusammenhänge standen dabei im Vordergrund: Erstens zitierte er einige von Moscas antidemokratischen Passagen als Beleg für die Richtigkeit seiner Ablehnung jeglicher staatsinterventionistischer Wirtschaftspolitik. So wecke das gleiche Wahlrecht nur die materielle Begehrlichkeit der Massen (eine kleine Reminiszenz an den oben erwähnten Askese-Topos), und gegenüber der fortgesetzten kommunistischen Agitation sei auch der halb-sozialistische Interventionsstaat machtlos, ja, der Interventionismus schwäche durch die Unterminierung des Eigentums nur die gesellschaftlichen Abwehrkräfte. 74 ) Röpkes Phobie gegenüber den „Massen" übertrug sich hier unter Einfluss Moscas auf das politische System und auf die Wirtschaftspolitik. (Nur in Parenthese sei hier eingefügt, dass das Denken im Horizont der Massen-Doxa das einzig Gute war, das Röpke am Spätwerk Karl Mannheims finden konnte, dessen Planungsutopien er vehement ablehnte.) 7 5 ) Den zweiten hier zu nennenden Problemzusammenhang bildete die Bedeutung des Rechts als Schutz des Individuums vor der „Kollektivität" (auch dies ein Zeichen des Einflusses der Massen-Doxa auf Röpkes Denken). In diesem

74

) Röpke: Civitas Humana, S.89, S.95. ) Röpke: Gesellschaftskrisis, S. 256/57.

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3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Zusammenhang feierte Röpke Mosca als „großen Soziologen", der die „Linie des liberalen Denkens in einer durchaus originellen Weise fortsetzt". 76 ) Von Mosca übernahm er dabei die Vorstellung, dass das Niveau einer menschlichen Zivilisation von der Ausgestaltung dieses „Rechtsschutzes" abhinge. 77 ) Drittens schließlich - und dies stellt sicherlich die bedeutsamste intellektuelle Anleihe dar - griff Röpke Moscas These auf, dass das Schicksal eines Repräsentativsystems von der moralischen Integrität der Mittelklassen abhinge. Und hier sind wir auch endlich unmittelbar bei Röpkes Elite-Vorstellung angelangt. Bekanntlich hatte Mosca die Mittelschichten in den Gesellschaften seiner Zeit zum unteren Teil der politischen Klasse gezählt. 78 ) Röpke radikalisierte und überhöhte zugleich diesen Gedanken, indem er einerseits gerade dem Eigentum der Mittelschicht und der daraus folgenden ökonomischen Unabhängigkeit die ausschlaggebende Kraft im Kampf gegen „Kollektivität" und „Vermassung" zusprach und andererseits unter Berufung auf Mosca diese Mittelschicht zu einer Wert- und Charakter-Elite stilisierte, zu einer „als Elite legitimierte(n) Minderheit, die eine organische, gesunde, stabile und wohlausgewogene Gesellschaft von einer vermassten und schließlich der Tyrannis anheim fallenden unterscheidet. Es gibt gegen eine solche Entartung der Gesellschaft kaum einen besseren und notwendigeren Schutz als die Existenz einer Schicht, die gegenüber den Willkürtendenzen der organisierten Kollektivität die Kontinuität, die Tradition, das unbeirrte Festhalten an den unverbrüchlichen Prinzipien der Gemeinschaft (die ,formula politica' Moscas) die Legitimität, einen in Generationen aufgehäuften Schatz an Erfahrung und Gemeinsinn verkörpert und ihnen einen stolzen Unabhängigkeitssinn entgegensetzt, der in der festen Grundlage der Familien- und Berufsüberlieferung wurzelt und auch den Anker eines Stammbesitzes nicht entbehren kann." 79 )

Diese Werthaltungen können jedoch in strengem Sinne gar nicht mehr als Herrschaftstugenden nach Mosca interpretiert werden. Wogegen dieser sich mit seinem positivistischen Wissenschaftsanspruch immer gewehrt hatte - aus einem Sollen ein Sein zu konstruieren und eine soziale Gruppe nach ihren Prätentionen zu beurteilen das tat Röpke ausgerechnet unter Berufung auf ihn. Es ist höchst bemerkenswert, dass Röpke in zahlreichen Passagen aus den 1940er und frühen 50er Jahren den Elite-Begriff nicht auf die Spitzen der Gesellschaft, sondern auf die Mittelschicht bezog, und zwar vor allem wegen deren sozialmoralischer Einstellungen. 80 ) Diese Denkfigur war nur möglich im Horizont eines Modells der Wert- und Charakter-Elite, denn Röpke leitete ja gerade aus dem Besitz besondere Wertbindungen und Charaktermerkmale ab. Mit anderen Worten, Röpke betrieb eine Apologie des besitzenden (und gebildeten) Bürgertums, und zwar (zumindest rhetorisch) nicht des Großbür76

) ) 78 ) 79 ) 8°) 77

Röpke·. Civitas Humana, S. 194. Ebd., S. 202. Mosca: Die herrschende Klasse, S.331. Röpke: Civitas Humana, S.212, Zitat S. 208/09, S.220. Z.B. Röpke: Civitas Humana, S.220.

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gertums, und auch nicht des dynamischen, schöpferisch-zerstörerischen Unternehmers, sondern eines durch Eigentum, Rechtsgarantien und Moral gesicherten Bürgertums mittlerer sozialer Lagen.81) Dass Röpke Unbeugsamkeit, Wahrheitsdrang und Gerechtigkeitssinn ausgerechnet den Bürgern und nicht den Intellektuellen zuschrieb, beruhte jedoch nicht auf einer grundsätzlichen Intellektuellenfeindschaft, wie etwa bei Pareto oder Joseph Schumpeter, dessen Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" Röpke wenig ansprechend fand. 82 ) Vielmehr kreidete er Schumpeter dessen These von der höheren Rationalität der Großbetriebe an - für Röpke war er damit ein Zerstörer des Mittelstandes und ein Wegbereiter der Vermassung. Im Übrigen fand Röpke außerordentlich warme Worte für den Berufsstand der Journalisten 83 ) - ansonsten die liebsten Hassobjekte der Intellektuellenfeindschaft. Röpke folgte hier einfach seiner grundsätzlichen Auffassung von der ethisch aufbauend wirkenden Kraft des Eigentums. Und er benannte „zwei schwierige Probleme" jener Elite des „Verantwortungsgefühls, Wahrheitsdrangs und Gerechtigkeitssinns": „das Problem der Auslese und Berufung und das andere ihrer materiellen Unterhaltung,"84) Damit sprach Röpke die kardinalen Konzeptionsschwierigkeiten eines jeden möglichen Modells einer Wert- und Charakter-Elite an, Schwierigkeiten, deren Zuspitzung stets in die oben bereits festgestellten Aporien führen musste. Röpke jedoch - und das gilt für alle „liberalen" Eliten-Theorien der 1950er Jahre (jedenfalls soweit sie im deutschsprachigen Raum diskutiert wurden) vermied diese konzeptionelle Zuspitzung. Und so fand er auch keine Antwort auf die Frage, wie die Mitglieder einer Elite der Verantwortung und des Gemeinsinns denn ausgewählt werden sollten. Die Suche nach der materiellen Basis dieser Wert- und Charakter-Elite dauerte hingegen (angesichts seiner emphatischen Bejahung des Eigentums war dies kein Wunder) nicht sehr lang: Es durfte keine Elite der Gehaltsempfänger, es musste eine Elite in durch Eigentum gesicherter materieller Unabhängigkeit sein.85) Es dauerte immerhin 14 Jahre, bis Röpke den Elite-Begriff weiter verfolgte. Dazwischen lag unter anderem die geradezu hysterische Steigerung der Massen-Phobie der europäischen Ordo-Liberalen um Albert Hunold angesichts des wohlfahrtsstaatlichen Ausbaus in allen westlichen Industrienationen. In „Civitas Humana" hatte das Kapitel über das Massen-Problem noch die Überschrift „Entmassung und Entproletarisierung" getragen, weil der Text erfüllt war von der Aussicht auf das Umkehren der gefährlichen Prozesse von „Vermassung" und „Proletarisierung", wie schon der erste Abschnitt, „Hoffnungs-

81

) ) 83 ) m ) 85 ) 82

Vgl. dazu auch Mooser. Liberalismus. Röpke·. Kapitalismus, S. 354-62; ders.: Maß, S. 34, S. 197; den.: Jenseits, S. 149. Röpke: Civitas Humana, S. 229-32. Ebd., S. 223. Röpke: Civitas Humana, S. 224/25.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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gründe", mehr als deutlich zeigt.86) Und selbst in „Maß und Mitte" aus dem Jahr 1950 herrschte im Abschnitt über „Kollektivismus" noch ein optimistischer Ton.87) Das „Massen"-Kapitel in „Jenseits von Angebot und Nachfrage" war demgegenüber nicht nur rund dreimal so umfangreich; es war auch jeder optimistische Grundzug verschwunden. Jetzt erst nahm die Massen-Phobie Röpkes jenen eigentümlich hysterischen Zug an.88) Bis zu den frühen 1950er Jahren hatten sich seine zeitdiagnostischen Texte durchaus auf einer Linie mit der damaligen Avantgarde befunden, deren Werke später zu Klassikern dieses Themas kanonisiert wurden (neben den Büchern von Karl Mannheim und Ortega y Gasset wären etwa Hendrik de Mans „Vermassung und Kulturverfall" aus dem Jahr 1951 oder David Riesmans „The lonely Crowd" von 1950, auf die sich Röpke auch wiederholt bezog, zu nennen), wobei Röpkes Darstellung sogar weit weniger dramatisch angelegt und stärker auf (ökonomische) Lösungsangebote ausgerichtet war. Aus dieser Position im Raum der intellektuellen Stellungnahmen resultierte auch Röpkes großer politisch-ideeller Einfluss. Theodor Geiger bescheinigte ihm 1950, er sei einer der „meistgelesenen und eifrigst zitierten Gesellschaftsanalytiker der Nachkriegszeit", und Hans Peter Schwarz schrieb: „Kein Publizist kann mit größerem Recht die geistige Vaterschaft der Bundesrepublik in Anspruch nehmen als Wilhelm Röpke." 89 ) Im Verlauf der 1950er Jahre verlor Röpke jedoch diese Avantgardeposition. Selbst Helmut Schoeck, wie Röpke Mitglied der Mont Pelerin Society, lobte in seiner Rezension von „Jenseits von Angebot und Nachfrage" vor allem Register, Anmerkungsteil und Layout des Buches sowie die „bilderfreudige Sprache", beschrieb Röpke jedoch implizit als einen Autoren von verblassendem Ruhm, dem er obendrein vorwarf, dass er „sich manchmal die Diagnose der Vermassungsfaktoren etwas einfach" mache.90) Ein weiterer Indikator für das sinkende symbolische Kapital Röpkes ist die Tatsache, dass nach 1952 in denjenigen Kulturzeitschriften, die den Anspruch erhoben, diese Avantgarde zu repräsentierten - im Merkur und im Monat -, keine Aufsätze von Röpke mehr erschienen und seine Bücher auch nicht mehr rezensiert wurden. Hier verschwand die Massen-Rhetorik im Laufe der 1950er Jahre. Hans Paeschke und Arnold Gehlen waren sich 1957 darüber vollkommen einig: „Tabu über Ausdrücke wie ...,Massenmensch': Wir sind vollkom-

κ

) Röpke·. Civitas Humana, S. 268/69. Die weiteren Abschnitte - „Die Wiederherstellung des Eigentums" und „Die Aufgaben der Landesplanung" - zeigen klar, wo Röpke jene „Hoffnungsgründe" sah: In einer Rückkehr zum Marktkapitalismus mittelgroßer Eigentümer-Unternehmen und in einer Verkleinerung urbaner Metropolen. Ebd., S. 274-86. 87 ) Röpke·. Maß, S. 86-134. **) Mooser spricht von „apokalyptische(n), ständig wiederholte(n) Warnung(en). Mooser. Liberalismus, S. 146/47. 89 ) Zitiert nach Mooser. Liberalismus, S. 140. Helmut Schoeck: (Rezension von) Jenseits von Angebot und Nachfrage, in: Universitas 14.1959, S. 309/10.

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3. Legitimation

men einverstanden."91) Hingegen druckten die Deutsche Rundschau und die Universitas nach wie vor Röpkes Beiträge, letztere auch einige bereits anderswo erschienenen Aufsätze. 92 ) Gerade in der Universitas blieb die MassenDoxa viel länger präsent als in den beiden zuerst genannten Magazinen, was die Position der Universitas innerhalb des Literarisch-Politischen Feldes nämlich als Flaggschiff des konservativen mainstream - noch einmal unterstreicht. Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass bis zum Ende der 1960er Jahre die Verkaufszahlen von Ortega y Gassets „Aufstand der Massen" kontinuierlich hoch blieben. Auch erschien erst 1958 David Riesmans „Die einsame Masse" in der Reihe „rowohlts deutsche enzyklopädie", übrigens mit einem Vorwort von Helmut Schelsky, der Riesmans Befunde als Beleg für sein (gegen die klassischen Bestandteile der Massen-Doxa gerichtetes) Konzept der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zitierte. Die Massen-Doxa verschwand also keineswegs aus dem Intellektuellen Feld, doch hatte sie ihre einstige Dominanz verloren: Sie stellte nun keinen Impuls zur Konzeption neuer Ordnungsentwürfe mehr dar und trieb die symbolischen Kämpfe nicht mehr voran, sondern stellte nurmehr eine von mehreren möglichen intellektuellen Positionen dar, bevor sie ganz und gar zur Hintergrundbegleitung der Phantasmagorien und Ressentiments eines traditionell-konservativen Milieus herabsank. Angesichts dieses Standes der Kämpfe im Intellektuellen Feld gegen Ende der 1950er Jahre reflektierte die hysterische Steigerung von Röpkes Massenphobie eigentlich einen von zahlreichen Autoren mittlerweile hinter sich gelassenen Diskussionsstand, als er streckenweise von der „Hölle der Masse" man muss schon sagen: delirierte.93) Zweifellos war er über das Ausmaß sozial91

) DLA, D: Merkur, Briefe an Arnold Gehlen, Paeschke an Gehlen (26.11.57). ) Wilhelm Röpke·. Der Preis der Prosperität, in: Universitas 11.1956, S. 673-84; ders.: Die Massengesellschaft und ihre Probleme, in: Universitas 12.1957, S. 785-98; ders:. Der Wohlfahrtsstaat im Kreuzfeuer der Kritik, in: Universitas 10.1955, S. 903-15; ders.: Die Erziehung zur wirtschaftlichen Freiheit und die großen Entscheidungen der Gegenwart, in: Universitas 14.1959, S. 561-71; ders:. Die Freier der Penelope, in: DR 79.1953, S. 354-58; ders.: Amerikanische Intellektuelle von Europa gesehen, in: DR 83.1957, S. 113-19. 93 ) Man lese etwa Zeilen wie diese: „Diese Vermassung im geistig-moralischen Sinne wird nun unterstützt durch eine solche in einem eigentlich sozialen Sinne. Wir verstehen darunter einen Prozess der Auflösung der Struktur der Gesellschaft, die tiefe Umwälzungen in den äußeren Lebens-, Denk und Arbeitsbedingungen des einzelnen hervorruft. Sie alle wirken auf eine Zurückdrängung der Eigenständigkeit, auf Entwurzelung, auf Herauslösung des einzelnen aus dem feinen Sozialgewebe, durch das er bisher gehalten wurde ..., auf Zerstörung echter Gemeinschaften zugunsten allumschlingender, aber unpersönlicher und den einzelnen nicht mehr als Person erfassender Kollektivität, auf Lockerung des inneren, spontanen Sozialgefüges zugunsten mechanischer Organisation mit ihrer Seelenlosigkeit und ihrem äußeren Zwang, auf Einebnung aller einzelnen auf ein für alle gleiches Normalniveau, auf wachsende Erschütterung des Bereichs der individuellen Aktions- und Entscheidungsmöglichkeit, der individuellen Verantwortung und der individuellen Lebensplanung zugunsten der kollektiven Planung und Entscheidung, auf Massenhaftigkeit der Gesamtexistenz mit ihrer Uniformierung, Standardisierung, Politisierung, ,Nationalisie92

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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staatlicher Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf in ganz Westeuropa entsetzt, ebenso über die Bedrohungen des Kalten Krieges (den auch er ideologisch überhöhte und als eine quasi-religiöse Auseinandersetzung deutete) 94 ), namentlich in Ägypten, und über das Nichteingreifen der Westmächte in Ungarn. 95 ) Doch fand er gegenüber den von ihm diagnostizierten ökonomischen Herausforderungen in der Regel auch eine sachadäquate Sprache nüchterner Beobachtung, Analyse und Prognose. 96 ) Auf dem kulturwissenschaftlichen Gebiet jedoch, auf dem er sich in seiner zeitkritischen Publizistik bewegte, verließ ihn mit seiner professionellen Kompetenz auch die Distanz gegenüber den dort in Rede stehenden Phänomenen. Und hier formulierte er auch ziemlich deutlich den inneren Antrieb seiner Massen-Phobie. Es war der Verlust der bürgerlichen Bildungsexklusivität, in der er den schlimmsten Ausdruck und gleichzeitig einen der Antriebe der „Vermassung" zu erblicken glaubte. Dieser Verlust äußerte sich seiner Meinung nach nicht nur in einem generellen Absinken der intellektuellen Qualität aktuell erbrachter Denkleistungen. Als weitaus verhängnisvoller erachtete er offenbar die sich für ihn abzeichnende Auflösung des gesamten abendländischen Bildungskanons. Und zum anderen habe die Aufweichung der sozialen Schranken im Zugang zu den Institutionen der höheren Bildung bewirkt, dass sich zu viele Unberufene, die nicht über die früher gültigen sozialmoralischen Bindungen verfügten, im Intellektuellen Feld bewegten, und damit seien auch bestimmte habituelle sowie politischethische Grenzen des Denkens eingerissen worden. 97 ) Und so ging „die notwendige Abstufung der Bildung" verloren, zumal auch „die geistige Elite" teilweise der „Versuchung" erlegen sei, „sich in den Dienst der geistigen Massenbedürfnisse zu stellen". 98 ) Den Verlust der bürgerlichen Bildungsexklusivität diskutierte Röpke eindringlich an den Folgen der Alphabetisierung. Den „naiven" Befürwortern der Elementarbildung warf er vor, sich nie gefragt zu haben, „ob denn nicht alles darauf ankomme, was die Menschen lesen, die man dazu befähigt, und ob denn das standardisierte Erziehungssystem, mit dem der Analphabetismus ausgerottet wird, der weisen Auswahl dessen, was die Menschen lesen, unter rung' und ,Sozialisierung'. Verstädterung, Industrialisierung und Proletarisierung ... sind nur Sonderaspekte dieses unheimlichen Gesamtvorganges, in dem, wie ich es in einem anderen Bild auszudrücken versucht habe, der Humus der Gesellschaft zerstört und die Gesellschaft in einen sozialen ,Dust-Bowl' verwandelt wird." Röpke: Jenseits von Angebot und Nachfrage, S. 78/79 (Hervorhebung im Original). 94 ) Soziologie des Kommunismus. Eine universalistische Pseudo-Religion, in: Röpke: Maß, S. 35-40. 95 ) Röpke: Drastische Wahrheiten, in: Gegen die Brandung, S. 313-26. Z.B. Röpke: Maß, S. 176-99. Vgl. auch die zuerst u. a. in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichten und in dem Sammelband „Gegen die Brandung" enthaltenen Aufsätze „Deutschlands Zukunft", „Deutschland - Massengrab falscher Voraussagen" oder „Das Dilemma der importierten Inflation". f ) Röpke: Jenseits, S.77. 98 ) Röpke: Jenseits, S. 89, S. 82.

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3. Legitimation

allem Umständen gerecht wird".99) Und so beschwor er seitenlang den Niedergang der europäischen Kulturtradition. Diese Verlustperspektive teilte Röpke offensichtlich mit zahlreichen westdeutschen Intellektuellen. Doch im Zentrum des Intellektuellen Feldes, in den angesehensten Kulturzeitschriften, lösten sich zu dieser Zeit bereits die intellektuellen Rahmenbedingungen, die die Auseinandersetzungen der späten 1940er und frühen 50er Jahre strukturiert hatten, allmählich auf. Hier prägten die Übersteigerung der Massen-Doxa und die konservative Verlustperspektive und ebenso die ideologische Überhöhung des Kalten Krieges die Debatten über politisch-soziale Ideen nicht mehr. Noch weiter hinter dem mittlerweile erreichten Diskussionsstand fiel Röpke in seiner Übertragung der Massenphobie und der konservativen Verlustperspektive aus dem Universum der Kultur in dasjenige der Politik. Hier entwarf er ein Panorama der Zerstörung der „liberalen Demokratie" durch die „jakobinische Demokratie" der Massengesellschaft, das sich wie eine verspätete Zusammenfassung von Moscas „Herrschender Klasse" liest.100) Nicht weniger deutlich als Mosca positionierte er die Kategorien „Freiheit" und „Demokratie" (im Sinne politischer Egalität) gegeneinander, und diese seien nur dann miteinander vereinbar, wenn die „meta-demokratische Grenze" der liberalen Demokratie respektiert und „wenn alle, die das Stimmrecht ausüben, oder doch die meisten unter ihnen darin einig sind, dass es gewisse höchste Normen und Grundsätze des Staatslebens und der wirtschaftlichen Verfassung gibt, die dem demokratischen Entscheidungsverfahren entzogen sind."101) Zweifellos bildeten diese antidemokratischen Tiraden die Begleitmusik der weitgehenden politisch-ideellen Amalgamierung von Liberalismus und Konservatismus, deren politische Grundlage die Skepsis gegenüber der Massendemokratie bildete und deren ökonomische Basis im Ideal einer kapitalistischen Marktwirtschaft mittelständischer Produzenten unter Betonung des Konkurrenzprinzips zum Wohle der Allgemeinheit (in Röpkes Worten: die ^bürgerliche' Grundlage der Marktwirtschaft") 102 ) bestand. Röpke selbst sprach davon, dass „wir uns damit [gemeint war seine „umfassende Gesellschafts- und Kulturkritik", M.R.] religiös-konservativen Strömungen nähern, die sich philosophisch-politisch alles andere denn als .liberal' empfinden", und war sogar bereit, in diesem Amalgam des Begriff des „Liberalismus" zu Gunsten desjenigen der „Dezentralisation" aufzugeben.103) ") Röpke: Jenseits, S.82. 10

°) Ebd., S. 89-99. ) Röpke·. Jenseits, S.93 (Hervorhebung im Original). Ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang bei Röpke nicht von Grundrechten, wie sie ζ. B. in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes verankert sind, die Rede ist? 102 ) „In Wahrheit kann die Marktwirtschaft - und mit ihr die gesellschaftliche und politische Freiheit - nur als Stück einer bürgerlichen Gesamtordnung und ihrem Schutz gedeihen." Ebd., S. 139. 101

103

) Röpke·. Maß, S. 152.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Die extreme Polarisierung von Freiheit und Gleichheit, die Röpke 1958 vornahm, und die Gefährdung der bürgerlichen (Eigentums-)Ordnung, die er aus der „schrankenlosen" Massendemokratie beziehungsweise der Begehrlichkeit der Massen ablas, 104 ) passten jedoch nicht mehr recht zu einem politischen System, in welchem der Patriarch Adenauer im Zeichen der „Kanzlerdemokratie" gerade seinen dritten, und zwar triumphalen, Wahlsieg errungen und die bürgerliche Ordnung dermaßen stabilisiert hatte, dass sich in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit bereits die ersten Stimmen regten, die - ganz im Gegensatz zu Röpkes Ausgangsannahmen - gerade den Mangel an Bewegung und ein Übermaß an Beharrungsvermögen beklagten. Ein solches Zuviel an Stabilität war im intellektuellen Horizont der Massen-Doxa gar nicht denkbar gewesen. In „Jenseits von Angebot und Nachfrage", das trotz seines auf rein ökonomische Fragen hindeutenden Titels - wie seine hier zitierten Vorgänger - ein allgemein-zeitkritisches Werk darstellte, nahm er 1958 diesen Faden wieder auf. Nun, am Ende der 1950er Jahre, forderte Röpke unter dem Oberbegriff der „Nobilitas naturalis" (!) einen „Aufstand der Elite" und versuchte, die verschiedenen Fäden der Debatten um eine Wert- und Charakter-Elite zusammenzuführen, mit der Folge, das die inneren Widersprüche eines solchen Konzepts nur umso offener zu Tage traten. Röpkes Ausgangspunkt war allerdings auch hier ein ökonomischer: Er suchte nach „moralischen Kräften" zur Bändigung der Dynamiken einer Markt- und Wettbewerbsgesellschaft, welche drohten, die natürliche Ordnung einer „gesunden Gesellschaft" zu zerstören. Diese „gesunde Gesellschaft" zeichnete sich durch Ordnung und Hierarchie und durch die Abwesenheit von Konflikten aus. Deshalb wandte sich Röpke auch gegen die Thesen des amerikanischen Ökonomen John Kenneth Galbraith, der den „countervailing powers" die Eingrenzung jener Konkurrenzdynamiken zutraute. Röpke sah darin nur die „Mechanik der organisierten Machtgruppen". Die „Mechanik" der „Organisation" verwies in einer ganz traditionellen Rhetorik, die sich spätestens um die Jahrhundertwende ausgebildet hatte, auf ein seelenloses, unmenschliches Dasein, und die Betonung der „gesunden" Gesellschaft auf organologische, ganzheitliche, konflikt-averse Vorstellungen, 105 ) die einander gegenüberstehenden „Machtgruppen" dagegen auf ständige gesellschaftliche Konflikte. Beides konnte für Röpke keinen wünschenswerten Zustand darstellen. Aus diesem Grund sah er in einer Menschengruppe, die dafür sorgte, dass die „natürlichen Grenzen des Wettbewerbs" eingehalten würden, den logischen Ausweg:

104

) Röpke: Jenseits, S. 150-53. ) Geradezu obsessiv hatte Röpke diese organologische Metaphorik in dem schon zitierten, kurz zuvor erschienenen Aufsatz „Die Massengesellschaft und ihre Probleme" verwendet. 105

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3. Legitimation

„Den Forderungen, die man an eine gesunde Gesellschaft im ganzen stellen muss, entspricht es nun ohne allen Zweifel, dass Führung, Verantwortung und vorbildliches Einstehen für die die Gesellschaft leitenden Normen und Werte vornehmste Pflicht und unumstrittenes Recht einer Minderheit sind, die die Spitze einer nach ihren Leistungen hierarchisch gegliederten Gesellschaftspyramide bildet und als solche bereitwillig und mit der ihr zukommenden Achtung anerkannt wird. Der Massengesellschaft... muss eine Führung von solchen einzelnen entgegenwirken ... von solchen, die den Mut haben, gerade zum exzentrisch Neuen Nein zu sagen, im Namen des ,alten Wahren', das Goethe uns auffordert .anzufassen', im Namen des geschichtlich Bewährten, des unzerstörbar und schlicht Menschlichen". 106 )

Zweierlei wird an diesen Ausführungen sichtbar: Erstens bieten Röpkes Texte ein drastisches Beispiel für unsere These, dass die Genese der Elite-Doxa aufs Engste mit der Dominanz des Massen-Glaubens beziehungsweise mit der Angst vor den Massen und der Vermassung verknüpft war. Röpke wollte die Gefahren der Massengesellschaft ja gerade durch einen „Aufstand der Elite" abwenden - diese Formel, offensichtlich eine Reformulierung ins Positive von Ortega y Gassets Warnung vor dem „Aufstand der Massen", gefiel Röpke so gut, dass er sie gleich zweimal verwendete, in dem bereits erwähnten Aufsatz „Die Massengesellschaft und ihre Probleme" und ein Jahr später in dem hier zitierten Buch.107) Zweitens bestätigen gerade Röpkes Texte aus den späten 1950er Jahren eine weitere These dieser Untersuchung, dass nämlich einerseits die Legitimationsgrundlage eines sozialen und politischen Systems (einer „gesunden Gesellschaft") davon abhängig gemacht wurde, dass die Herrschenden die geforderten Werte und Traditionen verkörpern und auch nach ihnen handeln, dass sie die Charakterstärke zur Führung der Massen besitzen - mit anderen Worten, dass die Elite-Doxa ein eminentes Legitimationspotenzial besaß: „Von entscheidender Bedeutung - das wird immer mehr allgemeine Überzeugung - ist es, dass es in der Gesellschaft eine wenn auch kleine, so doch tonangebende Gruppe von Führenden gibt, die sich im Namen des Ganzen für die unantastbaren Normen und Werte verantwortlich fühlen und selber dieser Verantwortung aufs strengste nachleben. Was wir zu keiner Zeit entbehren können und heute, da so vieles zerbröckelt und wankt, dringender denn je brauchen, ist eine echte Nobilitas naturalis mit ihrer tröstlicherweise von den Menschen willig anerkannten Autorität, eine Elite, die ihren Adelstitel nur aus höchster Leistung und unübertrefflichem moralischem Beispiel herleitet und mit der natürlichen Würde eines solchen Lebens umkleidet ist." 108 )

Wie sollte Röpkes „Nobilitas naturalis" im Einzelnen aussehen? Dass es sich um eine Wert- und Charakter-Elite handelte, ist offensichtlich. Allerdings begnügte sich Röpke damit, die einzelnen charakterlichen und ethischen Qualitäten aufzuzählen; tiefergehende Fragen nach der Art und Weise, wo, wie und wann diese Merkmale wirksam werden und auf welche Weise sie die Gesell-

m

) Röpke: Jenseits, S. 174/75. ) Röpke: Massengesellschaft, S.37. 108 ) Röpke: Jenseits, S. 176. 107

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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schaft vor der Vermassung retten sollten, stellte er nicht. Genau genommen war er nur an der Klärung eines einzelnen Problems interessiert: dem der Existenzbedingungen dieser „Nobilitas naturalis". Eines war klar: Nur eine Minderheit konnte ihr angehören. „In diese dünne Schicht der Nobilitas naturalis können aus allen Schichten nur wenige durch ein exemplarisches und langsam reifendes Leben der entsagungsvollen Leistung für das ganze, der unantastbaren Integrität und der ständigen Bändigung unseres gemeinen Appetits, durch bewährte Reife des Urteils, durch ein fleckenloses Privatleben, durch unerschütterlichen Mut im Eintreten für das Wahre und Rechte und durch ein allgemeines höchstes Beispiel aufsteigen, das diese wenigen, emporgetragen vom Vertrauen des Volkes, eine Stellung über den Klassen, Interessen, Leidenschaften, Bosheiten und Torheiten der Menschen erklimmen und sie schließlich zum Gewissen der Nation werden lässt. Dieser Schicht der moralischen Notabein anzugehören muss zum höchsten und erstrebenswertesten Ziele werden, gegen das alle anderen Triumphe des Lebens blass und schal werden." 11 »)

Hier finden sich, zu sprachlichen Stereotypen geronnen, die nicht weiter problematisiert wurden und deshalb die Grenzen des Denkhorizonts von Röpke präzise markieren, alle Elemente der Wert- und Charakter-Elite, wie wir sie oben umrissen haben: die moralische Vorbildhaftigkeit, Askese, Unabhängigkeit und Verantwortung. Sein Elite-Konzept war streng dichotomisch aufgebaut und sollte gewissermaßen die ethische Leerstelle der Marktwirtschaft füllen. Einzig die explizit christliche Wertbindung fehlte. Wenn eine solche Elite unentbehrlich war, so verbot sich auch jede Kritik an denjenigen Individuen, die diesen ethischen Imperativen folgten. Für Röpke stellte sich jedoch die Frage, ob „unsere Zeit solche Aristokraten des Gemeinsinns ... in genügender Zahl hervorbringt." 1 1 0 ) Bei der Antwort auf diese Frage verstrickte er sich jedoch in die ganz typischen Aporien des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite. Röpke dachte ganz unmittelbar an die Besitzer eines erheblichen ökonomischen Kapitals: „Unternehmer, Landwirte, Bankiers ... die imstande sind, die großen Fragen der Wirtschaftspolitik, unbefangen durch ihre unmittelbaren und kurzfristigen Geschäftsinteressen zu sehen", bemerkenswerterweise jedoch auch an Gewerkschaftsführer und Journalisten, unter der Voraussetzung, dass sie „durch ihre Stellung und ihre Überzeugung mit der Marktwirtschaft aufs engste verknüpft sind und sich in dem hier behandelten moralischen Bereiche verantwortlich fühlen", und „ohne dem Massengeschmack zu schmeicheln." 111 ) Damit formulierte Röpke implizit eine Abkehr von seinen Vorstellungen der späten 1940er Jahre, als er eine bürgerliche Gesellschaft der mittleren Besitzenden propagiert hatte, während die „natürliche Aristokratie" jetzt zunächst durch ihren überproportionalen Einfluss auf das ökonomische Geschehen gekennzeichnet schien. Doch wollte er bei einer solchen ökonomischen Machtelite nicht stehen bleiben. Die Nobilitas naturalis konstituierte 109

) Ebd., S. 176 (Hervorhebung von M.R.). ) Röpke: Jenseits, S.176 (Hervorhebung im Original). m ) Röpke: Jenseits, S. 176/77. n0

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3. Legitimation

sich ja gerade nicht durch ihren (großen) Besitz an ökonomischem Kapital, sondern durch ihre charakterlichen und moralischen Qualitäten. Um diese auszubilden - und hier argumentierte Röpke ganz auf der Linie Moscas war allerdings ein langer, möglichst Generationen währender Besitz renditetragenden Vermögens die wichtigste Bedingung.112) Dies also war Röpkes Elite-Modell: Eine auf die Marktwirtschaft orientierte Wert- und Charakter-Elite, die sich zwar theoretisch aus allen sozialen Gruppen rekrutieren sollte, deren Qualifikationsmerkmale sich jedoch nur durch den langen Besitz großen ökonomischen Kapitals ausbilden konnten ein offener Widerspruch in sich. Für die Wert- und Charakter-Elite der Marktwirtschaft galt dann allerdings selbstverständlich: „richesse oblige".113) Röpkes Elite-Vorstellungen der späten 1950er Jahre waren damit deutlich sozial exklusiver als noch rund zehn Jahre zuvor. Es ist offensichtlich, dass im Horizont einer solchen Argumentation alle diejenigen, die über den geforderten Kapitalbesitz verfügten und sich offensiv für die Marktwirtschaft einsetzten, in ihrer sozialen Position gerechtfertigt sehen konnten und mussten, zumal wenn sie die Anforderungen an Verantwortung, Mut und Rechtschaffenheit anerkannten und für sich reklamierten (wobei es sich bei den beiden erstgenannten ohnehin um Tugenden handelte, die nur im Rahmen eines erweiterten Handlungsspielraums, wie ihn Macht und Besitz verschafften, von Relevanz sein konnten). In der Rhetorik ihrer unabweisbaren Notwendigkeit konnten jene charakterlichen und ethischen Qualitäten als Legitimationsgrundlage sozialer Positionierung fungieren. Es verdient festgehalten zu werden, dass diese „natürliche Aristokratie" in ihren konstitutiven Eigenschaften vollkommen mit anderen Modellen der Wert- und Charakter-Elite übereinstimmt: Die radikale Dichotomie zwischen Elite und Masse war vollkommen durchgebildet (was bei Röpkes MassenPhobie nicht weiter verwundert), doch nur um den Preis einer erheblichen konzeptionellen Unscharfe, und zwar sowohl hinsichtlich des Problems, wie die charakterlichen und moralischen Qualitäten gesellschaftlich wirksam werden sollten (schließlich durften die Elite-Mitglieder keine politischen Privilegien für sich reklamieren), als auch was die Beziehung zwischen jenen geforderten Qualitäten und den genannten sozialen Positionen anbetrifft. Und drittens pochte auch Röpke auf die universale Wirksamkeit seiner Nobilitas naturalis: Es ging ihm ja nicht nur um die Marktwirtschaft, sondern um die Bewahrung der europäischen Kulturtradition, ja der menschlichen Freiheit schlechthin. Aus diesem Grund war das Postulat, dass Eliteindividuen aus allen Schichten hervorgingen, auch durchaus notwendig, um eine Wirksamkeit solcher Individuen eben in allen gesellschaftlichen Teilbereichen zu gewährleisten. Vor den Gefahren der Gegenwart (obwohl er gelegentlich auch die

112

) Ebd., S. 177 (Hervorhebung im Original). ) Röpke: Jenseits, S. 177.

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3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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Feudalzeit erwähnte, generalisierte er seine Elite-Theorie im Grunde nicht auf alle historischen Gesellschaften), die für ihn im Massenzeitalter kulminierten, konnte nur eine solche Aristokratie schützen, wie umgekehrt von ihrer Existenz, ihren Fähigkeiten und ihrer Integrität das Zivilisationsniveau einer Gesellschaft abhängig war. Auf diese Elite kam es an. II. Wenn an dieser Stelle kurz auf einen französischen Autoren eingegangen wird, der sich in seiner Elite-Konzeption kaum explizit auf Gaetano Mosca bezog, dann aus zwei Gründen: Erstens war Louis Baudin ein „intellektueller Verbündeter" Wilhelm Röpkes (beide gehörten der Mont Pelerin Society an, und Röpke bezog sich wiederholt auf Baudins Ausführungen) und veröffentlichte einen seiner beiden auf Deutsch erschienenen Texte zum Thema „Elite" am gleichen Ort wie Röpke. Und zweitens entwarf er - für den Problemzusammenhang „Elite und Demokratie" nicht uninteressant ein Elite-Modell, das die „Elite" so ausdrücklich wie sonst nirgends als eine soziologisch nicht fassbare Gruppe definierte und damit Röpkes Konzept noch übersteigerte. Louis Baudin, Jura-Professor in Paris und Träger hoher „weltlicher" Auszeichnungen und Ehrenpositionen, war einer der ältesten Autoren, die sich während des Untersuchungszeitraums mit dem Gegenstand der „Elite" beschäftigten.114) Baudin veröffentlichte zwei Texte zum Thema auf Deutsch: Erstens einen Aufsatz in dem von Albert Hunold herausgegebenen Sammelband, für den Röpke „Die Massengesellschaft und ihre Probleme" verfasst hatte, und zweitens den Artikel „Elite" für das elfbändige, 1961 von Erwin von Beckerath, Leopold von Wiese und anderen herausgegebene „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften". Vom Bearbeitungsstand war der Sammelband-Aufsatz allerdings etwas älter; er basierte auf einem bereits 1952 gehaltenen Vortrag, der dann in einer schweizerischen Zeitschrift erschien. Zunächst einmal überrascht Baudin in beiden Texten mit einer These zum wissenschaftlichen wie zum politisch-publizistischen Gebrauch des Elite-Begriffs: Er habe nämlich - im Gegensatz zu konkurrierenden Ordnungsmodellen - seine Eindeutigkeit bewahrt und seine Ausdruckskraft im Laufe der Zeit nicht abgenutzt. Dies war schon 1952 eine kühne Behauptung - immerhin definierten ihn bereits Mosca und Pareto nicht deckungsgleich. Im „Handwörterbuch"-Artikel schwächte Baudin diese Behauptung etwas ab, doch beharrte er weiterhin auf der Präzision und Ausdruckskraft des Begriffs. Seine „Reinheit" und sein „ungetrübter Glanz" konnten jedoch nur erstrahlen, wenn der Begriff einzig und allein als affirmativer Kollektivsingular zur Kennzeichnung moralisch und charakterlich herausgehobener Individuen reserviert blieb. Dies war 1961 offensichtlich überhaupt nicht mehr der Fall - Baudin selbst 114 ) Baudin, geboren 1887, war Jurist, Professor, Wissenschaftsmanager, Präsident der Franko-Portugiesischen Handelskammer und anderer Handelsorganisationen, Mitglied der Mont Pelerin Society und Inhaber zahlreicher Ehrungen. Hunold (Hg.): Masse und Demokratie, S.273.

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musste sich im weiteren Text bereits mit dem von ihm strikt abgelehnten EliteKonzept von C. Wright Mills auseinandersetzen, doch schon beim Wiederabdruck des Vortrags im Jahr 1957 war diese Annahme eigentlich nicht mehr haltbar. Sie lässt sich jedoch als Versuch werten, zumindest in Westdeutschland die Dominanz der Konzeptionen einer Wert- und Charakter-Elite auch gegen Widerstände zu behaupten: Denn - diese Drohung musste selbstverständlich unausgesprochen bleiben - jeder Versuch einer semantischen Verschiebung, jedes konkurrierende Elite-Konzept konnte auf diese Weise mit dem Vorwurf belegt werden, die einmal erreichte Präzision des Begriffs zu beeinträchtigen. Baudins eigener Elite-Entwurf war alles andere als originell, und der „Handbuch"-Artikel referierte nicht einmal die geläufigen, soziologischen und politikwissenschaftlichen (eben nicht eindeutigen und deckungsgleichen) Modelle. Die Werke Paretos und Moscas wurden ebenso wenig dargestellt wie dasjenige Mannheims (die beiden letzteren wurden im Text nicht einmal erwähnt) oder die sich längst entwickelt habenden anglo-amerikanischen Diskussionen um Reinhard Bendix oder Harold Lasswell und David Lerner. Sie wurden sämtlich nur im Literaturverzeichnis aufgeführt. Auch die Positionen der wichtigsten deutschsprachigen Autoren (vor allem Michael Freund und Otto Stammer) blieben unerörtert. Dagegen würdigte Baudin mehrfach ausdrücklich den Beitrag bestimmter Philosophen und Publizisten zur Entwicklung des Elite-Denkens, etwa Hippodamus, Plato und Nietzsche bzw. John Stuart Mill und Thomas Carlyle. Die Arbeiten älterer und zeitgenössischer Soziologen kennzeichnete Baudin hingegen als „völlig abwegig" und „lächerlich", als „offensichtliche Fehler" und „Absurditäten" und nicht zuletzt als „Begriffsverwirrung" - durchaus konsequent in seinem Bemühen um „Eindeutigkeit" und „Reinheit"! - , ohne jedoch dem Leser ihre Thesen und Argumente überhaupt vorzustellen. Was bei einem Vortrag und selbst bei einem Aufsatz nicht ungewöhnlich sein musste, ist allerdings für einen „Handbuch"-Artikel in der Tat bemerkenswert: Baudins Text war inhaltlich wie sprachlich - in seinem apodiktischen Ton, dem Verzicht auf jedes Abwegen oder Eingehen auf Gegenargumente - keineswegs beschreibend, sondern rein präskriptiv angelegt. In einer ganzen Reihe von Punkten gleichen sich Baudins und Röpkes Modelle: Beider Ausgangspunkt war der Gegensatz zwischen Masse und Elite; 115 ) beide proklamierten die soziale Offenheit der Elite, 116 ) um ihr gleich darauf Dispositionen zuzuschreiben - das heißt: den Elite-Status vom Vorhandensein dieser Dispositionen abhängig zu machen - , die nur ein Oberklassen-Habitus großbürgerlicher oder aristokratischer Provenienz ausbilden konnte, vor allem was die persönliche „Überlegenheit" des Elite-Individuums 117 ) (bei der es sich 1I5

) Baudin: Elite, S. 198/99. ) „Jedermann kann der Elite angehören, sofern er die erforderlichen Bedingungen erfüllt." Baudin·. Elite, S. 199. m ) Baudin: Theorie, S. 42/43. n6

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um nichts anderes als die Habitualisierung der herausgehobenen und beherrschenden Position innerhalb der Sozialstruktur handelte) und die Fähigkeit zur Führung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen anbetrifft. Weiterhin forderten Baudin wie Röpke die Verpflichtung des Elite-Handelns auf das Allgemeinwohl, das heißt das Zurückstellen von Partikularinteressen, und sie stimmten in der Auffassung überein, dass Eliteindividuen in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam sein müssten. An einigen Punkten ging Baudin jedoch deutlich über Röpkes Thesen hinaus, was vor allem darauf hinauslief, die Elite als ein soziales Phänomen immer weniger greifbar werden zu lassen. In erster Linie betrifft dies die Morphologie der Elite. Im Handbuch-Artikel leitete Baudin den betreffenden Abschnitt mit den bezeichnenden Worten ein: „Das Werden der Elite bleibt geheimnisvoll", und Baudin scheint nicht die Absicht gehabt zu haben, das Geheimnis dieses „Wunders" mit seinen Lesern zu teilen. 118 ) Dieses Verschieben der Elitebildung ins Irrationale wiederholte Baudin durch die Ablehnung formaler („äußerlicher") Verfahren wie Wahl und Delegation, denen ja stets auch die Möglichkeit zur Kontrolle innewohnt. Stattdessen suchte er einige allgemeingehaltene Maximen der Erziehung, das heißt er wählte als Pflanzstätte der Elite soziale Orte aus, die sich (wie die Familie, teilweise aber auch die Schule) durch Abgeschlossenheit und Intimität auszeichneten und auf diese Weise einer wirksamen Kontrolle entzogen wurden. An diesen Orten empfahl er „Vorschriften" für den „Massenmenschen", die dieser „braucht... um zu gehorchen", und „geistige Leitsätze" für den „Elitemenschen ... um sich selbst zu bestimmen." 119 ) Allerdings rückte Baudin diese Charakterformung in eine vollkommen individualisierte Perspektive: „Der Mensch, welcher zur Elite gehört [ist eine] Schöpfung seiner selbst" - eine Denkfigur, mit der letztlich auch jede Suche nach den Ausleseinstanzen der Elite überflüssig wurde. 120 ) Auf diese Weise übertrug Baudin nicht nur den Elite-Masse-Gegensatz auf das Bildungssystem, er entzog auch die Leistung der Bildungsinstitutionen für die Elitebildung jeder Vergleich- und Überprüfbarkeit, da die Elitemenschen nicht aus einem nur äußerlichen Herantragen von Kenntnissen, aus einem concours hervorgehen sollten, sondern aus der in diesen Institutionen sich vollziehenden Charakterformung. Die wohl gravierendste Differenz gegenüber Röpkes Elite-Konzept liegt allerdings in der strikten Ablehnung jeder soziologischen Bestimmbarkeit dieser Elite der charakterlich und moralisch „Überlegenen". Nicht ohne Grund versuchte sich Baudin an einer „Charakteristik des Elitemenschen", also des Elite-Individuums, und nicht an einer Bestimmung der Elite als Kollektiv. Denn für ihn existierte gar kein soziales Phänomen „Elite", sondern nur ein 118

) Baudin: Elite, S. 201. ) Baudin: Elite, S. 201. 120 ) Baudin: Theorie, S.50. 119

228

3. Legitimation

individuelles: „Es gibt keine Klasse ,Elite', sondern nur Elitemenschen." 121 ) Nicht einmal den Status einer sozialen „Gruppe" mochte Baudin ihr zuerkennen. Von dieser Position aus war es nur konsequent, wenn er alle Versuche von Soziologen, an der Ausformung des Elite-Begriffs mitzuarbeiten, ablehnte. Mit diesem radikal individualisierten Elite-Konzept übertraf Baudin die ihrerseits schon nicht gerade auf die soziale Dimension der Elite fokussierten Vorstellungen Röpkes. Wenn nun das Wesen der Elite nicht mehr in ihrer Gestalt als eine solche Gruppe gesehen wurde, sondern in die Innerlichkeit des Eliteindividuums, in seine „persönliche Überlegenheit" und seine „Sittlichkeit" verlegt wurde, dann waren ihre Mitglieder auch politisch (in einem weiteren Sinne) kaum noch angreifbar. Denn eine solche Elite führte keine soziale Existenz mehr: Damit ist nicht gemeint, dass das Handeln der Eliteindividuen keine soziale Wirkungen mehr entfalten könnte (dann wäre jedes Konzept einer Wert- und Charakter-Elite sinnlos geworden), sondern dass ihnen keine gemeinsamen sozialen Existenzbedingungen eigen sein konnten. In der Tat lehnte Baudin die Vorstellung ausdrücklich ab, soziale Kriterien wie Herkunft, materieller Besitz oder Macht seien Kriterien der Elite: Hier polemisierte er ausdrücklich gegen Vilfredo Pareto („offensichtliche Fehler") und C. Wright Mills („völlig abwegige[r] Elite-Begriff"), aber er hätte auch Karl Mannheim (Blut, Besitz, Leistung) anführen können. 122 ) Es ist allerdings keineswegs so, dass Baudin sich Menschen von geringem sozialem Status als Eliteindividuen vorgestellt hatte. In seinem SammelbandAufsatz schilderte er das Elite-Handeln im Bereich der Wirtschaft (dass er das ökonomische Universum als Beispiel auswählte, verband ihn wieder mit den Präferenzen Röpkes und der gesamten Mont Pelerin Society). Hier präsentierte er den Unternehmer als ein solches Eliteindividuum der Verantwortung, des Allgemeinwohls, der Sittlichkeit und Überlegenheit und der „echten" ganzheitlichen, affektuellen (statt der mechanischen, bloß interessegeleiteten) menschlichen Beziehungen, der Gemeinschaft: „Er sieht in seinem Unternehmen etwas anderen als das Ergebnis nackter wirtschaftlicher Berechnungen, anderes auch als eine bloße Gewinnquelle. Er wird zur Verkörperung seines Unternehmens... Sein Unternehmen ... wird ... ein Kunstwerk, das er liebevoll gestaltet, ein Lebewesen, in welchem sein Wirken fortlebt und das ihn überdauert. Alles erscheint nun in einem neuen Licht: der Arbeitsvertrag wird zu einem gegenseitigen Treueversprechen". 123 ) Demgegenüber erschienen die Beschäftigten in Baudins Darstellung in erster Linie als Objekte der Behandlung durch den Unternehmer im Sinne einer m

) Baudin: Elite, S.200. Schon im Sammelband-Aufsatz hatte es geheißen: „Die Elite ist keine organisierte Vereinigung, wie die Partei oder die Klasse." Baudin: Theorie, S.53 (Hervorhebung im Original). 122 ) Baudin: Elite, S.200. 123 ) Baudin: Theorie, S.51.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

229

„geistig(en) und sittlich(en)" Förderung; als vordringlichste Aufgabe erkannte er die Sicherung des Arbeiternachwuchses.124) Vor jeder Form der Mitbestimmung stand für ihn die Erziehung der Arbeiter zum „Elitemenschen". Von allen Elite-Entwürfen war Baudins sicher der am radikalsten individualisierte und irrationalste, doch befand er sich nichtsdestotrotz innerhalb des Konsenses über die Notwendigkeit einer Wert- und Charakter-Elite: „Welches auch die herrschende Staatsform sein mag, der Elite kommt die Sendung zu, die Hebel fest in Händen zu behalten. Das Schicksal der Zivilisation hängt davon ab, wie man dieser Forderung nachleben wird."125) Die Legitimationswirkungen der Elite-Doxa hatten sich in diesem Modell allerdings fast vollständig von einer konkreten Sozialordnung oder einem politischen System weg in einem nicht näher spezifizierten Allgemeinwohl zur Rechtfertigung der sozialen Privilegierung als moralisch und charakterlich begründet hin verschoben. III. Nach dem bisher Gesagten erscheinen die liberalen Intellektuellen wie Röpke und Baudin, aber auch jene, die sich zumindest teilweise auf liberale Traditionen beriefen bzw. als Teil dieser Traditionslinie rezipiert wurden, wie Gaetano Mosca oder Ortega y Gasset, gar nicht oder nur in eingeschränktem Maße als Befürworter der egalitären politischen Demokratie. Sie hatten ihre Elite-Modelle der politischen und sozialen Demokratie gegenüber-, wenn nicht entgegengestellt. Immerhin gab es aber auch eine demokratische Traditionslinie im deutschen Liberalismus, für die Alfred Weber, der große alte Mann der Heidelberger Kultursoziologie, stand. Alfred Weber (geboren 1868) war in der Tat der älteste der in unserem Kontext überhaupt zu nennenden Autoren, und die intellektuellen Prägungen seines langen Lebens übertrugen sich auch auf seine Äußerungen zum Elite-Thema. Alfred Webers intellektuelles Kapital und seine Position im LiterarischPolitischen Feld vor allem während der unmittelbaren Nachkriegsjahre sind kaum zu überschätzen. Als Heidelberger Ordinarius (von 1907 bis 1933) hatte er eine ganze Generation von Schülern ausgebildet, sein Verhalten nach 1933 diskreditierte ihn nach 1945 in keiner Weise,126) seine in den ausgehenden 1940er Jahren erschienenen Aufsätze und Monographien suchten aufrichtig und durchaus auf der Höhe der westdeutschen Diskussion nach Auswegen aus der intellektuellen Orientierungslosigkeit dieser Zeit. Bei einer Bewertung des „Niveaus" dieser Debatten (im Sinne ihrer Realitätsadäquanz) sollte man sich daher ebenso vor einer Glorifizierung der Kulturgeschichte als Kultursoziologie hüten wie vor einer Überschätzung ihrer

124

) Baudin: Theorie, S. 52/53. ) Baudin: Theorie, S.54. 126) Weber ließ sich 1933 vorzeitig emeritieren, nachdem er die Hakenkreuzfahne vom Dach des Instituts für Sozial- und Staatswissenschaften hatte einholen lassen, und betrat die Universität zwölf Jahre lang nicht mehr. Waldmüller: Die Wandlung, S. 33; Jansen: Gelehrtenpolitik. 125

230

3. Legitimation

wissenschaftlichen Erklärungskraft. Mit seinen Schriften prägte er diese Diskussionen zeitweilig tatsächlich stark, etwa als er 1946 in einer 1000 Jahre überspannenden kulturhistorischen Schau „Abschied von der bisherigen Geschichte" nahm und damit dem Gefühl der Zeitgenossen, von einer furchterregenden Zeitenwende zu stehen, Ausdruck verlieh.127) Wenige Jahre später nahm er seine „Suche nach dem Sinn geschichtlichen Daseins" wieder auf und machte damit unmissverständlich deutlich, wie fragwürdig bisher gültige Geschichtsbilder geworden waren. 128 ) Darüber hinaus stand ihm zwischen 1945 und 1948 mit der Wandlung, der vermutlich qualitativ am besten redigierten und angesehensten Kulturzeitschrift dieser Periode, deren Mitherausgeber er war, eines der einflussreichsten Magazine zur Verfügung, in der unter anderem Vorabdrucke seiner Bücher erschienen. Nach dem Ende der Wandlung erschienen zahlreiche Aufsätze von ihm im Monat sowie einige im Merkur,129)

Tatsächlich verkörperte Alfred Weber eine rare Position innerhalb des liberalen Spektrums, die die politische und sogar die soziale Demokratie vorbehaltlos akzeptierte. Noch 1953 forderte er eine Ausweitung der betrieblichen und sogar die Einführung der überbetrieblichen Mitbestimmung sowie weitgehende Entflechtungen der Großkonzerne. Und weiter stellte er fest: „In den industriell heute führenden Gebieten ist sie [die Arbeiterschaft, M.R.] in ihren organisierten Teilen der überzeugteste und bekennendste Vertreter der freiheitlichen, sei es nun liberaldemokratischen, sei es sozialistisch denkenden Massengläubigkeit."130) Sicherlich teilte Wilhelm Röpke diese positive Einstellung zur Demokratie und das Vertrauen in die Arbeiterbewegung nicht mit Weber, wohl aber die Ablehnung der Großkonzerne - auch Weber hatte sich mit Arbeiten zur Wirtschaftsordnung als liberaler Intellektueller profiliert - und auch die Vorstellung, im Zeitalter der Massen zu leben. Daraus ergaben sich Übereinstimmungen ihrer Elite-Konzeptionen, die in dieser Hinsicht die gegensätzlichen Anschauungen in den erstgenannten Bereichen bei weitem überwogen. Auf Webers Vorstellungen von der Massengesellschaft muss hier nicht näher eingegangen werden; es genügt der Hinweis, dass für ihn dabei die rein quantitative Dimension im Vordergrund stand („Massen" im Sinne von „Menge")

127

) Mit Webers Schriften setzten sich Herbert von Borch (Alfred Webers Kultursoziologie, 1950) und Jürgen von Kempski (Zur Regeneration des Liberalismus, 1949) im Merkur auseinander. In den Frankfurter Heften erklärte Claudia Menck (Abschied von der bisherigen Geschichte, FH 2.1947, S. 217-19) den größten Teil des Buches „Abschied von der bisherigen Geschichte" als für Katholiken uninteressant, lobt jedoch ausdrücklich Webers Ausführungen über Massen, Eliten und Erziehung sowie die Notwendigkeit einer sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung Deutschlands. 128) Weber. Mensch (Untertitel: Vom Sinn geschichtlichen Daseins). 129 ) Aufsätze des Kulturprotestanten Weber finden sich verständlicherweise nur ausnahmsweise in den Frankfurter Heften und nicht im Hochland. "θ) Weber: Mensch, S. 89, S. 92.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

231

und dass er diese Vorstellungen bei weitem nicht in einer derart exaltierten Sprache vortrug wie Röpke (oder Baudin). 131 ) Aus seiner Übernahme und Verwendung von Bestandteilen der MassenDoxa entwickelte er dann seine Eliten-Konzeption, die vor allem auf die Bildung einer politischen „Führerschicht" 132 ) zur Bewältigung und Führung der Massenpolitik abzielte. Diese politische Elite musste auch für Weber eine Wert- und Charakter-Elite sein. Das Auftreten der „Massen" und die daraus erwachsenen Probleme stellte für Weber ein spezifisch modernes Phänomen dar. Ein „Eliteproblem" gab es aus diesem Grund ebenfalls erst seit dem 19. Jahrhundert. Weber ging nicht so weit (wie einige Jahre später dann Hans Peter Dreitzel), das ganze Sozialphänomen „Elite" zu einem erst in entwickelten Industriegesellschaften bestehenden Gebilde zu erklären, jedenfalls nicht explizit, doch bereitete Weber immerhin den Weg zu diesem Gedanken, wenn er ausführte, dass man „bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ... in dieser noch kleinräumigen Zeit noch kein Eliteproblem" kannte. 133 ) Erst die „Trennung von Geist und Macht" und der Eintritt ins „Massenzeitalter" - durch die „Emanzipationstendenz der Masse" - habe um 1880 „das Eliteproblem von heute" hervorgebracht. Die „Trennung von Macht und Geist" wurde von Weber nicht weiter expliziert, nur der Status quo ante als „Kondominium der aristokratischen Führungskräfte mit der Bürokratie und der bürgerlichen Intelligenz" bezeichnet. In „Abschied von der bisherigen Geschichte" hatte er jedenfalls die Zäsur der Jahre um 1880 mit der Politik Bismarcks begründet, die dem deutschen Bürgertum das politische und moralische Rückgrat gebrochen habe. 134 ) Die in der Folge entwickelten neuen intellektuellen Ordnungen und Denksysteme - angestoßen von Nietzsche, mit dem sich Weber im „Abschied" auf rund 70 Seiten (einem Viertel des ganzen Buches) auseinander setzte - stellten mehr und mehr die bürgerliche Gesellschaft selbst in Frage: Die Trennung von Macht und Geist vollzog sich mit der Ausbildung eines zumindest teilweise autonomen Intellektuellen Feldes. Der Eintritt der „Massen" in die deutsche, überhaupt in die kontinentaleuropäische Politik stellte sich für Weber vor allem deshalb als problembeladen dar, weil die freiheitlichen, auf politische Selbstbestimmung orientierte Entwicklungslinien hier (im Gegensatz zum angelsächsischen Raum und den kleinen Ländern Nord- und Westeuropas) durch die übermächtigen bürokratischen Traditionen abgeschnitten und verkümmert seien. 135 ) Folglich sei nach 131

) „Alle Suggestibilität der Massen, alles Aufbrechen von dämonischen Allgemeinmächten in ihnen, die jede Selbstgestaltung und Selbstkontrolle ausschließen, samt weitergehendster Urteilskompetenz gegenüber komplizierten Tatsachen sind noch nicht entscheidend, - als allgemeine Deutung wäre solch ein negatives Urteil ein Vorurteil." Weber. Abschied, S. 230/31 (Hervorhebung im Original). 132 ) Weber. Abschied Geschichte, S.231. 133) Weber: Einführung, S.61 (Hervorhebung im Original), auch für das Folgende. 134 ) Weber. Abschied, S. 127; ähnlich die Darstellung in ders.: Kulturgeschichte, S. 418-20. 135 ) Weber: Mensch, S. 87/88.

232

3. Legitimation

1918 ein politisch-ideelles Vakuum entstanden, und die Weimarer Republik hier entwickelte Weber sehr früh einen bis heute reichenden Begründungszusammenhang - sei gescheitert in Ermangelung einer die Republik bejahenden Elite. 136 ) Nach 1945 setzte Alfred Weber seine Hoffnungen zur Bildung einer politischen Elite jedoch keineswegs allein auf die Auslesemechanismen der Parlamente, wie sein Bruder Max dies während und nach dem Ersten Weltkrieg getan hatte.137) Vielmehr forderte Alfred Weber die Bildung einer politischen Wertund Charakter-Elite zur Überwindung jener unglückseligen Tradition „preußischen Kadavergehorsams" und vor allem des „Nihilismus, der die tiefere Ursache ... für den katastrophalen geschichtlichen Zusammenbruch ist".138) Eine Wert- und Charakter-Elite, die diesem Anliegen gerecht wurde - darin bestand der Fluchtpunkt von Webers Elite-Konzeption. Den inneren Zusammenhang von Elite und Demokratie deutete Weber dabei als ein komplexes Verhältnis zwischen Elite und Masse: Einerseits sollte die politische Wert- und Charakter-Elite die Massen verstehen und führen, andererseits und noch viel wichtiger erschien ihm aber die Erziehung, oder, wenn man so will, die „bürgerliche Verbesserung" der Massen unmittelbar notwendig. Für ihn kam „es auf das Vorhandensein einer von der Masse gefühlsmäßig akzeptierten, die Verhältnisse übersehenden und die Massenstimmungen richtig einstellenden und abtönenden Führerschicht an, also auf eine den beiden Aufgaben der psychologischen Massenführung und der sachlichen Beherrschung der Situation gleichzeitig gewachsenen Auslese und auf Persönlichkeiten, die aus dieser Auslese in schwierigen Augenblicken hervorgehen, ob die Überwindung der unentrinnbaren Massenmankos in gefährlichen Momenten gelingt oder nicht."139) Und es folgte der bemerkenswerte Satz: „Das Wichtigste und Entscheidende ist aber - mit größter Schärfe muss das gegenüber allen verbreiteten generellen Vorurteilen betont werden - die durchschnittliche Charakterqualität der Masse, das heißt ihrer Einzelmenschen." Für den Liberalen Weber stand nämlich nicht - wie bei den konservativen und wirtschaftsliberalen Intellektuellen - die politische Ausschaltung der Massen, sondern ihre politische Integration im Vordergrund.140) Die Vorstellung einer möglichen und notwendigen „Verbesserung der Masse" teilte Weber hingegen durchaus mit einigen anderen Autoren; seine „Verbesserung" entsprach beispielsweise der „Entmassung" bei Wilhelm Röpke oder der „Vitalpolitik" bei einem anderen liberalen Denker, nämlich Alexander Rüstow.141)

136

) ) 138 ) 139 ) 140 ) 141 )

137

Weber: Abschied, S. 222. Max Weber: Wahlrecht; ders.: Parlament; ders.: Politik als Beruf. Weber: Abschied, S. 230-43, S. 12, S. 243. Weber: Abschied, S.231, auch für das folgende Zitat (Hervorhebungen im Original). Weber: Einführung, S.65. Weber: Mensch, S. 202/03; Rüstow: Vitalpolitik.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

233

Wie bei jedem Modell einer Wert- und Charakter-Elite stellte sich auch bei Weber die Frage, auf welche Weise die Elite denn die ihr gestellten Aufgaben nachkommen, also wie sie die soziale Welt gestalten könnte. Es spricht für Webers intellektuelle Arbeit, dass er dieser schwierigen Frage nicht auswich und sich auch nicht bloß auf eine nicht näher beschriebene Vorbildfunktion zurückzog (wie so manche anderen Autoren). Weber entwickelte die Vorstellung von der „Tendenz der sozialen Induktion, die auf dem Wege der sozialen Tuchfühlung den Gesellschaftskörper von oben nach unten durchläuft." 1 4 2 ) Diese Tendenz glaubte er in äußerlichen Verhaltensweisen zweifelsfrei beobachten zu können, etwa in Modefragen. Für ihn stellte sich nur die Frage, ob auch tiefergehende Einstellungen, die ganze Verhaltensstile zu prägen vermöchten, in dieser „Induktion" von der Gesellschaftsspitze nach „unten" zu diffundieren in der Lage sein könnten. Weber bejahte dies, unter Verweis auf den englischen Gentleman-Typus. 143 Allerdings warnte er gleichzeitig vor allzu weit reichenden Interpretationen, übrigens mit einem Seitenhieb auf alle Vorstellungen einer „Nivellierung" von Verhaltensstilen und Erwartungshaltungen in der sozialen Mitte. Es verdient allerdings auch festgehalten zu werden, dass sein „Induktions"-Modell insofern ganz „elitistisch" gedacht war, als es - in Form „einer stufenweisen Induktion von den geistigen Schichten her" 1 4 4 ) - allein von einer Top-down-Prägung ausging und gegenläufige Prozesse (etwa der Informalisierung des Sozialverhaltens) innerhalb dieses Horizonts nicht denkbar waren. Und noch auf ein weiteres Merkmal von Webers Elite-Modell ist hier ausdrücklich hinzuweisen: Es konnte nämlich seine Herkunft aus der deutschen Ideengeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verleugnen. Dies nicht nur, weil die Elite Webers eine Elite der „Geistigen" darstellte (zu denen er sich selbstverständlich auch selbst rechnete) 1 4 5 ) und auf diese Weise noch einmal den Überlegenheitsanspruch des deutschen Bildungsbürgertums dokumentierte. 1 4 6 ) Diesen Überlegenheitsanspruch nach 1945 derart offen zu artikulieren, fiel den Angehörigen jüngerer Generationen offensichtlich schwerer (das intellektuelle Milieu, das sich um den Ruf versammelte, lehnte ihn offen ab). Vor allem aber war Webers Wert- und Charakter-Elite der Zeit vor 1945 verhaftet, weil in ihm die Scheidung von der Führer-Doxa noch nicht klar vollzogen worden war. Im Kern bestand sein Elite-Modell aus einer Ansammlung von Elite-Individuen, nicht aus dem Kollektiv-Phänomen „Elite". Weber träumte von großen bedeutenden Einzelwesen, von Genies und Führern. Nicht umsonst gebrauchte er an verschiedenen Stellen synonym für Elite den Begriff der „Führerschicht". Die Verbundenheit seines Elite-Modells mit der

142

) ) 144 ) 145 ) 14ΐ ) 143

Weber. Einführung, S.67. Ebd., S. 67/68, auch für das Folgende. Weber: Mensch, S. 95. Weber: Abschied, S. 233. Weber: Mensch, S. 96/97, S. 202/03; ders:. Einführung, S.60.

234

3. Legitimation

Führer-Doxa wird an zwei Stellen besonders deutlich: Im „Abschied von der bisherigen Geschichte" sprach Weber über das Ziel der „Auslese" (notwendiger Bestandteil jeder Elitebildung und jeden Elite-Modells) und forderte dabei eine Integration partikularer und universaler Auslesekriterien, etwa der spezifischen Qualifikationen der politischen Elite und gleichzeitig der allgemeinen moralischen und charakterlichen Voraussetzungen der Zugehörigkeit der Elite. 147 ) Doch das Ziel der Auslese bestand vor allem in der Formung der überragenden Einzelwesen: „Es gibt Auslese und Elitebildung und muss Elitebildung geben zu geistig Solitären. Für diese Träger einer Wirkung rein aus ihrem Sein, aus der Ausstrahlung genuiner Eingebungen, Haltungen und Gewohnheiten, für diese geistig Solitären sind wohl gewisse Bildungsunterlagen und äußere Existenzmöglichkeiten wesentlich." 148 )

Auch wenn dieser „Solitär" nicht „abgesondert" zu leben braucht, so stand er doch konzeptionell zwischen dem rational weder in seinem Herkommen, noch in seinen Fähigkeiten und Kraftquellen und seinen Wirkungsweisen erklärbaren Genie einerseits und dem moralisch und charakterlich auserwählten Mitglied einer Elite andererseits. Und obwohl Weber hier von „Auslese" und „Elitebildung" sprach, machte er weder Angaben darüber, auf welche Weise die „Elitebildung" die „Solitäre" miteinander in Verbindung bringen konnte, um mehr als isolierte Individuen hervorzubringen, noch darüber, ob die Elite überhaupt als kollektives Phänomen existierte. Weber baute die Überlegungen zum „Solitär" in seiner neun Jahre nach „Abschied von der bisherigen Geschichte" erschienenen „Einführung in die Soziologie" noch weiter aus, als er im Anschluss an das Kapitel über „Masse und Elite" einen Abschnitt über „Kollektiv und Genius" einfügte, in dem er den Bedingungen nachging, unter welchen historischen Ausnahmeerscheinungen die „Genialen" („der Erfinder, der geniale Qualität besitzt ... der Staatsmann, der Prophet, prophetische Philosoph und die Künstler, die genial sind") auftreten können und worin deren Bedeutung liegt. 149 ) Auch hier kam Weber wieder auf „ein bestimmtes Verhältnis zu den seelisch-geistigen Mächten der unmittelbaren Transzendenz", also auf metaphysische Qualitäten zu sprechen, wie sie für die durch die Führer-Doxa bezeichneten „großen Einzelnen" charakteristisch sind. 150 ) Die „ganz Großen" (etwa Julius Caesar) zeichneten sich für Weber durch eine solche „Berufung" und einen besonderen geschichtlichen „Auftrag" aus. Deutlicher als im „Abschied" sind im soziologischen Lehrbuch „Elite" und „Führer" konzeptionell und nach Abschnitten räumlich getrennt, möglicherweise ein Reflex der inzwischen auch in Westdeutschland weiter fortgeschrittenen Debatte über den Gegenstand „Elite". Immerhin waren unterdessen die 147

) ) 149 ) 15 °) 148

Weber. Weber: Weber: Weber:

Abschied, S. 234. Abschied, S. 234. Einführung, S.69. Einführung, S. 71/72.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

235

einschlägigen Werke Moscas und Mannheims übersetzt worden bzw. frei erhältlich sowie die Texte Stammers und Michael Freunds zum „Elitenproblem" in der Demokratie erschienen (und wurden in Webers „Einführung" auch genannt). In welchem systematischen Zusammenhang die historische Ausnahmegestalt zu einer Elite (als einem strukturbildenden Kollektiv) stehen konnte, erörterte Weber allerdings nicht. Und so blieb die Differenzierung zwischen dem „geistigen Solitär" (dem Synonym für das Elite-Individuum) und dem „Genius" (konzeptionell von der „Elite" geschieden) äußerst vage. Mit Alfred Weber endet die Zeit der quasi-autonomen Entwürfe von EliteModellen in Westdeutschland. Mosca und Mannheim hatten ihre Bücher nicht für ein deutsches Publikum geschrieben oder jedenfalls nicht auf eine nennenswerte deutsche Leserschaft hoffen können, und auf die Zirkulation ihrer Texte in Deutschland konnten sie keinen Einfluss ausüben. Mit anderen Worten: Ihre intellektuelle Arbeit unterlag nicht den Zwängen und Anreizen des westdeutschen Intellektuellen Feldes. Mit Einschränkungen gilt dies auch für Louis Baudin. Für Alfred Weber, Karl Mannheim und Wilhelm Röpke bestand vor allem noch kein Erfordernis, auf bereits in Deutschland existierende Stellungnahmen in Form zur Diskussion gestellter Elite-Konzepte zu antworten und ihnen gegenüber durch Abgrenzung, Zustimmung und Weiterentwicklung Position zu beziehen. Alfred Weber wiederum diskutierte in seinen kultursoziologischen und -philosophischen Ausführungen Probleme, die sich ihm und dem liberal-bürgerlichen Bildungsestablishment, das er verkörperte, 151 ) nicht erst 1945, sondern zumindest schon seit 1933 gestellt hatten (wie er selbst betonte). 152 ) Dass sein intellektueller Einfluss sogar über die Grenzen des liberal-bürgerlichen Bildungsmilieus hinausreichte, lag sicherlich ebenso an seinem beeindruckenden intellektuellen Kapital wie an seinem persönlichen Ansehen als konsequenter Gegner Hitlers. Aus dem intellektuellen Horizont dieses Milieus stammten die Gegenstände, die er aufgriff, und die Sprache, die er verwendete, auf die Angehörigen dieses Milieus zielten seine Orientierungsangebote. Allerdings führte von diesem „altliberalen" gesellschaftspolitischen Denken kein direkter Weg zur Transformation des „Bildungsbürgertums" in eine „Elite". Denn das hätte die Aufgabe jenes geistesgeschichtlich orientierten und auf ganzheitliche Modelle fixierten Denkstils durch diese „Geistigen", als die sich Weber und andere verstanden, erfordert. Von den konservativen zeitgenössischen Modellen wiederum unterschieden sich diese liberalen Gebilde durch ihre geringere Berührungsangst von der repräsentativen Demokratie, die die Entwicklung von Elite-Konzepten als Schutz vor weitergehender De-

151 ) Man lese etwa die emphatische Rezension Dolf Sternbergers von „Kulturgeschichte als Kultursoziologie" in: Die Gegenwart 5.1950, Nr. 19, S. 18. 152 ) „Abschied von der bisherigen Geschichte" hatte er nach eigenen Worten während des Krieges verfasst; sein Hauptwerk „Kulturgeschichte als Kultursoziologie" war 1935 in den Niederlanden und erst 1950 in vermehrtem Umfang in Deutschland erschienen. Vgl. auch Jansen: Gelehrtenpolitik, S. 23-25.

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3. Legitimation

mokratisierung nicht erforderten. Diese Konstellation bremste offenbar die Entwicklung eines elaborierten liberalen Elite-Modells, wie es später zum Beispiel von Ralf Dahrendorf konzipiert wurde. Aus diesen Gründen blieben Elite-Modelle bei Alfred Weber und noch stärker bei dem einige Jahre jüngeren Alexander Rüstow, der gleichfalls diesem intellektuellen Milieu zuzurechnen ist, randständig oder jedenfalls nicht bis zur Reife entwickelt. Der 1899 geborene Wilhelm Röpke erlebte die Stabilität dieses Milieus nicht mehr. Dabei unterschied sich sein kultureller Horizont sicher nicht von derjenigen Webers oder seines Mentors Rüstow und auch nicht seine grundlegende politische Präferenz in Form eines liberalen politisch-ideellen Weltbildes in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Dieses Weltbild war jedoch geprägt von „Aufstand der Massen" und der Bedrohung seines wichtigsten professionellen und intellektuellen Anliegens - einer geordneten Marktwirtschaft, bedroht vom Sozialstaat, der politischen Verlängerung der Massen. Und so war es gerade Röpkes Aversion gegen die Massen und die Furcht vor der „Vermassung", die seine intellektuellen Anstrengungen und die seiner Weggenossen in der Mont Pelerin Society zur Formulierung eines Gegenentwurfs - des besagten „Aufstands der Elite" - vorantrieb. Was dagegen alle diese Entwürfe und im Einzelnen unterschiedlichen politisch-ideellen Positionen einte, war die Grundannahme, dass der Bestand einer Gesellschaft, ihres politischen Systems, ihrer Kultur und ihrer Wirtschaftsordnung von der Führungskraft, der Integrität und der Vorbildhaftigkeit einer Wert- und Charakter-Elite abhingen. Mit diesem Argument ließ sich die gegebene Privilegienstruktur sozialer Ungleichheiten wirkungsvoll rechtfertigen, solange die Nutznießer dieser Verteilung glaubhaft als Besitzer der geforderten Elite-Qualitäten erscheinen mochten bzw. ihnen diese Qualitäten nicht ernsthaft bestritten wurden. 3.1.4 Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" in den 1950er Jahren

Eliten-Modelle

Die Rezeption von Moscas Buch in Deutschland erfolgte schnell, aber in begrenzter Reichweite. Vor allem blieb sie auf ein enges Fachpublikum von Sozialwissenschaftlern beschränkt. Und auch wenn diese Moscas Theorie als zuallermindest sehr anregend für ihre eigenen Konzeptionen bezeichneten (unumschränkte Ablehnungen finden sich eigentlich nirgends), so folgte daraus keine Präsenz Moscas im Literarisch-Politischen Feld, denn keine der großen Kulturzeitschriften druckte Auszüge oder andere kurze Texte von ihm ab, und Rezensionen wie diejenige Dolf Sternbergers in der Gegenwart blieben die Ausnahme. In den Vorträgen und Diskussionen in Bad Boll und Loccum taucht sein Name nicht auf. Es stellt sich also die Frage, weshalb Moscas Elite-Theorie den Arbeiten von Sozialwissenschaftlern, die tief in einem akademische Fächergrenzen überschreitenden Milieu der „Gebildeten" verankert waren, wie Wilhelm Röpke, Alfred Weber oder Michael Freund, spürbare Impulse gab, von eben

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

237

diesem Milieu aber verschmäht wurde. Eine plausible Antwort findet sich, wenn man der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit einem Autor nachgeht, der Moscas Theorie der Herrschenden Klasse (sowie diejenigen einiger weiterer Eliten-Theoretiker avant la lettre, wie Dante, Machiavelli, aber auch Michels, Sorel und Pareto) uneingeschränkt propagierte: Die Rede ist von James Burnhams „Die Machiavellisten", das den vielversprechenden Untertitel „Verteidiger der Freiheit" trug. Burnham, der amerikanische Soziologe, war in der westdeutschen Diskussion bei weitem kein Unbekannter. Sein bereits erwähntes Buch „Das Regime der Manager" war in der Bundesrepublik wie in seiner Heimat ein großer Erfolg gewesen. 153 ) Der enormen Verbreitung seiner Theorie von der „Revolution" und Herrschaft der Manager in Westdeutschland wird noch gesondert nachgegangen, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, ob die Manager (als „Funktionäre") überhaupt als Angehörige der Elite bezeichnet werden könnten. Hier genügt die Feststellung, dass Burnham mit dem Terminus „Manager" die Gruppe derjenigen bezeichnete, die in den entwickelten Industriegesellschaften (ob kapitalistisch oder kommunistisch, ob demokratisch, faschistisch oder stalinistisch) die Allokation der wichtigsten Ressourcen, nämlich der ökonomischen, „managen" (den Begriff der „Kontrolle", der in der juristischen wie der übrigen soziologischen Diskussion vorherrscht, lehnte er in diesem Zusammenhang ausdrücklich als irreführend ab!). 154 ) Im „Regime der Manager" habe sich das Zentrum der „Souveränität" von den Kapitalbesitzern und Parlamenten als zentralen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu den Managern der Großkonzerne und den „Regierungskanzleien" verlagert. 155 ) Für Burnham stellte diese Entwicklung das Heraufziehen einer zutiefst illegitimen Ordnung dar; „The Managerial Revolution" ist daher zunächst eine umfangreiche Anklageschrift. In ihr fällt der Begriff der „Elite" übrigens eher beiläufig und ist keineswegs positiv konnotiert - er bezeichnete damit unter anderem die durchweg negativ gezeichneten politischen und ökonomischen Machthaber im Nationalsozialismus und in der Sowjetunion. In der deutschen Übersetzung werden bezeichnenderweise die Termini „Elite", „Führerschicht" und „Oberschicht" synonym verwendet. 156 ) Die „Elite" in diesem Buch ist eine kritisch beleuchtete „Macht-Elite" und jedenfalls keine vorbildliche Wert- und Charakter-Elite. Diese kritische Verwendung des Elite-Begriffs ist in der nur zwei Jahre später erstmals erschienenen Studie „Die Machiavellisten" allerdings verschwunden. Das Buch mit dem Untertitel „Verteidiger der Freiheit" erschien auf dem deutschsprachigen Markt 1949 und traf mitten hinein in den Höhepunkt der

153

) Burnham: Regime. Das 1941 in den U S A erstmals erschienene Buch trug dort den wesentlich dramatischeren Titel „The Managerial Revolution". 154 ) Burnham: Regime, S. 114. 155 ) Ebd., S. 168-82. 156 ) Burnham: Regime, bes. S. 234/35.

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3. Legitimation

westdeutschen Suche nach neuen Sozialmodellen und die gerade aufblühende Diskussion über die Notwendigkeit einer Elite. Trotz dieser mehr als erfolgversprechenden Konstellation - ein renommierter und fachkundiger Autor äußerte sich zu einem gerade lebhaft diskutierten Thema - blieb praktisch jede Resonanz auf Burnhams Vorstoß aus. 157 ) Was war der Grund? Die Antwort findet sich im Kern von Burnhams Elite-Konzept. „Die Machiavellisten" stellt zunächst eine ganz konventionell aufgebaute politische Ideengeschichte dar. In sechs Kapiteln referierte Burnham die Beiträge von Dante Alighieri, Niccolo Machiavelli, Gaetano Mosca, Georges Sorel, Robert Michels und Vilfredo Pareto zu einem „realistischen" Elite-Begriff und einer „wissenschaftlichen", das heißt im Sinne Burnhams einer wertfreien Politik. Auf diese Weise trug er zweifellos zur Kanonisierung dieser Autoren (vielleicht mit Ausnahme Dantes) als frühe Klassiker aller modernen Elite-Theorien bei. Erst im siebenten und letzten Kapitel entwarf Burnham unter der Überschrift „Politik und Wahrheit" sein eigenes Elite-Modell. Zunächst resümierte er die Werke jener Vordenker unter einer Reihe von dreizehn „Hauptprinzipien des Machiavellismus"; 158 ) Prinzipien, die den Entwürfen aller dieser Autoren gemeinsam seien und „den Machiavellismus als besondere Tradition des politischen Denkens" definierten. In diesen Prinzipien verdichtete Burnham seine eigene Sozialphilosophie und glaubte die Grundlagen einer „machiavellistischen" Elite-Theorie (nicht weniger als sieben seiner dreizehn „Hauptprinzipien" befassten sich mit der Gestalt und der Bedeutung der Elite in einer Gesellschaft) gelegt zu haben. Nicht zuletzt um die Schärfe seiner Diktion wiederzugeben, seien die wichtigsten dieser „Hauptprinzipien" hier genannt: „1. Eine objektive Wissenschaft der Politik und der Gesellschaft, deren Methoden denen der anderen empirischen Wissenschaften gleichen, ist möglich. (...) 2. Das Grundthema der politischen Wissenschaften ist der Kampf um die soziale Macht in seinen offenen und verborgenen Formen. (...) 4. Logische und rationale Handlungen spielen in politischen und sozialen Umwandlungen eine relativ kleine Rolle. (...) 5. Um den sozialen Prozess verstehen zu können, muss die allerwichtigste soziale Trennung beachtet werden, diejenige zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Elite und Nicht-Elite. (...) 6. Zur historischen und politischen Wissenschaft gehört in erster Linie das Studium der Elite, ihrer Zusammensetzung, Struktur und der Art ihrer Beziehung zur Nicht-Elite. (...) 7. Das Hauptziel jeder Elite oder herrschenden Klasse ist die Erhaltung ihrer eigenen Macht und Privilegien. (...) 8. Die Herrschaft der Elite beruht auf Gewalt und Betrug. (...)

157 ) Nur eine einzige der großen Kulturzeitschriften, die Universitas, druckte eine Besprechung (von einem vollkommen unbekannten Rezensenten), die zwar den Inhalt referierte, aber jegliches Urteil über das Buch vermied. Hermann Maute: Die Machiavellisten, in: Universitas 5.1950, S. 1095/96. ,58 ) Burnham: Machiavellisten, S. 225-29, auch für das Folgende.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

239

9. D i e soziale Gesamtstruktur wird durch eine politische Formel integriert und aufrecht erhalten, die gewöhnlich mit einer allgemein akzeptierten Religion, einer Ideologie oder einem Mythos in Zusammenhang steht. (...) 10. D i e Herrschaft der Elite stimmt einmal mehr, einmal weniger mit den Interessen der Nicht-Elite überein. (...) Freiheit ... heißt die Sicherheit der Individuen vor willkürlicher und unverantwortlicher Machtanwendung. (...) 11. In jeder Elite wirken immer zwei entgegengesetzte Tendenzen: a) eine aristokratische Tendenz, mit der die Elite die Machtstellung ihrer Mitglieder und deren Nachkommen intakt zu halten versucht und allen anderen den Eintritt in ihren Reihen zu verwehren sucht; b) eine demokratische Tendenz, mit der neue Elemente von unten sich den Weg in die Elite erzwingen wollen. (...) 12. Auf die Dauer herrscht die zweite dieser Tendenzen immer vor.... D e r soziale Klassenkampf dauert immer fort. (...) 13. In der Zusammensetzung und Struktur der Eliten kommen periodisch auftretende, sehr rapide Verschiebungen vor, das heißt soziale Umwälzungen."

Schon die Auswahl jener oben aufgelisteten Autorennamen als Gewährsmänner eines brauchbaren, das heißt wissenschaftlich wie politisch-ideell anwendbaren Elite-Konzepts musste bei den Protagonisten der zeitgenössischen Diskussion in Westdeutschland auf Widerstand stoßen. Nicht allein weil sie überwiegend durch ihre Nähe zu den faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit „kontaminiert" waren (weshalb die Mehrzahl der hiesigen Intellektuellen in ihrer Suche nach einer post- bzw. antitotalitären Ordnung sich bei ihren Positionsbestimmungen kaum auf diese Autoren als Autoritäten berufen konnten, sei es, dass sie deren Ideen offen ablehnten, sei es, dass sie nicht wagten, sie öffentlich zu ihnen zu bekennen). Noch Jahre später rechtfertigte sich Arnold Gehlen gegenüber Hans Paeschke: „Der betr. Satz ist in der Tat von Sorel - ich zitiere aber Sorel und Pareto nur noch anonym, sonst schreien die Leute gleich .Faschisten!!!' und hören gar nicht mehr hin, was gesagt wird." 159 ) Auf Ablehnung musste vor allem die Berufung auf Machiavelli stoßen, unter dessen Namen Burnham die Argumente jener Denker und Forscher sowie seine eigene intellektuelle Zielrichtung vereinigte und fokussierte. Denn der Name Machiavelli signalisierte die (von Burnham offensiv propagierte) Trennung von Politik und Moral. Die „objektive Wissenschaft der Politik", wie Burnham sie verstand, sollte „in bezug auf jedes praktische politische Ziel neutral sein". 160 ) Ein solches Anliegen lag jedoch vollkommen konträr zu dem in Westdeutschland vorherrschenden Bemühen, nach der nationalsozialistischen Erfahrung Politik (wieder) an humane Werte zu binden bzw. eine politische Ethik, die ausschließlich auf ein demokratisches System orientierte, zu erarbeiten. „Machiavellismus" hingegen bedeutete soviel wie „Zynismus" 161 ) - und war mit den intellektuellen Interessen im Literarisch-Politischen Feld zu dieser Zeit unvereinbar. Und in der Tat zielte Burnhams Buch 159

) D L A , D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (22.2.56). °) Burnham: Machiavellisten, S.225. 161) v g l . die in dieser Hinsicht sehr scharfsinnige Rezension des Mosca-Buches von Kesting: Problem. 16

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3. Legitimation

ganz offen darauf, „Glaubensbekenntnisse", „transzendentale Ziele" und „Ideale" aus der politischen Debatte und Praxis fernzuhalten - in dieser Hinsicht konnte der Gegensatz zur westdeutschen Debatte nicht größer sein! und zwar unter wiederholter Berufung auf die Arbeiten von Mosca und Pareto. 162 ) Denken wir hier kurz an die intellektuellen Rahmenbedingungen der intellektuellen Auseinandersetzungen in der frühen Bundesrepublik zurück, so bewegte sich Burnham damit offensichtlich außerhalb derselben: Vor allem die Axiome des ewigen Klassenkampfes und des primären Ziels einer jeden Elite, ihre Macht und ihre Privilegien zu erhalten (wobei Gewalt und Betrug ihre wichtigsten Mittel darstellten), sowie der objektivistische Gestus im Reduzieren aller intellektueller Bemühungen auf die systemstabilisierende Funktion einer „politischen Formel" waren mit der Orientierung an der göttlichen Schöpfungsordnung (die sich in der starken Stellung der Kirchen im Intellektuellen Feld manifestierte) und der Dominanz sozialharmonischer, die Bedürfnisse und die Würde des einzelnen Individuums in den Vordergrund stellender Gemeinplätze überhaupt nicht in Übereinstimmung zu bringen. Gleiches gilt für die vorwiegend geisteswissenschaftliche Ausrichtung der westdeutschen Sozialwissenschaften dieser Zeit (man denke etwa an die oben zitierten Ausführungen Alfred Webers über die transzendentalen Bestimmungen menschlichen Handelns), die weder den positivistischen Blick Burnhams auf die Sozialstruktur einer Gesellschaft, noch auf die in ihr vorherrschenden Ideengebäuden teilten. Dies wurde offenbar auch nicht ausgeglichen von Burnhams durchaus klassischen ideengeschichtlichen Verfahrensweisen in „Die Machiavellisten". Auch für eine sich als „Demokratiewissenschaft" etablierende Politikwissenschaft waren Burnhams Axiome („Das Grundthema der politischen Wissenschaften ist der Kampf um die soziale Macht") vollkommen inakzeptabel. Und schließlich war Burnhams Sichtweise bei aller Skepsis gegenüber der politischen und sozialen Demokratie und trotz der weiterhin von ihm verfochtenen These von der Revolution der Manager (die ja immerhin theoretisch einen wie weit auch immer zurückliegenden, positiv zu bewertenden vorrevolutionären Zustand beinhaltet) in keiner Weise von einer (konservativen) Verlustperspektive gekennzeichnet. Aus all diesen Gründen fügten sich Burnhams Ideen kaum in die deutschen intellektuellen Rahmenbedingungen. Und da sein Elite-Konzept im Wesentlichen auf den Arbeiten Moscas, das heißt in erster Linie auf der englischen Übersetzung der „Elementi di Scienza Politica" beruhte, gilt dieser Befund auch für die Rezeption der Werke des Italieners. Überhaupt kann gar nicht nachdrücklich genug auf den wichtigen Unterschied zwischen Moscas (und Burnhams) Ansatz und dem Stand der westdeutschen Debatten um 1950 hingewiesen werden: Während beide Autoren die ewige Existenz von eigensüchtigen und vor Gewalt und Betrug nicht zurückschreckenden Machteliten pos-

>62) Burnham: Machiavellisten, S.225-70, bes. S.260/61.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

241

tulierten, dominierte in der frühen Bundesrepublik die Klage über das Fehlen einer echten, das heißt wert- und charaktergebundenen Elite. In gewisser Hinsicht ging Burnham sogar über Mosca hinaus und radikalisierte seinen Ansatz. Für die Begründung der Herrschaft gegenüber den Beherrschten hatte Mosca den Begriff der „politischen Formel" gefunden. Für Mosca stellte die „politische Formel" die moralische Grundlage der Herrschaft, keineswegs eine manipulativ zu steuernde, die Masse blendende Ideologie dar, die eine Herrschende Klasse nach Belieben ändern konnte, im Gegenteil: „Die politischen Formeln (sind) nicht einfach betrügerische Wundermittel, erfunden, um die Massen gefügig zu machen. Eine solche Auffassung wäre ein großer Irrtum. Sie erfüllen ein echtes Bedürfnis der sozialen Natur des Menschen. Das allgemeine Bedürfnis, nicht durch einfache materielle und intellektuelle Überlegenheit, sondern auf Grundlage eines moralischen Prinzips zu regieren und Gehorsam zu finden, hat zweifellos eine reale praktische Bedeutung." 163 ) Für Mosca mussten also auch die Angehörigen der Elite an die politische Formel glauben oder sich mit ihr in einem wertrationalen Einverständnis befinden. Demgegenüber zeichnete Burnham das Elite-Handeln bei weitem „machiavellistischer". Nicht umsonst blieb er nimmer müde zu versichern, dass jede Elite nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Betrug herrsche. Eines seiner wichtigsten Anliegen lag ja darin, die Möglichkeiten einer vorurteilslosen Wissenschaft von der Politik auszuloten. Burnham begnügte sich jedoch nicht mit den Voraussetzungen der reinen Erkenntnis - also der Perspektive des Sozialforschers - , sondern er fragte auch, ob es möglich wäre, die gewonnenen Erkenntnisse für die politisch Handelnden nutzbar zu machen. Eines stand dabei für ihn jedoch außer Zweifel: „Die Massen" waren in jeder Hinsicht außer Stande, „in politischen Angelegenheiten wissenschaftlich vor(zu)gehen". Dieses Axiom glaubte Burnham offenbar gar nicht beweisen zu müssen, so klar lag für ihn dieses Faktum zu Tage. Und so begnügte er sich mit einer Reihe von Setzungen und Annahmen, denen außerhalb eines radikalen EliteDenkens keinerlei Beweiswert zugesprochen werden könnte: „Das Unvermögen der Masse, in der Politik wissenschaftlich vorzugehen, hängt vor allem von folgenden Faktoren ab: die riesige Größe der Massen-Gruppe, die sie für die Anwendung der wissenschaftlichen Methode zu schwerfällig macht; die Unwissenheit der Masse in bezug auf Verwaltungs- und Regierungsmethoden; die für die Masse bestehende Notwendigkeit, den größten Teil ihrer Energien für den Kampf ums tägliche Brot aufzubrauchen und dadurch wenig Kraft und Zeit zur Aneignung von Wissen über Politik oder zur Durchführung praktischer politischer Aufgaben übrig zu haben; das den meisten Menschen fehlende notwendige Maß an jenen psychologischen Eigenschaften - Ehrgeiz, Unbarmherzigkeit usw. - die als Voraussetzungen für ein aktives politisches Leben gelten müssen." 164 )

163

) Mosca\ Die herrschende Klasse, S.69. ) Burnham: Machiavellisten, S. 264.

164

242

3. Legitimation

Unbarmherzigkeit als notwendige Eigenschaft für politisch Aktive war in den westdeutschen Vorstellungen von einer politischen Elite nun gar nicht unterzubringen, zumal hier die Gewalt und rücksichtslosen Kampf verherrlichende Sprache des Dritten Reiches noch sehr präsent war. 165 ) Die Elite hielt Burnham dagegen zumindest in Teilen für fähig, „wissenschaftlich zu handeln", das heißt die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse über Politik und Gesellschaft sinnvoll anzuwenden. Allerdings erkannte Burnham hier ein „Dilemma", und dieses hing zusammen mit den von Mosca und Sorel übernommenen Konzepten der „politischen Formel" und des politischen „Mythos". „Das politische Leben der Masse und der Zusammenhang der Gesellschaft erfordern die Annahme eines Mythos. Die wissenschaftliche Einstellung der Gesellschaft gegenüber erlaubt den Glauben an die Wahrheit der Mythen nicht. Doch müssen sich die Führer öffentlich zum Glauben an diese Mythen bekennen, ja, sie unterstützen, sonst bricht das Gefüge der Gesellschaft zusammen, und die Führer werden gestürzt. Kurz, wenn die Führer wirklich wissenschaftlich eingestellt sind, müssen sie lügen und gleichzeitig privat objektiv bei der Wahrheit bleiben." 166 ) Eine derartige Aufforderung zum politischen Betrug, zur Manipulation der Wahrheit im Interesse der politischen Stabilität - einer Stabilität, die ja nichts verbürgte als die Kontinuität der Herrschaft der gerade regierenden Elite - konnte nach 1945 in Westdeutschland nur verstanden werden als eine Wiederbelebung der gerade überwundenen totalitären Herrschaft (die ja im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands noch keineswegs beendet war). Eine solche Verachtung für die universalen Prinzipien intellektueller Arbeit (unteilbare Wahrheit, Öffentlichkeit als Ort der Auseinandersetzung über die Fragen der Gegenwart, Wettstreit der Argumente) konnte in einer Situation, in welcher sich das Intellektuelle Feld eben erst restituiert hatte, nur auf Ablehnung oder Nichtbeachtung stoßen. Das bedeutet nicht, dass sich die Intellektuellen Westdeutschlands allesamt binnen kürzester Zeit in vorbildliche Demokraten verwandelt hätten. Autoritäre Vorstellungen waren keineswegs verschwunden. Und es gab offenbar auch deutsche Intellektuelle, deren Ansichten sich in dieser Hinsicht mit denen Burnhams deckten. Noch einmal Arnold Gehlen: Er skizzierte gegenüber Hans Paeschke 1957 seine Vorstellungen über die Handhabung von Herrschaft und über das Problem von deren moralischer Legitimation, in der die Nähe zu Burnhams Ansichten unmittelbar deutlich wird. Auch Gehlen teilte ja die Auffassung von der politischen Unfähigkeit der Massen: „Die Macht zu handhaben, musste man stets ein entschlossenes Gewissen haben, besonders in einer irgendwie noch christlich imprägnierten Seele. Das war nicht leicht, die letzten Axiome gehen da nämlich nicht zusammen, und der Riss in der Welt ist unheilbar aber ein paar Jahrhunderte lang konnte man sich in winzigen Gruppen höchster A b kömmlichkeit' daran gewöhnen, diesen Riss in sein Herz hineinzunehmen. Das war

165

) Vgl. Klemperer. LTI, S. 191-93. ) Burnham: Machiavellisten, S. 268/69.

166

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

243

schließlich die Pointe der Feudalherrschaft, moralisch gesehen. Und nun, in der Demokratie, möchte man wie das verwöhnte Kind immer gleich alles. Man möchte Gleichheit und Wohlfahrtsstaat und Kultur, trotzdem die notorisch seit 5000 Jahren immer nur von oben nach unten entstand. Folge: man bekommt sie nicht, sondern nur den be... Doppelgänger. Es ist eben nicht alles drin, wie die Kinder denken. Und jeder möchte an der Macht teilhaben und ein kleiner Machiavellist sein und mitreden, und nach den ersten drei Schritten wird ihm himmelangst, denn der Geltungsanspruch des Durchschnitt sich und die hohe Kunst, die Macht zu handhaben - das geht wieder nicht zusammen. Also fängt man wieder an zu lügen und die anderen sind schuld, man verteilt schon die Positionen der Schuldzuschiebung und des Moralisierens, wie ein Amerikaner, und die Politik bekommt die gemeine Note, dass man dem Anderen heimlich die Leichen in die Schuhe schiebt.... Denn in Zukunft könnte es die Geister oberen Ranges charakterisieren dass sie nicht (wie früher) die Macht, sondern die allgemeine Grundverlogenheit diskret und mit leichter Hand manipulieren müssen." 167 )

Öffentlich war es jedoch unmöglich, derart schonungslos und drastisch die Notwendigkeit einer moralfreien Politik und einen allein den Bedürfnissen der Herrschenden angepassten Umgang mit der Wahrheit zu postulieren und ganz allgemein die Prinzipien der Demokratie zu schmähen - und in Gehlens eigenen veröffentlichten Texten finden sich derartige Passagen nicht. Während Burnham also einerseits Moscas (und anderer „Machiavellisten") Elite-Konzept(e) in einer Weise „machiavellistisch" derart radikalisierte, dass es bzw. sie mit den intellektuellen Positionen der westdeutschen Debatte nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war(en), entschärfte er andererseits jene Konzepte, ohne damit allerdings ein positives Echo hervorrufen zu können. Der wichtigste Grund hierfür dürfte in der Lokalisierung von FreiheitsPotenzialen bestanden haben, die Burnham in dem von ihm erstellten Tableau unbarmherziger Machteliten und -kämpfe durchaus anerkannte: „Politische Freiheit ist die Resultante ungelöster Konflikte innerhalb der verschiedenen Schichte der Elite. Das Vorhandensein dieser Konflikte wiederum ist mit dem Zusammenspiel verschiedener sozialer Kräfte verbunden, die wenigstens einen nicht unbeträchtlichen Grad von Unabhängigkeit aufrechterhalten." 168 ) Freiheit als Resultat von Konflikten zwischen unterschiedlichen Elite-Fraktionen - das widersprach der westdeutschen Diskussion auf doppelte Weise. Denn erstens sollte die Wert- und Charakter-Elite ja gerade nicht in unterschiedliche Fraktionen zerfallen, sondern wurde als homogene Elite gedacht. Und zweitens stand eine solche Vorstellung von Freiheit in Widerspruch zu den sozialharmonischen Gemeinplätzen, die auf die „Überwindung bestehender Spannungen und Gegensätze" ausgerichtet waren und in ihrer negativen Bewertung von Konflikten und deren destruktivem Potenzial auf eine lange politisch-ideelle Tradition zurückblicken konnten. In dieser Tradition ließ sich Freiheit als innere Freiheit und als Freiheit in Bindung an eine höhere Ordnung verstehen (eine Vorstellung, die namentlich an den Evangelischen Akademien propagiert wurde), nicht aber als Resultat von Uneinigkeit der „Füh-

167

) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (10.12.57). ) Burnham: Machiavellisten, S. 255.

168

244

3. Legitimation

rungsgruppen", die um 1950 immer noch eher als Bedrohung denn als Chance betrachtet wurden. Ein zweiter Punkt, an dem Burnham die Konzepte von Mosca und Pareto (und ebenso die von ihm favorisierte machiavellistische Sichtweise) umdeutete, ist in der Gemeinwohlvorstellung zu finden, die er auf der letzten Seite seines Buches entwickelte. Ein Autor, der eine anwendungsbezogene Politikwissenschaft etablieren wollte, musste auch die Frage beantworten, worin denn das Ziel einer wissenschaftlich beratenen Politik liegen sollte. Die „Wertfreiheit" des Machiavellismus musste er hier also aufgeben, und das tat er auch. Burnham unterstellte nämlich eine zumindest partielle Interessenidentität von Herrschenden und Beherrschten, die über das Ausschöpfen der Freiheitspotenziale hinausging. Die Freiheit zum politischen Handeln blieb in seinem Modell nämlich den Angehörigen der Elite vorbehalten, weil die Massen zu einem verständigen, „wissenschaftlichen" Handeln nicht fähig seien. Das „Recht auf Opposition", das Burnham ausdrücklich erwähnte, 169 ) konnte sich nur auf die jeweils nicht-regierende Elite erstrecken. Doch auch die Beherrschten würden profitieren, wenn die regierende Elite sich in ihrem Handeln durch die machiavellistische Wissenschaft von Politik und Gesellschaft leiten ließe. Und überhaupt sei „das Schicksal der ganzen Gesellschaft... meistens ... mit dem Schicksal ihrer herrschenden Klasse eng verknüpft." 170 ) Doch Burnham ging sogar noch einen Schritt weiter: Seiner Meinung nach zeigten „die Lehren der Geschichte", dass es für eine Elite vorteilhaft wäre, sich in ihrer Rekrutierung nicht „nach unten" abzuschließen, sondern „talentierten und ehrgeizigen Emporkömmlingen aus den unteren Volksschichten Einlass in ihre Reihen zu gewähren". 171 ) Er behauptete sogar, dass „die Machiavellisten [also Michels, Mosca, Pareto, M.R.] einstimmig der Ansicht (seien), dass die schnelle Klassenzirkulation zu Kraft und Glück der Gesellschaft beiträgt". 172 ) Das war in der Tat eine Fehlinterpretation, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hatten Mosca und Pareto das Problem stets ausschließlich hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Herrschenden Klasse bzw. auf die Elite (und nicht auf die gesamte Gesellschaft) diskutiert. Moscas argumentativer Dreh- und Angelpunkt in seiner Darstellung der demokratischen und der aristokratischen „Tendenz" bildete die Fähigkeit der Herrschenden Klasse, die Massen zu führen. 173 ) Und auch Pareto interessierte an der „Zirkulation der Elite" zunächst die Verteilung „überlegener" und „inferiorer Elemente" in der „herrschenden Klasse" (sie!) bzw. in den „Unterklassen" und auf das „gesellschaftliche Gleichgewicht". Er schloss von einer Ver-

169

) ) 171 ) m ) 173 ) 170

Burnham: Die Machiavellisten, S.245. Burnham: Die Machiavellisten, S.266. Burnham: Die Machiavellisten, S.267. Ebd., S. 244. Mosca: Die herrschende Klasse, S. 336-46, bes. S.341.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

245

langsamung der Elitenzirkulation auf das Entstehen von Revolutionen. 174 ) Und zweitens bewerteten „die Machiavellisten" ein Maximum an sozialer Offenheit der Elite keineswegs uneingeschränkt positiv. Im Gegenteil, wie oben dargelegt wurde, hatte Mosca anhaltende Perioden stabiler Ungleichheit geradezu als Voraussetzung für die Ausprägung und Weitergabe von charakterlichen und moralischen Herrschaftsqualitäten angesehen. Und auch Pareto traf keine Aussage darüber, ob eine hohe Geschwindigkeit der Elitenzirkulation wünschenswert sei. Burnham ernannte „die Machiavellisten" an dieser Stelle zu Gewährsmännern einer Position, die nicht die ihre war. Die Vorstellung, ihre Theorien am Wohl der Massen zu orientieren, wäre diesen Autoren sicherlich fremd vorgekommen. In diesem Punkt entschärfte Burnham die Entwürfe von Mosca und Pareto, indem er deren inhärente Verachtung für die „Massen" (also die Bevölkerungsmehrheit) und ihre Ablehnung aller demokratischen Politikformen und -zielen an dieser Stelle einfach leugnete. Doch offenbar machte auch diese Entschärfung der antidemokratischen Ideen den „Machiavellismus" nicht attraktiver für die Akteure im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik. Dabei war die „Massenphobie" hier zumindest teilweise nicht schwächer ausgeprägt als etwa bei Gaetano Mosca (wie am Beispiel Wilhelm Röpkes gezeigt, und wie auch der enorme Verbreitungsgrad des Buches und Schlagworts vom „Aufstand der Massen" bezeugt). Die Entschärfung der Massen-Doxa war daher nicht geeignet, die Durchsetzung von Burnhams Elite-Modell zu befördern. 175 ) Dennoch dürften die Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" Elite-Konzepte insgesamt vor allem von der ihr eigenen „Radikalität" gesetzt worden sein. Worin Mosca, Pareto und auch Burnham übereinstimmten, das war der Versuch, aus „vorurteilsfreien" Beschreibungen und Untersuchungen der Gesellschaft realistische Erkenntnisse zu entwickeln, die sich durch eine strikte Wertfreiheit, durch die Abwesenheit moralischer Orientierungen und Implikationen auszeichneten. Aus dieser Wertfreiheit der Analyse und Kategorienbildung ergaben sich eine Reihe sprachlicher und konzeptioneller Konsequenzen, die mit den intellektuellen Rahmenbedingungen wie mit den politisch-ideellen Bedürfnissen und Interessen nur schwer oder gar nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. Dies betrifft zuallererst das unverblümte Aufdecken der Herrschaftsausübung durch die Elite, wie es im Begriff der „Herrschenden Klasse" am sinnfälligsten wurde. Eine Eliteherrschaft durch Gewalt und Betrug verstieß offenkundig gegen den antitotalitären Grundkonsens der jungen Bundesrepublik. Schließlich sollte die (zukünftige) Elite ja nicht durch ihre Machtpositionen, sondern durch Wertbindungen und Charakterqualitäten ausgewählt sein.

174

) Eisermann·. Paretos System, §§ 2053-59. ) Tatsächlich scheint erst 1962 eine tiefergehende deutschsprachige Auseinandersetzung mit Burnhams Elite-Konzept und seiner Klassiker-Analyse vorgelegen zu haben nämlich die Übersetzung von James Meiseis „Myth of the Ruling Class". Meisel: Mythus, S. 266-72. 175

246

3. Legitimation

3.1.5 Der Archimedische Punkt: Elite, Herrschende Klasse und die politische Willensbildung in der Demokratie I. In den frühen 1950er Jahren hatte offensichtlich noch kein weitergespannter Ordnungsentwurf eine dominante Stellung erlangt. Ideen, die hauptsächlich Erfahrungen der Zwischenkriegszeit oder gar der Jahrhundertwende verarbeiteten, stellten jedoch nur in geringem Maße taugliche und attraktive politisch-ideelle Angebote dar. Herauskristallisiert hatte sich jedoch auch, dass der Terminus „Elite" als begrifflicher Rahmen eine der vielversprechendsten Deutungen und Assoziationszusammenhänge darstellte. Was jetzt noch fehlte, waren inhaltliche Füllungen des Begriffs, die auf jene besonderen Orientierungs- und Legitimationsbedürfnisse zugeschnitten waren. Diese Anliegen mussten vor allem die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem politischen System „Demokratie" und den dieses System tragenden sozialen Gruppen und Normen positiv beantworten. Angesichts der dazu notwendigen Kompetenzen war es nur wahrscheinlich, dass es sich bei den Autoren, die als erste einigermaßen geschlossene Konzepte einer politischen Elite erarbeiteten, um Politikwissenschaftler (im weiteren Sinne) handelte. So waren es Otto Stammer und Michael Freund, die unabhängig voneinander in den frühen 1950er Jahren ihre - für die westdeutsche Diskussion bahnbrechenden und richtungsweisenden - Aufsätze über „Das Elitenproblem in der Demokratie" bzw. „Das Elitenproblem in der modernen Politik" veröffentlichten. 176 ) Ohne die Ähnlichkeiten zwischen dem Sozialdemokraten Stammer und dem ehemaligen Nationalsozialisten Freund überstrapazieren zu wollen, finden sich in den Laufbahnen Stammers und Freunds eine Reihe von Parallelen, die sie für eine Auseinandersetzung mit dem Elite-Begriff und seine Weiterentwicklung geradezu prädestinierten. Zur Jahrhundertwende geboren (1900 bzw. 1902), erreichten beide erst nach 1945 sichere und einflussreiche akademische und intellektuelle Positionen. Stammer erhielt 1951 eine außerordentliche Professur für Soziologie und Politische Wissenschaft in Berlin (1955 das Ordinariat) und leitete ab 1954 das Institut für politische Wissenschaft mit einer großen innerdisziplinären Ausstrahlung. In diesen Jahren entwickelte er das Konzept einer „Politischen Soziologie" an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Soziologie, das er in zahlreichen konzeptionellen Veröffentlichungen bekannt zu machen suchte. 177 ) Freund, der sich in der Zwischenkriegszeit vor allem mit Fragen der politischen Ideengeschichte beschäftigt hatte, wurde 1951 Professor für Neuere Geschichte und Wissenschaft der 176 ) Stammer: Elitenproblem, hier und im Folgenden zitiert nach Röhrich (Hg.): Elitenherrschaft; Freund·. Elitenproblem, hier und im Folgenden zitiert nach Röhrich (Hg.): Elitenherrschaft (die Heft- und Jahres-Angabe bei Röhrich [1953] ist falsch). 177 ) Stammer: Politische Soziologie, in: Gehlen und Schelsky (Hg.): Soziologie, S. 159-03; ders.: Politische Soziologie, in: Bernsdorf (Hg.): Wörterbuch, S. 815-22; ders.: Elite und Elitenbildung, ebd., S. 217-20; ders.: Gesellschaft und Politik, in: Ziegenfuss (Hg.): Handbuch, S. 530-611; Stammer und Weingart: Politische Soziologie.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

247

Politik (verband also, wie Stammer, die Politikwissenschaft mit einer weiteren akademischen Disziplin), konnte sich als Kandidat Gerhard Ritters für die Leitung des zu gründenden Instituts für Zeitgeschichte allerdings nicht durchsetzen. 178 ) Daneben war er Mitherausgeber der Kulturzeitschrift Die Gegenwart, die sich ihrerseits am Kreuzungspunkt von Politik, Wirtschaft und Kultur positionierte. Während der Weimarer Republik betätigten sich beide als politische Intellektuelle - Stammer auf Seiten der SPD als politischer Journalist und im Arbeiterbildungswesen, Freund in der Frankfurter Zeitung und als Verfasser einer großen Monographie über Georges Sorel mit dem Untertitel: „Der revolutionäre Konservatismus". Sorel hatte sich zwar eher als Theoretiker des Phänomens der „Masse" als der „Elite" einen Namen gemacht (deshalb passte Freunds Studie auch hervorragend in das intellektuelle Klima der frühen 1930er Jahre), doch in der Logik der Massen-Doxa wie in der politischen Logik der intellektuellen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit (mit ihrer Affinität zwischen den Arbeiten von Sorel, Michels, Mosca und Pareto) lag von hier aus eine Beschäftigung mit dem Elite-Begriff mehr als nahe. Stammer wiederum suchte - unter dem Einfluss Franz Neumanns und in Auseinandersetzung mit Fragestellungen Karl Mannheims, Max und Alfred Webers und Hermann Hellers (seinem akademischen Lehrer in der Weimarer Republik) - eine „soziologische Theorie der Demokratie" zu entwickeln, 179 ) und entwarf von hier aus sein höchst originelles Elite-Konzept. Während Stammer und Freund allerdings bei aller Parallelität ihrer Laufbahnen und der Fokussierung ihrer Arbeit auf politische Phänomene zwei konkurrierende Elite-Modelle vorlegten, bestanden zwischen dem Ansatz von Freund und einem anderen Autoren viel größere Übereinstimmungen. II. Der erste umfangreichere Beitrag, der nach 1945 in Westdeutschland zum Thema „Elite und Demokratie" verfasst wurde, stammt von dem bereits erwähnten Marburger Soziologen Max Graf Solms. Solms hatte im Rahmen einer Reihe von Vorträgen zur „staatsbürgerlichen Ausbildung" an der Universität Marburg im Wintersemester 1947/48 ein Referat über „echte Demokratie und Elitegedanken" gehalten, der bereits 1948 zusammen mit einigen anderen derartigen Vorträgen (darunter auch einem aus der Feder Leopold von Wieses) gedruckt erschien. 180 ) Die Autoren verband das Bemühen, ihre spezifische soziologische Fachkompetenz in eine „gebildete" Öffentlichkeit zu tragen und dort „brennende Gegenwartsfragen" zu diskutieren. In diesem Sinne stellte Solms' hier bezeichneter Vortrag den Versuch dar, erstens verschüttete demokratische Traditionen in der deutschen Geschichte aufzuspüren und diese für die Gegenwart fruchtbar zu machen, zweitens eine praxistaugliche Klärung des Demokratie-Begriffs voranzutreiben und drittens die 178

) Schulze: Geschichtswissenschaft, S. 237/38. ) Stammer. Politische Soziologie, in: Gehlen und Schelsky (Hg.): Soziologie, S.282, S. 277. 180 ) Solms (Hg.): Werkstatt (Einleitung), S.5/6, auch für das Folgende. 179

248

3. Legitimation

Bedeutung wertgebundener Minderheiten für die sich am Zeithorizont abzeichnende westdeutsche Demokratie herauszuarbeiten. Mit diesem Arbeitsprogramm ging Solms durchaus „brennenden Gegenwartsfragen" nach, weshalb der verhältnismäßig locker geknüpfte und leicht verständliche Text - um hier das Problem der Rezeption vorwegzunehmen - offenbar weitaus breiter rezipiert wurde als sein oben diskutiertes, einige Jahre später erschienenes Opus magnum „Analytische Gesellungslehre", und dies, obwohl der Sammelband keineswegs etwa in einer eingeführten Buchreihe erschienen wäre. Jedenfalls hinterließ der Essay innerhalb der Diskussion um den Elite-Begriff weitaus deutlichere Spuren als die um Systematisierung bemühte Monographie. Die Übereinstimmungen in den Vorstellungen von Solms und Freund beruhten in erster Linie darauf, dass beide in ihren Texten Wert- und CharakterEliten konstruierten. Das Kernproblem eines jeden Elite-Konzepts, nämlich die Frage, was eine Elite denn konstituiert, hatten beide Autoren sehr ähnlich gelöst, deshalb gelangten sie in wesentlichen Punkten zu durchaus vergleichbaren Folge-Aussagen über den hier in Rede stehenden Gegenstand „Elite und Demokratie". Es ist bemerkenswert, dass sowohl Solms als auch Freund die Unterscheidung zwischen der eigentlichen „Elite" und der zahlenmäßig viel größeren und anders definierten „Oberschicht", „Aristokratie" oder „Herrschenden Klasse" als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wählten. Solms argumentierte dabei namentlich gegen Vilfredo Paretos Elite-Begriff, „der ... unter Elite privilegierte bzw. Privilegien verlangende Oberschichten versteht. Bei Pareto ist Elite gleich Oberschicht und kann sowohl eine kleine als auch eine große Zahl von Menschen umfassen." 181 ) Das war nun ein Missverständnis, das durchaus nicht untypisch selbst für die professionellen westdeutschen Soziologen jener Jahre ist. Diese in der Tat gravierenden Fehler gingen wahrscheinlich zu gleichen Teilen auf die Vernachlässigung der Kategoriebildung für die empirische Forschung seitens der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Soziologie zurück wie auf den Umstand, dass die Schriften Paretos (und Moscas) zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Deutsch vorlagen, was ihre Rezeption naturgemäß erschwerte. Da auf die Bedeutung der Schriften Paretos für die westdeutsche Elite-Diskussion noch gesondert eingegangen wird, sei an dieser Stelle nur erwähnt, dass Pareto im „Allgemeinen System der Soziologie" zwar auch den Begriff „Oberschicht" verwendete, seinen Elite-Begriff jedoch nicht an den Besitz oder das Verlangen nach Privilegien gekoppelt hatte, sondern an den „Intensitätsgrad seines [des betreffenden Individuums, M.R.] Charakters". 182 ) Hinsichtlich der sozialen und politischen Machtausübung der ,„ausgewählte(n) Klasse' oder Elite" ging Pareto davon aus, dass diese in die „herrschende" und 181

) Solms: Elitegedanke, S.68. ) Eisermann (Hg.): Paretos System, § 2027.

182

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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die „nicht herrschende Elite" zerfiele.183) Privilegien im politischen Sinne sind vielmehr konstitutiv für das Elite-Konzept Moscas, den Solms in seinem Text gar nicht erwähnte. Wie man daran sieht, hatte die systematische Rezeption der „klassischen" Elite-Theorien 1948 noch nicht begonnen. Genau wie Solms bestimmte auch Michael Freund seine Definition des Gegenstands in Beziehung zu Pareto. Allerdings gelangte er - obwohl er nicht minder deutlich als Solms das Modell einer Wert- und Charakter-Elite entwarf - nicht zu einer derart strikten Ablehnung von Paretos Thesen. Denn wie Pareto legte er den Fokus auf das Moment der Auslese bestimmter Eigenschaften, doch er benutzte sie als Unterscheidungskriterium zwischen einer Elite und einer Herrschenden Klasse. Pareto hatte allerdings beide Begriffe noch synonym verwendet; bei ihm definierten die fraglichen Eigenschaften ja gerade die „Herrschende Klasse" (oder „Elite"). Freund dagegen gelang mit der Verwendung des Auslese-Topos die scheinbar prägnanteste Begriffsbestimmung und konzeptionelle Unterscheidung zwischen einer auf Eigenschaften beruhenden „Elite" und einer „Herrschenden Klasse", die in den 1950er Jahren im deutschen Sprachraum zu finden war: „Mit dem Begriff Elite verbindet sich zweifelsohne die Vorstellung der Auslese. Von Elite wird man wohl in der Tat erst dann sprechen können, wenn sich irgendeine spontane Auslese vollzieht, wenn in der Gesellschaft genügend Mobilität vorhanden ist, so dass Menschen zu steigen und zu fallen vermögen je nachdem, ob sie die in dem jeweiligen Regime bevorrechteten Eigenschaften besitzen. Das unterscheidet Elite von der herrschenden Klasse oder Aristokratie schlechthin. Die Aristokratie oder die zum System erhobene herrschende Klasse kann die Herausbildung einer Elite durchaus behindern. Der Anspruch einer Aristokratie, als Elite angesehen zu werden, ruht auf der Vererbung von Eigenschaften - die außerordentlich zweifelhaft ist - und darauf, dass die herrschende Aristokratie durch Erziehung und Lebensart bestimmte Eigenschaften ihrer Angehörigen züchtet, die Regel, aber nicht ohne Ausnahme, [sie!] Eine herrschende Klasse kann sich theoretisch - weder durch gute noch schlechte Eigenschaften von den Beherrschten abheben und sich von diesen allein dadurch unterscheiden, dass sie Gewehre hat und diese nicht. Dann wäre sie keine Elite. Elite ist also eine durch besondere Eigenschaften ausgezeichnete Gruppe, die auch die so beschaffenen Menschen mit einer Art magnetischen Kraft anzieht. Es sind insbesondere die Menschen, die zur aktiven Führung der Angelegenheiten der Gemeinschaft berufen sind. Nur ist es für den Begriff Elite gleichgültig, ob wir die zur Elite berufenen Eigenschaften als wertvoll ansehen oder nicht." 184 )

In dieser Begriffsbestimmung hatte Freund zwei zentrale Problemzusammenhänge miteinander verbunden: dasjenige der Auslese der Eliteindividuen anhand bestimmter Eigenschaften und dasjenige der sozialen Wirksamkeit der Elite durch „Führung" statt durch Gewalt. Zuallererst ist jedoch festzuhalten, dass Freund hier dem Konzept der „Machtelite" (avant la lettre) eine klare Absage erteilte. Die „Elite" gegen die „Herrschende Klasse" auszuspielen bedeutete in Wirklichkeit eine Abwendung von den „klassischen" Elite-Konzepten Moscas und Paretos, also von 183

) Ebd., § 2034. ) Freund: Eliteproblem, S. 227/28.

184

250

3. Legitimation

der „machiavellistischen" Tradition im Sinne Burnhams. Das hinderte Freund allerdings keineswegs daran, die beiden italienischen Autoren zustimmend zu zitieren und zu Kronzeugen seines Konzepts zu erklären. James Burnham, also ihr verkürzender und zuspitzender Epigone, der solcherlei Interpretationsspielraum nicht mehr zuließ, fand allerdings keine Beachtung. Der Begriff der „Führung", seine Inhalte und Verwendungsweisen werden uns noch ausführlich beschäftigen. In der Regel blieb die von ihm bezeichnete Form sozialen Handelns ausgesprochen unscharf. Freund selbst bildete keine Ausnahme, als er vom „Willen", der „Kraft" und dem „Mut" zum „gestaltenden und bestimmenden Handeln, zur Verantwortung und [dem] Willen zur Freiheit" sprach und die Elite als „die aktive und schöpferische Gruppe innerhalb einer Gesellschaft" bezeichnete. 185 ) Das blieb - für eine Erörterung des „Elitenproblems in der modernen Politik" durch einen ausgewiesenen Fachwissenschaftler - doch recht allgemein. Aber die Behauptung von der verantwortungsbewussten Führung der Gesellschaft durch eine Elite charakterstarker Männer (denn es handelte sich ja offensichtlich um männliche Tugenden) diente auch nur zur Gegenüberstellung des Handelns der Elite und dem einer Herrschenden Klasse. Die eine verschaffte sich ihre Wirksamkeit durch persönliche Eigenschaften, die andere durch den kollektiven Besitz der Gewaltmittel. Damit befand sich Freund in voller Übereinstimmung mit dem Konzept von Solms. Beide vertraten - in dieser Hinsicht ganz „paretianisch" oder „machiavellistisch" im Sinne Burnhams - die Ansicht, dass eine A-priori-Bestimmung derjenigen Eigenschaften und Werte, die eine Elite konstituieren konnten, unmöglich sei, sondern dass diese vielmehr von ihrem sozialen Kontext abhingen. „Alle denkbaren Alltagsideale können sich zu Eliteidealen steigern, wenn sie nur von einem besonders qualifizierten Kleinkreis konsequent gepflegt werden", erklärte Solms. 186 ) Er interessierte sich insbesondere dafür, „inwieweit Askese elitefördernd" sei, zeichnete diese jedoch keineswegs uneingeschränkt positiv, da sie auch die Form der „pathologischen Exaltation" annehmen könne. Dennoch zeigt sich gerade im Aufgreifen des Askese-Topos die tiefe Verbundenheit von Solms mit dem mainstream der frühen westdeutschen Elite-Diskussion. Ganz so weit wie Paretos Räuberelite wollte er jedoch nicht gehen und beharrte darauf, dass nur moralisch vorbildliche Persönlichkeiten Zugang zu höheren politischen Ämtern erhalten sollten. Michael Freund widmete diesem Problem deutlich mehr Aufmerksamkeit als der soeben aufgeworfenen Frage, wie sich die „Führung" durch die Elite denn nun vollziehe. Analog zu Solms vertrat er die Auffassung, dass „es für den Begriff der Elite gleichgültig (ist), ob wir die zur Elite berufenen Eigenschaften als wertvoll ansehen oder nicht." 187 ) 185

) Freund: Eliteproblem, S.232. ) Solms: Elitegedanke, S.70; ähnlich ders.: Gesellungslehre, S.287. 187 ) Freund: Elitenproblem, S. 228. 186

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

251

Die absehbaren Einwände der Zeitgenossen - die ja praktisch alle vom Prinzip einer Wert- und Charakter-Elite ausgingen, dabei jedoch ausschließlich oder überwiegend an vorbildliche, moralisch einwandfreie Werte wie eine christliche Orientierung dachten - nahm er gleich vorweg: „Man hat zuweilen die Frage aufgeworfen, ob der Elite-Begriff als wertfreier Begriff überhaupt möglich und denkbar wäre. Den Soziologen und Historikern wird dabei meist die Gretchenfrage vorgelegt, ob eine Räuberbande, die sich in den Besitz der Macht vorgesetzt habe - an historischen Beispielen dafür fehlt es ja nicht - als Elite anzusprechen sei." 188 ) Diese „Gretchenfrage" beantwortete Freund viel schärfer als Solms, nämlich unter direktem Verweis auf Pareto (er zitierte u. a. dessen Aussage, dass „es eine Aristokratie der heiligen wie eine Aristokratie der Briganten geben, eine Aristokratie von Gelehrten ebenso wie von Dieben" geben könne). Freund erklärte unmissverständlich: „Die vielfältigsten Eigenschaften können - je nach der Form und Gestalt der politischen Ordnung - das Ausleseprinzip für die Eliten und Führungsschichten darstellen; die Weisheit oder im Gegenteil die Fähigkeit zu Leidenschaft, das Augenmaß oder die Maßlosigkeit, Geist oder Ungeist, Glaube oder Unlaube, ökonomische Talente oder im Gegenteil die Fähigkeit zum wirtschaftlichen Verzicht, Mut und Kraft oder Schläue.... Man kann und muss zwischen guten und schlechten Eliten unterscheiden. Aber man kann nicht sagen, die schlechten Eliten wären keine." 189 ) An dieser Stelle verwirren sich ein wenig die Dinge. Die oben dargelegte Gegenüberstellung der anhand ihrer Machtmittel definierten Aristokratie oder Herrschenden Klasse einerseits und durch persönliche Eigenschaften konstituierten Elite andererseits ließ auf die Vorstellung schließen, Eliteindividuen fänden sich in allen Gruppen der Gesellschaft, bildeten quasi ein ethisches Korrektiv gegenüber den (reinen Herrschaftserwägungen verpflichteten) Machthabern. Im letzten Zitat legt Freund jedoch einen Zusammenhang zwischen der Elite und der Kategorie „Macht" nahe. Dieser Zusammenhang bestand in der Kategorie der Auslese nach den von „jeweiligen Regime bevorrechteten Eigenschaften". Denn tatsächlich konzipierte Freund seine Wert- und Charakter-Elite nicht „außerhalb" oder „neben" der Herrschenden Klasse, sondern innerhalb derselben. Die Elite stellte danach den aktiven, kreativen und impulsgebenden Teil der Herrschenden Klasse oder Aristokratie selbst dar: „Sie ist keineswegs identisch mit der herrschenden Klasse schlechthin", schrieb Freund einige Seiten später. 190 ) „Es bildet sich ... selten eine Elite, die ganz von Reichtum und Macht ausgeschlossen ist. Aber die regierende Klasse ist nicht selbst schon die Elite, sondern die Elite ist eine aktive und bewegende Minderheit innerhalb der Minderheit selbst... Wenn eine regierende Klasse keine Elite innerhalb ihrer selbst besitzt, die sie in Spannung und Be18S

) Freund: Elitenproblem, S.227. ) Freund: Elitenproblem, S.227, S.228. 190 ) Ebd., S. 232. 189

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3. Legitimation

wegung hält, dann hat in aller Regeln die Stunde für die regierende Klasse geschlagen. Selten fallen Klasse und Elite vollständig oder auch fast nur vollständig zusammen."191) Mosca (und Pareto) hatten ihre Herrschende Klase oder Elite stets als die innerhalb einer Gesellschaft dominierende Gruppe gezeichnet und von diesem Ausgangspunkt aus Annahmen über die notwendigen psychischen und ethischen Eigenschaften und Orientierungen der Machthaber angestellt. Freund konstruierte die politische Wert- und Charakter-Elite als den „besseren" Teil der Herrschenden Klasse, als treibende Kraft innerhalb derselben. Dafür nahm er die beiden Italiener als Gewährsmänner. Ihre Modelle zeichneten sich nun sicher nicht durch vollständige Kohärenz aus; am Werk Moscas haben wir dies oben bereits darzulegen versucht. Dennoch ging Freunds Umgang mit ihren Texten weit über das Ausnutzen der sich aus diesen Inkohärenzen ergebenden Interpretationsspielräume hinaus. Moscas Theorie der Herrschenden Klasse und Paretos Zirkulation der Eliten zur Stützung der These von einer Wert- und Charakter-Elite innerhalb der Herrschenden Klasse zu verwenden, bedeutete nichts anderes als eine sinnentstellende Veränderung ihrer intellektuellen Projekte. Mosca und Pareto hatten versucht, ihren Zeitgenossen die Scheuklappen einer liberalen Fortschrittsideologie von den Augen zu reißen, indem sie zu belegen versuchten, dass ihre unverschleierte, wertneutrale, ideologisch unverstellte Sicht auf die soziale Wirklichkeit den Befund zu Tage gefördert habe, dass alle menschlichen Gesellschaften zu allen Zeiten von Minderheiten beherrscht würden, deren vorrangiges Ziel im eigenen Machterhalt bestand. Bei Freund wurde aus dieser herrschenden Minderheit, deren Herrschaft nicht moralisch, sondern nur vom Gesichtspunkt ihres Erfolges zu beurteilen sei, eine Teilung der Herrschenden Klasse in die Mehrheit der bloßen Gewaltherrscher und eine Minderheit der wahren, moralisch und charakterlich nach ihren schöpferischen Impulsen und ihrem Verantwortungsbewusstsein zu bewertenden Elite. Noch in einem weiteren Punkt stimmten Solms und Freund überein: Beide hielten die Existenz einer politischen Wert- und Charakter-Elite nicht für den gesellschaftlichen Normal-, sondern für einen Ausnahmefall. Das war durchaus konsequent, denn wohl kann die Existenz von Herrschaftsträgern in jeder stratifizierten Gesellschaft nachgewiesen werden; die Auslesemechanismen einer Wert- und Charakter-Elite können jedoch zumindest vorübergehend versagen. Allerdings übersteigerten beide Autoren diesen Gedanken derart, dass die Vermutung nahe liegt, ihre Modelle seinen an dieser Stelle noch dem Charisma des Außeralltäglichen verpflichtet, wie es für die Führer-Doxa kennzeichnend ist. Besonders Solms hatte - ganz wie Alfred Weber mit seinem „Genius" - das einzelne (Elite-)Individuum vor Augen, als er erklärte: „Das höchste Ideal wäre natürlich das Ideal des Vollmenschen, der auf hohem Ni-

191

) Ebd., S. 232/33.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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veau harmonisch ausgewogenen Persönlichkeit, das jedoch als extremer Seltenheitsfall in praxi nicht als Erziehungsmaxime und auch nicht als Ausleseprinzip aufgestellt werden kann." 192 ) Denn dies stellte seiner Meinung nach einen „seltenen Glückszufall der Geschichte ... eine ,Sternstunde der Menschheit'" dar. Auch für Freund entzog sich das Wesentliche der Elite - ihre „Begabung und Fähigkeit" zur „schöpferische(n) Kraft" - einer diesseitigen Erklärung. „Diese wird nach Gesetzen gegeben, die uns nicht erkennbar sind." Für ihn handelte es sich um „ein(en) Zufall, eine Gnade, ein Wunder." Beide EliteKonzepte besaßen damit einen ähnlich irrationalen Kern wie die Führer-Doxa, was durchaus typisch ist für die frühe deutsche Elite-Diskussion. „Genius", historischer „Glückszufall" und „Gnade", diese irrationalen und empirisch nicht erschließbaren Größen besaßen jedoch ein enormes Legitimationspotenzial für die derart bezeichneten. Dies also war die politische Wert- und Charakter-Elite, wie Freund und Solms sie entwarfen und wie sie - das geht aus zahlreichen zustimmenden Verweisen auf ihre Texte hervor 193 ) - zahlreiche andere westdeutsche Intellektuelle sich in den 1950er Jahren vorstellten: Es ist offensichtlich, dass derartigen Ordnungsentwürfen ein enormes Legitimationspotenzial innewohnte, das weit über das Politische Feld hinausreichte. Einerseits rechtfertigte dieses Elite-Konzept das bestehende System sozialer Ungleichheiten, solange dieses System nur eine Elite des Schöpfertums und der Führung hervorbrachte - und wie wir gesehen haben, vollzog sich die Beurteilung und Auslese dieser Eigenschaften außerhalb überprüfbarer Verfahren und Institutionen. Die Zugehörigkeit zu dieser Eigenschaften-Elite beruhte letztlich nur auf Zuschreibungen, und weil diese Zuschreibungen und die damit erfolgende Auslese nur seitens derjenigen erfolgen konnte, die sich im gesicherten Besitz dieser Eigenschaften befanden oder zumindest wähnten, handelte es sich de facto um ein System der symbolischen Kooptation. Und wie wir weiterhin gesehen haben, hatte Freund darauf beharrt, dass sich eine Elite jedenfalls nicht jenseits von Reichtum und Macht bilden konnte. Andererseits konnte sich jeder materiell oder kulturell Privilegierte durch dieses Elite-Konzept in seinem Status legitimiert sehen, solange er (da das Konzept implizit auf Männer zugeschnitten war) nur auf die eine oder andere Weise glaubhaft machen konnte, in Wirtschaft, Politik oder Kultur schöpferischen Beiträge zu leisten und zum Wohl der Allgemeinheit zu handeln. Denn von seinen Beiträgen und Leistungen hing das Schicksal seiner gesamten sozialen Umgebung ab. Gerade die Unüberprüfbarkeit der Zugehörigkeit zur Elite vom Standpunkt der theoretischen Logik (etwa einer Ideologiekritik der Elitetheorien) sicher keiner seiner Vorzüge - machte in der praktischen Logik, 192

) Solms: Echte Demokratie und Elitegedanke, S.73, S. 68/69 für das Folgende. ) Beispielsweise erschienen beide Aufsätze auf dem an deutschen Titeln (berechtigterweise) nicht eben reichen Literaturverzeichnis in Baudins Artikel für das „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften". Baudin: Elite, S.202. 193

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3. Legitimation

also derjenigen seines sozialen Gebrauchs, die Attraktivität für seine Adressaten aus. III. Im zweiten Teil seines Aufsatzes wendete Freund die soeben gewonnenen Kategorien - den Unterschied zwischen Elite und Herrschender Klasse, die Auslese als Konstituens der Elite, sowie die soziale Wirksamkeit der Elite als Führungs-Handeln - auf eine geraffte Geschichte europäischer Repräsentativsysteme an. Das „Eliteproblem in der modernen Politik" kam also jetzt erst zur Sprache. Um eines seiner Ergebnisse vorwegzunehmen: Das Elitenproblem entstand für Freund überhaupt erst in der modernen Politik. Vor dem 19. Jahrhundert dem Zeitalter der Revolutionen, die eine Jahrhunderte überdauernde Ordnung zerstört hatten, weshalb das „liberale" 19. Jahrhundert in den Augen zahlreicher konservativer westdeutscher Historiker, etwa Otto Brunner, schlicht ein „Skandalon" darstellte 194 ) - hatte dieses Problem nicht existiert. Erst die sozialen und politischen Desintegrationsprozesse jenes Säkulums warfen demnach das „Elitenproblem" auf. Den historischen Teil von Freunds Untersuchung durchzog also jene konservative Verlustperspektive, die zu den stabilen intellektuellen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre gehörte. Und es stellt eine der paradoxen Konsequenzen der politisch-ideellen Auseinandersetzungen jener Zeit dar, dass die Übernahme der Elite-Doxa durch konservative Intellektuelle gerade im Licht jener Verlustperspektive zur Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie beitrug, die von diesen Akteuren (und ihren politisch-ideellen Vorgängern) eher skeptische betrachtet wurde. Es ist nicht die geringste Leistung der EliteDoxa, dass sie half, konservative Intellektuelle mit der parlamentarischen Demokratie zu versöhnen. Zur Beweisführung seiner Thesen begann Freund mit einer emphatischen Darstellung der vorrevolutionären Elite. Ihr Wesensmerkmal sah er darin, dass die Trennung zwischen Elite und Herrschender Klasse, wie sie in der Gegenwart bestand, noch nicht vollzogen war. Freunds Darstellung der vorrevolutionären Elite war dabei keineswegs ohne Wertung und in nüchtern-distanziertem Ton gehalten; die Identität von Elite und Herrschender Klasse in Gestalt der „sozialen Elite" nannte er „die größte und glorreichste Erscheinungsform der Elite". 195 ) „Soziale Eliten sind die herrschenden Schichten in der feudal-aristokratischen Gesellschaftsordnung; soziale Elite ist später die sogenannte liberale Elite (im weitesten Sinne des Wortes), die gebildeten und besitzenden Mittelschichten, wie sie die liberale und parlamentarische Bewegung des 19. Jahrhunderts getragen haben. Es gibt viele Namen für diese Form:

194

) Etzemüller. Sozialgeschichte, S. 71/72. ) Freund: Elitenproblem, S.234. Als „soziale Elite" bezeichnete Freund „jene Form der Elite... deren Daseins-, Geltungs- und Anerkennungsgrund die Stellung im sozialen Leben ist. (...) Die Daseinsbasis der sozialen Elite ist Besitz, Eigentum und soziales Ansehen." Ebd., S. 234/35, auch für das Folgende. 195

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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die feudale, die aristokratische, die ständische, die liberale Elite, die Honoratioren-Elite und noch mannigfach mehr Bezeichnungen." Einen Namen vergab Freund an die „soziale Elite" jedoch nicht: den der „Herrschenden Klasse", dem er im ersten Teil des Aufsatzes eine so große Bedeutung für die Präzisierung seines Untersuchungsgegenstandes gegeben hatte. Ohne dass Freund dies ausgeführt hätte, lässt sich doch schließen, dass der Begriff der Herrschenden Klasse für Freund ein Spaltprodukt bezeichnete, das erst mit der Auflösung der „sozialen Elite" entstanden war, nach der „großen Spaltung und Zerreißung der Eliten ... Herr in der Wirtschaft und Untergebener im Heer". 1 9 6 ) Insofern konnte das Regime einer Herrschenden Klasse ohne gleichzeitige Existenz einer Elite auch keine anzustrebende Ordnung darstellen. Die „soziale Elite" hingegen stellte die legitime, weil ganzheitliche Ordnung dar: „Die Eliten aller Lebenskreise fallen zusammen. Es gibt nur eine einzige Führungsschicht." 197 ) Der „Hunger nach Ganzheit" 198 ) war mit dem Ende der Weimarer Republik ja keineswegs verschwunden; im Gegenteil stellte er einen wichtigen Bestandteil jenes Netzes von Gemeinplätzen dar, das an den Evangelischen Akademien und in den Kulturzeitschriften zu jener Zeit gewoben wurde. In dieser ganzheitlichen und darum legitimen Ordnung ist „unten ... überall unten, und oben ist überall oben." 199 ) Und noch an einem weiteren Punkt zeigt sich Freunds Konzept tief beeinflusst von den intellektuellen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre: Er würdigte eingehend den Beitrag des Christentums zum Entstehen der modernen Elite. Allerdings erwies sich Freund keineswegs als einfältiger Christkonservativer, der diesen Beitrag uneingeschränkt im Sinne der Notwendigkeit einer christlichen Wertbindung jeder (abendländischen) Elite gefordert hätte. Im Gegenteil, Freund sah die Wirkung christlicher Normen für die Gestalt historischer Eliten ausgesprochen ambivalent. Die Jenseitsorientierung habe nämlich die soziale Ordnung, genauer die Homogenität der sozialen Elite, von Anbeginn an tendenziell durchbrochen: „Mit dem Christentum kam eine Elite in die Welt, die der sozialen Ordnung transzendent war und sie sogar umzukehren vermochte." 200 ) Damit sei die ideelle Grundlage der „modernen demokratischen und sozialistischen Revolte" geschaffen worden; eine These, für deren Untermauerung Freund sich neben den Soziologen Comte und Pareto auch auf Nietzsche und Marx berief. Besser konnte in Westdeutschland zu dieser Zeit die These von der weltverändernden Sozialethik des Christentums ver-

196

) Freund: Elitenproblem, S. 236. ) Freund: Elitenproblem, S.237. Freund führte diesen Gedanken gleich mehrfach a u s „die Lebenskreise und die Eliten der Gemeinschaft decken sich noch grundsätzlich" -, was zeigt, wie wichtig ihm diese Feststellung war. Ebd., S.236. 198 ) Gay: Hunger, passim. 199 ) Freund: Elitenproblem, S. 236. 200 ) Ebd., S. 238. 197

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3. Legitimation

mutlich nicht abgesichert werden. Und indem Freund sich seinerseits von Nietzsches Ablehnung der christlichen „Sklavenmoral" distanzierte, bezog er eine intellektuelle Position oberhalb eines überkommenen, polaren und intellektuell reizlos gewordenen Gegensatzes. Dies schützte ihn auch davor, auf einen einfachen und „naiven", das heißt auf einen die gesamten seit Nietzsches Kampfansage angeführten Argumente ignorierenden Standpunkt festgelegt zu werden. Auch an solchen argumentativen Strategien lässt sich der versierte Spieler im Intellektuellen Feld erkennen. Und es ist bezeichnend für den Stand dieses „Spiels" zu dieser Zeit (für den „Stand der Diskussion", ablesbar an den möglichen politisch-ideellen Stellungnahmen), dass ein renommierter Autor wie Freund die geistesgeschichtliche Linie, die er bei der Elite der von Gott auserwählten Christen beginnen ließ, über den Marxismus bis zum modernen Rassismus hin verlängerte. Wichtiger jedoch als dieser Seitenhieb auf alle „totalitären" Ideologien (Marxismus wie Rassismus) ist für Freunds Argumentation, dass es - angestoßen von der christlich-jüdischen Idee des auserwählten Volkes - „allen modernen Eliten ... eigentümlich" sei, dass „sie der sozialen Hierarchie ein anderes Prinzip der Über- und Unterordnung entgegensetzen. Die moderne Bürokratie, das moderne Heer, die moderne Demokratie sind die großen Lebensmächte, die neue und andere als die sozialen Eliten aus sich geboren haben." Im Endpunkt dieser Entwicklung unterschieden sich kommunistische, rassistische (faschistische) und demokratische Systeme nicht mehr grundsätzlich. Freund traf diese Aussage nicht expressis verbis - dies wäre für einen wissenschaftlichen Text allzu parteilich gewesen. Aber eine solche Behauptung lag - vor dem Hintergrund der Massen-Doxa, welche die Moderne als Epoche der gefährlichen Massenbewegungen interpretierte und die Unterschiede zwischen Demokratie, Kommunismus und Nationalsozialismus verschwinden ließ auch unter den Bedingungen der „Zensur" wissenschaftlicher Abhandlungen zumindest unterschwellig doch im Bereich des Möglichen. Der moderne Staat beruhte nach Freund „auf einem gigantischen Prozess der sozialen Elite". 201 ) Die Demokratie vollendete diesen Prozess. „Die Wahlurne löscht die soziale Welt aus", denn „das allgemeine Wahlrecht gab dem Menschen als Menschen - unabhängig von seiner sozialen Stellung - das Wahlrecht. (...) Jeder hat eine Stimme, ob reich oder arm, ob gebildet oder ungebildet, ob unten oder oben." 202 ) Das große soziale und politische Problem lag demnach darin, „dass die Demokratie Menschen im Staate zu Herren macht, die in der sozialen Welt die Unterworfenen sind."203) Eine solche Entwicklung musste jedem Betrachter missfallen, der die Kongruenz sozialer, ökonomischer und politischer Macht „großartig und glorreich" fand. Vor allem aber war es die politische Gleichheit 201

) Ebd., S. 242. ) Ebd., S. 244. 203 ) Ebd., S.245, auch für das Folgende. 202

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

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des demokratischen Prinzips, an der Freund sich rieb. Dass das Gleichheitsprinzip die soziale Welt „auslösche", konnte nur beklagen, wer die soziale Ungleichheit nicht nur als Normalfall darstellte, sondern zur sozialen Norm erhob und wem die politische Gleichheit damit als normwidrig erschien. In diesem Sinn handelte es sich bei Freunds Text um einen Beitrag der Delegitimierung, nicht der Rechtfertigung der Demokratie. Doch Freund blieb bei der Perspektive des indignierten Betrachters nicht stehen. Sein Untersuchungsziel bestand im Aufdecken der Gefahren, die sich aus dem Verhältnis zwischen politischer und sozialer Ordnung ergaben. Und diese Gefahren waren nach Freunds Ansicht erheblich: Denn „die Spannung zwischen den Eliten ... darf ein gewisses Maß nicht überschreiten, wenn nicht große und gefährliche Zerreißungen im sozialen und politischen Körper eintreten sollen." An dieser These überrascht zunächst die Begriffswahl: Im Sinne jener oben vorgenommenen Unterscheidung konnte es sich hier eigentlich nicht um „Eliten" handeln, sondern um unterschiedliche Fraktionen der Herrschenden Klasse. Und von diesen Fraktionen besaßen die demokratisch Gewählten offensichtlich die geringste Legitimität, denn - hier griff Freund einen Gedanken von Max Weber auf - sie lebten von der Politik, nicht für sie. Freund nannte diese Menschen „Banausen", die in der griechischen Polis „in der Politik nichts zu suchen hatten". 204 ) Mit einem rhetorischen Trick („wir sind alle Banausen") schwächte er die Schmähung demokratisch gewählter Politiker ab. Aber deren Abqualifizierung blieb doch. Die Perspektive dieser Bewertung konnte angesichts Freunds GleichheitsPhobie keine andere sein als die des Verlusts. Bedauernd stellte er fest: „Wir können sicherlich nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen." 205 ) Er forderte sogar dazu auf, nach vorn zu blicken. Freund wollte am „Prinzip der Repräsentation (festhalten), das heißt der Vertretung des Volkes durch unabhängige Menschen, die auch außerhalb des politischen Lebens etwas bedeuten und .soziale Autoritäten' darstellten".206) Der Ausweg bestand also nur im „Prinzip des aristokratischen Parlamentarismus".207) Jenseits des Spotts für demokratische Politiker blieben die Gefahren, die allerdings, so Freunds Annahme, von der Demokratie ausgingen und die Gesellschaft (also das bestehende System legitimer Ungleichheiten) bedrohten und nicht umgekehrt. Die Spannungen zwischen den Eliten, von denen die Rede war, hatten ja schon einmal ein politisches System zerstört. Hier war die Erfahrung der Weimarer Republik unmittelbar präsent. Freund verwendete nicht den Begriff des Totalitarismus, doch verlief für ihn offensichtlich nur eine fließende Grenze zwischen „schrankenloser" Demokratie und totaler Herrschaft. Er zitierte Le Bons Behauptung, dass „die 204

) ) 206 ) 207 ) 205

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 246. S. 247. S. 248. S.248, auch für das Folgende.

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3. Legitimation

Masse immer nach dem Caesar rufe", denn „die reine egalitäre Demokratie, in der alle Menschen gleich sind wie die Körner des Treibsands, kann in der Tat ihre Erfüllung nur in der einen zentralen Macht finden." 208 ) Diese Aussage verlegte in der Tat den Fluchtpunkt demokratischer Bewegungen in den Totalitarismus. Der Caesar Hitler stellte damit die logische Konsequenz der egalitären Demokratie der Massen dar - diese zeithistorische Deutung im Horizont der Massen-Doxa zirkulierte in zahllosen vulgären Varianten, aber eben auch in elaborierter Form wie bei Freund über lange Zeit im Intellektuellen Feld, und während der späten 1940er und frühen 50er Jahre stellte sie die vorherrschende Deutung der „Machtergreifung" der Nationalsozialisten dar. Als Konservativer plädierte Freund verständlicherweise nicht für eine Angleichung der sozialen an die politische Ordnung in Gestalt einer fundamentalen Demokratisierung der Gesellschaft, die um 1950 ja noch heftigst diskutiert worden war. Stattdessen forderte er eine stärkere Berücksichtigung des „Prinzips des aristokratischen Parlamentarismus". Hier schließt sich der Kreis. Freund machte keinen Versuch der Präzisierung des „aristokratischen Parlamentarismus in der modernen Demokratie. Einige Jahre später nahmen Hans-Joachim Schoeps und dessen Schüler Joachim Knoll den konservativen Faden an diesem Ende wieder auf; davon wird noch zu sprechen sein. Das Resultat von Freunds Argumentationsgang bestand vor allem darin, dass nur die Übernahme von Prinzipien der Ungleichheit aus der Gesellschaft in das politische System die Demokratie vor sich selbst schützen konnte. Eines dieser Prinzipien verkörperte die Elite, und zwar die wirkliche Elite der kreativen Impulsgeber und der Führung, nicht die Inhaber der Herrschaftspositionen. Denn die Eliten seien „das Lebensblut der Demokratie". Im Kreisgang dieser Argumentation versöhnte die Elite-Doxa als Ausdruck der (natürlichen) Ungleichheit konservative Intellektuelle mit der modernen Demokratie. Freund hatte mit der Diskussion des „Elitenproblems" keineswegs erklärt, worin die Aufgabe der Elite „in der modernen Demokratie" bestand. Auf dieser Seite des „Elitenproblems" erwähnte er nicht einmal die einschlägige deutschsprachige Literatur, also in erster Linie Karl Mannheims Texte von der Notwendigkeit einer Planungselite zur Bewahrung der Freiheit und Otto Stammers Konzept einer politischen Elite, die im Prozess der demokratischen Willensbildung eine ausschlaggebende Rolle spielt. Freunds Untersuchung beschränkte sich auf eine Morphologie der Elite, von der aus er weitreichende Thesen über die Erfordernisse vordemokratischer Elemente in der politischen Demokratie entwickelte. Die Demokratie brauchte auch für Freund Eliten, aber keine demokratischen. An diesem Punkt zeigt sich der wichtigste Unterschied in den Entwürfen von Solms und Freund. Der „liberal-bürgerliche" Marburger Soziologe be-

208

) Ebd., S. 249.

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harrte auf der Beurteilung einer Elite anhand ihrer moralischen und charakterlichen Vorbildhaftigkeit: Sie sollten eben neben ihrer fachlichen Eignung auch das „Gute" verkörpern. Der „konservativ-bürgerliche" Kenner der europäischen Ideengeschichte verwandelte die vorbildlichen Eigenschaften in die vom jeweiligen Regime bevorzugten Charakteristika und bemaß den Wert der Elite innerhalb der Gruppe der Herrschenden nach ihrer Kraft als Impulsgeber und Motor aller verändernden und bewahrenden Aktivität. IV. Trotz der fast gleich lautenden Aufsatztitel („Das Elitenproblem in der modernen Politik" - „Das Elitenproblem in der Demokratie") konnte die Zielrichtung Otto Stammers von derjenigen Freunds nicht verschiedener sein. Freund sah in der Elite ein vordemokratisches Korrektiv zur egalitären Massendemokratie, Stammer war besorgt um die Funktionstüchtigkeit der repräsentativen Demokratie; Freund entwarf ein Konzept der Wert- und Charakter-Elite als Gegenmodell zur Herrschenden Klasse, das die Notwendigkeit der Elite-Funktion (ihre schöpferischen Impulse und ihre Führungskraft) für die Demokratie betonte, aber ganz überwiegend mit der Morphologie der Elite argumentierte, Stammer hingegen versuchte erst einmal die Funktion von Eliten in einem Repräsentativsystem zu präzisieren, Eliten, die sich bei aller Bindung an die Werte der Demokratie gerade nicht als Wert- und CharakterElite konstituieren sollten. Dennoch existierte auch eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal beließen es beide Autoren bei der Aufsatzform und arbeitete ihre Ideen nicht zu umfangreichen Büchern aus, trotzdem Freund wie Stammer die große Bedeutung des Elite-Themas für ihre Gegenwart betonten. Beide Autoren wählten wissenschaftliche Zeitschriften als Publikationsort und hielten sich im Großen und Ganzen an die Regeln wissenschaftlicher Texte (obwohl Freund, wie wir gesehen haben, es mit der Diskussion der neuesten und zu seinen Thesen kontroversen Literatur nicht so genau nahm). Damit konnten ihre Ergebnisse, nicht zuletzt durch das Zitieren der klassischen Eliten-Theoretiker, auch einen sehr hohen Grad an Wahrheit und Geltung beanspruchen. Dabei hätten ihnen Kulturzeitschriften mit deutlich größerer Breitenwirkung zur Verfügung gestanden (Freund war zu dieser Zeit Mitherausgeber der Gegenwart, Stammer etwas später Mitherausgeber der Neuen Gesellschaft, in der jedoch kein Artikel zum Elite-Thema von ihm erschien). Beiden ging es jedoch offenbar zunächst um eine Grundlegung des EliteBegriffs in Westdeutschland, und eine solche konnte nur in Auseinandersetzung mit den Klassikern der Elite-Theorien erfolgreich sein. Deshalb benötigten ihre Texte auch den umfangreichen Anmerkungsapparat wissenschaftlicher Arbeiten. In diesen Apparaten finden wir im Wesentlichen die gleichen Autoren: Zitiert wurden Mosca und Pareto, Robert Michels, Max Weber und James Burnham. Und beide eröffneten den Gang ihrer Argumentation einerseits mit dem Verweis auf Machiavelli (der eine zustimmend, der andere ablehnend) als Ausweis der Notwendigkeit, eine ihrer Gegenwart angemessene Theorie politischer Eliten zu entwickeln, und andererseits mit der rhetorischen

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3. Legitimation

Frage, ob die Kategorien „Elite" und „Demokratie" nicht in Wahrheit in Widerspruch zueinander stünden. Selbstverständlich verneinten beide diese Frage, doch der Umstand, dass sie seitdem mit schöner Regelmäßigkeit fast allen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Elite und Demokratie" vorangestellt wird, zeigt, dass ihre Verneinung nicht so selbstverständlich ist, wie sie zu belegen versuchten. Immerhin fühlte Stammer sich herausgefordert, im Verlauf seines Untersuchungsganges beide Begriffe, den der Elite wie den der Demokratie, neu zu bestimmen bzw. gegen konkurrierende Definitionen abzugrenzen. In der Auseinandersetzung mit seinen intellektuellen (und politischen) Kontrahenten entwickelte Stammer sodann sein eigenes, originelles Elite-Konzept. In ideengeschichtlicher Perspektive jedoch mindestens genauso interessant wie dieses Konzept selbst ist der argumentative Aufwand, den Stammer mit der Widerlegung seiner Kontrahenten trieb. Denn in den bei weitem umfangreichsten Abschnitten seines fast dreißigseitigen Aufsatzes von 1951 - die zahlreichen späteren Artikel Stammers zum Thema enthalten keine wesentlichen neuen Argumente, weshalb sich die Untersuchung hier auf diesen Text konzentriert - diskutierte er die Argumente anderer Autoren, während er sein eigenes Modell auf deutlich geringerem Raum skizzierte. Stammer begann mit einem Frontalangriff auf alle Typen einer Wert- und Charakter-Elite. Sie gehöre zu „hierarchisch gegliedert(en) Gesellschaften und autoritären Systemen, nicht aber in eine Demokratie. 209 ) Eine solche These richtete sich gegen die zentrale Annahme des mainstream der westdeutschen Elite-Diskussion dieser Jahre, die ja gerade von der Notwendigkeit einer Wert- und Charakter-Elite ausging. Und um diesen Gegensatz unmissverständlich deutlich zu machen, wiederholte Stammer ihn mehrfach. 210 ) Anhand der Analyse des Aufsatzes von Michael Freund ließ sich beobachten, dass diese Annahmen in Wirklichkeit das Erfordernis des Einbaus nichtdemokratischer Elemente in die Demokratie propagierten. Stammer griff also die Versuche (liberal-)konservativer Intellektueller (namentlich erwähnte er Wilhelm Röpke und Ortega y Gasset) an, die junge Demokratie unter dem Schlagwort „Freiheit vor Gleichheit" undemokratisch oder sogar antidemokratisch aufzubauen. Stammer blieb jedoch auf der normativen Ebene nicht stehen, sondern versuchte, die Wert- und Charaktermodelle auch in der gesellschaftlichen Realanalyse zu widerlegen: Die sozialen Voraussetzungen einer Wertelite, die ebenso Kraft ihres Status respektiert würde (also die „soziale Elite" Freunds), existierten seiner Ansicht gar nicht mehr; nicht einmal in Großbritannien, dessen

209

) „Elite, als Wertbegriff formuliert, als geschlossene Gruppe von besonderer sozialer, geistiger und politischer Qualität, als privilegierte oder dominierte Schicht, gehört eher zu einer nach einer bestimmten Rangordnung hierarchisch gegliederten Gesellschaft und zu einem dementsprechenden politischen Herrschaftssystem als zur Demokratie." Stammer: Elitenproblem, S. 192. 210 ) Z.B. Stammer. Elitenproblem, S.202.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

261

gentry von den westdeutschen Konservativen nach 1945 immer wieder als Vorbild genannt wurde.211) Doch auch die „machiavellistischen" Elite-Theorien lehnte Stammer ab (er war einer der wenigen Autoren, die nicht nur Burnhams „Regime der Manager", sondern auch „Die Machiavellisten" zitierten und sich ernsthaft damit auseinander setzten). Freilich nicht aus den oben dargelegten Gründen der Anhänger von Modellen einer Wert- und Charakter-Elite oder wegen der positivistischen Perspektive des amerikanischen Soziologen, sondern zuallererst wegen des antidemokratischen Imperativs der „Machiavellisten" die Stammer übrigens ausdrücklich so bezeichnete, und zwar unter Verweis auf Burnham. 212 ) Der Vorwurf lautete hier auf Begünstigung totalitärer Herrschaftstypen: In der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus hätten sich Theorien „vom Primat der Elite in Staat und Gesellschaft" mit „der Idee der verschworenen Gemeinschaften, der ,Orden'" verbunden. An diesem Punkt wird bereits der Umriss von Stammers eigenem Elite-Konzept sichtbar. Denn „das Führerprinzip und die Konzeption eines antidemokratischen Führerstaates sind ohne die Wirksamkeit hierarchisch einander zugeordneter, zur Teilnahme an der Herrschaft besonders qualifizierter Eliten nicht durchführbar." 213 ) In dieser Analyse wird die Vorstellung einer Trennung der Herrschaftsspitze des Führers und seiner engeren Umgebung - von der Elite bereits sichtbar. Herrschaftssoziologisch gesehen nahm Stammer damit eine Dreiteilung der Machtpyramide vor: oben das engere Regierungs- oder Herrschaftszentrum, in der Mitte die Elite(n), unten die Beherrschten bzw. in einer Demokratie die Wahlbevölkerung. Dies bedeutete eine ostentative Abkehr von der klaren Dichotomie zwischen Elite und Masse, die allen übrigen Elite-Konzepten eigen war. Doch vor einer eingehenden Untersuchung von Stammers eigenem Modell muss noch einmal auf die politischen Implikationen seines Ansatzes hingewiesen werden: Stammer verwies beide in Westdeutschland um 1950 zirkulierenden Ausformungen der Elite-Doxa - die dominierende Form der Wert- und Charakter-Elite einerseits, die vorläufig eher marginalen „machiavellistischen" Entwürfe andererseits - auf antidemokratische Ordnungen: Die Werteliten hätten nur Platz in (traditionellen) autoritären Regimes - zeitgenössisch wäre hier an die Diktaturen auf der iberischen Halbinsel zu denken, denen in den Augen konservativer Intellektueller wie Winfried Martini ja tatsächlich Vorbildcharakter zugesprochen wurde, auch und gerade hinsichtlich der Gestalt ihrer „Eliten" die „machiavellistischen" Eliten fänden sich in totalitären Systemen, also im Nationalsozialismus und im Stalinismus. Obwohl ganz unterschiedlich ausgerichtet, konnten demnach beide bekannten Richtungen der Eliten-Theorien nicht als Vorbild für eine demokratische Ordnung fungieren. 21

') Stammer: Elitenproblem, S. 196/97. Der Topos vom Vorbild der erfolgreichen britischen Aristokratie findet sich u. a. bei Freund: Elitenproblem, S. 235; Schoeps: Erneuerung, S. 120. 212 ) Stammer: Elitenproblem, S. 197-99. 213 ) Ebd., S. 199.

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3. Legitimation

Im Gegensatz zu den Wert- und Charakter-Modellen erkannte Stammer allerdings die wissenschaftlichen Leistungen der „Machiavellisten", namentlich diejenigen Moscas und Paretos, durchaus an. Und er entwickelte sein eigenes Elite-Konzept gerade in Auseinandersetzung mit demjenigen Moscas, und zwar indem er der Frage nachging, „ob die Schichten, die Mosca im Sinne hat, wirklich Klassen nach dem hergebrachten Sinne sind, d.h. verhältnismäßig breite, zusammengefasste gesellschaftliche Gruppierungen mit einheitlicher gesellschaftlicher Funktion und einem gemeinsamen sozialen Habitus. Das darf mit Recht bezweifelt werden, denn andernfalls müsste Mosca doch annehmen, dass diese Schichten aus sich selbst wieder besondere Willensgruppen heraussetzen, die jeweils die Funktion der Herrschaft in einem sozialen System übernehmen. In Wirklichkeit meint Mosca mit seinen ,politischen Klassen' Eliten. Er versäumt nur, die Beziehungen aufzuzeigen, die dann jeweils in den verschiedenen sozialen Systemen zwischen diesen einflussreichen, zur Herrschaft besonders geeigneten kleineren Gruppen und den übrigen, ebenfalls zur politischen Klasse' gehörenden Trägern politischer Funktionen, wie Funktionären, Beamten usw. bestehen. Es dürfte unschwer festzustellen sein, dass die Bindung der Eliten an die größeren Klassengruppen und an die sozialen Systeme in ihrer Gesamtheit jeweils unter den verschiedenen historischen Voraussetzungen stark differiert. Hier hat aber unseres Erachtens eine soziologische Elitentheorie mit ihren Untersuchungen anzusetzen." 214 )

Die Unterscheidung zwischen „Eliten" und „Klassen" verband Stammer offensichtlich mit Freund; Stammer verzichtete allerdings auf die politischethische Übersteigerung dieses Gegensatzes. Vielmehr interessierten ihn die Differenzierung und die Beziehungen zwischen den Funktionsträgern (der Elite) einerseits und Gemeinsamkeiten der sozialen Lage und der habituellen Prägungen andererseits. Es spricht für die Ernsthaftigkeit von Stammers wissenschaftlichem Bemühen, das mittelbar auch auf politische Effekte gerichtet war, wenn er darauf verzichtete, ein A-priori-Modell dieser Beziehungen zu präsentieren (etwa in Form der reinen Leistungsauslese), sondern diese Beziehungen gerade zum Untersuchungsgegenstand selbst erklärte. Stammer gab damit nicht nur eine plausible Begründung für die Einverleibung von Moscas Theorie der Herrschenden Klasse unter den von Mosca selbst abgelehnten Begriff der „Elite". Der Berliner Soziologe machte auch auf eines der zentralen und ungelösten Probleme in Moscas Theorie aufmerksam, eben die Beziehung der Elite zu den sozialen Klassen, denen ihre Mitglieder entstammten. Vor allem aber spitzte er die Analyse auf das Problem der gesellschaftlichen Funktion der Elite zu, die sowohl in den machiavellistischen wie in den Wert- und Charakter-Modellen kaum ausgearbeitet worden war. Die Präzisierung eben dieser Funktion durch die Formulierung eines soziologischen Elite-Begriffs (also nicht eines philosophischen, historischen und vor allem nicht eines polemisch-politischen) stellte für Stammer einen integralen Bestandteil der „Demokratieforschung" dar; eine Bezeichnung, an der ebenfalls die Differenz zu Freund deutlich wird. Stammer wollte die Demo-

214

) Stammer: Elitenproblem, S. 200/01 (Hervorhebung von M.R.).

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

263

kratie erforschen, um sie zu schützen und ihre Potenziale auszubauen, was, wie wir gesehen haben, Freunds Anliegen nicht war. Um dieses Vorhaben zu verwirklichen, machte sich Stammer erst einmal daran, das politische System „Demokratie" zu definieren. Was wie Pedanterie oder aber Originalitätssucht aussieht, ist tatsächlich nicht nur dem vergleichsweise geringen Erfahrungsschatz der Deutschen mit einer funktionierenden Demokratie geschuldet. Die Frage, was Demokratie überhaupt sei, musste aufgeworfen und beantwortet werden, weil zahllose konservative Demokratieskeptiker (allen voran die Anhänger der Wert- und Charakter-Modelle, aber ebenso die „Machiavellisten") stets die Unmöglichkeit einer „echten" Demokratie oder zumindest die Notwendigkeit des Einbaus undemokratischer Gegengewichte postulierten. Die rhetorische Strategie war dabei stets die gleiche, unabhängig davon, ob James Burnham (und seine Vorläufer Mosca und Pareto), Winfried Martini, Heinrich Weinstock 215 ) oder Johannes Doehring 216 ) über den Zusammenhang von Elite und Demokratie sprachen: Ihr antidemokratisches Denken übersteigerte regelmäßig das politische System der Demokratie zu einer gedachten Ordnung vollkommener politischer Gleichheit (gelegentlich sogar der Herrschaftslosigkeit) und des direkten Volkswillens, um gleich darauf die offensichtliche Unmöglichkeit der Realisierung einer solchen Ordnung - und damit der Demokratie überhaupt, jedenfalls einer Demokratie ohne vordemokratische Elemente - festzustellen. Als intellektuelle Vaterfigur dieser egalitären Demokratie in konservativer Sicht diente regelmäßig Jean-Jacques Rousseau (ebenso wie genauso regelmäßig ein anderer Franzose als früher Warner vor der „Massendemokratie" zitiert wurde, nämlich Alexis de Tocqueville). 217 ) Und diese Vorstellung von Demokratie musste Stammer erst aus dem Weg räumen, bevor er seine eigene Vorstellung einer politischen Elite ausbreiten konnte. In Anlehnung an die bereits zitierte Schrift von Max Graf Solms verwies Stammer als erstes alle direkten Demokratiemodelle auf kleinräumige Gemeinschaften, etwa Stadtstaaten. 218 ) Für zahlenmäßig größere, nämlich räumlich ausgreifendere und komplexer strukturierte Gesellschaften (und hier bewegte sich Stammer wieder ganz im Kontext der zeitgenössischen Debatten: „mit Tendenzen wachsender psychologischer und soziologischer Vermassung") müssten andere Ordnungsvorbilder gelten. In einem zweiten Gedankenschritt destruierte Stammer die Behauptung, Demokratie beruhe auf vollständiger politischer Egalität. Denn eines sei doch gewiss: „Dass jede politische Herrschaft die Aktivität von Minderheiten voraussetzt, welche die poli-

215

) Weinstock'. Elite; ders:. Elitebildung. ) Johannes Doehring: Die Frage der Elitebildung in der Nachkriegsgesellschaft, in: L009, S. 1-2. 217 ) Eine ideengeschichtliche Untersuchung der Konjunkturen der deutschen Tocqueville-Rezeption steht leider noch aus. 218 ) Stammer: Elitenproblem, S. 203/04. 216

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3. Legitimation

tische Willensbildung überhaupt erst in Gang bringen. Auch die Demokratie muss in diesem Sinne als politisches Herrschaftssystem verstanden werden, damit man mit dem Demokratiebegriff heute in der politischen Soziologie überhaupt mit Erfolg operieren kann." Und bündig stellte er fest: „Demokratie ist ... nicht Volksherrschaft, sondern Herrschaft im Auftrage und unter Kontrolle des Volkes."219) Deshalb bescheinigte er seinen Kontrahenten mangelnde Kenntnisse der politischen Theorie: „Es steht für die Staatslehre seit langem fest, dass die Demokratie unter den sozialen Voraussetzungen unserer Zeit nur als Repräsentativsystem zu funktionieren vermag, d. h., dass sie die Delegation des Gruppenwillens auf Einfluss- und Führungsgruppen voraussetzt. Die politischen Entscheidungen fallen immer im Gefüge der Eliten, die in den Staatsorganen wirksam werden. Das Volk fungiert in einem modernen demokratischen System gleichsam als höchste Berufungsinstanz bei der Bildung des politischen Willens. Dabei entscheidet es aber nur auf Grund von einfachen und eindeutigen alternativen Fragestellungen, welche wiederum von den demokratischen Eliten formuliert werden."

Mit dieser Erklärung des Repräsentativsystems verschaffte sich Stammer zunächst einmal einen argumentativen Spielraum gegenüber der Behauptung, Demokratie bedeute vollkommene politische Egalität und gleich verteilte Aktivität, ohne den Gedanken der politischen Partizipation breiter Bevölkerungsschichten aufzugeben bzw. ohne die Demokratie als mehr oder weniger „machiavellistische" zu manipulierende „politische Formel" zur Rechtfertigung der Minderheitenherrschaft zu denunzieren. Allerdings musste in dieser Modellannahme gewährleistet sein, dass die verschiedenen Teilgruppen der Elite weder zu einem monopolistischen Block verschmolzen - daher sollte eine möglichst weitgehende Konkurrenz zwischen diesen Teilgruppen bestehen. Noch durfte diese Konkurrenz selbst in systemgefährdende Formen ausarten, etwa in Gestalt der vollkommenen politischen (und physischen) Ausschaltung der unterlegenen Wettbewerber. Daher lautete für Stammer die Frage nach den Erfolgsbedingungen der Demokratie: „Welcher sozialen Gruppen und Minderheiten muss sie sich bedienen, um als Herrschaftssystem funktionieren zu können?" 220 ) Dieses Bekenntnis zum Repräsentativsystem, das sich heute wie eine Verteidigung gegen basisdemokratische oder „plebiszitäre" Forderungen liest, besaß in der Frühzeit der Bundesrepublik eine ganz andere Funktion, nämlich diejenige der Abwehr einer aus antidemokratischen Impulsen gespeisten Demokratie-Definition. Stammer operierte dabei mit ganz ähnlichen argumentativen Strategien wie die konservative Avantgarde um Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky in ihren Gesellschaftsdeutungen, nämlich mit der Orientierung an der Realitätsadäquanz (oder in der Sprache Freyers und

m

) Stammer: Elitenproblem, S.205, S.207, auch für das Folgende. ) Stammer. Elitenproblem, S.205 (Hervorhebung von M.R.).

220

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

265

Schelskys: der „Wirklichkeit"), und nicht, wie die Mehrheit der westdeutschen Politikwissenschaftler jener Jahre, mit strikt normativen Modellen. 221 ) Welche Aufgaben dachte Stammer nun den „aktiven Minderheiten" in der repräsentativen Demokratie zu? Vorbild und Führung der Wert- und Charakter-Elite konnten es nicht, nackte machiavellistische Herrschaftsausübung aus Eigennutz durfte es nicht sein. Stattdessen definierte Stammer diese Minderheiten als „Konzeptoren des politischen Willens. Sie stellten Medien des Herrschaftssystems dar, welche durch ihr politisches Verhalten für das Funktionieren der Kontrolle durch die breiten Massen wie für die Herstellung der nötigen Resonanz der politischen Entscheidungen in diesen Massen verantwortlich sind. Diese Eliten sind also für das Funktionieren des politischen Systems schlechthin entscheidend, und dies um so mehr, als die Auswahl der Spitzenführung des Staates in jedem Falle ausschließlich in ihrer Hand liegt." 222 ) In dieser Definition finden sich - neben der Betonung der unabdingbaren Notwendigkeit solcher Minderheiten, einem Topos, der sich wohl in allen Aussagen zum Gegenstand „politische Elite" findet (schon um den eigenen Untersuchungsgegenstand aufzuwerten) - mindestens drei wichtige Axiome von Stammers Elite-Konzept. Erstens, dass es in einem politischen System der Formulierung des politischen Willens bedürfe. Dieser könne nicht als unmittelbar gegeben angesehen werden (etwa durch die geopolitische Lage oder durch die ewigen Interessen der Nation) und unterliege auch nicht allein dem Willen der Herrscherpersönlichkeit (eines „Führers" oder eines „Genies") und sei ebenso wenig a priori verständlich. Der politische Wille muss vielmehr kommunikativ konzipiert werden, dies ist die Hauptaufgabe der politischen Elite. Zweitens richtet sich diese Aufgabe gleichermaßen nach „oben" und nach „unten". Es sei „die wichtigste gesellschaftliche und politische Funktion dieser Eliten, einen Ausgleich herzustellen zwischen den Meinungen unten und den Entscheidungen oben." 223 ) Einerseits artikuliere die Elite die Vorstellungen der Bevölkerung gegenüber der Herrschaftsspitze, andererseits sorge sie für die notwendige Akzeptanz der politischen Entscheidungen in der Bevölkerung, nachdem diese einmal gefallen seien. Nicht in der Ausübung von Herrschaft und auch nicht in der vorbildlichen, wertorientierten Lebensweise und der (selbst-)verantwortlichen Führung bestand also die gesellschaftliche Funktion der Elite, sondern in der Vermittlung politischer Ideen und Interessen zwischen Regierungsspitze und Bevölkerung. Auf das Versagen dieser Vermittlungsfunktion führte Stammer auch den Zusammenbruch der Weimarer Republik - des stets präsenten abschreckenden Vorbilds einer nicht funktionierenden Demokratie - zurück. 224 ) Daraus ergab sich drittens, dass die Elite keineswegs mit der Herrschaftsspitze des politischen Systems iden22

>) ) ) 224 ) 222 223

Mohr. Politikwissenschaft, S. 222-301. Stammer: Elitenproblem, S.209. Stammer. Elitenproblem, S.223. Stammer: Elitenproblem, S. 212/13.

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3. Legitimation

tisch sei, auch wenn ihr die Besetzung der Spitzenpositionen obliege. Stammers Modell, und darin liegt seine Originalität, ist also kein dichotomes Modell der Gegenüberstellung von „Elite" und „Masse", sondern eine dreigliedrige Ordnung von politischer Bevölkerung, Elite und Herrschaftsspitze. Auch wenn derartige Vorstellungen teilweise schon bei Mosca angelegt sind, 225 ) so führte Stammer diese weiter aus und konzipierte gerade daraus sein Modell einer demokratischen Elite. Im Gegensatz zu den Wert- und Charakter-Modellen, aber im Grunde auch den machiavellistischen Vorstellungen, dachte Stammer die politische Elite darüber hinaus nicht als eine homogene Einheit, auch nicht geteilt lediglich zwischen regierender und oppositioneller Elite. Dies stellte mithin ein Merkmal seines Konzepts dar, das ihn ganz deutlich und mehr noch als seine politische Parteinahme außerhalb des intellektuellen mainstream der 1950er Jahre trieb. Gerade die Vermittlungsfunktion grenzte die demokratische Elite von der Wert- und Charakter-Elite oder von Freunds „sozialer Elite" ab, die er als „Vehikel der despotischen Herrschaft" bezeichnete. 226 ) Auch bei der Wertelite bestimme „die soziologische Funktion ... im Wesentlichen den Charakter der herrschenden Minderheiten. In den Systemen demokratischer Herrschaft sind aber als Eliten anzusehen lediglich die mehr oder weniger geschlossenen Einflussgruppen, welche sich aus den breiten Schichten der Gesellschaft und ihren größeren und kleineren Gruppen auf dem Weg der Delegation oder der Konkurrenz herauslösen, um in der sozialen oder der politischen Organisation des Systems eine bestimmte Funktion zu übernehmen. Gemeint sind außerdem die kleineren Einflussgruppen, die sich im Bereich des Staates durch die Übernahme bestimmter politischer Funktionen herausbilden, Gruppen, welche in der Gesellschaft Resonanz suchen und vom Volk in seiner Gesamtheit kontrolliert werden. Die Bildung des politischen Willens und die Ausübung der Herrschaft ist gewiss auch in demokratischen Systemen von diesen Gruppen abhängig. Die Rolle aber, die diese Eliten dabei spielen, beruht auf ihrer funktionalen Mittlerstellung zwischen Führung und Volk und keineswegs, wie bei den Werteliten, etwa auf ihrer Eigenschaft, die natürlichen Träger einer im Grunde unkontrollierten Herrschaft zu sein."

Diese nähere Bestimmung des Elite-Begriffs war ebenfalls nicht dazu angetan, Stammers Modell in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit populärer zu machen. Zum einen weil der Elite-Begriff hier an „Einflussgruppen" gekoppelt wurde, die miteinander keineswegs nur in Komplementärbeziehungen standen. Damit wurde auf der Modell-Ebene nicht nur dem sozialen Konflikt, dem es in den besagten Gemeinplätzen gerade zu überwinden galt, Tür und Tor geöffnet. Mit dem Begriff der „Einflussgruppen" erlangten darüber hinaus auch die Vertreter „schnöder" egoistischer materieller Interessen den Elite-Status. Nicht die Gemeinwohl-Orientierung, sondern die durch Delegation und Konkurrenz erlangte soziale Rolle konstituierte bei Stammer die Elite. 225

) So korrespondiert Moscas Annahme über die Bedeutung der Herrschenden Klasse, die ja die Offiziere, die höheren Verwaltungskräfte usw. für den Herrscher stellen, mit Stammers Idee der politischen Elite als Konzeptoren der politischen Willensbildung zwischen der Staatsspitze und der Bürgerschaft. 226 ) Stammer. Elitenproblem, S.202, auch für das Folgende.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

267

Und zum anderen definierte Stammer die jeweiligen Besonderheiten einer Elite anhand ihrer „soziologisch-politischen Funktion." Funktionalistische Erklärungs-Modelle wurden zu Beginn der 1950er Jahre jedoch von der Mehrheit der westdeutschen Intellektuellen vehement abgelehnt. Aus dieser Sicht machte sich Stammer daran, eine der zentralen Grenzbestimmungen des AntiFunktionalismus, diejenige zwischen Elite-Individuum und „Funktionär", aufzulösen. Denn bei den einzelnen Akteuren jener „Einflussgruppen" handelte es sich ohne jeden Zweifel um „Funktionäre", etwa um die Spitzenvertreter (unterschiedlicher Ebenen) von Berufs- und Unternehmerverbänden, Gewerkschaftsführer, Parteipolitiker mittlerer und gehobener Ebenen und so weiter. 227 ) An diesem Punkt war der Gegensatz zwischen Stammers Konzept und den von der Mehrheit der zeitgenössischen Intellektuellen vertretenen Ansichten vermutlich am größten. Es ist schließlich außerordentlich bemerkenswert, dass Stammer die politischen Eliten zwar auf Grund ihrer „funktionalen Mittlerstellung" als „Medien des Herrschaftssystems" definierte, 228 ) die „Medien" im engeren Sinne, also die öffentlichen „Konzeptoren des politischen Willens" in den Zeitungen und Rundfunkanstalten sowie die freien Journalisten und Publizisten nicht in seine Liste der Elite-Angehörigen aufnahm. Die Intellektuellen, die als Berichterstatter, Kommentatoren und Deuter politischer Prozesse einen erheblichen Anteil an der politischen Willensbildung nahmen, gehörten also nicht zur politischen Elite. Dieses mag einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb Stammers Konzept zunächst auf wenig Interesse im Intellektuellen Feld stieß. Welche unterschiedlichen politischen Positionen die hier genannten Autoren auch zur Demokratie einnahmen - in der Annahme, dass die Existenz, die Gestalt und das Handeln der politischen Elite ausschlaggebend für das Bestehen der Demokratie sei, stimmten sie überein, und diese Ansicht teilten sie mit allen Autoren, die sich während der 1950er Jahre über die Beziehung zwi-

227

) „Welche Minderheitsgruppen stellen nun aber in der Demokratie wirklich Eliten dar? Da mit dem Begriffe in erster Linie politisch wirksame Minderheitsgruppen gemeint sind, wären hier zu nennen: die faktisch führenden Gruppen des demokratischen Staates, Regierungsgremien, führende Fraktionsgruppen der Parlamente, Gruppen der höheren Ministerialbürokratie, intellektuelle Braintrusts, politische Führungsspitzen, Richterkollegien, führende Gruppen der Provinzverwaltungen und der größeren Selbstverwaltungen, politisch wirksame Einflussgruppen der Offiziere von Polizei und Heer und die ihnen zugeordneten höheren Verwaltungsfunktionäre. Weiter gehören dazu die führenden Gremien der politischen Parteien, und zwar nicht nur die eigentlichen Parteileitungen, sondern auch ein Teil der sogenannten Funktionäre, soweit sie Einfluss nach oben und unten besitzen. Schließlich wären in dieser keineswegs vollständigen Aufzahlung zu nennen alle Führungs- und Einflussgruppen in den Gewerkschaften, in den Verbänden des sozialen und des Wirtschaftslebens, dabei besonders die Einflussgruppen der großen Unternehmungen und der Interessenvertretungen des sogenannten Kapitals, die Führungsgruppen kultureller Großverbände, soweit sie Einfluss auf das politische Geschehen haben oder erstreben." Stammer. Elitenproblem, S. 216/17. 22S ) Stammer: Elitenproblem, S.202, S.209.

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sehen „Elite und Demokratie" äußerten. Die meisten derjenigen Publizisten und Wissenschaftler, die in diesem Kapitel nicht zu Wort gekommen sind, erörterten diese Beziehung unter dem Gesichtspunkt der „Elitebildung", weshalb wir ihnen erst im letzten Kapitel näher begegnen werden. Hier jedoch stand die Legitimationsfunktion der Auseinandersetzungen mit dem EliteThema im Vordergrund. Diese Legitimationsfunktion wirkte in zwei verschiedene Richtungen; einmal rechtfertigte sie den Status der als „politische Elite" angesprochenen Gruppe, zum anderen verbreiterte sie die Akzeptanz der Demokratie selbst. Für beide Bewegungsrichtungen stellte die Unterscheidung zwischen Elite und Herrschender Klasse den archimedischen Punkt dar. 3.1.6 Ausbreitung und Vulgarisierung: Die politische Elite aus Sicht der Politiker Die Ideen der Intellektuellen über die Elite in der Demokratie zeigten sich als derart attraktiv, dass eine Reihe von interessierten und ambitionierten Politikern das Thema schnell aufgriff. Sie fanden in der Elite-Doxa eine neue, zusätzliche Begründung ihrer Arbeit auf dem vielfach skeptisch betrachteten Terrain der parlamentarischen Demokratie. Eine solche Rechtfertigung, die ihre Grundlage außerhalb der systemimmanenten technischen Regeln und Normen fand, erschien offenbar vor allem Politikern aus solchen politischen bzw. intellektuellen Milieus attraktiv, in denen traditionell heftige Vorbehalte gegenüber demokratischen Zielen und Verfahren bestanden. Aus diesem Grund finden sich während des Untersuchungszeitraums ausschließlich Stellungnahmen von christdemokratischen Politikern zum Thema „Elite und Demokratie". Denn gerade den Akteuren in den konservativen Teilmilieus war die politische Ordnung seit 1918 problematisch geworden, ohne dass bis 1945 neue, dauerhaft Legitimation stiftende Ordnungskonzepte gefunden worden wären. Erst die Elite-Doxa war geeignet, konservative Intellektuelle und Politiker mit der parlamentarischen Ordnung zu versöhnen. Nicht weniger als fünf Spitzenpolitiker der CDU - und als aktive Politiker, soweit zu übersehen, nur diese! - beschäftigten sich während der 1950er und frühen 60er Jahre mit dem Gegenstand „Elite und Demokratie". Weder freidemokratische noch sozialdemokratische Politiker finden sich hier. In chronologischer Reihenfolge handelt es sich um Gerhard Schröder,229) damals Bundesinnenminister, Eugen Gerstenmaier 230 ) (Bundestagspräsident), Gerhard Stoltenberg231) (Bundesvorsitzender der Jungen Union), Franz Meyers232) 229

) Schröder. Elitebildung (1955, ursprünglich Vortrag BB013). ) Gerstenmaier: Elite (1958), auch in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (12.11.1958), S. 1691/92, (13.11.1958), S. 1699-1701, auch in: Vortragsreihe des deutschen Industrieinstituts, (1958); ders.: Geistige Schicht (1957). 231 ) Gerhard Stoltenberg·. Führungsauswahl in der Demokratie, in: GWU 9.1958, S. 709-14. 232 ) Franz Meyers: Elitebildung in der freiheitlichen Demokratie als gesellschafts- und staatspolitische Aufgabe, auch in: Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts, Köln 1960. 230

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

269

(Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen) und Kurt Georg Kiesinger 233 ) (Ministerpräsident von Baden-Württemberg). Abgesehen von Stoltenberg, der als Junge-Union-Vorsitzender nicht nur der jüngste war, sondern auch dem Zentrum staatlicher und innerparteilicher Macht zu dieser Zeit am fernsten (oder besser: am wenigsten nah) stand, und dessen Beitrag den Zusammenhang zwischen Elite und Demokratie kaum problematisierte, waren alle Autoren im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts geboren, hatten ihre frühen politischen Prägungen also in der unruhigen Weimarer Republik erfahren, 234 ) bekleideten im NS-System trotz einiger Nähe (die spätere Distanz Schröders und Gerstenmaiers resultierte aus Widerstand gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik) keine Spitzenpositionen und propagierten nun Ordnungsmuster der sozialen und politischen Stabilität. Alle fünf entstammten Familien des gehobenen Bürgertums. Eine interessante Differenzierung des Sozialprofils ergibt sich erst bei der Konfessionszugehörigkeit: Schröder und Gerstenmaier, die beiden ersten, die sich an dieser Diskussion beteiligten, stellten die Führungsfiguren des protestantischen Flügels der CDU dar, während die Nachzügler Meyers und Kiesinger katholisch waren. Die nähere Analyse ihrer Beiträge wird zeigen, welche inhaltlichen Differenzierungen mit dieser Zuordnung korrespondierten. Die Berechtigung, die Stellungnahmen dieser Akteure als eine - wenn auch facettenreiche - Einheit zu untersuchen, beruht nicht allein auf deren sehr ähnlichen politischen und sozialen Positionen: Alle fünf waren ja nicht nur als Berufspolitiker aktiv in der gleichen Partei, sondern vier bekleideten höchste staatliche Ämter - zwei von ihnen auf der obersten Ebene des Bundes, zwei als Ministerpräsidenten der größten Bundesländer. Eine weitgehende Einheitlichkeit zeichnet ihre Stellungnahmen vor allem deshalb, weil sie von einer Reihe übereinstimmend geteilter politisch-ethischer Grundannahmen ausgingen, die zusammengenommen die auf den ersten Blick unsichtbar bleibende Begründungskette ihrer Elite-Konzepte bildeten. Die einzelnen Glieder dieser Kette lassen sich wie folgt umreißen: Den Ausgangspunkt bildete eine dichotome Gegenüberstellung zweier idealtypischer Ausformungen der Demokratie, der repräsentativen und der egalitären. Von diesen beiden Formen konnte jedoch nur eine als legitim angesehen werden, nämlich die repräsentative, weil nur sie die Ungleichheit der Menschen einzubeziehen in der Lage war bzw. auf Ungleichheit gründete, während die egalitäre Demokratie - der Begriff „direkte Demokratie" findet sich in den Quellen übrigens nicht, und

233

) Kurt Georg Kiesinger: Das Problem der Eliten im Ringen um die Freiheit. Vortrag vor der Poensgen-Stiftung am 17.11.1960, ACDP; ders.: Das Problem der Eliten in der Demokratie. Vortrag im Rahmen des Wintervortragsprogramms der IHK Heilbronn, A C D P (ich möchte Philipp Gassert recht herzlich danken für das freundliche Überlassen der Kopien dieser Vorträge); ders.: Eliten in der Demokratie. 234 ) Zu den generationellen Prägungen der „Kriegsjugendgeneration" der zwischen 1900 und 1910 geborenen bürgerlichen Männer vgl. Herbert: Generation, S. 31-37.

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gemeint war wohl auch eher ein von außerparlamentarischen Massenorganisationen kontrolliertes System oder aber eine Verfassung, die über keinerlei der demokratischen Kontrolle entzogene Arkanbereiche (etwa in der Außen- und Sicherheits-, vor allem der Rüstungspolitik 235 ) oder der „inneren Ordnung") verfügte - als eine zutiefst illegitime Ordnung angesehen wurde: Nicht umsonst suchten zahlreiche Autoren die soziale Genese der egalitären oder Massen-Demokratie in der Massengesellschaft, deuteten sie also im Horizont der Massen-Doxa. Während eine legitime politische Ordnung also auf Ungleichheit beruhen sollte, waren sich alle beteiligten Autoren - und zwar weit über die hier in Rede stehenden Politiker hinaus - darüber im Klaren, dass eine juristisch fixierte soziale und politische Privilegierung (etwa in Gestalt des Klassenwahlrechts) nicht mehr möglich sei; das Ausmaß des Bedauerns darüber signalisiert die Feldstärke der konservativen Verlustperspektive dieser Texte. Immerhin ist es aufschlussreich für den politisch-ideellen Horizont ihrer Autoren, dass sie es offenbar überhaupt für notwendig hielten, die Unmöglichkeit derartiger Privilegierungen eigens hervorheben. Die logische Konsequenz dieser Vorstellung, dass eine legitime politische Ordnung auf Ungleichheit basiere, eine sozial und gesetzlich verankerte politische Ungleichheit jedoch nicht zu verwirklichen sei, bestand im Insistieren auf die moralische und charakterliche Qualifikation des politischen Personals. Mit dieser Forderung korrespondierte eine Demokratie-Definition, die weniger verfahrensorientiert als wertorientiert war, mit anderen Worten: Demokratie wurde als besondere Haltung, im Wesentlichen als Verpflichtung auf das Allgemeinwohl interpretiert. Von diesem Standpunkt aus, und darin bestand in der Tat die Conclusio aller derartigen Texte, verlangte die Legitimität und die schlichte Existenz des demokratischen Systems eine Elite, die charakterlich und durch ihre (christliche) Wertbindung in der Lage wäre, oberhalb der nackten Interessenpolitik der Funktionäre von Massenorganisationen des Allgemeinwohl zu bewahren. Weil die Politiker, die diese Ansicht öffentlich artikulierten, sich selbst zu den betreffenden Werten bekannten und Qualitäten wie persönliche Durchsetzungskraft, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein unausgesprochen für sich in Anspruch nehmen konnten - derartige Anforderungen als Inhaber höchster staatlicher Ämter zu proklamieren, bedeutete ja nichts anderes als auf das erfolgreiche Durchlaufen der nach diesen Kriterien auswählenden Selektionsinstanzen zu verweisen handelte es sich bei diesen Akten der Präskription tatsächlich um Versuche der Selbstlegitimierung als Teil der politischen Wertund Charakter-Elite und in einem weiteren Sinne um eine Form der Repräsentation des politischen Systems und seiner Herrschaftsträger.

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) Man denke an die erwähnte Schrift von Winfried Martini, der die westlichen Demokratien für unfähig hielt, mit dem sowjetischen Rüstungstempo mitzuhalten, eben weil sie demokratisch verfasst waren.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

271

Interessanterweise überschrieben drei der fünf Politiker ihre Aufsätze und Vorträge (in der Tat handelte es sich überwiegend um Vorträge, die dann zum Abdruck kamen) mit dem Begriff „Elitebildung" - nämlich Gerhard Schröder: „Elitebildung und soziale Verpflichtung", Gerhard Stoltenberg: „Führungsauswahl in der Demokratie", und Franz Meyers: „Elitebildung in der freiheitlichen Demokratie als gesellschafts- und staatspolitische Aufgabe" - , obwohl sie die Frage, auf welche Weise (in welchen politischen und vorpolitischen Institutionen, aufgrund welcher Auslesekriterien usw.) sich eine politische Elite denn hervorbringen lasse, allenfalls am Rande behandelten. Den Aporien der Wert- und Charakter-Modelle mussten auch diese Autoren ausweichen, zumal ihr intellektuelles Kapital zu gering war, um aus der Auseinandersetzung mit diesen Aporien selbst neue Modelle zu entwerfen. Vielmehr kreisten die Ausführungen Schröders und der anderen vor allem um die Frage, welche Merkmale die politische Elite in der Demokratie denn auszeichneten oder auszeichnen sollten und welche soziale Gestalt dieser Elite denn nun eigen sein könnte. Eine gewisse Ausnahme bildet auch hier der junge Gerhard Stoltenberg, dessen Beitrag in wichtigen Punkten von der Diskussionsrichtung seiner Parteifreunde abwich. Alle genannten Texte waren zunächst einmal als Orientierungsangebote wie als Legitimationsversuche konzipiert. Auf dies Zielrichtungen weisen bereits die Orte ihrer Verbreitung hin: Schröder, Gerstenmaier, Meyers und Kiesinger hielten Vorträge vor Studierenden, vor allem aber vor Unternehmern, in denen sie jeweils eine intellektuelle tour d'horizon über die Ideengeschichte des Elite-Gedankens zu geben versuchten, bevor sie die Erforderlichkeit einer politischen Elite in der Demokratie proklamierten und dann diese Elite beschrieben. Schröder hielt seinen Vortrag 1955 an der Evangelischen Akademie Bad Boll vor Studierenden; Gerstenmaier 1958 vor dem Kulturkreis des BDI, Meyers 1960 vor Studierenden und Hochschullehrern (der Text wurde dann vom Deutschen Industrieinstitut vervielfältigt, ebenso wie derjenige Gerstenmaiers) und Kiesinger zu Beginn der 1960er Jahre ebenfalls anlässlich einer Immatrikulationsfeier, sowie vor der IHK Heilbronn und auf einer Veranstaltung der Poensgen-Stiftung, die sich der Weiterbildung des unternehmerischen Nachwuchses widmete. Schröders Vortrag erschien noch im gleichen Jahr in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst und wurde dort mehrfach neu aufgelegt. Damit erreichte er bei weitem den höchsten Verbreitungsgrad; von allen hier genannten Texten wurde er in der weiteren Diskussion am häufigsten zitiert. Nur Stoltenbergs Aufsatz erschien gleich in einer Zeitschrift (der GWU)\ vom Genre her schwankte er zwischen einer Sammelrezension und einem Aufruf zur Bürgerbeteiligung an der Parteiarbeit. Die anderen vier Autoren wandten sich zunächst an eine Zuhörerschaft, die eine intellektuelle Orientierung erwartete: Bei der Initiation der Studienanfänger, die die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Phänomenen, Fragestellungen und Untersuchungsmethoden noch lernen mussten, und auf Veranstaltungen

272

3. Legitimation

von Unternehmerorganisationen, die sich um die Vermittlung politisch-ideell relevanten wirtschaftsfremden (Orientierungs-)Wissens bemühten. Auf diesen Veranstaltungen waren Referenten gesucht, die einen hohen sozialen Status (der das Prestige der Veranstalter erhöhte) mit einer gewissen intellektuellen Kompetenz verbanden. Bemerkenswerterweise nahm diese intellektuelle Kompetenz der Autoren in der chronologischen Reihenfolge ihrer Stellungnahmen immer weiter ab. Während Gerhard Schröder (der immerhin als „Vordenker" des protestantischen CDU-Flügels gelten konnte) 236 ) mit seinem Aufsatz die Diskussionsrichtung über die politische Elite selbst mitbestimmen konnte, vollzog Kiesinger schließlich nur noch die innerhalb der LiterarischPolitischen Öffentlichkeit wie des Feldes der Sozialwissenschaften längst überholten Argumente nach. Diesem Gegensatz entspricht, dass Schröders Engagement in Bad Boll eine relative Nähe zum (dezidiert protestantischen Milieu im) Intellektuellen Feld verrät, während Kiesinger in seinen Ausführungen über das „Versagen" der europäischen Intellektuellen seit der Reformation (!) auch eine persönlich Distanz zu deren Universum an den Tag legte.237) Schluss- und Höhepunkt aller dieser Erörterungen war der Topos von der Notwendigkeit der Elite. Allerdings untersuchte keiner der intellektualisierenden Politiker diese Notwendigkeit im Einzelnen, etwa durch historische Fallbeispiele fehlender oder vorhandener Eliten. Die These von der Notwendigkeit der Elite blieb eine Unterstellung, und sie konnte es bleiben, solange der Deutungshorizont des Modells der Wert- und Charakter-Elite, auf den alle diese Ausführungen bezogen waren, nicht in Frage gestellt wurde. Vor allem unterließen es die konservativen Politiker, der Verbindung zwischen der Erforderlichkeit einer Elite und dem politischen System Demokratie nachzugehen; sie postulierten vielmehr diese Erforderlichkeit ganz allgemein für jede Gesellschaft. Die Demokratie stellte nur eine von vielen unterschiedlichen Ordnungen dar. Eugen Gerstenmaier etwa postulierte: „Auch der demokratische Staat braucht überlegene Führung; seine Wirtschaft, seine Wissenschaft, seine Kultur brauchen bahnbrechende Leistungen, und seine Gesellschaft muss ein gültiges Vorbild haben." 238 ) Führung, Innovation und Vorbild benötigen im Deutungshorizont des Wert- und Charakter-Modells also alle Gesellschaften, nicht nur die demokratische. Da die Funktion oder Aufgabe der Elite tatsächlich nur wenig demokratiespezifisch waren, konnten ihre Auslesemechanismen es auch nicht sein, mit anderen Worten: Für die konservativen Politiker stellten demokratische Systeme an sich noch keine geeigneten Institutionen bereit, um die Elite der

236

) Baring: Adenauer, S.297; Schwarz: Adenauer, Bd. 1 S.653. ) Kiesinger: Das Problem der Eliten im Ringen um die Freiheit, S. 10/11. Eine solche konfessionelle Zuspitzung politisch-ideeller Gegensätze wäre zu Beginn der 1950er Jahre einigermaßen auf der Höhe der Debatte gewesen; zehn Jahre später war sie es jedenfalls nicht mehr. 238 ) Gerstenmaier: Elite, S. 122 (Hervorhebung von M.R.). 237

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

273

Demokratie hervorzubringen. Bundestagspräsident Gerstenmaier verneinte ausdrücklich den Gedanken, Parlamente (wie der Bundestag) oder Parteien könnten der Elitebildung dienen, denn: „In Parlamenten ist Gleichheit Trumpf". 239 ) Die „Führungsauslese" könnte dort deswegen, so Gerstenmaier, nicht „nach Elitegesichtspunkten durchgeführt" werden. Genau wie Michael Freund (den Gerstenmaier in diesem Zusammenhang neben Fabian von Schlabrendorff und Hans Joachim Schoeps als Stichwortgeber zitierte) plädierte er für den Einbau undemokratischer Elemente in die Demokratie, weil für ihn feststand, „dass der Staat nicht nur einer gewählten, sondern einer erwählten Führerschicht bedarf". 240 ) Einzig Gerhard Schröder schrieb einige Sätze über die Aufgaben der demokratischen Elite. Vermutlich griff er dabei auf die hier schon mehrfach erwähnte Schrift von Max Graf Solms zurück, den er allerdings nicht namentlich erwähnte. (Überhaupt ist zu bemerken, dass bei den fünf Autoren die Anzahl der von ihnen angeführten Referenzautoren in umgekehrtem Verhältnis zum intellektuellen Ertrag und erst Recht zur Originalität ihrer Beiträge stand. Anders gesagt, je mehr die intellektualisierenden Politiker - besonders Meyers und Kiesinger - mit der Kenntnis des Diskussionsstandes, ablesbar an den Namen anderer Elite-Theoretiker zu glänzen versuchten, desto geringer war offenbar ihre tatsächliche Kompetenz, die intellektuellen Positionen dieser Autoren auszumachen und ihre Argumente wiederzugeben. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Franz Meyers, der ausgerechnet Otto Stammer als Vordenker der Wert- und Charakter-Elite präsentierte. 241 )) Offenbar von Solms übernahm Schröder nicht nur den Begriff der „Großraumdemokratie", sondern auch den Gedanken des „Maßhaltens" (bei Solms: „Mesotes") als Elitequalität. Maß und Verantwortung der Elite sollten nach Schröder die Massen-Demokratie davor schützen, „der Tyrannei zu verfallen". Die Eliteeigenschaften waren hier also auch auf politischem Gebiet unmittelbar aus den Vorstellungen vom Zustand der „Massen" abgeleitet. Und noch in einem weiteren Standpunkt stimmten die CDU-Politiker in ihren Elite-Konzepten mit konservativen Intellektuellen wie Michael Freund, aber auch mit wirtschaftsnahen Liberalen wie Wilhelm Röpke oder Louis Baudin überein, nämlich in dem Gedanken, dass die Elite der Gegenwart keine soziale und erst Recht keine Herrschende Klasse darstelle, sondern eine Sammlung von individuell ausgelesenen Eliteindividuen. Von dem „wertfreien" Elite-Begriff Paretos setzte sich Eugen Gerstenmaier zum Beispiel „mit Nachdruck" ab. 242 ) Machtbesitz könne, so Gerstenmaier, zur Elite nicht qualifizieren, sondern schaffe allenfalls „Prominenz", womit er einen Terminus aufgriff, dessen delegitimierende Zielrichtung uns noch beschäftigen wird. Gelange die Macht in die Hände derjenigen, die nicht durch Wertbindungen

239

) °) ) 242 ) 24

241

Gerstenmaier: Elite, S. 131/32. Gerstenmaier. Elite, S. 128. Meyers: Elitebildung, S. 13. Gerstenmaier. Elite, S. 120.

274

3. Legitimation

und Charakterqualitäten „erwählt" seien, so folge die „Herrschaft der Minderwertigen" auf dem Fuße. Der Bundestagspräsident bezog sich hier ganz offen auf das antidemokratische Hauptwerk des geistigen Kopfes der „Jungkonservativen" in der Weimarer Republik, Julius Edgar Jung. 243 ) Die „Jungkonservativen" stellten unter den Hauptströmungen der Konservativen Revolution nicht nur die intellektuell anspruchsvollste und über Milieugrenzen hinweg diskussionsfreudigste Verbindung dar, die überdies über ein ausgearbeitetes sozialpolitisches Programm (Aufhebung des gleichen Wahlrechts, Zusatzstimmen für Familienväter, Einführung einer berufsständischen Kammer) 244 ) und aufgrund ihrer engen Kontakte zum Kabinett Papen sogar über mehr als bloß räsonierende Beziehungen zur Tagespolitik verfügte, sondern zeigte sich in ihrem Konservatismus auch am stärksten dem Christentum verbunden; überdies schien sie wegen der Ermordung Jungs 1934 zunächst nicht diskreditiert. All dies machte ihre Ideen nach 1945 für demokratieskeptische konservative Politiker mit intellektuellen Ambitionen wie Gerstenmaier (der als Bundestagspräsident, Herausgeber der Wochenzeitung Christ und Welt, als Mitglied der Synode der EKD und als Autor zahlreicher Bücher und Schriften über soziale und politische Probleme in protestantischer Perspektive außerordentlich einflussreiche Positionen im Politischen, Intellektuellen und im Religiösen Feld miteinander verband und deshalb einen enorm wichtigen Akteur im Feld der Macht darstellte) nach wie vor interessant. Vor dem Hintergrund dieser politisch-ethischen Wahlverwandtschaften lehnte Gerstenmaier ausdrücklich die „wertfreien", funktionalistischen EliteKonzepte Otto Stammers und anderer (er nannte nur den Ort: das sozialdemokratische Theorie-Magazin Die neue Gesellschaft) vehement ab, vor allem wegen der „Wirklichkeitsferne der doktrinären Illusion des egalitären Denkens". 245 ) Die Ähnlichkeit der Begriffsbestimmung Gerstenmaiers mit derjenigen Schröders zeigt nicht nur das hohe Maß an Übereinstimmung über alle Nuancen hinweg, sondern vor allem die mittlerweile erreichte schlagwortartige Verdichtung der Elite-Doxa in seiner zeittypischen Ausformung der Wertund Charakter-Elite. 246 ) Und so formulierte Gerstenmaier - geradezu paradig243

) Jungs Buch „Die Herrschaft der Minderwertigen", in dem der Autor außenpolitisch ein organizistisches „Reichs"-Konzept und sozialpolitisch christlich-korporativistische Ideen einer „gegliederten" Gesellschaft propagierte (vor allem auf letztere bezog sich Gerstenmaier), war 1927 im Verlag der Deutschen Rundschau erschienen; in dieser Kulturzeitschrift erschienen auch mehrere Aufsätze Jungs. Möhler. Konservative Revolution, S. 138-42, S. 412/13. 244 ) Schildf. Konservatismus, S. 177. 245 ) Gerstenmaier. Elite, S. 122. 246 ) „Sie ist eine Minderheit, die sich gemeinsam als berufen empfindet und durch gemeinsame soziale Verantwortung gebunden weiß, die zu Leistungen von hoher Qualität befähigt und zugleich willens ist, ihre Erkenntnisse und geistigen Entscheidungen in politische Aktion umzusetzen. Diese Minderheit muss - nach den Worten des italienischen Soziologen Gaetano Mosca, dem klassischen Theoretiker des Elite-Begriffs - die Mehrheit des Wissens, des Könnens und der moralischen Kraft der Nation repräsentieren." Schröder: Elitebildung, S.9.

3.1 „Jede Demokratie braucht eine Elite!"

275

matisch für die mit der Ausbreitung der Elite-Doxa verbundene Vulgarisierung - seine Vorstellung einer Wert- und Charakter-Elite: „Sicher ist, dass die Eliten in unserer Zeit nicht auf Privilegien stehen, sondern auf Gewissenskultur und persönlicher Spitzenleistung. Das Wesentliche der Elite beruht auf der Einheit von Charakter und Leistung, von Mannesmut und Tatkraft, von Leidenschaft zur Sache und jenem Distanzgefühl, das nach der unvergesslichen Darstellung von Max Weber z.B. die Voraussetzung dafür ist, mit innerer Legitimität die Politik als Beruf zu üben." 247 )

Für die Legitimationsleistung der Elite-Doxa ist besonders der letzte Halbsatz von Belang, denn Gerstenmaier sprach hier den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Modell der Wert- und Charakter-Elite und der Legitimität eines politischen Systems an: Letzteres war nur dann gerechtfertigt, wenn diejenigen Männer (denn Gerstenmaier sprach ja von „Mannesmut"), 248 ) die in ihm die Machtpositionen besetzten, auch über jene Elitequalitäten verfügten, wie umgekehrt die Legitimität des individuellen Machtbesitzes von jenen Elitequalitäten und nicht von demokratischen Verfahren ausging. Diese Legitimitätskonstruktion beruhte auf einer Demokratie-Vorstellung, die sich nicht durch Prozeduren der Delegation und Repräsentation und durch politische Egalität auszeichnete, sondern durch Charaktermerkmale. Nicht umsonst berief sich Gerstenmaier - übrigens ebenso Kiesinger - auf ein Zitat von Eduard Spranger, wonach „Demokratie heißt, dass jeder ein Gewissen für das ganze haben soll." 249 ) Für die mit der Ausbreitung der Elite-Doxa einhergehende Vulgarisierung stellen unsere fünf beziehungsweise vier Autoren gerade deshalb besonders gute Beispiele dar, weil es sich bei ihnen eben nicht um „professionelle" Intellektuelle oder Deutungsspezialisten handelte, was zunächst einmal anzeigt, dass der Bekanntheitsgrad aller möglicher Elite-Modelle mittlerweile derart gestiegen war, dass selbst Akteure, die mit den - gelegentlich durchaus esoterischen - einschlägigen wissenschaftlichen und publizistischen Debatten nicht besonders eng vertraut waren, sich daran machten, über derartige Themen Vorträge zu halten und Aufsätze zu schreiben. Während sich der hohe Ausbreitungsgrad des Elite-Codes also daran ablesen lässt, dass hochrangige Berufspolitiker ihn öffentlich einsetzten, um die symbolischen Profite einzustreichen, die aus einer erfolgreichen, das heißt den Lesern und Zuhörern plausiblen und attraktiven Deutung der Gegenwart resultierten (und damit den Status einer „intellektuellen Kapazität" erlangten), stellt die Art und Weise seiner Verwendung durch diese intellektuellen „Amateure" gewissermaßen die Kehrseite der erfolgreichen Verbreitung dar. Die Vulgarisierung und Dogmatisierung der Elite-Doxa wird am augenfälligsten in der Auseinandersetzung mit gegenläufigen oder als häretisch wahrgenommenen oder schlicht 247

) Gerstenmaier: Elite, S. 122/23. ) Ganz ähnlich äußerte sich übrigens auch Kiesinger, nämlich mit dem Terminus „Mannesmut". Kiesinger. Eliten in der Demokratie, S.24. 249 ) Gerstenmaier: Elite, S. 122; Kiesinger: Eliten in der Demokratie, S.23. 248

276

3. Legitimation

missverstandenen Konzepten. In diesen Kontexten wird auch das oben erwähnte zeitliche Gefälle greifbar. Es wäre dabei ermüdend, die zahlreichen Topoi aufzuzählen, die Gerstenmaiers oder Kiesingers Elite-Konzepte als Produkte der konservativ gefärbten intellektuellen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre ausweisen, etwa der Topos der „Askese" (unter Verweis auf Arnold Gehlen) oder derjenige der Familie als Schutz vor der „Vermassung" oder der Gegensatz zwischen dem Elite-Individuum und dem Funktionär.250) Gerhard Schröder, der den ersten Text zum Thema verfasste, blieb noch sparsam mit autoritativen Verweisen auf Referenzautoren und erarbeitete auf noch teilweise unbestelltem Gelände sein Elite-Modell ebenso vorsichtig wie bestimmt. Seine Nachfolger verfuhren weitaus unduldsamer. Die heftige wie an dessen Argumentation vollständig vorbeigehende, nicht abwägende sondern ressentimentgeleitete Ablehnung des Ansatzes von Otto Stammer durch Eugen Gerstenmaier wurde bereits erwähnt, ebenso Franz Meyers' Missverstehen von Stammers Thesen.251) Gerhard Stoltenberg, der ambitionierte Vorsitzende der Junge Union, verfasste im Kern eine mehrseitige Max Weber-Exegese, was 1958 keineswegs originell, aber immerhin auch weitgehend frei war von intellektuellen Fehltritten. Den abschließenden Höhepunkt der Vulgarisierung erreichte dann Kurt Georg Kiesinger, der unter Verweis auf keine geringeren als Plato, Thomas von Aquin, Machiavelli, Hobbes, Montesquieu und Tocqueville dekretierte, dass man „über die Notwendigkeit der Elite" nicht streiten dürfe. 252 ) Im Weiteren reproduzierte Kiesinger dann mit zehnjähriger Verspätung die konservativen Topoi der Debatten um 1950: Die Gefahren der Auflösung traditioneller „natürlicher" Bindungen und Ordnungen, die Bedrohungen durch die egalitäre Massendemokratie, die Nivellierung der kulturellen Produktion, die religiös-ideologische Überhöhung des Kalten Krieges und so weiter. Diese intellektuellen Gegenstände präsentierte Kiesinger ganz dogmatisch, ohne den Versuch, die Gegenwart mit Hilfe derartiger Topoi tastend zu deuten - sie also als intellektuelle Werkzeuge zu gebrauchen sondern in Form feststehenden, nicht mehr hinterfragten Meinungswissens, über dessen Genese und Kontext weder informiert noch an derartigen intellektuellen Spielereien interessiert. Im Gegenteil, Kiesinger verurteilte ausdrücklich - namentlich gegen Walter Dirks - und mit schaler Ironie, als er einen semantischen Bogen von den „Intellektuellen" über die (als geistige Fähigkeit verstandene) „Intelligenz" und zu den „Intellektuellen" zurück schlug - die Ansprüche der Intel-

25n

) Gerstenmaier: Elite, S. 125/26, S. 134. ) „Otto Stammer hat die Elite im herkömmlichen Sinne als ,eine sich auf besondere soziale, geistige und sittliche Qualität berufende, in sich geschlossene, bevorrechtigte Führungsschicht in einer hierarchisch gegliederte Gesellschaft' bezeichnet." Das war nun genau diejenige Elite-Definition, die Stammer zu überwinden suchte. Meyers: Elitebildung, S. 13. 252 ) Kiesinger: Das Problem der Eliten im Ringen um die Freiheit, S. 1. 251

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

277

lektuellen auf Autonomie und Deutungshoheit. 253 ) Und so fiel auch die EliteDefinition Kiesingers im Vergleich zu derjenigen Schröders und Gerstenmaiers auf einen Diskussionsstand der späten 1940er Jahre zurück - vor der Übersetzung der Arbeiten Moscas und Burnhams, vor dem Bekanntwerden der einschlägigen Schriften Mannheims und vor dem Erscheinen der Texte Stammers und Freunds: „Nach meiner Auffassung zeichnen drei Dinge, drei Eigenschaften die Elite aus: 1. Denkendes Erfassen der Wirklichkeit, Bewusstsein also der Wirklichkeit, 2. Gefühl der Verantwortung für diese Wirklichkeit und 3. die Energie des Durchhaltens in der Verteidigung der Werte dieser Wirklichkeit." 254 ) Diese „Wirklichkeit" war für Kiesinger, das ist wenig überraschend, eine christlich wertgebundene und antimaterialistische. Kiesingers Begriffsbestimmung war ebenso allgemein wie nichtssagend und stand formal einem Dogma näher als einer Arbeitsdefinition. Auf welche Weise eine solche Elite in einer Demokratie handlungs- und wirkungsmächtig werden konnte und wie sich die Eliten in demokratischen, autoritären und totalitären Systemen voneinander unterscheiden mochten - immerhin eine der zentralen Fragen, sobald „das Problem der Eliten in der Demokratie" erörtert wurde - , ließ sich in diesem Rahmen nicht beantworten.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite Der Zusammenhang zwischen dem Nachdenken über den Gegenstand „Elite" und der Wahrnehmung oder Behauptung, einem bestimmten sozialen System mangele es in erheblichem Umfang an Legitimation, eröffnete grundsätzlich zwei mögliche Kontexte: Entweder erfüllte die existierende Elite nicht die notwendigen Eigenschaften, um ihren Aufgaben nachzukommen, oder aber es war gar keine Elite (mehr) vorhanden, sei es, dass ihr sozialer Zusammenhalt sich aufgelöst hatte, oder sei es, dass die Definition des Elite-Begriffs nicht an die Ausübung gesellschaftlicher Lenkungsfunktionen, sondern an Wertbindungen und Charakterqualitäten gebunden war und die Mitglieder der Oberklassen nicht über die gewünschten Qualitäten verfügten. Mit diesen Möglichkeiten ist gewissermaßen der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die Diskussion während der ausgehenden 1940er und frühen 50er Jahre in der Bundesrepublik entwickelte. Grundsätzlich stellte die Diagnose einer fehlenden Elite eine Form der Delegitimation des Systems dar. Die ersten eigenständigen Elite-Konzepte, die von deutschen Intellektuellen entworfen wurden, bezogen sich überwiegend auf das politische System. Die Erfahrung des „Scheiterns" der Weimarer Republik blieb in den Ausein253

) „Hier möchte ich nur bemerken, dass nach meiner bescheidenen Auffassung die Intelligenz nicht nur unter den beruflich Schreibenden sitzt, wie manche Herren zu glauben scheinen." Kiesinger: Das Problem der Eliten in der Demokratie, S.2. 254 ) Kiesinger: Das Problem der Eliten in der Demokratie, S.7.

278

3. Legitimation

andersetzungen mit den neuen politischen Realitäten stets präsent. Angesichts der oben skizzierten Ablehnung moderner „Massen"-Phänomene, wie sie sich in der Massen-Doxa verdichtet hatten, stieß die „Massendemokratie" bei zahlreichen Zeitgenossen auf Skepsis. An genau diesem Problemzusammenhang einsetzend, vermochte die Elite-Doxa dem neuen politischen System oder zumindest einigen seiner Teilbereiche einen außerordentlichen Legitimationsbonus zu verschaffen; es konnte jedoch ebenso eingesetzt werden, um zu versuchen, dieses neue System zu delegitimieren.

3.2.1 Eine antibürgerliche

Elite der

Askese

Die ersten Aufsätze zum Thema „Elite und Demokratie" erschienen in Westdeutschland noch bevor sich die politische Gestalt der zukünftigen Bundesrepublik absehen ließ. Für den Stand der Eliten-Diskussion in Deutschland sind diese Texte, deren Ausführungen zum Gegenstand „Elite" selten mehr als ein bis zwei Seiten umfassen, in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. 255 ) Zunächst einmal handelte es sich bei diesen frühen Elite-Programmen durchweg um Vorstellungen von einer Wert- und Charakter-Elite. Der Publizist Friedrich Minssen beispielsweise veröffentlichte im Januar 1947 in der Zeitschrift Der Ruf den Aufsatz „Der asketische Stil in der Politik", dessen Titel bereits auf eines der oben bezeichneten Kernbestandteile des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite verweist. 256 ) Minssen verwahrte sich eingangs zunächst einmal gegen die Einordnung des Terminus „Elite" in einen „reaktionären" Bedeutungszusammenhang (der ja, wie oben gesehen, tatsächlich vorhanden war). Stattdessen plädierte er dafür, die Elite als ein „Faktum des politischen Lebens" anzusehen - zumindest außerhalb Deutschlands! In den westlichen Ländern wie in der Sowjetunion (!) meinte er eine „Schicht von Intellektuellen und Politikern" erkennen zu können, „die nicht zusammenfällt mit Parlamenten und Parteien, die aber ihren politischen Daseinsäußerungen das Gesicht gibt". 257 ) Hier finden sich bereits die wichtigsten Bestandteile oder Vorannahmen der Elite-Doxa: Die Elite verfügt über herausgehobene soziale Positionen, doch sie übt keine Herrschaft aus, sondern sie gibt (politischen) „Daseinsäußerungen das Gesicht", indem sie ihre Gesellschaft „gültig (sie!) repräsentiert". Sie bildet damit keine sozial definierte Gruppe oder „Klasse", obwohl ihre Mitglieder aus verhältnismäßig kleinen sozialen Trägerschichten ausgelesen 255

) Allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass wegen der allgemeinen Papierknappheit die Artikel in den Kulturzeitschriften in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Durchschnitt kürzer waren als einige Jahre später. 256 ) Friedrich Minssen: Der asketische Stil in der Politik, in: Der Ruf H. 11 (1947), hier zitiert nach: Schwab-Fetisch: Der Ruf, S. 125-32. Minssen, geb. 1909, war 1936 aus politischen Gründen aus dem Schuldienst entlassen worden und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe 47. Vgl. Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften, S.336. 257 ) Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 125.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

279

werden. Auf genau diese (politische) Elite kommt es in der Gesellschaft an. Es ist durchaus bemerkenswert, dass dieses Elite-Modell Intellektuelle expressis verbis mit einschloss; bemerkenswert nicht nur, weil Minssen dies tat, sondern auch, weil er ausdrücklich den Begriff der „Intellektuellen" verwendete und nicht Termini wie „die Geistigen" oder „die kulturell führende Schicht" - damit bekannte er sich demonstrativ zum Vorbild der kritischen, demokratischen und universalistischen Intervention. Bemerkenswerterweise vertrat Minssen die Auffassung, die Elite regeneriere sich - außerhalb Deutschlands - nach dem Leistungsprinzip, und zwar „innerhalb ... meist demokratischer Spielregeln", und griff der allgemeinen EliteDiskussion in der Bundesrepublik damit um viele Jahre voraus. 258 ) Dieses Beharren auf Prinzipien der demokratischen Auslese durch Leistung unterschied Minssens Ansatz von den meisten seiner Zeitgenossen, die hinter derartigen Mechanismen ja - wie geschildert - den „Funktionär" der „Massengesellschaft" witterten. Damit markierte Minssen gewissermaßen die Sollbruchstelle zwischen Elite-Konstruktionen, wie sie zu dieser Zeit von konservativen Autoren und an den Evangelischen Akademien vertreten wurden, und eher partizipatorisch argumentierenden Diskussionskreisen im Ruf und zum Teil in den Frankfurter Heften (für die Minssen zur gleichen Zeit mehrfach Beiträge vor allem über zeitgenössische Literatur verfasste 259 )), die jedoch bis gegen Ende der 1950er Jahre innerhalb des Intellektuellen Feldes weitgehend isoliert blieben. Dieser Gegensatz wurde noch verstärkt durch die grundlegend antibürgerliche Haltung, die sich durch Minssens gesamten Text zog. Immer wieder schilderte Minssen darin die Korruption als Konstituens der bürgerlichen Gesellschaft, die nach den Misserfolgen oder Katastrophen des Wilhelminismus, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus nicht auch noch die politische Kultur des postfaschistischen Deutschlands prägen dürfe. 260 ) Bürgerliche Verhaltensweisen und Werte bezeichnete Minssen angesichts des verarmten Nachkriegsdeutschland als schlicht „unzeitgemäß" und definierte, ganz auf der Linie von Alfred Andersch und Hans Werner Richter, „die Durchsetzung des neuen Stils" als die „Aufgabe der jungen Generation". 261 ) Dieser antibürgerliche Zug war durchaus typisch für das intellektuelle Milieu, das sich um den Ruf und zum Teil auch die Frankfurter Hefte herum gruppierte, wie oben im Zusammenhang mit Friedrich Reifferscheidts Deutung des „Hindenburg-Deutschen" in den Frankfurter Heften dargelegt wurde.

258

) Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 125. ) Friedrich Minssen: Thomas Mann, in: FH 2.1947, S. 953-57; ders.: Notizen von einem Treffen junger Schriftsteller, in: FH 3.1948, S. 110-11; ders.: Die Geschlagenen und die Signatur des Ersten Weltkriegs, in: FH 4.1949, S. 1091-92. 26 °) Minssen sprach sogar vom „bürgerliche(n) Ziel persönlicher Bereicherung". Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 131. 261 ) Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 131. 259

280

3. Legitimation

Doch wäre der Eindruck falsch, es habe sich bei diesem Milieu einerseits und der konservativen Mehrheit andererseits um vollkommen voneinander getrennte Diskussionskreise mit gänzlich unterschiedlichen Denkvoraussetzungen und -zwängen gehandelt. Im Gegenteil: Minssens Darstellung war tief im zeitgenössischen Denken über das Elite-Problem verwurzelt. Dies zeigt sich sofort bei seiner Suche nach einer Lösung für das spezifisch deutsche - und da es sich um einen Beitrag im Ruf handelte, muss man wohl anfügen: das gesamtdeutsche, nicht nur das westdeutsche Eliteproblem. Minssen postulierte 1947 nämlich das Fehlen einer (politischen) Elite in Deutschland und war sich darin mit zahlreichen anderen - teilweise extrem konservativen! - Autoren einig; ebenso mit seiner zeitkritischen Diagnose des Problems: „Es handelt sich ... um politische, psychologische, völkerpsychologische Probleme - im wesentlichen aber handelt es sich doch... um eine moralische Frage."262) Diese moralische Frage präzisierte Minssen im Weiteren als den „asketische(n) Stil als Forderung".263) Und noch ein dritter Grundzug in Minssens Elite-Modell (neben der Orientierung am Konzept der Wert- und Charakter-Elite und der Verwendung des Topos vom Fehlen einer solchen Elite) zeigt sich durchaus typisch für seine Zeit, nämlich sein Mangel an konzeptioneller Durcharbeitung. Die entscheidende Frage nämlich, diejenige nach der Art und Weise, in der politische Institutionen, in erster Linie die Parlamente, nach dem Leistungsprinzip eine politische Elite der Moral und der Askese denn auslesen sollten, wurde gar nicht beantwortet, nicht einmal gestellt. Wenn aber das kaiserliche Deutschland und die Weimarer Republik an genau diesem Problem gescheitert waren - und das stand für Minssen offenbar fest - , dann hätte die Frage nach den Auslesemodi in den Mittelpunkt der intellektuellen Arbeit gerückt werden müssen. Minssen tat dies nicht, denn er konnte sich - bewusst oder unbewusst darauf - verlassen, dass derartige Fragen zu dieser Zeit nicht nur im „kritischen" Teilmilieu des Intellektuellen Feldes, sondern weit darüber hinaus noch nicht aufgeworfen wurden, eben weil es mit den vorhandenen „Denkwerkzeugen" noch nicht möglich war, sie zu beantworten. Von der Existenz einer politischen Wert- und Charakter-Elite, von ihrer Integrität, ihren Führungsfähigkeiten und -möglichkeiten, darüber bestand Einigkeit, hing das Schicksal des politischen Gemeinwesens ab. Im Januar 1947 war aus einer solchen Aussage und den daraus abgeleiteten Partizipationsansprüchen die Legitimität des politischen Systems noch nicht unmittelbar berührt, weil sich ein solches unter der Aufsicht der Besatzungsmächte noch nicht vollständig etabliert hatte. Seit der Gründung der Bundesrepublik als parlamentarischer Demokratie konnte die These vom Fehlen einer echten politischen Wert- und Charakter-Elite jedoch nur als Delegitimation des politischen Systems verstanden werden.

262

) Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 126 (Hervorhebung von M.R.). ) Minssen: Der asketische Stil in der Politik, S. 130-32.

263

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

281

3.2.2 Fehlende Elite, fehlende Legitimation Während Friedrich Minssen im Ruf oder Friedrich Reifferscheidt in den Frankfurter Heften um 1950 auf das Entstehen einer Elite von demokratischen „Avantgardisten" setzten, um die Demokratisierung Westdeutschlands voranzutreiben und ebenso die europäische Integration,264) bewegte sich der mainstream der Debatte zu dieser Zeit in eine ganz andere Richtung. Angesichts der vorherrschenden intellektuellen Rahmenbedingungen, vor allem der konservativen Dominanz im Intellektuellen Feld, der starken Stellung der Kirchen und der ideologischen Überhöhung des Kalten Krieges verband sich die Attraktivität des neuen, zunächst noch nicht präzise umrissenen Elite-Begriffs vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Umbrüche mit dem Eindruck des Fehlens einer legitimierten und gleichzeitig das System legitimierenden Gruppe von Herrschaftsträgern zu einem neuen Argumentationszusammenhang, der eine ganz andere Funktion besaß als die Forderungen nach einer Ausweitung von Partizipationschancen und einer stärkeren Verankerung von Leistungsprinzipien im Zugang zu Machtpositionen, wie Minssen, Reifferscheidt und andere aus dem linken bzw. linkskatholischen Milieu sie formulierten. Einmal mehr stellten die Tagungen der beiden Akademien Hermannsburg/ Loccum und Bad Boll sowie die Texte, die in ihrem Umfeld entstanden, wichtige Schauplätze dieser Auseinandersetzungen dar. In diesen Zusammenhang gehört zuallererst Harald von Rautenfelds „Elite"-Artikel im „Evangelischen Soziallexikon". Rautenfeld schrieb: „Gaetano Mosca und Robert Michels zeigen, dass auch die moderne Demokratie der Führung durch eine organisierte Minderheit nicht entbehren kann. (...) Es gibt gegenwärtig in der Bundesrepublik keine einheitliche Gruppe, die von der Gesamtheit als repräsentativ anerkannt wird und Autorität und Glaubwürdigkeit besitzt, da keine der konkurrierenden Spitzengruppen staatspolitischer oder sozialer Art ein verbindendes Ethos zeigt."265)

Bemerkenswert an dieser Zusammenfassung ist nicht nur die offenkundige Fehlinterpretation der Thesen Moscas und Michels', die ja in ihren Untersuchungen gerade zu dem Ergebnis kamen, dass die „organisierten Minderheiten" zwangsläufig demokratische Mechanismen aushöhlten und zur Farce werden ließen. Wichtiger als diese Missverständnisse war die Koppelung der These von der Notwendigkeit des Elite-Handelns, verdichtet im Begriff der „Führung", mit der Vorstellung vom Fehlen einer Gruppe, die sozial homogen („einheitlich") sein sollte, über Autorität verfügte und die Werte der gesamten Gesellschaft anerkannterweise zu repräsentieren beanspruchen konnte, kurz: die diese Führungsaufgaben leisten sollte. Hinter diesem Elite-Begriff hätte

264

) Vgl. auch Eugen Kogon: Deutschland von heute, in: FH 4.1949, S. 569-82, hier S.576, S. 579, S. 581/82, mit der bemerkenswerten Unterscheidung zwischen den „Führungsschichten" und der „geistigen und politischen Avantgarde". 265 ) Rautenfeld: Elite.

282

3. Legitimation

Freunds an der Theorie der Herrschenden Klasse entwickeltes Elite-Modell stehen können - nämlich die „soziale Elite", die die Eigenschaften der Wertund Charakter-Elite mit denjenigen einer Herrschenden Klasse vereinte doch erschien der Aufsatz im gleichen Jahr wie das „Soziallexikon" und deshalb zu spät, um ihn einzuarbeiten. Offensichtlich war die Vorstellung, nur eine sozial exklusive und homogene Oberschichten-Elite sei moralisch qualifiziert, notwendige Führungsaufgaben zu bewältigen, bereits zum konservativen Gemeingut geworden. In diesem Horizont konnte der Hinweis auf das Fehlen einer solchen Sozialgruppe nicht anders verstanden werden als ein Kommentar zur fehlenden Legitimität des politischen Systems der Bundesrepublik. Einen ganz ähnlichen Standpunkt hatte bereits der Loccumer Sozialreferent Karlgustav Härtung in dem Referat „Wege zu einer verantwortlichen Gesellschaft" bezogen, das er an einem prominenten Ort, nämlich im November 1951 auf der Feier zum fünfjährigen Bestehen der Evangelischen Akademie Hermannsburg/Loccum hielt. Härtung wechselte zum Ende des Jahres in die Privatwirtschaft, sein Nachfolger wurde Harald von Rautenfeld. 266 ) Zu diesem Zeitpunkt hatte die Verbitterung in der Unternehmerschaft über das Zustandekommen des Gesetzes über die Mitbestimmung in der Montanindustrie ihren Höhepunkt erreicht, und ihr Defensiverfolg im Betriebsverfassungsgesetz vom Juli 1952 war noch nicht erkämpft. Härtung artikulierte überdeutlich die Skepsis im Unternehmerlager - sein Vortrag begann mit einer Zusammenfassung der „Rotenburger Gespräche", einem Gesprächskreis innerhalb der Unternehmerschaft - gegenüber der neuen Demokratie und ihrem Personal. 267 ) Nach deren Auffassung hatte sich „in den Jahren nach dem Zusammenbruch [sie!] ... noch keine quantitativ und qualitativ ausreichende staatstragende Schicht gebildet. Sie heranzuziehen bzw. Ansätze dazu zu stärken ist daher das vordringlichste Ziel." 268 ) Die Deutung der Niederlage von 1945 als „Zusammenbruch" unterschied die Unternehmer zu dieser Zeit sicherlich nicht von der Mehrheit der Politiker, Wissenschaftler und Intellektuellen (und wohl auch nicht von der Mehrheit der Bevölkerung), und sie entspricht ziemlich genau dem zeitgenössischen Eindruck des Zusammenbruchs vieler handlungsleitender Traditionen und Ordnungen. Energischer jedoch als andere Gruppen war dort die Bildung einer „staatstragenden Schicht" (an anderen Stellen sprach Härtung auch von einer „staatsbejahenden Schicht") zur obersten Priorität erklärt worden. Damit war jedoch nicht gemeint, der neuen Demokratie mangele es an überzeugten Demokraten. Vielmehr unterschied Härtung implizit (und etwas unscharf) zwischen dem Staat einerseits und dem politischen System und der „politisch führenden Schicht" andererseits. Denn die „politische Situation" sah er „gekennzeichnet durch das Regime einer 266

) Treidel: Evangelische Akademien, S. 115. ) Karlgustav Härtung: Wege zu einer verantwortlichen Gesellschaft, in: L011, S.4-8. 268 ) Härtung: Wege zu einer verantwortlichen Gesellschaft, S.4, auch für das Folgende. 267

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

283

kleinen Clique von Experten über die große Masse". Das hätte paretianisch oder „machiavellistisch" gemeint sein können im Sinne der scheinbar vollkommen vorurteilsfreien Erkenntnis einer politisch-soziologischen Gesetzmäßigkeit, war es jedoch keineswegs: Vielmehr handelte es sich ja nach Hartungs Ansicht um einen zu überwindenden Zustand. Die Spitzenpolitiker der Bundesrepublik als „Clique" zu bezeichnen bedeutete daher nichts anderes, als ihnen die ethische Berechtigung zur Herrschaftsausübung abzusprechen. Bemerkenswerterweise verzeichnet das Protokoll keinen Widerspruch zu dieser Behauptung. Das muss nicht bedeuten, dass über diesen Punkt Konsens herrschte (es handelt sich um ein Ergebnisprotokoll), doch angesichts der Übereinstimmung zumindest des Tenors der Aussage mit Rautenfelds (der ebenfalls anwesend war) Lexikon-Artikel ist die Annahme berechtigt, dass es zu keiner Kontroverse darüber kam. Die Herrschafts-Berechtigung konnte aber nicht aus demokratischen Verfahren resultieren, sondern nur aus einer „Ordnungsidee": dem „echten Staatsbewusstsein", das sich aus der „Idee" und der „Würde des Staates" speisen sollte. 269 ) Die Träger dieses „Staatsbewusstseins" bezeichnete Härtung als die „staatstragende Elite", die sich durch „religiöse und geistige Substanz" auszeichnen müsse. Die „Wege", die Härtung zur Bildung einer solchen Elite einschlagen wollte, sollen weiter unten kartiert werden. Hier muss im Vordergrund stehen, dass seine These vom Fehlen einer „staatstragenden Elite" in der Diskussion auf breite Zustimmung stieß. Landesbischof Lilje äußerte sich auf dieser Tagung in gleicher Weise und ebenso die anwesenden Unternehmer. 270 ) Aber Härtung ging sogar noch weiter. Er stellte nämlich die Daseinsberechtigung der Bundesrepublik insgesamt in Frage. Sie sei „von den Alliierten gegründet worden mit dem Ziel, einen schwachen Staat zu bilden. Seine Abhängigkeit vom Ausland ist offensichtlich und vielleicht noch größer als man gemeinhin denkt, politisch wie wirtschaftlich. Ein solcher Staat kann schwerlich populär werden und Vertrauen erwerben. Außerdem fehlt ihm ein gewisser, den Deutschen anscheinend unentbehrlicher Glanz." 271 ) Schwäche und äußere Abhängigkeit des Staatswesens konnten in der Tradition machtstaatlichen Denkens nur eine Herabwürdigung bedeuten; dass die Bundesrepublik sogar „von den Alliierten gegründet" worden war, musste diesen Eindruck noch verstärken. „Schwäche" hatte dieser Staat auch gerade nach innen gezeigt, im dem er der „Erpressung" der Gewerkschaften in der Mitbestimmungsfrage nachgab. 272 ) 269

) Ebd., S. 5/6. ) Rundgespräch zur Frage einer verpflichtenden Gemeinschaft; Kommentar Lilje, in: L011, S. 18-21. 271 ) Härtung: Wege zu einer verantwortlichen Gesellschaft, S.5. 272 ) Von „brutaler Erpressung ... in einer Z e i t . . . in der die Staatsgewalt noch nicht gefestigt war" sprach der Generaldirektor der G H H Hermann Reusch. Selbst der eher kompromissbereite BdA-Präsident Walter Raymond nannte dies einen „Staatsstreich" der Gewerkschaften. Zitiert nach Müller: Strukturwandel, S.270, S. 169. 270

284

3. Legitimation

Es waren genau diese Argumente Hartungs, die der Hauptgeschäftsführer des BDI, Gustav Stein, 1954 in dem im populären Econ-Verlag erschienenen Buch „Unternehmer in der Politik" verwendete. Stein sah die Demokratie auf dem Weg zur „Tyrannis" und „am Ende einer ermüdeten Staatsform". 273 ) Nur eine „neue Elite", die er sich als eine „einheitliche gesellschaftliche Führungsschicht" vorstellte, konnte seiner Meinung nach die Freiheit in einem Gemeinwesen verbürgen, dessen Gefährdung er in einer geradezu hysterischen Sprache formulierte, die die sozialen Phantasmagorien und damit den Meinungshorizont des BDI-Funktionärs (und derjenigen, die er ansprach und für die er sprach) aufs Deutlichste hervortreten lassen: „Nationalsozialismus und Bolschewismus sind die folgerichtigen Fortführungen des demokratischen Prinzips, nämlich der Mehrheitsherrschaft der Masse. In Verbindung mit dem Gleichheitsprinzip führt diese Demokratie zur totalen Politisierung des Lebens. Die Demokratie ist in ihrer jakobinischen Komponente Bannerträger von Kollektivismus, Sozialismus, Mitbestimmung und wie die Formen staatlicher Knechtung alle heißen mögen."274) Stein und sein Mitautor, der Publizist Herbert Gross, beriefen sich in ihren demokratieskeptischen Ausführungen nicht auf Härtung, sondern auf die bereits zitierte konservative Programmschrift von Winfried Martini. Nichtsdestotrotz teilten sie alle die Überzeugung, dass der jungen Bundesrepublik eine echte Elite fehle, deren Existenz allein vor den Auswüchsen der Demokratie (den Unternehmern) Schutz bieten sollte (wie in der Mitbestimmungsfrage nicht geschehen) bzw. der politischen Ordnung überhaupt erst ihre Rechtfertigung zu geben vermochte, weil sich sonst die Herrschaft der Masse verwirkliche. Das Stichwort von der auf eine fehlende Elite zurückgehenden staatlichen Schwäche bildete auch den Ausgangspunkt des Bonner Staatsrechtlers Ulrich Scheuner in seinem Vortrag „Staatstragende Kräfte und soziale Mächte im demokratischen Staat", den er im Mai 1952 ebenfalls in Hermannsburg hielt.275) Die Tagung war prominent besetzt; unter anderem sprachen Hans Freyer, Bundestagspräsident Hermann Ehlers, der Hessische Kultusminister Metzger, Helmuth Thielicke sowie Landesbischof Lilje. Da es sich um eine Tagung für Journalisten handelte, wurde der Topos von der fehlenden politischen Elite hier gewissermaßen in entradikalisierter Form präsentiert, zumal die Anwesenheit prominenter Politiker eine aggressivere Formulierung verbot. Hier bestätigt sich die Beobachtung, dass auf einer Tagung für Intellektuelle, die mit den politisch-ideellen Kontroversen der Zeit vertraut sein mussten, eine weitaus größere Zensur als auf einer Unternehmertagung bestand, auf der Ressentiments und soziale Phantasmagorien weitaus offener artikuliert werden konnten. Im Übrigen zirkulierten auch auf der Mai-Tagung die konserva273

) Stein und Gross: Unternehmer, S. 174. ) Stein und Gross: Unternehmer, S. 165. 275 ) Ulrich Scheuner: Staatstragende Kräfte und soziale Mächte im demokratischen Staat, in: L013, S. 21-27. 274

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

285

tiven Gemeinplätze der 1950er Jahre: Die bedrohliche „Vermassung" (verhältnismäßig differenziert bei Freyer, 276 ) eher plump bei dem Schweizer Dürrenmatt 277 ) und dem NWDR-Redakteur Sawatzki278)), die unheilvolle Zerstörung überlieferter Ordnungen durch die Französische Revolution 279 ) oder die ideologische Überhöhung des Kalten Krieges.280) Auch Scheuner beklagte das Fehlen einer „staatstragenden Schicht" als einen der „größten Mängel der deutschen Gegenwart". 281 ) Dahinter verbarg sich für ihn das Problem des „Substanzverlustes" des Staates. Denn der Staat sollte nach Scheuners Ansicht - und diese deckte sich mit der ideologischen raison d'etre des deutschen Obrigkeitsstaates seit dem frühen 19. Jahrhundert - Uber den Parteien und den Partikularinteressen, in seinen Worten, über den „sozialen Gruppen" stehen. 282 ) Doch „was ist der Staat heute? Ein traditionelles Gefüge ist er nicht mehr. Der Staat hat heute keine größere Substanz mehr, als das Parlament darstellt. Die einzige Kraft ist die Bürokratie und es ist fraglich, ob diese die schiedsrichterliche Stellung behaupten kann." 283 ) Den Ausweg aus dieser Misere sah auch Scheuner nur in einer forcierten Elitebildung. Er äußerte sich dabei nicht weniger vage als die evangelischen Theologen und Akademiemitarbeiter, die sich eine solche von den Tagungen ihrer Akademien erhofften. Allerdings wies Scheuner zur „Bildung einer politischen Führungsschicht" - die er offensichtlich nicht von den Parteien und Parlamenten erwartete - in eine andere Richtung. „In Deutschland handelt es sich darum, einen wesentlichen Teil des deutschen Volkes nicht nur ökonomisch, sondern auch rechtlich in seine Position zu setzen. Diese Wiedereinsetzung in die alten Rechte geschieht aus einem sozialen Interesse heraus." Wie die ökonomische und rechtliche Privilegierung aussehen sollte, erläuterte Scheuner nicht (bzw. ist nicht überliefert), und die Zusammenfassung der „Aussprache" gibt ebenfalls keinen Aufschluss darüber. Vor allem das Verhältnis (oder Missverhältnis) zwischen derartigen institutionalisierten Privilegien und einer demokratischen Staatsform war wohl auch gar nicht zu klären. Letztlich musste Scheuner hier schweigen, wollte er sich nicht in Phantasmen verlieren oder 276

) Hans Freyer: Staat und Gesellschaft in den letzten hundert Jahren, in: L013, S.6-9, hier S.9. 277 ) Peter Dürrenmatt: Der Einzelne und die Politik, in: L013, S. 10-17, hier S. 11/12. 278 ) Sawatzki: Urteilsbildung als publizistische Aufgabe, in: L013, S. 30-34. 279 ) Dürrenmatr. Der Einzelne und die Politik, S. 10. 280 ) „Es geht letzten Endes im zeitgenössischen Kampf zwischen Ost und West darum, dass der Bolschewismus die Tatsache der wachsenden Verhordung des Menschen, der Zerstörung des Einzelnen als Größe der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, zur Tugend erhoben und zum System gemacht hat, während der Westen an der Freiheit der Person und am Eigenwert des Einzelnen festhalten will, ohne freilich Entscheidendes zu unternehmen, um diese Idee neu zu durchzudenken und sei als Forderung mit der Wirklichkeit zu konfrontieren." Dürrenmatt: Der Einzelne und die Politik, S. 11. 281 ) Scheuner. Staatstragende Kräfte, S.26. 282 ) Scheuner: Staatstragende Kräfte, S.26. 283 ) Scheuner. Staatstragende Kräfte, S. 25/26 (Hervorhebung im Original).

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3. Legitimation

offen der demokratischen Grundordnung den Kampf ansagen, womit der dem Boden des „Gesprächs" am Neutralen Ort der Akademie verlassen hätte. Somit blieben seine traditionell-konservativen „Weltwollungen" (Karl Mannheim) letztlich ort- und ziellos. Doch bietet Scheuner ein sprechendes Beispiel dafür, dass ein „Umdenken" in den leitenden politisch-ideellen Kategorien zu Beginn der 1950er Jahre eben noch nicht stattgefunden hatte. Das kategoriale Schema, das Scheuner (wie auch oben Härtung) hier anwendete, beruhte im Wesentlichen auf dem Gegensatz zwischen staatlicher Stärke und Schwäche. Nach außen beruhte die Stärke des Staates in seiner autonomen Position im Konzert der Mächte, nach innen zeigte sich seine Stärke in der Fähigkeit, die Interessengruppen im Zaum zu halten (wobei nur zu häufig Gewerkschaften als derartige Interessengruppen gesehen wurden, während unternehmerische Forderungen als legitim, weil der ökonomischen Notwendigkeit gehorchend, erachtet wurden). Der Staatsapparat sollte eine „schiedsrichterliche" Position oberhalb der Interessengruppen einnehmen. 2 8 4 ) In diesem Sinne war nur ein starker, gegenüber gesellschaftlichen Bewegungen autonomer Staat ein guter Staat. Die notwendige Staatsmacht beruhte in diesem Problemhorizont auf einer allein dem „Staatswohl" ergebenen Elite, der „staatstragenden Kraft". Diese Elite wiederum musste eine Wert- und Charakter-Elite sein (und keine bloße Funktionselite): wertgebunden an die „Ordnungsidee" des Staates (die, wenn möglich, christlich imprägniert sein durfte), charakterlich gefeit gegen die Bedrohungen der Vermassung und gegenüber den Versuchungen der organisierten Interessen. Die Autonomie und die Legitimation des Staates beruhten daher innerhalb dieses Deutungsrahmens auf der Existenz einer Elite. Dieser Deutungsrahmen hielt sich verhältnismäßig stabil über die Mitte der 1950er Jahre hinweg und weit über die Referenten und Teilnehmer in Hermannsburg/Loccum hinaus. 3.2.3 Historische Eliten I. Einen der umfassendsten Versuche, unter Verwendung der Elite-Doxa der neuen politischen Ordnung in Westdeutschland die Legitimation zu nehmen, unternahm 1957 die Ranke-Gesellschaft. Auf ihrer Konferenz „Führungsschicht und Elitesystem" wurde eine ganze Reihe von historischen „Eliten" präsentiert, wobei der - ausgesprochene oder unausgesprochene - Fluchtpunkt der Darstellungen jedoch in der Gegenwart lag, genauer: in der fehlenden Elite der Bundesrepublik. Diese Episode vermittelt einen Eindruck davon, welche Möglichkeiten der soziale Gebrauch historischen Wissens in Verbindung mit dem Elite-Code hinsichtlich der Legitimierung oder Delegitimierung der politischen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik während der 1950er Jahre bot. Und sie zeigt, dass selbst die Verwendung des Topos von

284

) Scheuner. Staatstragende Kräfte, S. 22-25.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

287

der fehlenden Elite die Durchsetzung der Elite-Doxa befördern half, obwohl hier ein Kernelement der Elite-Doxa in Frage gestellt wurde, dass nämlich jede Gesellschaft von einer Elite geführt oder beherrscht werde. Allerdings waren die Mitglieder der Ranke-Gesellschaft keineswegs die ersten, die diese argumentative Strategie einschlugen. Versuchen wir also, die Akteure, die historische Themen in die Elite-Diskussion trugen, ihre Positionen im Intellektuellen Feld und ihre intellektuellen Strategien, derer sie sich bedienten, zu identifizieren. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass es sich um ganz unterschiedliche Akteursgruppen handelte. Die auffälligste unter ihnen bestand aus einer Gruppe von Historikern, die den Kern der Ranke-Gesellschaft bildeten, nämlich Gustav Adolf Rein (einer ihrer Gründer, vormals Rektor der Universität Hamburg von 1933 bis 1938), Hellmuth Rössler und Günther Franz. Alle drei hatten nach 1945 wegen ihrer tiefen Integration in den Nationalsozialismus ihre Lehrstühle verloren. 285 ) In der zweiten Gruppe finden wir Kleriker, Mitarbeiter der Evangelischen Akademien und der Evangelischen Kirche sehr nahestehende Publizisten, etwa Axel Seeberg, Schriftleiter des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts. Eine dritte Gruppe bestand vorwiegend aus Unternehmern, ebenfalls zum Teil mit engen Beziehungen zu den Evangelischen Akademien. Schließlich beteiligte sich eine Reihe von Geisteswissenschaftlern an dieser Diskussion, die ebenfalls den religiösen Gehalt des Elitegedankens betonten, ohne allerdings in engerem Kontakt zu den Akademien zu stehen. Somit stellt sich die Frage, auf welche historischen Stoffe Intellektuelle der 1950er Jahre denn zurückgriffen. Im Wesentlichen waren es Motive aus zwei geschichtlichen Perioden, die als Vorbild ausgewählt wurden, wobei die unterschiedlichen Affinitäten zu jeweils einem dieser Vorbilder auch auf unterschiedliche, ja bisweilen gegensätzliche politisch-ideellen Positionen zurückgingen. Wie sich zeigen wird, war dies die logische Folge ihrer argumentativen Zielsetzung, die sie unter Zuhilfenahme des Elite-Codes verfolgten. Die weiteste Verbreitung fand die Vorstellung, dass die bedeutendste Verkörperung einer Elite sich im mittelalterlichen Mönchs- und Rittertum verkörpert habe. Die prägnanteste Formulierung hierfür fand Harald von Rautenfeld im „Evangelischen Soziallexikon" unter dem Lemma „Elite": 286 ) „Die geschichtlichen Urbilder der Elite sind das Priestertum und der Adel. Beide Gruppen zeigen, dass jede Elite unter einem strengeren Gesetz lebt als ihre Umwelt. Beim Priester die verbindliche Anerkennung eines asketischen Ideals durch das Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams. Beim Rittertum das Gesetz der kriegerischen Aufgabe, der ritterlichen Ehre und des Schutzes der Schwachen. Neben dem geistlichen und dem ritterlichen Stand gilt das Patriziat der Städte als Elite. Über die Zugehörigkeit zum Patriziat entschied nicht allein der Reichtum, sondern auch die Bereitschaft eines ehrenamtlichen

285

) Schulze: Geschichtswissenschaft, S.41, S. 126/27, S. 204/05. ) Rautenfeld: Elite, Sp. 285 (Hervorhebung im Original).

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3. Legitimation

Dienstes für das Gemeinwesen. Die ethisch bestimmten geschichtlichen Eliten waren in rechtsverbindlichen Formen auf Grund ständischer Ordnungen in ihrer realen Machtstellung gesichert. Sie lebten aber nicht nur aus der Macht, über die sie verfügten, sondern besonders aus der Autorität und Glaubwürdigkeit, die ihr freiwillig zuerkannt wurden."

Hinter Rautenfelds Definition von Rittern, Mönchen und Patriziern als „Elite" verbarg sich weit mehr als die Neuetikettierung einiger mittelalterlicher Sozialformationen; tatsächlich kommt sie der von Michael Freund so bezeichneten „sozialen Elite" sehr nahe, also dem Zusammenfallen von wirtschaftlicher, sozialer und politischer Macht mit moralischer Vorbildlichkeit und charakterlicher Auserlesenheit, mit anderen Worten, der Konzentrik von „Elite" und „Herrschender Klasse". Allerdings kann Freund nicht als Gewährsmann der „Ritter und Mönche"-Variante herangezogen werden, wie sich noch zeigen wird. Zunächst gilt es festzuhalten, dass Rautenfeld explizit („nicht allein der Reichtum"), im Wesentlichen aber implizit die klassifikatorischen Elemente einer Position im Herrschaftsverband oder der „ständischen Privilegierung" verwarf. Er machte auch keinen Verweis auf den gleichfalls im „Soziallexikon" enthaltenen ausführlichen Artikel zu „Stand". Stattdessen entwarf er eine Definition, nach der Ritter, Patrizier und Kleriker „ethisch bestimmt" gewesen seien, indem sie sich strengeren Normen unterwarfen als die Nicht-Eliten und ihr Dasein dem „ehrenamtlichen Dienst für das Gemeinwesen" widmeten. Dass diese Sozialformationen Herrschaft (und damit Zwang) ausübten, deutete Rautenfeld um, indem er die Akzeptanz betonte, mit der sich die Nicht-Eliten der Autorität der Elite unterwarfen, und indem er die Verpflichtung auf das Gemeinwohl hervorhob, die die Elite-Mitglieder auf sich nahmen, mit anderen Worten, indem er auf die Legitimität der Herrschaft dieser Elite hinwies, ohne das Wort Herrschaft selbst zu verwenden. In ihrem Wesen definierte er diese „Elite" also durch ihre ethischen Maßstäbe sowie durch die Fähigkeit, diese Maßstäbe durchzusetzen und die gesamte mittelalterliche Gesellschaft nach ihnen auszurichten. Dies war das Konzept der Wertelite, wie es von den Leitern und Mitarbeitern der Evangelischen Akademien Loccum und Bad Boll und anderen kirchlichen Persönlichkeiten wie dem hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje auf den Akademie-Tagungen und in der protestantischen Publizistik vertreten wurde, und zwar ohne wesentliche Änderungen bis weit in die 1960er Jahre hinein. In einer weiteren Schrift aus dem Umkreis der Akademie Loccum, Heinz Zahrnts „Probleme der Elitebildung" von 1955, findet sich ein ganz ähnliches „historisches Schulbeispiel", wenn auch nicht derart prägnant ausformuliert.287)

287

) Zahrnt. Elitebildung, S.8-12. Zahrnt (1915-2003), Sohn eines Bankdirektors, war Theologe, aktiv in der Kirchentagsbewegung, von 1950 bis 1975 Chefredakteur des vom hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje herausgegebenen Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes und schrieb mehrere theologische „Bestseller". Das Büchlein „Probleme der Elitebildung" erschien im evangelischen Furche-Verlag, zu dessen Gesellschaftern Eberhard Müller und - wiederum - Hanns Lilje gehörten. Sauer: Westorientierung, S.261-64.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

289

Dafür fand Zahrnt eine treffende Formulierung für die „tragende Idee" der ritterlich-monastischen Wertelite, nämlich „die Verteidigung und Mehrung des christlichen Abendlandes". 288 ) Der überkonfessionell weitverbreitete Abendland-Topos 289 ) gab diesem Modell einer Wert- und Charakter-Elite eine integrative Mitte und gleichzeitig die gegenwartsbezogene Dimension: Einerseits ließen sich mit seiner Hilfe sowohl die verschiedenen Eintelkonzeptionen mit ihrer unterschiedlichen Gewichtung der religiösen, charakterlichen, sozialen oder politischen Dimension vereinen, andererseits bildete dieser Topos auch den Schnittpunkt für unterschiedlich orientierte Intellektuelle, etwa für einen nationalkonservativen protestantischen Kleriker und einen katholischen Landeshistoriker, der die Vorzüge des Alten Reiches hervorheben wollte, wie Karl Bosl. Schließlich las sich die Glorifizierung der Verteidigung des Abendlandes während der 1950er Jahre als historische Parallele zur Verteidigung des Westens - des „Neuen Abendlandes" - gegen die sowjetische Bedrohung im Kalten Krieg. Der Verweis auf die Ritter, Mönche und Patrizier erfüllte innerhalb der Texte vor allem die Funktion, den Beweis für die historische Existenz, Gestalt und Notwendigkeit einer Elite zu erbringen, da ihr Existieren in der Gegenwart ja gerade nicht unterstellt werden konnte. Zahrnt nannte den betreffenden Abschnitt nicht umsonst ein „historisches Schulbeispiel". Gerade wegen des Fehlens der Elite stellte die bestehende Gesellschaft - die „Massenwelt" - keine sinnerfüllte und zu rechtfertigende Ordnung dar. Das Modell der Elite aus Rittern und Mönchen wurde von keinem Autor jemals problematisiert. Weder erfolgte eine räumliche noch eine chronologische Präzisierung irgendwo zwischen Früh- und Spätmittelalter, noch eine Verortung von „Tapferkeit, Treue, Barmherzigkeit und Milde" als „vornehmste Tugenden" in der mittelalterlichen Welt 290 ) und erst recht keine hermeneutische Reflexion darüber, was diese (vorgeblich mittelalterlichen) Tugendbegriffe denn in der Gegenwart der 1950er Jahre bedeuten konnten und sollten. Und auch eine Anwendung dieser Tugendbegriffe auf ein konkretes - historisches oder zeitgenössisches - Fallbeispiel unterblieb. Die Ritter und Mönche verblieben im Ungefähren, ohne dass dieses einen der Beteiligten zu stören schien. Das Signalement der Ritter und Mönche als „Urbilder der Elite" konnte sich darauf beschränken, etwas oberflächliche, aber weitverbreitete Wissensbestände und daran geknüpfte Vorstellungen einer gerechten und dauerhaften, also legitimen Ordnung abzurufen. Diese Ordnung war eine ganzheitliche, weil Macht und Moral in ihr noch nicht geteilt waren, christliche Bindung, charakterliche Vorbildlichkeit sowie soziale und politische Macht in den gleichen Händen - den „Verteidigern des Abendlandes" - vereint lagen.

288

) Zahrnt. Elitebildung, S. 9/10. ) Schildv. Abendland, S. 21-82. 29 °) Zahrnt. Elitebildung, S. 9.

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3. Legitimation

Die Koppelung des Elite-Codes an mittelalterliche Sozialformationen ist insofern bemerkenswert, als Gaetano Mosca, der Begründer der modernen Eliten-Theorie, in seinen langen historischen Exkursen, die seine Theorie der „politischen Klasse" durch den Beleg ihrer geschichtlichen Existenz und Wirksamkeit beweisen sollten, das Mittelalter fast vollkommen übergangen hatte. 291 ) „Elite" war für ihn an die Existenz von Staatlichkeit geknüpft. Und obwohl die gesamte moderne Eliten-Theorie zunächst vom Axiom „ewiger Elitenherrschaft", also der Existenz des Gegensatzes zwischen Elite und NichtElite in jeder Gesellschaft ausging, beschäftigten sich auch Sorel, Michels und Pareto kaum mit dem Mittelalter. Implizit verbanden sie die Existenz von Eliten ganz mit ihren zeitgenössischen Gesellschaften. Vor allem aber lieferte die deutsche Geschichte den „lateinischen" Autoren wenig Anschauungsmaterial für ihre Theorie, während die deutschen Autoren gezwungen waren, die Notwendigkeit und den Erfolg einer Elite, die Macht und Moral in ihren Händen vereinte, an Beispielen aus ihrer eigenen „Nationalgeschichte" zu demonstrieren, wenn sie den Elite-Code wirksam in der deutschen Diskussion verwenden wollten. Hierbei bot sich die Anknüpfung an das Alte Reich am ehesten an, zumal den völkischen Konservativen die staatliche Organisation ohnehin weniger am Herzen gelegen hatte und auch für Nationalkonservative in der Suche nach einer echten Wert- und Charakter-Elite der Rückgriff auf das Zweite Kaiserreich durch die Auswüchse des Wilhelminismus gewissermaßen versperrt blieb. 292 ) Die Koppelung, die Rautenfeld, Zahrnt und andere hier vornahmen, sollte jene zwölf Jahrhunderte zwischen dem Ende des Römischen Reiches und dem Entstehen des frühneuzeitlichen Staates, die Mosca bei der Entwicklung der Elite-Theorie nur en passant abgehandelt hatte, als eine lange Zeitspanne glücklicher Eliten-Herrschaft auf deutschem Boden darstellen. Das christliche Abendland des Mittelalters beruhte demnach auf der erfolgreichen Vereinigung feudaler Macht und christlicher Normen. Einerseits unterstrich die sichtbare Leistung der Verteidigung und Vergrößerung des Abendlandes die Notwendigkeit der Existenz einer an christliche Werte gebundenen Elite, andererseits bewies diese Darstellung die Gültigkeit der Elite-Doxa in der Geschichte und damit seine zeitliche Transponierbarkeit: Auch die Gegenwart verlangte nach „Autorität und Glaubwürdigkeit", weil mehr denn je die Probleme der Zeit (Vermassung, Vereinzelung, soziale Nivellierung, Entseelung durch die moderne Technik, Glaubens- und Moralverlust usw.) allein durch eine Macht und Moral vereinende Elite lösbar erschienen. Dies war vor allem das argumentative Anliegen von Zahrnt, der die „unheilige Trinität der modernen Welt" in Bevölkerungszunahme, Technik und Demokratie (!) bzw. im „totalitärein) Wohlfahrtsstaat des Ostens wie des Westens" verkörpert sah und nach Möglichkeiten suchte, den „Prozess der Vermassung" aufzuhalten. Als 291

) Vgl. auch Meisel: Mythus, S.92-94. ) Herbert·. Generation, S.37/38, S.45^8; Breuer: Anatomie, S.78-114.

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3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

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die aussichtsreichste erschien ihm die Bildung einer Elite, „Menschen, die anders sind als sie [die Massenwelt, M.R.], die bereit sind, ihr Geschick verantwortlich in die Hand zu nehmen." 293 ) Gleich auf den ersten Seiten seiner Schrift entwickelte Zahrnt seine Problemstellung, und das folgende ausführliche Zitat macht die letztlich unüberwindlichen konzeptionellen Schwierigkeiten deutlich, die bei der Komposition eines Begriffs der Wert- und Charakter-Elite regelmäßig auftraten (nicht umsonst lautete der Titel seiner Abhandlung ja auch „Probleme der Elitebildung"294)). Denn diese Elite sollte keine machiavellistische Machtelite darstellen, und doch durfte die Scheidung zwischen der Elite und den Inhabern der Machtpositionen nicht allzu scharf und vor allem in der Praxis nicht allzu unüberwindlich sein: „Wir bezeichnen mit ihm [dem Elite-Begriff, M.R.] die Führungsschicht eines Volkes, eines Staates, einer Gruppe, Körperschaft oder Institution, die, durch besondere geistige und sittliche Qualitäten ausgezeichnet, repräsentativ für das Ganze steht und auch über die von ihr vertretene Gruppe hinaus Verantwortung für das ganze wahrnimmt. Die Aussonderung zur Elite ist nicht sozial, sondern menschlich bedingt; sie ist nicht identisch mit irgendeiner Klasseneinteilung. Dennoch kann man nicht jeden, der sich in seiner Gruppe, Klasse oder Schicht von dem Gros abhebt, einfach deshalb schon zur Elite rechnen. Gegenüber allem unrealistischen Reden und Schwärmen von Elite muss daran festgehalten werden, dass es zum Wesen der Elite gehört, die Gesamtheit zu prägen, auf sie zu wirken, Echo zu haben, Führung und Herrschaft auszuüben. Die aristoi bedürfen des kratos, um zur aristokratia zu werden. Nun zählt gewiss nicht jeder, der die Gesamtheit prägt, der Echo hat und Führung ausübt, zur Elite (auch Prominenz prägt und hat Echo). Umgekehrt aber gehört auch nicht einer nur darum schon zur Elite, weil er sich besonders begabt zeigt und vor seinen Genossen auszeichnet. Eben aus dieser Situation entspringt ja die Problematik unseres Themas. Es geht bei dem Problem der Elitebildung nicht nur um die Frage: Wie finden und bilden wir die Menschen, die geistig und sittlich besonders qualifiziert sind, um zur Elite zu gehören? Sondern immer zugleich auch um die andere: Wie können diejenigen, die die Voraussetzungen, Elite zu sein, in sich tragen, nun auch zum Zuge kommen, dass sie Prägung, Führung und Herrschaft ausüben?" 295 )

Bei diesem Modell handelte es sich also im Wesentlichen um eine vulgarisierte und vollkommen zeittypische Variante der Unterscheidung zwischen Elite und Herrschender Klasse, wie wir sie schon bei Michael Freund kennen gelernt haben. Dabei verwendete Zahrnt eine ebenfalls zeittypische Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen der „echten" Elite einerseits und der bloßen „Prominenz" andererseits, eine Unterscheidung, auf die noch zurückzukommen sein wird. Allerdings verwies bereits der Titel von Zahrnts Schrift nicht umsonst auf die Probleme der „Elitebildung": Denn „Elite kann man nicht züchten, Eliten werden geboren". Damit sprach Zahrnt einen Problemzusammenhang an, vor dem grundsätzlich alle Wert- und Charakter-Modelle standen - wie entstehen Wert- und Charakter-Eliten, wie lässt sich diese Elitebildung för-

293

) Zahrnt: Elitebildung, S. 22/23, auch für das Folgende. ) Hervorhebung von M.R. 295 ) Zahrni: Elitebildung, S.6/7. 294

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3. Legitimation

dem? - und den die Historiker im Rahmen der „Ritter und Mönche"-Diskussion eingehend behandelten. Der Theologe Zahrnt konnte sich Elitebildung nicht ohne christliche Bindungen - ohne eine „Konfrontation mit Gott" - vorstellen.296) Um zumindest die Aussichten der Elitebildung zu verbessern, setzte Zahrnt auf die Tagungen der Evangelischen Akademien, auf denen sowohl die notwendige Kommunikation der potenziellen Eliteindividuen untereinander wie ihre Kontemplation stattfinden könnten. 297 ) Und auch Zahrnt griff sowohl den Askese-Topos als Bestandteil der Lebensführung der Elite auf, wie er die Elite durch den „Mut zur Verantwortung" und „Bereitschaft zum Handeln" definierte. 298 ) Die sozial unterschiedlichen Handlungsspielräume, die Möglichkeit, „herkulische Arbeiten zu verrichten", thematisierte er nicht, was darauf schließen lässt, dass er, genau wie fast alle Diskutanten der 1950er Jahre, mehr oder weniger explizit überhaupt nur diejenigen als mögliche Elite-Angehörige ansah, die über ein überdurchschnittliches Maß an politischer oder ökonomischer Macht verfügten. Ausdrücklich ausgenommen von diesem Elite-Konzept waren jedoch die Intellektuellen: „Was haben nicht alles jene Intellektuellen angerichtet, die nichts anderes waren und sein wollten als Intellektuelle! Sie haben kritisiert, unterwühlt und untergraben, und als der Bau dann wirklich zu schwanken begann und die Sache für sie selbst gefährlich zu werden drohte, da haben sie sich davon gemacht. Diesen unverbindlichen Intellektualismus hat Helmut Gollwitzer mit Recht als ,Weltfeind Nr. 1' bezeichnet."299) Auch Zahrnt bediente sich damit des Anti-Intellektualismus konservativer Intellektueller, die den destruktiven (linken) Intellektuellen den Mangel an aufbauender symbolischer Arbeit vorwarfen (etwa bei deren Kritik an einer durch religiöse Begriffe legitimierten sozialen Ordnung) und gleichzeitig gegenüber Politikern und Unternehmern - den Adressasten seines Elite-Konzepts - mit dem Renommee des Kennens der intellektuellen Welt, ihrer Spiele und Spielregeln auftraten (durch das Zitieren der kanonischen Autoren wie Jacob Burckhardt, Romano Guardini, Ortega y Gasset, Arnold Toynbee, Leopold von Ranke, die alle in Zahrnts Büchlein auftauchen, und Nennen der aktuellen Problemstellungen, Thesen und Topiken), um ihnen Vorschriften über „die Lebensführung der Elite" zu machen, um eine bestimmte Privilegienstruktur als legitime soziale Ordnung durch den Appell an ein vorbildliches Verhalten der Privilegierten zu bewahren oder zu errichten. Die wichtigsten dieser Problemstellungen (Gefahr der Vermassung), Thesen (Notwendigkeit der Elitebildung) und Topiken (Ritter und Mönche als Urbilder der Elite) kulminierten auch bei Zahrnt in der Konstruktion einer Elite christlicher

296

) ) 298 ) 299 ) 297

Zahrnt: Zahrnv. Zahrnt: Zahrnt:

Elitebildung, Elitebildung, Elitebildung, Elitebildung,

S. 30. S. 32-34. S. 38-43. S.42.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

293

Wertbindungen und großbürgerlicher Handlungsrationalität.300) Dies war eine großbürgerlich-christliche Wert- und Charakter-Elite, und sie verfügte über politische und wirtschaftliche Macht oder sollte über diese verfügen, ohne eine Herrschende Klasse darzustellen. II. Ihren Höhepunkt fand die Verwendung historischer Motive und Thematiken innerhalb der Eliten-Diskussion während der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, als sich der auf Wertbindungen und Charakterqualitäten festgelegte Elite-Begriff herauskristallisiert hatte und hinreichend verbreitet worden war. Den Auftakt machte die erwähnte Konferenz der Ranke-Gesellschaft im Jahr 1957. Der Tagungsband versammelte insgesamt 13 Texte von elf Autoren. Keineswegs alle von ihnen versuchten, ihren Gegenstand unter dem Elite-Begriff zu subsumieren. Walter Hubatsch etwa blieb ausgerechnet in der Erörterung des Zusammenhangs zwischen dem Elite-Begriff und dem „Ordensgedanke" außerordentlich skeptisch, „ob die Voraussetzung für eine echte Elitebildung, der Erwähltheitsglaube, christliche Voraussetzungen hat" 301 ) - für Autoren wie Zahrnt oder Jordan war das, wie wir gesehen haben, gar keine Frage. Hubatsch hingegen kam zu dem Schluss, dass „die christliche Lehre ... der Elitebildung keinen Vorschub (hat) leisten können." 302 ) Nikolaus von Preradovich kam mit seiner Darstellung der „politischen und militärischen Führungsschichten in Österreich und Preußen während des 19. Jahrhunderts" ganz ohne den Elite-Begriff aus. Bei anderen Autoren wie Hermann Mitgau oder Karl Demeter tauchte der Elite-Begriff zwar auf, spielte aber keine analytische oder irgendwie das Thema aufschließende Rolle. Dies resultierte jedoch weniger aus einer dezidierten Ablehnung des Begriffs als vielmehr aus dem methodischen wie dem politisch-ideellen Konservatismus derjenigen Historiker, die mit dem neuen Elite-Konzept außerhalb von im engeren Sinne politischen Zielsetzungen empirisch nichts anzufangen wussten. Referenten, die der Ranke-Gesellschaft angehörten, verwendeten den Elite-Begriff hingegen durchaus offensiv, sowohl wissenschaftlich als auch zeitkritisch. Sie verfolgten dabei ausdrücklich ein in die Öffentlichkeit gerichtetes politisch-ideelles Programm, nicht zuletzt, weil ihre akademischen Laufbahnen nach 1945 abgebrochen waren. Am aufschlussreichsten in dieser Hinsicht ist vielleicht der Beitrag von Günther Franz über die elitebildende Kraft des Parlamentarismus.303) Kon30

°) „Der Elitemensch hingegen fragt nicht nach dem, was er möchte, sondern nach dem, was nötig ist, und eben damit schafft er die Verantwortung für das Wohlbefinden anderer." Weitere Merkmale: „Hervorragende berufliche Fähigkeiten", die Bereitschaft, „herkulische Arbeiten zu verrichten und für die anderen die Augiasställe auszumisten", „Mut zum Risiko", „Verzicht auf Sicherung". Zahrnt: Elitebildung, S. 40-43. Zum großbürgerlichen Habitus vgl. Reitmayer: ,Bürgerlichkeit'; Hartmann: Klassenspezifischer Habitus, S. 184201. 301 ) Hubatsch: Ordensgedanke, S. 17-24, hier S. 17. 302 ) Hubatsch: Ordensgedanke, S.24. 303 ) Franz: Parlamentarismus, S. 85-99.

294

3. Legitimation

zeptionell stützte Franz sich auf die „Analytische Gesellungslehre" von Max Graf Solms und deren umfangreiches Kapitel über Wert- und Charakter-Eliten. Zum Kernbestand seines Elite-Konzepts machte Franz dabei ausgerechnet das „Märtyrertum", das Vertreten von „politischen Ansichten ohne Rücksicht auf die persönlichen Folgen". 3 0 4 ) Diese Definition passte nun sicherlich besser auf die nationalsozialistischen „Weltanschauungseliten" 305 ) und auf die Verklärung des eigenen Karriereknicks als auf die Analyse von Entscheidungsträgern in demokratischen Systemen. Mittels dieser Definition präsentierte Franz Parlamentarier zwischen den „Demagogenverfolgungen" des Vormärz, der SPD zur Zeit des Sozialistengesetzes und der nationalsozialistischen Verfolgungen nach 1933 gewissermaßen als „Märtyrer-Elite". Im nachfolgenden empirischen Teil, der ein Sozialprofil dieser Gruppen zu entwerfen versuchte, spielt der Elite-Begriff hingegen kaum eine Rolle. Erst zum Schluss des Textes gelangte Franz zum Tagungsthema zurück und formulierte hier die bemerkenswerte These, dass auch „die N S D A P ein Elitebewusstsein [gehabt] hat." 3 0 6 ) Dieses Elitebewusstsein habe sich auf Bewährung im Kampf, Überlegenheitsanspruch und planvolle Nachwuchsrekrutierung gestützt. Das war natürlich eine Provokation, für die Anhänger demokratischer Elite-Modelle der Stammer-Schule ohnehin, aber auch für die Propagandisten einer christlichen Wertelite, und schließlich ist daran zu erinnern, dass die in den 1950er Jahren zirkulierenden Kriterienkataloge für die Elite-Zugehörigkeit teilweise ausdrücklich, zumeist wenigstens implizit als Gegenentwurf zu dem Bild, das zu dieser Zeit von der NSDAP, der SA oder der SS vorherrschte, entwickelt worden waren. Im Horizont der Professoren, deren nach 1933 sehr erfolgreiche akademische Karrieren 1945 abgebrochen waren, deren politisches Kapital mit dem Ende des Nationalsozialismus radikal entwertet worden war bzw. sich in ein Negativ-Kapital verwandelt hatte, lag es dagegen nahe, den Elite-Begriff auf die Herrschaftsträger desjenigen Systems anzuwenden, dem sie ihre großen beruflichen Erfolge verdankten. Dieser gleichsam politische Wille setzte sich sogar über Franz' eigenen Kriterienkatalog hinweg, der nämlich im Kern aus Tradition, einem Leitbild (das bei den nationalsozialistischen Funktions- und Herrschaftsträgern zweifellos vorhanden war, wie bei der „Generation des Unbedingten" im Reichssicherheitshauptamt) 3 0 7 ), Verantwortungsbewusstsein und Allgemeinwohlorientierung bestand, sich formal also durchaus in Übereinstimmung mit dem intellektuellen mainstream dieser Jahre befand. Die Tatsache, dass der politische Impuls so offen die Oberhand gegenüber den konzeptionellen Fragen gewinnen konnte, zeigt nicht nur, wie attraktiv der Elite-Begriff gerade wegen seiner konzeptionellen Unschärfe besonders im politisch-polemischen Gebrauch war, sondern 304

) Franz: Parlamentarismus, S. 85.

305

) Herbert: Best; Raphael·. Radikales Ordnungsdenken. 306) Franz'. Parlamentarismus, S. 94. 307

) Wildf. Generation.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

295

zunächst, dass es sich bei diesem Beitrag eines Gelehrten zu einer geschichtswissenschaftlichen Tagung in Wahrheit um eine zeitkritische, politisch-polemische Stellungnahme handelte. Die letzten Zweifel an einer solchen Feststellung räumt Franz' Schlusspassage aus, in der er feststellte: „Zweifellos fehlen der parlamentarischen Führungsschicht in Deutschland, so lässt sich abschließend sagen, noch wesentliche Merkmale einer echten Elite. So bleibt die Aufgabe der Herausbildung einer verantwortungtragenden Führungsschicht, einer Schicht, die den Staat bejaht, ihn als ihren Staat empfindet und sich im Dienst der Allgemeinheit verantwortlich fühlt." 308 ) Mit diesem statement hatte Franz gewissermaßen die Katze aus dem politischen Sack gelassen: Der Nationalsozialismus hatte eine Elite besessen, die Bundesrepublik besaß keine. Im Horizont der Elite-Doxa, die die Existenz einer Elite zur unabdingbaren Notwendigkeit einer legitimen sozialen und politischen Ordnung erhoben hatte, stand das nationalsozialistische Deutschland damit in seiner Legitimationsgrundlage über der Bundesrepublik. Im Vergleich zu dieser politischen Eindeutigkeit erscheinen die beiden Beiträge von Hellmuth Rössler eher oszillierend. Rössler bearbeitete den Jesuiten-Orden als Elite-Organisation, und er schrieb die Zusammenfassung der Tagung. Der Aufsatz über die Societas Jesu war von einer tiefen Aufklärungskritik durchzogen. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen zeitgenössischen Autoren, die den Elite-Begriff in der Darstellung eines bestimmten Themas lediglich in der Einleitung und der Zusammenfassung einsetzten und ansonsten, unbelastet von analytischen Erwägungen oder Problemen der Semantik ihr darstellendes Material ausbreiteten, nahm der Elite-Begriff in der Erörterung allerdings eine Schlüsselstellung für die gesamte Argumentation ein. Rössler verwendete den Elite-Begriff den gesamten Text hindurch in gegenwartskritischer Absicht. Den Ausgangspunkt seiner Argumentationskette bildete die Parallelisierung des 16. mit dem 20. Jahrhundert, besonders „in den Zeiterscheinungen des Materialismus und des Sexualismus." 309 ) Damit griff er zwei populäre Gegenstände der westdeutschen Zeitkritik auf, man denke nur an die erwähnte intellektuelle Einheitsfront gegen den materialistischen Konsumismus der Westdeutschen im Wirtschaftswunder, oder an Helmut Schelskys großen Verkaufserfolg „Soziologie der Sexualität" (Band 2 von „rowohlts deutsche enzyklopädie"), die von einem tiefen gegenaufklärerischen Impuls getrieben war. 310 ) Gleiches gilt für die Anklage des „Lebens ohne innere Mitte", wie oben dargestellt ebenfalls ein Topos konservativer Publizistik nach 1945. Das antiaufklärerische Moment in Rösslers Text ging jedoch noch viel weiter; es stellte sogar den Kern seines intellektuellen Anliegens dar. Rössler sah den Sinn und das Ziel des Ordens im Versuch der Wiederherstellung der Einheit 308

) Franz'· Parlamentarismus, S.96. ) Rössler: Societas Jesu, S. 28/29. 310 ) Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 647-51. 309

296

3. Legitimation

des Abendlandes. 311 ) Diese Einheit sei institutionell bedroht von der Tendenz zum Entstehen von Nationalkirchen und moralisch vom Sittenverfall der „Führungsschicht". Die Leistung des Ignatius bestand demnach in der Bildung einer zahlenmäßig kleinen, wertgebundenen „Elite" als Gegenentwurf zur weiteren und teilweise korrumpierten „Führungsschicht". Im Zentrum dieses Gedankens stand die Vorstellung der sinnerfüllten Einheit (hier: des Abendlandes), genauer, der Einheit als einzigem sinnerfüllten Ordnungszustand. Pluralismus konnte in diesem Denken nur den Charakter der Zersetzung annehmen, wie es Aufklärung und Säkularisierung nach Rössler getan hatten, bemerkenswerterweise jedoch nicht die Reformation, deren die kirchliche Einheit des Abendlandes auflösende Wirkung Rössler gerade herunter zu spielen suchte. 312 ) Nicht den (deutschen) Protestantismus wollte Rössler offensichtlich angreifen, sondern die Aufklärung, die Renaissance („der humanistisch-geistig denkende Renaissance-Mensch" war für Rössler ein „geistig zersetzte^] Mensch") 313 ) und den (liberalen) Nationalismus. Dass letzterer die Einheit des Abendlandes untergraben musste, ist leicht einsichtig; es überrascht jedoch auf den ersten Blick, dass Rössler zwar diesen Nationalismus angriff, nicht jedoch den Protestantismus - immerhin stellte für ihn die Einheit des Abendlandes eine kirchliche Einheit dar. Katholische Historiker, etwa Karl Bosl, taten sich da leichter. Rössler jedoch dachte hier nicht in katholischen Kategorien, sondern in völkischen, beziehungsweise er verlängerte die völkischen Vorstellungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die jedenfalls in Ordnungen jenseits des Nationalstaats gedacht waren (nämlich in solchen der Rasse oder des meta-nationalstaatlichen Volkes, worauf schon Hannah Arendt aufmerksam gemacht hat), 314 ) nach rückwärts in die Geschichte des 16. Jahrhunderts. Den Nationalstaat als negativen Bezugspunkt zu wählen, das stellte für Rössler offenbar auch nach 1945 eine sinnvolle Option dar, weil nicht die nationalistischen Exzesse des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sein Missfallen erregten, sondern die Funktion des Nationalismus als Ferment der Auflösung übergreifender Ordnungen. Den Elite-Begriff definierte Rössler in diesem Aufsatz nicht, und er unterschied sich auch von den üblichen Wert- und Charakter-Modellen nur in einem wesentlichen Punkt: Propagandisten einer Wert- und Charakter-Elite verfochten den Gedanken der Bindung der Elite an ein Ideal, Rössler hingegen übersteigerte diese Idee zu einem Freund-Feind-Gegensatz: Das „Leben ohne innere Mitte", „Materialismus und Sexualismus" bildeten laut Rössler für Ignatius ein „Gegenbild",315) „Dieses Gegenbild ist wesentlich für die Bildung einer Elite. Wenn die Bildung einer Elite ein Ideal voraussetzt, so erlangt

3U

) ) 313 ) 314 ) 315 ) 312

Rössler: Rössler: Rössler: Arendt: Rössler:

Societas Jesu, S.30. Societas Jesu, S. 30. Societas Jesu, S.29. Elemente, S.366-90, S.401-21. Societas Jesu, S.29 (Hervorhebung im Original).

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

297

dieses erst volle Deutlichkeit, indem man das Gegenteil des Ideals, dessen Gegner, deutlich macht." Mit einem dichotomen Weltbild versehen 316 ) und einer antipluralistischen Aufgabe betraut, so zeichnete Rössler das Bild der historischen Elite der Jesuiten. Damit radikalisierte er seine zwei Jahre zuvor in der evangelischen Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft veröffentlichten Überlegungen, die zwar ebenfalls deutlich antidemokratisch ausgerichtet waren, jedoch noch gewisse Konzessionen an den protestantisch-konservativen, aber noch im weitesten Sinne reformbereiten Erörterungszusammenhang machten, in dem die Zeitschrift stand (etwa durch den Verzicht durch die Betonung des Freund-Feind-Schemas). In der Zusammenfassung der Tagung ging Rössler auf die oben erwähnten eher skeptischen Stimmen zur Verwendung des Elite-Begriffs nicht ein. Stattdessen lieferte er eine kompakte Verdichtung der gängigen Elemente einer Wert- und Charakter-Elite, 317 ) wobei er das Freund-Feind-Schema - also seinen eigenen Beitrag zur Diskussion - noch einmal wiederholte. Es ist jedoch müßig, auf die einzelnen Bestandteile seiner Begriffsbestimmung (Eliteideal, Aufgabe und „Gegenbild" der Elite, Erwähltheit der Eliteindividuen usw.) ausführlich einzugehen. Nur zwei Merkmale sind hier wirklich bemerkenswert: Zum einen die Ambivalenz, mit der Rössler selbst dem Elite-Begriff gegenüber stand. Denn schon das Phänomen der Elite an sich stand für ihn im Zeichen einer Verlustperspektive, als er, nicht zufällig unter Berufung auf Oswald Spengler, feststellte, dass „die Elite die große Persönlichkeit ersetzt". 318 ) Die Ablösung des Führers durch die Elite - eine Idee, die für zahlreiche deutsche Intellektuelle und Wissenschaftler, aber auch für Unternehmer einen Moment ihrer eigenen Umorientierung (von der Führer- zur Elite-Doxa und mittelfristig auch zur Akzeptanz der Demokratie) darstellte - verwandelte Rössler in einen historischen Prozess des Niedergangs, weil schon die Begründer einer Elite „meist keine überragenden Persönlichkeiten" gewesen seien. 319 ) Und zum anderen ist hervorzuheben, dass in Rösslers einige Beispiele gebenden Aufzählung von Elite-Gruppen (hoher und niederer Klerus, Beamte, Offiziere und Gelehrte) keine Parlamentarier, übrigens auch keine Unternehmer auftauchten. Den wichtigsten Repräsentanten der neuen Ordnung Westdeutschlands fehlte also auch in den Augen Rösslers die Legitimität des EliteStatus. Wissenschaftler wie Günther Franz und Hellmuth Rössler verwendeten den Elite-Begriff offensichtlich zur Delegitimierung der neuen demokratischen Ordnung in Westdeutschland. Ihr biographischer Hintergrund als depravierte

316

) Diesen Gedankengang wiederholte Rössler auch in seiner Zusammenfassung der Tagung. Rössler. Elite, S. 137. 317 ) Rössler: Elite, S. 136-43. 318 ) Rössler: Elite, S. 138. 319 ) Rössler: Elite, S. 139.

298

3. Legitimation

Hochschullehrer mit völkischer Vergangenheit prädestinierte sie geradezu dafür, das Elite-Thema aufzugreifen und in dieser politisch-ideellen Richtung einzusetzen. Wie die Autoren der linksbürgerlichen intellektuellen Milieus um die Zeitschriften Der Ruf und die Frankfurter Hefte entwarfen die vormals dem NS nahestehenden Historiker (und wie sich zeigen wird, auch einige hochkonservative, in der Bundesrepublik sehr einflussreiche Gelehrte) EliteKonzepte, die dazu angetan waren, der neuen politischen Ordnung die Legitimation abzusprechen. Doch anders als bei den erstgenannten Gruppen, anders auch als bei den Liberalen um die Zeitschriften Die Wandlung und Die Gegenwart und als im gemäßigt konservativen mainstream im Intellektuellen Feld zeigte sich die Verwendung des Elite-Begriffs durch die Ranke-Historiker nicht als Folge und Resultat eines mehr oder minder tiefgreifenden politisch-ideellen Neuorientierungsprozesses unter dem Eindruck der Niederlage 1945 und der nationalsozialistischen Verbrechen. Vielmehr erscheint der Elite-Code bei ihnen als ein reines politisch-polemisches Instrument zur Verurteilung der ihnen illegitim erscheinenden politischen Ordnung. Dass sie bei diesem Projekt ihre unbestreitbare professionelle Kompetenz als Historiker einsetzen konnten, verschaffte ihrem Tagungsband den Einzug in zahlreiche Literaturverzeichnisse zum Elite-Thema, auch wenn ihr politisches Anliegen dabei selten aufgegriffen wurde. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre hatte die Resonanz für eine derartige Fundamentalkritik spürbar abgenommen. Von dauerhafter Wirkung zeigte sich dagegen der Versuch des professionell geführten Nachweises, dass Eliten schon immer in der (deutschen) Geschichte existiert und ihre Prägekraft entwickelt hatten. Mit anderen Worten: Langfristig mindestens ebenso erfolgreich wie die Verwendung historischen Materials in der Diskussion über den Elite-Begriff erwies sich die Einführung des EliteCodes in die westdeutsche Historiographie. 3.2.4 Elite und

Prominenz

Aus allen Modellen einer Wert- und Charakter-Elite folgte mit Notwendigkeit die Unterscheidung zwischen „echter" und „unechter" Elite aller derjenigen sozial exponierten Menschen, die in den Augen der Betrachter die falschen Werte und Charaktermerkmale verkörperten, zumal in einer hochausdifferenzierten Gesellschaft eine Vielzahl von Handlungszielen existiert. Zweifellos konnte während des Untersuchungszeitraums unter den Intellektuellen, Wissenschaftlern und Politikern keine vollständige Übereinstimmung über die Maßstäbe der Zuordnung zur Elite, das heißt über die relevanten Werte und Charaktermerkmale gefunden werden, und das derart definierte „Meinungsphänomen" 3 2 0 ) „Elite" ließ sich empirisch nicht überprüfen. Der Gegensatz zwischen „Elite" und „Prominenz", dem hier nachgegangen werden soll, be-

320

) De Saint Martin: Adel, S. 11.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

299

ruhte jedoch weniger auf der Frage, welche Kriterien ausschlaggebend für den Elite-Status sein sollten - darüber bestand nämlich weitgehend Einigkeit als vielmehr darauf, wer denn ermächtigt sei, über diesen Status zu befinden. Besonders tief verwurzelt war er offenbar in den Feldern kultureller Produktion mit ihrem Dualismus von der Anerkennung durch die wenigen wahren Kenner und den großen Verkaufserfolgen beim breiten Publikum, von Kunst und Erfolg, von l'art pour l'art und Massengeschmack. 321 ) Auch Theodor W. Adorno, dem elitistisches Denken nicht fremd war, sprach ganz selbstverständlich vom „Kulturbetrieb von Prominenz, Erfolg und Prestige marktmäßiger Erzeugnisse", der „die Neutralisierung geistiger Gebilde zu Gütern weiterbefördert". 3 2 2 ) Der genetische Zusammenhang zwischen der Elite- und der Massen-Doxa wird an diesem Problem sichtbar wie selten sonst. Kein anderer Autor hat den Gegensatz zwischen Elite und Prominenz freilich derart formvollendet formuliert wie Friedrich Sieburg; und bei keinem anderen werden die Widersprüche des zeitgenössischen Elite-Begriffs der Publizistik so deutlich offenbar wie bei ihm. Kein anderer hat sich auch so ausführlich und wiederholt zu diesem Thema geäußert. Als Sieburg 1954 in einem der ganz wenigen Zeitungsartikel, die sich explizit mit dem Gegenstand „Elite" auseinander setzten, die Entwicklung „von der Elite zur Prominenz" nachzeichnete, 323 ) da verdichtete er die zeitgenössischen sozialen Phantasmagorien und Topoi über die Ordnung (und Unordnung) der Nachkriegsgesellschaft in stilistisch meisterhafter Weise - neun Jahre später war in seinem fast gleichlautenden Aufsatz in der Universitas324) an die Stelle der Leichtigkeit dieser Brillanz der Duktus eines säuerlich-lamentierenden, intellektuell lernunwilligen Konservatismus getreten. Schon der Umstand, dass ein prominenter Autor an renommierten Orten mit größerem Abstand Texte über das gleiche Thema publizierte, rechtfertigt eine genauere Analyse dieser Beiträge. Den Ausgangspunkt seines Artikels für die Zeit bildete Sieburgs intellektuelles Unbehangen angesichts der Unmöglichkeit, sein eigenes Meinungswissen über die Elite mit der soeben erschienenen Untersuchung seines Kollegen aus der Redaktion der Gegenwart, Michael Freund, auf den er mehrfach hinwies, zu vereinbaren. Der vorkritische Elite-Begriff Sieburgs, den er persönlich in seiner Zeit vor der Lektüre von Freunds Arbeit ansiedelte, nährte sich ganz einfach aus dem Selbstwertgefühl des „Gebildeten", der von der Macht 321

) Vgl. Bourdieu: Regeln, S. 187-289. ) Adorno·. Essay, S.12. Wesentlich differenzierter, doch mit ähnlichen Vorbehalten, nämlich der Gegenüberstellung der „Berufsprominenz" aus ,,berühmte[n] Persönlichkeiten der internen Öffentlichkeit" und den „professional celebrities" der „Stars", argumentierte auch Linz: Prominenz, S. 26-39. 323 ) Friedrich Sieburg: Von der Elite zur Prominenz, in: Die Zeit, 9. Jg. Nr. 26 (24.6.1954), S.3. 324 ) Friedrich Sieburg: Elite und Prominenz in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas 18.1963, S. 837-46. 322

300

3. Legitimation

ausgeschlossen bleibt, doch um seine durch Bildung und moralische Integrität verbürgte Überlegenheit weiß. Eine solche Vorstellung von Elite konnte dem - von Sieburg bewunderten! 325 ) - kalten Blick des Analytikers der Politik und der Gesellschaft (und mit diesem Gestus trat Freund ja auf) nicht standhalten: Eine Elite ohne Macht war nicht mehr denkbar. Das bedeutete aber keineswegs, dass Sieburg seinen nun gewonnenen Elite-Begriff unmittelbar an den Besitz politischen und ökonomischen Kapitals gebunden hätte. Macht allein genügte zur Qualifikation keineswegs; hier folgte Sieburg, ohne die Begriffe zu nennen, Freunds Unterscheidung zwischen „Elite" und „Herrschender Klasse". Sondern, und auch dies war ein Gedanke Freunds, Elite beruhte für Sieburg auf einer „Auslese" (was er durch Wiederholung hervorhob), und zwar nach „Begabung" und „Einsicht", eine Elite der Weisheit also. Eine solche Elite der Weisen und Mächtigen (die Nähe zu den Philosophenkönigen Piatons liegt auf der Hand) existierte für Sieburg in Westdeutschland jedoch nicht, und das trennte die Ansichten der beiden Herausgeber der Gegenwart. Sieburg sah die Gesellschaft eben auf dem Abstieg „von der Elite zur Prominenz". Das war nur die konsequente Folge seiner Zeitdiagnose, die im Wesentlichen aus den vertrauten Topoi der Nivellierung, Massengesellschaft und des Persönlichkeitsverlusts des Individuums bestand. In dieser Gesellschaft erfüllt die Prominenz „den Drang der Massen ,nach dem Höheren', ohne dass dieses Höhere eine Realität bildete und dadurch das wahre Machtgefügte durcheinander brächte." 326 ) Die Prominenz symbolisierte für Sieburg das Negativbild zur echten Elite: „Die Prominenz hat eine große Stellung, aber sie hat nichts zu sagen. Mit der Elite ist es umgekehrt." Prominenz kommt „nicht durch Auslese, sondern durch Beifall zustande." Im Horizont der Massen-Doxa konnte die Zustimmung der „Vielen" gerade nicht zur Elite qualifizieren; im Gegenteil, dies war geradezu ein Indikator für illegitime Wertschätzung, für Prominenz eben. Den „Inbegriff" dieser Prominenz stellten für ihn Schauspieler dar; konkret nannte er Ingrid Bergman und Tyrone Power. Nur durch die Bewunderung für diese Idole erscheine den entindividualisierten Massenmenschen das Dasein erträglich. Ausdrücklich hielt er dagegen fest, dass sich Bundeskanzler Adenauer - der sich und seinen Politikstil öffentlich immerhin sehr wirksam zu inszenieren pflegte - sich nicht zur Prominenz eigne, „weil sein Lebensstil unauffällig ist und nicht zur Träumerei einlädt". Das Bedürfnis des Publikums nach Verehrung beliebiger Idole machten sich jedoch die wirklichen Machthaber - bei Sieburg blieb völlig im Dunklen, um welch clandestine Gesellschaft es sich dabei handeln sollte - zu Nutze, um von

325

) „Das sagt dieser grausame Denker so einfach hin, obwohl er mein Freund ist und wissen müsste, dass er mich damit aus allen meinen Illusionen vertreibt." Sieburg: Von der Elite zur Prominenz. 326 ) Sieburg: Von der Elite zur Prominenz.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

301

der bestehenden Machtverteilung abzulenken. 327 ) Bemerkenswerterweise unternahm er keinerlei Anstrengungen, um die „Träger der effektiven Macht" ausfindig zu machen, und er nahm hierfür auch keinerlei Hilfe in Anspruch. Trotz der positiven Bezugnahme auf Michael Freund und auf die machiavellistischen Elite-Theoretiker Mosca, Pareto, Michels und Burnham an anderer Stelle übernahm Sieburg deren Konzeptionen nicht, weil sie auf seine intellektuellen „Bedürfnisse... wenig Rücksicht" nähmen. Am Ende blieb Sieburg bei seinem „vorkritischen", aus Meinungswissen bestehenden Elite-Begriff einer reinen Wert- und Charakter-Elite und nahm dabei in Kauf, dass die nüchterne Lokalisierung eines solchen Aggregats „in der modernen Massengesellschaft" recht „heikel", tatsächlich ganz im Ungefähren bleiben musste. Über die Inkohärenz seiner Modellbildung ging Sieburg mit leichten Sätzen hinweg - die stilistische Brillanz der gehobenen Publizistik (eine besondere Form intellektuellen Kapitals ihrer Urheber) bestand ja nicht zuletzt in der Fähigkeit, Unvereinbares zu vereinen oder Widersprüche mit einem Appell an die vom Leser geteilten Ressentiments und Phantasmagorien zu übergehen. Die Abwendung von den wissenschaftlich erarbeiteten Konzepten war offenbar notwendig, um die fundamentale Aussage seiner Zeitkritik herauszuarbeiten, nämlich Beschwörung des illegitimen Zustandes der herrschenden (Un-)Ordnung, weil an die Stelle der legitimierten Elite ihr Gegenteil, die Anti-Elite, die von der Masse verehrte und geschaffene Prominenz getreten sei: „Wo die Elite sich nicht bilden will, wo sie mit den Trägern der Macht nicht mehr identisch ist, wo die Gesellschaft nicht mehr die Kraft hat, mit der Tatsache der menschlichen Ungleichheit anständig fertig zuwerden, da entsteht ein Vakuum, das der einzelne nicht erträgt. (...) Bei der nächsten Katastrophe werden wir klarer sehen." Noch klarer auf die politische Ordnung bezogen formulierte ein Jahr später der Leiter der nordrhein-westfälischen Landeszentrale für Politische Bildung Hermann Nachtwey den Gegensatz zwischen (Wert- und Charakter-)Elite und Prominenz: 327

) „Wir dürfen sagen, dass diese Macht sich die Prominenz hält, wie römische Grandseigneurs sich Theatertruppen, Arenafechter und schriftgelehrte Sklaven hielten. Die Macht tut dies nicht, um sich Unterhaltung und Zeitvertreib zu schaffen, sondern sie duldet und unterstützt die Bildung der Prominenz, damit kein Ruf nach der Elite laut werde. Um zu verhindern, dass die Masse nach dem Cäsar rufe, dass sie mit ihrem Bedürfnis nach Gliederung und Vorbildern dem politischen Betrieb lästig falle, wird ihr eine Menschengruppe angeboten, die Gebärden und Formen der Elite täuschend nachmacht, ohne den Drang nach Gleichmacherei zu verletzen, der mit dem Drang nach nachahmenswerten Lebensformen im Kampf liegt." Auch in diesem funktionalen Zusammenhang zwischen „Elite" und „Prominenz" zeigt sich die Wirksamkeit der Massen-Doxa für Sieburgs Denkweise: Die „Masse" will beherrscht werden, sie verlangt gleichzeitig nach „Nivellierung" und „Gliederung" der Gesellschaft, und schließlich ist sie - und nicht die Machthaber in Politik und Wirtschaft, und schon gar nicht Inhaber eines hohen Bildungskapitals - auch für die nationalsozialistische Herrschaft des „Cäsars" verantwortlich. Sieburg·. Von der Elite zur Prominenz.

302

3. Legitimation

„... das Eliteproblem heißt: Es muss eine Schicht von nicht auswechselbaren Persönlichkeiten zur Verfügung stehen, die charakterlich, geistig und fachlich erstklassig sind ... eine Schicht nicht auswechselbarer Persönlichkeiten (ist)... keine wahre Führungsschicht, wenn sie keine Leitbilder hat. Elite steht gewöhnlich zur Prominenz im umgekehrten Verhältnis."328) D e r antidemokratische Impuls der Denkfigur des Gegensatzes von Elite und Prominenz wurde in dieser Deutlichkeit allerdings selten ausgesprochen und war vor allem im Zentrum des Literarisch-Politischen Feldes angesichts der dort herrschenden Zwänge zur literarischen Formgebung sozialer Phantasmagorien nicht artikulierbar. D i e Katastrophe hatte sich bis 1963 nicht ereignet, und doch war der zweite Text über „Elite und Prominenz in der heutigen Gesellschaft" im Ton weitaus resignierter gehalten, denn für Sieburg hatten sich die Effekte der Massengesellschaft offensichtlich noch weiter verstärkt: „Gänzlich wertlos hingegen ist der in unserem Lande hochangesehene Elite-Ersatz, die sogenannte Prominenz. Es ist keine Schande, prominent zu sein, solange die scharfe Trennungslinie zwischen Prominenz und Elite deutlich sichtbar bleibt. Denn diese ist ihrem Wesen nach mit der Prominenz unvereinbar, weil Prominenz ein reines Produkt der Massenunterhaltung ist und den Schein der Gehobenheit trägt, die keinen sozialen Neid hervorrufen darf. Jeder Staatsmann oder Nobelpreisträger, der wegen seiner ,Prominenz' bestaunt wird, weiß nur zu gut, dass er es mit keinem Filmschauspieler und keinem Mittelstürmer aufnehmen kann. Die Elite wächst auf einem anderen Boden, nämlich dem der Unabhängigkeit von Gunst, Beifall und Macht." 329 ) Dafür widmete er sich im Universitas-Auisalz stärker der Bestimmung der „Elite" als er es 1954 getan hatte. Im Übrigen wiederholte er ganze Passagen aus dem Zeit-Artikel, so dass ein Viertel des neuen Textes aus alten Abschnitten - hauptsächlich über die „Prominenz" und über das entindividualisierte Dasein in der „Massengesellschaft" - bestand. Anders als früher konturierte Sieburg hier sein eigenes Elite-Modell etwas schärfer; in erster Linie bestand diese Bestimmung allerdings in einer vehementen und mehrfach wiederholten Ablehnung von Konzepten der Funktions- und der Positions-Elite: „Wer auch in der Demokratie die Führungsschicht bildet, welche Gruppen, Einrichtungen und Personen auch die Träger der Macht sind, wer auch ,oben' sein mag, sei es, um die Politik zu bestimmen, sei es um die Produktionsmittel zu steuern, sei es, um die höchsten Einnahmen oder die größte Popularität zu haben, niemand von ihnen wird behaupten können, das er dank dieser Funktionen zur Elite gehöre. (...) Weder die Führungsschicht noch die Träger der politischen und wirtschaftlichen Macht noch auch die großen Vertreter der geistigen Elite bilden automatisch die Elite, obwohl viele von ihnen für sie qualifiziert sind. [Es ist] nicht erlaubt ... den führenden Politiker, den wirkungsvollen Technokraten, den größten Wirtschaftler oder Wissenschaftler eo ipso zur Elite zur rechnen, da fortschreitende Enteignung und überwuchernde Organisation eine wirkungsvolle Form

328

) Nachtwey·. Elite, S.8. Das Moment der Nichtauswechselbarkeit war Nachtwey so wichtig, dass er diese Passage wenige Seiten später fast wörtlich wiederholte (S. 14). 329 ) Sieburg·. Elite und Prominenz, S.839.

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

303

menschlicher Unabhängigkeit nicht mehr gestatten, müssen wir versuchen, in unserem Gemeinwesen ohne Elite auszukommen." 330 )

Diese Zurückweisung war für Sieburgs zeitkritische Stoßrichtung unbedingt notwendig. Seine ganze intellektuelle Leidenschaft richtete sich nämlich gegen die, wie er glaubte, vollkommene Nivellierung der gesamten Gesellschaft. „Jedes Volk braucht sie [die Elite, M.R.], um der ewigen Ungleichheit der Menschen seinen Tribut zu zollen, um der Nivellierenden Aggressivität des Massenstaates durch Lust an Vorbildern Widerstand entgegenzusetzen". „Scharfe Soziologen und Zeitkritiker machen uns nun schon seit Jahren klar, dass die totale Einebnung vor nichts haltgemacht hat". „Es ist eine Eigentümlichkeit dieses gleichmacherischen und auf soziale Missgunst aufgebauten Zeitalters, dass es bewundern will." 331 )

In dem hysterischen Ton, in welchem Sieburg diese Gedanken vorbrachte, überhaupt in der gesamten argumentativen Zielsetzung bestanden nun große Gemeinsamkeiten mit den oben bereits untersuchten Vorstellungen Wilhelm Röpkes, wenn auch ohne dessen Fixierung auf ökonomische Problemstellungen, und ohne dass Sieburg auf diesen verwiesen hätte, wie er im UniversitasBeitrag überhaupt keinerlei Hinweise auf andere Autoren gab. 332 ) Vor allem in zwei Punkten bestand eine eminente Übereinstimmung: Erstens hatte Röpke schon in „Civitas H u m a n a " die These Moscas aufgegriffen, dass das Schicksal einer Repräsentativverfassung von der moralischen Integrität der Mittelklassen abhinge, und in „Jenseits von Angebot und Nachfrage", zweitens, diesen Gedanken ausgebaut zur Forderung nach einem „Aufstand der Elite" gegen die Bedrohungen der Massengesellschaft, weshalb die Bildung einer Wertund Charakter-Elite eine unbedingte Notwendigkeit darstelle. Wie Röpke sah auch Sieburg die Elite nicht durch Machtbesitz, sondern durch Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, durch „geistige, moralische und materielle Unabhängigkeit" sowie durch ihre Vorbildwirkung gekennzeichnet. 3 3 3 ) Deutlicher als bei dem deutsch-schweizer Ökonomen, deutlicher auch als in dem Zeitungsartikel von 1954 kamen nun allerdings die inneren Widersprüche dieses Modells zum Vorschein. Denn wie konnte die mehr oder minder verborgene Gruppe der „Träger der effektiven Macht" überhaupt existieren (und in der Öffentlichkeit die „Prominenz" vorschieben, Sieburg wiederholte auch diesen Abschnitt) 3 3 4 ) angesichts der massiven Nivellierungsprozesse, die sich Sieburg (wie Röpke, Schelsky und viele andere Wissenschaftler und Intellektuelle) ja auch und vor allem als materielle „Gleichmacherei" vorstellten? Weshalb hatte sich dieses Machtgefälle durch die Nivellierung nicht längst ausgeglichen? Da sich Sieburg um die Auflösung dieses Widerspruches überhaupt nicht bemühte, liegt

330

) Sieburg: Elite und Prominenz, S. 837/38. ) Sieburg: Elite und Prominenz, S.837, S.843, S.844. 332 ) Außer einem Zitat einer Schrift von Hendrik de Man, das er bereits 1954 verwendet hatte. Ebd., S.843. 333 ) Sieburg: Elite und Prominenz in der heutigen Gesellschaft, S. 838. 334 ) Sieburg: Elite und Prominenz in der heutigen Gesellschaft, S.840. 331

304

3. Legitimation

die Vermutung nahe, dass dieses widerspruchsvolle Modell für die Aussage seiner Zeitkritik die gleiche Notwendigkeit besaß wie für zahlreiche andere konservative und liberal-konservative Autoren. Die Unterscheidung zwischen der öffentlich sichtbaren, aber ethisch und kulturell „wertlosen" Prominenz und einer Elite der Integrität und Weisheit musste einem politischen System die Legitimation nehmen, das auf Öffentlichkeit und Verfahrenskontrolle beruhte, wohingegen echte Legitimation sich nur durch die Integration der Wertund Charakter-Elite in das Herrschaftssystem einstellen konnte, also durch eine enge, wenn auch nicht notwendigerweise institutionalisierte Beziehung zwischen den „Gebildeten" und den Trägern der effektiven Macht. Kurz, das Legitimationsdefizit der politischen Ordnung bestand im Ausschluss der Gebildeten von der Ausübung der politischen Macht und in der Abhängigkeit letzterer vom Willen der Massen. Die bei Sieburg zu beobachtende Verhärtung konservativen Gedankenguts während der 1960er Jahre war kein Einzelfall. Die Pädagogische Rundschau veröffentlichte 1965 einen Artikel zum Thema Prominenz und Elite, der sich auf Sieburgs Beitrag berief und den besagten Gegensatz noch einmal verschärfte.335) Zunächst wählte der Autor Wolfram Wette willkürlich seine Elite-Definition, ohne sich der Mühe zu unterziehen, dies zu begründen und etwa die Schwächen konkurrierender Modelle zu erörtern. Im Weiteren zeichnete er eine Verfallsgeschichte vom harmonischen Mittelalter 336 ) zur „heutige(n) Massengesellschaft", um sodann einfach alles, was von der „Gunst der Masse" abhing, als illegitim zu verdammen. Kernpunkt seiner Ausführungen war der Versuch, den Nachweis zu führen, dass wahre Elite-Individuen im politischen System der Bundesrepublik keine Möglichkeit hätten, in Entscheidungspositionen aufzurücken, weshalb für ihn die „Staatsform Demokratie" nur als „überstürzter Fortschritt" erscheinen konnte. Folglich gelangte Wette zu dem Schluss, dass „die Gesellschaft in ihrer heutigen Form nicht zur Elitebildung imstande sein kann, dass mithin eine Umbildung dieser Gesellschaft von inneren Wertmaßen her erforderlich ist."337) Solche Aussagen unterschieden sich auf den ersten Blick nicht von gleichartigen aus den frühen 1950er Jahre, doch angesichts des gänzlich veränderten politischen und intellektuellen Kontextes bedeuteten Ideen, die in den 1950er Jahren als wenn auch larmoyante, so doch geistreiche politisch-philosophische Spekulation erschienen waren und einen eminent literarischen Stellenwert beanspruchen konnten oder aber sich als berechtigte Warnungen angesichts der geringen Erfahrungen mit der repräsenta-

335

) Wette: Prominenz und Elite. ) „Jahrhundertelang hatte der Geburtsadel, der ja ursprünglich aus dem Volk heraus entstanden war, alle führenden Stellungen und Ämter inne. Das Leben der Menschen hatte seine klaren Bezugspunkte'. In der Gesellschaftshierarchie hatte jeder seinen genau vorgeschriebenen Platz. Neidlos fügte sich jeder in die durch seine Geburt gegebene gesellschaftliche Bestimmung." Wette: Prominenz und Elite, S.467. 337 ) Wette: Prominenz und Elite, S. 473, S. 472. 336

3.2 Delegitimierung: Demokratie ohne Elite

305

tiven Demokratie darstellen konnten, nun nichts anderes als säuerliches Missbehagen und reines Ressentiment gegenüber den Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozessen der zurückliegenden Jahre. Mit derartigen Aussagen wäre also auch Sieburg zur Mitte der 1950er Jahre durchaus auf der Höhe der Debatte gewesen oder hätte den Stand der Diskussion sogar definiert. Mit dem Artikel in der Zeit war ihm eine solche Orientierungsleistung auch durchaus gelungen. Doch 1963 das Fehlen einer politischen Wert- und Charakter-Elite zu beklagen und vor der Allmacht der sozialen Nivellierung zu warnen, bedeutete, die Fülle mittlerweile erschienener wissenschaftlicher und publizistischer Literatur und damit verbundener neuer intellektueller Standpunkte zu ignorieren. In der Tat verzichtete Sieburg ja 1963 auf Hinweise auf die zwischenzeitlich veröffentlichten Arbeiten. Gleichwohl gehören seit dieser Zeit publizistische Klagen über die Prominenz und das Fehlen einer echten Elite zu den wiederkehrenden Aussagen, die die EliteDoxa als Meinungswissen über die Gesellschaft dauerhaft befestigen und offensichtlich tiefsitzende intellektuelle Bedürfnisse, Phantasmagorien und Ressentiments ausdrücken.

4. Handlungswissen und Rollenfindung: ,Führung" als spezifisches Elite-Handeln Das spezifische Handlungswissen, das die Elite-Doxa bereitstellte, wurde während des Untersuchungszeitraums hauptsächlich im Zusammenhang mit Organisations- und Leitungsproblemen von Geschäftsleuten diskutiert; auch diese Diskussionen fanden häufig an den Evangelischen Akademien statt. Zuvor musste jedoch die Elite-Doxa überhaupt in den Raum der Unternehmerschaft hineingetragen werden. Wie sich zeigen wird, geschah dies bereits in den frühen 1950er Jahren - die Elite-Doxa erreichte damit sehr schnell eine der wichtigsten Teilgruppen der Oberklassen. Allerdings produzierte die Elite-Doxa gerade hier auch eine Reihe von dysfunktionalen Effekten. Dass die Unternehmer dennoch nicht bereit waren, ihren Elite-Glauben aufzugeben, zeigt, wie wichtig ihnen dessen Orientierungsleistungen und seine Legitimationspotenziale waren. Es zeigt jedoch auch, dass politisch-gesellschaftliche Ideen, haben sie sich einmal durchgesetzt, nur in außergewöhnlichen Krisen verdrängt werden können und andernfalls eine beträchtliche Dauerhaftigkeit entwickeln. Zunächst sind hier die vorwiegend sozialwissenschaftlichen Versuche einer Präzisierung des Führungs-Begriffs zu rekonstruieren. In einem zweiten Schritt wird den spezifischen politisch-ideellen Konstellationen im Raum der Unternehmerschaft nachgegangen, die den Grund für die schnelle Übernahme der Elite-Doxa durch die Geschäftswelt darstellten. Schließlich werden die Verwendung und Bedeutung des Begriffs der unternehmerischen Führung sowie die Eigendynamiken, die dabei entstanden, untersucht.

4.1 Führung als Handeln der Elite: „Führer" heißt nicht „Führung" I. Es ist wesentlich für das Verständnis der Verbreitung und Durchsetzung der Elite-Doxa, die kategoriale Unterscheidung zwischen den Begriffen „Führer" und „Führung" zu vollziehen, die auf der Ebene des Rollenhandelns die Führer-Doxa von der Elite-Doxa trennt: Ein „Führer" übt seine diktatorische Macht durch Befehl und letztlich Unterwerfung der Untergebenen aus, die ihm gehorsam sind oder sein müssen; „Führung" bezeichnet das wie auch immer geartete Herstellen eines Handlungskonsenses. Gleichzeitig ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die zeitgenössischen Akteure diesen semantischen Unterschied, über den am Ende des Untersuchungszeitraums implizit weithin Einigkeit bestand, erst erarbeiten mussten. Voller Erstaunen (er nannte es den „interessantesten Punkt unserer Betrachtung über die Eliten") stellte 1957 der Journalist Axel Seeberg fest: „Große Geschichte ist nicht ohne Eliten, die die Resonanz der weiteren Öffentlichkeit erwecken [sie!]. Offenbar reicht der

308

4. Handlungswissen und Rollenfindung

große Staatsmann für die Geschichte nicht aus."1) Und mindestens aus zwei Gründen war diese Unterscheidungsarbeit äußerst schwierig: Erstens hatte keiner der soziologischen „Klassiker" wie Weber oder Simmel den Begriff der „Führung" oder denjenigen des „Führers" definiert; es bestand also keine mit wissenschaftlicher Autorität festgelegte Definition, die einfach popularisiert werden konnte. Gleichzeitig sperrte sich der Begriff der „Führung", der als Bezeichnung für ein spezifisches, herausgehobenes und äußerst komplexes soziales Handeln vielfältigen symbolischen Anforderungen der alltäglichen Verständlichkeit, der Legitimation und der Operationalisierung ausgesetzt war, vermutlich deshalb auch gegen eine schnelle Verwissenschaftlichung, die ihn einerseits durch eine Festlegung seiner unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten beraubt hätte und andererseits bei der Reduzierung auf einen einheitlichen Begriff der Komplexität des Explanandum nur schwer gerecht werden konnte, zumal noch kaum empirische Studien zum Führungs-Problem vorlagen. (Folgerichtig leitete Wilhelm Bernsdorf einen entsprechenden Lexikon-Eintrag 1955 mit den Worten ein: „Der Begriff wird in der Soziologie nicht in eindeutigem Sinne verwendet." 2 )) Aus diesem Grund wurden während des Untersuchungszeitraums im deutschsprachigen Raum auch nur wenige modelltheoretische „Fortschritte" in der Klärung des Führungs-Begriffs erzielt. Zweitens galt es nach 1945 auf jeden Fall, eine semantische Beziehung zwischen dem Führungs-Begriff und der jüngsten deutschen Zeitgeschichte, also zwischen „Führung" und „Führer", die in zahlreichen etablierten Wortverbindungen wie „Wirtschaftsführer", „Parteiführer", „Unternehmensführung" und so weiter weithin etabliert waren, und dem Führer schlechthin, nämlich Adolf Hitler, zu vermeiden. Stattdessen war die Begriffsfindung weiteren Anforderungen ausgesetzt, die allerdings auch große symbolische Möglichkeiten und intellektuelle Anreize boten. Denn nach dem Ende der totalitären Diktatur und angesichts der obrigkeitsstaatlichen Traditionen galt es, einen demokratiekompatiblen Ordnungsbegriff zu finden, der das Handeln der Inhaber von Funktions- und Herrschaftspositionen auszudrücken, zu legitimieren und zu organisieren vermochte. Dieser Ordnungsbegriff musste also eine Machtbeziehung ausdrücken, die nicht auf dem politisch diskreditierten Gegensatzpaar von Befehl und Gehorsam beziehungsweise Führer und Gefolgschaft3) beruhte, die andererseits jedoch auch allen Formen der demokratischen Delegation und der Partizipation der „Geführten" nicht allzu weit entgegen kam. Die begrifflich ausgedrückte Über- und Unterordnungsbeziehung durfte durchaus autoritär strukturiert sein, sollte jedoch Raum lassen für ein

') Seeberg: Eliteproblem, S. 13. ) Bernsdorf: Führung (1955), S. 142. 3 ) Das Begriffspaar Führer und Gefolgschaft diente dem Nationalsozialismus zur Kennzeichnung der extrem einseitigen Macht- und Unterordnungsbeziehung, die dessen politisch-soziale Vorstellungswelt ziemlich genau ausdrückten und im folgenden Kapitel näher beleuchtet werden. 2

4.1 Führung als Handeln der Elite

309

gewisses Maß an Dialog zwischen „Führenden" und „Geführten", um einen Konsens über das gemeinsame Ziel und das Organisieren der dazu einzusetzenden Aktivitäten auszuhandeln. Die größte Nachfrage nach einem solchen Ordnungsbegriff bestand jedoch nicht im Politischen Feld, sondern in der Unternehmerschaft, denn die politische Gründergeneration der Bundesrepublik verfügte durchaus über ausreichende Erfahrungen aus der Weimarer Republik, war also mit den Mechanismen der repräsentativen Demokratie vertraut und aufgeschlossen für Lehren aus deren Scheitern, wohingegen sich die Kräfteverhältnisse im Betrieblichen Sozialraum4) nach 1945 durch das Ende des „Führerprinzips in der Wirtschaft" (das 1934 lediglich den institutionellen Höhepunkt eines lange etablierten unternehmerischen Selbstverständnisses dargestellt hatte) 5 ) durch die aktuellen Legitimationsprobleme der Unternehmerschaft, 6 ) durch die Wiederentstehung der Gewerkschaften und die Etablierung der betrieblichen Mitbestimmung, deren praktische Grundlagen noch in der Besatzungszeit gelegt wurden, grundlegend verändert hatten. 7 ) Bevor wir uns dieser außerordentlich großen Nachfrage aus dem Raum der Unternehmerschaft nach Führungsmodellen zuwenden, müssen allerdings die allgemeinen Diskussionen zum Begriff der „Führung" im Intellektuellen Feld und in den Sozialwissenschaften (die sich im Wesentlichen nicht berührten!) kurz skizziert werden. Diese Begriffsarbeit begann erst im Verlauf der 1950er Jahre, mit anderen Worten, Überlegungen über das spezifische Rollenhandeln der Elite-Individuen begannen erst, nachdem einige Grundlagen der Elite-Doxa gelegt und verbreitet worden waren. Diese Grundlagen bestanden vor allem in den - bereits kurz nach 1945 zirkulierenden - Vorstellungen von der Zweiteilung der sozialen Welt in die Elite und die Masse, sowie in denjenigen von der ausschlaggebenden Bedeutung, die der Elite in einer jeden Gesellschaft zukomme. Die ersten Beiträge, die die Begriffe „Führung" und „Elite" in den ausgehenden 1940er und frühen 1950er Jahren verwendeten, mussten fast vollständig auf eine Präzisierung verzichten. Über die recht allgemeinen Forderungen nach „Führung" durch charakterliche Vorbildhaftigkeit und (christliche) Wertbindung ging kaum einer der Autoren im Ruf, den Frankfurter Heften, der Sammlung, 4

der Gegenwart

oder der Deutschen Rundschau

hinaus. 8 ) Erwin

) Zum Konzept des „Betrieblichen Sozialraums" vgl. demnächst Rosenberger. Experten. ) Mason: Entstehung. 6 ) Wiesen: West German Industry; ders.: Overcoming Nazism. 7 ) Müller. Mitbestimmung; dies.: Strukturwandel; vgl. allgemein Berghahn: Unternehmer. 8 ) Alfred Andersch: Der grüne Tisch, in: Schwab-Felisch (Hg.): Der Ruf, S. 42-46; Nicolaus Sombart. Studenten in der Entscheidung, in: ebd., S. 88-93; Friedrich Minssen: Der asketische Stil in der Politik, in: ebd., S. 125-32; Friedrich M. Reifferscheids Triumph des Hindenburg-Deutschen, in: FH 6.1951, S. 90-100; Heinrich Weinstock: Demokratie und Elite, in: Die Sammlung 5.1950, S. 449-58; Karl Friedrich Boree: Der falsche Ausgangspunkt, in: Deutsche Rundschau 78.1952, S. 469-74; Pascual Jordan: Probleme der Elitebildung, in: Der Mensch in der Wirtschaft 5.1955, Η. 1 S. 18-22; G.A. Küppers-Sonnenberg: Zum Problem der Elitebildung, in: ebd., H. 2 S. 16-21. 5

310

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Rack, der aus explizit konservativer Perspektive eines der ersten Bücher zum Thema in Westdeutschland schrieb und damit die evangelische Elite-Diskussion maßgeblich beeinflusste, kam 1950 mit einem Set simpelster Vorannahmen reinen Meinungswissens aus. Dazu gehörten der Glaube an die ewige Notwendigkeit der Ungleichheit, der unabdingbare (aber nicht näher erläuterte) Zusammenhang „geistlicher Führung und weltlicher Herrschaft", idealtypisch verwirklicht im Gottesgnadentum, sowie die christliche Wertbindung der „Steuerungsschicht" als oberste Voraussetzung ihrer Legitimation. 9 ) Die Art und Weise, in der Racks Wert-Elite ihre Steuerungsfunktion wahrnehmen sollte, ihre Institutionen, ihre Auslese und die Form ihrer Einordnung in die politische Herrschaftsordnung - um all diese wesentlichen Bestandteile eines jeden differenzierten Modells sozialer Ordnung kümmerte sich Rack ebenso wenig wie die Autoren, die in den Jahren um 1950 in den Kulturzeitschriften die westdeutsche Elite-Diskussion begannen. Und selbst Max Graf Solms, dessen umfassende „Analytische Gesellungslehre" von 1956 oben eingehend besprochen worden ist, war wenige Jahre zuvor (1948) noch nicht in der Lage, in seinem auf einem staatsbürgerkundlichen Vortrag basierenden Aufsatz „Echte Demokratie und Elitegedanke" ein schlüssiges Elite- und FührungsKonzept vorzulegen, das diese Fragen beantwortet hätte. 10 ) So paradox es klingen mag: Die einzig nennenswerte Denkrichtung der frühen, auf das Konzept der Wert- und Charakter-Elite fixierten (und damit die Kategorie sozialer Macht tendenziell verleugnenden) Diskussion zum Problem der Art und Weise, in der die Elite-Individuen ihre Umgebung beeinflussen und prägen mochten, richtete sich auf - unter dem Gesichtspunkt der Realitätstüchtigkeit nicht anders denn als intellektuelle Totgeburt zu bezeichnende 11 ) Überlegungen, das Ordensprinzip zum Ausgangspunkt der Elite-Bildung zu machen. Diese besonders an den Evangelischen Akademien propagierten Ideen kreisten hauptsächlich um den Begriff der „Diakonie" beziehungsweise des „Dienstes". 12 ) Eine christliche Wertelite sollte sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen und so, durch ihr Vorbild wirkend, die „weiter fortschreitende Auflösung der Gesellschaftsordnung und des menschlichen Zusammenlebens" verhindern. 13 ) Dieser Dienst sollte gleichzeitig „dem Menschen zugewandt" und „um der Sache, etwa um des Staates willen" geleistet werden. 14 )

9

) Rack: Elite, S.41, S.43, S.35-37. ) Solms·. Elitegedanke. n ) Wie erwähnt, hatte der Historiker Walther Hubatsch auf der bekannten Tagung der Ranke-Gesellschaft selbst für die mittelalterlichen Gesellschaften einen logischen Zusammenhang zwischen den Kategorien „Orden" und „Elite" deutlich verneint. Hubatsch: Ordensgedanke. 12 ) Werner Jentsch: Evangelium, S. 161; Adolf Wischmann: Verantwortliche Führungsschicht und verpflichtende Gemeinschaft, in: L014, S.2-5; Werner Steinjan: Die Wandlung des Dienstbegriffs, in: L014, S. 19-22. 13 ) Bericht des Herrn von Rautenfeld über seine Arbeit in Essen, in: L015, S.4/5. 14 ) Steinjan: Die Wandlung des Dienstbegriffs, S.21. 10

4.1 Führung als Handeln der Elite

311

„Dienstauffassung ohne Beziehung zum Nächsten, ohne Gott, ist wie eine Schale ohne Inhalt. Aber auch die Schale muss sein. Die sachliche Seite der Dienstauffassung ist die Ordnungsform der Welt. Schöpfungsordnung und Erlösungsverheißung sind uns Richtschnur". 15 ) So wird auch der „Dienst in der arbeitsteiligen Wirtschaft zu einem Dienst an Gottes unerforschlichem Plan." 16 ) Daher konnte der letzte Grund der Autorität einer Person und ihrer Berechtigung zur Führung auch nur in der Bindung an das Christentum liegen. „Jede echte Autorität ist eine von Gott geliehene Autorität": 17 ) Wo diese letzte Begründung der Autorität verloren ging, da drohte die Diktatur: „Die Diktatur verwechselt echte Autorität mit der schrankenlosen persönlichen Willkür des Tyrannen. (...) Der Diktator ist das Endprodukt eines im Ansatz verfehlten Denkens, das den Menschen zum ausschließlichen Maßstab aller Dinge macht. Wer keinen anderen Maßstab als den Menschen selber kennt, endet bei der Diktatur."18)

Auch bei Landesbischof Hanns Lilje spiegelte sich im Autoritäts-Begriff damit eine große Skepsis gegenüber den Möglichkeiten demokratischer Institutionen, aus eigener Kraft totalitäre Gefahren abzuwehren. Ohne Führung durch eine echte Elite - das war für ihn wie für viele andere die Lehre aus dem Untergang der Weimarer Republik - war die Existenz eines freiheitlichen Gemeinwesens nicht aufrecht zu erhalten. Diese Elite fand ihren letzten und tiefsten „Grund" im Gottesbezug. „Autorität kann es nur in dem Sinne geben, dass sie eine durch die göttliche Autorität der Amtsverleihung und des Rufes in den Dienst fundierte Autorität ist. Wenn wir zur Herrschafts- oder Führungsfunktion [sie!] berufen sind, dann sind wir also gefragt, ob wir bereit sind, uns diesem Herrschaftsanspruch der göttlichen Autorität zu unterwerfen. Diese Unterwerfung bezieht sich nicht nur auf das Glaubens- und Gewissenverhältnis zwischen dem einzelnen und Gott, sondern sie wirkt zugleich in die mitmenschlichen Beziehungen hinein. Ohne diese Miteinbeziehung des mitmenschlichen Verhältnisses besteht immer wieder die Gefahr einer Dämonisierung der Herrschaftsfunktion." 19 )

Hier sind zwei begriffliche Klarstellungen vorzunehmen, die nicht nur für die genuin protestantische, sondern darüber hinaus für die gesamte Diskussion zum Konzept der Wert- und Charakter-Elite gültig sind. Die hier verwendeten Begriffe - „Führung", „Herrschaft", „Funktion" - dürfen nicht eindeutig und trennscharf im Sinne auf Präzision angelegter sozialwissenschaftlicher Termini verstanden werden. Die frühen Beiträge zum Gegenstand „Elite" verwendeten bedenkenlos den Terminus „Funktion", lehnten jedoch eine im engeren Sinne funktionalistische (und damit auch pluralistische) Elite-Definition, in 15

) Steinjan: Die Wandlung des Dienstbegriffs, S.22. ) Steinjan: Die Wandlung des Dienstbegriffs, S. 19. 17 ) Karl Witt: Freiheit als Aufgabe der Menschenführung, in: L030, S. 50-52, hier S.52. 18 ) Hanns Lilje: Der Grund der Autorität, in: L062, S. 29-34, S.32. 19 ) Heinz-Dietrich Wendland: Kritik der Herrschaft, eine Analyse des Führungsanspruchs, in: L043, S. 20-25, Zitat S. 22/23. Der Theologe und Professor für Sozialethik Wendland war ein regelmäßiger Referent in Loccum; über seinen Vortrag „Kritik der Herrschaft" berichtete auch die Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft (6.1956, Η. 1 S.27-31). 16

312

4. Handlungswissen und Rollenfindung

der unterschiedliche „Funktions-Eliten" durch Ausübung ihrer von einer komplexen Sozialstruktur definierten Rolle bestimmte notwendige Leistungen für die verschiedenen Subsysteme einer ausdifferenzierten Gesellschaft erbringen, vehement ab. Der Begriff „Herrschaftsfunktion" im obigen Zitat ist also nicht funktionalistisch zu verstehen, sondern eher im Sinne von „Herrschaftsausübung". Auch hier zeigte sich also die begriffliche Unscharfe des Konzepts der Wert- und Charakter-Elite. Ebenso ist auf die grundsätzliche Differenz zwischen „herrschen" und „führen" in dieser Redeweise hinzuweisen (den Wendland im obigen Zitat allerdings selbst verwischt hatte!). Der Autor selbst versuchte, seine Ausführungen zu präzisieren, indem er feststellte: „Führen heißt nicht herrschen. Das wird aber erst richtig verständlich, wenn beim Führen und Leiten die Geführten als die Nächsten verstanden werden, wie wir sie im christlichen Sinne verstehen. Dann stehen Herrschaftsfunktion und Partnerschaft nicht im Widerspruch zueinander."20) In Wendlands Worten war die Herrschaftsfunktion notwendig, aber gefährlich (immerhin trug sein Vortrag den Titel „Kritik der Herrschaft"), weil sie stets destruktive Impulse freizusetzen drohte, die nur durch die christliche Prägung der Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten gebremst werden konnten. So und nur so ließ sich die tendenziell „dämonische" „Herrschaft" in humane, menschenwürdige „Führung" verwandeln, die, das immerhin wird an dieser Stelle deutlich, eine Art Dialog zwischen Führenden und Geführten voraussetzte. Wie dieser Dialog geführt werden sollte, erklärte Wendland nicht. Axel Seeberg, der Chefredakteur des protestantischen Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes, versuchte freilich kurz darauf, das Problem des Dialogs mit dem Machtverhältnis zu verbinden, als er erklärte: „Was ist denn eigentlich die Funktion dieser Eliten? Wie wirken sie? Eliten prägen. Nicht einen kleinen Kreis, sondern einen größeren Kreis. Und zwar formen sie in einer doppelten Richtung. Einmal in der Weise, dass die an sich individuell lebenden Menschen, ihren Interessen folgenden Menschen auf einmal auf ein größeres Ziel ausgerichtet erscheinen. (...) Im einzelnen wirken Eliten auf doppelte Art. Sie besitzen die Kommandostellen der Staaten, der Verbände, der Organisationen, der Kirchen und die anderen, die nicht zur Elite gehören, haben zu dieser Führungsschicht, diesem Führungskern, Vertrauen. Dieses Vertrauen aber ist ein entscheidendes Faktum für das Funktionieren der Staaten." 21 )

Das war ein Fortschritt, allerdings nur ein kleiner. Denn schon bei der Frage nach dem Grund des Vertrauens musste Seeberg passen.22) Mittels des Dienst-

20

) Wendland·. Kritik der Herrschaft, S.23. ) Seeberg: Eliteproblem, S. 12/13. 22 ) „Warum die Eliten Vertrauen erwecken, ist wieder eine sehr vielschichtige Frage. Die moralische Qualität der Eliten reicht zur Erklärung nicht aus. [sie!] Es gibt auch Vertrauen zu Schichten, denen die moralische Qualität abzusprechen ist. Ich denke nur an die jüngste deutsche Vergangenheit. Also offenbar kommt es noch auf anderes an: Ich bin nicht in der Lage zu sagen, was das ist." Der Nationalsozialismus blieb eben auch für Seeberg unerklärbar. Seeberg: Eliteproblem, S. 13. 21

4.1 Führung als Handeln der Elite

313

oder Diakonie-Begriffs gelang es, den Versuch sozialer Integration 23 ) in der Massengesellschaft mit der christlichen Bindung der Inhaber von Machtpositionen sowie mit sozialharmonischen Formen der Herrschaft in Gestalt von Vorbildhaftigkeit und Autorität zu verbinden. Dies gelang zumindest bis zur Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs, die am Ende der 1950er Jahre einsetzte. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass weder die genuin protestantischen Diskussionen noch andere Modelle einer Wert- und Charakter-Elite die Frage, wie die Elite außerhalb der bestehenden Institutionen eine ganze Gesellschaft zu prägen vermag, wirklich beantworten konnten. Zwei Gründe lassen sich dafür anführen: Zum einen lag den Publizisten der ausgehenden 1940er und frühen 1950er Jahre sehr viel mehr an einer kritischen, zuweilen larmoyanten Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart, der eine Elite fehle, als an einer konsequenten Ausgestaltung ihres Elite-Konzepts. In ihren Aufsätzen und Vorträgen, deren Titel Ausführungen über Elite-Bildung, Elite-Gedanke, Führung durch die Elite oder Elite und Demokratie versprachen, machten die zeitkritischen Ausführungen über die Massengesellschaft und ihre Probleme oder die Demokratie und ihre Gefahren oft bis zu neun Zehntel des Textumfanges aus. Ein bis zwei Seiten genügten ihnen, um ihre aus reinem Meinungswissen bestehenden Vorstellungen von einer Elite zu skizzieren. Überhaupt mussten die Elemente der Elite-Doxa erst ausgearbeitet werden, und die Pioniere dieser Konstruktionsarbeit hatten wenig Material (und Neigung, denn eines war klar: Klassische Elite-Theorien von Mosca und Pareto, soweit überhaupt bekannt, eigneten sich nur sehr bedingt zur begrifflichen Konstruktion von Wert- und CharakterModellen), auf das sie hätten zurückgreifen können. Zum anderen gilt es zu bedenken, welche konzeptionellen Schwierigkeiten es den Vordenkern der Wert- und Charakter-Elite bereiten musste, ein handlungstheoretisch plausibles Modell zu entwerfen, in dem eine kleine Personengruppe in nennenswertem Umfang durch Vorbildhaftigkeit und persönliche Autorität eine Gesellschaft zu prägen vermag, solange sie die Beziehungen einer Wert- und Charakter-Elite zu den großen staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen nicht hinreichend klärten. II. Die wissenschaftliche Definition und Konkretisierung des Führungs-Begriffs geht vor allem auf die Bemühungen Theodor Geigers während der 1920er und frühen 30er Jahre zurück. Geiger, der bekanntlich auch zur Massen-Theorie empirisch gearbeitet hatte (was eine Verbindung zu Überlegungen darüber schuf, auf welche Weise Massen geführt werden), erarbeitete dabei eine Fortführung der Kategorien Max Webers zur „legitimen Herrschaft". In einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen,24) die im Lexikonbeitrag „Füh23

) Von „Integration", und zwar unter Berufung auf Rudolf Smend, sprach explizit Seeberg: Eliteproblem, S. 13. Vgl. allgemein Günther: Denken. 24 ) Vgl. die Literaturangaben bei Bernsdorf. Führung (Führer), S.319.

314

4. Handlungswissen und Rollenfindung

rung" in Alfred Vierkandts „Handwörterbuch der Soziologie" von 1931 kulminierten, 25 ) versuchte er eine Präzisierung des Führungs-Begriffs im Zusammenhang mit den Kategorien Herrschaft, Macht und Autorität. Damit changiert sein Text zwischen einem Beitrag zu einer Führer- und zu einer EliteTheorie. Einerseits musste Geiger vom Alltagsgebrauch ausgehen, der den Terminus in der Zwischenkriegszeit ganz selbstverständlich und entsprechend der Dominanz der Führer-Doxa nur der durch „geschichtlich bedeutsames Handeln hervortretende(n) Persönlichkeit", dem „Genie" oder „geistigen Führer" zuordnete. 26 ) In die gleiche Richtung deutet auch der Umstand, dass in das „Handwörterbuch" seinerzeit noch kein Lemma „Elite" aufgenommen wurde, so dass der gesamte Problemzusammenhang unter dem Begriff der „Führung" abzuhandeln war. In diese Richtung weisen auch Geigers Literaturverweise, die sich vorwiegend mit dem singulär gedachten „Führer" beschäftigten, während die Schriften Moscas und Paretos bezeichnenderweise fehlten. Während also in der Zwischenkriegszeit ausweislich der Einträge in Fachlexika die „Elite" noch kein anerkannter Begriff des sozialwissenschaftlichen Wissens und Instrumentariums darstellte, wohl aber die „Führung", verhielt es sich in der Zeit nach 1945 genau umgekehrt: Mit Ausnahme des von Wilhelm Bernsdorf herausgegebenen „Wörterbuchs der Soziologie", dass sich offenbar als eine Fortsetzung des Vierkandt'schen Unternehmens verstand, 27 ) sowie dem katholischen (und dem Diskussionsstand ein wenig nachhängenden) „Staatslexikon" des Herder-Verlages verschwand der Terminus aus den einschlägigen Handbüchern (gerade diese beiden Lexika markieren durch die Aufnahme beider Begriffe gewissermaßen den Übergang). 28 ) Geiger sprach in der Regel vom „Führer" im Singular. Andererseits hielt er den Begriff ausdrücklich offen für Formen der kollektiven Führung („Mehrführertum") und stellte einige grundlegende Überlegungen zum Problem der „Auslese" an. Insofern konnten sich sowohl Advokaten des Führer-Glaubens wie der Elite-Doxa auf Geiger berufen; letztere, als sie nach 1945 die soziale Wirksamkeit der Elite zu bestimmten suchten. Allerdings scheinen Geigers Explikationen, obwohl sie gesichertes und leicht zugängliches Handbuchwissen darstellten, von der Publizistik der 1950er und frühen 60er Jahre kaum rezipiert worden zu sein, 29 ) darauf deuten jedenfalls die vielen konzeptionellen Unklarheiten in diesen Texten. Geiger konnte gleich zu Beginn seines Lexikon-Artikels feststellten, dass „Führung" eine „Funktion" sei, die „in allen gesellschaftlichen Gruppen" auftrete, mit anderen Worten, dass es sich um ein universales Phänomen handle

25

) Das „Handwörterbuch" erschien 1959 in unveränderter Neuauflage. ) Geiger: Führung, S. 136, S. 137. 27 ) Bernsdorf: Einleitung (1955), S.V. 28 ) Francis: Führung. 29 ) Im „Staatslexikon" sprach der Autor von Geigers „veralteten Versuchen der Typisierung". Francis: Führung, Sp. 617. 26

4.1 Führung als Handeln der Elite

315

(erst diese Universalität ermöglichte ja den Einbau des Begriffs in die grundlegenden Ordnungsentwürfe, wie die Elite- oder die Führer-Doxa). Geiger stützte sich dabei auf Max Weber, der allerdings nicht von „Führung", sondern vom „Führer" gesprochen hatte, und zwar in seiner Herrschaftssoziologie vom „charismatischen Führer" 30 ) sowie vom „politischen Führertum" in den Politischen Schriften, 31 ) auf die sich Geiger allerdings nicht bezog. Geiger setzte nun den Begriff der „Führung" mit Webers „legitimer Herrschaft" gleich,32) unterschied dabei jedoch zwischen „Führung" als persönlichem und „Herrschaft" als institutionellem (legitimem) Machtverhältnis. Folglich gelangte Geiger auch zu dem Schluss, dass es im „modernen Klassenverhältnis" wohl Herrschaft, aber keine Führung gäbe. Im Weiteren unternahm Geiger eine möglichst genaue Klassifizierung der Formen, Typen, Beziehungen, der Legitimation und der Auslese von Führung und Führern. (Nur am Rande ist dabei zu vermerken, dass Geiger in diesem Zusammenhang sowohl die aus der Massenpsychologie Le Bons entlehnten Führer-Konzepte wie diejenigen der „idealistischen Geschichtsphilosophie" entstammenden als unwissenschaftlich ablehnte, weil sie die Bedeutung der großen Persönlichkeit weit überschätzten und die „Masse" der Menschen auf eine letztlich physikalische Größe reduzierten. 33 )) Das war angesichts des unübersichtlichen Forschungsfeldes zu dem Problem, das geprägt war von empirisch wenig erhärtetem Wissen und der Tatsache, dass die Literatur zum Thema im Wesentlichen von sozialen Phantasmagorien durchzogen war, zweifellos eine große wissenschaftliche Leistung. Gleichwohl bleibt festzustellen, dass damit die Probleme des ¥ü\mmgshandelns noch gar nicht in den Blick geraten waren. Das war nur zu verständlich, denn Geiger musste sich einerseits wie erwähnt an der Massen-Phobie seiner Zeitgenossen abarbeiten, die die Beziehung zwischen Führer und Masse auf die Lenkung einer irrationalen Menge verengt hatten, zum anderen fehlten in dieser Hinsicht vorerst empirische Forschungen und methodische Vorbilder. Selbige Ausrichtung gilt allerdings auch noch für die Einträge von Wilhelm Bernsdorf in den beiden Ausgaben des „Wörterbuchs der Soziologie" von 1955 und 1969, und ebenso für das „Staatslexikon" der Görres-Gesellschaft von 1958 mit seiner Verabsolutierung der Führer-Rolle. Es dominierten vollkommen die Versuche einer Wesens-Bestimmung des „Führers", dessen Handeln gänzlich außerhalb des Blickfeldes geriet. Auch andere wissenschaftliche Veröffentlichungen, über „Führer-Typen" 34 ) oder über die Abgrenzung von „Führer und Elite" 35 ) konzentrierten sich ganz auf eine derartige Definition.

30

) Weber. WG, S. 122-76. ) Vgl. Weber. Parlament und Regierung, S.320-69. 32 ) Soweit ich sehe, tat Weber dies nicht selbst, wie von Geiger behauptet. Geiger. Führung, S. 137. 33 ) Geiger: Führung, S. 138. 34 ) Stemmler: Führertypen. 35 ) Ungern-Sternberg: „Führer" und „Elite". 31

316

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Auch die sozialwissenschaftlichen „Theoretiker" der Wert- und CharakterElite, wie Alfred Weber und Max Graf Solms, ließen den Aspekt des Handelns der Elite-Individuen außer Acht. Die gesamte bis hier zitierte wissenschaftliche Literatur zum Komplex „Führer" und „Führung" repräsentiert damit den langsamen und mühevollen Übergang von der Führer- zur EliteDoxa im Feld der Sozialwissenschaften. Wie schwierig dieser Übergang letztlich war, zeigt sich nicht zuletzt in Rene Königs weitverbreitetem „FischerTaschenlexikon Soziologie", das seinerseits weder ein Lemma „Führung" noch eines über „Elite" enthält. König verengte Geigers Gleichsetzung von „Führung" und „legitimer Herrschaft" auf die von „Führung" und „charismatischer Herrschaft", ebenfalls im Sinne Webers. Königs Anliegen war dabei, in Auseinandersetzung mit Webers Differenzierung von Macht und Herrschaft, hauptsächlich auf eine auf Strukturen und Funktionen bezogene Definition von „Herrschaft" gerichtet, die - seinem Programm der „reinen" Soziologie folgend - gegen nicht-fachsoziologische Verwendungsweisen abgegrenzt sein sollte; innerhalb dessen kam für ihn dem Führungs-Begriff nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht zu.36) Auch andere sozialwissenschaftliche Handbücher erwiesen sich hinsichtlich des Problems des Führungs-Handelns als unergiebig; sowohl das von Werner Ziegenfuß 1956 herausgegebene „Handbuch der Soziologie" als auch das „Handbuch der empirischen Sozialforschung", das kurz nach Ende des Untersuchungszeitraums erschien und im Rahmen des Beitrags über die Organisationssoziologie immerhin die neuere amerikanische Literatur über Führungsstile und „leadership-studies" verarbeitete, 37 ) als auch das umfangreiche „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften" von 1961, das gar keinen Eintrag zum Thema „Führung" enthält. Damit unterblieben auch nahezu alle Hinweise auf die diesbezüglichen Studien Kurt Lewins,38) die mit der Unterscheidung von autoritärer, demokratischer und Laisser-faire-Führung und der Einbettung der Führer-Gruppe-Beziehung in ein je spezifisches Handlungsfeld die Möglichkeit geboten hätten, präzisere Vorstellungen vom Rollenhandeln der Elite-Individuen und den konkreten Führungs-Problemen in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen (Unternehmen, Bürokratie, Parteien, Wissenschaft) zu entwickeln. Tatsächlich entstammt der (für das Führungshandeln der Elite) einzig nennenswerte Beitrag zu diesem Problem wohl von Peter Hofstätter aus dem Jahr 1957. Hofstätters Leistung für die Verwissenschaftlichung der Elite-Doxa wird uns im folgenden Kapitel eingehend beschäftigen;

36

) König (Hg.): Soziologie, S. 112-22 (Art. „Herrschaft"), S. 166-72 (Art. „Masse"). ) Mayntz und Ziegler. Soziologie der Organisation, S. 486-88. 38 ) Dem Autor des Beitrags über Industriesoziologie im „Handbuch der empirischen Sozialforschung", Alain Touraine, war ohnehin der Ansatz Lewins „durch ein Ideal der Partizipation beseelt, das unter dem Namen der .Demokratie' nur schlecht eine summarische Sozialphilosophie verbirgt" und somit (vom Standpunkt der „reinen" Soziologie aus) verdächtig sei. Touraine: Industriesoziologie, S.413. 37

4.1 Führung als Handeln der Elite

317

hier genügt der Hinweis, dass er in seiner Untersuchung „Gruppendynamik" der Frage nachging, aus welchen Gründen die Führung einer Gruppe überhaupt funktioniert und dabei, unter Verarbeitung hauptsächlich neuerer amerikanischer Literatur, zu dem bemerkenswerten Ergebnis kam, dass nicht die persönlichen Eigenschaften des „Führers", sondern die Anerkennung durch die geführten Gruppenmitglieder und ihrer Normen den Ausschlag gäbe. Implizit bedeutete das eine Absage an alle Modelle einer Wert- und CharakterElite; explizit konstatierte er ein Reziprozitätsverhältnis zwischen Führer und Gruppe durch die „Absorbtion des Führers durch die Gruppe", ja sogar die „Unfreiheit des Führers". 39 ) Damit war zwar noch immer kein Aufschluss über das spezifische Führer-Handeln erzielt, doch die Weihe des Geheimnisvollen, das den „Führer" und sein Wesen bisher umgab, zumindest teilweise zerstört, das Rätsel des „Führers" gewissermaßen „entzaubert" und das Führer-Handeln der wissenschaftlichen Analyse grundsätzlich zugänglich gemacht. Die Verschiebung der Perspektive vom Wesen des Führers oder der Führenden als solche hin zum Fokus auf das Handeln des Führers, den Zwängen, denen es unterliegt, den Regeln, die er zu beachten hat - und nach Antworten auf genau diese Fragen bestand zumindest im Raum der Unternehmerschaft eine enorme Nachfrage - zeitigte allerdings während des Untersuchungszeitraums keine wissenschaftlichen Ergebnisse. III. Während also die sozialwissenschaftlichen Fachdebatten im Wesentlichen um die Erstellung einer Typologie der Führungsfigur kreisten und sich im Bemühen um eine Differenzierung der Begriffe Führung, Macht und Herrschaft am Werk Max Webers abarbeiteten - sich also vorderhand genuin wissenschaftlichen Problemstellungen hingaben - , thematisierten die publizistischen Erörterungen zum Führungs-Problem hauptsächlich die personalen Voraussetzungen der Wirksamkeit von Führung und die Autorität des oder der Führenden über die Geführten. Im Gegensatz zu den vorgenannten Arbeiten bedienten sich diese Beiträge auch ganz ausdrücklich des Elite-Begriffs. Ein wesentliches Element jeden Modells einer Wert- und Charakter-Elite bildete nämlich das Moment der Autorität und Vorbildhaftigkeit, mit der die Elite-Individuen Einfluss auf ihre Umgebung ausüben sollten. Jeder Entwurf einer sozialen Ordnung muss schließlich die Frage beantworten, auf welche Weise die notwendigen Herrschafts-, Führungs- und Steuerungsaufgaben denn idealiter realisiert werden sollen. Bei allen Unterschieden im Einzelnen hoben sämtliche Konzepte einer Wert- und Charakter-Elite stets auf die harmonische, gewalt- und konfliktlose, einen Konsens herbeiführende Ausübung dieser Aufgaben ab. Im Horizont dieser Ideen prägen und führen Eliten die Gesellschaft mit dem Ziel sozialer, politischer und kultureller Integration, aber sie beherrschen sie nicht; und ihre Wirksamkeit beruht nicht auf Zwang, sondern auf charismatischer, im Charakter der Person statt in ihrer Position in einem

39

) Hofstätter. Gruppendynamik, S. 134-47.

318

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Herrschaftsverband begründeter Autorität. Elite-Individuen fordern nicht Gehorsam, sondern sie beanspruchen persönliche Anerkennung. Erst dies macht die von ihnen ausgeübte Führung menschlich und damit legitim. „Autorität ist so lange echt, solange sie Ausdruck einer gegenseitigen Achtung vom Menschen ist. Autorität verfault in ihrem Kern, wenn sie Menschen mit Menschen wie Objekten umgehen lässt." 40 ) Zur Klärung der Wirksamkeit der Elite griff man auf die aus der politischen Ideengeschichte hinlänglich bekannte Unterscheidung zwischen Autorität und Gewalt zurück, so etwa Eberhard Müller in einem Referat vor leitenden Angestellten 1961.41) Gewalt und Autorität schlössen einander aus, so Müller. Daraus ließ sich folgern, dass dort, wo echte Autorität vorhanden sei, keine Gewalt herrsche. Echte Autorität aber habe ihre Quelle nicht in (politischen oder ökonomischen) Institutionen, jedenfalls nicht in Westdeutschland, 42 ) sondern im Charakter „selbstverantwortlicher Persönlichkeiten": „Zur Autorität gehört natürlich auch das fachliche Können, die Fähigkeit zur Übersicht. Weniger gehört dazu heute die ins einzelne gehende Sachkenntnis dazu, die ja von Spezialisten übernommen wird. (...) Außerdem gehört zur Autorität die sittliche Qualität der Gerechtigkeit. (...) Weiterhin gehören eine Fähigkeit zur ständigen Selbstkontrolle, Selbstdisziplin, Selbsterziehung dazu sowie Selbsterkenntnis und Muße. Die Bereitschaft, Fehler einzusehen, gerecht zu sein, auch sich selbst gegenüber, ist ebenfalls entscheidende Voraussetzung für die Gewinnung von Autorität." 43 )

Dem Topos von der fehlenden traditionsverbürgten Autorität der bundesrepublikanischen Institutionen kam in dieser Argumentation eine besondere Bedeutung zu. 44 ) Denn er ermöglichte es, aus der klassischen Gegenüberstellung von Autorität und Amtsgewalt (auctoritas und potestas)45), die beide als legitim angesehen wurden, sozusagen zusammen mit dem Präfix die Legitimation des zweiten Begriffs zu entfernen, so dass eine neue Dichotomie entstand: diejenige zwischen (legitimer) Autorität und (nun illegitimer) Gewalt. Gleichzeitig wurde mit dieser Operation ein wesentlicher Wandel in der Lokalisierung dieser Kategorien vollzogen: Während Gewalt nach wie vor von Per-

40

) Johannes Doehring: Die theologische Begründung der Autorität in der modernen Gesellschaft, in: L061, S.2-9, hier S.8. 41 ) Müller: Persönliche Initiative und Verantwortung im Kräftefeld eines Betriebes, BB065, S. 45-66. Müller verwendete dabei allerdings - ganz unhistorisch - die Begriffe „Macht" und „Gewalt" synonym, z.B. S.55. 42 ) Ländern mit einer langen demokratischen Tradition wie der Schweiz gestand Müller durchaus zu, dass ihre politischen Institutionen Autorität besäßen; in der Bundesrepublik sei das aber nicht der Fall. Ebd., S.46. 43 ) Müller: Persönliche Initiative und Verantwortung, S.47. „Autorität wird dadurch gewonnen, dass diejenigen, über die Autorität ausgeübt werden soll, etwas davon wissen, dass der Autoritätsträger sich für sie einsetzt." S. 55/56. Deshalb findet er sich auch in zahlreichen Texten zum Thema „Autorität und Elite", ζ. B. Hans Joachim Schoeps: Probleme der Autorität und Elitebildung in unserer Zeit, in: L061,S. 16-25, hier S. 16/17. 45 ) Beispielsweise bei Doehring: Die theologische Begründung der Autorität, S. 8.

4.1 Führung als Handeln der Elite

319

sonen und Institutionen ausgehen konnte, wurde Autorität jetzt nur noch Personen zugesprochen, mit anderen Worten: Autorität wurde als rein personengebunden angesehen: „Autorität ist heute immer und ausschließlich eine Frage der Persönlichkeit", erklärte ein Referent auf einer Offizierstagung in Loccum 1961. „Sie ist mit der Person verbunden, nicht mit dem Amt." 46 ) Von hier aus war der semantische Weg zu einer Wert- und Charakter-Elite nicht weit (nach den Erfahrungen mit dem Terror des Nationalsozialismus wurde die Gewalt ohnehin als der Massengesellschaft wesentlich betrachtet). Denn „der in unserer Zeit so häufige Ruf nach Autorität ist wohl der Ruf nach einer neuen Elite", so Hans Joachim Schoeps 1959.47) Besonders prägnant formulierte der Historiker Karl Bosl diese Vorstellungen: „Elite ist eine Gruppe, die jenseits aller übertragenen oder usurpierten Befugnisse beispielhaft ist und richtungsweisend wirkt, die das Geschehen einer Gesellschaft bestimmt oder wenigstens mitbestimmt. Es handelt sich um Menschen, deren Lebensformen, Ehrauffassung, sittliches Verhalten im allgemeinsten Sinne gleichsam Leitbild und Norm abgibt, nach der sich die Mehrzahl der anderen Menschen richtet. Dadurch entstehen Vorstellungen, vor allem auch Wertbegriffe, die Grundlage echter menschlicher, gesellschaftlicher Ordnung sein können. Elite in diesem Sinne ist Träger ordnungsbildender Kräfte nicht kraft potestas = Amtsgewalt, sondern auctoritas = soziales Prestige kraft überzeugenden und zur Nachahmung zwingenden Beispiels." 48 )

Bosl stellte hier „übertragene" und „usurpierte Befugnisse" auf eine Stufe und verwischte auf diese Weise den Unterschied zwischen der auf dem Prinzip der Delegation beruhenden repräsentativen Demokratie und der Gewaltherrschaft einer Diktatur. Das war nur konsequent, wenn er das entscheidende Merkmal einer legitimen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in der Existenz einer vorbildlichen wertgebundenen Elite sah. In diesen Überlegungen bestand für katholische Konservative - und für all diejenigen, die den Katholizismus um die strenge Hierarchie der katholischen Kirche beneideten 49 ) - auch das Bindeglied zur Bewunderung der autoritären Regime in Spanien (Franco) und Portugal (Salazar), weil diese Länder durch Werteliten in Armee, Bürokratie und katholischer Kirche geprägt seien. 50 ) Ansonsten reflektierte Bosl hier kein spezifisch katholisches Gedankengut. Das Zitat hätte durchaus einem Aufsatz von Hans Joachim Schoeps entstammen können. 51 ) Beide Autoren verbanden in ihren Texten zum „Eliteproblem" eine spezifisch konservative Verlustperspektive (Schoeps' Klage über das Fehlen einer Elite 46

) Freiherr von Lüttwitz: Das Problem der Autorität in der modernen Wehrmacht, in: L061, S.9-16, hier S.9, S.16. 47 ) Schoeps: Probleme der Autorität und Elitebildung, S. 16. Ähnlich Wendland: Kritik der Herrschaft, S.23. «) Bosl: Elitenbildung, S.458. 49 ) Beispielsweise Rack: Elite, S.42, S.48. 50 ) Martini: Ende, S. 335/36. 51 ) Der einzige Unterschied zwischen Bosls und Schoeps' etwa gleichzeitig vorgetragenen Ansichten bestand wohl in der äußerst negativen Bewertung des „bürgerlichen" und „aufgeklärten" 19. Jahrhunderts durch Bosl.

320

4. Handlungswissen und Rollenfindung

in Westdeutschland entstand im Umfeld seiner Überlegungen zu einer „konservativen Erneuerung") mit einer Orientierung an religiösen oder zumindest ethischen Bezugspunkten: „Wertfreie Eliten sind überhaupt keine". 52 ) Und das „Leitbild", das Bosls mittelalterliche Elite auszeichnete, war selbstverständlich christlich geprägt: „charismatisch-religiös fundiert" im Adel, in der Geistlichkeit ohnehin. 53 ) Bosl und Schoeps reflektierten damit den Diskussionsstand der 1950er Jahre (beide Texte beruhten auf Vorträgen, die Ende dieses Jahrzehnts gehalten worden waren). Die Aufsätze bieten daher gewissermaßen die Zusammenfassung der früheren Debatte. Und vor allem werden bei Bosl und Schoeps die drei konstitutiven Merkmale der frühen Ausprägung der Elite-Doxa besonders deutlich, nämlich Dichotomie, Universalismus und Unschärfe. Ihre Elite-Konzepte beruhten auf einer strengen Dichotomie zwischen der Elite, die durch „Charisma, Dienst, Leistung" (so der Untertitel bei Bosl) definiert war - wobei „Leistung" hier ausdrücklich nicht bedeutete, dass die Elite-Individuen anhand ihrer persönlichen Leistung ausgewählt würden, sondern dass sie bestimmte Leistungen für die Gesellschaft erbrächten - , und der Nicht-Elite. Entweder ein Individuum verfügte über Charisma und auctoritas, oder eben nicht - tertium non datur. Denn der Kern der Autorität wurde hier förmlich in die Existenz des Elite-Individuums hineinverlegt: Die Rede war von denjenigen, „die durch ihr Sein Autorität besitzen", so der Loccumer Mitarbeiter Karl Witt.54) Charakterlich verankerte Eigenschaften eines Menschen entschieden also im Wesentlichen sowohl über seine soziale Position (und nur zwei dichotom gegenüberstehende Positionen standen zur Wahl), als auch über seine Führungs-Möglichkeiten. Zweitens war für Bosl die Elite dasjenige historische Phänomen, das im vorund frühmodernen Europa alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche - Kultur, Militär, Verwaltung, Religion und sogar die Ökonomie - entscheidend geprägt hatte, und zwar auf entschieden christlicher Grundlage. Der Verlauf historischer Prozesse hing für ihn deshalb von den Führungsqualitäten einer Elite ab, „politisch, religiös, geistig, sozial, kulturell, symbolisch". Ihre Existenz war für eine Gesellschaft daher von geradezu universaler Bedeutung. Die Probleme der Gegenwart: „Angst, Pessimismus, Nihilismus ... Massensuggestion, Diktaturanfälligkeit" 55 ) resultierten eben aus dem Fehlen einer zu echter Führung befähigten Elite.56) Schließlich übernahmen Bosl wie Schoeps in ihren Konzepten aus der vorausgegangenen Diskussion eine ausgesprochene Unschärfe der zentralen Elemente. Das lag zu einem wesentlichen Teil an dem letztlich ungeklärt bleibenden Verhältnis zwischen den zur Elite qualifizierenden charakterbedingten 52

) ) 54 ) 55 ) 56 ) 53

Schoeps: Elitebildung, S. 118. Bosl: Elitenbildung, S. 459. Witt: Freiheit als Aufgabe in der Menschenführung, S. 52. Bosl: Elitenbildung, S. 458/59. Bosl: Elitenbildung, S. 458/59.

4.1 Führung als Handeln der Elite

321

Eigenschaften und den sie voraussetzenden sozialen Merkmalen ihrer Träger. Wie viele andere Autoren verwendeten beide die Begriffe „Führungsschicht" und „Elite" synonym, womit ausdrücklich „nicht die Gruppe von Menschen, die die politische Macht in Händen hat", gemeint war:57) „Elite versteht sich hier nicht als ,Gruppe', sondern als .geistige Voraussetzung' zur Führung, so wie einst Geburt, Besitz, Bildung Voraussetzung waren."58) Gleichzeitig bezeichneten beide Adel, Beamtentum und Offizierskorps, also soziale Gruppen mit Herrschaftsfunktionen, als „Eliteschicht". Auf welchen Wegen diese „Eliteschichten" jedoch die „Grundsubstanz" des Elitehaften an die Individuen übertrugen und auf welche Weise aus den Führungsschichten die charakterlich qualifizierten Elite-Individuen ausgewählt wurden, darüber machten die Autoren nur Andeutungen, wie „organisches Wachsen" und „übertragenes Charisma".59) Vor allem aber waren diese „Eliteschichten" eben doch identisch mit den Trägern der politischen Macht: Königtum, Kirche und Adel, die über derart große Amtsgewalt (potestas) verfügten, dass sie nicht allein auf die auctoritas der Nachahmung ihres Beispiels zur Durchsetzung von Entscheidungen angewiesen waren. So blieb die Bestimmung sowohl des Verhältnisses zwischen Wert- und Charakter-Elite einerseits und den Herrschaftsträgern andererseits als auch des spezifischen Elite-Handelns ausgesprochen unscharf. Nolens volens führte dieser Eliten-Begriff zu einer Verschleierung der Machtausübung von „Führungsschichten" und ihrer unharmonischen Seiten: rücksichtslose Interessenverfolgung, gewaltsame Lösung von Konflikten, Repression. Nach den Erfahrungen der NS-Diktatur sollten diese Formen der Durchsetzung sozialer (vor allem politischer) Normen in der gegenwärtigen und zukünftigen Ordnung Westdeutschlands ja auch nicht mehr angewendet werden. Dass sie jedoch weiterhin existierten, wurde im Denkhorizont des Modells der Wert- und Charakter-Elite eher verdeckt als sichtbar gemacht. Die Kehrseite dieser Unschärfe bestand im Übrigen darin, dass alle diejenigen, die in Übereinstimmung mit den sozialharmonischen Führungs-Modellen der Wert- und Charakter-Elite tatsächlich Führung ausüben wollten, hier wenig praktikable Anleitung zum Umgang mit Konflikten, zur Delegation von Kompetenzen, zur konsensualen Zielfindung und Arbeitsorganisation fanden. Diese Feststellungen gelten für die meisten derjenigen Autoren, die den Elite-Begriff an den Besitz persönlicher Autorität banden. 60 ) Diejenigen, die das Fehlen einer westdeutschen Elite beklagten, waren auch diejenigen, die sich um das Verschwinden der Autorität in der Gesellschaft sorgten. Beide Positionen sahen sich gegen Ende der 1950er Jahre zusehends herausgefor57

) Oder wie Herders Staatslexikon es ausdrückte: „Eine Kleingruppe, deren Vorrangstellung bloß auf dem Besitz äußerer Machtmittel beruht, ist noch keine Elite." Monzel·. Elite, Sp. 1162. 58 ) Bosl: Elitenbildung, S.458, S.496. 59 ) Bosl: Elitenbildung, S.460, S.467. Vor allem, aber keineswegs ausschließlich betrifft dies die von Intellektuellen aus dem Umkreis der Evangelischen Akademien vorgetragenen Modelle.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

dert: Erstens von der unermüdlichen Publikations- und Vortragsarbeit gemäßigt konservativer Politiker, die die Existenz einer neuen demokratischen Elite postulierten (und sich zum einen auf diese Weise selbst zur Elite erklärten, zum anderen auf die Autorität demokratischer Institutionen pochten), zweitens von einem (vorerst marginal bleibenden) liberal-sozialistischen Diskussionsstrang, der sich um die Durchsetzung eines auf der Vermittlungs- statt auf der Führungsfunktion basierenden Elite-Begriffs bemühte, und drittens schließlich - wohl am einflussreichsten - durch die Beiträge der konservativen Avantgarde, die das Konzept der Wert- und Charakter-Elite von den Beschränkungen seiner religiösen Gebundenheit und seiner Ganzheitlichkeit befreiten und es zu einer wirklichkeitsgerechteren Berücksichtigung der Faktoren ökonomischer und politischer Macht hin öffneten. Diesen Diskussionssträngen wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen. Solange sich jedoch die Mehrzahl der Publizisten wie der Humanwissenschaftler geisteswissenschaftlichen Modellen und Verfahren verpflichtet fühlte, blieb die Autorität der Elite wesentlich personengebunden gedacht. Dies gilt auch für den populärwissenschaftlich gehaltenen Beitrag, den Arnold Bergstraesser zu Beginn der 1960er Jahre zur Führungs-Diskussion beisteuerte. 61 ) Auch er argumentierte ausdrücklich geistesgeschichtlich und aus einer konservativen Verlustperspektive und trauerte vergangenen Wert- und Charakter-Eliten nach: 62 ) „Das menschliche Bild solcher Kraft der Führung, sei sie gedacht oder gelebt worden, bleibt in unserer geschichtlichen Erinnerung lebendig. So ist es in der Gestalt des platonischen Philosophen, des englischen Gentleman, aber auch des kontinentalen, aus der Grund- und Gerichtsherrschaft des Mittelalters hervorgegangenen Aristokraten überliefert. Für diese Gestalten ist die Festigkeit der letzten Motive und die aus ihr sich ergebende geistige Unabhängigkeit ebenso wichtig wie die Kunst des leitenden Umgangs mit Menschen und die gestaltungsfähige Sicherheit hinsichtlich der Ordnung des Gemeinwesens." 63 )

Vermutlich von Theodor Geigers Arbeiten übernahm Bergstraesser die Grundannahme, dass es sich bei der „Führung" um ein universales und überhistorisches Phänomen handle. 64 ) „Führung" bedeutete für ihn, „den Normen der Daseinsführung innerhalb der gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten zur Wirksamkeit zu verhelfen ... die Sorge um die Verwirklichung des Gesoll61

) Bergstraesser: Führung. Das schmale Buch ging bereits 1963 in die zweite Auflage. Über Bergstraessers demokratietheoretische Vorstellungen neuerdings Bauernkämper. Demokratie; sowie Schmitt. Freiburger Schule. 62 ) Bergstraesser: Führung, S.44. Bergstraesser beklagte u.a. „das anonyme Moment" der „modernen Gesellschaft" sowie den „Mangel an sichtbarer Zuordnung von Amt, Funktion und Einzelpersönlichkeit" früherer Zeiten, mit anderen Worten, auch er teilte die Auffassung von der höheren Legitimität vergangener Gesellschaftsordnungen, die sich auf eine ganzheitliche Elite hatten stützen können, die Macht, Reichtum und Ansehen in ihren Händen vereinte und ihre Führungsaufgabe in persönlichen Beziehungen materialisierte. Ebd., S.39. 63 ) Bergstraesser: Führung, S.34. 64 ) „Kein gesellschaftlicher Verband ist daseinsfähig ohne Führung." Bergstraesser: Führung, S.29.

4.1 Führung als Handeln der Elite

323

ten". 65 ) Das war gewissermaßen eine proto-funktionalististische Definition des Elite-Handelns, das uns in seiner reifen Form weiter unten im Konzept der Funktions-Elite, wie vor allem Hans Peter Dreitzel sie entwarf, wieder begegnen wird. 66 ) Dabei ging Bergstraesser jedoch in einem wichtigen Punkt über den bislang in der Publizistik erreichten Stand der Diskussion heraus, indem er die behauptete Universalität der Führung in vier verschiedene „Führungssysteme" differenzierte, in denen Führung auf gänzlich unterschiedliche Art und Weise ausgeübt werde beziehungsweise worden sei. Die Einteilung dieser „Führungssysteme" war ausgesprochen grob: „Primitive Ordnungssysteme", die „ständische Gesellschaft", die „freiheitlich-rechtsstaatliche Ordnung" sowie die „totalitäre Herrschaftsordnung". 67 ) Die Gegenwart der „freiheitlichrechtsstaatlichen Ordnung" sah er gekennzeichnet durch die Ausdifferenzierung von drei „Führungspyramiden": der politischen, der wirtschaftlich-sozialen und der „gesamtkulturell-normativen". 68 ) Worin nun „Standort und Rolle" der Führungskräfte und die „besondere Art der Führung" in diesen „Führungspyramiden" und den „Führungssystemen" tatsächlich bestanden, welche konkreten Anforderungen „Führung in der modernen Welt" den Führungskräften denn stellte, schrieb Bergstraesser nicht - dazu war sein Instrumentarium zu grobschlächtig, sein sozialwissenschaftliches Wissen vermutlich zu gering, und darin bestand offensichtlich auch nicht sein intellektuelles Ziel. 69 ) Ihm war es wahrscheinlich nur darum gegangen, recht konventionell „am Kreuzweg der Gegenwart... die Lösung des Problems der Führung" (und damit die Bedeutung der „Führungselite") als „zentrale politische Aufgabe" der Gegenwart herauszustellen. 70 ) Doch immerhin öffnete er damit die Debatten über „Führung" für die Idee, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme unterschiedliche Formen von „Führung" benötigten und dass beim Stand der Dinge „Führung" in der Politik anders als beispielsweise im Wirtschaftsunternehmen beschaffen sein müsste, was eine Abkehr vom Modell der einheitlichen Wertund Charakter-Elite bedeutete. Derartige Überlegungen wurden während des Untersuchungszeitraums jedoch nicht weiter vertieft. Vorerst blieb es bei der allgemeinen Feststellung, dass echte Führung auf persönlicher Autorität beruhe und nicht auf Gewalt und dass sie das Normensystem einer Gruppe bewahre und ihm zur Durchsetzung verhelfe. 65

) Bergstraesser. Führung, S.33. M) Da Bergstraesser und Dreitzel ihre publizistischen beziehungsweise sozialwissenschaftlichen Unternehmen faktisch gleichzeitig führten, kam es zu keiner gegenseitigen Berührung zwischen ihnen. Die intellektuelle Nähe zwischen ihnen ist unverkennbar, doch führte Dreitzel seinen Impuls ungemein konsequenter aus als Bergstraesser. 67 ) Es ist typisch für die damalige Verwendung des Totalitarismus-Begriffs, dass Bergstraesser hier dreieinhalb Seiten über den Kommunismus schrieb und dem Nationalsozialismus nur einen einzigen Satz widmete. Bergstraesser: Führung, S. 40-43. 68 ) Bergstraesser: Führung, S. 38-40. 69 ) Die Vagheit auch anderer Denkfiguren Bergstraessers betont auch Bauemkämper: Demokratie, S.264. 70 ) Bergstraesser: Führung, S.30. Zur „Führungselite" ebd., S.32.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte innerhalb der Unternehmerschaft Der Wandel, den der Unternehmer-Begriff in der Sicht und Artikulation der westdeutschen Geschäftswelt nach 1945 durchlief, wurde vorangetrieben durch eine Kette symbolischer Konflikte, die sich zum einen innerhalb der Unternehmerschaft, zum anderen zwischen dieser und anderen Gruppen (hauptsächlich Politikern und Gewerkschaftern) ereigneten. Für die Ausbreitung des Elite-Begriffs innerhalb der Unternehmerschaft waren dabei die Konflikte innerhalb der Geschäftswelt von ausschlaggebender Bedeutung. Diese Auseinandersetzungen konzentrierten sich hauptsächlich auf die Legitimität der Unternehmer-Bezeichnung. Anders gesagt, die Frage lautete: Wer ist ein Unternehmer, genauer, wer darf sich zu Recht als Unternehmer ansehen - und wer maßt sich dies nur an? Obwohl es sich dabei im Kern um eine Kontroverse zwischen verschiedenen Gruppen der Unternehmerschaft selbst handelte, beteiligten sich an ihr keineswegs ausschließlich Geschäftsleute und darüber hinaus auch nicht nur die „organischen Intellektuellen" der Verbandspresse und der wirtschaftsnahen Publizistik. Vielmehr lassen sich nicht weniger als vier unterschiedliche, sich jedoch personell und institutionell berührende Erörterungszusammenhänge unterscheiden, die an der Neubestimmung des Unternehmer-Begriffs und damit an der Lösung des hinter dieser Kontroverse stehenden symbolischen Konflikts arbeiteten: Erstens existierte in Deutschland spätestens seit den Studien Lujo Brentanos, 71 ) Joseph Schumpeters und Werner Sombarts eine sozialwissenschaftliche Debatte über Wesen und Funktion des modernen kapitalistischen Unternehmers, 72 ) zu der sich auch Max Weber mit seinen Untersuchungen zur modernen Wirtschaftsgesinnung und zu den ökonomischen Institutionen hinzurechnen lässt73) und die sich (zumeist unausgesprochen) am Marxismus abarbeiten musste. Seit der Akademisierung der Unternehmerschaft und der betrieblichen Führungskräfte im Allgemeinen und der Etablierung der Betriebswirtschaft74) im Besonderen griffen Wirtschaftswissenschaftler deren sozialwissenschaftliche Denkfiguren und Argumente auf. Zweitens erschienen gelegentlich auch im Feld der gehobenen Publizistik Aufsätze einerseits aus der Feder von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern, die Ergebnisse fachwissenschaftlicher Studien einem breiten Publikum präsentieren wollten, andererseits auch von intellektuell ambitionierten Unternehmern, die derartige Anstrengungen auf sich nahmen, um das Bild der Geschäftswelt in der Öffentlichkeit zu verbessern (und deren

71

) Vgl. die Zusammenfassung bei Turin: Begriff, S. 79-83. ) Sombart: Bourgeois; ders.: Kapitalismus, B d . l S.836-919, Bd.2 S.23-64, Bd.3 S.6-41; Schumpeter. Theorie; ders.: Konjunkturzyklen. 73 ) Weber: Die Börse, in: SSP, S. 256-322; ders.: Protestantische Ethik; ders.: WG, S. 31-121, S. 191-211. 74 ) Vgl. Franz: Markt. 72

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

325

materielle Privilegierung zu rechtfertigen), etwa indem sie auf die Bedeutung ihrer Branche 7 5 ) oder der unternehmerischen Entscheidungskompetenz schlechthin 76 ) für die Sicherung des allgemeinen Lebensstandards (das heißt für ein allgemeines und nicht speziell ökonomisches Gut) hinwiesen, und schließlich selbstverständlich von Publizisten, die ihre allgemeinen Kommentare zum Wirtschaftsleben oder zur „Industriellen Zivilisation" auf Bemerkungen über das Wesen der „Wirtschaftsführer" ausdehnten. Bereits aus dieser politisch-ideellen Strömungsrichtung wird deutlich, dass das Literarisch-Politische Feld nicht den Ort darstellte, an dem die Entscheidung in der Auseinandersetzung um den Unternehmer-Begriff fiel, sondern an dem die Entscheidung allenfalls bestätigt wurde. Auch die entscheidenden politisch-ideellen Impulse gingen diesmal nicht von der Publizistik aus. Gleichwohl ist unverkennbar, dass die Denkfiguren und damit die sprachlichen Bahnen, in denen sich diese Konflikte bewegten, schon eine Weile im Literarisch-Politischen Feld zirkulierten, bevor sie anderswo übernommen wurden. Besonders hoch verdichtet finden sich jene Denkfiguren in einem Artikel Fritz Hauensteins in der Gegenwart, also deijenigen Kulturzeitschrift, die mit Abstand die weiteste Verbreitung im Ökonomischen Feld fand. Hauenstein beklagte den „Mangel an Unternehmern", und das bedeutete: den Mangel an „echten" Unternehmern. 7 7 ) Für Hauenstein war mit der Marktwirtschaft deren „führende Figur" - also der Unternehmer - noch nicht zurückgekehrt. (Nur am Rande sei hier vermerkt, dass der Zeitpunkt des Abschieds, auf den sich diese erwartete Rückkehr bezog, nach Hauenstein nicht 1945, sondern 1933 anzusetzen war, mit anderen Worten, dass die Zeit des Nationalsozialismus eine Zeit ohne Marktwirtschaft - und ohne Unternehmer! - gewesen sei.) „Natürlich ist der Unternehmer formell noch vorhanden. (...) Aber die Persönlichkeit, in der sich alle unternehmerische Qualitäten vereinigen, der souveräne Unternehmer, scheint in nicht mehr vielen Exemplaren zu existieren." 7 8 ) Was mit dieser Unterscheidung zwischen dem formalen Unternehmertum und dessen inhaltlicher, nämlich persönlichkeitsgebundener Füllung gemeint war, erschließt sich erst anhand von Hauensteins allgemeinen zeitdiagnostischen Ausführungen. Der Autor sah die Wirtschaft seiner Gegenwart nämlich geprägt von den „zentralen Institutionen", die, geführt von der Figur des „Managers", mehr und mehr Entscheidungen an sich gerissen hätten. „Kollektive Einrichtungen", „das Arbeitsamt, die Arbeitslosenversicherung, die Gewerkschaft und natürlich der Staat" hätten die Initiative an sich gerissen, „das Zusammenwirken der Produktionsfaktoren zu organisieren und zu

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) Carl Wurster: Chemie und Lebensstandard, in: Universitas 15.1960, S. 1307-1318. ) Heinz Nordhoff: Die Führung großer Industrieunternehmen, in: Universitas 10.1955, S. 1027-39; ders.: Industrielle Wirtschaftsführung heute, in: Universitas 13.1958, S. 11-20. 77 ) Fritz Hauenstein: Mangel an Unternehmern, in: Die Gegenwart 4.1949 (1.8.1949), S.23-24. 78 ) Hauenstein: Mangel an Unternehmern, S.23. 76

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

lenken", und damit die eigentliche Unternehmerfunktion übernommen. 7 9 ) „Das Ergebnis ist eine erschreckende Entpersönlichung der Wirtschaft":80) Es zeige sich, „wie unpersönlich und unelastisch das wirtschaftliche Leben geworden ist, wenn nicht mehr die autonome Persönlichkeit handelnd auftritt, sondern der beauftragte Funktionär, der nicht die eigene Haut, sondern höchstens die gute Position riskiert. (...) Der Staat (lässt) innerhalb der Paragraphenzäune, die die Gemeinschaft schützen sollen, der unternehmerischen Persönlichkeit überhaupt keinen Spielraum mehr. Er presst sie in Programme und Pläne ein. (...) Die zentrale Fürsorge übersieht ... dass durch das unentwegte Planen und Organisieren den Menschen das Nachdenken abgewöhnt und die Verantwortung abgenommen wird und dass der natürliche Drang zur Selbsthilfe untergeht. (...) Während der echte Unternehmer Risiko, Opfer und Verluste auf sich nehmen müsste, um seine Absatzfähigkeit zu erhalten und neue Ideen zu realisieren, ist die persönliche Verantwortung allzu sehr auf Sicherheit aus oder gar auf materielle Vorteile und überlässt es der zentralen Organisation, die Mitarbeiter zu .betreuen', wie es einst hieß. (...) Es wird jede Freizügigkeit unterbunden ... Im Übermaß der Organisation wird das Nachdenken und die persönliche Verantwortung erstickt. Das ist auch ein Problem der Konjunktur".

Hier finden wir das komprimierte Meinungswissen wirtschaftsnaher Intellektueller während der 1950er Jahre: Der Verlust persönlicher Bindungen in den wirtschaftlicher Beziehungen durch den Interventionsstaat (weiter im Zentrum des Intellektuellen Feldes hieß das: durch die „sekundären Systeme"), die Skepsis gegenüber den Managern als den Funktionären dieser Institutionen, die keine persönlichen Bindungen - vor allem keine Übernahme des Risikos - in ihr Handeln aufnahmen, die deformierenden, freiheitszerstörenden und schließlich auch die wachstumsgefährdenden Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates. Hinzuzufügen ist, dass Hauenstein sich, wie fast alle Publizisten, Wissenschaftler und auch die Mehrheit der sich artikulierenden Unternehmer, bei dem Versuch einer Unternehmer-Definition auf Begriffsbestimmungen Joseph Schumpeters stützte. Schumpeter hatte bekanntlich definiert, dass „jemand grundsätzlich nur dann Unternehmer ist, wenn er ,neue Kombinationen durchsetzt' - weshalb er den Charakter verliert, wenn er die geschaffene Unternehmung dann kreislaufmäßig weiterbetreibt", dass also „Unternehmersein kein Beruf ist und überhaupt in der Regel kein Dauerzustand". 8 1 ) Aus dieser Definition entstand vermutlich schon in den 1920er und 30er Jahren eine Vulgärvariante, die die Begriffsbestimmung Schumpeters ihres analytischen Gehalts - der Unterscheidung gewissermaßen „situativer" Unternehmer und damit der Unternehmerfunktion vom Dasein normaler „Wirtschaftssubjekte" - vollständig entkleidete und in eine affirmative Variante umformulierte, die nunmehr jeden Geschäftsmann zum kreativen Schöpfer, eben zum emphatisch bezeichneten Unternehmer erhob. Diese vermutlich nicht intendierte, gleich-

79

) Hauenstein\ Mangel an Unternehmern, S.24. ) Hauenstein: Mangel an Unternehmern, S.23 (Hervorhebung im Original). 81 ) Schumpeter: Theorie, S. 116. 80

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

327

wohl geradezu systematisch betriebene und weithin zirkulierende Fehlrezeption Schumpeters enthob durch die Betonung der Kreativität und der Außeralltäglichkeit die Unternehmerfigur des schnöden Materialismus, gern unter zusätzlicher Berufung auf Walther Rathenau, von dem der Satz zitiert wurde, dass, „wer an persönlichen Geldgewinnen hängt... kein großer Geschäftsmann sein (kann)". 82 ) Damit war der Unternehmer nicht länger ein in erster Linie zum persönlichen Vorteil handelnder Mensch, sondern eine systemnotwendiger Akteur, und erst als solcher zog er das Interesse der sich mit allgemein relevanten Phänomenen beschäftigenden Intellektuellen in den Kulturzeitschriften auf sich. Typisch für derlei Betrachtungen war allerdings auch, dass sie mit keinerlei empirisch überprüfbaren Beispielen unterlegt wurden und stattdessen reines Meinungswissen präsentierten. Hauensteins Behauptung etwa, dass „die selbständigen Unternehmer jedenfalls eine verhältnismäßig kleine Gruppe" innerhalb der Geschäftswelt darstellen, hätte keiner Nachprüfung standgehalten. Diese Topoi verbreiteten Autoren mit unterschiedlicher Akzentuierung im Literarisch-Politischen Feld: Zunächst unter Betonung der grundsätzlichen Illegitimität der Herrschaft der Manager, 83 ) später wurde in eher larmoyantem als kulturpessimistischem Ton noch immer die Verdrängung des „Besitzer-Unternehmers" durch den „Direktor-Unternehmer" beklagt, doch die argumentative Zielrichtung hatte sich verschoben. Der Basler Professor für Staatswissenschaften Edgar Salin beispielsweise warnte 1953 unter dem Schlagwort von der „Fascisierung des Aktienwesens" (sie!) vor der Vermachtung der Besitzstimmrechte in der Hand weniger Banken und Versicherungen und dem damit einhergehenden Einflussverlust bürgerlicher Kleinanleger in der Ära des „Spätkapitalismus". 84 ) Schließlich konnte 1956, als sich sowohl die Friktionen innerhalb der Unternehmerschaft als auch die Kämpfe um die Mitbestimmung einigermaßen entspannt hatten, der Wiener Wirtschaftswissenschaftler Walter Heinrich unter Verwendung der gleichen Topoi („Erlahmung der schöpferischen und initiativen Kräfte", „Vermassung des Lebens", soziale „Nivellierung" durch den Wohlfahrtsstaat und Kollektivismus, schöpferische „Unternehmerpersönlichkeit" und Manager-Problematik) relativ gelassen berichten: „Je mehr Klein- und Mittelbetriebe es gibt... desto größer wird die Sphäre des privaten Unternehmertums." 85 ) Kehren wir zurück zum Problem der Neubestimmung des UnternehmerBegriffs, so ist drittens der zentrale und konfliktreichste Schauplatz jener Auseinandersetzungen zu identifizieren, nämlich der Raum der Unternehmer-

82

) Hauenstein: Mangel an Unternehmern, S.24. ) Schelsky: Managerherrschaft. 84 ) Edgar Salin: Der Gestaltwandel des europäischen Unternehmers, in: Merkur 7.1953, S. 214-23. 85 ) Walter Heinrich: Die Stellung des Unternehmers in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas 11.1956, S. 935-40, Zitat S.940. 83

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

schaft selbst, das heißt die differenzierte Gesamtheit der Aussagen von Geschäftsleuten und der Geschäftswelt nahestehenden Wissenschaftlern und Publizisten einschließlich der Verbandsfunktionäre, denen ganz unterschiedliche Medien und Orte zur Verfügung standen, um ihre Ansichten zu verbreiten: Die Verbandspresse, das heißt die offiziellen Organe der verschiedenen Interessengruppen, Gutachten, Reden vor Kongressen, Interviews und dergleichen mehr. Zu dieser Arena symbolischer Kämpfe ist vorab zu bemerken, dass hier die Verteilung ökonomischen Kapitals keineswegs unmittelbar über den Zugang zu ihr und über das Gewicht der Aussagen entschied, dass also mitnichten die Stimmen der Inhaber und Leiter von Großunternehmen von vornherein den Ausschlag gaben. Vielmehr vermochten auch wirtschaftlich weniger einflussreiche Gruppen sich wirkungsvoll zu artikulieren, zumal die großen Verbände im Interesse einer gewissen Einheit ihrer Mitgliedschaft nicht allzu offensichtlich Partei für die eine oder andere Seite ergreifen durften.86) Viertens schließlich sind die Evangelischen Akademien zu nennen. Bei den nun im Vordergrund stehenden Tagungen handelte es sich allerdings weniger um die großen Orientierungstagungen mit möglichst prominenten Referenten, die über „allgemeine" Themen referierten, sondern um Veranstaltungen, die speziell auf eine unternehmerische Teilnehmerschaft zugeschnitten waren (einschließlich der „Begegnungstagungen" mit Gewerkschaftsvertretern; hinzuzurechnen sind ferner einige Tagungen für Militärs und hohe Beamte) und auf denen das Selbstbild und die spezifischen Handlungsprobleme von Geschäftsleuten diskutiert wurden. Konflikte innerhalb der Unternehmerschaft waren nach 1945 nichts grundsätzlich Neues. Das Besondere an den hier zu untersuchenden Auseinandersetzungen liegt darin, dass es sich nicht um die normalen, gelegentlich auch durch persönliche Animositäten verstärkten Konkurrenzkämpfe zwischen den Leitern einzelner Unternehmen handelte und auch nicht um die etwas sel86

) Ein Beispiel dafür liefert die lange Rezension, in welcher das BDA-Verbandsorgan Der Arbeitgeber Josef Winschuhs Buch „Das neue Unternehmerbild" würdigte. Dieses wurde ausgesprochen positiv besprochen, doch ausgerechnet die hier von Winschuh wiederholt propagierte „Eigentümer-Ideologie", die sich gegen die Manager der Kapitalgesellschaften richtete und sich wie ein roter Faden durch das Werk zog, wurde mit keinem Wort erwähnt. Auf Winschuh und seine publizistischen Aktivitäten wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Vgl. „Das neue Unternehmerbild", in: Der Arbeitgeber 7.1955, S. 116-18. - Im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen um handfeste materielle Interessen - etwa der Kartelldebatte - , in denen der BDI keine Scheu zeigte, eine bestimmte Seite offen zu unterstützen (in der Regel diejenige der Großindustrie und während der 1950er Jahre vor allem diejenige der rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen), konnten die wirtschaftlichen Spitzenverbände in diesem symbolischen Konflikt keine derartige einseitige Stellungnahme vornehmen, schon weil die Konfrontationslinie quer zu den bisherigen und vertrauten Konfliktgrenzen (nach Branchen, Betriebsgrößen, der Exportorientierung usw.) verliefen. Die Binnenkonflikte der wirtschaftlichen Spitzenverbände sind allerdings noch wenig erforscht. Vgl. Berghahn: Unternehmer, S. 152-201; Ulimann: Interessenverbände, S. 237^16; Bühren Unternehmerverbände; demnächst aber die Monographie von Werner Bührer über den BDI.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

329

teneren, aber ebenfalls nicht ungewöhnlichen, zumeist wirtschaftspolitischen und von Verbänden ausgefochtenen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Branchen, sondern um genuin symbolische, die Legitimation unternehmerischer Herrschaft als solche unmittelbar berührende Kämpfe. Den Kern der Debatte bildete dabei die Frage, ob einzig und allein die EigentümerUnternehmer, die in ihren Händen zugleich den Besitz des Unternehmenskapitals und die Gewalt über die strategischen Allokationsentscheidungen vereinten, als wirkliche „Unternehmer" anzusehen seien oder ob sich auch die Angestellten-Unternehmer ohne nennenswerten Kapitalbesitz - die „Manager" - rechtmäßig als solche bezeichnen durften. Jegliche Unternehmer-Definition, die ausschließlich auf dem Besitz (und nicht der Kontrolle) der Produktionsmittel, des Unternehmenskapitals basierte, musste die Manager der (großen) Kapitalgesellschaften ausschließen. Dabei stellt sich zunächst die Frage nach den Ursprüngen und Anlässen der Debatte, denn Vorbehalte von Eigentümer-Unternehmern gegenüber Kapitalgesellschaften waren so alt wie die Existenz der letzteren. 87 ) Was diesen Konflikten nach 1945 in Westdeutschland zunächst ihre besondere Brisanz verlieh, war zum einen der Umstand, dass das nationalsozialistische Wirtschaftssystem vor allem unter den Zwängen der Kriegswirtschaft seine Probleme in Fortsetzung und Verschärfung schon länger bestehender Interessendivergenzen recht einseitig auf Kosten mittlerer und kleiner Betriebe zu lösen versucht hatte und die Leiter der Großunternehmen in diesem System eine enorme Konzentration ökonomischer Macht betrieben. 8 8 ) Zum andern hatte das NS-Regime durch das Unterbinden freier Debatten und durch die Umformung der Institutionen der unternehmerischen Selbstverwaltung die öffentliche Artikulation gegensätzlicher Interessen auch innerhalb des engeren ökonomischen Feldes unmöglich gemacht. 89 ) Nach 1945 konnte sich der lange aufgestaute Unmut Luft verschaffen; und neue Probleme traten hinzu. Dass allerdings inmitten der ökonomisch außerordentlich prosperierenden 1950er Jahre eine an den Grundfesten des unternehmerischen Selbstverständnisses rüttelnde Kontroverse im Raum der Geschäftswelt selbst erwachsen konnte, legt die Vermutung nahe, dass länger zurückreichende und aktuelle Ursachen sich verschränkten und dass es sich um mehr handelte als um einen Sturm im Wasserglas. Der tiefere Grund für die teilweise erbittert geführte Auseinandersetzung lag nämlich im Ausgang des Kampfes um die betriebliche Mitbestimmung zu Beginn der 1950er Jahre. Der Untergang des Dritten Reiches hatte auch die Betriebsverfassung nicht unberührt gelassen. Bis 1945 hatte der einfache

87

) So bedurfte es bis 1870 zur Gründung von Aktiengesellschaften einer - nur selten erteilten - staatlichen Erlaubnis; und innerhalb der Geschäftswelt waren die Widerstände gegen die soziale Gleichrangigkeit der Direktoren mit den Eigentümern sehr groß. Vgl. Boch: Wachstum, S. 274-91. Am Beispiel des Bankwesens vgl. Reitmayer: Bankiers, s«) Wehlen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4 S. 691-98, S. 915-25. 89 ) Neumann: Behemoth, S. 292-306, S.328, S. 636-38.

330

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Status eines Eigentümers oder Direktors den Herrschaftsanspruch der Unternehmer über die Beschäftigten begründet. Die Einführung des „Führerprinzips" in der Wirtschaft durch das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 193490) unterwarf die als „Gefolgschaft" bezeichneten Arbeiter der autoritären Kontrolle durch den „Betriebsführer". 91 ) Letztlich verlangte der unternehmerische Herrschaftsanspruch, wie er klassisch im „Herrim-Hause"-Standpunkt 92 ) zum Ausdruck kam, die vollständige und bedingungslose Unterwerfung der Beschäftigten unter die Entscheidungsgewalt des Unternehmers. 93 ) Das aus dem Nationalsozialismus stammende Ordnungsmodell des „Führerprinzips" erfreute sich bei den Unternehmern aller späteren Klagen über die staatlich gelenkte Zwangswirtschaft dieser Zeit zum Trotz großer Beliebtheit, da es ihre innerbetriebliche Entscheidungsmacht gegenüber der Weimarer Zeit enorm steigerte. In der Sprache der Führer-Doxa ließen sich die Unternehmensleiter des Ruhrgebiets in der Hagiographie der Werkszeitschriften portraitieren, entweder als „Kämpfer", um den sich die Gefolgschaft scharte, oder als „Genie", dessen Visionen nur zu glauben und zu folgen war. 94 ) Und doch, darauf ist hinzuweisen, war das nationalsozialistische „Führerprinzip" nur Teil eines weiteren, im gesamten Europa der Zwischenkriegszeit (wenn auch mit einem deutlichen Ost-West-Gefälle) verbreiteten, gleichsam paradigmatischen politisch-ideellen Strukturzusammenhangs von handlungsleitenden Anschauungen, Vorannahmen und Interessenausformungen, eben der Führer-Doxa, die sich in erster Linie durch den Glauben an eine rational nicht erklärbare (und nicht unter rationalen Begründungszwängen stehende) Berufung des Führers sowie an Effizienz- und Leistungssteigerungen durch autoritäre Entscheidungen in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen auszeichnete. 95 ) Diese Führer-Doxa war nach 1945 in Westdeutschland politisch vollkommen diskreditiert, nicht mehr positiv artikulierbar, und auch gegenüber den Beschäftigten kaum noch durchzusetzen. Als Begründung betrieblicher Herrschaft und als Kernelement einer Unternehmerdefinition, die auf der betrieblichen Kommandogewalt beruhte, ließ sie sich daher nicht mehr öffentlich verwenden. Gleichwohl ließ sich ein solcher sozialer Glaube nicht in kurzer Zeit einfach austauschen, musste vielmehr recht mühsam durch andere

90

) Mason: Entstehung. ) Hartmann zitiert in seiner Untersuchung eine undatierte Schrift aus der Zeit des Nationalsozialismus mit dem sprechenden Titel „Der Betriebsführer und seine Unterführer". Hartmann: Unternehmer, S. 207. 92 ) Vgl. Faulenbach: Bergassessoren. 93 ) Trischler. Führerideal; ders.: Modernisierung; Wixforth: Entscheidungen. 94 ) Vgl. Unger: Wirtschaftselite; ders.: Herren. 95 ) Die europäischen Verbreitung der Führer-Doxa vor allem, aber längst nicht nur in den Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs sowie in den neuentstandenen Ländern ohne parlamentarische bzw. demokratische politische Tradition beschreibt (ohne diesen Begriff zu verwenden) Mai: Europa, S. 30-40. 91

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

331

Ordnungsmodelle ersetzt werden, die wiederum ihrerseits erst verbreitet und debattiert werden mussten, bevor sie ein gewisses Maß an Orientierungssicherheit, Legitimationsleistung und Handlungsleitung verbürgen konnten. 96 ) Gleichzeitig befand sich die Verfassung der Betriebe in den Westzonen formal-rechtlich während der ersten Nachkriegsmonate in einem Vakuum. 97 ) Die Unternehmen unterstanden der alliierten Besatzungspolitik, zahlreiche Unternehmer wurden verhaftet, und in vielen Unternehmen übernahmen Betriebsräte und Gewerkschaften nicht nur die soziale Versorgung der Belegschaften mit Lebensmitteln, Wohnraum und weiteren lebensnotwendigen Gütern, sondern beteiligten sich aktiv an der Unternehmensleitung. 98 ) Gerade weil die Alliierten mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 22 den Spielraum der Betriebsräte bereits im April 1946 einschränkten, verstärkten die Gewerkschaften ihre Forderungen zunächst nach überbetrieblichen Mitbestimmungsrechten - im Anschluss an die Konzepte der Wirtschaftsdemokratie aus der Weimarer Zeit 99 ) - , dann zumindest nach möglichst weitreichenden Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung. Auch wenn das Gesetz zur Mitbestimmung in der Montanindustrie vom April 1951 und erst recht das Betriebsverfassungsgesetz vom Juli 1952 die gewerkschaftlichen Erwartungen nicht erfüllte, 100 ) stießen diese bei den Unternehmern auf teilweise erbitterte Ablehnung. 101 ) Im Oktober 1951 erklärte Fritz Hellwig vom BDI-nahen Deutschen Industrieinstitut in Köln, dass sich die Westdeutschen „in einer latenten Bürgerkriegssituation" befänden, deren Ausbruch nur „durch die Anwesenheit der Besatzungsmächte verhindert" werde. „Dieser latente Bürgerkrieg" ging nach Hellwig darauf zurück, dass „der Staat als eine objektive, neutrale Instanz ... mit dem Ende des souveränen Staates verlorengegangen" sei, was sich daran zeige, dass „gesetzgeberische Maßnahmen ... im außerparlamentarischen Raum erzwungen wurden (Mitbestimmungsrecht)". 102 ) Solche Sätze ließen sich vor der Hintergrund der tatsächlich zum Teil bürgerkriegsartigen Konflikte nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland (etwa im Ruhrkampf) nur als Warnung (oder Drohung) vor einer gewaltförmigen Zuspitzung der Konflikte zwischen Arbeitge96

) Lebensgeschichtliche Untersuchungen bestätigen jedenfalls die Persistenz von Ordnungsbildern in den Kategorien der Führer-Doxa (der Unternehmer als Führer; Führer und Gefolgschaft; Führer und Betriebsgemeinschaft) über die Zäsur von 1945 hinaus. Markus: Bilanzieren, S. 124, S. 132-34, S. 140. 97 ) Müller. Mitbestimmung, S.93; Müller-List: Montanmitbestimmung, S.XXX; Plumpe: Plan, S. 15-96. 98 ) Vgl. als Fallbeispiel Lauschke: Hoesch-Arbeiter, S. 70-118. ") Angster: Konsenskapitalismus, S. 211-33. 100) vgl Thum: Mitbestimmung; Schmidt: Neuordnung. 101 ) „Die Gewerkschaften wollten ein generelles Mitbestimmungsrecht. Würde es gewährt, dann wäre das der Anfang eines Weges nach Russland", erklärte ein Teilnehmer der Unternehmertagung „TSB für Männer der Wirtschaft in Süddeutschland" im Mai 1950 in Bad Boll. BB002, Aussprache, S.7. 102 ) Fritz Hellwig: Koreferat zu: Krisis der Wirtschaftsordnung - Krisis der Gesellschaft, in: L010,S. 22/23, ZitatS. 23.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

bern und Arbeitnehmern verstehen. Hermann Reusch, Generaldirektor der GHH, bezeichnete die betriebliche Mitbestimmung im Januar 1955, nach der Holding-Novelle zum Montanmitbestimmungsgesetz, als das „Ergebnis einer brutalen Erpressung durch die Gewerkschaften ... in einer Zeit... in der die Staatsgewalt noch nicht gefestigt war", 103 ) und verlangte die Rücknahme der über das Betriebsverfassungsgesetz hinausgehenden - paritätischen - Regelungen für die Eisen- und Stahlindustrie und den Bergbau. Doch ausgerechnet in der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr fanden diese Worte kein Echo, sondern vor allem bei den Inhabern von kleinen und mittelständischen Unternehmen. 1 0 4 )(Nur in Klammern sei vermerkt, dass die unter Unternehmern damals weitverbreitete Auffassung, die Mitbestimmungsgesetze gingen auf die spezifische Schwäche der staatlichen Ordnung in Westdeutschland zurück, auf eine Denkfigur hinweist, die den autoritären Obrigkeitsstaat mit „Stärke" und die repräsentative Demokratie mit „Schwäche" identifizierte.) Die weiteren betrieblichen Konsequenzen des westdeutschen Modells betrieblicher Mitbestimmung müssen hier nicht erörtert werden. 105 ) Es genügt der Hinweis, dass die Montanindustrie, in der die Mitbestimmung durch die Parität der Vertreter im Aufsichtsrat und die Einsetzung des Arbeitsdirektors im Vorstand am weitreichendsten war, lernte, mit der neuen Unternehmensverfassung zu leben. Ja, es hat den Anschein, als ob - von einzelnen hardlinern wie Hermann Reusch abgesehen - die Unzufriedenheit über das Betriebsverfassungsgesetz bei den Inhabern kleiner und mittlerer Unternehmen, die ganz überwiegend nicht als Kapitalgesellschaften mit Aufsichtsräten verfasst waren, größer war als bei den Leitern der Großunternehmen, die sich ohnehin längst an konsultative Entscheidungsprozeduren gewöhnt hatten. Anders gesagt, die Notwendigkeit einer Abkehr von der Führer-Doxa als Grundlage unternehmerischen Rollenhandelns stellte sich bei den Eigentümer-Unternehmern mit einer weitaus größeren Radikalität als bei den Managern. Doch längst nicht alle Eigentümer waren gewillt, diese Abkehr zu vollziehen. Josef Winschuh, schon in der Weimarer Republik einer der publizistisch rührigsten Unternehmer seiner Zeit, 106 ) postulierte 1950 vor einer Versammlung selbständiger Unternehmer, dass „der Unternehmer gerade seine soziale Aufgabe nur dann erfüllen (kann), wenn der Betrieb ein Gebilde mit,Führerprinzip' bleibt [sie!], dessen Entscheidungen, Umstellungen

103

) Zitiert nach Müller: Strukturwandel, S.270. ) Müller: Strukturwandel, S.271. 105 ) Das Schrifttum allein zur Montanmitbestimmung ist außerordentlich umfangreich. Schon 1955 wurden 6000 Titel gezählt, 1963 bereits 9600. Vgl. Platz: „Überlegt euch das mal ganz gut", S. 201. 106 ) Josef Winschuh (1897-1970) wurde 1920 Direktionssekretär für soziale Angelegenheiten in einem Walzwerk der Thyssen-Gruppe und damit der erste Sozialsekretär in der Weimarer Republik. Das Unternehmen finanzierte ihm nach der erfolgreichen Beilegung eines Streiks ein Studium der Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Er promovierte bei Ernst Troeltsch über das staatliche Schlichtungswesen und veröffentlichte Bücher und 104

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

333

und Anpassungen vom Unternehmer selbst bestimmt werden, und zwar sachlich und schnell, ohne Verzögerung und Verwässerung, ohne geteilte Verantwortung, die nur Schwächung bedeutet, um so mehr, wenn der Mitbestimmende gar nicht in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen und sich der Mithaftung entzieht. Eine Betriebsdemokratie ist unsinnig. Der Betrieb braucht Hierarchie. Soviel zur wirtschaftlichen Mitbestimmung." 107 ) Winschuh formulierte hier geradezu exemplarisch den Glauben an die leistungssteigernde Wirkung der monokratischen Herrschaftsform, einem Kernbestandteil der Führer-Doxa. U n t e r dem Druck der Umstellung zeigten sich zahlreiche Eigentümer-Unternehmer äußerst enttäuscht über die einstmals so mächtigen „Herren an der Ruhr", die es nicht vermocht hatten, den Angriff auf die unternehmerische Entscheidungsmacht abzuwehren, und die nun mit Vertretern der Belegschaften im Vorstand als Entscheidungszentrum des Unternehmens - eben den Arbeitsdirektoren - zumindest nach außen vertrauensvoll zusammenarbeiteten. 1 0 8 ) Für die Eigentümer-Unternehmer sah die Lage nun wie folgt aus: „In seine (des Unternehmers) Flanke drückt dabei als neue Erscheinung der sozialistische Manager [sie!], teilweise in Form des gelernten Unternehmers, der zum Sozialismus übergegangen ist. Und zwar erfolgt dieser Flankendruck bezeichnenderweise von der früheren, basaltenen Bastion des Unternehmertums, der Ruhr her". 109 ) In der Geschäftswelt verbreitete sich nun die Bezeichnung „an der Ruhr erkrankt" für gegenüber den Betriebsräten und Gewerkschaften kooperationsbereite Unternehmer. 1 1 0 ) U n d tatsächlich hatten sich Ruhrindustrielle wie Heinrich Kost von der D K B L während der Kämpfe um die Montanmitbestimmung in ihrem B e m ü h e n , weitergehende Sozialisierungsforderungen der Gewerkschaften abzuwehren, zu Konzessionen in Form einer (abgeschwächten) Mitbestimmungsregelung bereit erklärt und dabei öffentlich die sakrosankte Position des Kapitalbesitzes als Grundlage unternehmerischer EntscheidungsArtikel über soziale Unternehmensführung. Danach begann seine journalistische Tätigkeit, zunächst bei der Kölnischen Zeitung, später bei der DAZ. Von 1929 bis 1932 arbeitete er für den Arbeitgeberverband VDA. 1930 bis 1932 bekleidete er ein Reichstagsmandat für die DDP. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er Teilhaber und Geschäftsführer der Textilfirma seines Schwiegervaters und übernahm zahlreiche Verbandsposten: Er war u. a. Mitgründer der ASU, Vorstandsmitglied des BDI sowie der BDA, Kuratoriumsmitglied des deutschen Industrie-Instituts, Rundfunkrat beim SWF sowie Vorsitzender des Verbandes der pfälzischen Industrie. Zu Winschuhs Biographie und seiner publizistischen Arbeit vgl. Keilen: Winschuhs Beiträge. 107 ) Winschuh: Ansprache, S.69; auch in: Der Arbeitgeber 2.1950 (1.7.1950), S.31^0. 108 ) Diese Zusammenarbeit konnte allerdings auch so aussehen wie bei Mannesmann, wo der Arbeitsdirektor von den Vorstandsmitgliedern Zangen und Winkhaus systematisch von Informationen abgeschnitten wurde. Diesen Hinweis verdanke ich Johannes Platz, Trier. 109) Winschuh: Ansprache, S.69 (Hervorhebung von M.R.); ähnlich formuliert in: Unternehmerprogramm, S.96; ders.: Um das Unternehmerbild, in: Der Arbeitgeber 3.1951 (1.12.1951), S. 24-27, Zitat S.26. 110 ) Hartmann\ Unternehmer, S. 52.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

macht verlassen beziehungsweise sogar kritisch problematisiert. 111 ) Im Oktober 1949 erklärte Kost, „es sei wichtig, Formen des Eigentumsgebrauchs zu finden, die einen Missbrauch der Macht ausschlössen. Wem dagegen das Eigentum de jure zustünde, sei weniger ausschlaggebend, denn in jedem Falle bleibe der ,Manager', der über das Schicksal des Betriebes entscheide. Auch hier sehe er in dem Mitbestimmungsrecht ein geeignetes Mittel, Machtmissbrauch zu verhindern." 112 )

Und Otto A. Friedrich, der spätere BDA-Präsident, bezeichnete 1953 im Loccum auch das Betriebsverfassungsgesetz als „einen Versuch der verständnisvollen Begegnung", auch wenn er im Weiteren vor der „Gefahr der Herausbildung eines Bonzentums und der Lähmung der Verantwortungsfreudigkeit des Unternehmers" warnen zu müssen glaubte. 113 ) Angesichts dieser - in den Augen der Eigentümer-Unternehmer einem Verrat an unternehmerischen Grundpositionen gleichkommenden - Kooperation von Managern und Gewerkschaftsvertretern auf dem Boden des Mitbestimmungs-beziehungsweise Betriebsverfassungsgesetzes begann ein Teil der Eigentümer, der sich im September 1949 (also wenige Wochen vor jenem Ausspruch von Kost) in der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU) zusammengeschlossen hatte, mit der heftigen Agitation gegen die AngestelltenUnternehmer und sprachen ihnen den Status als Unternehmer ab. Die ASU fungierte damit als Sprachrohr einer offensiv vertretenen „Eigentümer-Ideologie". Die Kernpunkte dieses ideologischen Systems lassen sich in zwei einfachen Gegensatzpaaren ausdrücken: Erstens im Gegensatz zwischen einer positiv bewerteten Begründung des Unternehmer-Daseins durch seinen Unternehmensbesitz, sein Eigentum einerseits und der negativ bewerteten, gewissermaßen „usurpierten" Entscheidungsmacht über die Allokation der Unternehmensressourcen ohne Besitz am Unternehmen andererseits. Das zweite Gegensatzpaar bestand zwischen der Vorstellung, das Unternehmertum legitimiere sich durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, und der entsprechenden Ablehnung rationaler, formal überprüfbarer Kriterien der Legitimation, der gegenüber andere Akteure auf eben diese Kriterien beharrten. In der Tat handelte es damit sich bei der Propaganda der „Eigentümer-Ideologie" nicht bloß um die Rechtfertigung eines bloß formal-rechtlich definierten Status, sondern um eine Soziodizee des geradezu ontologisch gedachten Unternehmertums. Dabei erfolgten die Anwürfe gegen die Angestellten-Unternehmer nicht direkt und in der Form, dass diesen ausdrücklich - womöglich namentlich! -

m ) Zu Kosts Position in der Mitbestimmungsfrage und seinem Einfluss auf Adenauer vgl. Berghahn: Unternehmer, S. 225/26. 112 ) Heinrich Kost: (Podiumsdiskussion), in: L002, S.5 (Hervorhebung von M.R.). 113 ) Otto A. Friedrich: Der Unternehmer im Spannungsfeld der Wirtschaftspolitik, in: L021, S. 20-27, Zitat S.25. In überarbeiteter Fassung ließ Friedrich seinen Vortrag dann unter dem Titel „Die Überwindung sozialer Spannungen" in der Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts (Nr. 45,9.9.1953) veröffentlichen.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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der Unternehmer-Status abgesprochen worden wäre. Vielmehr bedienten sich die Sprecher der Eigentümer-Ideologie, wie beispielsweise Josef Winschuh, aber auch zahlreiche andere ASU-Mitglieder, bestimmter Denkfiguren, die bereits in zahllosen Beiträgen im Intellektuellen Feld zirkulierten, und zwar hauptsächlich solchen der Abwertung aller funktionalistischen Ideen, Kategorien, Handlungsorientierungen, Sozialbeziehungen und Positionsbeschreibungen zu Gunsten unmittelbarer, authentischer und deshalb echter menschlicher Handlungsweisen und Orientierungen. Zu den derart gedachten echten Bindungen zählten zuvörderst die Familie, der Staat und das Privateigentum. 114 ) In diesem Sinne wurde den Angestellten-Unternehmern ihre innere Bindungslosigkeit gegenüber dem wirtschaftlichen Handeln vorgeworfen. Ein Eigentümer-Unternehmer, den der Soziologe Heinz Hartmann während der 1950er Jahre interviewte, erklärte dazu: „Manager ist der Funktionär, der für Bezahlung eine bestimmte Arbeit tut, heute beim Arbeitgeberverband, morgen in der Industrie, übermorgen bei den Gewerkschaften oder Ministerien." 115 ) Unglücklicherweise verwendeten ausgerechnet führende Gewerkschafter den Terminus „Manager" ausgesprochen gern, etwa Franz Grosse von der IG Bergbau, der bereits im Januar 1949 - unter Verweis auf James Burnhams Buch „Die Revolution der Manager" - feststellte, dass die „Macht" nicht beim „Kapital", sondern bei den „Managern" liege. 116 ) Diese Rhetorik verstärkte noch den Argwohn der Eigentümer-Unternehmer gegenüber den Managern. Vom Topos der Selbständigkeit und des Eigentums als konstituierende Kriterien für den wahren Unternehmer-Status aus ließ sich relativ leicht das unternehmerische Risiko - formuliert als persönliches Risiko, das nur Inhaber, nicht aber Manager trügen - zum ausschlaggebenden Merkmal des echten Unternehmers erheben, was die Angestellten-Unternehmer auf den Status eines besser bezahlten abhängig Beschäftigten reduzierte, wie Walter Bauer, der Gründungsvorsitzende des in Bad Boll ansässigen Unternehmerzusammenschlusses Wirtschaftsgilde es formulierte: „Das Denken der Mitarbeiter und der Leiter von Grossbetrieben und marktbeherrschenden Unternehmungen (unterscheidet) sich von dem Denken des im Wettbewerb stehenden Unternehmers doch ganz wesentlich. Ich wage die Behauptung: So gewiss das Denken und die Antriebe des Soldaten oder des Ingenieurs verschieden sind von dem Denken und den Antrieben des Kaufmanns, so gewiss sind auch das Denken, die Antriebe und die Arbeitsbedingungen bei dem im Wettbewerb stehenden Unternehmer und seiner Mitarbeiter verschieden von dem Denken, den Antrieben, von den Bedingungen des marktbeherrschenden Großbetriebes." 117 )

114

) Dem kam selbstverständlich entgegen, dass, wie Meinungsumfragen belegten, in weiten Teilen der Bevölkerung ein Unternehmer-Begriff vorherrschte, der an den Unternehmensbesitz gebunden war. Hartmann: Unternehmer, S.39. 115 ) Zitiert nach Hartmann: Unternehmer, S.50. u6 ) Franz Grosse: Macht und Gewissen im Wirtschaftskampf, in: L002, Anlage 4 S.5-6. n7 ) Walter Bauer: Der Unternehmer zwischen Aktivismus und Fatalismus, in: BB0I2, Anlage S. 1-7, Zitat S.3.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

Und obwohl die Evangelischen Akademien bemüht waren, ihre Neutralität in dieser Debatte zu wahren, standen viele der klerikal-protestantischen Intellektuellen innerlich auf Seiten der Eigentümer, gerade weil sie die Ablehnung funktionalistischen Denkens teilten, wie ein Ausspruch von keinem geringeren als Landesbischof Hanns Lilje verrät: „An die Stelle des Magnaten tritt der Manager. Die Wirtschaft durch Funktionäre bestimmen zu lassen ist keine Lösung."118) Diese semantische Strategie war so erfolgreich, dass sogar die AngestelltenUnternehmer den Begriff „Manager" ablehnten bzw. nicht als solche bezeichnet werden wollten.119) „Ich kann das Wort einfach nicht mehr ausstehen", bekannte Hartmann gegenüber ein von ihm interviewter Direktor einer der größten westdeutschen Montankonzerne. Und der deutsche Leiter der Personalabteilung eines amerikanischen Unternehmens gab zu: „Manager klingt uns nicht gut in den Ohren." 120 ) Auch der Publizist Herbert Gross, gewiss kein Gegner des Managements, polemisierte auf einer Loccumer Tagung gegen das „Funktionärswesen" und „Funktionärsdenken". Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. 121 ) Die Propagandisten der Eigentümer-Ideologie erfanden sogar eine neue Bezeichnung für die Leiter der Kapitalgesellschaften, die angesichts des ideengeschichtlichen Umfeldes nicht ohne Perfidie gewählt war, nämlich diejenige des „beauftragten Unternehmers". Angesichts der, wie sich weiter unten zeigen wird, nicht nur unter Eigentümer-Unternehmern verbreiteten Vorstellung, dass sich ein echter Unternehmer gerade dadurch auszeichne, dass er selbstverantwortlich wirtschafte, war dieser Terminus ein Widerspruch in sich und nur dazu geeignet auszudrücken, dass ein Angestellten-Unternehmer eben kein wirklicher Unternehmer war.122) Wie bereits angedeutet, bestand der zweite Kernpunkt der „EigentümerIdeologie" in dem gedachten Gegensatz zwischen (wiederum positiv bewerteten) nicht rational nachprüfbaren Rechtfertigungen unternehmerischer Macht und unternehmerischen Handelns, nämlich durch Persönlichkeitsmerkmale und Charakterprägungen einerseits und andererseits den vehement abgelehnten Legitimationsversuchen durch stärker rationale Kriterien wie mess-

n8 ) Hanns Lilje: Was geht das die Kirche an? Zur Frage des christlichen Auftrags in der Wirtschaft, in: BB002, S.4-6, Zitat S.6. 119 ) Unternehmertum und Arbeitertum, in: Der Arbeitgeber 2.1950 (1.8.1950), S. 9-10. 12 °) Zitiert nach Hartmann·. Unternehmer, S.49. m ) Herbert Gross: Die deutsche Stellung im sozialen Spannungsfeld der Welt, in: L004, S. 10/11. Auch die BAD-Zeitschrift Der Arbeitgeber blieb zunächst skeptisch: „Ob man freilich richtig daran tut, den in Deutschland anrüchigen [sie!] Begriff des Managers zu popularisieren, ist eine andere Frage". Aus Presse und Literatur, in: Der Arbeitgeber 1.1949 (1.12.1949), S.28. m ) Zitiert nach Hartmann: Unternehmer, S.39, S. 49-52. Dass der Begriff des „beauftragten Unternehmers" gewissermaßen semantisch vergiftet war, entging damals der scharfen Analyse Hartmanns.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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bare Leistungsanforderungen, formale Ausbildungsniveaus und rechtlich verankerte Entscheidungspositionen. Der Bocholdter Industrielle und ASU-Vorstand Alfred Flender erklärte im März 1954 auf einer Unternehmer-Tagung in Loccum: „Was versteht man denn eigentlich unter einem Unternehmer? Die bisherigen Definitionen, die den Unternehmer als einen Mann herausstellen, der etwas unternimmt, Mut zur Verantwortung hat und tatkräftiger als andere ist, treffen noch nicht den Kern der Sache. Vielleicht sollte man den Unternehmer dabei mehr mit seinem Unternehmen, also mit seinem ureigensten Bereich identifizieren. (...) Während früher der wirtschaftliche Erfolg eines Unternehmers maßgeblich war, fragt man heute, wie er in seinem Betrieb geachtet wird". 123 )

Berücksichtigt man, dass an der Evangelischen Akademie die harmonisierende Sprache eines Neutralen Ortes zu sprechen war, so wird in diesem Zitat die Absage an das Erfolgsprinzip und das Bekenntnis zum Eigentum am Betrieb als Voraussetzung des Unternehmer-Status recht deutlich. In der ASU-Zeitschrift Die Aussprache nahm Flender drei Monate später dann kein Blatt mehr vor den Mund: „Die Versuche verschiedener Gruppen, den Zugang zur wirtschaftlichen Tätigkeit von einer Leistungsprüfung beziehungsweise Prüfung der Fachkenntnisse abhängig zu machen, werfen uns in das alte Zunftwesen zurück ... In der Geschichte des deutschen Unternehmertums haben sich als die großen Unternehmer gerade die gezeigt, die als Dilettanten ihre unternehmerische Begabung entwickelt haben." 1 2 4 ) Auf symbolischer Ebene befanden sich die Manager-Unternehmer damit in der Defensive. Es half zunächst wenig, dass Wissenschaftler wie der Mainzer Volkswirtschaftler Erich Welter oder BDI-nahe Publizisten wie Herbert Gross versuchten, die Angriffe der Propagandisten der Eigentümer-Ideologie in der Sache zu entkräften oder auf die Verdienste der Großunternehmen und ihrer Leiter hinzuweisen. Im Gegenteil: Mitte der 1950er Jahre eskalierte der Streit. Auf der Loccumer Tagung „Freiheit als Aufgabe in der Menschenführung Staatsführung - Wirtschaftsführung" im Dezember 1954 versuchte Gross, die Wiederaufbauleistung der deutschen Wirtschaft gerade für die gutausgebildeten Unternehmer, und das bedeutete in der Sprache des ganzen Konflikts: vor allem für die Manager-Unternehmer, zu reklamieren: 1 2 5 ) „Auch der Begriff des Unternehmers, der seine Berechtigung zum freien Unternehmertum aus dem Eigentum ableitet, befindet sich in einer Situation der grundlegenden Veränderung. Heute kann die gesellschaftliche Funktion des Unternehmers kaum noch aus dem Eigentum abgeleitet werden. Der moderne Unternehmer wird aus seiner Funktion, aus seinen besonderen Fähigkeiten, große Produktionsvorgänge zu organisieren, Menschen zu solchen Vorgängen zusammenzufügen und sie zu führen und aus der wettbewerblichen

,23 ) Alfred F. Flender. Der Unternehmer unter seinen Mitarbeitern in Betrieb und Verband, in: L026, S. 13-18, Zitat S. 13. 124 ) Zitiert nach Hartmann: Unternehmer, S.37. 125 ) Herbert Gross: Krise der human relations?, in: L030, S. 20-24, Zitat S.22.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

Fähigkeit am Markt legitimiert. Nicht mehr das Eigentum als vielmehr das technische, kaufmännische und organisatorische Können ist überwiegend das Kennzeichen des heutigen Unternehmers. Das Wissen und Können hat also eine andere Bedeutung erlangt. Das hat sich schon nach 1945 sehr deutlich gezeigt. Dieser erstaunlich schnelle Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft ist auch dem heute viel größeren Wissen, der verbreiteten intellektuellen Substanz zuzuschreiben."

Und im gleichen Jahr verteidigte Welter in einer BDI-Drucksache die Manager als leistungskräftige soziale Aufsteiger gegenüber den bloßen, zufälligen Erben auf Seiten der Eigentümer. Damit provozierte er eine heftige Reaktion in der ASU-Zeitschrift Die Aussprache unter dem Titel „Der wahre Unternehmer", in der Welter vorgehalten wurde, er übersähe die Gefahr, „dass aus dem beauftragten Unternehmer nichts anderes als der Manager im Sinne des Funktionärs würde", und die gesellschaftsbildende Kraft der Eigentümer-Unternehmer gelobt wurde. 1 2 6 ) Es ist offensichtlich, dass von diesem ideengeschichtlichen Punkt aus kein Weg in eine vorteilhafte politisch-ideelle Zukunft führte, nicht nur, weil hier die einflussreichsten Geschäftsleute symbolisch aus der Unternehmerschaft ausgeschlossen wurden und damit eine tiefe Spaltung und politische Schwächung der Geschäftswelt drohte, sondern auch, weil derartige Positionen eine politische Debatte über die Gerechtigkeit der Eigentumsverteilung geradezu provozieren mussten. In dieser unbefriedigenden Situation gelang es einer Reihe von einflussreichen Geschäftsleuten - Vordenkern einer neuen, integrativen Unternehmer-Definition - durch die Übernahme des Elite-Begriffs eine vermittelnde Position zu entwickeln und die Spaltung zu überwinden oder zumindest zu entschärfen. Besonders drei bekannt gewordene Akteure taten sich dabei hervor: Otto A. Friedrich, Ludwig Vaubel und Ernst Wolf Mommsen. Für ihre intellektuellen Anstrengungen spielten nicht nur interessenpolitische, sondern auch lebensgeschichtliche Konstellationen eine wichtige Rolle. Bei Otto A. Friedrich ist diese Konstellation familiär greifbar, denn sein Bruder Carl Joachim Friedrich, der ihm persönlich sehr nahe stand, war nach 1933 in den U S A ein prominenter Politikwissenschaftler geworden und übte seit 1946 auf das politische Denken Ottos einen großen Einfluss aus und half ihm beim Gewinnen einer positiven Einstellung zur politischen Demokratie. Otto A. Friedrich, der NSDAP-Mitglied und stellvertretender Reichsbeauftragter für Kautschuk gewesen war, hatte die Niederlage 1945 zunächst auch als einen politisch-ideellen Zusammenbruch erfahren, „wie viele seiner Zeitgenossen war er desorientiert. Altes war zusammengebrochen. Die Zukunft war ungewiss und scheinbar richtungslos." 127 ) In dieser Situation las Friedrich viel, „nicht nur Goethe und die Bibel, die er regelmäßig konsultierte, sondern auch politische und ökonomische Literatur wie Marx und Sombart", sowie Friedrich Meineckes „Die deutsche Katastrophe", und suchte den Kontakt mit Intellektuellen wie

,26 n l

) Vgl. Hartmann\ Unternehmer, S.53. ) Berghahn und Friedrich·. Otto A. Friedrich, S.64.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

339

Carlo Schmid. Doch es waren vor allem die Gespräche unter den Brüdern, die Friedrichs „Westorientierung" (Berghahn) bewirkten. Diese enge familiäre Beziehung zu einem ausgewiesenen Theoretiker der politischen Demokratie machte Otto A. Friedrich sicherlich zu einem Sonderfall im Raum der Unternehmerschaft. Doch auch andere spätere „Avantgarde-Unternehmer" (hinsichtlich der - im weitesten Sinne - politischen Einstellungen) scheinen lebensweltlich vorgeprägt worden zu sein: Ernst Wolf Mommsen stammte bekanntlich aus dem bürgerlich-liberalen Establishment - durch seinen Vater, einem Arzt und Sanitätsrat, war er ein Enkel des Historikers und Parlamentariers Theodor Mommsen und Neffe des Bankdirektors und linksliberalen Reichstagsabgeordneten Karl Mommsen, durch seine Mutter Neffe der Soziologen Max und Alfred Weber (letzterer setzte sich nach 1945 publizistisch intensiv für eine Demokratisierung von Politik und Wirtschaft ein). Ähnliches dürfte für Ludwig Vaubel gelten, der ebenfalls aus einer der seltenen dezidiert linksliberalen Unternehmerfamilien stammte (wenn auch von deutlich geringerer sozialer Position als diejenige Mommsens). Vaubel zeigte sich gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit außergewöhnlich stark intellektuell interessiert und suchte vor allem in Kulturzeitschriften (in seinem Tagebuch vermerkte er unter anderem die Lektüre der Frankfurter Hefte und des Bogens) nach neuen Orientierungsmustern. 128 ) Besonders die liberal-bürgerliche Gegenwart erregte seine Aufmerksamkeit, hier fand er Aussagen über Deutschland, „wie es jetzt ist, wie es dahin kam, wie es vielleicht werden könnte. Es ist ein besonderes Erlebnis, wieder ein journalistisches .Niveau' zu erfahren - wie es früher mit der FZ [Frankfurter Zeitung] zu umschreiben war. Das Ergebnis kann zunächst nur ein Beitrag zur Klärung sein, eine bürgerliche Bemühung - .objektiv'!" Der Gegenwart entnahm er auch eine Dokumentation über die Nürnberger Prozesse, die er in seinem Tagebuch zustimmend kommentierte - ein Zeichen seiner nunmehrigen uneingeschränkten Ablehnung des Nationalsozialismus und dessen Traditionen sowie seiner liberalen Gesinnung, mit der er im Winter 1946/47 eher eine Minderheitsposition innerhalb der Unternehmerschaft eingenommen haben dürfte. Friedrich, Mommsen und Vaubel traten übrigens nur wenig später als Referenten an den Evangelischen Akademien Loccum und Bad Boll auf. Otto A. Friedrich, Direktor der Hamburger Phönix-Gummiwerke AG, war einer der ersten, die einen integrierenden Unternehmer-Begriff zu entwickelten versuchten. Dabei ging er zunächst nicht vom Elite-Begriff aus, versuchte aber sehr wohl, das Definitionskriterium des Eigentums durch dasjenige der „Persönlichkeit", also persönliche Merkmale und Werthaltungen zu ersetzen. Friedrich beantwortete 1953 „die Frage, was den Unternehmer ausmacht", folgendermaßen: „(Mir scheint) der Unternehmer ein Mensch zu sein, dessen Leidenschaft es ist, selbständig zu wirtschaften".

12s

) Vaubel: Zusammenbruch, S. 11/12, S. 61/62, S.66, S.87, S. 101.

340

4. Handlungswissen und Rollenfindung

„Leidenschaft ist dabei im Sinne des griechischen Eros gedacht: das, was seine Seele erfüllt. Das Auffinden von Möglichkeiten, die ein Markt bietet, die rationelle Gestaltung der Produktion, die Zusammenfassung von Arbeit und Kapital, die Entwicklung neuer Produkte und das Erschließen neuer Absatzwege, das alles sind nur Teilleistungen eines Unternehmers, die jede für sich auch von Sachverständigen ausgeübt werden können. Ebenso sind Kühnheit und Vorsicht, Egoismus und Verantwortungsgefühl, Phantasie und Nüchternheit nur Teileigenschaften des Unternehmers. Erst die alles beherrschende Leidenschaft, im wirtschaftlichen Existenzkampf zuerst und immer sich selbst zu erhalten, macht den Mann zum Unternehmer. Auch viele andere Berufe haben ihre vorherrschende Leidenschaft: aber sie sind keine Unternehmer, so lange sie nicht der Wille beherrscht, selbständig zu wirtschaften. Dagegen ist es gleichgültig, wie klein oder wie groß ein Unternehmen ist und auf welchem Felde es sich betätigt, entscheidend ist allein, ob der Mann die Leidenschaft hat, selbständig zu wirtschaften. Ja es scheint mir sogar belanglos, ob ein Unternehmer selbst Eigentümer seines Unternehmens ist oder nur sein Geschäftsführer, ob er alle Funktionen zusammenfasst oder nur eine Teilfunktion ausübt. Beherrscht ihn die Leidenschaft, das Ganze des Unternehmens, seine Selbsterhaltung und seine Stärke zu sehen und zu sichern, dann ist er ein unternehmerischer Mensch." 129 ) M a n wird nicht umhin können, Friederichs Argumentation als ingeniös zu bezeichnen - und wie sich zeigen wird, war sie höchst erfolgreich. Ihr Kern bestand sicherlich darin, dass Friedrich die Relevanz des Unterschiedes zwischen Eigentümer-Unternehmern und Managern einfach leugnete. Er konnte das tun, indem er auf der Grundlage der Begriffe „Leidenschaft", „Selbständigk e i t ) " und „wirtschaften" eine Unternehmer-Definition entwarf, die wesentliche Bestandteile der gängigen Modelle einer Wert- und Charakter-Elite verwendete, und zwar die wertrationale individuelle Anerkennung des und die charakterlich verwurzelte und als Letztbegründung dienende affektive Bindung an den nomos des ökonomischen Feldes. 1 3 0 ) D i e s entsprach den Vorstellungen einer Wert- und Charakter-Elite in allen sozialen Gruppen, denn derartige Unternehmer gab es in jeder Branche und unabhängig von der Unternehmensgröße. Gleichzeitig entkoppelte er den Terminus der Selbständigkeit v o m Eigentum am U n t e r n e h m e n und schlug der Eigentümer-Ideologie damit ihr wichtigstes Argument aus der Hand, doch tat er dies integrierend und nicht mit aggressiver Geste. 1 3 1 ) A u ß e r d e m argumentierte Friedrich mit den Funk-

129

) Otto A. Friedrich: „Der Unternehmer im Spannungsfeld der Wirtschaftspolitik", in: L021, S. 20-27, Zitat S.21/22 (Hervorhebungen von M.R.), auszugsweise abgedruckt in: Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts Nr. 45 (9.11.1953). Friedrich war Vorstandsvorsitzender des Hamburger Reifen- und Gummiherstellers Phoenix, zeitweise Präsidiumsmitglied des BDI und später Präsident der BDA. 13 °) Bourdieu: Das ökonomische Feld. 131 ) Diese Formulierungsgabe unterschied Friedrichs Texte sogar von denjenigen professioneller unternehmernaher Publizisten wie Herbert Gross, unter dessen Redaktion folgende Passage entstand, die zweifellos in die gleiche politisch-ideelle Richtung zielte wie Friedrichs Unternehmen, die Propagandisten der Eigentümer-Ideologie jedoch direkt ansprach und ihnen schwere Irrtümer vorwarf - ein wenig geeignetes Instrument zur konsensualen Beilegung eines symbolischen Konflikts. „Die Macht des Managers gilt als .illegale' Macht, besonders vom Gesichtspunkte des Eigentümers aus, dem allein ja juristisch

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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tionen des Unternehmers und schaffte es dabei gleichzeitig, eine nicht-funktionale Begriffsbestimmung vorzunehmen (indem er die Bedeutung der spezifischen Unternehmer-Funktionen massiv relativierte), ohne funktionale Kategorien zu dämonisieren. Und schließlich bleibt festzuhalten: Für Friedrich war der Unternehmer männlich, denn eine geschlechtsneutrale Unternehmer-Definition, die auf Leidenschaft - jenem Eros - basierte, hätte sich seinerzeit in der patriarchalischen Unternehmerwelt nicht auf das weibliche Geschlecht ausdehnen lassen, ohne deutlich an ihrer ideellen Schlagkraft zu verlieren. Die Innovation Friedrichs bestand nicht zuletzt in der Koppelung der Kategorien des „selbständigen Wirtschaftens" und der „Leidenschaft", weil sie die ökonomische Initiative an eine personengebundene Disposition band und damit an die zu Beginn der 1950er Jahre dominierenden Elite-Modelle. Die Vorstellung, die ökonomische Initiative zum Konstituens des Unternehmer-Daseins zu erklären, zirkulierte bereits seit einiger Zeit im Raum. So lobte beispielsweise die BDA-Verbandszeitschrift Der Arbeitgeber unter der sprechenden Überschrift „Wesen und Gestalt des Unternehmers" an dem Buch von Wolfgang Kellner, dass er mit seiner Definition den Unternehmer vom „bloßen Produzenten", vom „Betriebsleiter" und erst recht vom „Spekulanten" abgegrenzt habe. Implizit blieb dabei, dass Kellners Unternehmer-Begriff für eine Binnendifferenzierung keinen Raum ließ und damit dem Gegensatz zwischen Eigentümer-Unternehmern und Managern die Grundlage entzogen wurde. Der Schlüsselsatz Kellners lautete: „Unternehmer ist, wer durch eigenverantwortliche Entscheidung über die Auswahl der von der Technik gefundenen Mittel und Wege Arbeit neuartig zusammenfasst und dadurch eine Bereicherung und Vervollkommnung der Bedarfsdeckung ermöglicht,"132)

Friedrich wiederholte seine Definition noch mehrfach, und in den Interviews, die Heinz Hartmann während der frühen 1950er Jahre mit deutschen Unternehmern führte, tauchte diese Formulierung wortwörtlich wieder auf, was für ihre Verbreitung und ihre Akzeptanz spricht. 133 ) Mit seiner Neubestimmung des Unternehmer-Begriffs stand Friedrich offensichtlich keineswegs allein. Ungefähr zur gleichen Zeit erklärten der Wirtschaftspublizist Herbert Gross und der Hauptgeschäftsführer des BDI Gustav Stein in einem gemeinsam ver-

das Unternehmen gehört. Und dennoch sind diejenigen, die den Vorstand einer Aktiengesellschaft etwa oder den selbständigen Unternehmer unter die ausschließliche Kontrolle, das Ja oder Nein der Eigentümer bringen wollen, Illusionisten. Sie vergessen, dass der Wert einer Firma aus mehr besteht als dem eingebrachten Kapital. Es ist auch intellektuelles Kapital eingebracht, das nicht nur aus den Erfindungen und der Produktion erwächst, sondern ebenso aus der Kunst der Führung." Stein und Gross: Unternehmer, S.53. Deutlicher als Friedrich akzentuierten Stein und Gross allerdings die spezifische Irrationalität des Unternehmerhandelns, nämlich die Kunst der Führung. 132 ) Kellner. Wirtschaftsführung, S.381 (Hervorhebung im Original); ders.: Wesen und Gestalt des Unternehmers, in: Der Arbeitgeber 1.1949 (15.11.1949), S. 15-17. 133 ) Hartmann·. Unternehmer, S.35; desgleichen der stellvertretende Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende W.-D. von Witzleben, in: BDI-Drucksache Nr. 28, S.9.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

fassten Buch den Unternehmer zur „neuen Elite" kraft „Persönlichkeit", „Individualität" und „sittlicher Gebundenheit". 134 ) Mit dem Verweis auf den Elite-Begriff ist der ideengeschichtliche Fluchtpunkt benannt, auf den die politisch-ideellen Strategien von Otto A. Friedrich und anderer Vordenker aus der Geschäftswelt zuliefen. Bemerkenswerterweise stammten nämlich die entschiedensten und frühesten öffentlichen Bekundungen des Topos vom Fehlen einer echten politischen Elite aus dem Raum der Unternehmerschaft. Offenbar war die Anpassung an die neue politisch-soziale Ordnung in Westdeutschland für viele Geschäftsleute besonders schwierig. Andererseits bot der politisch-ideelle Umbruch für diese Gruppe besonders reiche Chancen. Das Verschwinden der traditionellen „Führungsgruppen", das nicht nur auf den Unternehmer-Tagungen so häufig konstatiert wurde und das auch Unternehmer und ihnen nahe stehende Publizisten nicht müde wurden zu betonen, bedeutete ja auch, dass mit den Auslöschen des (ostelbischen) Adels, der Suspendierung des Offizierskorps und dem Ansehensverlust der hohen Bürokratie die wichtigsten konkurrierenden, und übrigens eher wirtschaftsfeindlichen Gruppierungen, zumindest vorübergehend aus dem Feld der Macht verschwunden waren und ein Vakuum hinterließen - ein Vakuum, das Vertreter der Geschäftswelt füllen konnten. So sah jedenfalls die Analyse aus, die Herbert Gross und Gustav Stein ihren Lesern präsentierten: 135 ) „Eine der Wirtschaft innerlich fremde Oberschicht existiert nicht mehr,"136) In mancherlei Hinsicht handelte es sich bei ihrem Buch um eine ökonomisch Reformulierung der Ideen von Winfried Martini, Erwin Rack und Harald von Rautenfeld. Auch Stein und Gross beobachteten als Ergebnis des Weltkriegs, „dass keine Schichten aus früheren Ordnungen mehr vorhanden sind, die zur politischen Führung gesellschaftlich prädestiniert [sie!] sind". 137 ) Fest stand für sie aber auch, dass „gerade der Wirtschaft eine politisch gestaltende Kraft innewohnt". „Neue politische Hoffnung und Legitimation" setzte jedoch eine „neue Elite" voraus: „In ihrem Mittelpunkt steht die Persönlichkeit. Die Idee der Individualität ist ihr immanent. Nur in der sittlichen Gebundenheit wird sie schöpferisch sein können." 138 ) 134

) Stein und Gross: Unternehmer, S.9; ähnlich Franz Schürholz: Erwachsenenbildung und Eliteaufgaben in der Industriegesellschaft, in: Der Arbeitgeber 1.7.1953, S.568-71. 135 ) „Unternehmer in der Politik" war eines der ersten Bücher des Econ-Verlags, dessen Schriften und Autoren - wie „Unternehmer - Direktoren - Manager. Krise der Betriebsführung?" (Peter Schlenzka), „Erfolgreiche Personalpolitik" und „Menschenführung Menschenkunde" (L. Kroeber-Keneth), „Sozialreise durch Deutschland. Vom Arbeiter zum Mitarbeiter" (Dirk Cattepoel) oder „Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt" (Ludwig Erhard), um nur einige Titel aus den frühen 1950er Jahren zu nennen - sich vorzugsweise an eine Leserschaft aus der Geschäftswelt richteten. Auch an dem letztgenannten Buch hatte übrigens Herbert Gross mitgearbeitet, während Cattepoel bei „Unternehmer in der Politik" beteiligt war. 136 ) Stein und Gross: Unternehmer, S.94 (Hervorhebung im Original). Die Autoren nannten ausdrücklich den Grundadel, das Offizierskorps und die hohe Beamtenschaft. 137 ) Stein und Gross: Unternehmer, S.8, ähnlich S.54. 138 ) Stein und Gross: Unternehmer, S.9, ähnlich S.73, S.168.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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Der Anspruch, den diese neue unternehmerische Wert- und Charakter-Elite stellte, richtete sich ausdrücklich nicht auf kleinliche Interessenpolitik: „Es geht um die Führung des Staates, nicht als Interessent für Zölle, Subsidien oder Aufträge, sondern es geht um den Staat als Sinnbild und Garant gemeinsamer Ordnung". 139 ) Und wie zahlreiche Intellektuelle und Wissenschaftler ihrer Zeit propagierten auch Stein und Gross das sozialharmonische und ganzheitliche Elite-Konzept einer „einheitlichen gesellschaftlichen Führungsschicht" zur „Überwindung überholter Spannungen". 140 ) Vermutlich war die Wahrnehmung des Verschwindens der „traditionellen Führungsgruppen" gar nicht immer so instrumentell mit einem allgemeinpolitischen Führungsanspruch durch Geschäftsleute verbunden wie bei Stein und Gross. Vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sich erst die Umrisse der politischen Ordnung der späteren Bundesrepublik abzeichneten, besaßen derartige Spekulationen nur wenig Realisierungschancen. Nichtsdestotrotz formulierte Ludwig Vaubel, Vorstandsmitglied der Wuppertaler Vereinigten Glanzstoff-Fabriken, das Thema der fehlenden Elite in seinem Tagebuch sogar schon im August 1946. Es ist jedoch höchst aufschlussreich, dass er dies im Zusammenhang des Aufstiegs des Nationalsozialismus und der Orientierungslosigkeit nach 1945 tat. Für ihn erklärte sich gerade Hitlers Machtergreifung mit dem „Versagen der geistigen Elite", und „es kann kein neues Deutschland geben ohne Bildung einer neuen Elite". 141 ) Vaubel verwendete den Elite-Begriff dabei zu einer tief gehenden Kritik an den „rechts stehenden nationalen' deutschen Intellektuellen oder Gebildeten" zwischen 1930 und 1945. Den wichtigsten Beitrag zur Definition der Unternehmer-Figur als EliteIndividuum und damit zur Überwindung der Gegensätze zwischen Eigentümer- und Manager-Unternehmern wie zur Verbreitung des Elite-Begriffs im Raum der Geschäftswelt lieferte jedoch Ernst Wolf Mommsen aus dem Vorstand der Phönix-Rheinrohr AG, der durch sein umfangreiches, familiär ererbtes intellektuelles und soziales Kapital geradezu prädestiniert war, der Unternehmerschaft und darüber hinaus dem gesamten Ökonomischen Feld eine neue symbolische Ordnung zu verschaffen. 142 ) Mommsen initiierte 1955 gemeinsam mit der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft 143 ) eine Veranstaltungsreihe zur „Heranbildung des Führungsnachwuchses ... für die Wirtschaft", deren wichtigsten Ergebnisse im gleichen Jahr unter dem Titel „Elitebildung in der Wirtschaft" veröffentlicht wurden. Mommsen versam139

) Stein und Gross: Unternehmer, S. 11. ) Stein und Gross: Unternehmer, S. 173. ) Vaubel: Zusammenbruch, S. 88-90. 142 ) Mommsen wurde übrigens 1970 für kurze Zeit Staatssekretär des damaligen Ministers Helmut Schmidt. 143 ) Die Deutsche Volkswirtschaftliche Gesellschaft war 1946 in Hamburg als Forum des Ideenaustauschs zwischen Wissenschaftlern und Unternehmern gegründet worden; ihr erster Vorsitzender war der Geschäftsmann Curt Köhler. 1953 wurde übrigens Reinhard Höhn Geschäftsführer der Gesellschaft. Berghahn: Unternehmer, S.254. 140 141

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

melte dazu eine Reihe hochkarätiger Autoren, darunter Bundesinnenminister Gerhard Schröder, der einen längeren Auszug aus seiner Schrift „Elitebildung und soziale Verpflichtung" beisteuerte, die im gleichen Jahr erschien (dass sich andere Teilnehmer des Unternehmens, wie der Wirtschaftsredakteur der Zeit, Erwin Topf, ausführlich auf Schröder bezogen, zeigt die große Bedeutung dieses Textes)144), den amerikanischen Botschafter in Bonn James Conant, den Vizepräsidenten der General Electric Company Harold Smiddy, den Schweizer Nationalrat und Präsidenten des Migros-Genossenschaftsbundes Gottlieb Duttweiler,145) besagten Ludwig Vaubel sowie Journalisten, Wissenschaftler und weitere betriebliche Führungskräfte. Mommsen entwarf in seinem Einführungsaufsatz das Bild einer Verantwortungs-Elite, die nicht nur, aber vor allem in der Unternehmerschaft anzutreffen sei.146) Auf einer einzigen Doppelseite fiel dabei der Begriff „Verantwortung" bis zu sechsmal. Auf originelle Weise, wenn auch ohne jeden Literaturhinweis auf die mittlerweile längst breit gefächerte Diskussion zum Elite-Thema,147) versöhnte Mommsen dabei Eigentümer-Unternehmer mit den Managern: Der Typ des unternehmerischen Menschen in der Wirtschaft und sein Verhältnis zur Arbeitswelt insgesamt haben sich grundlegend geändert. Während eine noch gar nicht lange zurückliegende Zeit den erfolgreichen Einzelunternehmer als Prototyp des unternehmerischen Menschen ansah, steht heute in zunehmendem Maße der mit der Führungsaufgabe auf wirtschaftlichem Interesse ,Betraute' im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Er ist zum Gesellschaftsfaktor allererster Art geworden. (...) Während früher mit dem Begriff des Unternehmers unlösbar der Begriff des eigenen Kapitals verbunden schien, ist heute das Leitbild der nur durch Mut und Verantwortungsfreudigkeit an die Spitze eines Unternehmens gekommene Unternehmensleiter. (...) Wir sind damit auch in Deutschland auf dem Wege, den die U S A bereits seit längerem beschritten haben. Hier ist der .Manager' bereits ein Beruf geworden, der die gesamte Führungsschicht bis zum noch Anordnungen gebenden Meister umfasst und für die sich ein eigenes Berufsethos zu entwickeln beginnt." 148 )

Einerseits griff Mommsen hier in Abwandlung den Begriff des „beauftragten Unternehmers" auf, den die ASU-Propagandisten häufig zur Abqualifikation der Manager im Munde führten, 149 ) und polemisierte an anderer Stelle gegen den „Nur-Spezialisten", der „nie der geistige Träger der übergeordneten Verantwortung" sein könne, 150 ) also gegen das Schreckgespenst der Funktionalismus-Skeptiker, andererseits stellte er klar, dass die wirtschaftlich-soziale Entwicklung in allen westlichen Industriegesellschaften, ablesbar an den Vereini144

) Topf: Elite?, S. 61-66. ) Duttweiler war der Gründer der Migros, die schließlich zum größten Binnenkonzern der Schweiz avancierte. Vgl. Welskopp: Die schweizer Migros. 146 ) Mommsen: Elitebildung. 147 ) Der einzige Verweis Mommsens bezog sich auf einen Vortrag von Hanns Lilje! 148 ) Mommsen: Elitebildung, S . l l (Hervorhebungen im Original). 149 ) Mommsen verwendete sogar den Terminus des Leitbildes, mit dem bis dahin hauptsächlich Josef Winschuh, einer der striktesten Propagandisten der Eigentümer-Ideologie, argumentiert hatte. Vgl. Hartmann: Unternehmer, S. 37/38. 150 ) Mommsen: Elitebildung, S. 15 (Hervorhebung im Original). 145

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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gten Staaten, dahin ging, dass die soziale Aufstiegsmobilität zur zentralen Legitimationsgrundlage wirtschaftlicher Macht geworden sei. Diese wirtschaftliche Macht betonte Mommsen vor allem auf den ersten Seiten seines Textes immer wieder. Jedoch warnte er vor Hoffnungen (und Ängsten), dass mehr und mehr Unternehmer den Weg in die Parlamente fänden: Das sei nicht die Aufgabe der Geschäftswelt. Vielmehr propagierte er gewissermaßen den umgekehrten Weg, nämlich das Hereinnehmen politisch-sozialer Grundfragen der Zeit in den Betrieb, vor allem die nach einer verbesserten Ausbildung der Führungsnachwuchskräfte und der Verbreiterung von innerbetrieblichen Aufstiegsmöglichkeiten bis in die Geschäftsleitung. Außerdem sollten die „Verantwortung", die „Entscheidungsfreiheit" und der „Mut zur Entscheidung", also die rationale Machtausübung, stets gebunden bleiben an das „Bezogensein allen Handelns an das Ganze". 151 ) Auch Mommsens Verantwortungs-Elite blieb eine Wert-Elite, die - wie sollte es anders sein, denn auch diese beiden Topoi griff Mommsen auf - nach dem Verschwinden der traditionellen Führungsgruppen in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffen sein und wirken sollte. Die übrigen Beiträge des Sammelbandes beschäftigten sich im Wesentlichen mit der Auswahl, Ausbildung und Förderung unternehmerischer Führungsnachwuchskräfte im In- und vor allem im Ausland. Festzuhalten bleibt daher das Ergebnis von Mommsens intellektueller Anstrengung, nämlich die Neudefinition des Unternehmers als Teil einer wirtschaftlichen Verantwortungs- und Entscheidungs-Elite, der seine Führungsaufgabe durch das Gewähren sozialer Aufstiegsmöglichkeiten sowie das Weitergeben von Führungswissen wahrnimmt. Mommsen konzentrierte seinen Führungs-Begriff damit nicht so sehr auf den Umgang mit den einfachen Mitarbeitern (und deren Vertretern), sondern auf die mittleren und höheren Management-Ebenen im Unternehmen, die für ihn mehr sein sollten als bloße Exekutoren des Führungswillens der obersten Spitze (und damit „Funktionäre einer unpersönlichen Apparatur"), nämlich am Führungsprozess selbst Beteiligte.152) Diese Definition des Unternehmers als Elite-Persönlichkeit war auch für dezidierte Vertreter der Eigentümer-Ideologie attraktiv. Bereits 1950 hatte Josef Winschuh gefragt: „Ist der Unternehmer eine Elite [sie!]? Wirkt sein Beruf elitebildend und sollte er es tun? (...) Ich meine: Ja, der Unternehmer sollte sich strebend bemühen, Elite zu sein. (...) Kapazität und Arbeitsstil (sind Belege) eines Unternehmertums, das zur europäischen Elite gereift ist."153) Ein Jahr später beschrieb er die Unternehmer noch deutlicher als „eine auserlesene, durch Begabung und Erziehung aus der Masse der ausführenden Arbeit herausgehobene Führungsschicht, deren ausrichtender Kern die unternehmerische Kraft ist.

151

) Mommsen: Elitebildung, S. 17. ) Mommsen: Elitebildung, S. 16. 153 ) Winschuh berief sich für seine Elite-Definition auf Autoren, die nicht unbedingt als Konzeptoren von Elite-Modellen bekannt geworden sind: Moliere, Montesquieu, Nietzsche sowie den Diplomaten Paul Schmidt. Winschuh: Ansprache, S. 62-64. 152

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

Diese Kraft ist schöpferischer, geistig-willensmäßiger Natur. Zu ihr gehören auch Voraussicht und Witterung, Inspiration und Phantasie, Fähigkeit zur Organisation und Kombination." 154 )

Damit beschrieb er aufs Genaueste das unternehmerische Modell einer Wertund Charakter-Elite, deren Merkmale im Wesentlichen nicht-überprüfbarer Natur waren. Seit 1953 finden sich dann über Einzelstimmen hinaus in der Verbandspresse Aufsätze, die den Elite-Begriff schon in der Überschrift trugen und die Ausbreitung der Elite-Doxa im Raum der Geschäftswelt beförderten. 155 ) Der Soziologe Heinz Hartmann hat die „Elite-Ideologie" der Unternehmer als politisch-soziale Einstellung beschrieben, die in allen Teilen der Unternehmerschaft verbreitet - wenn auch „erst in neuerer Zeit besonders stark hervorgetreten" - und hauptsächlich geeignet sei, noch die rationale Rolle des modernen Managements „mit Argumenten zu erklären, die nicht der Prüfung und Bewertung unterzogen" werden könnten, also letztlich irrational zu fundieren. 156 ) Hier soll stattdessen die These vertreten werden, dass die EliteDoxa erst während der 1950er Jahre in den Raum der Unternehmerschaft hineingetragen wurde und dort die Funktion einer Überbrückung tiefgreifender Gegensätze übernahm. Diese Arbeit an der symbolischen Ordnung der Geschäftswelt wurde vor allem von einer Reihe von Unternehmern geleistet, die aus verschiedenen, aber hauptsächlich familiären Gründen ein erhebliches ökonomisches mit einem außerordentlich hohen intellektuellen Kapital vereinten. Dadurch besaßen sie sowohl die Fähigkeit, Elemente der neuen symbolischen Ordnung in integrativer Weise zu formulieren, als auch die Möglichkeit, sich überhaupt Gehör zu verschaffen: auf Tagungen der Evangelischen Akademien, auf denen Vaubel, Friedrich und Mommsen als Redner auftraten, in federführender Zusammenarbeit mit wirtschaftsnahen Institutionen, in Drucksachen des BDI und auf vielen anderen Wegen mehr. Sie waren keine bloßen Intellektuellen, die in der Unternehmerschaft mit großem Misstrauen beobachtet wurden, doch ebenso wenig plumpe Propagandisten gewachsener und scheinbar unveränderlicher, doch tatsächlich rein standortgebundener Glaubenstatsachen. Selbstverständlich ist es schwierig, die Wirkung jener Integrationsarbeit und die Verbreitung des neuen Unternehmer-Begriffs und damit der Elite-Doxa in der Unternehmerschaft genau abzuschätzen. Jedenfalls lässt sich feststellen, dass sich die Konfrontation zwischen Eigentümern und Managern seit Mitte der 1950er Jahre wieder deutlich abschwächte und

154 ) Josef Winschuh: Um das Unternehmerbild, in: Der Arbeitgeber 3.1951 (1.12.1951), S. 24-27, Zitat S.24 (Hervorhebung im Original). 155 ) Z.B. Franz Schürholz: Erwachsenenbildung und Eliteaufgaben in der Industriegesellschaft, in: Der Arbeitgeber 4.1953, S. 568-71. Schürholz fragte, „was Elite nicht ist und was sie ist", und sprach vom „werthafte(n) Mensch als Elite", qualifiziert durch „Selbsterziehung", „Persönlichkeit" und „geistig-sittliche Wurzeln". 156 ) Hartmann·. Unternehmer, S. 43^46.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

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die ideologischen Selbstbehauptungsversuche der ASU ihre Spitze gegen die Manager mit der Zeit verloren. Schließlich sind einige abschließende Überlegungen zum Zusammenhang jener übergreifenden Ordnungsentwürfe und den politischen Haltungen der westdeutschen Unternehmerschaft während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte anzustellen. Die Untersuchung der politischen Einstellungen bundesdeutscher Unternehmer befindet sich noch in den Anfängen. Im Vordergrund steht seit einigen Jahren die Auseinandersetzung mit den Thesen Volker Berghahns, der ein sukzessives Umdenken der Unternehmerschaft hinsichtlich der Ausgestaltung der betrieblichen Sozialordnung und der Anerkennung der Gewerkschaften unterstellt hat; ein Prozess, für den eine Reihe von verständigungsbereiten „Avantgardisten" wie Otto A. Friedrich von großer Bedeutung waren. 1 5 7 ) Im Fokus Berghahns wie seiner Kontrahenten 1 5 8 ) stehen dabei die Einstellungen und das Handeln hinsichtlich der betrieblichen Sozialordnung während der späten 1940er und frühen 50er Jahren, die Auseinandersetzungen um das Mitbestimmungsgesetz und seine Folgen, die Bedeutung der human relations-Bewegung sowie die Gewichtung US-amerikanischer Vorbilder auf das unternehmerische Entscheidungsverhalten. Diese Kontroverse ist in erster Linie unter dem Stichwort „Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft?" geführt worden und hat sehr viel größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen als die Frage nach den Haltungen der Unternehmer zur neuen politischen Ordnung in Westdeutschland. Das ist mehr als verständlich, trat die Unternehmerschaft in der politischen Arena während der 1950er Jahre doch nur verhältnismäßig selten und nur bei den ihre Interessen im Kern berührenden Themen in Erscheinung, etwa bei den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmungsgesetze oder beim Kampf um die Wettbewerbsordnung. 1 5 9 ) Zweifellos verfügten einzelne Unternehmergestalten wie Hermann Josef Abs oder Robert Pferdmenges über einen privilegierten Zugang zu den Korridoren der politischen Macht, was auch nicht unbemerkt bleiben konnte. Doch erst um 1970, angesichts der Turbulenzen der Studentenrevolte und des Kollisionskurses, den das Establishment der Unternehmerschaft um den ehemaligen ThyssenManager und neuen BDI-Chef Hans-Günther Sohl gegen die SPD-geführte Bundesregierung steuerte - unter anderem in Form des ganzseitig in mehreren großen Tageszeitungen erschienenen Aufrufs „Wir können nicht länger schweigen", den 62 führende Industrielle unterschrieben hatten 1 6 0 ) - , erwach157

) Berghahn: Unternehmer, S. 228-59. ) Vor allem Erker. „Amerikanisierung"; vgl. auch Nolan: Americanization; Berghahn: Conceptualizing; ders.: Bourgeois Germany (übrigens einer der konzisesten, anregendsten und am häufigsten übersehenen Texte zur Amerikanisierung und Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft). 159 ) Berghahn: Unternehmer, S. 152-91; ders.: Westdeutsche Unternehmer; Hentschel: Ludwig Erhard, S. 171-76. 16 °) Vgl. Berghahn: Unternehmer, S. 319/20. 158

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

te das wissenschaftliche und publizistische Interesse an den Bindungen der Unternehmerschaft an die Demokratie. 161 ) Somit stellt sich die Frage, wie die Unternehmer der politischen Demokratie während der 1950er Jahre gegenübertraten. Zweifellos sahen sich die Unternehmer nach 1945 zusätzlich vor eine Reihe von Herausforderungen gestellt, die teilweise von den Problemen anderer sozialer Gruppen berufsbedingt abwichen, jedoch ebenfalls ein starkes Orientierungsbedürfnis hervorriefen. Auch ihnen waren zentrale ideelle Bezugspunkte abhanden gekommen. Ludwig Vaubel notierte unter dem Eindruck der militärischen Niederlage: „Jeder Idealismus ist auf lange enttäuscht. Alle Werte sind verbraucht. Führerprinzip [sie!], Verantwortung, Glaube, Vertrauen." 162 ) Damit waren zentrale unternehmerische Werte in Frage gestellt, die Vaubel nun als „verbraucht" ansah, die allerdings längst nicht alle Unternehmer aufzugeben bereit waren und die doch im Verlauf der Nachkriegszeit eine bemerkenswerte Verschiebung ihres Bedeutungsinhaltes erfuhren. Zunächst aber mussten sich die Unternehmer mit den gegen sie gerichteten Maßnahmen der Alliierten auseinandersetzen, wie Verhaftungen und Strafprozesse, Arbeitsverbote im Gefolge der Entnazifizierung, Demontagen, die Entflechtung von Konzernen und die Übernahme von Unternehmern in Treuhänderschaft sowie das Verbot von Kartellen, des in Deutschland traditionell besonders stark ausgeprägten Modus der Ausschaltung des Wettbewerbs.163) Vor allem jedoch waren sie gezwungen, die Existenz von Gewerkschaften anzuerkennen, deren weitgehende Forderungen nach betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung nach 1945 weder mit Hilfe des Staatsapparates gewaltsam unterdrückt noch durch die bekannten betrieblichen Kampfmaßnahmen wie Aussperrungen, schwarze Listen usw. abgeblockt werden konnten. 164 ) Andererseits sahen sich die Unternehmensleitungen während der unmittelbaren Nachkriegszeit bei der Abwehr von Demontagen, der Aufrechterhaltung der Produktion und nicht zuletzt bei der Verteilung von Lebensmitteln an Betriebsangehörige auf das Engagement der Belegschaft angewiesen. Hierbei machten sie, wie unlängst Karl Lauschke gezeigt hat,165) auch sehr positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten, 161) v g l Pross und Boetticher. Manager, bes. die Einleitung S.7-17; Negf. Gesellschaftsbild. Vgl. auch Kleinschmidt: „1968". 162

) Vaubel·. Zusammenbruch, S.31 (Eintrag vom 10.5.1945, Hervorhebung von M.R.); ähnlich S. 67 (18.3.1946). 163 ) Berghahn·. Unternehmer, S. 40-111; Hetzer. Unternehmer; von Plato: Lebenswelten; ders.: „Wirtschaftskapitäne"; Hartewig: Besatzungsmacht; Erker: Industrieeliten, S. 76-82; Wiesen: West German Industry, passim; vgl. auch die Beiträge in Erker und Pierenkemper (Hg.): Deutsche Unternehmer. 164 ) Zu den gewerkschaftsfeindlichen Einstellungen der deutschen Unternehmer in der Weimarer Republik und davor vgl. Schneider: Unternehmer; ders.: DemokratisierungsKonsens, S. 207-22; Stegmann: Silverberg-Kontroverse, S. 594-610; Weisbrod: Form, S.67492; Β laich: Staatsverständnis, S. 158-78. 165 ) Lauschke: Hoesch-Arbeiter, S. 93-118.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

349

was immerhin zu einem Umdenken bei bislang eher gewerkschaftsfeindlich eingestellten Unternehmern beigetragen haben könnte. 166 ) Wie tief die Unternehmer den Einschnitt der Niederlage und der Turbulenzen der Nachkriegszeit empfanden, wie weit die Veränderungen in ihrem Denken und Handeln reichte, auf welche Gebiete sich diese Veränderungen erstreckten und von welcher Dauer sie waren, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch nicht abschließend zu beurteilen. Louis Lochner stellte 1955 die Behauptung auf, die Maßnahmen der Alliierten hätten für die (westdeutsche Unternehmerschaft eine tiefe Zäsur dargestellt, und betonte insbesondere die Inhaftierung von Topmanagern sowie die Auswirkungen der Montanmitbestimmung.167) Auch ein anderer amerikanischer Beobachter, Gabriel A. Almond, konstatierte zu diesem Zeitpunkt einen tiefen Einschnitt hinsichtlich der Mentalität, der Struktur und der Zusammensetzung der deutschen Unternehmerschaft, hervorgerufen vor allem durch die anglo-amerikanischen Maßnahmen. 168 ) Diesen Thesen stehen allerdings die weitreichenden Kontinuitäten in der Herkunft, typischen Laufbahnen und Rekrutierungsmustern, aber auch in weitverbreiteten Konzepten der Unternehmensführung entgegen. In der gegenwärtigen Debatte wird die Untersuchung dieser Problemfelder verknüpft mit der Frage nach der Reichweite amerikanischer Einflüsse auf die westdeutsche Wirtschaftsordnung und auf die Einstellungen und Führungskonzepte der Unternehmer, oder plakativer: mit der Diskussion über die Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft. Kontrovers beurteilt werden dabei vor allem die Ursachen und damit verbunden der zeitliche Verlauf dieses Wandels. Derzeit stehen sich in dieser Diskussion als exponierteste Antagonisten Volker Berghahn 169 ) und Paul Erker gegenüber. Für das hier in Rede stehende Problem - der Frage nach dem Ausmaß des Orientierungsbedürfnisses der Unternehmer nach 1945 - genügt aber der Hinweis, dass sowohl Berghahn als auch Erker die entscheidenden Veränderungen erst mit dem Generationswechsel in der Unternehmerschaft um 1970 ansetzen.170) Berghahn nimmt allerdings für eine Minderheit, darunter der von ihm eingehend untersuchte Otto A. Friedrich, eine tiefe, aus der Erfahrung der Niederlange und 166 ) Das gilt offenbar selbst für die hardliner im Vorstand des GHH-Konzerns; vgl. von Menges: Unternehmens-Entscheide, S. 56/57. 167 ) Lochner: Tyrann, S. 293-95. 168 ) Almond: Politics, S. 198-201. 169 ) Berghahn: Wiederaufbau, S. 261-82; ders.: Reconstruction, S. 65-82; ders.: Amerikanisierung, S. 227-53; ders.: Bourgeois Germany, S. 326-40; ders.: Conceptualizing, S. 1-10. 170 ) Die Vorwürfe Paul Erkers an Berghahn hinsichtlich einer Fehlinterpretation der Übernahme amerikanischer Technologien, Unternehmensorganisationsmodelle und Managementmethoden können hier unberücksichtigt bleiben. Vgl. Erker. „Amerikanisierung" der westdeutschen Wirtschaft?; vgl. außerdem die bislang nur elektronisch veröffentlichten Beiträge von Anselm Doering-Manteuffel, Mary Nolan, Julia Angster, S.Jonathan Wiesen und Christian Kleinschmidt auf der Konferenz des GHI Washington: „The American Impact on Western Europe", 1999.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

dem Einfluss amerikanischer Vorbilder motivierte Neuorientierung an. 171 ) Erker hat dagegen der These eines Einstellungswandels in der ersten Dekade nach 1945 heftigst widersprochen und diese als „Chimäre vom Umdenken" bezeichnet: „Es gab kein Umdenken und kaum ein Nachdenken bei den deutschen Unternehmern in der Umbruchphase. (...) Es gab Erfahrungsbildung und Lernprozesse in der NS-Zeit, die nach 1945 angewandt wurden, und Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegsmonate und -jähre, die ohne Rückwirkung auf eine Umorientierung der Einstellungen und Verhaltensweisen blieben. (...) Die alten Denkmuster und Verhaltensweisen .passten' nicht nur gut in die Wiederaufbaujahre, sondern erwiesen sich dort auch zunächst als äußert erfolgreich. (...) Das Spannende an der Umbruchphase 1942-1953 war nicht die personelle Kontinuität und mentale/habituelle Diskontinuität, sondern die personelle Diskontinuität und die mentale/habituelle Kontinuität." 172 )

An dieser Stelle leidet die Diskussion offensichtlich unter einer unzureichenden Begriffsklärung, weil zwischen Konzepten wie „Erfahrung", „Selbstverständnis", „Ideologie", „Identität" und „Mentalität" nicht ausreichend unterschieden wird. Nimmt man den Mentalitätsbegriff als Umschreibung der „geistig-seelischen Disposition" und „unmittelbaren Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt und die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrungen" ernst, 173 ) so wird man von einem „Umdenken" keinen Mentalitätswandel erwarten dürfen. Allenfalls eine Veränderung der Zusammensetzung der Unternehmerschaft als Gruppe könnte einen Wandel der „durchschnittlichen" Kollektivmentalität bewirkt haben, wie Alexander von Plato annimmt, der aus lebensgeschichtlichen Interviews mit nordrhein-westfälischen Industriellen den von Berghahn für die 1960er Jahre unterstellten Wandlungsprozess „vom Betriebsführer zum sozialverantwortlichen Manager" bereits in den 1950er Jahren ansetzt. 174 ) Auch bleibt der Stellenwert der „Erfahrungen" der Nachkriegszeit für das unternehmerische Denken und Handeln (und ebenso die Wirkungsweise und das Ausmaß der Prägekraft des Ordnungsmodells „Amerika") oft ungeklärt. Eine differenzierte Verwendung derartiger Konzepte ist hier nicht zuletzt deshalb geboten, weil sie unterschiedliche Erklärungsansätze und Periodisierungen erfordern: Während sich der Wandel körpergebundener Mentalitäten letztlich nur im Rahmen eines Generationenwechsels in der Unternehmerschaft - der in der Regel zwischen den frühen 1960er und den frühen 70er Jahren angesetzt wird - vollziehen konnte, sind Veränderungen der handlungsleitenden Ordnungsentwürfe, der typischen Führungsstile und innerbetrieblichen Herrschaftsund Integrationstechniken auch ohne generationelle Brüche denkbar.

171

) Berghahn und Friedrich: Otto A. Friedrich. ) Erker: Industrie-Eliten, S. 14, S. 16-18. 173 ) Geiger: Schichtung, S.77; vgl. auch Schüttler: Mentalitäten; Raphael: Erben, S. 327^18; Dinzelbacher: Mentalitätsgeschichte. 174 ) Von Plato: Wirtschaftskapitäne, bes. S. 390/91. 172

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

351

Der These Erkers von der Persistenz dieser Orientierungen steht die Behauptung Klaus-Dietmar Henkes entgegen, der während der Nachkriegsjahre einen „Umdenk-Prozess" zu beobachten glaubt: Henke geht davon aus, dass „die Männer der Großindustrie, als sie zwischen 1945/46 und 1952 aus den Lagern und Gefängnissen in die Freiheit zurückkehrten, nicht mehr dieselben gewesen sein können, umgedacht hatten, zumindest bereit waren umzudenken, und bereitwillig oder nolens volens ihren Platz in einem Nachkriegsdeutschland zu suchen begannen." 1 7 5 ) Doch auch wenn weitere Autoren die Tiefe der lebensgeschichtlichen Zäsur für zahlreiche Unternehmer in den Monaten unmittelbar nach Kriegsende betont haben, als einige Unternehmer in ihrem Pessimismus mit Suizidgedanken spielten und manche ihn gar verübten, scheint die große Mehrheit der Geschäftswelt den Schock der Verhaftungen, Beschlagnahmen, Demontagen, kurz: des Verlustes aller vertrauter unternehmerischer Entscheidungsgewalt bald wieder überwunden zu haben. 1 7 6 ) Vertiefte Hinweise könnten hier biographisch orientierte Arbeiten erbringen, etwa die in dem von Erker und Pierenkemper herausgegebenen Sammelband, der Portraits von Heinrich Nordhoff (VW), Hans-Günther Sohl (Thyssen), Hans Constantin Paulssen (BDA-Präsident), Otto A. Friedrich, Ernst Heinkel und Heinrich Kost (DKBL) vereint. 177 ) Im Rahmen des oben skizzierten Fragehorizonts konzentrieren sie sich allerdings verständlicherweise auf Fragen der betrieblichen Sozialbeziehungen, der Tarifpartnerschaft und so weiter. Cornelia Rauh-Kühnes etwas umfangreicherer Studie über Hans Constantin Paulssen lässt sich jedoch entnehmen, dass bis weit in die 1950er Jahre hinein die im Wesentlichen deutschnational geprägten Einstellungen zahlreicher Industrieller überdauerten und ihre antipluralistische Vorstellungswelt nur deshalb nicht herausgefordert (und in konkreten Handlungen manifest) wurde, weil es zu einem politischen Machtwechsel erst 20 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik kam. 1 7 8 ) Karin Hartewig hat aus dem gleichen Interviewmaterial, das auch von Plato verwendete, geschlossen, dass zumindest die Erfahrung von Haft und Internierung durch die Westalliierten während der unmittelbaren Nachkriegsmonate nicht zu einem grundsätzlichen Einstellungswandel, nicht einmal zu einer Phase tieferer Verunsicherung geführt habe. 1 7 9 ) Beispiele finden sich in den frühesten Loccumer und Boller Diskussionen, die noch nicht als „Begegnungstagungen" zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abgehalten wurden: Hier zeigen sich zahlreiche Belege für die Domi175

) Henke: Besetzung, S.571. ) Bührer. Wandel; Hetzer. Unternehmer; von Plato: Wirtschaftskapitäne. ) Edelmann: Heinrich Nordhoff; Pierenkemper. Hans-Günther Sohl; Rauh-Kühne: Hans Constantin Paulssen; Berghahn: Otto A. Friedrich; Erker. Ernst Heinkel; Kroker. Heinrich Kost. Vgl. auch Berghahn und Friedrich: Otto A. Friedrich, S. 57-73; Berghoff und Rauh-Kühne: Fritz K.; Rauh-Kühne: Wirkungskreis; Markus: Bilanzieren. 178 ) Rauh-Kühne: Hans Constantin Paulssen, S. 176/77, S. 185-92; Berghahn: Unternehmer, S. 327/28. 179 ) Hartewig: Besatzungsmacht. 176 177

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

nanz autoritärer und antipluralistischer Weltbilder, etwa wenn gefordert wurde, Streiks für verfassungsfeindlich zu erklären. 180 ) Andererseits lassen sich die zumindest punktuell beobachtbaren Veränderungen der handlungsleitenden Gesellschaftsorientierungen, der typischen Führungsstile und der innerbetrieblichen Herrschafts- und Integrationstechniken plausibel aus der Konkurrenz unterschiedlicher Ordnungskonzepte erklären. Konzentriert man sich daher auf die Frage nach den Ordnungsvorstellungen, so scheinen mir - gegen die Behauptung Erkers - zwei Gründe für eine mindestens graduelle Neuorientierung in der Nachkriegszeit zu sprechen. Zum einen ist es sehr fraglich, dass die Unternehmer der Adenauerzeit ihre Interessen gegenüber Belegschaften wie Konkurrenten sowie bei den relevanten politischen Entscheidungsträgern mit vollkommen unveränderten wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen erfolgreich vertreten haben sollten. Dies betrifft vor allem ihre handlungsleitenden Ansichten darüber, was wirtschaftlicher Wettbewerb und Wirtschaftspolitik sind und sein sollen, wie die Beziehungen zwischen dem Unternehmer und Beschäftigten gestaltet sein sollten und wie die Entscheidungsgewalt des Unternehmers zu begründen sei. Immerhin agierten sie - in der Tat erfolgreich - in einem gänzlich veränderten politischen System, das seinerseits vollkommen neue außenpolitische und außenwirtschaftspolitische Rücksichten zu nehmen hatte und Interessen verfolgte. Auch waren gewohnte Entscheidungsmechanismen und -kanäle verschwunden und neue an ihre Stelle getreten. Zwischen den Unternehmen setzte eine neue Wettbewerbsordnung in zahlreichen Branchen das Prinzip der Konkurrenz zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in sein Recht. Innerbetrieblich hatten die Unternehmer Abschied vom „Führerprinzip" zu nehmen. Karl Lauschke hat gezeigt, wie vielfältig und effektiv der Betriebsrat in einem (montanmitbestimmten) Hüttenwerk die Interessen der Belegschaft durchzusetzen vermochte.181) Umgekehrt verzichtete die Geschäftsleitung der Westfalenhütte „ganz bewusst... auf eine traditionelle paternalistische Verbrämung der asymmetrischen Sozialbeziehungen".182) Überall mussten Unternehmensleitungen, die sich aktiven Betriebsräten gegenübersahen, in der Art und Weise der Betriebsführung zumindest annäherungsweise den Übergang vom Befehl zur Überzeugung und Motivation der Belegschaft und ihrer Interessenvertreter vollziehen. Dieser Wandel verlangte in der Tat einen Abschied von vertrauten Autoritätsrollen und damit eine Umorientierung von quasi-diktatorischen Betriebsführern zur „konfliktpartnerschaftlichen Wirtschaftselite".183)

180 ) Aussprache über den Vortrag von Dr. Mueller-Frankfurt: Die Grundfragen der Wirtschaft, in: L0X1, S . l . 181 ) Lauschke: Hoesch-Arbeiter, S. 174-233. 18z ) Lauschke: Hoesch-Arbeiter, S. 170. 183 ) Dies in Anlehnung an Lauschke, der die Betriebsratsarbeit auf der Westfalenhütte mit den Begriffen „Konfliktpartnerschaft" und „kooperative Gegenmacht" charakterisiert hat. Ebd., S. 219.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

353

Und zum anderen suggeriert die These, es habe nach 1945 wegen der unleugbaren Kontinuitäten, die alle politischen, ökonomischen und kulturellen Zäsuren überspielten, kein Umdenken in der Unternehmerschaft gegeben, dass politisch-ideelle Orientierungsleistungen nur in seltenen Ausnahmesituationen notwendig und zu beobachten seien. Die Frage würde dann lauten, welche Brüche überhaupt eintreten müssen, um eine derartige Ausnahmesituation zu konstituieren. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass politischideelle Orientierungsleistungen von ständig nachwachsenden Akteuren in einer sich permanent verändernden Welt ununterbrochen vollbracht werden müssen. Zu jeder Zeit besteht daher ein gewisser Orientierungsbedarf und damit eine Nachfrage nach übergreifenden Deutungsmustern (man denke nur an die aktuellen Debatten über „Globalisierung", „Wissensgesellschaft" und so weiter). Und gerade Akteure mit großen Entscheidungsspielräumen, aber auch starken Entscheidungszwängen (wie Unternehmer) benötigen fortgesetzt Orientierungen, die ihnen helfen, in komplexen Prozessen und unübersichtlichen Situationen das Risiko einer Fehlentscheidung, etwa bei betrieblichen oder familiären Investitionen, zu minimieren. Dazu sind jedoch nicht nur Informationen notwendig, sondern auch übergreifende Deutungsmuster, welche die Informationen zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenfügen, Sicherheit über den eigenen sozialen, politischen und ideellen Standort verschaffen und zukünftige Problemlagen zu erkennen versprechen. Allerdings unterliegt dieser Bedarf in der Tat gewissen Konjunkturen, die zum einen das Resultat der schwankenden Nachfrage, zum anderen Ergebnis des Angebots symbolischer Ordnungen und damit der Produktionsbedingungen dieser Güter in den verschiedenen Feldern sind, die sie hervorbringen. Die unmittelbare Nachkriegszeit war ohne Zweifel eine Periode sowohl der großen Nachfrage nach Welt-Deutungen, die eine Orientierung in einer in Unordnung geratenen Welt zu verschaffen versprachen, als auch eine Zeit besonderer Produktionsbedingungen im Intellektuellen Feld, wie sie einleitend skizziert wurden. Hier ist jedoch allein entscheidend, dass nach 1945 aufgrund der vorübergehenden Krise des ökonomischen Feldes (die sich nicht zuletzt in der Entwertung der Geldwährung äußerte), der dadurch hervorgerufenen Verzerrung ökonomischer Zwänge (etwa der kurzfristig enorm gesteigerten Bedeutung der Nahrungsmittelproduktion) und der vorübergehenden Entmachtung der bisherigen Beherrscher dieses Feldes eine Situation entstand, in der verunsicherte Manager die neuesten Kulturzeitschriften auf der Suche nach Deutungen, die diese Situation plausibel interpretieren konnten, geradezu verschlangen. Zwar konnte diese Ausnahmesituation in der Tat bald überwunden werden, doch verschwand der Orientierungsbedarf keineswegs, auch wenn sich diese turbulente Phase mit dem Ende der Kämpfe um die Mitbestimmung und dem zweiten Wahlsieg Adenauers 1953 ihrem Ende zuneigte. Der Kalte Krieg, die überfällige Neubewertung des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten, die Gewöhnung an die parlamentarische Demokratie unter einer bürgerlich-konservativen Regierung und nicht zuletzt die Notwendigkeit, ein

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

möglichst reibungsloses Umgehen mit den Auswirkungen des Montanmitbestimmungs- beziehungsweise des Betriebsverfassungsgesetzes zu finden - diese Entwicklungen und Zwänge bestimmten die politisch-ideellen Herausforderungen für die Unternehmerschaft in den 1950er Jahren. In den sechziger Jahren schließlich sahen sich die Unternehmer mit gewerkschaftlichen Forderungen nach Ausweitung der Mitbestimmung konfrontiert. 184 ) Gebündelt erschienen diese Probleme in der Debatte um die legitime (Selbst-)Definition „des Unternehmers", die genau in dieser Periode ausbrach und die vehement geführt wurde. Es zeigt sich also, dass die Unternehmer nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes (und darüber hinaus) erhebliche ideelle und politische Anpassungs- und Orientierungsleistungen zu erbringen hatten. Im Unterschied zur Weimarer Republik waren die Unternehmer auch nicht auf die reine Wiederherstellung eines Status quo ante fixiert, sondern suchten sich in einer veränderten Umgebung zurechtzufinden und deren Ausgestaltung effektiv zu beeinflussen. Aus all diesen Gründen müssen die Bemühungen von Unternehmern um Orientierung in einer sich wandelnden Welt als ein kontinuierlicher Prozess begriffen werden, nicht als ein einmaliger und folgenloser Moment in einer Schocksituation, und ihre Bedürfnisse nach politisch-ideeller Orientierung durch die Übernahme von Deutungsmustern aus dem Intellektuellen Feld als Regelfall. Gegenüber diesem Zwang zur Anpassung darf allerdings die Wirkung nicht unterschätzt werden, die von der Wahlverwandtschaft ausging, mit der Teile der Unternehmerschaft nach 1948 in Ludwig Erhard eine Ikone der Marktwirtschaft entdeckten. Auf diese Weise entstand sehr schnell eine enge Bindung an eine demokratische Partei, die CDU, und ihre Politik. Zweifellos spielte der traditionelle Antikommunismus und Antisozialismus, verschärft unter den Bedingungen des Kalten Krieges, eine gewichtige Rolle. Doch den entscheidenden Faktor dieser speziellen politischen Option stellte die jeweils bevorzugte Wirtschaftsordnung dar, das heißt die Ablehnung oder Zustimmung zum Modell des Konkurrenzkapitalismus. Unternehmer wie Heinrich Nordhoff oder Otto A. Friedrich, deren exportorientierte beziehungsweise in nicht-kartellierten Branchen aktive Untenehmen von einem offenen Wettbewerb profitierten, optierten hier schneller für die vom CDU-Minister vertretene Wirtschaftspolitik - und ä la longue auch für das Modell der Konkurrenzdemokratie - , wohingegen die kartellfreudige Schwerindustrie an Rhein und Ruhr die von Erhard vertretene Wettbewerbsordnung ablehnte und offenbar auch gegenüber dem Konkurrenzprinzip der politischen Demokratie in der vielfach tradierten Freund-Feind-Haltung aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik verharrte. In dieser Konstellation materieller Interessen und politisch-ideeller Kräfte war die Übernahme der Elite-Doxa zumindest durch

184

) Schneider. Unternehmer und soziale Demokratie, S. 243-88.

4.2 Der Elite-Begriff und die symbolischen Konflikte

355

weite Teile der Unternehmerschaft jedenfalls geeignet, Allianzen mit anderen Akteursgruppen der einheitlich gedachten westdeutschen Wert- und Charakter-Elite zu ermöglichen, also zum Beispiel mit christlich-demokratischen Politikern. Derartigen Allianzen stand die Führer-Doxa mit ihrer Betonung martialischer Kämpferpersönlichkeiten und genialen Einzelführern eher entgegen. In dieser Hinsicht beförderte die Elite-Doxa vermutlich auch die politische Integration der Unternehmerschaft in die Bundesrepublik. Zumindest für die langen 1950er Jahre dürften daher die politisch-sozialen Topoi, die dem mehrfach erwähnten Buch von Stein und Gross über „Unternehmer in der Politik" seine Konturen verliehen, die Weltsicht wohl der Mehrheit der westdeutschen Unternehmer ausdrücken. Diese Topoi verdichteten nur, was in zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Reden, Diskussionsbeiträgen und Einzelveröffentlichungen von Unternehmern und ihnen nahestehenden Intellektuellen artikuliert wurde: Zunächst gehört dazu eine auch nachträglich nicht reflektierte oder gar korrigierte Distanz zur Weimarer Republik, dem „Interregnum". 185 ) Sodann waren für den Nationalsozialismus - und selbstverständlich auch für den Kommunismus - die „Massen" verantwortlich, mit anderen Worten, im Raum der Unternehmerschaft blieb die Massen-Doxa vermutlich länger präsent als im Literarisch-Politischen Feld. 186 ) Auch wenn sich Stein und Gross dabei hauptsächlich auf die konservative Programmschrift Winfried Martinis bezogen, bleibt jedoch zu berücksichtigen, dass gerade wirtschaftsnahe Wissenschaftler-Intellektuelle wie Wilhelm Röpke die Grundannahmen der Massen-Doxa auch in den späten 1950er Jahren noch vehement propagierten und somit präsent hielten. Von Martini (und Röpke) ließen sich ebenso die Warnungen vor dem Wohlfahrtsstaat ableiten, die Stein und Gross aussprachen, 187 ) wie die typische Demokratie-Skepsis jener Jahre: Die Identifizierung der Demokratie mit unberechenbaren Wähler/nowen, mit totalitärem Jakobinismus, Kollektivismus, Sozialismus und mit der Mitbestimmung im Betrieb diente nicht zuletzt der rhetorischen Abwehr der „Omnipotent der Demokratie" 188 ) und dem Aufrechterhalten des Topos von der Unübertragbarkeit demokratischer Prinzipien auf die Ökonomie im Allgemeinen und auf die Unternehmen im Besonderen. Auch die Idee vom „Aufstand" einer unternehmerischen Persönlichkeits-Elite gegen die allgegenwärtige „Vermassung" deckte sich vollkommen mit den Vorstellungen Röpkes. Und auf diese Weise ließ sich auch unternehmerische Herrschaft neu begründen: „Aus dem Unternehmertum können die Kräfte hervorgehen, die zu Leitbildern für den Prozess der Gliederung und Entmassung unseres Volkes werden. Von der sozialen Gliederung des Unternehmertums her sind alle Voraussetzungen dafür gegeben. Es hat geradezu einzigartige Möglichkeiten, durch Vorbild zur Führung zu gelangen. Kein anderer Beruf -

185

) ) 187 ) 188 ) 186

Stein Stein Stein Stein

und und und und

Gross: Gross: Gross: Gross:

Unternehmer, Unternehmer, Unternehmer, Unternehmer,

S. 46/47. S. 165. S. 76-78, S. 117-26. S. 165-67.

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

vielleicht den Geistlichen beider Konfessionen ausgenommen - hat so viele unmittelbare Wirkungsmöglichkeiten in dieser Richtung wie der Unternehmer ... während weite Teile der Bevölkerung in eine gewisse Anonymität des Massendaseins geraten sind". 189 )

In einem Punkt jedoch gingen Stein und Gross - und mit der Zeit vermutlich der größte Teil der Unternehmerschaft - über Martinis neoständische Abendland-Vision und Röpkes Hoffen auf eine kleingewerbliche Mittelstandsgesellschaft hinaus: In der Bewunderung der amerikanischen Geschäftswelt für deren sozial dominierende Position, oder anders gesagt: für deren unangefochtene Stellung als gesellschaftliche „Elite".

4.3 Führung im Betrieb Die Durchsetzung der Elite-Doxa im Raum der Unternehmerschaft und die Neudefinition der Unternehmer-Figur als Elite-Individuum stellt eine der großen Leistungen in der Ideengeschichte der Bundesrepublik dar. Sie trug nicht nur entscheidend zum Wandel der symbolischen Ordnung der (west-)deutschen Gesellschaft insgesamt bei, sie integrierte auch die bislang divergierenden Teile der Geschäftswelt und entschärfte damit einen Konflikt, der gerade in einer Zeit ordnungspolitischer Richtungsentscheidungen politische Dimensionen anzunehmen drohte und damit die Gefahr heraufbeschwor, die politische Durchsetzungsfähigkeit der Unternehmerschaft erheblich zu schwächen. Der unmittelbare Zeitpunkt des Ausbruchs dieser schon länger schwelenden Auseinandersetzung weist noch einmal auf die große sozialpolitische Bedeutung der Mitbestimmungsgesetze der frühen 1950er Jahre hin, die auch das vorherrschende unternehmerische Selbstverständnis zu einer Revision zwangen. Innerbetrieblich stellte sich die Neuformierung des unternehmerischen Selbstverständnisses jedoch mittelfristig als eine große Belastung heraus. Denn die Entwicklung des Unternehmer-Begriffs aus dem Horizont der EliteDoxa musste in den 1950er Jahren angesichts des Diskussionstands im Intellektuellen Feld, aus welchem derartige Ordnungsentwürfe importiert wurden, dazu führen, dass die Unternehmer-Persönlichkeit als Teil einer Wert- und Charakter-Elite gedacht wurde, mit anderen Worten, dass personengebundene Qualitäten - und nicht ökonomische Leistungen beziehungsweise die Ausübung ökonomischer Funktionen, wie es später funktionale Elite-Konzepte nahe legen sollen, und auch nicht Positionen in der Unternehmenshierarchie - über den Unternehmer-Status entscheiden sollten. Die Entwicklung von problemadäquaten innerbetrieblichen Entscheidungsstrukturen wurde dadurch schwer belastet, denn die wert- und charaktergebundene UnternehmerDefinition behinderte und verzögerte die Entwicklung einer Sichtweise, die das Treffen von Allokationsentscheidungen ins Zentrum unternehmerischer 189 ) Hans M. Müller: Verantwortung und Ordnung als Gegenwartsaufgabe des Unternehmers, in: Junge Wirtschaft 1954, zitiert nach Hartmann: Unternehmer, S.45.

4.3 Führung im Betrieb

357

Arbeit stellte. Diese Blockade wiederum erschwerte es den Unternehmensleitern, funktionstüchtige Modi der Delegation von Entscheidungskompetenzen zu entwickeln, weil das Modell des durch Wertbindungen und Charakterstärke autorisierten Unternehmensleiters letztlich die Zentralisierung aller irgendwie relevanten Entscheidungen bei diesem selbst verlangte. Diese Zentralisierung der innerbetrieblichen Entscheidungskompetenz wurde schon von der zeitgenössischen Sozialforschung bemerkt. 190 ) Was diese jedoch nicht registrierte, war, dass der gängige Unternehmer-Begriff selbst die Organisations- und Management-Probleme produzierte, über welche die Unternehmer bis zum Ende des Untersuchungszeitraums - und darüber hinaus - klagten. Aus diesem Grund erwies sich die Befriedung des symbolischen Konflikts innerhalb der Unternehmerschaft längerfristig als Belastung für das unternehmerische Handeln. Es ist offensichtlich, dass sich diese Hypothese nur auf Unternehmen beziehen kann, in welchen aufgrund der Betriebsgröße der oder die Unternehmensleiter keine unmittelbare Kontrolle über die Tätigkeit aller Beschäftigten ausüben konnten, und in denen daher komplexere Entscheidungsstrukturen entwickeln mussten als in kleineren Betriebe. Der Schlüsselbegriff in der Diskussion über die innerbetrieblichen Entscheidungsgänge lautete „Autorität". Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums dominierte dabei eine Vorstellung von Autorität, die sich nicht aus Leistungskriterien oder Funktionsbeschreibungen ableiten, sondern aus den Wertbindungen und Charaktermerkmalen resultieren sollte. Denn weil die „Führung" eines Unternehmens nur durch Personen erfolgen durfte, die durch personengebundene Merkmale dazu qualifiziert waren, so musste auch die Grundlage ihrer Führungsqualifikation personengebunden sein. Die Gründe der Autorität mussten jedoch erst gefunden werden, denn aus dem Eigentum am Unternehmen konnte sie im Horizont des neuen Unternehmer-Begriffs nicht mehr abgeleitet werden. Mit anderen Worten, es bestanden ein gewisses ideelles Vakuum und gleichzeitig Denkzwänge, dieses Vakuum zu füllen. Genau das geschah auch seit der Mitte der 1950er Jahre. Bereits 1954 erklärte der Kalichemieindustrielle Clemens van Velsen, der der Evangelischen Kirche sehr nahe stand, auf einer Unternehmertagung in Loccum: „Der Unternehmer braucht zur Erfüllung seiner Aufgaben Autorität, die aber nur da entsteht, wo zunächst Vertrauen geschaffen ist. Vertrauen wiederum gewinnt der Unternehmer bei seinen Mitarbeitern und Untergebenen [sie!] nur dann, wenn er in seinem ganzen Tun und Lassen ,wie aus einem Guss' erscheint. Zwischen seiner persönlichen Haltung und seinem geschäftlichen Verhalten muss eine vertrauenserweckende Übereinstimmung bestehen". 191 )

190

) Vgl. Hartmann: Unternehmer, S. 72-78. ) Clemens van Velsen: Der Unternehmer in der Kirche, in: L026, S. 28-31, hier S.29. Van Velsen nahm wiederholt an Loccumer Tagungen teil und sprach sich in seinem Vortrag vor allem für ein enges Zusammengehen von Kirche und Unternehmerschaft in gesellschaftspolitischen Fragen aus. 191

358

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Die Autorität, von der van Velsen hier sprach, ist nicht zu verwechseln mit dem Attribut gleichen Namens, mit dem der Soziologe Heinz Hartmann Ende der 1950er Jahre den deutschen Unternehmer als Typus kennzeichnete. Für Hartmann war Autorität „ein nicht-rationaler Prozess" (darin bestand vielleicht noch Übereinstimmung mit der frühen deutschen Diskussion) und „die Anerkennung jeder Herrschaft", 192 ) während die bisher genannten Autoren gerade auf die Unterscheidung zwischen Herrschaft einerseits und Autorität (und Führung) andererseits pochten. Van Velsen verwendete das Begriffspaar Autorität und Vertrauen hier zur Konstruktion eines Modells der patriarchalisch-sozialharmonischen und konfliktvermeidenden Unternehmensführung. Die Unternehmer-Autorität war dabei vollkommen persönlich und charakterlich begründet und beruhte nicht etwa auf dem technischen Wissen der Betriebsführung oder der unternehmerischen Leistung. Dieses Modell war streng dichotom und autokratisch, denn der Unternehmer blieb allein „verantwortlich" für den Betrieb, während die „Untergebenen" (das Wort fiel mehrfach im Vortrag) seiner einzig durch die christliche Wertbindung eingeschränkten Kommandogewalt unterworfen blieben. Bereits drei Jahre zuvor hatte er in dieser Weise in Loccum über die „Unternehmer-Verantwortung für die Betriebs-Gemeinschaft" gesprochen. 193 ) Und dieses Modell war ganzheitlich, indem der Unternehmer im Beruf wie im Privatleben den gleichen Handlungsprinzipien folgen sollte, was gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen einer funktional und lebensweltlich ausdifferenzierten Gesellschaft bemerkenswert unterkomplex konzipiert erscheint. Diese Vorstellungen lagen ganz auf der Linie der frühen Diskussionen über die Wert- und Charakter-Elite und verbanden diese mit den im Grunde bereits bekannten Topoi der Konzepte eines patriarchalischen Verhältnisses zwischen Unternehmer und Beschäftigten. Dennoch konnte van Velsens Modell mit seinem Verweis auf Vertrauen und persönliche Haltung durchaus auf Entgegenkommen seitens der Arbeitnehmer hoffen, wenn es nur seiner allzu offenkundigen Betonung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten entkleidet wurde. Wie schnell sich dieses Konzept der Betriebsführung verbreitet hatte, das auf der persönlichen Integrität des unternehmerischen Elite-Individuums beruhte, zeigt sich in den zu Gemeinplätzen über echte Autorität, Vorbildhaftigkeit und den Menschen, der stets im Vordergrund zu stehen habe, verkürzten Diskussionsergebnissen einer Tagung für Angehörige südwestdeutscher Betriebe in Bad Boll 1957: „Echte Autorität kann weder durch Protektion, Besitz oder Geburt erworben werden. Sie gründet sich auf Wissen, Können, Verantwortungsfreudigkeit, Führungseigenschaften, guten menschlichen Charakter und setzt vorbildliches Verhalten in jeder Situation voraus. Sie muss jeden Tag erneut gefestigt werden. Vieles davon kann man erwerben, aber anla-

192

) Hartmann: Der deutsche Unternehmer, S. 8. ) Clemens van Velsen: Unternehmer-Verantwortung für die Betriebs-Gemeinschaft, in: L008, S. 11-12. 193

4.3 Führung im Betrieb

359

gemäßig muss es vorhanden sein. Dem einzelnen Menschen bleibt es vorbehalten, diese Anlagen zur Entwicklung und Reife zu bringen. Im Endprodukt wird Autorität in gewissen Stufen wirksam. Autorität wird durch Autorität begrenzt. Man muss zwischen Autorität und Macht unterscheiden. Es dürfen nicht nur wirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Leitung eines Betriebes vorherrschen, sondern die darin arbeitenden Menschen berücksichtigt werden [sie!]. Dann kann echte Autorität entstehen." 194 )

Bemerkenswert ist hier vor allem die Ausführung über die Begrenzung der unternehmerischen Autorität, die wiederum nur durch Autorität selbst - und nicht durch gesetzliche Vorschriften über die Betriebsverfassung - eingeschränkt werden sollte. Hier zeigt sich bereits ein wesentlicher Zug des frühen Aussagen zum Modell der Wert- und Charakter-Elite: Die Führung durch eine solche Elite sollte nämlich eine Alternative bieten zur Herrschaft der Massen beziehungsweise der durch demokratische Verfahren zu Stande gekommenen Gesetze, welche die Massen begünstigten. Höhepunkte in diesem kontinuierlichen Strom von Erörterungen stellen zwei große Akademietagungen der Jahre 1958 und 1959 dar. „Groß" ist die erste von ihnen schon wegen ihrer äußeren Form zu nennen: Die Tagung „Führung und Autorität in der modernen Wirtschaftsgesellschaft" war mit fünf Tagen Dauer für Loccumer Verhältnisse nicht nur ungewöhnlich lang, es war auch eine der ersten, deren Vorträge und Diskussionsauszüge veröffentlicht wurden. Beide Tagungen richteten sich an Unternehmer und waren prominent besetzt: In Loccum spachen unter anderem Ernst Wolf Mommsen, Otto A. Friedrich, Landesbischof Hanns Lilje sowie ein Vertreter der englischen Unternehmensberatung Urwick, Orr & Partners, einer der wenigen derartigen Firmen, die auch in der Bundesrepublik einige Prominenz erlangten; 195 ) in Bad Boll beteiligten sich Ludwig Vaubel und Landesbischof a. D. Haug. Außerdem referierten mit Ernst Steinbach und Siegfried Wendt zwei in den Akademien viel gesehene Humanwissenschaftler. Allerdings wurden, im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit, gegen Ende der 1950er Jahre genuin religiöse Orientierungsangebote nun in weitaus geringerem Umfang angenommen. Dies zeigt sich vor allem an den Referaten der Bischöfe, die beide nicht unmittelbar religiösen Themen galten, sondern gerade die tiefsten Gründe von „Autorität" auszuloten suchten. 196 ) Lilje verortete diese letzten Gründe, wie nicht anders zu erwarten, bei Gott, und widmete sich ansonsten einer langen Intellektuellenschelte, weil er diese offenbar verdächtigte, die echte Autorität zu zersetzen. Keiner dieser Topoi wurde in der weiteren Diskussion aufgenommen. Auch die von Haug ins Spiel gebrachte Figur, auch Gott sei ein auf eigenes Risiko arbeitender Unternehmer, fand keinen Eingang in weitere Erörte194

) (Gruppenarbeit), in: BB037, S.2. ) Stein und Gross nannten den Leiter von Urwick, Orr & Partners „einen der führenden britischen Unternehmens- und Organisationsberater". Stein und Gross: Unternehmer, S. 175. 196 ) Hanns Lilje: Der Grund der Autorität, in: L062, S. 29-34; Martin Haug: Aufgabe und Verantwortung der Führenden, in: L055, S. 17-30. 195

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

rungen. Für die spezifische Nachfrage der Zuhörer, die Aufschluss über Fragen betriebspraktischer Führungsprobleme suchten und denen es um die Vorbereitung auf ihre Rolle als Entscheidungs-Verantwortliche ging,197) waren dies keine attraktiven Angebote. Der Loccumer Akademieleiter Johannes Doehring hatte das besser erkannt, als er in seiner Einleitung zur Tagung die „Autorität" des „wirtschaftenden Menschen" in seiner „gesellschaftspolitischen Verantwortung" sah und darauf setzte, dass sich aus der Einsicht in die „Gesamtverantwortung des Unternehmers" die „Führungsqualitäten" entwickeln würden.198) Über diese Allgemeinplätze ging vor allem das Referat von Ernst Wolf Mommsen hinaus, der sich hier erneut als Vordenker unternehmerischer Leitbilder erwies. Mommsen stellte zunächst einmal fest, dass „Führung" und „Autorität" eine „untrennbare Einheit" darstellten und dass „Führung ohne Autorität ... einfach Befehl, Macht, Gewalt" darstellte.199) Das Problem sah er darin, dass „auch in der Wirtschaft Führung ohne Autorität kraft Stellung oder Titel, also Befehl bis zur reinen Gewalt" erkennbar seien. Einem bloßen Zurück zur Eigentümer-Ideologie, die Autorität durch Besitz zu legitimieren versucht hatte, baute er insofern vor, als er noch einmal seine oben zitierten Ausführungen zu einem integrativen Unternehmer-Begriff wiederholte. Zukunftsgerichtet sah er die Lösung des Problems, „wie sich richtige Führung in Autorität umsetzt", darin, dass „echte Führung nur durch Delegation bzw. übertragene Verantwortung möglich" sei, weil „Führung mit echter Autorität nur dann vorhanden" sei, wenn es gelinge, „den Befehl zu vermeiden und Überzeugung zu schaffen". Dies sei schon aufgrund der „Überbelastung aller in die Führung berufenen" notwendig.200) Weniger verblümt bedeutete das einen Aufruf zum Abschied von der Führer-Doxa und ihrem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Mit dem Fokus auf die Delegation von Entscheidungskompetenz und der Suche nach konsensualen Entscheidungswegen gab Mommsen damit die Richtung für die folgenden Diskussionen vor. Allerdings blieben auch diese Vorgaben zu wenig präzise, um tatsächlich handlungsleitend werden zu können. Einen interessanten Vorschlag machte dann der Sozialethiker und spätere Marburger Ordinarius Dietrich von Oppen, der darauf hinwies, dass zumindest in größeren Wirtschaftsunternehmen die Leitung ohnehin niemals unumschränkte Macht ausüben könne, denn „mit der fortgeschrittenen Arbeitsteilung, der allgemeinen Vermarktung, der Schaffung und dem Ausbau der Interessenverbände, der Ausweitung der Staatsausgaben ist ein Geflecht entstanden, in dem alles mit allem zusammenhängt. Jede Machtposition in diesem

197

) Dies geht zunächst aus den Diskussionen und dem Podiumsgespräch hervor, die im Loccumer Tagungsband in Ausschnitten abgedruckt wurden. 198 ) Johannes Doehring: Einleitung, in: L062, S. 5-9, hier S. 6. 199 ) Ernst Wolf Mommsen: Führungsprobleme in der anonymen Wirtschaft, in: L062, S. 11-15, Zitat S. 11, auch für das Folgende. 200 ) Mommsen: Führungsprobleme in der anonymen Wirtschaft, S. 14.

4.3 Führung im Betrieb

361

Netz, also auch die Leitung eines Unternehmens, hat sich nach vielen Seiten machtmäßig auseinanderzusetzen. Neben dem Innenverhältnis zur eigenen Belegschaft steht das Verhältnis zu den Lieferanten der Rohstoffe und Produktionsmittel und zu den Kapitalgebern, das Verhältnis zum Kunden, zur Konkurrenz, zu Interessenverbänden mannigfacher Art, zur Presse, zu Parteien und staatlichen Stellen der Steuerverwaltung, der Gesetzgebung, der örtlichen Verwaltung usf. Die Behauptung gegenüber so mannigfachen und mit so gegensätzlichen Forderungen auftretenden Mächten ist das eigentliche Problem der modernen Machtposition geworden." 201 )

Dass derartige, inhaltlich doch so naheliegende Überlegungen - welches Unternehmen arbeitete schon ohne Vorprodukte, Kapital, Kunden, ohne Einbindung in das Verbandswesen? - keine Selbstverständlichkeiten waren, zeigt der Umstand, dass sie in der gesamten Tagungsdebatte hier zum aller ersten Mal artikuliert wurden. Aus dieser Einbettung eines jeden Unternehmens in verschiedene Netze der Machtverteilung folgerte von Oppen dann, dass der Umgang mit den anderen Akteuren in diesen Netzen ohnehin nicht mehr in der „Sprache des Souveräns im alten Sinne", nämlich im Befehl, erfolgen könne. Auch von Oppen propagierte also den Abschied vom Führer-Glauben, begründete dies jedoch weniger mit ethischen Forderungen, sondern ebenso einfach wie unwiderlegbar mit der Ausdifferenzierung der modernen Wirtschaftsgesellschaft. Angesichts deren Komplexität, die Oppen hier als Ausgangsbedingung aller Überlegungen zum Problem der Unternehmensführung in die Debatte einbrachte, folgerte er, dass „die Macht... sich heute nur mehr zum geringsten Teil darin [im Befehl, M.R.] (äußert), viel häufiger in der Verhandlung. (...) Die Verhandlung, das sachliche Gespräch, sie ist die Sprache einer Zeit, in der alle auf Sachlichkeit verwiesen sind, in der die Arbeitsprozesse unendlich kompliziert wurden und in der die Macht nicht so sehr von der Spitze einer Hierarchie ausgeübt wird, sondern in einem Netzgeflecht zahlreichen gleichberechtigten Partnern begegnet." 202 )

Die Komplexität der modernen Wirtschaftswelt erforderte für Oppen also gewissermaßen eine Ethik des Gesprächs als Grundlage erfolgreicher Führung. Während er dabei mit dem Terminus des Gesprächs einen vertrauten Begriff der Akademiearbeit aufgriff, stellte die Orientierung an der Erfolgstüchtigkeit der Führungsform - statt an ihrer Legitimität im Horizont moralischer und charakterlicher Werte - durchaus eine Innovation dar. Doch gerade die These von der Begründung der Autorität des Unternehmensleiters durch das Gespräch mit Beschäftigten stieß bei den Teilnehmern auf Widerspruch, die sich diesen Dialog nur als Mittel der Durchsetzung vorzustellen vermochten. Zuspruch fand Oppen hier anscheinend nur von Akademieleiter Doehring, nicht von den anwesenden Unternehmern. 203 ) 201

) Dietrich von Oppen: Bemerkungen zum Problem der Macht in der modernen Gesellschaft, in: L062, S. 17-28, Zitat S.26. ) Oppen: Bemerkungen zum Problem der Macht, S. 27/28. 203 ) Aussprache, in: L062, S. 35-36. 202

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

Oppens innovativer Ansatz wird umso deutlicher, wenn man seine Aussagen mit den Auseinandersetzungen vergleicht, die nur wenige Monate später in Bad Boll geäußert wurden, wo man ebenfalls über Führung im Unternehmen diskutierte. Hier referierten zwei Wissenschaftler zum gleichen Grundthema, nämlich der Tübinger Religionsphilosoph Ernst Steinbach und der Münchner Psychologe August Vetter über „Sittliche Begründung und Begrenzung patriarchalischer Führungsformen im Betrieb". Beide widmeten sich den philosophischen Begründungen patriarchalischer Autorität, sei es im römischen Recht und der Bibel, 204 ) sei es in der Vaterschaft als solcher. 205 ) Worin „patriarchalischefr] Führungsformen im Betrieb" überhaupt bestünden, erörterten beide Referenten nicht. Und in der Diskussion stritten sich die beiden darüber, ob „das Vatersein" eine „Qualität" oder ein „Urständ" sei. 206 ) Es war der Akademieleiter Müller, der die Diskutierenden überhaupt erst wieder auf den Zusammenhang zwischen Führung und Betrieb bringen musste, wozu dem Psychologen Vetter nur einfiel, dass das Fehlen patriarchalischer Ordnungen zu psychologischen Störungen führen müsse. Auch die erneute Fokussierung Müllers auf betriebliche Führung blieb erfolglos. Müller konstatierte nämlich, dass „der Unternehmer ... seinen Anspruch auf Autorität von seiner Funktion (ableite)", was gleichfalls für staatliche Institutionen und schließlich auch für Gewerkschaften gelte. Angesichts des häufig recht laxen Umgangs mit diesem Terminus, besonders in den Mitschriften der freien Diskussionen vor der Einführung von Tonbandmitschnitten (die Vortragsprotokolle entstanden ja nach den Redemanuskripten), meinte das vermutlich eher eine positionale Begründung der Entscheidungsautorität als eine funktionale Ableitung im strengen Sinne. Das war für Vetter nicht akzeptabel; Autorität im Betrieb könne nur der Betriebsleiter, nicht aber der Betriebsratsvorsitzende sein: „Der Betriebsrat sei nicht Autorität, sondern Opposition." 207 ) Wie die Nachfragen aus dem Publikum zeigen, gingen diese Stellungnahmen aus dem Reich normativen Meinungswissens als Expertisen der Wissenschaftler an den konkreten Problemen der teilnehmenden Unternehmer offenkundig vollkommen vorbei. Diese beschäftigten weitaus stärker Probleme wie die Ablehnung „jede(r) patriarchalischen Ordnung" durch die Arbeiter, die dahinter stets den berüchtigten „Herr-im-Hause"-Standpunkt witterten. Die Arbeiter wollten „als Mensch gewertet und gerecht behandelt" werden, doch Unternehmer, die solches praktizierten, kämen leicht in Konflikt mit Gewerkschaftsführern. 208 ) Auf derartige Schwierigkeiten scheinen jedoch weder Steinbach noch Vetter eine Antwort gefunden zu haben.

204

) Ernst Steinbach: Sittliche Begründung und Begrenzung patriarchalischer Führungsformen im Betrieb, in: BB055, S. 1-3. 205 ) August Vetter: Sittliche Begründung und Begrenzung patriarchalischer Führungsformen im Betrieb, in: BB055, S.3-6. 206 ) Aus der Diskussion, in: BB055, S.6-7. 207 ) Aus der Diskussion, in: BB055, S.7. 208 ) Aus der Diskussion, in: BB055, S.7.

4.3 Führung im Betrieb

363

Und so war es einmal mehr Ludwig Vaubel, der der (nicht nur in Bad Boll) festgefahrenen Debatte eine neue Richtung gab. Vaubel brachte die Diskussion auf die beiden zentralen Gegenstände der betriebspraktischen Führungsdebatte während des Untersuchungszeitraums und darüber hinaus: die Delegation von Entscheidungskompetenzen und die Auswahl der Führungskräfte. 209 ) Es spricht für die intellektuelle Kapazität Vaubels, dass ihm die Formulierung dieser Richtungsgebung, die keineswegs auf ungeteilte Zustimmung traf - und der ganz offensichtlich in zahllosen westdeutschen Unternehmen trotz wachsenden Problemdrucks nicht gefolgt wurde auf integrative statt anklagende oder bestimmte Gruppen und Überzeugungen ausschließende Weise gelang. Vaubel, der als Unternehmensleiter und Propagandist der unternehmerischen Aus- und Weiterbildung sowohl über theoretische wie praktische Erfahrungen der Unternehmensführung verfügte, vermochte es, diese Erfahrungen auf eine einprägsame Formel zu bringen und die Verantwortlichkeit für deren Umsetzung zu benennen: „Als Prinzip für die Führungsstruktur kann man nennen: dezentralisieren so weit wie möglich, zentralisieren so sehr wie nötig. Einen solchen Aufbau zu erreichen ist in erster Linie Aufgabe des Vorstandes. Daher ist es vielleicht die wichtigste Funktion des Vorstands, die Spitzenpositionen mit den richtigen Leuten zu besetzen. Eine weitere Aufgabe ist es, Aufstiegsmöglichkeiten für die künftigen Führungskräfte zu schaffen. (...) Ein Geheimnis des guten Delegierens von Verantwortung ist die Frage, wie die Delegierung mit einer ausreichenden Kontrollmöglichkeit verbunden wird; denn auch der, der Verantwortung delegiert, ist von der Verantwortung, die er delegiert hat, nicht entbunden. Auch in einem modernen Großbetrieb, der auf dem Prinzip der Mitarbeit, der Teamarbeit und der möglichst weitgehenden Delegierung von Verantwortung aufgebaut ist, kann das Patriarchalische nicht entbehrt werden. Die Führung sollte väterliche Eigenschaften ausstrahlen, sie sollte sich durch ihr Beispiel und durch ihre Verantwortungsfreude legitimieren." 210 )

Auch Vaubel hielt also eine autoritäre und nicht rein-funktionale Form der Führung für notwendig. Aber er problematisierte immerhin das Grundproblem der Kompetenz-Delegation, nämlich das Verhältnis von Initiative und Kontrolle der nachgeordneten, gleichwohl nun mit Entscheidungskompetenz betrauten Akteure. Für die Lösung der hier entstehenden Probleme hatte Vaubel allerdings ein deutlich weniger innovatives Instrumentarium anzubieten. Die Ausbalancierung von Initiative und Kontrolle sah er als eine allgemeine Frage zwischenmenschlicher Beziehungen, ohne dass er differenzierende Kriterien wir Branchenanforderungen, Betriebsgrößen und dergleichen mehr ansprach. Und als Mittel der Integration der Belegschaft durch Förderung ihrer Identifikation mit dem Unternehmen empfahl er Werkszeitschriften. Insofern zeigte sich Vaubel auf dieser Tagung als ein außerordentlich vorsichtiger Neuerer, vor allem hinsichtlich seiner Ausführungen über die Beziehun-

209

) Ludwig Vaubel·. Führungsstruktur und Mitarbeit im modernen Industriebetrieb, in: BB055,S. 11-13. 210 ) Vaubel·. Führungsstruktur und Mitarbeit im modernen Industriebetrieb, S. 12.

364

4. Handlungswissen und Rollenfindung

gen zwischen Unternehmensleitung und Gewerkschaften. Wirklich partizipative Formen der Unternehmensführung lehnte er ab und beschwor das Schreckgespenst der Wirtschaftsdemokratie. Hier bediente er sich des mittlerweile eingeführten Topos, Demokratie sei zwar in der Politik, nicht aber in der Wirtschaft möglich.211) Gewerkschaften bezeichnete er zwar als grundsätzlich legitime Form der Interessenvertretung, die betriebliche Mitbestimmung führe jedoch zur „Schizophrenie", weil sie „nur dann funktionieren könnte, wenn die Gewerkschaftsvertreter Verantwortung für den ganzen Betrieb übernehmen könnten". Das aber sei als Interessenvertreter der Beschäftigten unmöglich. Die Etablierung der Arbeitsdirektoren sei „unnatürlich". Damit hatte er die anwesenden Unternehmer zweifellos auf seiner Seite, die in der Aussprache über seinen Vortrag jedoch hauptsächlich Probleme der untersten Führungsebene, des „Meisterproblems", erörterten und nicht die Fragen der Delegation von Kompetenzen an die der Unternehmensleitung nächst tiefere Entscheidungsebene.212) Kehren wir noch einmal zurück zur Loccumer Tagung über „Führung und Autorität". In der dortigen Podiumsdiskussion und der anschließenden Aussprache thematisierten die Teilnehmer das Problem der spezifisch unternehmerischen Elite-Bildung, anders gesagt: Sie debattierten darüber, ob und wie eine durch Wertbindungen und Charaktermerkmale konstituierte Unternehmerschaft ausgebildet und auserlesen werden könnte: Die Diskussion über „Führungsnachwuchs" kreiste dabei insbesondere um die Frage der Auslese und darum, „ob Führungsqualitäten lehrbar und lernbar sind."213) Eine solche Debatte war keine Loccumer Spezialität, denn für weite Teile der Geschäftswelt lag der Gedanke nahe, dass eine solche Unternehmer-Figur die Praxis der Unternehmensführung als Kunst und nicht als erlernbares Wissen betreibe. So propagierte der Arbeitgeber bereits in seinem ersten Jahrgang das „Künstlertum des Unternehmers" und das „königliche Amt des Unternehmers", denn „dem echten Unternehmertum (strömen) seine Kräfte aus dem Irrationalen zu", ja, „die .königliche Begabung' (hat) sogar mit dem Intellekt nur wenig zu tun". 214 ) Die „künstlerische Inspiration", die „Hellhörigkeit, die Instinktführung und oft nachtwandlerische Sicherheit des echten Unternehmertums, die durch keine Spezialbegabung, durch kein Gelernthaben und durch keine Prämienverführung ersetzt werden können", kennzeichne die „Künstler, zu denen die echten Unternehmer gehören". 215 ) Auch der Arbeitgeberpräsident Walter Raymond sprach davon, dass „der unternehmerische Geist ein Ge2n

) Vaubel: Führungsstruktur und Mitarbeit im modernen Industriebetrieb, S. 13, auch für das Folgende. 212 ) Aus der Diskussion, in: BB055, S. 14-16. 213 ) Podiumsgespräch mit jungen Führungskräften, in: L062, S. 49-54, Zitat S. 49. 2M ) Wesen und Gestalt des Unternehmers, in: Der Arbeitgeber 1.1949 (15.11.1949), S. 15-17. 215 ) Aus Presse und Literatur. Vom königlichen Amt des Unternehmers, in: Der Arbeitgeber 1.1949 (1.10.1949), S. 26-28.

4.3 Führung im Betrieb

365

schenk (sei), man könne ihn nicht erlernen ... er k o m m e aus der Tiefe des Volkes". 2 1 6 ) Modelltheoretisch wurde das Problem gegen E n d e der 1950er Jahre gegenüber den Erörterungen zehn Jahre zuvor nun zusätzlich dadurch erschwert, dass mittlerweile ausdifferenziertere Wert- und Charakter-Konzepte von Elite und Unternehmerschaft zirkulierten, so dass es schwieriger wurde, befriedigende Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen zu finden. In Loccum entwarf man beispielsweise einen ganzen Katalog an „Eigenschaften und Fähigkeiten", die „die heutige Führungsschicht von ihren Nachfolgern verlangt": „1. ein einwandfreier Charakter als Grundvoraussetzung (...) 3. Gesunder Menschenverstand - Klarheit im Denken - als Voraussetzung zur Beschlussfassung. Das Hochschulstudium ist kein Ersatz dafür. 4. Verantwortungsfreudigkeit und Mut zur Entscheidung, zusammen mit Wagemut ohne Leichtsinn. 5. Erst dann wurde fachliches Können genannt. Die überragende Spitzenkraft mit einem schlechten Charakter oder einem intriganten Wesen wird nicht als erste Führungskraft, sondern eher zu einer wichtigen Stabstätigkeit im Betrieb herangezogen werden, man gibt ihr nicht die Möglichkeit zur Menschenführung, vor allem nicht dann, wenn die Fähigkeit zur Koordination und Begeisterung fehlt. (...) 8. Gute Allgemeinbildung ist unerlässlich, um Autorität zu erzeugen." 217 ) Es ist einleuchtend, dass die Teilnehmer und Referenten bei einer derartigen Definition des Unternehmers zu dem Schluss gelangen mussten, eine solche unternehmerische „Führungsschicht" sei nicht auf institutionellem Wege heranzuziehen: „Manches ist lehrbar, aber die eigentlichen Grundlagen der Führung und der Autorität gehören zu den Unwägbarkeiten, die man als Anlage haben muss und die man dann entwickeln und weiterbilden kann. Wer sie nicht besitzt, kann sie nicht lernen. Führung ist mehr Können als Wissen,"218) Diese Ansicht fand in der Aussprache Zustimmung. 219 ) D i e Thesen, die der englische Unternehmensberater Peter Lowell dann vortrug, müssen den deutschen Tagungsteilnehmern ziemlich fremdartig erschienen sein, denn in der abschließenden (dritten) Aussprache ging keiner der A n wesenden darauf ein. Lowell kam den Deutschen sogar rhetorisch entgegen und pries „die Chance des Spätanfangs" - eine freundliche Umschreibung bisheriger Versäumnisse. 2 2 0 ) Für ihn war es keine Frage, dass die Lösung der hier diskutierten Probleme in der Aus- und Weiterbildung der Unternehmer lag, 2 2 1 ) 216

) Aus Presse und Literatur, in: Der Arbeitgeber 1.1949 (1.12.1949), S.28. ) Podiumsgespräch mit jungen Führungskräften, in: L062, S. 52. 218 ) Podiumsgespräch mit jungen Führungskräften, in: L062, S.50 (Hervorhebung von M.R.). 219 ) Aussprache, in: L062, S. 55-59, bes. S.56. 22 °) Peter Lowell: Die Ausbildung des Führungsnachwuchses in der Wirtschaft, in: L062, S. 71-82, hier S. 72. 221 ) Ein halbes Jahr zuvor hatte Lowell bereits in Loccum den Vorschlag einer „Management-Akademie" in Deutschland vorgestellt, um dem „Mangel an geschulten Führungskräften" abzuhelfen. Der Plan wurde bezeichnenderweise nicht umgesetzt. Leider ist Lowells Referat - im Gegensatz zu den anderen Vorträgen dieser Tagung („Dirigismus eine Frage an die europäische Führungsschicht") - nur sehr skizzenhaft überliefert. Peter Lowell: Management-Akademie, in: L059, S. 31-32. 217

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4. Handlungswissen und Rollenfindung

denn „die Beherrschung des Fachlichen ist immer wieder betont worden als Basis des Führungswesens" 222 ) - ein solcher Satz wäre den deutschen Teilnehmern allerdings wohl kaum über die Lippen gekommen. Lowell sprach also auch über Führung, doch in ganz anderer Weise. Er untergliederte das „Führungswesen" in drei Teile: Fachliche Führung, Organisatorische Führung und Personalführung, und „kreuzte" diese Teile wiederum mit drei verschiedenen „Techniken", nämlich des Planens, des Leitens und der Kontrolle. Das war bei weitem das professionellste, ausdifferenzierteste und konziseste Modell der Lehrinhalte betrieblicher Führung, das auf den Akademietagungen - und darüber hinaus - vorgestellt wurde. Doch in der Aussprache wurde Lowell nur auf die Tätigkeit der Unternehmensberatungsfirmen angesprochen. 223 ) Nur ein einziger Vorschlag Lowells wurde von anderen Sprechern aufgenommen: Lowell empfahl den Deutschen nämlich, sich auf ihre traditionellen Stärken auf dem Gebiet der militärischen Führung zu besinnen und ein Analogon zur Kriegsakademie zu etablieren. 224 ) Auch die Führungstechniken seiner eigenen Firma scheinen von der englischen Offiziersausbildung übernommen worden zu sein. 225 ) Diese Idee wurde denn auch sofort von mehreren Anwesenden aufgegriffen. 226 ) Tatsächlich existierte ja bereits seit mehreren Jahren die „Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft" in Bad Harzburg, die in der Aussprache auch erwähnt wurde und die ausdrücklich Führungstechniken, die aus militärischen Erfahrungen gewonnen worden waren, auf betriebliche Führungsprobleme übertrug. Das sogenannte „Harzburger Modell", das der Leiter der Akademie, der vormalige Abteilungsleiter im Berliner SD-Hauptamt, Jura-Professor und radikale SS-Intellektuelle Reinhard Höhn 2 2 7 ) nach 1945 erfolgreich propagierte, ist schon von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Rudolf Hickel hat das Modell der „Führung im Mitarbeiterverhältnis", so die Harzburger Eigenbezeichnung, als restaurativ, autoritär und einer Ideologie der Klassenharmonie verhaftet zu denunzieren versucht; 228 ) Richard Guserl hat herausgearbeitet, dass das Harzburger Modell verhältnismäßig bürokratisch, starr und ineffizient arbeitet. 229 ) Dabei kann an dem autoritären Hintergrund und der klassenharmonischen Ideologie dieses Modells kein Zweifel bestehen. Und im Vergleich mit anderen Führungsmodellen mag es in der Tat wenig flexibel zu

222

) Lowell: Die Ausbildung des Führungsnachwuchses in der Wirtschaft, S.73. ) Aussprache, in: L062, S. 89-93. 224 ) Aussprache (Lowell), in: L062, S.90. 225 ) Lowell: Die Ausbildung des Führungsnachwuchses in der Wirtschaft, S.79. 226 ) Klaus J. Koch: Die Ausbildung des Führungsnachwuchses in der Wirtschaft, in: L062, S.83-87, hier S.87; Aussprache (Doehring), in: L062, S.90; Aussprache (Schmädecke), in: ebd. 227 ) Zum Kreis dieser radikalen nationalsozialistischen Intellektuellen um Wilhelm Stuckart, Werner Best und Reinhard Höhn vgl. Herbert: Best, bes. S. 273-86. 22S ) Hickel: Kaderschmiede. 229 ) Guserl und Hofmann: Harzburger Modell. 223

4.3 Führung im Betrieb

367

handhaben gewesen sein. Vor allem aber befriedigte die 1956 gegründete Harzburger Akademie eine offensichtlich bestehende Nachfrage. Bis 1972 sollen 250000 Führungskräfte das „Harzburger Modell" kennen gelernt haben; in jenem Jahr veranstaltete die Akademie nicht weniger als 1399 Lehrgänge mit über 29000 Teilnehmern. 230 ) Allerdings ist nicht klar, ob sich auf diesen Veranstaltungen gehobene Führungskräfte oder auch die Inhaber von Spitzenpositionen schulen ließen. Die Liste der Unternehmen, die Mitarbeiter in Harzburg schulen ließen, ist lang und prominent (unter anderem Bayer, BMW, die DAK, die OetkerWerke, Opel, VW), und bemerkenswerterweise findet sich hier auch die Phönix Rheinrohr AG, mit anderen Worten: Auch Ernst Wolf Mommsen, der Vordenker des Unternehmers als Elite-Persönlichkeit und des unternehmerischen Führungs-Begriffs, schickte Führungskräfte nach Bad Harzburg. Dieser Befund weist noch einmal auf den großen Mangel an praxistauglichen betrieblichen Führungsmodellen in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre hin. Auf diesen Mangel lässt sich noch aus einer anderen Richtung schließen: Eine Durchsicht der Bibliographie Guserls zur zeitgenössischen Führungs-Literatur zeigt deutlich, dass die Basisliteratur für tiefergehende Erörterungen betrieblicher Führungsprobleme jenseits von ad-hoc-abgerufenem Meinungswissen erst seit etwa 1970 publiziert wurde. Und noch von einer dritten Seite lässt sich zeigen, dass die Harzburger Akademie auf dem Markt für Weiterbildung betrieblicher Führungskräfte wenig Konkurrenz zu fürchten hatte: Die „Baden-Badener Unternehmergespräche", die Anfang der 1950er Jahre auf Initiative des Siemens-Personalvorstands von Witzleben und unter tätiger Anteilnahme Ludwig Vaubels und Ernst Wolf Mommsens ins Leben gerufen worden waren, 231 ) konnten weder ein vergleichbar geschlossenes Modell der Unternehmensführung präsentieren wie Höhn, noch erreichten sie auch nur annähernd so viele Teilnehmer wie die Harzburger Akademie: Die zwanzigste der jeweils dreiwöchigen Veranstaltungen fand erst 1961 statt. Außerdem nahm in den „Gesprächen" die Erörterung von Fragen der „Unternehmensleitung - heute und morgen" nur einen relativ kleinen Teil des Programms ein. Die Leitung der einzelnen Veranstaltungsteile lag dabei nicht in den Händen von Personal- und Organisationsexperten, sondern von „Praktikern", das heißt prominenten Unternehmern wie Hans-Günther Sohl, dem späteren BDI-Präsidenten, Günter Vogelsang aus dem Mannesmann-Vorstand, Ernst Wolf Mommsen oder Ludwig Vaubel. Rudolf Hickel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Schlüssel zum Verständnis der „Führung im Mitarbeiterverhältnis" in den militärwissenschaftlichen Studien Hohns zu suchen

230

) Zahlen nach Hickel: Kaderschmiede, S. 110. ) Vgl. Rosenberger: Experten. Ich danke Ruth Rosenberger und Hannes Platz für das Überlassen von Materialien über die Baden-Badener Unternehmergespräche aus dem Glanzstoff-Archiv.

231

368

4. Handlungswissen und Rollenfindung

ist.232) Im Kern handelte es sich um ein militärisches Führungsmodell, das in seinen stets wiederholten Leitsätzen gleichwohl Entscheidungskompetenzen bis hinab zur Ebene der nachgeordneten Führungskräfte, sozusagen der Subaltern- und Truppenoffiziere (allerdings nicht tiefer!) abzugeben bereit war: „Die betrieblichen Entscheidungen werden nicht mehr allein von einem oder wenigen Männern an der Spitze des Unternehmens getroffen, sondern jeweils von den Mitarbeitern auf den Ebenen, zu denen sie ihrem Wesen nach gehören. Die Mitarbeiter werden nicht mehr durch Einzelaufträge geführt, sondern müssen innerhalb eines festumrissenen Bereiches selbständig im Rahmen der Gesamtzielsetzung des Unternehmens tätig werden. (...) Die Vorgesetzten treffen in den ihnen unterstellten Bereichen nur noch in Fällen, die die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter überschreiten, Entscheidungen." 233 )

Das mag den Anforderungen an das komplexe Organisations- und Leitungshandeln in größeren Unternehmenseinheiten nur wenig entsprochen haben es war mehr oder jedenfalls nicht weniger als andere Anbieter führungsbezogenen Handlungswissens vorzeigen konnten. Und es entsprach sehr genau dem Modell der „Auftragstaktik", das die preußische Armee einst konzipiert und die Wehrmacht später weiterentwickelt hatte. Dennoch stellte diese akzidentielle Weiterbildung keinen Ersatz für eine gründliche unternehmerische Ausbildung dar, die nach wie vor weithin auf Ablehnung stieß. Die Diskussionen auf der Loccumer Tagung „Unternehmensführung zwischen Wettbewerb und sozialer Verpflichtung" im April 1965, also am Ende des Untersuchungszeitraums, zeigen schließlich, wie wenig sich in den Vorstellungen von unternehmerischer Führung verändert hatte, obwohl der Problemdruck immer spürbarer wurde. Auch diese Tagung war prominent besetzt, denn zu den Referenten gehörten Karl Winnacker, der Vorstandsvorsitzende der Frankfurter Hoechst AG, 234 ) der frühere Publizist Dirk Cattepoel, mittlerweile Personalberater der Quandt-Gruppe, 235 ) der Generalmajor Schnez (angesichts des Tagungsthemas nur auf den ersten Blick ein überraschender Redner) und mit ihm der Oberpfarrer der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, Otto von Huhn, erneut der Sozialethiker Dietrich von Oppen, außerdem Wolfgang Kellner und Gert Spindler, die sich beide mit zahlreichen Veröffentlichungen zu Problemen der Unternehmensführung bekannt gemacht hatten. 236 ) Bemerkenswerterweise war dem Akademiedirektor Hans Bolewski der Abschied von den Fragestellungen der 1950er Jahre mit am

232

) Hickel·. Kaderschmiede, S. 122. ) Zitiert nach Hickel·. Kaderschmiede, S. 124. 234 ) Winnacker sprach nicht zum ersten Mal in Loccum; bereits im Oktober 1956 hatte er über (wissenschaftliches) „Interesse und Freiheit" referiert (in: L051, S. 29-33). 235 ) Cattepoel war darüber hinaus als Kuratoriumsmitglied der C. Rudolf Poensgen-Stiftung mit den Anforderungen unternehmerischer Aus- und Weiterbildung mehr als vertraut. 236 ) Kellner, mittlerweile Professor, hatte sich bereits 1949 mit der Untersuchung „Die Wirtschaftsführung als menschliche Leistung" empfohlen; der Textilunternehmer Gert Spindler warb seit den ausgehenden 1940er Jahren in seinen Schriften für sozialpartnerschaftliche Betriebsmodelle und eine „Überwindung" der Klassengegensätze. 233

4.3 Führung im Betrieb

369

leichtesten gefallen, denn er erklärte in seiner Einleitung: „Wir wollen über Unternehmensführung reden und zwar doch wohl nicht im Sinne eines bloßen Know-how, einer Führungstechnik, und auch keineswegs im Sinne eines bloßen romantischen Persönlichkeitsbegriffs, nach dem der eine eben so etwas kann und der andere es nie lernt." 237 ) Das war ein Zugewinn an Praxisnähe gegenüber den weitgehend allgemein-normativen Themen der früheren Zeit, doch ohne den Anspruch auf Orientierung aufzugeben und ohne sich gänzlich dem reinen Vermitteln von Handlungswissen zu verschreiben. Diese Orientierung bot Cattepoel bereits im ersten Vortrag, als er mit der „aus Amerika stammende(n) Definition der Unternehmensführung (Management)" den Verzicht auf die sozialharmonische und sozialethische Aufladung des Führungsbegriffs propagierte: „Unternehmensführung heißt, dass man bestimmte Dinge durch den Einsatz anderer Leute erreicht (getting things done by other people)". Aus diesem Grund sei „Unternehmensleitung gleich Personalführung".238) Im „gewöhnlichen betriebswirtschaftlichen Denken" sei jedoch „der Faktor Arbeit" vernachlässigt worden. Wie es schon Ludwig Vaubel in Bad Boll (und anderswo) propagiert hatte, definierte Cattepoel Personalführung als Gesamtheit zweier zentraler Problemkreise: der Delegation von Verantwortung und der Personalauslese. Hinsichtlich ersterer „erfüllt eine spezielle akademische Ausbildung nicht ganz den Zweck. Der Referent schlug daher die Einrichtung einer Akademie für Personalführung vor. (...) Das Ziel der Personalauslese fasste der Referent in dem Satz zusammen ,den richtigen Mann an den richtigen Platz zu bringen'."239) Weder Cattepoel noch sein Nachfolgeredner Heinz Dirks, Direktor eines metallverarbeitenden Unternehmens aus Hannover, diskutierten irgendwelche partizipatorischen Ideen der Personalführung. Stattdessen propagierte vor allem Dirks, man müsse von einem „einheitlichen Leitbild des Menschen" ausgehen, weil dies die Voraussetzung für „die Entwicklung einer geschlossenen Konzeption der Personalpolitik" sei, und suchte unter Berufung auf die Institutionenlehre Arnold Gehlens nach „institutionellen Ordnungen", damit „ein Mann... in unserer komplizierten Welt" nicht „in seiner Entscheidung intellektuell überfordert werde", denn dann „richtet er sich ... nach dem, was die Masse tut. (...) Die Schaffung solcher Institutionen ist eine Aufgabe unserer Zeit." Das lag übrigens auch ganz auf der Linie Helmut Schelskys, der sich andernorts deutlich für die Notwendigkeit einer strikt hierarchischen innerbetrieblichen Ordnung ausgesprochen hatte.240) 237

) Hans Bolewski: Sachverstand und praktische Vernunft, in: L108, S.2-12, Zitat S.4. ) Dirk Cattepoel·. Unternehmensleitung und Personalführung, in: LI08, S. 13-16, hier S. 13. 239 ) Cattepoel·. Unternehmensleitung und Personalführung, S. 15. 24 °) Helmut Schelsky: Referat „Soziologische Sicht der Frage ,Neue Abgrenzung des Begriffs der Angestellten und des Arbeiters', gehalten vor dem Ausschuss zur Neuabgrenzung der Begriffe Angestellte und Arbeiter im Arbeits- und Sozialrecht der Gesellschaft für sozialen Fortschritt am 16.12.1955 in Hamburg", in: BA Koblenz Β 149/8862, Mappe III S 3, Α ζ 6306.2 (diesen Hinweis verdanke ich Hannes Platz). 238

370

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Für Dirks folgte aus dieser Grundannahme, dass die „Rangordnung im Betrieb" nach dem Leistungsprinzip erfolgen sollte. In die betriebliche Praxis übertragen, sollte daher „eine Arbeitsordnung ... geschaffen werden", ebenso „ein institutionalisiertes System der Lohn- und Gehaltsbildung", ein „institutionalisiertes System der Beurteilung" und ein „institutionalisiertes Informationswesen". Schließlich forderte er „die Regelung des Ausbildungs- und Fortbildungswesens". 241 ) Diese Ratschläge, vor allem das Beharren auf ganzheitlichen Konzepten, stellten im Jahr 1965 wahrlich keinen originellen und vor allem keinen praxisorientierten Beitrag dar. Und doch wurden gerade sie in der Diskussion aufgegriffen. 242 ) Die allgemeine ethische Orientierung stand auch im Vortrag des Militärpfarrers von Huhn, auf den schon im Zusammenhang mit den Konzeptionen einer christlich gebundenen Wert-Elite eingegangen wurde, deutlich im Vordergrund. Auch von Huhn variierte das Thema der Letztbegründung von Autorität durch Gottesbezug, band also die Führung im Unternehmen - denn seine Überlegungen fokussierten keineswegs auf militärische Gebilde - an persönliche Autorität. Ausdrücklich konstituierte sich für Huhn der „Personenkreis, der zur Führung ermächtigt ist", nicht durch „Spezialwissen", sondern durch „Erfahrungen". 243 ) „Die Führung entwirft die Konzeption - die Fachmänner sollen sie ausführen. In den Personenkreis, der zur Führung autorisiert ist, muss der Fachmann nicht unbedingt eingeschlossen sein". Das bedeutete nichts anderes als eine Absage an kommunikative oder dialogische Führungsmodelle selbst auf den höheren betrieblichen Entscheidungsebenen. Der Grund dafür lag in Huhns Überzeugung, dass „der Kreis der Führenden nicht klein genug sein (kann) - Führende sind immer eine Minderheit gewesen." Die Tagungsteilnehmer konnten diese Ausführungen nur als Aufforderung verstehen, in ihren Unternehmen keine Entscheidungsbefugnisse zu delegieren. Huhns Thesen zeigen damit, dass die von Hartmann diagnostizierte Zentralisierung von Entscheidungskompetenz in deutschen Betrieben nicht bloß gewissermaßen modelltheoretisch in den unternehmerischen Wert- und Charakter-Konzepten angelegt war und dass diese Konzepte mittelbar die Vorstellungen von Unternehmensorganisation beeinflussten, sondern dass auf der Grundlage dieser Modelle ganz unmittelbar der Appell an die Unternehmer gerichtet wurde, Entscheidungskompetenzen zu zentralisieren. Es hat den Anschein, als ob ein weiterer Faktor, der diese Neigung zur Zentralisierung indirekt verstärkte - erneut! - in der betriebliche Mitbestimmung zu suchen ist. Dies ist zumindest aus dem Vortrag Gert Spindlers über „Demokratisierung der Unternehmensführung" zu schließen. 244 ) Offenbar handelte 241

) ) 243 ) 244 ) 242

Heinz Dirks·. Unternehmensleitung und Personalführung, in: L108, S. 17-20. Aussprache, in: L108, S. 21-22. Otto von Huhn·. Freiheit zur Führung, in: L108, S. 23-28, hier und im Folgenden S.27. Gert P. Spindler: Demokratisierung der Unternehmensführung?, in: L108, S. 38-48.

4.3 Führung im Betrieb

371

es sich für viele zeitgenössische Unternehmer bei der Frage nach den Chancen und Risiken der Delegation von Kompetenzen an nachgeordnete Führungskräfte und dem Mitbestimmungsproblem um benachbarte Themen, weil beide in ihren Augen auf den gleichen Verlust innerbetrieblicher Entscheidungsmacht hinausliefen. Dieser Problemzusammenhang begünstigte offenbar die Verbreitung von Vorstellungen über „wahre" und personengebundene Autorität, die allein die Ausübung innerbetrieblicher Entscheidungsmacht rechtfertige. Allerdings setzte der auf von Huhn nachfolgende Referent, Dietrich von Oppen, gegen das offene Propagieren zentralistischer Formen der Unternehmensführung einen Kontrapunkt, indem er „Verantwortungsdelegation" als wesentlichen Bestandteil von „Selbständigkeit" definierte. Ja, Oppen ging sogar noch weiter und behauptete, dass „eine Usurpation" vorliege, „wenn die Verantwortung allein in der Spitze liegt". 245 ) Das war in der Sprache der Wertund Charakter-Modelle, die auch seinen Ausführungen zu Grunde lagen, einer der schärfsten Vorwürfe, der gegen „führende Persönlichkeiten" erhoben werden konnte! Allerdings musste auch Oppen zugeben, dass „die Delegation von Verantwortung ... so oft gefordert wird, aber doch so wenig gelingt", mit anderen Worten, dass die Umsetzung dieses nun schon seit Jahren angemahnten Elements von „Führung" noch immer eher die Ausnahme als die Regel war. Im Weiteren knüpfte Oppen an seinen oben zitierten Vortrag an und warb erneut für dialogische beziehungsweise „Gesprächs"-orientierte Führungsformen. Auch Oppens Vortrag konzentrierte sich damit im Wesentlichen auf allgemeine Orientierungshilfen ohne direkten Praxisbezug, und es überrascht wenig, dass die Tagungsteilnehmer in der Aussprache genau an diesem Punkte einhakten und die Frage stellten, „wie und in wieweit sich die von allen Referenten erhobenen Forderungen in der Praxis verwirklichen lassen", ohne jedoch wirklich eine Antwort zu erhalten. 246 ) Das gleiche Monitum richteten die Zuhörer übrigens auch an andere Referenten der Tagung, obwohl zu den derart angesprochenen auch „Praktiker" der betrieblichen Personalpolitik wie Jürgen von Hegel, Ausbildungsleiter der Aral AG, gehörten und obwohl die Vortragenden ausdrücklich zu betriebspraktischen Fragen hatten Stellung nehmen sollen. 247 ) Auch daran zeigte sich, wie schwierig bei diesen Problemen der Transfer von Orientierungswissen in Handlungswissen sein konnte. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint als das herausragende Referat der Tagung dasjenige des Generals Schnez über „Wandlungen des militä-

245

) Dietrich von Oppen: Wert und Voraussetzungen der Selbständigkeit, in: L108, S.2936, hier S.29, S.31. 246 ) Aussprache, in: L108, S. 37. 247 ) Jürgen von Hegel: Das Wirksamwerden von Führungs- und Ordnungsgrundsätzen in der Praxis, in: L108, S. 61-65; Aussprache, in: LI08, S. 66-68; Burkhardt Röper: Das Wirksamwerden von Führungs- und Ordnungsgrundsätzen in der Praxis, in: L108, S. 56-60.

372

4. Handlungswissen und Rollenfindung

rischen Führungsstils". Gestützt auf des Wissen einer einhundertfünfzigjährigen modernen militärischen Führungstheorie (Schnez' historischen Ausgangspunkt stellten die preußischen Heeresreformen der Napoleonischen Ära dar), 248 ) machte sich dieser gar nicht die Mühe, seine Erkenntnisse auf die zeitgenössische Unternehmensführung zu übertragen. Wichtig ist auch nicht, dass Schnez im letzten Drittel seines Vortrags die zeitdiagnostischen Topoi der 1950er Jahre - Vermassung, Trennung von Elite und Prominenz, ideologische Überhöhung des Kalten Krieges, der Mensch im Mittelpunkt und so weiter variierte. Bedeutsam war vielmehr die tatsächlich mühelos auf den betrieblichen Sozialraum übertragbare Gegenüberstellung der beiden (militärisch) grundsätzlich alternativen Führungsformen, nämlich Befehlstaktik und „Auftragstaktik". Während in der starren Befehlstaktik exakt ausgearbeitete Einzelanordnungen von den Befehlsempfängern auszuführen sind, pries Schnez „das Prinzip der Führung durch Delegation von Verantwortung": „Mit Hilfe der Delegation von Verantwortung wird die Initiative aller in der Hierarchie geweckt und für das Ganze nutzbar gemacht. Die Befehlshaber und Kommandeure in den Ebenen unter der höchsten Kommandostelle samt ihren Stäben werden zum Mitdenken, Mithandeln und im Rahmen ihrer Aufgabenbereiche zum Mitentscheiden angeregt und gezwungen. Die Entscheidungen werden durch Delegation so sah wie möglich an den Ort der Handlung verlegt. Dieses Führungsprinzip findet befehlstechnisch in der sogenannten .Auftragstaktik' seinen Ausdruck. Die vorgesetzten Stellen geben nur Weisungen bzw. Aufträge, d.h. sie bestimmen die Zielsetzung und teilen die zur Erreichung des Ziels notwendigen Mittel zu; sie überlassen jedoch stets die Ausführung und die Freiheit des Handelns der nächsten Befehlsebene. Diese verfährt ihrerseits nach den gleichen Grundsätzen. Damit werden Bedingungen geschaffen, unter denen vorhandene Führungseigenschaften in allen Kommandoebenen geweckt, gefördert, geschult, sichtbar und wirksam gemacht werden. Der Strom der Initiative fließt bei diesem Prinzip nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben." 249 )

Schnez propagierte also keineswegs ein Abflachen der Hierarchien und ebenso wenig einen dialogischen Führungsstil („Es kann keine demokratische Armee und demokratische Soldaten geben"). 250 ) Aber er konnte mit dem Verweis auf die außerordentlichen Erfolge der „Reinheit unserer bewährten Auftragstaktik" die Überlegenheit dieses Führungsstils anpreisen. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass dieses Führungsprinzip von den Fähigkeiten und der Initiative nicht nur der obersten Führungsebene, sondern auch allen darunter liegenden abhing. Für Schnez war es dabei selbstverständlich, dass das Prinzip, „die unmittelbare Kampfverantwortung immer mehr nach unten" zu verlagern, nur innerhalb des Offizierskorps gelten könne und nicht auf die einfachen Soldaten auszudehnen war, die lediglich „mit Zucht, Ausdauer und Treue zur Sache ihre Funktion erfüllen" sollten.251) Dafür widmete

248

) ) 250 ) 251 ) 249

Schnez: Schnez: Schnez: Schnez:

Wandlungen Wandlungen Wandlungen Wandlungen

des des des des

militärischen militärischen militärischen militärischen

Führungsstils, Führungsstils, Führungsstils, Führungsstils,

in: L108, Anlage S.l-23. S.4 (Hervorhebung von M.R.). S. 11. S.8.

4.3 Führung im Betrieb

373

er sich ausführlich der Auslese der „Führer", die „eine auf strenger Auslese beruhende[n] Elite" darstellten. Wissen, Bewährung und Charaktereigenschaften waren für ihn die maßgebenden Kriterien, wobei er die Notwendigkeit ständiger Wechsel zwischen (Entscheidungen vorbereitenden, aber nicht selbst entscheidenden) Stabsstellungen und Positionen in der Truppe, immer wieder unterbrochen durch Lehrgänge, betonte. „Dieses Ausbildungssystem stellt also eine Ausbildungsform der .Ständigen Erziehung' dar." Schnez demonstrierte den Unternehmern also am Beispiel der außerordentlich hierarchischen inneren Verfassung des Militärs die Vorzüge der Delegation von Entscheidungskompetenzen und die Rückständigkeit der Modelle großer Zentralisierung solcher Kompetenzen. Seine Vorschläge standen auch voll und ganz in Übereinstimmung mit dem „Harzburger Modell". Und er fand dafür große Zustimmung. Zwar ist die Aussprache über seinen Vortrag nicht überliefert, aber nicht weniger als vier nachfolgende Referenten zeigten sich von seiner Vorstellung des Konzepts „Auftragstaktik" beziehungsweise dem „Führen mit Stäben" und der darin enthaltenen Unterscheidung zwischen „Stab" und „Linie" äußerst beeindruckt. 252 ) Dieser Befund, nämlich dass Schnez seinen Zuhörern etwas ganz Neues mitteilte und dass die anderen Referenten - und vermutlich auch die Tagungsteilnehmer - auf diese (für sie) neuen Ideen geradezu begeistert reagierten, legt die Vermutung nahe, dass bis zum Ende des Untersuchungszeitraums konkrete Initiativen zur Delegation innerbetrieblicher Entscheidungskompetenzen in westdeutschen Unternehmen eher die Ausnahme darstellten, und dass im Raum der Unternehmerschaft auch kaum Konzepte dezentralisierter Unternehmensführung zirkulierten, die über die Schulung gehobener Führungskräfte hinaus gingen und auch von den obersten Leitungsebenen umgesetzt wurden. Gerade in dieser Hinsicht gelangte eine Studie über das Selbstbild westdeutscher Unternehmer, die von der BDA 1965 beim Mannheimer Institut für Marktpsychologie in Auftrag gegeben worden war und die von der Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Wirtschaftsforschung (ASW) unter der Leitung von Peter Brückner durchgeführt wurde, zu einem niederschmetternden Ergebnis.253) Die Forscher interviewten in Zusammenarbeit mit einer ganzen Reihe von Arbeitgeberverbänden insgesamt 113 unternehmerische Führungskräfte und stellten, auf einen Nenner gebracht, einen engen Zusammenhang zwischen dem „elitären" Selbstbild der Befragten und ihrem Führungsstil fest.

252

) Vgl· Herbert Wiedemann: Der betriebliche Wettbewerb und die Verantwortung der Führungskräfte, in: L108, S. 49-53, bes. S.52; Dirks: Unternehmensleitung und Personalführung, S. 20; Oppen: Wert und Voraussetzungen der Selbständigkeit, S. 32. Die Nähe zum militärischen Denken findet sich ganz allgemein auch im Vortrag Hegels sehr stark. Hegel: Das Wirksamwerden von Führungs- und Ordnungsgrundsätzen. 253 ) Die Studie wurde im August 1966 fertig gestellt und trug den Titel „Das Selbstbild des Unternehmers".

374

4. Handlungswissen und Rollenfindung

Als Basis des Selbstbildes machten die Autoren dabei eine zirkuläre „elitäre Grundstimmung" aus: „Führungseliten sollten Individualitäten sein, Unternehmer-Individualitäten sind Führungs-Eliten." 254 ) Von dieser Grundlage aus identifizierten sich die Probanden extrem hoch mit ihrer Tätigkeit: „Der Unternehmer [sieht] seine Tätigkeit nicht als Beruf an, sondern als eine Art Lebensform, die den Menschen (fast) total ergreift." 255 ) Diese Angehörigen einer unternehmerischen „Lebensform" führten ihren Status als „Führungs-Elite" dabei auf personengebundene Eigenschaften zurück: „Für die Mehrzahl der Exploranden, namentlich für die Eigentümer-Unternehmer, ist die Begabung zu führen etwas Charismatisches: nicht zu erwerben, nicht lehrbar, sondern mitgeboren, eingeboren, Merkmal der Anlage, der persönlichen Substanz. Auch die Herkunft kann eine Rolle spielen." 256 ) Aus dieser Naturalisierung des Unternehmer-Status folgte wohl auch - die ASW-Autoren hielten sich, vermutlich aus Rücksicht auf ihren Auftraggeber, mit Urteilen über Kausalbeziehungen zwischen den Einzelsyndromen auffallend zurück - die vehemente Ablehnung genuiner unternehmerischer Ausbildungsgänge: „Spezielle Managerkurse, Lehrgänge in Betriebs- und Menschenführung sollen von größerem Wert nur für das mittlere Management sein; was die ,erste Garnitur' braucht, könne man nicht lernen: ,Die wichtigsten Eigenschaften und Fähigkeiten des Unternehmers und Managers sind nicht lehrbar'." 257 ) Implizit und explizit bestand trotz dieser Gemeinsamkeit noch immer ein Gegensatz zwischen Eigentümern und Managern, die stärker auf tendenziell erlernbare Fähigkeiten der Kontrolle und Durchsetzung sowie sozialer Kompetenz abhoben. Explizit sprachen die Eigentümer den Managern nach wie vor die moralische Bindung an das Unternehmen ab und verdächtigten sie einer zu großen Bereitschaft zur Kooperation mit den Gewerkschaften. 258 ) In diesem ontologisierenden Selbstbild wird auch der Grund für die in diesem Abschnitt thematisierte Schwierigkeit der Unternehmer zu suchen sein, stärker dialogische Führungsstile zu entwickeln und Entscheidungskompetenzen, kurz, Formen der Unternehmensführung zu gestalten, die der von Schnez propagierten „Auftragstaktik" entsprachen, und der auch in der unternehmerischen Verbandspresse diagnostizierten „Krise der Betriebsführung" mit der „Notwendigkeit eines neuen Führungsstils" entgegenzutreten. 259 ) Die ASW-Autoren waren zu dem wenig überraschenden Ergebnis gekommen, dass „Unabhängigkeit und Entscheidungs-Freiheit" eine wesentliche Rolle im unternehmerischen Selbstbild spielten, aus der nicht nur die Ablehnung der

254

) ) 256 ) 257 ) 258 ) 259 ) Der 255

ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S.9. ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S. 12 (Hervorhebungen im Original). ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S. 17, ähnlich S. 19/20. ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S.30. ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S. 52/53. Otto Neuloh·. Hat der Unternehmer eine Konzeption vom eigenen Betrieb? [sie!], in: Arbeitgeber 15.1963, S. 314-16, Zitat S.314.

4.3 Führung im Betrieb

375

Mitbestimmung resultierte, sondern eine sich offenbar stetig verstärkende Spannung zwischen diesem Selbstbild und der Wahrnehmung, dass sich dieses Selbstbild immer weniger verwirklichen lasse: „Die überwiegende Mehrzahl der Exploranden (ist) sich darüber einig, dass Autonomie, Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit in der realen sozialen und ökonomischen Welt nur noch existieren und in der Zukunft kaum mehr bedingt Chancen haben werden." Besonders die Eigentümer-Unternehmer, aber nicht nur sie, sahen sich immer öfter im „Netz der Spinne" zappeln, in dem sie gerade die Möglichkeit zur Realisierung ihrer letzten und höchsten Werte, also „Unabhängigkeit und Entscheidungs-Freiheit", einbüßten. 2 6 0 ) Zwar machten die Befragten dafür in erster Linie „Staat, Steuer, Gewerkschaft, Arbeitnehmer, Konkurrenz und Sachzwänge der industriellen Massengesellschaft" verantwortlich - die „sekundären Systeme" der konservativen Zeitdiagnosen aus den 1950er Jahren, die im Raum der Unternehmerschaft offenbar erst mit zeitlicher Verzögerung zur vollen Geltung kamen - , doch formte die Übersteigerung des Glaubens an die eigene Unabhängigkeit und Entscheidungs-Freiheit offensichtlich auch die Ausprägung bestimmter betrieblicher Führungsstile, deren Untersuchung die Autoren sich recht ausführlich widmeten. Auch hier war das Ergebnis eindeutig: „Das wirtschaftliche Unternehmen gilt als ein soziales Gebilde m i t , F ü h rungsprinzip', es gestattet keine geteilte Verantwortung. Die Autonomie in der Führung eines Unternehmens kennt im Selbstbilde des Unternehmers nur die Bindung an Selbstverantwortung und darf nicht geschwächt werden". 2 6 1 ) Kein Wunder also, dass „die Bereitschaft, Arbeiten an andere Personen zu delegieren, sinkt." 262 ) Obwohl die Studie mit diesen besorgniserregenden Befunden nicht veröffentlicht wurde, berichtete Der Arbeitgeber doch über die Ergebnisse, konzentrierte sich jedoch in deren Konsequenz auf Aspekte unternehmerischer Öffentlichkeitsarbeit und bog gerade denjenigen Feststellungen, die den Ausgangspunkt für den Versuch einer Neuorientierung unternehmerischer Führungsstile hätten bieten können, damit die Spitze. 263 ) Damit belegt die Studie eindringlich die dysfunktionalen Konsequenzen der Übernahme der EliteDoxa durch die Geschäftswelt. Die Modellierung der Unternehmer-Figur als wertgebundene und charakterlich qualifizierte Entscheidungs-Elite - das Ergebnis der intellektuellen Anstrengungen Friedrichs, Mommsens und anderer Vordenker aus der Unternehmerschaft - beförderte ungewollt eine Verzögerung der Auflösung der Führer-Doxa in der Unternehmerschaft. Ja, zahlreiche Äußerungen weisen darauf hin, dass es tatsächlich nur zu einer sozialethischen „Überschreibung"

26

°) ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S.39^2. ) ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S.44. 262 ) ASW: Das Selbstbild des Unternehmers, S.34. 263 ) Werner Mühlbradt: Im Netz einer Spinne? Bemerkungen zu einer Studie über das „Eigenbild" des Unternehmers, in: Der Arbeitgeber 18.1966, S. 496-97. 261

376

4. Handlungswissen und Rollenfindung

der Figur des „Betriebsführers" kam, die zwar vordergründig zum Verschwinden von Führungs-Modellen führte, welche auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam - im Sprachgebrauch nicht nur des nationalsozialistischen Regimes: das Prinzip des „Werksführers" und seiner „Gefolgschaft" - beruhten. Gewissermaßen hinter dem Rücken der veränderten Unternehmer-Semantik scheint jedoch ein nur oberflächlich gewandeltes „Betriebsführer-Denken" restauriert worden zu sein, das zwar vorsichtige Konzessionen an einen stärker dialogischen Umgang mit den Beschäftigten machten - in den unnachahmlichen Worten des ersten BDI-Präsidenten Fritz Bergs: „Alle Mitarbeiter im Betrieb bestimmen mit, aber der Unternehmer entscheidet allein"264) - , das aber gerade durch die ontologisierende Fixierung auf den Unternehmer als Angehörigen einer Lebensform einen stärkeren Wandel in diese Richtung blockierte. Für die von Volker Berghahn konstatierte Verschiebung des unternehmerischen Leitbildes - und der betrieblichen Praxis! - „vom Betriebsführer zum ,sozialverantwortlichen' Manager" muss also ein sehr langer Zeitraum der Veränderung vermutet werden und vor allem kein gleichmäßiger Wandel in der gesamten Geschäftswelt.

264

) Zitiert nach Herchenröder. Fritz Berg, S. 19.

5. Die neue symbolische Ordnung: Elite-Bildung durch die soziale Magie individueller Auslese Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln gesehen, dass die Attraktivität des Elite-Begriffs zunächst in den Möglichkeiten zur Differenzbestimmung zwischen der Elite (und den sozialen Attributen ihrer Angehörigen) und der Masse und damit zur Selbstverortung und Orientierung in der Gesellschaft bestand, sowie in seinem erheblichen Potenzial zur Legitimation einer neuen politischen Ordnung. Doch selbst zusammen mit der - unvollkommen gebliebenen - Neubestimmung unternehmerischen Handelns als „Führung" und der symbolischen Binnenintegration der Geschäftswelt unter einem einheitlichen, an Wertbindungen und Charaktermerkmale ausgerichteten Elite-Begriff hätten diese Verwendungsmöglichkeiten vermutlich noch nicht ausgereicht, um den Elite-Begriff zur Chiffre eines neuen sozialen Glaubens und einer neuen symbolischen Ordnung zu machen, die den Zeitgenossen erfolgreich ihre Geschichte, Gegenwart und Zukunft erklärte und ihnen die Gefahren, Chancen und Notwendigkeiten ihres Handelns vermittelte. Was noch fehlte, war die Möglichkeit des Sprechens über „Elite" im Modus der Evidenz, anders gesagt, die handgreifliche Existenz der „Elite" musste erst noch bewiesen und die Form ihres Zustandekommens, ihrer fortwährenden Regeneration musste erst noch bestimmt, das Problem der „Elite-Bildung", wie es in der Sprache der Zeit hieß, musste erst noch gelöst werden. Allem Anschein nach war diese ideengeschichtliche Bewegung die schwierigste, denn sie dauerte am längsten und ist auch nach Etablierung zur hegemonialen Doxa auf fortwährende Bekräftigung angewiesen, die über das Ende des Untersuchungszeitraums bis in die Gegenwart anhält. In drei Schritten soll der schwierige Weg beschrieben werden, auf dem die Elite-Doxa vollendet wurde, in dem sich schließlich die Wortbedeutung der Auserlesenheit als zentrale inhaltliche Bestimmung des Elite-Begriffs herauskristallisierte. Während der 1950er Jahre wurde nach Orten gesucht, an denen die Elite-Individuen aus der Gruppe der bereits Privilegierten auserlesen werden konnten. Genau darüber war schon in der ersten Jahrhunderthälfte diskutiert worden, jedoch ohne dass dem Elite-Begriff eine dauerhafte Existenz im politisch-sozialen Vokabular der Zeit verschafft worden wäre. Während der 1950er Jahre konzentrierte sich die Suche nach Institutionen der Elite-Bildung im Wesentlichen auf drei Bereiche: erstens auf die Evangelischen Akademien selbst, an denen sich eine christliche Wert-Elite zusammenfinden sollte, zweitens auf die höheren Bildungsanstalten, und drittens auf die Einrichtung eines vordemokratischen Oberhauses, in dem sich eine wahre politische Elite bilden sollte. Das modelltheoretische Scheitern dieser Bemühungen stellte dann einen der Gründe dar, weshalb in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre langsam neue

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5. Die neue symbolische Ordnung

Elite-Konzepte entworfen wurden. Zunächst musste dabei der Elite-Begriff als solcher pluralisiert werden, mit anderen Worten, es musste Abstand gewonnen werden von der Vorstellung der einen, einheitlichen Wert-Elite. Diese „Abräumarbeit" übernahm im Wesentlichen die konservative Avantgarde um Arnold Gehlen und Helmut Schelsky sowie - durch deren jetzt einsetzende Rezeption - namentlich Robert Michels und Vilfredo Pareto. Abschließend wird in drei Schritten die Verwissenschaftlichung der EliteDoxa und ihre Vollendung untersucht; und zwar erstens anhand der sozialwissenschaftlichen Elite-Konzepte, die seit 1960 entstanden, zweitens anhand des ebenfalls um 1960 einsetzenden Imports vorwiegend angelsächsischen Schrifttums zum „Elite-Problem" sowie drittens anhand der Doppelstrategie Ralf Dahrendorfs, der Mitte der 1960er Jahre einerseits die erste Untersuchung der deutschen Elite mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung initiierte und so die Existenz einer westdeutschen Elite unwiderleglich nachwies und der andererseits gestützt auf dieses sozialwissenschaftliche Wissen den Elite-Begriff zum Ausgangspunkt einer weitreichenden Deutung von Deutschlands Geschichte, Gegenwart und Zukunft machte. Erst damit war die Elite-Doxa „vollendet" und eine neue symbolische Ordnung etabliert.

5.1 Versuche der Elite-Bildung Obwohl selten offen ausgesprochen, ist die Ablehnung einer planmäßigen „Heranzüchtung" von Elite-Individuen doch auch als ein Reflex auf nationalsozialistische Versuche, besonders in der SS, zu verstehen, eine Schicht weltanschaulich durchgeformter Funktionskader zu schaffen. 1 ) Vor diesem Hintergrund und unter der Prämisse der ebenso notwendigen wie fehlenden und herbeigesehnten Elite gaben sich nicht wenige Autoren der Hoffnung hin, die neue Wert- und Charakter-Elite werde gewissermaßen naturwüchsig von selbst entstehen. 2 ) Wer diese Hoffnung nicht teilte, der musste zwei Fragen beantworten: Erstens, an welchen sozialen Orten, in welchen Gruppen die potenziellen Elite-Individuen zu finden seien, und zweitens, welche Voraussetzungen (besonders welche Institutionen) die Elite-Bildung fördern könnten. Nichtsdestotrotz mussten letztlich alle theoretischen und praktischen Versuche zur Bildung einer Wert- und Charakter-Elite angesichts der Aporien dieser Modelle scheitern. Und es dürften gerade diese Aporien gewesen sein, die die Suche nach neuen Entwürfen vorantrieben.

') Diese Befürchtungen finden sich etwa bei Rautenfeld·. Elite, S. 285/86; Schoeps: Probleme der Autorität und Elitebildung in unserer Zeit, in: L061, S. 16-25, hier S. 17/18; Weinstock: Elite und Demokratie, S. 453/54. 2 ) Z.B. Bush Elitebildung gestern und heute, S. 469-71.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

5.1.1 Vorläufer in der ersten

379

Jahrhunderthälfte

I. In den langen 1950er Jahren wurde nicht zum ersten Mal in Deutschland über den Elite-Begriff diskutiert. Allerdings war der Terminus früher auch recht schnell wieder aus der intellektuellen Debatte verschwunden. Schon einmal hatte er eine - kurze - Konjunktur als Bezeichnung für eine neue zeitgemäße, gleichwohl noch nicht verwirklichte Ordnung erlebt, als er gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus dem französischen Sprachraum importiert wurde. 3 ) „Als Gegenbegriff zum alten, erblichen Adel gedacht... bezeichnete er die Qualität einer sozialen Schicht, deren wichtigstes Merkmal es war, dass sie prinzipiell allen offen stand. Nicht mehr Tradition und Privileg, sondern Leistung und Verdienst regelten den Prozess der sozialen Differenzierung und definierten die Zugangschancen zum Bürgertum als einer neuen gesellschaftlichen Führungsschicht, die im Gefolge der Französischen Revolution auch in Deutschland ihren Anspruch auf Mitwirkung an der politischen Herrschaft anmeldete. (...) Die mit der Epoche der großen europäischen Revolutionen einsetzende Tendenz, den Begriff Adel durch Elite in einem moralischen und produktiven Sinne zu ersetzen, blieb aber in den Anfängen stecken."

Als Gegenbegriff zum Adel hätte der Elite-Begriff sich vermutlich nur unter der Voraussetzung durchsetzen können, dass zwei der konstitutiven Elemente der Elite-Doxa - erstens das Ausleseprinzip, vor allem gestützt auf individuelle Leistung und Erfolg, und zweitens der Anspruch auf (moralische) Höherwertigkeit und damit auf die Verkörperung der legitimen Ordnung - sich zumindest in einer sozialen Schicht hätten verdichten lassen, wenn diese Elemente nicht sogar zu politisch-ideellen Strukturprinzipien der Gesellschaft überhaupt aufgestiegen wären. Genau dies war aber nicht nur während des frühen, sondern während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht der Fall. Die ökonomisch prosperierende Bourgeoisie verkörperte und propagierte angesichts der überragenden Bedeutung der Vererbung von ökonomischem und kulturellem Kapital realistischerweise das reine Leistungsprinzip nur im Ansatz. 4 ) Die Intellektuellen - im Wesentlichen also Vertreter des Bildungsbürgertums - sprachen gerade den Unternehmern jegliche moralische Vorbildhaftigkeit ab, die der Elite-Begriff implizierte. 5 ) Für nicht wenige, vor allem konservative Intellektuelle verkörperten nun gerade der Adel und dessen Tra3

) Schwentker: Die alte und die neue Aristokratie, S. 662/63, auch für das Folgende. ) Hier ist daran zu erinnern, dass sich - entgegen den Beschwörungen durch einige erfolgreiche Aufsteiger innerhalb des Bürgertums, Beschwörungen, die sich auch in einige Darstellungen der neueren Bürgertumsforschung eingeschlichen haben - die Leistungskonkurrenz im ökonomischen Feld nur zwischen bürgerlichen Bewerbern abspielte, dass die arrivierten Fraktionen des Wirtschaftsbürgertums sich von Anfang an nicht nur von unterbürgerlichen Schichten, sondern auch von bürgerlichen Aufsteigern, Zugezogenen, Juden usw. teils mehr, teils weniger abgrenzten. Im Übrigen fand sich das Bürgertum nur mühsam bereit, das berufliche Leistungsprinzip auf Frauen auszudehnen, und fand sich mit Reservatrechten, die das Leistungsprinzip offen verletzten (etwa im Militär) weitgehend kritiklos ab. Wallich: Lehr- und Wandetjahre, S.221; Frevert: „Mann und Weib"; Wehler: Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 S. 712-30. 5 ) Hodenberg: Fluch, passim. 4

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5. Die neue symbolische Ordnung

dition die anstrebenswerte Ordnung, nicht die kapitalistische Leistungs- und Erfolgsrationalität des Bürgertums.6) Damit verschwand der Elite-Begriff für rund ein Jahrhundert aus den politisch-ideellen Auseinandersetzungen über die bestehende und die anzustrebende soziale Ordnung in Deutschland. Es ist bezeichnend, dass sich die Versuche zur Etablierung eines neuen ethisch-politischen Differenzierungsprinzips zwischen 1900 und 1945 überwiegend des Begriffs des Adels bedienten, nicht desjenigen der Elite. Einige kurze Beispiele mögen dies verdeutlichen: Als der Soziologe Ferdinand Tönnies 1911/12 den deutschen Adel des 18. und 19. Jahrhunderts - übrigens in der Kulturzeitschrift Die Neue Rundschau - als einen „auserlesene(n), hervorragende(n) Stand" hinsichtlich der „Fragen der natürlichen Auslese, der Vererbung erworbener Eigenschaften, der Inzucht und Kreuzung" zu studieren sich bemühte, da kam er zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass „ein neuer Adel, eine Elite veredelten Stammes ... die zur Führung und Leitung der Nation berufen ist", nur aus einer Verbindung von Adel und „Bourgeoisie" vorstellbar sei.7) Ganz auf der Höhe der intellektuellen Grundströmung der Zeit dachte Tönnies dabei an „eugenisch(e)" Maßnahmen. Die real vorfindliche Aristokratie seiner Zeit präsentierte Tönnies dagegen in Kategorien, die durchaus analog zur oben skizzierten Gegenüberstellung von „Elite" und „Prominenz" während der 1950er und 60er Jahre zu lesen sind also als „Prominenz" und nicht als „Elite".8) Was Tönnies dann mit dem Begriff „Adel" (beziehungsweise „Neuer Adel") bezeichnete, kam den Vorstellungen einer Wert- und Charakter-Elite, wie sie in den 1950er Jahren vorherrschten, durchaus sehr nahe: Eine Gruppe auserlesener Individuen, die sowohl über einflussreiche soziale Positionen als auch über moralische Superiorität verfügen sollten. Noch undeutlicher als in den Vorschlägen, die ein halbes Jahrhundert später gemacht wurden, blieb allerdings der Reproduktions- beziehungsweise zunächst einmal der Produktionsmodus der „Aristokratie des Geistes und der ethischen Gesellschaft": Auf welche Weise sollten „alte und junge, adlige [und] unadlige Familien" zusammengebracht werden, wer sollte sie „auserlesen" und nach welchen Kriterien? In den letzten Friedensjahren des Kaiserreiches drängten sich solche Fragen noch nicht auf, so dass Tönnies hier offenbar keine weitere intellektuelle Energien investieren mochte - zu stabil schien das politische und soziale System, zu entfernt die Gefahr der „Amerikanisierung" der Gesellschaft und ihrer „Zerrüttung". 9 ) 6

) Vgl. die ideengeschichtlichen Untersuchungen bei Mannheim: Konservatismus, S. 13885. 7 ) Tönnies: Adel im 18. Jahrhundert, S.119; ders.: Adel im 19. Jahrhundert, S.285, S.259. 8 ) Tönnies schrieb, dass „er [der Adel, M.R.] auf diese Menge [lies: „Masse", M.R.!] gern mit dem Bewusstsein oder Dünkel des ,Besserseins' hinabsieht. Er ist immer das Vorbild aller Gesellschaft, die man die gute nennt, und behält auch wenn diese sich stark erweitert, auch innerhalb ihrer, besonders für das weibliche Geschlecht, einen blendenden und verführerischen Glanz." Tönnies: Adel im 18. Jahrhundert, S. 119. 9 ) Tönnies: Adel im 19. Jahrhundert, S.286.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Tönnies war zwar nicht der einzige Autor, der vor dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang der Monarchie die Ordnungsbegriffe „Adel" und „Elite" zu vereinen versuchte, doch blieben diese Bemühungen im Wesentlichen ohne große Resonanz. Vor allem standen sie in einem Kontext, der weniger ein wirklich neues Ordnungsmodell zu etablieren versuchte, als vielmehr ein bekanntes nur zu reformieren. Dieser Kontext bestand in der tatsächlich relativ breiten zeitgenössischen Diskussion über eine Adelsreform, an der sich zahlreiche Aristokraten, aber auch Bürgerliche beteiligten.10) Im Zentrum dieser Debatte, die mit dem Ende des Kaiserreiches keineswegs endete, stand zunächst unangefochten das Ziel einer gesellschaftlichen Erneuerung nach ständischen oder korporativen Prinzipien. Nicht umsonst bildeten Standeszugehörigkeit, Standesehre, Standesbewusstsein und standesgemäße Heirat die Zentralbegriffe dieser Auseinandersetzungen. Demgegenüber blieben Vorschläge zu einer echten aristokratisch-bürgerlichen Fusion, die auf die eine oder andere Weise den „bürgerlichen Tugenden" Rechnung tragen musste, konzeptionell schwierig und in der Debatte marginal. Carl August Graf von Drechsel referierte 1912 in seiner Übersicht über „Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels" die Anregungen einer für kurze Zeit in Frankfurt erscheinenden Zeitschrift mit dem bemerkenswerten Titel „Adel und Demokratie". 11 ) Kaum ein Programm aus der Zeit vor 1945 kam den Grundprinzipien der Elite-Doxa so nahe wie dieser apokryphe Beitrag zur Adelsreform. Eine echte Bedeutung als „Kulturträger" habe der Adel nur, so zitierte Drechsel den ungenannten Zeitschriftenautor, wenn er die „Elite der Nation" darstelle: „Um Elite zu sein, muss der Adel der Mittelpunkt des geistigen Lebens auf allen Gebieten bilden [sie!] und dazu einerseits alle aus der Masse auftauchenden Elite-Elemente möglichst restlos in sich aufnehmen, andererseits alle nicht mehr voll als Elite zu bewertenden Mitglieder reinlich und ohne Willkür ausscheiden. Die Achtung vor ihren geistigen Leistungen wird dieser Elite die Autorität gegenüber dem ganzen Volke erwirken."

Hier sollte der Adel zwar als Kristallisationskern der Elite dienen, doch in dem ganz „bürgerlichen" Sinne einer „Kulturelite" - „bürgerlich" nicht zuletzt deshalb, weil die Definitionsmacht über das „geistige Leben" und die Kontrolle der außerfamiliären Institutionen zum Erwerb kulturellen Kapitals, also Schulen und Hochschulen, längst in die Hände des „Bildungsbürgertums" übergegangen waren. Ein Konzept der „Elite" als „Kulturträger" einer Gesellschaft ließ sich grundsätzlich sogar mit größerer Kohärenz und Realitätsadäquanz formulieren als die rund vierzig Jahre später dominierenden Wertund Charakter-Modelle. Doch die genetische Einbindung in den Kontext der Adelsreform, also in den spezifischen intellektuellen Erwartungshorizont der Rezipienten, blockierte am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Konstruktion und Durchsetzung eines derartigen Ordnungsentwurfs. Denn durch die Bin-

I0 u

) Einen neuen Überblick gibt Malinowski: König, S. 293-320. ) Drechsel: Entwürfe, S. 108-10, auch für das Folgende.

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dung des Elite-Begriffs an die Vorstellung eines erneuerten Adels musste auch das Problem der Elite-Bildung an die Konstituierung von Nobilität gekoppelt werden. Im Horizont der Adelsreform konnte dieses Problem nur durch verbesserte Formen der Erhebung in den Adelsstand sowie gegebenenfalls durch das Aberkennen des Adelstitels gelöst werden. 1 2 ) Obwohl damit das zentrale Element der Auslese offener thematisiert wurde als in den Wert- und Charakter-Modellen der 1950er Jahre, liefen die von Drechsel referierten Vorschläge faktisch auf einen verbesserten Modus der Kooptation in einen Stand hinaus und weniger auf die Auslese dank individueller Leistung oder Qualitäten. Und tatsächlich stand im Hintergrund all dieser Vorschläge nicht die Elite- sondern die Korporations-Doxa als grundlegender Bezugspunkt: Denn fast alle Ideen zur Adelsreform, die Drechsel in seinem Buch präsentierte, lassen sich unter dem Begriff der „Organisation" zusammenfassen, und „unter Organisation des Adels wird ... die Rückkehr zum alterprobten System eines sozialen Aufbaus durch strengen Zusammenschluss der einzelnen Klassen unter sich definiert". 1 3 ) Eine durch Abschluss der einzelnen sozialen Großgruppen voneinander gegliederte Gesellschaft entsprach nämlich vollkommen ständischen Ordnungsvorstellungen, ermöglichte jedoch nicht die Auslese von charakterlich, durch Wertbindungen oder durch Leistung qualifizierten Individuen. Genau an diesen zwei entscheidenden Punkten - erstens der Blockade jeder echten Auslese-Möglichkeit für die (potenziellen) Elite-Individuen und zweitens dem Fehlen überhaupt der Voraussetzung einer Auswahl, nämlich der gedanklichen Einteilung der Gesellschaft in die Elite und die Nicht-Elite (eine für die Anhänger der Vorstellung einer Gliederung der Gesellschaft in zahlreiche unterschiedlich berechtete und angesehene Gruppen geradezu empörend simplifizierende Scheidung) - blockierte die Bindung des Elite-Begriffs an die übergreifende Thematik der Adelsreform um 1900 die Durchsetzung der Elite-Doxa. II. Mit dem Ende der Monarchie mussten sich auch die Vorstellungen von einer Adelsreform verändern, denn der aristokratischen Pyramide war die Spitze abhanden gekommen. Und doch beendeten die Abdankungen der regierenden Fürsten in Deutschland keineswegs die einschlägigen Debatten. 1 4 )

12 ) Drechsel gab diese Pläne, die „eine völlige Neuorganisierung des Adels bedeuten" würden, wie folgt wieder: „Der Adel müsse vor allem eine Verfassung erhalten; um die Elemente, die aus den Massen hervorragen, rechtzeitig zu erkennen und der Elite nutzbringend anzugliedern, bedürfe es einer der öffentlichen Meinung verantwortlichen Körperschaft, ein etwa in jeder Provinz die Krone beratendes Elite-Kollegium, welchem das ausschließliche Recht zustände, der Krone neue Mitglieder (zur Nobilitierung) vorzuschlagen." Drechsel: Entwürfe, S. 109. 13 ) Drechsel: Entwürfe, S. 111. 14 ) Einen kurzen Überblick über Kontinuitäten und Wandel des „Neoaristokratismus" vor und nach 1918, unter ausdrücklichem Bezug auf den noch im Weiteren zu erwähnenden Deutschen Herrenclub und den Kreis um Franz von Papen, gibt Breuer: Grundpositionen, S. 132-39.

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Allerdings verschoben sich die Gewichtungen der einzelnen Argumente und Topoi, vor allem aber die Vorstellung davon, was Adel sei und sein solle, und damit das Ziel jedweder Adelsreform. In den wesentlichen Punkten ist dieser intellektuelle Transformationsprozess in Stephan Malinowskis brillanter Untersuchung über die Annährung des deutschen Adels an die radikalen Bewegungen der sogenannten „Neuen Rechten" und an den Nationalsozialismus im Verlauf der 1920er Jahre dargestellt worden. 15 ) Deshalb können wir hier darauf verzichten, den Verlauf dieses Prozesses in extenso wiederzugeben. Der Titel von Malinowskis Studien - „Vom König zum Führer" - gibt dabei dessen Bewegungsrichtung recht präzise wieder. Allerdings müssen wir für unser Untersuchungsproblem - nämlich: in welchem Zusammenhang während der Zwischenkriegszeit die Begriffe „Adel" und „Elite" diskutiert wurde beziehungsweise welche Rolle die Debatte um die Erneuerung des deutschen Adels für die Durchsetzung der Elite-Doxa spielte - die Perspektive Malinowskis ein wenig abwandeln. Dieser verwendet den Elite-Begriff in seiner Erörterung der Frage, inwieweit der deutsche Adel nach 1918 (noch) als „Elite" anzusprechen sei,16) als Bezeichnung für ein Realphänomen, während wir darunter einen Ordnungsentwurf verstehen - in den eingangs dieser Arbeit zitierten Worten de Saint Martins ein „Meinungsphänomen", in denen von Maurice Halbwachs ein „Glauben" den die historischen Akteure konstruierten und verbreiteten und gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen suchten. Wie also sahen die engagierten Zeitgenossen das Verhältnis von „Adel" und „Elite"? Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Elite-Begriff für das Denken der deutschsprachigen Autoren der Weimarer Zeit - noch immer - keine Herausforderung darstellte. Anders gesagt, ihre Ideen zur Errichtung einer wünschenswerten gesellschaftlichen Ordnung bedienten sich nicht des Elite-Begriffs als leitendem Denkwerkzeug. Vielmehr vollzogen zahlreiche Propagandisten einer Adels-Erneuerung auf publizistischer wie auf institutioneller Ebene zunächst eine bemerkenswerte Abkehr von der Stände-Doxa. Liest man etwa Richard Graf Coudenhove-Kalergis 1920 geschriebenen und 1923/25 veröffentlichten Essay „Adel", so stellt man fest, dass dieser auf den Terminus „Stand" praktisch vollständig verzichtet und an den Stellen, an welchen man ihn erwarten sollte, den Begriff „Rasse" findet. Gelegentlich schreibt Coudenhove-Kalergi sogar von einer „Adelsrasse" oder „Herrenrasse". 17 ) Ganz zu Recht urteilt Malinowski, dass derartige Vorstellungen „mit dem traditionellen Inhalt des Begriffs [„Adel", M.R.] ... nicht mehr viel gemeinsam" hatten. 18 ) Die Einteilung der Gesellschaft in Stände als Ausdruck einer geburtsstän15

) Malinowski·. Vom König zum Führer. Vgl. auch ders.: „Führertum" und „Neuer Adel". ) Malinowski·. Vom König zum Führer S. 42-46. 17 ) Coudenhove-Kalergi: Adel, in: Praktischer Idealismus, S. 50-55. Zu CoudenhoveKalergis intellektueller Bedeutung vgl. Müller. Nationalismus; Conze: Richard Coudenhove-Kalergi (allerdings ohne nähere Auseinandersetzung mit der hier in Rede stehenden Diskussion). 18 ) Malinowski·. König, S. 305/06. 16

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dischen und damit „organisch" sinnvoll gegliederten sozialharmonischen Ordnung und als Gegenbild zur von antagonistischen Interessenkämpfen zerrissenen „Klassen-" beziehungsweise zur amorphen „Massengesellschaft" (wobei liberale, sozialistische und konservative Politiker und Intellektuelle vor 1914 die Begriffe „Stand" und „Klasse" munter durcheinander verwendeten und die Sozialwissenschaften erst damit begannen, den Klassen-Begriff zur Bezeichnung von sozialökonomisch motivierten Verbindungen und Kämpfen zu präzisieren)19) stellte für ambitionierte konservative Intellektuelle der Weimarer Zeit, soweit ihr gesellschaftspolitisches Denken um den Adels-Begriff kreiste, angesichts der Wirrungen und Deklassierungen durch Revolution und Inflation keine angemessene Option mehr dar. Selbst wenn sie von einer politischen Restauration der Monarchie träumten - eine Rückkehr zu der sozialen Ordnung vor 1914 (oder besser noch: vor 1789/1815) erschien ihnen nach den Erfahrungen des Weltkrieges nicht mehr denkbar. Selbst wer der modernen Industriegesellschaft eine korporative Ordnung zu geben versuchte, fand kaum noch einen Platz für die ständische Pyramide des Geburtsadels, von der die Verfechter einer Adels-Erneuerung bis 1914 nicht lassen konnten. 20 ) Damit ist nicht gesagt, dass korporative oder neo-ständische Sozialmodelle während der Zwischenkriegszeit unter mangelndem Interesse gelitten hätten. Selbstverständlich war das Gegenteil der Fall: Korporative Ideen wurden in jenen Jahren in weiten Teilen Europas (und zwar keineswegs nur im österreichischen „Ständestaat") handlungsleitend, von Italien über Frankreich, Spanien und Portugal bis nach Belgien und sogar in Teilen der NS-Bewegung.21) Wie diese Aufzählung von Ländern zeigt, lag der Schwerpunkt in der Verbreitung korporativistischer Sozialmodelle im katholischen Teil Europas - was noch einmal auf den Zusammenhang zwischen der Stände-Doxa und der katholischen Soziallehre hinweist - , und ihren Höhepunkt erreichte sie während der Weltwirtschaftskrise.22) Auf die deutsche Diskussion zur Adelsreform blieben diese Ideen allerdings von geringem Einfluss, wohl nicht zuletzt, weil die Mehrheit des ostelbischen Adels, der diese Diskussion vorantrieb, evangelischer Konfession war. Ihr neuer Leitbegriff lautete nicht „Stand" oder „Korporation", sondern „Führer".23) Kehren wir noch einmal zu Coudenhove-Kalergi zurück, so zeigt sich die Gravitation der Adels-Semantik hin zur Führer-Doxa überdeutlich: „Der Aristokrat als Führer ist ein politischer Begriff; der Adelige als Vorbild ist 19

) Walther. Stand, Klasse, S. 279-84. ) Vgl. Mayer-Tasch: Korporativismus; Beyer. Ständeideologien. 21 ) Vgl. den Überblick bei Mai: Europa, S. 47-49; Hobsbawm: Zeitalter der Extreme, S. 147-51. 22 ) Walther. Stand, Klasse, S. 283-84. 23 ) Die grundlegenden Unterschiede zwischen den korporativen und den am „Führerprinzip" orientierten Ordnungsentwürfen und die daraus folgenden Verschiebungen der Adels-Semantik bleiben in dem entsprechenden - bezeichnenderweise nicht eigens, sondern unter dem allgemeinen Titel „Herrschaft" abgehandelten - Abschnitt bei Breuer. Anatomie, S. 96-104, sehr blass. 20

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ein ästhetisches Ideal. Höchste Forderung verlangt, dass Aristokratie mit Adel, Führer mit Vorbild zusammenfällt: dass vollendeten Menschen die Führerschaft zufällt."24) Den „Aristokrat als Führer" zeichnete Coudenhove-Kalergi als Persönlichkeit in einer Mischung aus Nietzsche, dessen Schriften er den Ästhetizismus und Vitalismus seines Entwurfes entnahm, und Paretos Index menschlicher Fähigkeiten, was allerdings eine gewisse Nähe zur Elite-Doxa verrät.25) Allerdings, und das trennt seine Definition deutlich von vielen zeitgenössischen und nachfolgenden Elite-Theorien, enthielt diese eine scharfe antibürgerliche Spitze; Coudenhove-Kalergi schrieb sogar von „armselige(r) Bürgerlichkeit" 26 ) Im Kern, das wird bei Coudenhove-Kalergi mehr als deutlich, stellte der Verlust der exklusiven politischen Machtposition, die der Adels in den mitteleuropäischen Gesellschaften bis 1918 besessen hatte, den Antrieb dieser Art gesellschaftspolitischen Denkens dar; das Ziel musste zum einen darin bestehen, das politische System, das diesen Verlust verursacht hatte (also die Demokratie) zu beseitigen.27) Zum anderen hoffte Coudenhove-Kalergi darauf, dass ein neuer Adel, eine „neue Adelsrasse von Geistes Gnaden" entstünde, der auch die politische „Führerschaft" zufallen würde. Wie das geschehen sollte, blieb - wen wundert's? - verschwommen. Ansätze sah CoudenhoveKalergi in den „zwei Qualitätsrassen" seiner Gegenwart: Dem „Blutadel" (dem sein Anliegen a priori galt) und dem „Judentum" (vielleicht ein wenig überraschend) wegen dessen angeblichem kulturellem und geistigem Potenzial. Diese beiden sich historisch eher distanziert gegenüberstehenden Gruppen würden in nennenswerter Zahl zu einer neuen Führerschicht konnubial verschmelzen gemäß „den göttlichen Gesetzen erotischer Eugenik". Erst an dieser Stelle, bei der Frage der biologischen Reproduktion des Adels, erwähnte CoudenhoveKalergi auch die Frauen des alten und neuen Adels, was deren vorgesehene Rolle in dem Reformprozess sehr genau definiert: Wenn erst einmal „die künstlichen Schranken ... die Feudalismus und Kapitalismus zwischen den Menschen errichtet haben", gefallen seien, „dann werden automatisch den be-

24

) Coudenhove-Kalergi: Adel, S.45. Dieses Zitat steht keineswegs isoliert in Coudenhove-Kalergis Text, wie weitere Kostproben belegen: „Will die Menschheit vorwärts schreiten, braucht sie Führer, Lehrer, Wegweiser" (ebd., S.44); „Aristokrat im höchsten und wahrsten Sinne des Wortes, war er [Ferdinand Lassalle, M.R.; Coudenhove-Kalergi bezeichnete ihn hier auch als einen „revolutionäre(n) Edeljude(n)"] ein geborener Führer und Wegweiser seiner Zeit. Ebd., S.50. 25 ) „Adel beruht auf körperlicher, seelischer, geistiger Schönheit; Schönheit auf vollendeter Harmonie und gesteigerter Vitalität, wer darin seine Mitwelt überragt, ist Aristokrat." Coudenhove-Kalergi: Adel, S.44 (Hervorhebungen im Original). 26 ) Coudenhove-Kalergi: Adel, S.44; ähnliche Formulierungen finden sich auf S.46. Diese Antibürgerlichkeit hat auch Malinowski diagnostiziert: „Führertum", S.210. 27 ) „Unser demokratisches Zeitalter ist ein klägliches Zwischenspiel zwischen zwei großen aristokratischen Epochen: der feudalen Aristokratie des Schwertes und der sozialen Aristokratie des Geistes. Die Feudalaristokratie ist im Verfall, die Geistesaristokratie im Werden. Die Zwischenzeit nennt sich demokratisch, wird aber in Wahrheit beherrscht von einer Pseudo-Aristokratie des Geldes." Coudenhove-Kalergi: Adel, S.31 (Hervorhebung im Original).

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deutendsten Männern die schönsten Frauen zufallen, den hervorragendsten Frauen die vollendetsten Männer. Je vollkommener dann im Physischen, Psychischen, Geistigen ein Mann sein wird - desto größer die Zahl der Frauen, unter denen er wird wählen können. Nur den edelsten Männern wird die Verbindung mit den edelsten Frauen freistehen und umgekehrt - die Minderwertigen werden sich mit den Minderwertigen zufrieden geben müssen." 28 )

Diese Form der Bildung einer neuen Führerschicht würde sich also ohne weiteres planvolles Zutun vollziehen; besondere Orte und Modi für diesen Zweck sah Coudenhove-Kalergi nicht vor, weil er ganz auf die Naturwüchsigkeit dieses Prozesses (das „göttliche Gesetz") vertraute, wenn erst einmal die gegenseitige Distanzierung von Adel und Judentum überwunden wäre. Diesem Zweck widmete er einen nicht unbeträchtlichen Teil seines publizistischen Schaffens; unter anderem durch sein literarisches Vorgehen gegen den Antisemitismus. 29 ) Nicht alle Befürworter einer Adels-Reform teilten diesen Optimismus und das Vertrauen auf die Zwangsläufigkeit, mit der sich der deutsche Adel in die Führerschicht der Zukunft transformieren würde. Vor allem teilten sie nicht Coudenhove-Kalergis relativ positive Einstellung gegenüber Juden, sondern schlossen sich dem radikalen Antisemitismus der völkischen Bewegung an. 30 ) Stephan Malinoswki und Jens Flemming haben einige der Zusammenschlüsse deutscher Adliger untersucht, die diese Transformation in Gang zu setzen oder zu begleiten versuchten: Die Deutsche Adelsgenossenschaft, den Deutschen Herrenclub und die Herrengesellschaft Mecklenburg. 31 ) Im Vordergrund ihrer Studien stehen die Radikalisierung der Adelsreform-Bewegung während der Weimarer Republik, die die betreffenden Akteure noch vor 1933 zur Unterstützung des Nationalsozialismus trieb, sowie die breite Zustimmung für die Hitler-Bewegung besonders innerhalb des ostelbischen Adels. 32 ) Die Protagonisten dieser politischen Radikalisierung vollzogen dabei gleichzeitig eine bemerkenswerte Umdeutung der Adels-Definition. Durch die Aufhebung des Adels (der zu einem bloßen Bestandteil des Namens wurde) in der Weimarer Reichsverfassung und durch die Auflösung des preußischen Heroldsamtes war ein institutionelles Vakuum bei der legitimen Bestimmung der Zugehörigkeit eines Individuums beziehungsweise einer Familie zum Adel entstanden. Dieses Vakuum versuchten vor allem ostelbische Kleinadlige in der Deutschen Adelsgenossenschaft 1920/21 durch eine umfassende Adelsmatrikel zu füllen. 33 ) In der Kontroverse über deren Formulierung obsiegte die

2S

) Coudenhove-Kalergi: Adel, S.56. ) Nicht nur finden sich in mehreren seiner Schriften gesonderte Abschnitte über dieses Thema; er gab auch ein Buch seines Vaters Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi über „Das Wesen des Antisemitismus" heraus. 30 ) Malinowski: König, S. 336-57. 31 ) Jens Flemming: „Führersammlung"; Malinowski: „Führertum". 32 ) Malinowski·. „Führertum", S. 209/10. 33 ) Ich folge hier der Darstellung von Malinowski'. König, S.343.

29

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radikal-antisemitische Fraktion mit ihrer Forderung nach dem Ausschluss auch von „Zweiunddreißigstel-Jude(n)", weil diese mit schweren „Rassefehlern" behaftet sein könnten. Eine „Blutsmischung mit den niederen Instinkten fremder minderwertiger Rassen" wiederum gefährde die Stellung des Adels als „geborener Führer der Masse seines Volkes". Gegen diese völkisch-antisemitische Formulierung erhob sich nun Protest, weil sie die Missachtung der Nobilitierung von Juden und damit der königlichen Rechte bedeutete, doch in der Abstimmung unterlagen die Legitimisten. Malinowski kommt zu dem abschließenden Urteil, die sogenannten „EDDA-Artikel" der Deutschen Adelsgenossenschaft hätten den Begriff des Adels weniger modifiziert als „ruiniert". 34 ) Doch verdeckt die Konzentration auf den aristokratischen Antisemitismus hinsichtlich der semantischen Transformation der Adels-Definition mehr als sie enthüllt. Zwei Punkte erscheinen uns dagegen weitaus bedeutsamer. Erstens implizierte die Niederlage des legitimistischen Vorstoßes eine Abwertung des Monarchen und damit der Spitze der aristokratischen Pyramide. Die Tradition eines gegliederten Adelsstandes war damit in den Hintergrund getreten zu Gunsten der Vorstellung eines „wahren" oder „neuen Adels", der nicht länger durch den monarchischen Akt der Nobilitierung instituiert und legitimiert wurde, sondern durch seine Persönlichkeitsmerkmale und seine historische Aufgabe, wie sie vor 1914 schon Tönnies und nach dem Weltkrieg sowohl Coudenhove-Kalergi als auch Julius Edgar Jung (hier exemplarisch genannt als Vordenker unterschiedlicher intellektueller Richtungen) propagierten; eine Vorstellung, die die völkischen Radikalen noch übersteigerten. Zweitens wies die Bezeichnung des Adels als geborener Führer des Volkes die Richtung zu einer grundsätzlichen (wenn auch alles andere als vollständigen) Abwendung der Adels-Definition von der Standes-Doxa und hin zur Führer-Doxa, auch wenn dieses neue „Führertum" nicht derart gänzlich irrational und unüberprüfbar konzipiert war, dass es vom Schicksal oder anderen höheren Mächten auserwählt sein sollte, sondern die Autoren der Adels-Erneuerung beharrten darauf, dass Führer als Führer geboren würden, und rissen damit die Brücke zur Vorstellung eines Geburtsadels nicht vollständig ab. 35 ) In dieser Hinsicht standen den Advokaten der Adelsreform nach dem Verblassen der Standes-Doxa zwei politisch-ideelle Wege und Möglichkeiten offen, um zu einer veränderten Adels-Definition zu gelangen: Die Führer-Doxa und die Elite-Doxa. Dass sich sehr schnell erstere gegenüber letzterer durchsetzte, lag sicherlich zum einen daran, dass die Mehrheit der Interessierten, nämlich weite Teile des ostelbischen Kleinadels, sich einem Zusammenschluss mit Fraktionen des Großbürgertums hartnäckig verweigerte, wie die Geschichte der Deutschen Adelsgenossenschaft belegt. 36 ) Die grundsätzliche 34

) Malinowski·. König, S.344. ) Malinowski: König, S. 295. 36 ) Malinowski: „Führertum". 35

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5. Die neue symbolische Ordnung

Möglichkeit eines solchen Zusammengehens zu einer „composite elite" hätte aber schon das in der Elite-Doxa zentral verankerte Element der Auslese zwingend verlangt. Hier bestand gewissermaßen eine implizite politisch-ideelle Blockade der Adelsreformbewegung der 1920er und frühen 30er Jahre gegenüber der Elite-Doxa. Zum anderen lehnten prominente Stimmen den Elite-Begriff ganz explizit ab. Julius Edgar Jung beispielsweise veröffentlichte noch 1933 einen Beitrag für die angesehene Europäische Revue?1) in welchem er die Alternative „Adel oder Elite" gleich in die Überschrift setzte.38) Der Vordenker der Konservativen Revolution (zu der er sich hier ausdrücklich bekannte) entwickelte in diesem kurzen Text eine bemerkenswerte Gegenüberstellung nicht nur zwischen Adel und Elite, sondern zunächst zwischen Adel und Bürgertum. Die Kriterien dieser Gegenüberstellung, darauf durfte der Münchener Rechtsanwalt vertrauen, waren jedem deutschen Bildungsbürger seit Goethes „Wilhelm Meister" vertraut. Auf der einen Seite präsentierte Jung die Welt des Bürgertums, gekennzeichnet durch Arbeit und ökonomische Leistung. Dem entsprach ein an Pareto geschulter Elite-Begriff,39) der auf ökonomisch definierter Leistungsauslese beruhte. „Elite" war demnach ein „bürgerlicher" Begriff; „die Elite muss leisten, um anerkannt zu sein". Im Horizont dieser Begrifflichkeit bedeutete das ein Defizit, denn erstens wurde das Leistungsprinzip mittlerweile - und zwar zu Recht! - „für eine neue arbeiterliche Kultur" und „gegen faule Vertreter dieser bürgerlichen Welt und gegen parasitäre Formen, die der Kapitalismus angenommen hat", ausgespielt. Und zweitens blieb für Jung das Leistungsprinzip gegenüber dem Wesen menschlichen Daseins eben äußerlich: „Abgesehen davon, dass der Mensch, der etwas ist, auch allgemein etwas leisten wird, kommt es entscheidend auf das Sein und nicht auf die Leistung an. Aus dem Sein kommt die geschichtliche, die geistige, die künstlerische Tat. Nicht Leistungen sind die einzelnen Steine, die das Mosaik der Geschichte bilden, sondern Taten. (...) Die Tat aber kommt aus dem Sein." 40 )

Auf der anderen Seite präsentierte Jung den Adel nicht nur als ein „biologisches Prinzip" - eine Brücke zum Geburtsadel - , sondern auch als ein „Seinsprinzip".41) Beides stellte eine Abgrenzung vom bürgerlichen Leistungsprinzip dar, doch das Seinsprinzip war für ihn eben unzweideutig höherwertig als der Grundsatz der Leistung. Damit, und darin liegt die ideengeschichtliche 37

) Zu dieser bereits im ersten Kapitel erwähnten Zeitschrift vgl. Paul: Konservative Milieus. 38 ) Julius Edgar Jung: Adel oder Elite?, in: Europäische Revue 9.1933, S. 533-35. Der Artikel war ein Vorabdruck aus seinem im gleichen Jahr erschienenen Buch „Sinndeutungen der deutschen Revolution". 39 ) Jung bezeichnete Pareto an dieser Stelle als seinen „Lehrer". Jung: Adel oder Elite?, S.535. 40 ) Ebd., S. 534. 41 ) „Der Adel (bleibt immer) als geistige Forderung bestehen, als etwas über die Zweckmäßigkeit des Lebens Hinausgreifendes, als Drang zur Gottesebenbildlichkeit." Ebd., S.534.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Bedeutung dieser Gegenüberstellung, war auch das Sozialmodell „Adel" gegenüber dem Konzept „Elite" grundsätzlich wertvoller. Deshalb konnte die Bildung einer Elite auch immer nur die gesellschaftspolitisch zweitbeste Lösung sein: „Der Einwand, wo kein Adel sei, müsse wenigstens Elite sein, ist durchaus berechtigt; denn Adel kann man weder ernennen [sie!] noch züchten. Er bildet sich von selbst und züchtet sich auch selber."42) Unschwer erkennbar vollzog auch Jung die Abkehr von einer Adels-Definition, die den Adel wesentlich als einen durch monarchische Instituierung gegliederten Stand bestimmte. Zum Beweise seiner These verwies Jung auf die politische Geschichte der eben zerstörten Weimarer Republik. An dieser Stelle wird die Analyse des Textes allerdings ein wenig kompliziert, denn in seinen Ausführungen verwirren sich ein wenig die Dinge, was jedoch durchaus typisch ist für die gesamte Diskussion über die Reform des „Adels" und die Bildung einer „Elite". Den Hintergrund von Jungs Adels- wie seinem Elite-Begriff bildete nämlich in beiden Fällen die Führer-Doxa, mit anderen Worten: Adlige wie Elite-Angehörige waren für Jung „Führer", doch drückte dieser Terminus (dies mit aller Vorsicht, denn die Differenzierungen werden im Text nicht explizit und müssen aus der Verwendung der Begriffe geschlussfolgert werden) im Zusammenhang mit der „Elite" eine funktionale Bedeutung aus, während der Adels-Begriff gewissermaßen essentialistisch zu lesen ist: „Die Kraft, Menschen zu binden und zu beherrschen, liegt jenseits aller Leistung und Anstrengung im Wesen des Herrenmenschen beschlossen. Der Appell, sich zu unterwerfen, ist eine Ausstrahlung, die sogar stumm sein kann. Die Manifestation ist das auf die Führerfrage übertragene Leistungsprinzip. In der Demokratie muss der Führer mit Worten überzeugen und wird dies um so stärker, je mehr er manifestieren kann. Der Adel hingegen herrscht durch sein überlegenes Sein. Die Elite muss leisten, um anerkannt zu sein; der Adel steht außer Frage, so lange er adlig ist."n)

Die weitere Argumentation des Autors ist genauso symptomatisch für die weitere Entwicklung der Ideen einer (preußisch-)deutschen Adelsreform und ihrer Protagonisten, wie das biographische Schicksal Julius Edgar Jungs selbst.44) Sein politisch-ideelles Vorbild stellte nämlich mitnichten der Nationalsozialismus in Deutschland, sondern der italienische Faschismus dar, gerade weil dieser „seit Jahr und Tag die Frage des Adels vorantreibt". 45 ) Dagegen verharre der Nationalsozialismus „vorläufig ... in der Vorstellungswelt der politischen Elite". Für Jung lautete die Folge, dass „der Ansatz zu einer demokratischen Elitebildung [sie!] vorhanden (ist), der zu einem neuen Adel fehlt." 46 ) Das 42

) Ebd., S. 534. ) Ebd. (Hervorhebung von M.R.). Jung, der nach der Machtergreifung auf einen konservativen Staatsstreich gegen Hitler hoffte, wurde im Zuge des sog. Röhm-Putsches wegen der von ihm verfassten Marburger Rede Franz von Papens von den Nationalsozialisten ermordet. 45 ) Jung·. Adel oder Elite?, S. 535. Ebd., S. 535. 43

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konnte jedoch nicht die soziale Ordnung darstellen, die dem konservativen Revolutionär Jung vorschwebte. Der geringe Grad an Ausdifferenzierung dieses Konzepts und die mangelnde Abgrenzung, das Verschwimmen der Begriffe Adel, Elite, Führer und Stand (selbst der Begriff der Rasse war in der Debatte um die Adels-Reform nicht immer biologistisch determiniert) sind durchaus typisch für diesen frühen Stand der Diskussion, die fast vollständig von politischen und publizistischen Interessen bestimmt war und auch nur in geringem Maße auf sozialwissenschaftliches Wissen zurückgreifen konnte. Wie auch immer die Begriffe im Einzelnen semantisch gefüllt und verwendet wurden, in jedem Falle zielten sie gegen alles, was sich mit den Termini Klasse und Masse ausdrücken ließ oder auf die Ausweitung von Partizipationschancen hinausgelaufen wäre. III. Diese semantischen Schwierigkeiten enden nicht bei einer Untersuchung der nationalsozialistischen Versuche, einen „neuen Adel" zu schaffen, und hier besonders der entsprechenden Initiativen der SS.Diese Aktivitäten zur Sicherung und zum Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft durch das Schaffen eines zuverlässigen Reservoirs an Führungskadern haben schon früh das Interesse der Forschung auf sich gezogen. 47 ) Weil diese Maßnahmen von der Historiographie als Versuche einer Elite-Bildung eingeordnet worden sind und weil sich bis in die Gegenwart hartnäckig die Auffassung hält, der Elite-Begriff sei durch seine Verwendung durch die Nationalsozialisten (vorübergehend) diskreditiert worden, 48 ) kurz, um den ideengeschichtlichen Status des Elite-Begriffs zwischen 1933 und 1945 zu problematisieren und um die Frage zu beantworten, ob die Versuche zur Elite-Bildung in der frühen Bundesrepublik auf praktische Erfahrungen und Traditionen aus der NS-Zeit zurückgriffen, müssen wir uns diesem Problemzusammenhang zuwenden. Im Gegensatz zum ersten Jahrhundertdrittel wurden nach 1933 tatsächlich Institutionen geschaffen, um die Führungskader des neuen politischen Herrschaftssystems heranzuziehen und durch einheitliche Wertbindungen, Einstellungen und Leitbilder eine weltanschaulich geschlossene Gruppe zu formen die „Weltanschauungselite" des Nationalsozialismus. 49 ) Aus naheliegenden Gründen hat sich das Forschungsinteresse am nationalsozialistischen „Führerkorps" schnell auf die SS konzentriert, zum einen, um anhand der sozialen Zusammensetzung das Ausmaß zu überprüfen, in dem die egalitären Versprechungen der Nationalsozialisten in der Struktur dieser strategischen Machtgruppe tatsächlich verwirklicht wurden, beziehungsweise um - dieser Frage-

47

) Vgl. die zitierte Literatur bei Conze: Adel. ) Breiter ausgearbeitet findet sich dieses Argument vermutlich zuerst bei Knoll: Führungsauslese, S. 195-205 (das Kapitel trägt die bezeichnende Überschrift „Die Umdeutung des Elitebegriffs im Nationalsozialismus", zitiert jedoch keine einzige zeitgenössische Quelle, die den Elite-Begriff verwendet). 49 ) Vgl. Herbert·. Best, S. 186-89; Wilde. Generation, S. 137-42; Raphael: Ordnungsdenken. 48

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Stellung genau entgegengesetzt - den Anteil der bürgerlichen (und zunehmend auch: der adligen) Oberschichten darin zu ermitteln. 50 ) Zum anderen sollten kollektivbiographische Studien Aufschluss geben über die typischen Einstellungen und Leitbilder der Organisatoren des Terrors und Völkermordes. 51 ) In der Tat verstand sich die SS als Führungsgruppe des Nationalsozialismus, was ihr „Reichsführer" Heinrich Himmler in seinen Ansprachen und Weisungen nicht müde wurde zu betonen und was die Wochenzeitschrift der SS, Das schwarze Korps, in unzähligen Artikeln verbreitete. Wie Eckart Conze in seiner Analyse dieser Rhetorik gezeigt hat, kreisten diese Ausführungen um drei zentrale Begriffe: „Adel", „Rasse" und „Orden". 52 ) Das ist immerhin bemerkenswert, denn der für das Herrschaftssystem zentrale Begriff des „Führers" blieb in der Abgrenzung von der alten Herrschaftsgruppe des Adels aber natürlich nicht für die Beschreibung der Position der SS in der neuen Ordnung! - allenfalls randständig. Vordenker der NS-Bewegung begannen schon in den ausgehenden 1920er Jahren, parallel zu der oben geschilderten, aristokratisch dominierten Debatte um eine Adelsreform, von der „Züchtung" eines „neuen Adels" zu träumen. Vor allem Richard Walther Darre 53 ), der Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS (1931 bis 1938), Ernährungsminister und Reichsbauernführer, sowie der Publizist und spätere Professor für Rassenkunde und Bauerntumsforschung Hans F.K. Günther 54 ) schlugen „die ideologische Brücke ... zwischen dem völkischen Neuadelsdiskurs der 20er Jahre und der SS". 55 ) Schon 1926 postulierte Günther den Zusammenhang zwischen „Adel und Rasse" (so einer seiner Buchtitel) und definierte die „Adelsfrage als Blutsfrage". 56 ) Der „neue Adel", den Günther für das Ziel des „sozial-aristokratischen Staates" 50

) So ist Herbert Ziegler in seiner Untersuchung von 1947 SS-Offizieren (Allgemeine SS, Verfügungstruppe und Totenkopfverbände) der Vorkriegszeit zu dem Ergebnis gelangt, dass in diesem Führerkorps keineswegs eine kleinbürgerliche Dominanz herrschte, dass der Anteil von rund einem Drittel derjenigen, die aus der Oberen Mittelschicht stammten, keineswegs die Vermutung von „Elite-Theoretikern" bestätige, wonach „Eliten" stets aus einer kleinen sozial oder ökonomisch übermäßig privilegierten Klasse rekrutiert würden, sondern dass vielmehr einige der egalitären Ziele der Bewegung tatsächlich verwirklicht worden seien. Ziegler. Elite-Recruitment. Auch Michael Wildt ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Reichssicherheitshauptamt „eine Institution sozialer Aufsteiger", sein Führungskorps gleichwohl „Teil der bürgerlichen, akademisch ausgebildeten Elite" war. Wildt: Generation, S. 850. Bernd Wegner, der anders als Ziegler nicht die SS-Offiziere vom einfachen Leutnant (Untersturmführer) und aufwärts, sondern den Kreis der höheren Offiziere mit erheblich größerer Entscheidungsmacht (Standartenführer [Oberst] und darüber) untersucht hat, kommt zu einem weitaus exklusiveren Ergebnis im Sozialprofil des derart konzipierten SS-Führerkorps. Wegner: Politische Soldaten, S.225 Tab. 17, S. 236/37. 51 ) Vgl. dazu Wildt: Generation. 52 ) Conze: Adel. 53 ) Vgl. Corni: Richard Walther Darre; D'Onofrio: Rassenzucht. 54 ) Zur Person Günthers vgl. Heinemann: Rasse, S.52. 55 ) Ebd., S. 163. 56 ) Ich folge hier und im Weiteren der Darstellung von Conze: Adel.

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5. Die neue symbolische Ordnung

forderte, sollte „auf der Ebenbürtigkeit des gleich reinen nordischen Blutes" beruhen. Hier wird noch deutlicher als in den genuin aristokratischen Debatten der 1920er Jahre, wie die Adels-Konzepte der Zwischenkriegszeit Abschied nahmen von der Vorstellung vom Adel als einem vom Rest der Bevölkerung rechtlich und sozial geschiedenen und in sich vielfach hierarchisch gegliederten Stand, zu Gunsten eines Sozialmodells mit „flacheren" - wenn auch selbstverständlich keineswegs demokratisch organisierten! - Hierarchien. Diese Gedanken, die Günther nur angedeutet hatte, wurden von Darre nur wenige Jahre später ausführlich dargelegt. In seiner programmatischen Schrift „Neuadel aus Blut und Boden" (1930) postulierte er gleich eingangs, dass „der Adel nicht das dem Bauerntum übergeordnete Herrentum ist, sondern das ihm wesensgleiche, aber mit besonderen Vorpflichten ausgestattete Führertum" darstelle.57) Die Bindung des Adels-Begriffs an die Führer-Doxa und seine Entkopplung von allen ständischen Vorstellungen durch die Verneinung einer rechtlichen, vor allem aber ontologischen Grenze zwischen Adel und Bauern war damit - gewissermaßen „endgültig" - vollzogen. Der real vorfindlichen Aristokratie der ausgehenden Weimarer Republik sprach Darre hingegen jede Adels-Qualität ab.58) Einzig für die Adelsgenossenschaft brachte er - vermutlich wegen der antisemitischen EDDA-Matrikel - einige Sympathie auf.59) Umso drängender wurde nun die Bestimmung des Verhältnisses zwischen „Führertum" und „neuem Adel". Außerdem entstand für Darre und alle ihm folgenden nationalsozialistischen Ideologen ein weiteres konzeptionelles Problem, nämlich die Klärung der Beziehung zwischen zwei einander widersprechenden, gleichwohl konstitutiven Elemente des angestrebten nationalsozialistischen Neuadels: Dem Moment der Leistungsauslese auf der einen Seite und demjenigen rassistisch gedachter Weitergabe notwendiger Führerqualitäten auf dem Wege der Vererbung auf der anderen Seite. Die Lösung bestand für Darre in der Idee der „Züchtung", die er - ausgebildeter Agrarökonom, der er war - aus dem Tierreich umstandslos auf die menschliche Gesellschaft übertrug. 60 ) Die Züchtung versprach, jenen Widerspruch konzeptionell umgehen, weil sie eine Verbindung der erblichen Weitergabe der geforderten Führer-Eigenschaften mit der scheinbaren sozialen Offenheit der Auslese qua Leistung zu ermöglichen schien. Im Horizont dieser Problemstellung entwickelte Darre nun seinen Adels-Begriff: 57

) Darre: Neuadel, S.6. ) „Wenn wir auf Grund obiger Erkenntnisse für unser Volk die Frage stellen, ob wir noch einen Adel besitzen, und wenn ja, ob dieser noch als gesund zu bezeichnen ist, so müssen wir leider darauf mit einem schonungslosen Nein antworten. Weder besitzen wir noch irgendwelche Maßnahmen, um unser wertvolles Führerblut erblich festzuhalten - (an welcher Tatsache übrigens die deutsche Demokratie von 1918 keinen ursächliche Schuld trägt) - noch können wir behaupten, dass unser Adel immer noch das Führertum unseres Volkes darstelle, geschweige denn, dass er gesund wäre." Darre: Neuadel, S . U . 59 ) Darre: Neuadel, S. 12. 6°) D'Onofrio: Rassenzucht, S. 144/45. 58

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„Was ist eigentlich Adel? (...) Eine Oberschicht wird erst dann zum Adel in des Wortes deutscher Bedeutung, wenn sie nicht aus Einzelnen besteht, sondern aus Geschlechtern; wobei es zunächst gleichgültig ist, ob diese Geschlechter die Besten des Volkes darstellen, gewissermaßen also Ausdruck seines Führertums sind, oder aber ohne Zusammenhang mit dem Volk das Volk als Zwingherren knebeln. Im germanischen Sinne stellt Adel allerdings eine Auslese wertvoller Geschlechter dar, die sich rechtlich nicht von den anderen Geschlechtern der Volksgemeinschaft abheben; in diesen Geschlechtern wird auf Grund gewisser Zuchtgesetze die erbliche Hochwertigkeit festzuhalten versucht, weiterhin werden bei ihnen auf Grund einer die adlige Jugend klar leitenden erzieherischen Überlieferung, diejenigen Tugenden gepflegt und gelehrt, die zur Führung eines Volkes oder eines Staates nun einmal unumgänglich sind. Es ist zu betonen, dass eine Oberschicht, die sich nur aus den Besten eines Volkes zusammensetzt, zwar eine Führerschicht darstellt, aber noch lange kein Adel in des Wortes deutscher oder germanischer Bedeutung ist, weil zum Kennzeichen dieses Adels unbedingt gehört, dass durch bereitgestellte Maßnahmen für die Weiterreichung der erprobten Führerbegabungen gesorgt wird. Man möchte vielleicht sagen: Der Wesensinhalt des echten deutschen Adelsbegriffes im germanischen Sinne ist bewusst gezüchtetes Filhrertum auf Grund auserlesener Erbmasse. Wird die Führerschicht eines Volkes jeweils ausschließlich nur aus den besten eines Volkes zusammengesetzt, ohne dass für die Vererbung ihrer Begabungen in irgendeiner Form Sorge getragen wird, so treibt das Volk unter Umständen Raubbau an seinen Volkskräften und Begabungen." 61 )

Vier Punkte scheinen an dieser Aussage bewerkenswert: Erstens setzte Darre den neuen Adel (der im Horizont seines Denkens selbstverständlich „wesensmäßig" ein alter Adel war, ein ganz alter sogar, da er an Traditionen anknüpfe, die noch weit vor der Zeit des historischen deutschen Adels abgerissen sein sollten, nämlich zur Zeit der Christianisierung des germanischen Adels) in den generationellen Zusammenhang der „Geschlechter". Aus diesen „Geschlechtern" wurde später bei der Auswahl potenzieller SS-Männer die „Sippe". „Adel" war hier eben kein Begriff der individuellen rechtlich definierten Standeszugehörigkeit, sondern der kollektiven und erbbiologisch verankerten Wertbestimmung. Zweitens und damit zusammenhängend stellte sich Darre auch die Auslese nicht als einen individuellen, sondern als einen kollektiven Prozess vor: Nicht Einzelne, sondern „Geschlechter" wurden in diesem biologistisch abgeleiteten Züchtungsprozess auserlesen. Drittens sollte die Auslese gemäß der qualifizierenden Kriterien, nämlich der kollektiven Führerqualitäten, nicht dem Zufall und auch nicht dem Konkurrenzprinzip innerhalb einer peer-group überlassen, sondern durch eben die bewusst steuernde „Züchtung" sichergestellt werden. Viertens schließlich legte Darre Wert auf die Feststellung, dass eine bloße (individuelle) Bestenauslese - also derjenige Vorgang, der seit den späten 1940er Jahren als „Elite-Bildung" diskutiert wurde - gerade keinen „Adel" darstellte, weil ihm das notwendige Moment der intergenerationellen Weitergabe der notwendigen Führerqualitäten fehle. 61

) Darre\ Neuadel, S. 10/11 (Hervorhebungen im Original).

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5. Die neue symbolische Ordnung

Damit stellt sich die Frage nach dem konzeptionellen Verhältnis zwischen „Führertum" und „Adel" - eine sensible Frage, weil jede Festlegung der Kompetenzen und erst recht jede Spekulation über die Nachfolge des Führers der nationalsozialistischen Bewegung, Adolf Hitler, vermieden werden musste. Andererseits war das Schaffen des neuen Adels ja kein Selbstzweck, sondern diente dem Aufbau eines Reservoirs an (Unter-)„Führern", die das Dritte Reich erkämpfen und sichern sollten.62) Das Verhältnis zwischen „Adel" und „Führertum" stellte sich für Darre jedenfalls wesentlich komplizierter dar, als das obige Zitat vielleicht vermuten lässt. Auch der neue „Adel" war mit dem „Führertum" keineswegs identisch; vielmehr bediente sich Darre der Denkfigur, wonach „Adel" eine Voraussetzung für die Führer-Bildung darstellte; weder eine notwendige noch eine hinreichende übrigens - beides hätte den Kameraden der „Kampfzeit" ihre Führerqualitäten ja indirekt abgesprochen. Eher schon sollte das adlige Element innerhalb der nationalsozialistischen Führungskader das Bewahren bestimmter, allerdings nicht näher ausgeführter ethischer Standards sichern.63) Die Denkfigur Darres bestand nun darin, dass die Auslese des Adels kollektiv, diejenige der Führer aus dem Adel hingegen individuell stattfinden sollte, und zwar nach Leistung: „Adel ist die durch besondere Maßnahmen gezüchtete Auslese begabter Geschlechter, aus denen erst die leistungsfähigen einzelnen Adligen in die auf erwiesener Leistung aufgebaute Führerschicht des Volkes eingereiht werden; wodurch die Einreihung oder Nichteinreihung zu einer Art von fortdauernd wirkender Leistungsprüfung und -nachweisung für die adligen Geschlechter wird. Noch einmal: Adel als Einrichtung im germanisch-deutschen Sinne ist Festhalten bewährten Führertums in seiner Erbmasse, um sozusagen eine Art von Sammler anzulegen, aus dem die Führerschicht des Volkes einen nie versiegenden Zustrom von wirklichem Führertum gesichert erhält." 6 4 )

Die biologische („rassische") Auslese musste damit der Leistungsauslese vorausgehen. Diese Denkfigur wiederholte Darre noch an mehreren Stellen seines Buches. 65 ) Als Mittel dazu sah Darre zwei neu zu schaffende Institutionen 62

) „Als Volk können wir aber ohne einen Adel nicht auskommen. Wir alle erstreben das Dritte Reich! Dessen Bestehen und Geltung wird wesentlich davon abhängen, ob wir noch das Wollen haben und die Kraft aufbringen werden, einen neuen Adel zu schaffen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass das Dritte Reich ausschließlich durch eine auf der einzelnen Leistung aufgebaute Führerschicht erhalten werden könnte, wenn auch gar nicht zu bezweifeln ist, dass es nur durch ein solches Führertum eines Tages geschaffen werden wird." Darrä: Neuadel, S. 13 (Hervorhebung im Original). 63 ) „In dieser Oberschicht muss in jedem Falle das Verdienst eine ausschlaggebende Rolle spielen, gleichgültig, aus welchen Schichten unseres Volkes der Verdienstvolle stammt; dass in dieser Oberschicht auch eine adlige Haltung nicht fehle, dafür sorgen eben die nichterbenden Söhne und Töchter der Edelleute." Darre: Neuadel, S.221 (Hervorhebung im Original). Darre: Neuadel, S. 13. 65 ) „Adel hat nur einen Sinn, wenn er sich aus Führer-Geschlechtern zusammensetzt und dementsprechend dem Volke auch Führer zu stellen vermag. Adel, der dies nicht tun will oder nicht mehr tun kann, ist überflüssig. „So ermöglichen wir einen Blutkreislauf: Während bewährtes Führertum des Deutschen Volkes fortdauernd in die Adelsgenossenschaft

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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vor, um deren Beschreibung der größte Teil seines Buches kreiste: „Hegehöfe", das heißt landwirtschaftliche Güter, die die materielle Grundlage des neuen Adels darstellen sollten, und Ehegesetze zur Gewährleistung der „Züchtung" der „wertvollen", zum Führer qualifizierenden Eigenschaften. Ehegesetze und Hegehöfe stellten damit die konkretisierten Formen des Schaffens eines Neuadels aus Blut und Boden dar. Beide Institutionen vermochte Darre nur wenig später als Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS tatsächlich einzurichten und als wirkungsmächtige Faktoren rassistischer Politik einzusetzen. Nach 1933 gelang es der SS beziehungsweise ihrem „Reichsführer" Heinrich Himmler sehr schnell, sich als „Führerreservoir" des Nationalsozialismus zu etablieren. 66 ) Dieser Anspruch artikulierte sich in einem semantischen Feld, das von den Begriffen „Orden", „Adel", „Rasse", „Auslese" und „Führertum" aufgespannt wurde. Der Terminus „Orden" umschrieb dabei gewissermaßen die institutionelle Selbstsicht der SS und ihrer Führer: 67 ) die SS als sich ihre eigenen Gesetze gebende und durch eigene Rituale verbundene exklusive Gemeinschaft, die einer ewigen Aufgabe und Wahrheit diene. 68 ) Diese Rhetorik war immerhin so einflussreich, dass sie noch von frühen Studien zur Geschichte der SS übernommen wurde. 69 ) War mit dem „Orden" der gedachte - und im Horizont dieses Denkens auch realisierte - Organisationstyp umschrieben, so musste der diese Institution ausfüllende Menschentypus 70 ) - der „Adel" - erst geschaffen sein. 71 ) Himmübernommen und dort durch klare Zuchtgesetze im Laufe der Geschlechterfolge von möglicherweise vorhandenen erbwerten Schlacken bereinigt wird, fließt aus den Hegehöfen, als den Erneuerungsquellen, wertvolles Führerblut fortdauernd in alle Stände und Schichten des Volkskörpers zurück". Darre: Neuadel, S.201, S.221. ) Wegner verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Äußerungen Hitlers, darunter diejenige, dass die SS ein Führerreservoir darstelle, „mit dem man in hundert Jahren das Ganze regieren kann, ohne sich groß überlegen zu müssen, wen man wohin setzt". Wegner. Politische Soldaten, S.55. 67 ) Himmler erklärte 1937: Wir sind „angetreten und marschieren nach den unabänderlichen Gesetzen als ein nationalsozialistischer, soldatischer Orden nordisch bestimmter Männer und als eine geschworene Gemeinschaft ihrer Sippen". Zitiert nach Wegner: Politische Soldaten, S.38. Zur durchgängigen Ordens-Rhetorik der SS, ihren historischen Vorbildern und der Bedeutung Alfred Rosenbergs für die Verbreitung der Ordens-Vorstellung in der völkischen Bewegung vgl. Wegner: Politische Soldaten, S.38-41, und die dort angegebene Literatur. 69 ) Z.B. Höhne: Orden, aus dem Jahr 1967. 70 ) Zitiert nach Conze: Adel, S. 168/69. 71 ) Gelegentlich verschwamm dabei allerdings die konzeptionelle Grenze zwischen dem Organisationsprinzip und den Menschen, die der Organisation angehörten, also zwischen „Orden" und „Adel", so dass dieser Unterscheidung - wie bei vielen Problemzusammenhängen der nationalsozialistischen Weltanschauung - weniger ein logischer als ein in der Praxis realisierter Status zukommt. Vgl. etwa die bei Wildt zitierte Rede Himmlers aus dem Februar 1937: „Wir (haben) uns ja als Ziel gesetzt, hier nicht einen Männerbund ins Leben zu rufen, der wie alle Männer- oder Soldatenbünde früher oder später einmal zerfällt, sondern wir haben uns das Ziel gesetzt, hier wirklich einen Orden allmählich wachsen 66

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lers Adjutant Karl Wolf bezeichnete es als zentrale Aufgabe der SS, „durch Erziehung und Auslese einen neuen Menschentyp zu schaffen ... der alle großen Aufgaben der Zukunft meistert und die Stelle des abgewirtschafteten historischen Adels" einnehmen solle. Vor allem während der Jahre 1935 und 1936, als sich die nationalsozialistische Herrschaft erkennbar konsolidiert hatte, führte das Wochen-Organ der SS, Das Schwarze Korps, in Fortsetzung und Verschärfung von Darres zitierter Polemik eine heftige Kampagne gegen den historischen Adel mit dem Ziel, diesem gewissermaßen die Legitimität des Adels-Begriffs zu entreißen und die rechtmäßige Bezeichnung der SS vorzubehalten. 72 ) Vor allem der Topos der Leistungsauslese wurde dabei gegen den historischen Adel und dessen ständische Exklusivität ins Feld geführt. „Nicht einen Adel der Geburt", sondern einen „Adel der Leistung" forderte Das Schwarze Korps. „Die Besten aller Stände, aller Schichten werden zugleich die rassisch Wertvollsten sein - das ist der Adel des Dritten Reiches".73) Mit den Kriterien Leistungsauslese und rassischem Wert als Konstituenten der neuen Aristokratie war gewissermaßen die weitest mögliche Neubestimmung des Adels-Begriffes formuliert. Doch auch nach dem Abklingen dieser Fehde bildete der Begriff „Adel" den Fluchtpunkt des Selbstbildes der SS, häufig versehen mit der Vorsilbe „Neu". Noch in der Titulatur der Offiziersanwärter als „Junker" kommt diese neoaristokratische Selbstwahrnehmung zum Ausdruck. Als neuer Adel eines neuen Reiches - so sah sich das Führerkorps der Schutzstaffel. Zweifellos gehörte der Gedanke der - positiven wie negativen - Auslese zum Kernbestand der rassistischen nationalsozialistischen Weltanschauung.74) Und tatsächlich stellten gerade die SS-Junkerschulen Institutionen zur aus-

zu lassen. (...) Ich hoffe, dass wir in 10 Jahren ein Orden sind und auch nicht nur ein Orden von Männern, sondern ein Orden von Sippengemeinschaften. Ein Orden, zu dem die Frauen genau so notwendig dazu gehören wie die Männer. (...) Wir wollen für Deutschland eine auf Jahrhunderte hinaus immer wieder auserlesene Oberschicht, einen neuen Adel, der sich immer wieder aus den besten Söhnen und Töchtern unseres Volkes ergänzt, schaffen, einen Adel, der niemals alt wird, der in der Tradition und der Vergangenheit, soweit sie wertvoll ist, bis in die grauesten Jahrtausende zurückgeht und der für unser Volk ewig Jugend darstellt." Wildt: Generation, S. 190. 72 ) Zweierlei Adel. Eine notwendige und zeitgemäße Begriffsklärung, in: Das Schwarze Korps, 13.3.1935; Blick nach innen. Historischer Adel oder nationalsozialistischer Adel?, in: ebd., 3.4.1935; Das Gericht sagt, der Adel sei beleidigt worden, in: ebd., 29.5.1935; Der neue Menschentypus, in: ebd., 6.3.1935; Wir antworten!, in: ebd., 9.1.1936; Versichertes Standesbewusstsein, in: ebd., 5.3.1936; Der deutsche Adel, ein Stand?, in: ebd., 13.5.1937; Was ist Adel?, in: ebd., 14.10.1937. Seit 1937 finden sich die zitierten Artikel eher auf den hinteren Seiten der Zeitung; ein Zeichen dafür, dass die Abgrenzung vom alten Adel für die Autoren des Schwarzen Korps an Bedeutung verlor. 73 ) Zitiert nach Conze: Adel, S. 169. 74 ) Vgl. Raphael: Ordnungsdenken, S.9, S.19, S. 25-27; Herbert: Best, S. 163-68, S. 170-77. Zur Bedeutung des hier verwendeten Terminus „Weltanschauung" als ein „politisch kontrolliertes, aber intellektuell offenes Meinungsfeld", das sich nicht auf „propagandistische Simulation" reduzieren lässt, vgl. Raphael, ebd., S.28.

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lesebasierten Heranbildung des künftigen Führernachwuchses dar. Allerdings blieb im Nationalsozialismus gerade die Forderung einer Auslese qua Leistung äußerst vage und wurde in den Aufnahmekriterien der SS weder für die unteren noch für die Offiziersränge jemals wirklich institutionalisiert. Vielmehr drängt sich hier der Eindruck auf, dass die „rassische Eignung" das entscheidende Eignungskriterium darstellte. Die wichtigsten Selektionsmerkmale, nämlich körperliche Tüchtigkeit und charakterliche Tauglichkeit, wurden letztlich auf diese rassische Eignung zurückgeführt. 75 ) Dabei wurde übrigens Wert darauf gelegt, dass das Ausmaß der Selbstrekrutierung, also die Rekrutierung des Führer-Nachwuchses aus Familien von SS-Leuten, die Quote von 75% der jährlichen Neuaufnahmen nicht überschritt, um die ständische Abgeschlossenheit des historischen Adels zu vermeiden. 76 ) In jedem Falle zeigt sowohl die Praxis als auch die Semantik der Rekrutierung des Führer-Nachwuchses der SS, wie fern ihre Rhetorik der Auslese der (auslesebasierten) Elite-Doxa stand. Eine echte Leistungsauslese im Wettbewerb (etwa nach Art eines concour) wurde weder gefordert noch behauptet und schon gar nicht praktiziert. Die Verwendung der Kategorien „Orden", „Rasse" und „Auslese" beschränkte sich dabei keineswegs auf die Steuerung der Auswahl von SSOffizieren, sondern erstreckte sich auch auf diejenige der einfachen SS-Männer. Nicht zufällig hieß die Institution, die diese Auswahl durchführte, Rasseund Sied/wngshauptamt. Es gehörte zu den drei Hauptämtern der SS (was seine große organisatorische Bedeutung anzeigt) und wurde eben von Richard Walther Darre aufgebaut und die ersten sechs Jahre geleitet. 77 ) Die Funktion des RuSHA ging unmittelbar auf die Forderungen zurück, die Günther und Darre in den oben zitierten Schriften erhoben hatten. Eines der wichtigsten Mittel zur Verwirklichung des oben explizierten „Züchtungs"-Gedankens stellte der von Himmler und Darre entworfene „Heiratsbefehl" der SS aus dem Dezember 1931 dar. 78 ) Dieser „Heiratsbefehl" band die Möglichkeit schon zur Verlobung und erst Recht zur Heirat an die ausdrückliche Erlaubnis durch den Reichsführer SS und stellte kurz gesagt die „Rassenauslese" der Bewerber für die SS sicher. Die Erteilung der Heiratserlaubnis wurde an die Überprüfung des „rassischen Wertes" der Frau gebunden. Damit bildete die rassistische Zuordnung der potenziellen Heiratspartner für den „neuen Adel" das Äquivalent zu deren ständischem Rang für den historischen Adel. Anders gesagt, gerade in der für jene Form der Vergemeinschaftung essenziellen Frage des Konnubiums manifestierte sich die Abkehr vom ständischen Bezugsrahmen der Adels-Definition. Die SS stellte in ihrem Selbstbild eben keinen „Stand" - und auch keine „Elite" - , sondern einen „Orden" beziehungsweise ein rassisch auserlesenes „Führerkorps" dar. 75

) ) 77 ) 78 ) 76

Wegner: Politische Soldaten, S. 135-39, S. 149-58. Come: Adel, S. 171. Zum Rasse- und Siedlungshauptamt Heinemann: Rasse. Vgl. Heinemann: Rasse, S. 50-62.

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5. Die neue symbolische Ordnung

Im „Führertum" nämlich, nicht in Theorien einer „Elite", gipfelte die Weltanschauung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems im Allgemeinen und der Führungsanspruch der SS im Besonderen. 79 ) Das Schwarze Korps erläuterte Anfang des Jahres 1936 in zwei umfangreichen Artikeln „Das Führerprinzip" wie folgt: „Der Grundpfeiler des neuen Staates ist der Gedanke des Führerprinzips. Seine Einführung im politischen und öffentlichen Leben geschah in bewusstem Gegensatz zu den Denkund Lebensformen des vorigen Jahrhunderts und bedeutete eine Abkehr von den für den Volkskörper gleichermaßen als gefährlich erkannten Methoden des Parlamentarismus und des Kollektivismus." 80 )

Allerdings musste die Zeitung ihre Erklärung, worin das Führerprinzip denn genau bestünde, sofort einschränken: „Wenn wir diesen, das gesamte organisatorische Leben des neuen Staates tragenden Gedanken in seiner vollen Bedeutung erkennen wollen, so müssen wir ihn zunächst als Abkehr und Umkehr vom falschen Wege, also negativ, zu erfassen versuchen". Tatsächlich fiel es den Autoren des Schwarzen Korps regelmäßig schwer, den „Grundpfeiler des neuen Staates" positiv zu bestimmen. Dieses lag jedoch weniger in der mangelnden intellektuellen Kompetenz der SS-Autoren als in der Vagheit des Führer-Begriffs selbst begründet. Sogar ein Vordenker des Führerstaates wie Hans Freyer, dem die intellektuelle Kapazität sicher nicht abgesprochen werden kann, war kaum in der Lage, mit dem Führerprinzip die Grundlage des von ihm propagierten totalitären Systems zu präzisieren, und trat offen die Flucht in die Irrationalität an. Freyer schrieb 1925 in seinem politischen Hauptwerk der Jahre vor 1945, „Der Staat": „Die Position des Führers, seine Rolle und sein Ruf im Volk, der Rechtsgrund seiner Autorität und der Inhalt seines Wirkens - das alles ist von der unfassbarsten Unbestimmtheit für Verstandesbegriffe, aber von der Unfehlbarsten Eindeutigkeit im metaphysischen Sinne. Führen ist kein Amt mit wohlumgrenzten Aufgaben und Befugnissen, Führerschaft ist die vollste Vollmacht und die grenzenloseste Kompetenz, weil sie der unbeschränkteste Auftrag ist: mach uns reif, tüchtig und würdig zum Staat und bediene Dich dazu jedes Mittels, das nötig ist." 81 )

Und ganz ähnlich hielt Gottfried Benn 1933 fest: „Das neue, aufrührerische, gleichzeitig aber auch synthetische der Verwandlung zeigt sich in dem spezifischen Führerbegriff. Führer ist nicht der Inbegriff der Macht, ist überhaupt nicht als Terrorprinzip gedacht, sondern als höchstes geistiges Prinzip gesehen. Führer: das ist das Schöpferische, in ihm sammeln sich die Verantwortung, die Gefahr und die Entscheidung, auch das ganze Irrationale des ja erst durch ihn sichtbar werdenden geschichtlichen Willens." 82 )

79

) Franz Neumann zitiert eine ganze Reihe zeitgenössischer Veröffentlichungen unterschiedlichster Provenienz zur Bedeutung des „Führer-Prinzips" im nationalsozialistischen Deutschland. Neumann: Behemoth, S. 114-17. 80 ) Das Führerprinzip I., in: Das Schwarze Korps, 27.2.1936. 81 ) Freyer. Der Staat, zitiert nach Dreitzel: Elitebegriff, S.32. 82 ) Benn: Essays, Reden Aufsätze, zitiert nach Dreitzel: Elitebegriff, S.33.

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5.1 Versuche der Elite-Bildung

In negativer F o r m drückte das Führerprinzip damit vor a l l e m die A b l e h n u n g j e d e r F o r m v o n E i n s c h r ä n k u n g u n d s a t z u n g s g e b u n d e n e r Legitimität der H a n d lungsmacht s o w i e v o n A u s h a n d l u n g s p r o z e s s e n in E n t s c h e i d u n g s s i t u a t i o n e n aus, w i e es d i e Institutionen d e s Liberalismus u n d Parlamentarismus verkörperten, auf die sich i m m e r w i e d e r der b l a n k e H a s s dieser A u t o r e n richtete. Positiv ließ sich einzig die n e u e F o r m der Legitimierung v o n M a c h t a u s ü b u n g b e s t i m m e n , nämlich d e r e n nicht w e i t e r hinterfragbare ethische Ü b e r h ö h u n g aus sich selbst heraus. N o c h a m deutlichsten w u r d e Das Schwarze

Korps

in e i n e r U n t e r s c h e i -

d u n g z w i s c h e n d e m „Führer" und d e m „Vorgesetzten" aus d e m Jahr 1936: 8 3 ) „Der .Vorgesetzte' hat .Untergebene', die ihm .gehorchen', weil er die gesetzlichen Machtmittel hat, den Gehorsam zu erzwingen. Der .Führer' hat eine ,Gefolgschaft', die ihm ,folgt', weil er .vorangeht', weil er .Führer' ist: Der Abstand zu seiner Gefolgschaft ergibt sich daraus, dass er so weit voraus handelt, denkt, sieht, dass keiner seiner Gefolgschaft ,über ihm', also ihm überlegen ist. Vorgesetzte, denen die persönliche ureigene Kraft und der Charakter fehlen, meinen allzu häufig, man müsse nach unten treten, bei den Untergebenen keine eigene Meinung, keine schöpferische Energie, kein selbständiges Handeln aufkommen lassen, nur um einen Abstand zu schaffen, nur um dem Untergebenen die kalte Brutalität der ihnen geschenkten Macht des Übergeordneten zeigen zu können. (...) Wer für würdig erachtet wird,,Vorgesetzter' oder ,Befehlshaber' zu sein, gleichviel, ob es über wenige oder über viele ist, muss sich selbst zum Führer machen und seine Untergebenen zu einer Gefolgschaft umwandeln. (...) Dieser Führergeist muss bleiben. Adolf Hitler, der das neue Reich schuf, konnte es nur, weil er sich als Führer ,vor' seine Männer stellte. Und nur darum konnte er die Revolution gewinnen, weil er sein Herz und seinen Siegerwillen einer Anzahl von Männern so einpflanzte, dass sie ihm auf Gedeih und Verderb folgten! Nur im Glauben und in der Treue zum Führer, dem unsere Herzen gehören, nicht aber in dem kalten Wissen der Hirne liegt die Kraft unserer Bewegung." D i e B e s t i m m u n g der A u f g a b e n u n d A n f o r d e r u n g e n an e i n e n „Führer" im Schwarzen

Korps

d r e h t e sich a l s o u m fünf T h e m e n : u m die E n t s c h e i d u n g s -

a u t o n o m i e d e s „Führers", u m s e i n e „Verantwortlichkeit", u m d i e U n m i t t e l barkeit d e r B e z i e h u n g z w i s c h e n „Führer" u n d „ G e f o l g s c h a f t " , u m die B e d i n gungslosigkeit des G e h o r s a m s und u m die Persönlichkeitsmerkmale und die „ B e r u f u n g " d e s „Führers". D i e E n t s c h e i d u n g s a u t o n o m i e w u r d e vor a l l e m and e r e n a u s d e m Militär a b g e l e i t e t , d a s hier j e d o c h nicht allein als autoritäre, hierarchisch strukturierte G r o ß o r g a n i s a t i o n , s o n d e r n als Gemeinschaft

der

a f f e k t i v m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n e n K ä m p f e n d e n in E r s c h e i n u n g trat. S o h i e ß e s b e i s p i e l s w e i s e in der F o r t s e t z u n g d e s g e r a d e zitierten B e i t r a g e s : „Der Grundgedanke der Subordination ist das Verantwortungsbewusstsein. E r gipfelt in der Anschauung, dass der Führer allein, nach eigenem Ermessen, alle Entscheidungen zu treffen habe, und dass es keinem der Untergebenen zustehe, sich den Anordnungen eines Vorgesetzten zu widersetzen. Wie der oberste Befehlshaber im Krieg nach freiem Ermessen über das Leben seiner Soldaten verfügt, und somit verantwortlich dafür ist, dass der Erfolg den Einsatz lohnt, ist der unumschränkte Führer eines Volkes völlig frei in seinen Entscheidungen und bedarf keiner beratenden Körperschaft, weil er ja dem Volke gegenüber für alle seine Handlungen einsteht." 8 4 )

83

) „Vorgesetzter" oder „Führer"?, in: Das Schwarze Korps, 12.3.1936. Das Führerprinzip II., in: Das Schwarze Korps, 5.3.1936.

400

5. Die neue symbolische Ordnung

Aus der Effizienz gerade der preußisch-deutschen Armee - „genau wie beim preußisch-deutschen Militär wird in der Führungsorganisation des neuen Reiches unnachsichtig und mit eiserner Strenge alles ausgemerzt, was den moralischen Anforderungen einer derart verantwortlichen Gewalt nicht entspricht"85) - wurde dann auf die Vorteile dieses Entscheidungsprinzips auch für die Friedensgesellschaft der „Volksgemeinschaft" geschlossen. Im Beharren auf die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen „Führer" und „Gefolgschaft" 86 ) drückt sich nicht zuletzt jene oben angesprochene Ablehnung des Repräsentativsystems und die Suche nach einer ganzheitlichen Gesellschaftsorganisation in der „Volksgemeinschaft" aus. Doch wenn das Volk als (kämpfende) „Gemeinschaft" vorgestellt wurde, musste irgendeine Form reziproker Beziehungen zwischen Basis und Spitze eingeführt werden. Dies geschah mit dem Begriff der „Verantwortung", die an dieser Stelle allerdings nicht näher bestimmt wurde, sondern nur in einer Zweck-Mittel-Relation gesehen wurde: Der Führer sei „verantwortlich dafür... dass der Erfolg den Einsatz lohnt". Diese Einbettung des Topos der „Verantwortlichkeit" findet sich schließlich auch in einer kurzen Darstellung des Führerprinzips im „VolksBrockhaus" aus dem Jahr 1940. Diesem einbändigen Taschenlexikon kommt eine größere ideengeschichtliche Bedeutung vor allem aus dem Grund zu, weil nach 1933 zunächst kein größeres Enzyklopädisches oder Konversationslexikon mehr erschien.87) Als „Hauptmerkmale" des „Führergrundsatzes" hielt der „Volks-Brockhaus" fest: „Autorität nach Unten, Verantwortlichkeit nach oben. Adolf Hitler als Führer des Volkes fühlt sich dem ganzen Volk verantwortlich (daher die Volksabstimmungen bei entscheidenden Entschlüssen); dadurch unterscheidet sich der deutsche Führerstaat grundsätzlich von der Diktatur."88)

Bei dieser Definition bestand also eine vollständige Deckung mit derjenigen aus dem Schwarzen

Korps.

Rudolf Vierhaus hat vor längerer Zeit in einem interessanten ideengeschichtlich argumentierenden Aufsatz das Führerprinzip noch viel deutlicher an eine besondere Vorstellung von „Verantwortlichkeit" gekoppelt: 85

) Ebd. ) Die konstitutive Bedeutung dieser Unmittelbarkeit für das Führer-Prinzip, wie sie im Terminus des „Vertrauens" zum Ausdruck kommt, zeigt sich in zahlreichen Gerichtsurteilen, die Ernst Fraenkel als Belege seiner These beibrachte, dass wesentliche Elemente des deutschen Rechtssystems (des „Normenstaates") zusammengebrochen seien. Dass die Juristen diesen Zusammenbruch selbst exekutierten, zeigt wiederum die Verbreitung der Führer-Doxa in dieser Gruppe und deren Relevanz für die staatsrechtliche Theorie des Nationalsozialismus. Fraenkel: Der Doppelstaat, S. 60/61. 87 ) Brockhaus setzte die 1928 begonnene 15. Auflage des „Großen Brockhaus" fort, ebenso Herder die 1931 begonnene 4. Auflage des „Großen Herder". Lediglich das in schnelleren Taktzeiten arbeitende Bibliographische Institut startete 1936 ein (mit geplanten zwölf Bänden eher kleineres) „Meyers Lexikon", von dem aber nur neun Bände erschienen. Lenz·. Lexika, S. 51-55, S. 77-79, S. 93-97. 88 ) Führergrundsatz, in: Volks-Brockhaus, S.223. 86

5.1 Versuche der Elite-Bildung

401

„Das Organisationsprinzip der faschistischen Bewegungen war das Führerprinzip, d.h. nach faschistischer Auffassung: das Prinzip der Autorität jedes Führers nach unten und seiner Verantwortlichkeit nach oben, wie Hitler es formuliert hat. Um es präziser zu sagen: Führung von oben, Verantwortung nach oben, statt nach unten! Dieses Prinzip ist totalitär, verlangt ausschließliche Geltung." 89 )

Der von Hitler bereits in „Mein Kampf" eingeführte, 90 ) jeder Willkür Tür und Tor öffnende und nun wirklich „strukturlose" 91 ) Begriff war offensichtlich geeignet, an die Stelle der formalisierten und durch allgemein gültige Normen gebundenen Autoritäts-Beziehungen in nichttotalitäre Systeme zu treten. Vor allem aber unterschied er sich stark von demjenigen Begriff der „Verantwortungsbereitschaft" aus dem Horizont der Modelle von Wert- und Charakter-Eliten, in denen „Verantwortung" die Bedeutung von „Rechenschaftspflicht" gegenüber Status-Gleichen oder sogar Status-Minderen sowie gegenüber abstrakten (allerdings stets als „humanistisch" konstruierten) ethischen Prinzipien trug. Übrigens existieren im „Volks-Brockhaus" auch einige weitere Hinweise für den (geringen) Stellenwert des Elite-Begriffs in der nationalsozialistischen Weltanschauung. Bemerkenswerterweise finden sich nämlich nicht weniger als drei Verweise auf die für den Elite-Begriff konstitutive Kategorie der „Auslese", die jedoch tatsächlich weniger auf die Elite- als auf die FührerDoxa hin konzipiert waren. Zunächst selbstverständlich in dem einzeiligen (!) Lemma „Elite": „Das Auserlesene, Beste; eine politische Führerschicht". 92 ) Die Kennzeichnung der „Elite" als „Führerschicht" blieb jedoch innerhalb dieses Verweissystems ohne weitere semantische und symbolisch-politische Folgen, denn der zentrale Begriff lautete eben nicht „Elite", sondern war der bereits erwähnte „Führergrundsatz", der mit der Feststellung endete: „Der Führergrundsatz beruht auf der —» Auslese; führen sollen die jeweils fähigsten Männer". 93 ) Dieses Versprechen der sozial neutralen (aber geschlechtlich a priori eingeschränkten) Leistungsauslese wurde übrigens in dem Eintrag über den „Adel" noch einmal bekräftigt. Dieser endete mit den Worten: „Der deutsche Adel ist im frühen Mittelalter die alleinige Führerschicht im staatlichen, kirchlichen und Kulturleben gewesen. Der Nationalsozialismus erstrebt die Bildung seiner Führerschicht durch -» Auslese der Besten ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung der Vorfahren." 94 )

Das war nicht nur ein Versprechen sozialer Egalität, sondern stellte die nationalsozialistische „Führerschicht" in der gleichen Weise, wie dies im Schwarzen Korps geschah, in die historische Tradition des Adels. 89

) Vierhaus: Faschistisches Führertum, S.230. Vierhaus: Faschistisches Führertum, S.225. 91 ) Dies in Anlehnung an die Thematisierung der „Strukturlosigkeit" totalitärer Herrschaft seit Franz Neumann und Hannah Arendt. Vgl. Neumann·. Behemoth; Arendt·. Elemente. Elite, in: Volks-Brockhaus, S. 169. 93 ) Führergrundsatz, in: Volks-Brockhaus, S.223. 94 ) Adel, in: Volks-Brockhaus, S. 5.

402

5. Die neue symbolische Ordnung

Die Fokussierung der nationalsozialistischen Weltanschauung auf den Führer-Begriff 95 ) und in der Konsequenz auf die Führer-Doxa - und nicht auf die Elite-Doxa - tritt schließlich im Lemma „Auslese" am deutlichsten zu Tage. Hier war von „Elite" überhaupt nicht die Rede, sondern erneut von „Führern", genauer vom „Führernachwuchs". 96 ) Hier war auch der scheinbare soziale Egalitarismus, ebenso jedoch der biologistische Rassismus der nationalsozialistischen Ideologie am deutlichsten ausgeführt. 97 ) Kurz und gut, der Begriff der „Auslese" stand im „Volks-Brockhaus" weniger im Zusammenhang mit dem Elite- als mit dem Führer-Begriff. Dies lag durchaus in der Konsequenz des bis 1933 in Deutschland ebenso wenig verbreiteten wie inhaltlich gefüllten Elite-Begriffs. Ein Blick in die großen deutschsprachigen Lexika des ersten Jahrhundertdrittels zeigt, dass der Terminus während dieser drei Dekaden fast ausschließlich zur Bezeichnung bestimmter militärischer Verbände diente („Elitetruppen" - hier bedeutete „Elite" soviel wie „die Besten") sowie gelegentlich für die Veredelung im Rahmen von Tier- und Pflanzenzüchtungen (unter dem Stichwort der „Zuchtauslese") gebraucht wurde, nicht aber als Entwurf einer sozialen Ordnung. 98 ) In gewissem Sinne erfolgte in diesem Zeitraum sogar ein ideengeschichtlicher Rückschritt, denn in „Brockhaus' Konversations-Lexikon" von 1908 war möglicherweise unter dem Eindruck der oben untersuchten damaligen Diskussionen einer Adelsreform, die vor 1918 noch um die Möglichkeiten eine Fusion von Adel und Bürgertum kreisten - immerhin schon von der Elite „einer Gesellschaft" die Rede, unter der „man die durch Stellung, Bildung und Talent ausgezeichneten Glieder derselben" verstehe. Derartige Begriffsbestimmungen, so zaghaft sie auch erfolgten, finden sich in den Lemmata der Jahre nach 1918 nicht mehr. Während also im späten Kaiserreich wenigstens

95 ) Staatsrechtlich-organisatorisch ist in dieser Hinsicht selbstverständlich der Eintrag zum Stichwort „Führer" maßgeblich, der da lautet: „(...) Im Führer ist die Einheit von Partei, Staat und Volk verwirklicht. Er ist auch Oberster Befehlshaber der Wehrmacht. Führergrundsatz)." Führer, in: Volks-Brockhaus, S 223. Im Hinblick auf unsere Frage nach der Bedeutung der Elite-Doxa in der nationalsozialistischen Weltanschauung stehen jedoch die mit dieser in engerem Konnex befindlichen Begrifflichkeiten im Vordergrund, die vor allem um Auswahlprozesse und weniger um rechtlich-organisatorische Probleme kreisten. 96 ) „Das bewusste Bestreben, die Hochwertigen zu finden und bevorzugt heranzubilden, ist in der NSDAP und dem von ihr gestalteten Staat von grundlegender Bedeutung zur Leistungssteigerung in der Volksgemeinschaft und zur Sicherung des Führernachwuchses". Auslese, in: Volks-Brockhaus, S. 37/38. 97 ) „Daher werden die Besten und Leistungsfähigsten ohne Rücksicht auf Herkunft, Vermögen und Vorbildung gefördert (-» Reichsberufswettkampf, -» Ordensburgen). Wichtig bei jeder A. ist die Erbgesundheit." Ebd. 98 ) Elite, in: Brockhaus' Konversations-Lexikon, Leipzig 1908, Bd. 5, S. 964/65; Elite, in: Der Große Brockhaus, 15. Aufl. Leipzig 1930, Bd. 5, S.459; Elite, in: Meyers Lexikon, 7. Aufl. Leipzig 1925, Bd. 3, Sp. 1557; Elite, in: Der Große Herder, 4. Aufl. Freiburg 1932, Bd. 4, Sp. 127/28.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

403

Ansätze zu einer Entwicklung des Elite-Begriffs als eines inhaltlich gefüllten Sozialmodells existierten, wurden diese im Verlauf der Weimarer Republik wieder verschüttet. Kehren wir noch einmal zum Führer-Begriff, wie ihn Das Schwarze Korps und der „Volks-Brockhaus" definierten, zurück. Die gedachten Persönlichkeitsmerkmale eines „Führers", und diese Feststellung erscheint uns nicht unwichtig, unterschieden sich recht deutlich von denjenigen, die während der 1950er Jahre als Charakteristika der Elite-Persönlichkeit diskutiert wurden. Galten später die Unabhängigkeit der Urteilsbildung, Askese und die Fähigkeit zum Maßhalten („Mesotes") als qualifizierende Kriterien, so waren die Qualitäten eines „Führers" eindeutig bestimmt von seiner Bindung an Kampf und Gewalt, wie auch das zitierte Beispiel aus dem Schwarzen Korps zeigt, in dem der „Oberbefehlshaber im Krieg" als schlagendes Exempel des Führerprinzips herangezogen wurde. Schließlich muss auch die Bedingungslosigkeit, mit der den Anordnungen des „Führers" Folge zu leisten war, von denjenigen Bedeutungen von „Führung" unterschieden werden, die wir im vorangegangenen Kapitel analysiert haben. Das Führer-Prinzip beruhte auf dem Grundsatz von Befehl und Gehorsam, „Führung" implizierte stets die große Relevanz von Überzeugungsarbeit und eines - durchaus mit Mitteln der Autorität, aber eben nicht mit denjenigen des bloßen mit Befehlen hergestellten - Konsenses. In diesen fünf Kennzeichen - Entscheidungsautonomie des Führers und seine „Verantwortlichkeit", die Unmittelbarkeit seiner Beziehungen zur „Gefolgschaft", die Bedingungslosigkeit sowie besondere Persönlichkeitsmerkmale - lässt sich das Führer-Prinzip zusammenfassen. Rudolf Vierhaus hat in dem zitierten Aufsatz argumentiert, dass dieses Führerprinzip spezifisch faschistisch gewesen s e i " ) und sich weder in „einfachen" autoritären noch in sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Regimes finde. Nicht einmal die Bezeichnung „Führer" sei dort anzutreffen, sei auch nicht vereinbar mit der sozialistischen Ideologie. 100 ) Dem widerspricht zunächst der Befund, dass sich Stalin nach dem Vorbild Hitlers als „Führer" bezeichnen ließ. 101 ) Vor allem aber lassen sich unter einer derart verstandenen Führer-Doxa die Leitbilder ganz unterschiedlicher und keineswegs ausschließlich faschistischer Gruppen summieren, von Berufsoffizieren als „Willensmenschen", 102 ) über

" ) Auch Ian Kershaw hat in seiner Untersuchung des „Hitler-Mythos" mit der Hypothese gearbeitet, dass der „Führer-Gedanke ... ein charakteristisches Element rechtsgerichteten nationalen und völkischen Denkens" sei. Diese implizit ausschließliche Ansiedelung des Führer-Glaubens im Rechtsradikalismus ergab sich jedoch aus Kershaws Forschungsinteresse, das sich auf die Wirkung nationalsozialistischer Propaganda konzentrierte, nicht aus einer breiteren sozial- und ideengeschichtlichen Einordnung des „Führer-Prinzips". Kershaw: Hitler-Mythos, bes. S. 25-71, Zitat S.25. 10 °) Vierhaus·. Faschistisches Führertum, S.236, S. 242-45. 101

) Arendt: Elemente, S. 576. ) Flemming: „Willenspotenziale".

102

404

5. Die neue symbolische Ordnung

Unternehmer 1 0 3 ) bis hin zur Überhöhung des Künstlers als Genie - man denke nur an Stephan George und seinen Kreis. 104 ) Denn auch den Visionen und dem Weg des Genies war nur bedingungslos zu folgen; wie der Führer ist das Genie rational nicht erklärbar von höheren Mächten „berufen". Alle diese Befunde legen den Schluss nahe, dass die Elite-Doxa in der nationalsozialistischen Weltanschauung - dem Terminus der „Weltanschauungselite" zum Trotz - keine große Rolle gespielt hat. Organisatorische Leitbilder der SS hießen „Orden" und „Adel", wobei letzterer seinen ständischen Bedeutungszusammenhängen praktisch vollständig entkleidet und im Horizont der Führer-Doxa neu bestimmt wurde. Bei der Klage über die angebliche Diskreditierung des Elitebegriffs durch den Nationalsozialismus handelt es sich daher faktisch um eine Apologie der Ungleichheit im Modus der doppelten Verneinung. Die erste Verneinung besteht in der Annahme, die Nationalsozialisten hätten den Elite-Begriff, der etwas Positives ausdrücke, missbraucht und damit die wahre Bedeutung des Begriffs negiert - was nicht stimmt, weil weder der Terminus noch die Elite-Doxa insgesamt eine tragende Rolle in der nationalsozialistischen Weltanschauung spielten. Die zweite Verneinung besteht in dem Versuch, diesen Missbrauch rückgängig zu machen, den vorgeblich missbrauchten Terminus zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückzuführen. Letztlich zielt diese semantische Strategie darauf, durch die Entgegensetzung von Nationalsozialismus und Elite den Bedeutungsgehalt des EliteBegriffes - die Legitimation von Ungleichheit durch die Behauptung, der Privilegierung gehe ein Ausleseprozess voraus - aufzuwerten und die Kritik am Elite-Denken durch die Behauptung ihres ideenpolitischen Missbrauchs im Nationalsozialismus herabzusetzen. 5.1.2 Die Rolle der Evangelischen

Akademien

Die volle Bedeutung der Evangelischen Akademien für die Ausbreitung der Elite-Doxa wird erst deutlich, wenn man berücksichtigt, dass dies nicht nur Orte der Ideenzirkulation darstellten, sondern dass sie darüber hinaus von ihren Leitern und Initiatoren mit dem Anspruch versehen waren, dass hier die Elite-Bildung selbst geschehen solle. Die Akademien als Stätten der EliteBildung zu verstehen, ist jedoch nur möglich vor dem Hintergrund der hier dominierenden Elite-Konzepte, bei denen es sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im Wesentlichen um Wert- und Charakter-Modelle handelte, während rivalisierende Konzepte, etwa sich auf reinen Machtbesitz oder die Ausübung gesellschaftlich notwendiger Funktionen gründende Elite-Vorstellungen scharf attackiert wurden. Eine ganze Reihe von Akademien verstand

103 ) Die Selbstdarstellungen der rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen der Zwischenkriegszeit waren ganz offensichtlich der Führer-Doxa verpflichtet; vgl. (mit anderer Terminologie!) Unger: Wirtschaftselite; Nolte: Faschismus, S.498. 104 ) Vgl. allgemein Breuer: Fundamentalismus.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

405

sich ganz offen als solche Orte, am deutlichsten Loccum und Bad Boll, aber auch Tutzing und Mülheim an der Ruhr. Die Formen der „Elite-Bildung" differierten dabei jedoch sehr. In Loccum brachte der Akademieleiter Johannes Doehring unter der sprechenden Überschrift „Die Verantwortung der Verantwortlichen" das Ziel der Bildung einer christlich gebundenen Wert-Elite auf einer Feierstunde zum zehnjährigen Bestehen der Akademie zu Ausdruck: „Wir reden heute sehr viel von Elitebildung ... Manchmal habe ich den Eindruck, als ob sich unter den vielen tausend Loccumer Freunden stetig und ganz von selbst eine Verantwortungsschicht der Verantwortlichen [sie!] zu bilden im Begriff steht". 105 )

Doehring artikulierte hier den Loccumer Ansatz der Bildung einer „nach allen Seiten offen wirkenden Führungsschicht, die man gern mit den Tertiariern früherer Ordensgemeinschaften vergleicht" 106 ), nämlich Menschen von hinreichender sozialer Macht zusammenzuführen und gewissermaßen unter einer „Ordensregel" - einer spezifischen christlichen Wertbindung - diese Macht in der „Welt" wirksam werden zu lassen. Dieser Ansatz beruhte also notwendigerweise darauf, dass die potenziellen Angehörigen einer Wert- und Charakter-Elite eine große materielle Privilegierung bereits in den Prozess der EliteBildung mit einbrachten. Genau dies war es auch, was Harald von Rautenfeld, einer der eifrigsten Fürsprecher einer christlich gebundenen Wert- und Charakter-Elite, in einem Arbeitsbericht auf der internen Besprechung anlässlich des Umzugs von Hermannsburg nach Loccum im Oktober 1952 forderte. 107 ) Einmal mehr ging Rautenfeld vom Zusammenbruch überkommener Ordnungen und dem Fehlen einer Elite aus, um seinen Ansatz der „Sammlung in kleinen Gruppen, Kernen oder Gemeinschaften" zur „Herausführung des Einzelnen aus seiner Isolierung" zu entwickeln. Zur Aufgabe der Evangelischen Akademien zitierte Rautenfeld den Hofgeismarer Akademieleiter Müller-Schwefe, der ausdrücklich nicht die Höhe der Teilnehmerzahl zum Erfolgskriterium der Akademiearbeit erklärt hatte, denn „alle echten Bewegungen in Kirche und Welt gingen bisher den Weg der Elitebildung. (...) Ihre Aufgabe erfüllen sie [die Evangelischen Akademien, M.R.] nur, wenn Elite entsteht." 108 ) Als organisatorisches Mittel dazu hatte Rautenfeld in Essen den 105 ) Johannes Doehring: Die Verantwortung der Verantwortlichen, in: L052, S. 23-43, Zitat S.34. 106 ) Doehring: Die Verantwortung der Verantwortlichen, S. 35. 107 ) Bericht des Herrn von Rautenfeld über seine Arbeit in Essen, in: L015, S.4-10, auch für das Folgende. An dem Treffen nahmen neben Rautenfeld und den beiden Akademieleitern Doehring und Wischmann 25 geladene „Freunde aus Wirtschaftskreisen" teil. Schon die Zusammensetzung dieses Treffens zu diesem Anlass zeigt die Relevanz, die der Arbeit mit Unternehmern an der Akademie gegeben wurde. 108 ) Zitiert nach Rautenfeld: Bericht, S.7. Obwohl nicht explizit ausgesprochen, ist aus verschiedenen Bemerkungen Rautenfelds zu schließen, dass der Freundeskreis ausdrücklich Unternehmern vorbehalten blieb und es hier gerade nicht zur „Begegnung" von Arbeitgebern und Arbeitnehmern kommen sollte. Ebd., S. 8.

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5. Die neue symbolische Ordnung

Freundeskreis Christlicher Akademiearbeit 1 0 9 ) gegründet, um den rheinischwestfälischen Unternehmern, die sich hier versammelten, einen kontinuierlichen lebensweltlichen und religiösen Zusammenhalt zu bieten, der angesichts der verhältnismäßig langen Anreise nach Loccum bei Hannover sehr erschwert worden wäre. Als inhaltliches Rezept der Elite-Bildung setzte Rautenfeld ganz auf die mittlerweile zur Reife entwickelte „Arbeitsmethode" des „Gesprächs". 110 ) Auch die oben mehrfach zitierte, in Essen herausgegebene Zeitschrift Der Mensch in der Wirtschaft sollte diesem Zweck dienen. Ganz im Zeichen dieser Zielsetzungen stand auch die mehrfach erwähnte Tagung zum fünfjährigen Jubiläum der Akademie Hermannsburg/Loccum im November 1951 unter dem sprechenden Titel „Der Weg zu einer verpflichtenden Gemeinschaft", auf der die Referenten unter verschiedenen Begriffen wie „neue Gemeinschaftsbildung", „verantwortliche Gesellschaft", „Bruderschaft", „Ehre" oder eben „verpflichtende Gemeinschaft" versuchten, die Möglichkeiten und Verfahren zur Etablierung einer auf ethischen Prinzipien beruhenden Gruppe zu konkretisieren. 1 1 1 ) Es ist allerdings bedeutsam, dass diese Themenfelder schon fünf Jahre später auf der Zehnjahresfeier an Gewicht verloren hatten, vor allem aber, dass im Folgejahrzehnt derartige Tagungen aus dem Programm und der Freundeskreis aus dem Blickfeld verschwanden. 1 1 2 ) Spätestens um 1970 ließ die Bindungskraft der Akademie für die Unternehmerschaft nach, zumal längst neue Orte der Diskussion entstanden waren, die in Konkurrenz zum Akademiegedanken standen (wie die „Bergedorfer Gespräche" der Körber-Stiftung). Hier spielte weder das religiös geprägte „Gespräch" noch die „Begegnung" mit den Konfliktpartnern der Arbeitnehmerschaft eine große Rolle, mit anderen Worten, diese Orte besaßen eine geringere Neutralität als Loccum. Das Bedürfnis der Unternehmer nach Gespräch und Begegnung an Neutralen Orten war in diesem Ausmaß offensichtlich im noch wenig „etablierten" ersten Jahrzehnt nach 1945 größer als später, was für die Akademien Loccum und Bad Boll bedeutete, neue Tagungsformen zu entwickeln und Zielgruppen anzusprechen und in der Konsequenz den Anspruch auf „Elite-Bildung" weitgehend aufzugeben.

109 ) Zur Gesellschaft der Freunde christlicher Akademiearbeit vgl. Treidel. Evangelische Akademien, S. 114-18. no ) Rautenfeld: Bericht, S.8. m ) Johannes Doehring: Ansätze zu einer neuen Gemeinschaftsbildung, in: L011, S. 1—4; Karlgustav Härtung: Wege zu einer verantwortlichen Gesellschaft, in: ebd., S. 4—8; Harald von Rautenfeld: Das Wesen einer Bruderschaft, in: ebd., S.8-11; Pascual Jordan: Versuche zur Verwirklichung einer verantwortlichen Gesellschaft auf dem Gebiet der Wissenschaft, in: ebd., S. 11-16; Kurt Wolf (ohne Titel, Thema: „bewusstes Verantwortungsgefühl" im Sozialstaat), in: ebd., S. 16-17; Reinhard Wittram: Ehre, in: ebd., S. 17-18; Hanns Lilje: (ohne Titel, Thema: Möglichkeiten zur Bildung einer „staatstragenden Schicht"), in: ebd., S. 18-19. 112 ) Der Freundeskreis scheint 1965 stillschweigend aufgelöst worden zu sein. Treidel: Evangelische Akademien, S. 116/17.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Ein ähnliches Konzept wie in Hermannsburg/Loccum wurde auch in Bad Boll angewandt. Und hier war der Grad formaler Organisiertheit sogar noch höher. Mit der Wirtschaftsgilde - Arbeitskreis für Wirtschaftsethik und Sozialgestaltung wurde im November 1948 eine Institution geschaffen, die ein noch höheres Maß an Kontinuität und Zusammenhalt anstrebte als die Verbindung von Einzeltagungen und dem geographisch entfernten Freundeskreis. 113 ) Wie jener war auch die Wirtschaftsgilde das Produkt einer Unternehmer-Tagung. Die Wirtschaftsgilde war zunächst als nichtrechtsfähiger Verein, seit 1960 als eingetragener Verein organisiert; die Geschäftsführung lag bei der Akademie, während der Vorsitz bei einem der ihr angehörenden Unternehmer lag. 114 ) Die Akademie Bad Boll kam auf diese Weise zu einem ansehnlichen Spendenaufkommen. 115 ) Die Vorsitzenden der Wirtschaftsgilde (nacheinander Walter Bauer, 116 ) Carl Föhl 117 ) und Max Müller-Schöll 118 )) hielten wiederholt Vorträge über betriebliche und sozialpolitische Probleme in Bad Boll, Föhl sogar in Loccum 119 ). Die Mitgliederzahl pendelte sich bei rund 130 mittelständischen Unternehmern und Freiberuflern ein. Die Aktivitäten der Wirtschaftsgilde bestanden aus halbjährlichen Tagungen, mehr oder minder zwanglosen Treffen im Stuttgarter Raum ohne thematische Festlegung sowie Skifreizeiten, die offenbar einen hohen Stellenwert für die Beteiligten besaßen. Der Gründungszweck, „auf gemeinsamer christlicher Grundlage ihre [der Mitglieder, M.R.] Fragen und Probleme zu erörtern, für ihre Entscheidungen Orientierung zu finden und sich für die Erfüllung ihrer Aufgaben gegenseitig zu stärken", erschien dem Verfasser einer internen „Standortbestimmung" im Jahr 1984 bereits derart kurios, dass er dazu vermerkte: „Ihr Zweck muss aus der spezifischen Situation der Nachkriegszeit ,13 ) AEABB: Wirtschaftsgilde/Gründung, Satzung (Notizen zu Entstehung und Geschichte der Wirtschaftsgilde). 114 ) Wie fast alle Bereiche der evangelischen Akademiearbeit stellt auch die Geschichte dieser Organisation ein dringendes Forschungsdesiderat dar! 115 ) Auf die Akademie Bad Boll entfielen nicht weniger als 43,2 % aller zwischen 1953 und 1962 bei den 13 Evangelischen Akademien in Westdeutschland eingegangenen Spenden. Vgl. Treidel: Dokumentation, Tab. 3 S.6. n6 ) Bauer war Vorstandsvorsitzender der Val. Mehler A G Fulda und Vorsitzender der deutschen Gruppe der Europäischen Vereinigung für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung. 117 ) Föhl leitete die Firma Groz-Beckert in Ebingen/Württemberg. 118 ) Max Müller-Schöll war Geschäftsführer der Stuttgarter Karosseriewerke Reutter & Co. 119 ) Walter Bauer: Die Freiheit zur persönlichen Verantwortung in der Wirtschaft, in: BB001, S. 1; ders.: Der Unternehmer zwischen Aktivismus und Fatalismus, in: BB012, Anlage S. 1-7; ders.: Die Verwirklichung der Solidarität und ihre Grenzen, in: BB066, S. 37-61; ders.: Europas Integration - unsere bleibende wirtschaftliche und politische Aufgabe, in: BB094, S. 24-31; Carl Föhl: Vorsorge vor Rückschlägen in volkswirtschaftlicher Sicht, in: BB019, S. 11-14; ders.: Eigentum und Gemeinsinn, in: BB039, Anlage 2 S.l-14 und in BB043; ders.: Sozialpartner oder Sozialparteien?, in: L086, S. 12-14; Max Müller-Schöll: Menschenbehandlung als Führungsaufgabe - eine Betrachtung über das, was ein Direktor tut, in: BB061, S. 1-4; ders.: Wahrheitsprobleme im Betrieb, in: BB078, S. 31-37.

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5. Die neue symbolische Ordnung

und der sich zu entwickeln beginnenden ,neuen Wirtschaftsordnung' begriffen werden". Der „ursprüngliche Zweck" sei jedoch inzwischen „in den Hintergrund" getreten. 120 ) Der Umstand, dass die Wirtschaftsgilde eine geschlossene Vereinigung darstellte, die Neuaufnahmen nur durch Kooptation durch einen Ausschuss ermöglichte121) - wobei als potenzielle Mitglieder ausschließlich Unternehmer und unternehmernahe Freiberufler in Frage kamen, nicht etwa Gewerkschaftsführer oder Wirtschaftspublizisten122) kam einerseits dem Modell der „verpflichtenden Gemeinschaft" recht nahe, andererseits führte er zu einer gewissen weltanschaulichen Selbstgenügsamkeit: Das religiöse Moment der Vergemeinschaftung und die weltanschauliche Orientierung nahmen an Bedeutung ab, während der persönlich-private Austausch immer wichtiger wurde. Obwohl man das Selbstbild beibehielt, „eine Gruppe von Menschen [darzustellen], die die Aufgabe haben in die Verhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft hineinzuwirken, die Gesellschaftsordnung zu verbessern und grundsätzliche Aussagen zu Fragen der Gesellschafts- und Sozialordnung auf der Grundlage christlicher Ethik machen", 123 ) das heißt obwohl am ursprünglichen Modell einer christlichen Wert-Elite mit sozialethischem Führungsauftrag festgehalten wurde, konnte eine derartige evangelische Mittelstandsvereinigung, die durch ihre Abgeschlossenheit im Wesentlichen gerade darauf verzichtete, eine Multiplikatorenrolle zu spielen, keine gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten. Für eine solche Wirkung fehlte es ihr nicht nur an Umfang und an nennenswertem ökonomischem und politischem, sondern auch an intellektuellem und damit an symbolischem Kapital zur Neubestimmung symbolischer und damit realer Grenzen, zur Scheidung relevanter von irrelevanten Fragestellungen, zur legitimen Definition notwendiger und nachrangiger Veränderungen. 124 ) Obendrein lockerten sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre aufgrund persönlicher Streitereien, aber auch konzeptioneller und politischer Differenzen die Beziehungen zwischen der Boller Akademie und der Wirtschaftsgilde. Trotz der hoffnungsvollen Anfänge in der Nachkriegszeit 120

) AEABB: Wirtschaftsgilde/Gründung, Satzung (Standortbestimmung 1984). ) AEABB: Wirtschaftsgilde/Gründung, Satzung (Satzung der Wirtschaftsgilde § 3 Abs. 1 u. 2). 122 ) AEABB: Wirtschaftsgilde/Gründung, Satzung (Ziele, Arbeitsformen und Methoden). 123 ) AEABB: Wirtschaftsgilde/Konventakten 1957-1959 (Protokoll der Konventsitzung 31.5.1958, S. 8). 124 ) Beispiele für machtvolle öffentliche Interventionen der Unternehmerschaft stellen dagegen der erwähnte Aufruf „Wir können nicht länger schweigen" aus dem November 1971 oder die in einem offenen Brief, den 20 Vorstandsvorsitzende deutscher Großunternehmen verfassten, kulminierende Medienkampagne gegen die Politik der Bundesregierung aus dem Frühjahr 1999 dar, weil sie in der Lage waren, Aufmerksamkeit und Unterstützung weit über die Geschäftswelt hinaus zu mobilisieren (und die im zweiten Fall nicht ganz erfolglos blieb). Berghahn: Unternehmer, S. 319-23, S. 328/29; Hartmann: Aus gutem Stall, S. 97/98. 121

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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ließ sich ein Prozess der „Elite-Bildung" im Sinne kontinuierlicher Auslese und Ergänzung in dieser Form jedoch nicht weiterführen beziehungsweise erneut in Gang setzen. In gewissem Sinne komplementär zu den Bestrebungen in Hermannsburg/ Loccum und Bad Boll arbeitete die Akademie in Mülheim an der Ruhr. Hier wurden seit 1955 unter dem wiederkehrenden Titel „Wege in die Freude" in mindestens halbjähriger Frequenz zweitägige Veranstaltungen für „Ehefrauen von Unternehmern, leitenden Beamten und Angestellten" abgehalten. Diese Tagungen besaßen allerdings einen ganz anderen Charakter als diejenigen für ihre Ehemänner in Loccum und Bad Boll. Zunächst einmal traten hier keine Politiker, Wissenschaftler, Intellektuelle und Unternehmer von nationalem oder gar internationalem Rang als Vortragende auf, sondern Seelsorger, Ärzte, Gymnasial- und Hochschullehrer aus der Region. Des Weiteren betrafen die Orientierungsangebote nicht die „großen Themen" der umfassenden Zeitdeutungen, wirtschaftlichen Probleme und innen- wie außenpolitischen Kontroversen, sondern „Frauenthemen" aus der Sicht der Zeit. 125 ) Diese Veranstaltungen boten den Teilnehmerinnen religiöse Unterweisung, Austausch und Vergemeinschaftung, stellten im Horizont der an den Akademien zirkulierenden Elite-Konzepte jedoch keine Elite-Bildung, sondern allenfalls flankierende Maßnahmen dar, um die männlichen (potenziellen) Elite-Individuen familiär zu entlasten und zu unterstützen. Erst seit 1958 und auch dann von geringerer Intensität veranstaltete die Akademie Mülheim an der Ruhr Tagungen für Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler126) oder für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, 127 ) und auch für diese konnten nicht vergleichbar renommierte Referenten gewonnen werden.128) Im Übrigen begann gerade zu dieser Zeit die sukzessive Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs, die alle Versuche der Bildung einer christlich geprägten Wert- und Charakter-Elite durch die Zusammenführung und religiös fermentierte Orientierung von Akteuren aus dem Feld der Macht als fragwürdig erscheinen lassen mussten. Schließlich ist noch kurz das ganz anders gelagerte Konzept der Evangelischen Akademie Tutzing zu erwähnen. 129 ) Hier wurden, vor allem in dem 1954 125 ) Zum einen scheint auf diesen Tagungen der Anteil religiöser Inhalte größer gewesen zu sein; vor allem aber kreisten die Themen um „Die Partnerwahl unserer Kinder" (Jo Brinkmann, M001, S. 1-2); „Die Frau als Mitarbeiterin in unserer Kirche" (Pastor Erich Kramp, M001, S.3-4), „Aussprache über praktische Probleme der Frauenhilfe" (M001, S.5-6), „Die Frau in der Lebensmitte" (Wilhelm Giesen, M001, Anlage S.l-7) - um die Vorträge und Diskussionen einer dieser Veranstaltungen zu nennen. Spätere gleichlautende Tagungen unterschieden sich davon inhaltlich nicht. 126 ) „Gemeinsame soziale Verantwortung. Verantwortliche aus Parteien und Verbänden, Wissenschaft, Wirtschaft und Staat" (M016, Juni 1958). 127 ) „Kirche und Betriebsverfassung (Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Theologen" (M026, November 1960). 128 ) Cum grano salis: Wo der D G B und andere große Organisationen nach Loccum ihre Vorstandsvertreter entsandten, schickten sie nach Mülheim lediglich ihre Pressesprecher. 129 ) Das Folgende nach Schmidt. Bewusstseinsbildung, S. 115-29.

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5. Die neue symbolische Ordnung

eingerichteten Politischen Club Politiker, Journalisten und Wissenschaftler zu Diskussionen auf „neutralem Boden" eingeladen, wobei offenbar in weitaus höherem Maße als in Loccum oder Bad Boll die vorgetragenen Referate als Schriften der Akademie veröffentlicht wurden. 1 3 0 ) In dieser Hinsicht verstand sich auch die Tutzinger Akademie als Ort der Elite-Bildung, an dem die „Zeichnungsberechtigten" 1 3 1 ) zur Diskussion geladen wurden. Als ein solcher Ort des freien politischen Austausche hat Tutzing sehr schnell Berühmtheit erlangt und ist bis in die Gegenwart mit diesem Konzept erfolgreich geblieben. Allerdings muss zum Problemzusammenhang der „Elite-Bildung" festgehalten werden, dass die Versammlung von Akteuren aus dem Politischen Feld zur Diskussion schon deshalb leichter fallen muss, weil sie faktisch nur die Arbeitsform dieses Feldes in verändertem Rahmen verlängert, was in dieser Weise für Akteure aus dem Ökonomischen Feld nicht gilt. Außerdem scheint diesen Veranstaltungen ein geringerer Grad an religiöser Orientierung zu Grunde gelegen zu haben; es handelte sich hier also nicht um den Versuch des Schaffens einer christlichen Wert-Elite. Alle diese Befunde legen den Schluss nahe, dass zumindest in den Akademien Hermannsburg/Loccum und Bad Boll bis etwa 1960 glaubwürdig der Anspruch vertreten werden konnten, zur Bildung einer Wert- und CharakterElite beizutragen. Dieser Anspruch wurde mit der Zeit jedoch von zwei Seiten in Frage gestellt: Einerseits zirkulierten mit der Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs schließlich immer mehr Elite-Modelle, die vor allem durch die Betonung der individuellen Leistungsauslese die Vorstellung, Eliten ließen sich durch religiöse Vergemeinschaftungen bilden, absurd erscheinen lassen mussten. Andererseits stießen die Versuche der Akademien selbst an inhärente Grenzen, sei es, dass sich ein sehr kleiner Kreis von Teilnehmern organisatorisch verfestigte und für Multiplikatoreneffekte keinen Raum ließ, sei es, dass der Kontakt zu den einstmaligen Zielgruppen der „Elite-Bildung" weitgehend abriss.

5.1.3 „Pädagogische"

Elite-Bildung

Es ist äußerst bemerkenswert, dass dasjenige soziale Feld, auf dem heute der Elite-Code wohl am häufigsten eingesetzt wird und wo er die stärkste öffentliche Wirkung entfaltet, nämlich hinsichtlich der Funktionsweise des Bildungssystems, den Zeitgenossen beim Thema „Elite" nicht sehr oft vor Augen stand. Zweifellos standen die Kontroversen um Schulen und Hochschulen zunächst im Zeichen anderer Probleme: In der unmittelbaren Nachkriegszeit forderten Besatzungsmächte und deutsche Schulreformer einen Beitrag der Bildungsanstalten zur reeducation und Umerziehung der Bevölkerung, bevor sozialdemo130

) Schmidt: Bewusstseinsbildung, S. 116. ) Nach einer Äußerung des zeitweiligen Leiters des Politischen Clubs Gerhard Hildmann; vgl. Schmidt: Bewusstseinsbildung, S. 128. 131

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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kratische Bildungspolitiker in den frühen 1950er Jahren den Abbau von Klassen-Schranken sowohl innerhalb des Bildungssystems als auch solche, die sich durch dessen Institutionen ausprägten oder erhöhten, abzubauen versuchten. Sehr schnell verdrängten jedoch Themen wie der erbittert geführte Streit um Konfessions- oder Einheitsschulen oder die „deutsche Bildungskatastrophe" diesen letzten im Zeichen der Klassen-Doxa geführten Konflikt in der bundesdeutschen Bildungsgeschichte. 132 ) Auch während der 1960er Jahre stand zunächst mit der Schulreform wiederum ein Problemzusammenhang im Vordergrund bildungspolitischer Diskussionen, der keinen direkten Zusammenhang mit den übergreifenden politisch-ideellen Ordnungsrahmen, wie der Klassenoder der Elite-Doxa, besaß. Erst Mitte des Jahrzehnts, gegen Ende unseres Untersuchungszeitraums, wurde dieser Konnex wieder enger, als mit dem von Ralf Dahrendorf aufgeworfenen Schlagwort „Bildung ist Bürgerrecht" partizipatorische Forderungen in den Vordergrund rückten. Der Elite-Begriff wurde noch viel später zum Einsatz im Kampf um die Ordnung des westdeutschen Bildungssystems gebracht, nämlich seit etwa 1980. 133 ) Diese Feststellung bedeutet nicht, dass der Elite-Code während der 1950er und 60er Jahre in Texten über das Bildungssystem vollkommen abwesend gewesen wäre, dass die Elite-Doxa hier keine Rolle gespielt hätte. Auffällig ist vielmehr seine spezifische Verwendung. Die große Mehrzahl der Beiträge problematisierte nicht am Beispiel des Bildungssystems den Elite-Begriff, sondern diskutierte in der Sprache des Elite-Codes die historischen Leistungen und gegenwärtigen Vorzüge des deutschen Hochschulwesens. Dabei stand weniger das Moment der individuellen Leistungsauslese als vielmehr das Einprägen der Wertmaßstäbe und Charakterqualitäten der Studenten im Vordergrund. In dieser Perspektive musste eine soziale Öffnung vor allem des Gymnasial- und Hochschulzugangs deren Potenziale gefährden, oder anders gesagt: Mittels des Elite-Codes ließen sich soziale Phantasmagorien, nämlich Ansprüche auf „ständische" Schließungen des Bildungssystems ausdrücken. Verhältnismäßig marginal (und zwar sowohl, was die Durchsetzungskraft der Ideen, des intellektuellen Status der Akteure als auch was den Ort der Publikationen anbetrifft) blieben demgegenüber während der 1950er Jahre Autoren, die den Elite-Begriff gerade wegen des inhärenten Leistungsprinzips verwendeten, um ständische Schließungen im Bildungssystem zu kritisieren. Bereits in einer 1951 in Göttingen von Hermann Nohl und Erich Weniger betreuten erziehungswissenschaftlichen Dissertation behauptete der Autor, „es gibt in Deutschland keine Eliteerziehung und keine Elitetradition als einen ... fassbaren Bereich". 1 3 4 ) Folgerichtig untersuchte er die - frühneuzeitliche - „Eliteerziehung in Frankreich und England, wobei „Elite" für ihn (unter Berufung

132

) Becker. Bildungspolitik; Führ. Bildungsgeschichte. ) Hahn·. Re-education; Goldschmidt: Hochschulpolitik, S. 377/78. 134 ) Kahler. Eliteproblem, S. VI.

133

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5. Die neue symbolische Ordnung

auf Mannheim 135 )) ausdrücklich keine „soziale Schicht", sondern den „zu allem Zeiten wirksamen und in allen Staatsformen nachweisbaren Tatbestand irgendwie [sie!] gruppenmäßig in Erscheinung tretender Führungselemente" darstellte.136) Faktisch beschrieb der Autor die Erziehung der männlichen Mitglieder des französischen und englischen Adels im 17. und 18. Jahrhundert zwar unter Verwendung des Elite-Begriffs, doch im Horizont der StändeDoxa. Für ihn stand nicht das Problem der Auslese, sondern die „Prägung der aristokratischen Persönlichkeit" als durch Wertorientierung und Charaktermerkmale bestimmter sozialer Typus im Zentrum der Untersuchung. Mit dieser Perspektive stand der verhältnismäßig unbekannte Verfasser keineswegs allein: Kein geringerer als der Schweizer Historiker, Diplomat und Publizist Carl Jacob Burckhardt, einer der prominentesten deutschsprachigen Intellektuellen der 1930er, 40er und 50er Jahre, hatte bereits in Form eines längeren Essays ganz ähnliche Überlegungen angestellt.137) Doch eine wie auch immer gelagerte Präzisierung des Elite-Begriffs leistete Burckhardt nicht. Es lassen sich durchaus einige Bestandteile seiner Vorstellung von „Elite" aus dem Text herauslesen: politisch-ideelle Einheitlichkeit, soziale Homogenität und Abgeschlossenheit der Gruppe, „Durchgeistigung" ihrer Mitglieder, Autorität, Disziplin und Ordnung - allesamt Merkmale, die allein auf der Ebene des reinen Meinungswissens mit dem Elite-Begriff in Beziehung zu bringen waren (was gelang, weil Burckhardt hier ganz als Publizist, nicht als Historiker geschrieben hatte und die sozialwissenschaftliche Literatur zum Elite-Thema [Mosca, Michels, Pareto] konsequent ignorierte). Doch faktisch beschrieben Kähler wie Burckhardt nicht die Auslese des politisch-sozialen Führungspersonals, sondern die Integration eines bereits bestehenden Standes in ein gewandeltes Herrschaftssystem durch das Schaffen eines neuen Ethos der „Adeligkeit" beziehungsweise durch eine forcierte adlig-bürgerliche Synthese. Dieser gleichermaßen historiographische wie intellektuelle Impuls wurde von stärker gegenwartsnah interessierten Autoren nicht aufgenommen. Dennoch blieben die Überlegungen Burckhardts und Kählers nicht folgenlos; denn sie wurden, wie weiter unten zu zeigen sein wird, von Hans Peter Dreitzel aufgegriffen, der allerdings in einem ganz anderen Kontext eines der am stärksten ausdifferenzierten Elite-Modelle überhaupt entwarf und aus den Befunden von Kähler und Burckhardt zur „Erlesenheit" als Kern jenes neuen Ethos und als gesell133

) Kähler stützte sich in der Konzeption seines Elite-Begriffs praktisch ausschließlich auf Karl Mannheims „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" und verwendete die einschlägigen Arbeiten von Pareto, Mosca oder Michels (letztere lagen ja auf Deutsch vor) nicht. 136 ) Kähler. Eliteproblem, S.III. 137 ) Für Burckhardt hatte „das Eliteproblem im 17. Jahrhundert" darin bestanden, dass in Frankreich in der Krise des 17. Jahrhunderts „die geschlossene Form einer Oberschicht... gefunden,... durchgeistigt werden (musste), der Geist musste um der Einheitlichkeit willen von dieser Form gebunden werden, eine straffe neue Ordnung, eine neue Autorität musste man aufrichten". Burckhardt: Honnete Homme, S.76.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

413

schaftlich distinguierend und differenzierend wirkendes exklusives Merkmal seine These entwickelte, dass das „qualifikatorische Element" die zentrale Kategorie des Elite-Begriffs darstellen müsse. Für diejenigen Autoren, die in den 1950er Jahren den Elite-Begriff und Überlegungen zum Bildungssystem aufeinander bezogen, war es geradezu selbstverständlich, dass vor allem die Universitäten als Stätten der Elite-Bildung fungierten. Allerdings trafen sich hier zwei verschiedene Strömungen: Während Wissenschaftler, das heißt Akteure mit starken Positionen innerhalb der Hochschulen, den Akzent auf die Charakter-Schulung und Wertvermittlung legten, betonten Intellektuelle aus dem stärker gewerkschaftsnahen beziehungsweise sozialdemokratischen Milieu - das heißt solche, die im Wesentlichen außerhalb der universitären Welt standen - vor allem den Charakter der Anstalten höherer Bildung als Vorbereitungsinstanzen zu einflussreichen Positionen in Politik und Gesellschaft und verbanden dies mit der Forderung nach einer sozialen Öffnung des Bildungssystems, das heißt nach einer sozial neutralen Elite-Bildung. Beispielsweise bekannte sich der Frankfurter Professor für Philosophie und Pädagogik Heinrich Weinstock 1950 ausdrücklich zum Prinzip, dass „die demokratische Elite nicht horizontal über dem Ganzen (liegt), sondern... senkrecht von unten nach oben durch das Ganze (geht)." 138 ) Doch angesichts der „außerordentliche(n) Bedeutung, die für das Problem der Elitebildung in einer modernen Gesellschaft dem Bildungswesen zukommt", favorisierte er ausdrücklich die „Vorauslese" auf dessen unteren Stufen, und das bedeutete eine klare Ablehnung der „nivellierenden Einheitsschule ... sondern das Schulwesen der Pyramide der Lebensordnungen entsprechend als Pyramide aufzubauen. (...) Die echte Demokratisierung und Sozialisierung [sie!] des Schulwesens ist nicht auf Verbreiterung und d.h. notwendig Leistungssenkung der gehobenen Bildungseinrichtungen aus."

Deshalb sei es ihm auch unverständlich, dass seitens der Arbeiterbewegung jene Verbreiterung - „also Niveausenkung" - gefordert werde, die auf die Entwertung der gehobenen Schulen hinauslaufe genau in dem Augenblick, „wo nun wirklich und tatsächlich ihre Tore weit geöffnet sind für die begabten Arbeiterkinder". 139 ) Die „völlige Gleichheit der Chance", die „Gleichheit des Starts für alle im Rennen des Lebens" sah Weinstock 1950 bereits als verwirklicht an. Gleichwohl lehnte er eine weitere Öffnung des Zugangs zu höherer Bildung nicht etwa ab, weil dies gegen die Prinzipien der demokratischen Elitebildung verstoßen hätte, sondern aus Gründen der Standespolitik: erstens nämlich aus Sorge um die Leistungskraft deijenigen Institutionen, denen er seine soziale Position, seinen Status, seine Werte, die illusio seines beruflichen Handelns, kurz seine gesamte soziale Existenz verdankte. Und zweitens aus handfesten materiellen Gründen. „In einer Zeit, wo es in Deutschland an

138) w e i n s tock: Demokratie, S.455; ähnlich lautend S.456. 139

) Weinstock: Demokratie, S.457.

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5. Die neue symbolische Ordnung

Bauarbeitern mangelt, während man mit arbeitslosen Assistenzärzten Straßen pflastern könnte", hielt er angesichts der „Überfüllung aller gehobenen Berufe" eine solche Öffnung für gänzlich unangebracht. 1 4 0 ) An dieser Stelle drängt sich die Vermutung auf, dass die Verwendung des Elite-Begriffs auch einen Einsatz im Kampf um bedrohte materielle Interessen von Bildungsbürgern in politisch offenen und unübersichtlichen Gemengelagen darstellte. Die Verteidigung tradierter sozialer Privilegien durch die Etablierung einer neuen symbolischen Ordnung stand naturgemäß bei solchen Autoren nicht im Vordergrund, die sich für verbesserte Aufstiegschancen von Arbeiterkindern durch einen leichteren Zugang zu Schulen und Hochschulen einsetzten. Als Theo Tilders 1955 den Lesern der Gewerkschaftlichen Monatshefte die „gesellschaftspolitische Funktion der Elitetheorie" erläuterte, sah er den politischideellen Vorteil dieser Theorie und der mit ihr verbundenen Legitimationsund Gestaltungseffekte darin, dass „die Tendenz herrschende(r) Klassen zu neofeudaler, kastenähnlicher Abschließung durch die Eliteformel nicht unterstützt" werde. 141 ) Tilders erkannte ganz klar die gesellschaftspolitischen Möglichkeiten, die sich boten, wenn ein gewandelter Elite-Begriff, der nicht mehr auf Kriterien der Wertbindungen und Charaktermerkmale, sondern der Leistungsauslese basierte, in den politischen Kämpfen um die Inklusion und Exklusion in den schulischen und beruflichen Laufbahnen eingesetzt würde: „Echte Leistungseliten setzen vielmehr einen freien Wettbewerb mit Chancengleichheit voraus." In den 1950er Jahren verbanden sich also auf Seiten gewerkschaftsnaher Intellektueller mit dem Begriff der „Leistungs-Elite" und den dahinter liegenden umfassenderen Ordnungsvorstellungen - Hoffnungen auf eine weitergehende Demokratisierung von Lebenschancen durch den Abbau von Klassenschranken. Dies ging durchaus parallel - allerdings ohne direkte Berührungen - mit dem Versuch Otto Stammers, mittels eines funktionalen Begriffs der politischen Elite der jungen und gefährdeten Demokratie eine breitere Legitimationsgrundlage zu verschaffen. 1 4 2 ) Tilders warnte allerdings vor übertriebenen Erwartungen: „Es bestehen genügend Anhaltspunkte, anzunehmen, dass die herrschenden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft nicht willens sind, sich einem solchen Wettbewerb auszusetzen." 143 ) Tilders popularisierte damit den Elite-Begriff im gewerkschaftsnahen Intellektuellenmilieu erstaunlicherweise vom Standpunkt der Klassen-Doxa aus. Und besonders das Bildungssystem stand dabei im Vordergrund. Eine mittlere Position - inhaltlich wie nach Publikationsort und sozialer Lage - zwischen diesen beiden Stellungnahmen bezog 1958 Dietrich Gold-

140

) Weinstock: Demokratie, S. 456/57. ) Theo Tilders: Zur gesellschaftspolitischen Funktion der Elitetheorie, in: GMH 6.1955, S.735^t0, Zitat S.739. 142 ) In seinen Literaturhinweisen bezog sich Tilders u. a. positiv auf James Burnham, Mosca (und seinen Begriff der „politischen Formel") und Pareto, nicht jedoch auf Stammer. 143 ) Tilders: Zur gesellschaftspolitischen Funktion der Elitetheorie, S.739. 141

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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schmidt in der Neuen Gesellschaft,144) Goldschmidt, von 1946 bis 1949 Mitherausgeber der Göttinger beziehungsweise der Deutschen Universitätszeitung und mittlerweile Dozent für Soziologie in Berlin, 145 ) gelang es in diesem Text, nahezu alle Gemeinplätze über die Elite und ihre Bildung, die im Verlauf der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik entwickelt worden waren, zu einem Ganzen zu vereinen. Auch Goldschmidt sprach - wie Weinstock - von der „Sozialisierung des Bildungswesens" (dazu rechnete er die „allgemeine Schulpflicht [sie!], Schulgeldfreiheit, zunehmende öffentliche Studiumfinanzierung"), sah (unter Berufung auf David Riesmans These vom „außengelenkten Menschen") 146 ) die Bedrohung des humanen Zusammenlebens durch den Konformismus in einer zusehends von funktionalen statt traditionalen Beziehungen strukturierten sozialen Welt, auch Goldschmidt beklagte die Überspezialisierung der Bildungsgänge an den westdeutschen Schulen und Hochschulen, die Spezialisten hervorbrächten, aber keine gebildete Elite, ohne dabei konkret zu werden und damit Kernbestandteile des Bildungssystems in Frage zu stellen. Auch Goldschmidt sprach in diesen Passagen in einer larmoyanten, von konservativen Verlustperspektiven geprägten Sprache. Gleichzeitig jedoch sprach er aus, was viele konservative Intellektuelle zu artikulieren vermieden, nämlich dass nach 1945 - auch für ihn ein „Zusammenbruch", durch den „alle Traditionen abgerissen (waren)" - weite Teile der „Stände und Klassen, die zu früheren Zeiten als kulturelle und politische Elitegruppen, als Führungsreservoir und Lebensvorbild gegolten hatten", durch „ihre Teilhaberschaft am Dritten Reich kompromittiert" waren. 147 ) Damit aber verwendete Goldschmidt einen sehr weitreichenden Elite-Begriff, den er weder auf diejenigen Menschen mit bestimmten Wertorientierungen und Charaktermerkmalen einschränkte, noch einzig für diejenigen vorbehielt, die sich in Ausleseprozessen durch individuelle Leistungsqualifikation durchgesetzt hatten. Für die Gegenwart sah er jedoch das Leistungsprinzip als allein ausschlaggebend an, denn „die Industriegesellschaft ist zugleich Leistungsgesellschaft". Was die Gestalt und Funktion der „politischen Elite" anbetrifft, berief sich Goldschmidt ausdrücklich auf das Konzept der Funktionselite nach Otto Stammer und nahm damit implizit gegen zahlreiche Autoren Stellung, die zur Mitte der 1950er Jahre Modelle einer politischen Elite propagierten, die auf einer letztlich antidemokratischen Verbindung von materieller und politischer Privilegierungen mit Wertbindungen und Charakterqualitäten beruhten, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird.

144 ) Dietrich Goldschmidf. Elitebildung in der industriellen Gesellschaft, in: NG 5.1958, S.34-41. 145 ) Von 1963 bis 1982 war Goldschmidt dann Direktor am Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin. 146 ) Riesman: Die einsame Masse. 147 ) Goldschmidt: Elitebildung in der industriellen Gesellschaft, S. 34.

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5. Die neue symbolische Ordnung

Die Herausbildung einer wirklichen „geistige(n) und sittliche(n) Elite" jenseits des einseitigen Spezialistentums der „Funktionselite" (als Beispiele für erstere führte er ausgerechnet in der Neuen Gesellschaft den ehemaligen preußischen Generalstab und das früher nicht eben demokratisch zusammengesetzte englische Parlament an!) wiederum konnte sich Goldschmidt nur innerhalb des Bildungssystems vorstellen. Mit anderen Worten, Konzepte, denen er sich im Bereich der Politik ausdrücklich angeschlossen hatte, lehnte er im gesamtgesellschaftlichen Rahmen und ebenso auf dem Gebiet, auf dem er selbst arbeitete, prononciert ab, ohne dass diese Widersprüchlichkeit aufgelöst worden wäre. Diese Spannung148) rührte vermutlich aus einer grundsätzlich politisch demokratischen Haltung, der aber das Beharren auf der ethischen Suprematie des Bildungssystems, das allein die Mittel „zur geistigen Bewältigung der Welt und der eigenen Situation in ihr die Eigenentfaltung eines jeden, sein kritisches Vermögen, den Widerstand gegen die Versuchung zu gedankenloser Anpassung" bereitzustellen und zu fördern vermöchte, gegenüber anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen gegenüberstand: „Elitebildung in der Industriellen Gesellschaft ist ein Erziehungs- und Bildungsprozess".149) Einerseits hielt er offenbar - wie Heinrich Weinstock - die „grundsätzliche Öffnung aller Bildungswege für alle Begabten" für einigermaßen verwirklicht an, andererseits teilte er dessen Furcht vor einem Niedergang der Qualität von Lehre und Forschung bei weitergehender Öffnung des Zugangs nicht.150) Somit hinterließ Goldschmidts Text einen eher zwiespältigen Eindruck. Zweifellos trug er, in Fortsetzung der Aufsätze Otto Stammers, zur Popularisierung des Elite-Begriffs im Milieu SPD-naher Intellektueller bei. Für ihn und andere (etwa Theo Tilders) verband sich der Begriff mit Forderungen nach der Demokratisierung von Bildungschancen.151) Dabei übernahm Goldschmidt jedoch keineswegs das Elite-Konzept Stammers, sondern verwendete ein eher emphatisches als analytisches oder empirisch überprüfbares EliteModell. Mit der Vorstellung, eine wirkliche gesellschaftliche Elite könne einzig oder zumindest am leichtesten in den höheren Bildungsanstalten ausgewählt und geformt werden, positionierte sich Goldschmidt nicht weit entfernt von anderen Elite-Entwürfen gerade dieser Jahre, die zwar in erster Linie von der

148 ) Gerade in den Abschnitten über das Bildungssystems finden sich zahlreiche spannungsgeladene und oft widersprüchliche Formulierungen, etwa diejenige von der „Paradoxic des gegenwärtigen Zeitalters, dass die Masse Elite sein soll", wo er zuvor einen demokratischen Zugang zum Bildungssystem wie zur politischen Macht favorisiert hatte. Goldschmidt: Elitebildung in der industriellen Gesellschaft, S.41. 149 ) GoldschmidC. Elitebildung in der industriellen Gesellschaft, S.41. 15 °) Goldschmidf. Elitebildung in der industriellen Gesellschaft, S. 40/41. 151 ) Derartige Forderungen wurden in der NG häufiger erhoben, in der Regel allerdings nicht unter Rückgriff auf den Elite-Begriff; ζ. B. Carl Landauer: Schulbildung und gesellschaftliche Gleichheit in den USA, in: NG 5.1958, S. 230-34; Bernhard Tacke: Ausbildung und Bildung als Grundlagen der demokratischen Wirtschaft, in: NG 8.1961, S. 362-74.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Bildung einer politischen Elite träumten, daneben aber auch über Möglichkeiten nachdachten, sich vor allem an den Universitäten gezielt um die Herausbildung einer Wert- und Charakter-Elite zu bemühen. Ganz ähnlich wie Goldschmidt erklärte beispielsweise der Erlanger Religions- und Geisteshistoriker Hans-Joachim Schoeps: „Ich will keine Auswahl nach Fachleistung [sie!] und spezialistischer Wissenstüchtigkeit, etwa so, dass nur die Klassenersten zusammengefasst würden - dann käme nur eine Anhäufung von „Intelligenzbestien" zustande sondern ich meine eine Charakter-Auslese." Schoeps hoffte auf eine Art „Collegeerziehung", eine „Aristopädie", und erwartete sich von dieser einen „besondere(n) Stil und politische Prägekraft", denn es seien „nicht nur fachliche Ausbildung, sondern auch charakterliche Qualifikationen ... mit denen eben politischer Stil geprägt wird". 152 ) Joachim Knoll, ein Schüler von Schoeps, verfasste 1964 gar ein kleines Buch über „Pädagogische Elitebildung". Wie sein Lehrer - und letztlich auch Goldschmidt - zielte allerdings auch dieser Versuch letztlich auf die Etablierung einer politischen „Führungsschicht". 153 ) Und wie alle diese Autoren - hauptsächlich geisteswissenschaftlich arbeitende Humanwissenschaftler - sprach auch Knoll von der Elite im Singular, Ausdruck ebenso der Suche nach einer ganzheitlichen Ordnung, die nur durch eine ganzheitliche homogene Elite mit einheitlicher Wertorientierung und Charakterform garantiert werden konnte, wie der Ablehnung eines Pluralismus der Funktions-Eliten oder unterschiedlicher Gruppen von Macht-Eliten. Knoll referierte in seinem Büchlein 154 ) im Wesentlichen pädagogische Experimente aus der deutschen Bildungsgeschichte vor 1914, formulierte dabei allerdings auch das Credo all derjenigen, die nicht bereit waren, den Gedanken an materielle Privilegierung als Voraussetzung der Auslese zur Elite aufzugeben und nach wie vor eine demokratische Ordnung in Politik und Gesellschaft mit Argwohn beäugten: „Es wird den Privatschulen meist der Vorwurf sozialer Exklusivität gemacht. In England beklagt sich niemand [sie!] darüber, dass die Schulgelder in den Public Schools sehr hoch sind, weil der Erfolg dieser Institute ganz unzweifelhaft ist und damit eine Sonderstellung der Sozial-Starken gerechtfertigt ist. Es sei hier auf keinen Fall einer gesonderten Elitebildung der Besitzaristokratie das Wort geredet oder gar die Ansicht vertreten, dass es vorzugsweise in der begüterten Oberschicht förderungswürdige Talente gäbe. Dass aber die Talente - vorausgesetzt ist eine stabile Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung - in den Kreisen der Besitzenden häufiger anzutreffen sind, scheint ziemlich erwiesen. Heute sind die Besitz- und Verdienstverhältnisse dermaßen umgeschichtet, dass eine Relation von Besitz und Talent gar nicht mehr sichtbare wird. (...) Aus der im Anhang beigegebenen Übersicht geht eindeutig hervor, dass Besitzlage und Intelligenz voneinander abhängig sein können ... diese These (ist) nicht so absurd ... wie demokratische Gleichheitsfanatiker anzunehmen geneigt sind". 155 )

152

) Schoeps: Konservative Erneuerung, S. 150/51. ) Knoll·. Pädagogische Elitebildung, S.5. 154 ) Das Werk hatte einen Umfang von knapp 80 Seiten und war sehr augenfreundlich gesetzt. 155 ) Knoll·. Pädagogische Elitebildung, S.21. 153

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5. Die neue symbolische Ordnung

Dieses Credo wurde allerdings erst derart explizit formuliert, als es seit geraumer Zeit angegriffen worden war - immerhin hatte die Diskussion über Eliten in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt enorme modelltheoretische Fortschritte erzielt, auch und gerade durch demokratische Autoren, die den Zusammenhang zwischen Elite-Status, Wertbindungen, Charakterqualitäten und materieller Privilegierung in Frage gestellt hatten. Bei Knoll verhärtete sich dagegen das Beharren auf der Ungleichheit als notwendige Voraussetzung der Elite-Bildung zur Orthodoxie der ungleichen Verteilung der Intelligenz zwischen den verschiedenen sozialen Schichten und damit zur aggressiven Naturalisierung sozialer Ungleichheit, wie sie in dieser Direktheit in der ersten Hälfte der 1950er Jahre nicht formuliert wurde und werden musste. Dabei ist weiterhin zu berücksichtigen, dass Knoll diese Überzeugung wiederum in einer Weise relativierte, die ihn ganz als im Denken der 1950er Jahre verhaftet zeigt, weil er noch 1964 wie selbstverständlich - und gegen alle Befunde der empirischen Sozialforschung, die sich der westdeutschen Gesellschaft seit längerem schon angenommen hatte - davon ausging, dass die Besitzverhältnisse und damit die soziale Schichtung der Bundesrepublik in der jüngsten Geschichte in so rasche Bewegung geraten sei, dass eine Verfestigung zu stabilen Oberklassen-Milieus kaum mehr existiere. Dies war in der Tat die konservative Verlustperspektive auf eine verloren geglaubte stabile soziale Ordnung. Knoll war der letzte relevante Autor, der während des Untersuchungszeitraums die Institutionen des Bildungssystems aus der Perspektive des Fehlens einer Elite betrachtete. Seit den späten 1950er Jahren überwiegen die Aussagen zahlreicher und durchaus prominenter Autoren, in denen aus unterschiedlichen Perspektiven Aspekte der Tatsache, dass an den Universitäten die zukünftige Elite ausgebildet werde, problematisiert wurde. Kontroversen entzündeten sich jetzt an den Modi der Auslese, nicht an der Frage, ob überhaupt ausgelesen werde. Als im Februar 1959 der „Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen zu Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden öffentlichen Schulwesens" veröffentlicht wurde, nahm Jürgen Habermas dies zum Anlass, Hohn und Spott über die „kulturkonservativen Prämissen" und die „hochbürgerlichen Prämissen" der Kritik an den Plänen zur Schulreform auszugießen. Die Kritiker seien erfüllt von einer „geheime(n) Furcht vor weitergehender Sozialisierung der Ausbildungschancen" - wie wir gesehen haben, war diese Furcht so geheim nicht - , die sich mit der Angst verbunden habe, „dass dabei das Gros der höheren Schulen deklassiert werden möchte. Also fließen im bildungshumanistischen Alptraum von der Vermassung, den hierzulande freilich nicht nur die .Gebildeten' träumen, surreal [sie!] die heterogenen Motive ineinander". 1 5 6 )

156 ) Jürgen Habermas·. Konservativer Geist - und die modernistischen Folgen. Zum Reformplan für die deutsche Schule, in: Der Monat Nr. 133 (1959), S. 41-50.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Der „Rahmenplan" hatte eine breitere Leistungsauslese und modernere Bildungsinhalte gefordert. Habermas unterstützte grundsätzlich beide Anliegen: 157 ) Das Moment der Leistungsauslese war auch für Habermas offensichtlich ein Wert an sich geworden, 158 ) denn insgesamt verteidigte Habermas die Einrichtung einer Förderstufe grundsätzlich aus dem „liberale(n) Prinzip der Leistungsauslese" heraus, sowie strategisch - „wenn wir mit der Entwicklung in den Ländern des Ostblocks auch nur Schritt halten wollen" 159 ) - und weniger im Interesse der Verbreiterung der Bildungschancen selbst, die schließlich von den aus sozialphilosophischer Perspektive immer ein wenig suspekten materialistischen Karrierehoffnungen der Eltern motiviert waren. Im Hinblick auf letzteres Problem übernahm Habermas sogar eine Formulierung von Helmut Schelsky. Dieser hatte nämlich einige Jahre zuvor die „kluge Beobachtung" gemacht, dass die Schule in der Nivellierten Mittelstandsgesellschaft (ein Konzept, dem Habermas ausdrücklich nicht zustimmte) als „Zuteilungsamt in einer Sozialchancen-Zwangswirtschaft" bezeichnet wird. 160 ) Schelsky gab in dieser Denkschrift seinem Misstrauen Ausdruck, dass die Rolle der Schule in der modernen Gesellschaft in seinen Augen erregte. Denn im Gegensatz zur untergegangenen Klassengesellschaft, in welcher die soziale Position der Menschen durch die Weitergabe von ökonomischem und kulturellem Kapital innerhalb der Familien auf dem Wege der natürlichen Erbfolge quasi garantiert worden war, weil der Zugang zu den Bildungsinstitutionen bereits nach der sozialen Herkunft vorstrukturiert war - eine Sozialordnung, die Schelsky offensichtlich als legitim erachtete sei die Schule in der Gegenwart „zur ersten und damit entscheidenden zentralen Dirigierungsstelle für die künftige soziale Sicherheit, für den künftigen sozialen Rang und für das Ausmaß künftiger Konsummöglichkeiten" geworden. 161 ) Dass Schelsky diese Kritik an der Schulreform einige Jahre später weitertrieb und dabei auch und vor allem die Idee der Förderstufe angriff und dass Habermas diese wiederum vehement verteidigte, 162 ) muss hier nur am Rande vermerkt werden. Zwei Befunde sollen dazu nur angemerkt werden. Erstens gibt die soziale Qualität der Akteure wie der Orte ihrer Auseinandersetzungen 157

) Habermas·. Konservativer Geist, S.43. >58) In der Betonung der Leistungsauslese liegt auch das Neue gegenüber vorherigen Texten von Habermas zur Bildungsreform, vgl. Jürgen Habermas: Das chronische Leiden der Hochschulreform, in: Merkur 11.1957, S. 265-84. 159 ) Habermas: Konservativer Geist, S.41, S.43. 160 ) Helmut Schelsky: Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schulreform in unserer Gesellschaftsverfassung, in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, S. 131-59, hier S. 137. Bei dem Text handelte es sich um ein Gutachten für eben jenen Ausschuss für das Erziehungsund Bildungswesen, der den „Rahmenplan" erarbeitet hatte, das 1957 veröffentlicht wurde. 161 ) Schelsky: Soziologische Bemerkungen zur Rolle der Schulreform, S. 136. 162 ) Habermas: Konservativer Geist; ders.: Pädagogischer Optimismus vor Gericht einer pessimistischen Anthropologie. Schelskys Bedenken zu Schulreform, in: Neue Sammlung 1.1961, S. 251-78.

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5. Die neue symbolische Ordnung

Aufschluss über die Relevanz dieser Debatte, an der sich zahlreiche Wissenschaftler und Intellektuelle beteiligten.163) Auch wenn die Position von Jürgen Habermas im Intellektuellen Feld um 1960 nicht mit derjenigen von heute verwechselt werden darf, zeigt schon die Auswahlliste seiner Publikationen bei Wiggershaus164) seine prominente Stellung. Schelskys Bedeutung im Intellektuellen wie im Wissenschaftlichen Feld war um 1960 sicherlich noch weitaus größer. Allerdings zeigt zweitens gerade seine große Streitschrift zur Schulreform, „Anpassung oder Widerstand" aus dem Jahr 1961, wie die konservative Avantgarde mehr und mehr in den politisch-ideellen mainstream zurückfiel. Schelsky sprach darin von der vorherrschenden „Tendenz zu einer schulsozialistischen Gesellschaft", die sich auch im Rahmenplan niedergeschlagen habe. „Es ist die Überzeugtheit des Rechts zur planenden Manipulierung des .ganzen Menschen' unter dem Aspekt und der Verantwortung der ,Bildung' und der .sozialen Gerechtigkeit'. Das ,Totalitäre' darin ist die Pädagogisierung des Menschen und der Gesellschaft, die hier als selbstverständlicher Anspruch vorgetragen wird."165) Den Vorwurf des „sozialen Totalitarismus" wiederholte Schelsky auf den folgenden Seiten mehrfach; er war also keine zufällige Entgleisung. Damit fiel Schelsky zurück in den mainstream der angstbesetzten konservativen Sozialphantasmagorien der 1950er Jahre. Damals hatten zahlreiche konservative und liberale Publizisten und Wissenschaftler aus Angst vor der parlamentarischen Demokratie die „totalitäre" Gefahr der jakobinischen Phase der Französischen Revolution beschworen, während Schelsky und die konservative Avantgarde kaltblütig die Einschränkung demokratisch legitimierter Politik durch technische Sachzwänge voraussagten. Nun drohte die Demokratisierungsbewegung bis in die höheren Bildungsanstalten und 163 ) Z.B. Andreas Flitner. Schelsky und die Pädagogik, in: Neue Sammlung 1.1961, S.27885 (Flitner war Professor für Pädagogik in Erlangen); Hellmut Becker: Forderungen an unser Bildungssystem. Schule, Hochschule, Volkshochschule und Gesellschaft, in: Merkur 11.1957, S. 957-78. Die wichtigen Beiträge von Ralf Dahrendorf, der 1964-1968 als Berater der Landesregierung Baden-Württemberg in Bildungsfragen tätig war und als solcher mit Professoren und Industriellen 1967/1968 einen „Hochschulgesamtplan für Baden-Württemberg", den sog. „Dahrendorf-Plan" erarbeitete, erschienen erst zur Mitte der 1960er Jahre, nämlich „Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik", „Bildung ist Bürgerrecht" und „Arbeiterkinder an deutschen Universitäten" (alle 1965). Auch die Evangelischen Akademien beteiligten mehrfach sich an diesen Debatten und konnten dafür prominente Referenten gewinnen, ζ. B. Loccum „Übernahme von Verantwortung" (L050, Oktober 1956); „Ort und Auftrag der Wissenschaft im öffentlichen Leben" (L051, ebenfalls Oktober 1956; auf dieser Tagung sprach u. a. der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel); „Universität neuen Typs?" (L083, November 1961), aber auch Bad Boll: „Die höhere Schule am Scheidewege" (BB058, Oktober 1957) und Mülheim/R.: „Elitebildung - Eine Aufgabe der höheren Schule?" (M004, Mai 1956); hier referierte unter anderem der Pfarrer Will Praetorius Gedanken, die er ein Jahr später in seinem oben besprochenen Aufsatz „Zur Diskussion um das Problem der Elite" veröffentlichte); „Höhere Schule heute" (M011, Juni 1957). 164) Wiggershaus: Frankfurter Schule, S. 752-74. 165 ) Schelsky. Anpassung, S. 161.

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damit ins Zentrum der Lebens- und Berufswelt der Sozialwissenschaftler vorzudringen, und das Vertrauen auf die geringen Handlungsspielräume demokratischer Politiker wich der angsterfüllten Prophezeiung totalitärer Vereinnahmung. Diese Konfliktlinie wurde von beiden Kontrahenten in zwei größeren Veröffentlichungen zum Bildungssystem fortgeführt. Helmut Schelsky schuf 1963 mit „Einsamkeit und Freiheit" erneut einen griffigen Gemeinplatz. In dieser Untersuchung der „Universitätsidee" griff er allerdings erneut auf einen sehr konventionellen Elite-Begriff zurück, indem er dem wert- und charaktergebundenen Elite-Individuum der Zeit von Fichte, Schelling und Humboldt die moderne Sozialfigur des Experten gegenüberstellte, dessen Gruppe das „Reservoir" darstelle, „aus dem... die Führungsschichten in allen Bereichen rekrutieren werden". 1 6 6 ) Sein Antagonist Habermas hingegen gab noch 1961 zusammen mit Ludwig von Friedeburg und anderen Mitarbeitern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine Untersuchung zum politischen Bewusstsein Frankfurter Studenten heraus. 1 6 7 ) Bedeutsam an dieser Studie ist nicht nur, dass sie ein weitverbreitetes Gesellschaftsbild diagnostizierte, in welchem sich die Studenten als Teil einer „geistigen Elite" und der Masse der Bevölkerung gegenübergestellt sahen. 168 ) Bemerkenswerterweise transzendierte die Forschergruppe nämlich ihrerseits die Elite-Doxa, denn ihr wissenschaftliches und politisch-ideelles Anliegen richtete sich auf die politische Beteiligung der Befragten - und darüber hinaus der westdeutschen Bevölkerung insgesamt an der jungen Demokratie. Sie verwarfen ausdrücklich einen Demokratie-Begriff, der von einem abstrakten Regelwerk ausgeht, und proklamierten stattdessen, unter Berufung auf die Arbeiten Franz Neumanns, ein geradezu emphatisches Demokratie-Konzept: „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung des Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein." 169 ) Obwohl die Autoren im Untersuchungsgang also mit Elite-Kategorien operierten, stellte doch viel eher die Partizipations-Doxa, zumindest in einer Frühform und vielleicht noch ohne praktische Konkretisierung, den Maßstab ihres intellektuellen Projekts dar. In dieser Hinsicht weist „Student und Politik" tatsächlich über die Grenze unseres Untersuchungszeitraums hinaus. 5.1.4 Politische Elite-Bildung: Der Traum vom Oberhaus Wir haben oben gesehen, wie christdemokratische Politiker im Verlauf der 1950er Jahre den Elite-Begriff aufgriffen, um mit seiner Hilfe das Ansehen demokratisch legitimierter Parlamentarier und Minister - und damit ihre 166

) ) 168 ) 169 ) 167

Schelsky: Einsamkeit, S. 115, S. 168, S. 271/72, S.298. Habermas et al.: Student. Habermas et al.: Student, S. 164, S. 182-85. Habermas et al.: Student, S. 15.

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5. Die neue symbolische Ordnung

eigene politische Existenz - zu verbessern. Gerhard Schröder, Eugen Gerstenmaier, Franz Meyers und andere verwendeten dabei die im Publizistischen Feld und an den Evangelischen Akademien bereits wirkungsmächtig zirkulierenden Modelle von Wert- und Charakter-Eliten. Demgegenüber blieb die Rezeption von Otto Stammers Konzept einer politischen Funktions-Elite während der 1950er Jahre marginal. Diese relative Marginalisierung wird noch deutlicher, sobald man die Diskussionen im demokratisch-sozialistischen Milieu rund um die Gewerkschaftlichen Monatshefte und die Neue Gesellschaft verfolgt. In beiden Zeitschriften erschienen 1953 Beiträge Stammers, die sich mehr oder weniger unmittelbar mit dem Elite-Thema beschäftigten. 170 ) In beiden Texten warb Stammer für seine Vorstellungen eines pluralistischen Funktionalismus; beide Aufsätze scheinen nur ein geringes Echo gefunden zu haben. In den folgenden Jahrgängen der Monatshefte erschienen immer wieder Aufsätze von mehr oder weniger prominenten Autoren zum Thema „Elite", von denen sich jedoch keiner auf Stammer bezog. Als Helmut Wickel ein Jahr nach Stammer eine Auseinandersetzung mit Moscas längst auf Deutsch erschienenem Buch „Die herrschende Klasse" veröffentlichte, kreisten seine Gedanken einzig um den Versuch, die Gewerkschaften von dem Vorwurf freizusprechen, ihre Existenz als politisch wirksame Interessenverbände bedrohe das Repräsentativsystem. 171 ) Wickel verblieb dabei innerhalb des Horizonts eines Wert- und Charakter-Modells, das er von Mosca übernahm, ohne auf die Idee zu kommen, dieses mit dem Konzept Stammers zu kontrastieren, was angesichts seiner politisch-intellektuellen Zielsetzung ja immerhin nahe gelegen hätte. Im Jahr 1955 erschienen in den Gewerkschaftlichen Monatsheften sogar zwei Aufsätze, die sich mit Elite-Modellen beschäftigten: der oben erwähnte von Theo Tilders über die Funktion des Bildungssystems als Ausleseinstanz der Elite und ein kurzer Text von Helmut Plessner, der noch ganz dem Problem der Begriffsbestimmung verpflichtet war. 172 ) Wie so viele deutsche Autoren in diesem Jahrzehnt ging Plessner dabei nicht den Weg einer möglichst präzisen ideengeschichtlichen Rekonstruktion der verschiedenen Elite-Konzepte, sondern er füllte den Elite-Begriff gewissermaßen „spontan" mit vorhandenem Meinungs- und Orientierungswissen. Im Wesentlichen war es Plessner darum zu tun, mittels der Beobachtung von Ausleseprozessen die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen dem Klassen- und dem Elite-Begriff zu diskutieren. In dieser Hinsicht steht der Text im Kontext der rivalisierenden Zugänge von Otto Stammer und Michael Freund zum Problemzusammenhang von Elite, Herrschender Klasse und der politischen Willensbildung in der Demokratie, deren Texte nur wenige Jahre zuvor erschienen waren. Allerdings verwies Plessner selbst überhaupt nicht auf diesen Kontext, zitierte Freund an keiner Stelle und 170

) Otto Stammer. Demokratie und Elitenbildung, in: GMH 4.1953, S. 294-97; ders.: Die politische Verantwortung von Unternehmern und Gewerkschaften, in: FH 8.1953, S. 844-54. 171 ) Helmut Wickel: Die herrschende Klasse, in: GMH 5.1954, S. 588-92. m ) Helmut Plessner: Über Elite und Elitenbildung, in: GMH 6.1955, S. 602-06.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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Stammer nur einmal, übrigens recht irreführend, wie gleich zu zeigen sein wird. Daher wirkt der kurze Text seltsam beziehungslos und fragmentarisch. Plessner koppelte, unter Berufung auf Pareto, den Elite-Begriff an die Leistungsauslese und lehnte eine Orientierung an Modellen sozialer Schichten ab. 173 ) Gerade aufgrund seiner Bindung an die Leistungsauslese sei der EliteBegriff „populär" geworden. Politisch liege aber genau darin eine große Bedrohung: „In der Popularität des Blitebegriffs zeigt sich die der modernen Massendemokratie inhärente Gefahr, in totalitäre Systeme mit manipulierter Elitebildung umzuschlagen. Wo die Kaderpolitik des Ostens von derjenigen der westlichen Faschismen sich auch unterscheiden mochte, in der Praxis der Bildung bevorrechteter Gruppen und Schichten laufen sie auf dasselbe hinaus. Durch ein besonderes Elitebewusstsein wie durch ein ihnen von oben verliehenen Sozialprestiges schaffen Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus gleichartige Funktionseliten." 174 )

In diesem Zitat verdichten sich zahlreiche Bestandteile des zeitgenössischen Meinungswissens. Die Warnung, dass sich die „Massendemokratie" in eine totalitäre Herrschaftsform verwandeln könne und dass sich die ideologisch hochgradig gefestigten bolschewistischen Kader den orientierungslosen und mit mangelhafter Wertbindung ausgestatteten westlichen „Führungsgruppen" als überlegen erweisen könnten, gehörte zu den feststehenden Topoi in den Texten der großen Kulturzeitschriften sowie auf den Tagungen der Evangelischen Akademien und bildete eben den Ausgangspunkt für die dort laufenden Versuche, eine christlich geformte und gebundene Wert- und Charakter-Elite zu schaffen. Auch ist es bezeichnend, dass Plessner den negativ besetzten 175 ) Begriff der „Funktionselite" an dieser Stelle einführte - um gleich darauf ausgerechnet Otto Stammer als Kronzeugen für den Zusammenhang zwischen solchen Gruppen und totalitären Systemen anzuführen. Die Passage zeugt daher auch von den Schwierigkeiten und Denkblockaden selbst humanwissenschaftlich geschulter Zeitgenossen bei der Rezeption des Stammer'schen Ansatzes und erklärt damit dessen relative Marginalität in den Diskussionen über den Elite-Begriff während der 1950er Jahre. Weitaus einfacher scheint dagegen die Lektüre der einschlägigen Überlegungen Karl Mannheims über Elitetypen und Verfallsprozesse der Eliten gefallen zu sein, auf den sich Plessner mehrfach bezog und mit dem offensichtlich Übereinstimmungen in den Grundannahmen der Massen-Doxa bestanden. 176 ) Im Weiteren warnte Plessner vor übertriebenen Hoffnungen, „Elitenbildung für grundsätzlich manipulierbar und planbar zu halten". 177 ) Damit nahm 173

) Plessner. Über Elite und Elitenbildung, S.603. ) Plessner: Über Elite und Elitenbildung, S.604. 175 ) An einer späteren Stelle sprach Plessner vom „ungebildete(n) Könner, dem Funktionär seines Fachs". Plessner. Über Elite und Elitenbildung, S.606. 176 ) Plessner verwendete offenbar die Leidener Ausgabe von 1935 von „Mensch und Gesellschaft". 177 ) Plessner. Über Elite und Elitenbildung, S.605. 174

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Plessner allerdings eine ganz andere Haltung ein als einige konservative Geisteswissenschaftler, die kurz darauf ganz erstaunliche politische Vorstellungen aus der Elite-Doxa entwickelten. Erst 1958 erschien übrigens in der Neuen Gesellschaft ein Aufsatz, der Stammers Beitrag zur Diskussion positiv würdigte, und selbst hier blieb der Bezug auf Plessner wichtiger.178) Im gleichen Jahr, in dem Plessners Aufsatz erschien, veröffentlichten der Würzburger Professor für Öffentliches Recht Friedrich August von der Heydte 179 ) und der Privatdozent für Psychologie Karl Sacherl eine eher publizistisch als fachwissenschaftlich gehaltene „Soziologie der deutschen Parteien", 180 ) in der sie sich auch mit den „politischen Eliten" befassten. Den voraussehbaren Vorwurf politischer Voreingenommenheit - zu Gunsten eines demokratie-skeptischen, allerdings nicht unbedingt antidemokratischen Konservatismus181) - suchten sie gleich im Vorwort zu entkräften, mit einem, wie der Kontext zeigt, hämischen Verweis auf das Editorial zur ersten Nummer der SPD-Theoriezeitschrift Die Neue

Gesellschaft.

Auffällig ist zunächst ihre Bestimmung des Elite-Begriffs durch von der Heydte und Sacherl.182) Die „Klassiker" der Eliten-Theorien (Michels, Mosca, Pareto) wurden überhaupt nicht zitiert - was allerdings auch darauf hinweist, dass die Kanonisierung dieser Autoren durch die deutschen Sozialwissenschaften noch kaum vorangeschritten war; wie noch zu zeigen sein wird, begann diese tatsächlich erst um 1960. Immerhin wäre bei der Themenstellung ein Verweis auf die Arbeiten Otto Stammers sinnvoll gewesen. Stattdessen füllten die Autoren ihr Elite-Konzept mit sozialen Phantasmagorien und beriefen sich hauptsächlich auf einige verstreute Passagen aus den zu diesem Problem nicht gerade einschlägigen Werken des Staatsrechtlers Hans Nawiasky,183) daneben wenigstens auch auf den oben ausführlich untersuchten Aufsatz von Michael Freund über „Das Elitenproblem in der modernen Politik". Dieses 178 ) Dietrich Goldschmidt: Elitebildung in der Industriellen Gesellschaft, in: NG 5.1958, S. 34-41. m ) Günther: Denken, S.45, S.66, S.75, S. 100, ordnet von der Heydte dem „rechtskonservativen katholischen Lager" unter den bundesdeutschen Staatsrechtlern, wenn auch nicht den Antidemokraten um Carl Schmitt zu. 180 ) Was von der Heydte und Sacherl hier „einer breiteren Öffentlichkeit" vorlegten, „ist in der Tat keine Soziologie in dem engen Sinne, in dem die eine oder die andere Schule diesen Begriff bestimmt; es ist Soziologie im weitesten Sinne als Lehre von einer Erscheinung der Gesellschaft, die als solche - in ihrer Stellung im sozialen Gefüge und in ihrer eigenen sozialen Struktur - möglichst in ihrer Ganzheit betrachtet werden soll." Heydte und Sacherl·. Soziologie, S.XIII. 181 ) Tatsächlich konnte das Buch von Heydte und Sacherl auch vehement antidemokratisch gelesen werden, wie eine Rezension zeigt, deren Titel einem Zitat aus dem Buch entnommen ist. Paul Ludwig: Die Abtreibung der Eliten, in: Neue Politik (Hamburg) 2.1957 H. 12, S.5/6. 182 ) Heydte und Sacherl: Soziologie, S. 38-42. 183 ) Hans Nawiasky (1880-1961) gehörte in der Weimarer Republik bemerkenswerterweise zu den prorepublikanischen und eher liberalen Staatsrechtlern und musste 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung emigrieren. Günther: Denken, S.33, S.58.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

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geringe Interesse an einer Entwicklung des Begriffs aus der Auseinandersetzung mit den bereits existierenden Positionen, verstärkt durch die relative Fachfremdheit der beiden Autoren, führte zu einer großen Unschärfe ihres Elite-Modells, zumal die Autoren ihr Modell teilweise noch aus dem Horizont der Führer-Doxa entwickelten und von „Führern und Geführten" sprachen. 184 ) Von der Heydte und Sacherl sprachen vom „geheimnisvollen Glanz" und „magischer Anziehungskraft" und davon, dass in der „echte(n) Parteielite ... der ,Geist' der Politik, die ,Idee' des Politischen selbstschöpferisch zum Durchbruch kommt". 1 8 5 ) Ihre „Parteielite" zielte konsequent auf „das eigentlich Schöpferische im Menschen". 1 8 6 ) Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine derart konzipierte „Elite" mit den Verfahren „positivistischer" (sie!) Ansätze nicht zu erfassen sein konnte, also nicht objektivierbar war, sondern nur durch die „wirkliche Wesenseinsicht in die ganzheitlichen Zusammenhänge". 1 8 7 ) Das Beharren auf die „Wesensschau" verrät die geisteswissenschaftliche Orientierung dieser Art von Humanwissenschaft und ihrer Verwurzelung im Literarisch-Politischen Feld sowie die Ablehnung einer Autonomisierung der Sozialwissenschaften. 188 ) Wir finden daher bei Heydte und Sacherl alle Topoi, die während der 1950er Jahre die Elite-Vorstellungen in der gehobenen Publizistik und an den Evangelischen Akademien bestimmten: Den Gegensatz zwischen der Elite und der Masse (Prestige-Eliten waren für die Autoren undenkbar, weil sie den Elite-Status vom Urteil der „Massentribunale" abhängig gemacht hätten), den Gegensatz zwischen „echter" Elite und bloß prätendiertem Elite-Status, zwischen echtem Elite-Individuum (bei Heydte und Sacherl „Führer") und „Funktionär". Ebenso einleuchtend ist, dass nach Ansicht der Autoren derartige „Eliten" nicht „im Sinne moderner rationaler .Schulung' zu ,erziehen'" seien, „sie müssen vielmehr wachsen",189) An welchen Orten dieses Wachstum erfolgen sollte, blieb dagegen unklar; auf mehreren

184

) Heydte und Sacherl: Soziologie, S.40. ) Heydte und Sacherl: Soziologie, S.210. 186 ) Heydte und Sacherl: Soziologie, S.211. 187 ) „Die ideelle Komponente bringt es mit sich, dass von einer (naturwissenschaftlich) exakten' Erkennbarkeit und Bestimmbarkeit der jeweiligen tatsächlichen Elite keine Rede sein kann." Heydte und Sacherl: Soziologie, S.211, auch für das Folgende. 188 ) Diese Ablehnung kommt besonders im Beharren auf die Erkenntnisform der „Wesensschau", die allen „Gebildeten" (oder „Geistigen") - der Zusammenhang von „Elite", „Geist" und „Bildung" lag für die Autoren auf der Hand - offen stand, und in der Zurückweisung von Erkenntnisweisen, die ein hohes Maß an disziplinarem Spezialwissen voraussetzen, zum Ausdruck: „Es ist daher - bei dem allgemeinen Schrei nach ,Exaktheit' (der allerdings nur die Kehrseite eines tiefgreifenden kulturellen Substanzverlustes ist) - nicht müßig, abschließend darauf hinzuweisen, dass es sich trotzdem nicht bloß um einen erkenntnistheoretischen ,Notbehelf handelt, sondern um eine vollgültige Art der Erkenntnis, ja um die sozialen Phänomenen einzig angemessene Erkenntnismethode überhaupt, die alle sogenannten .exakten' Verfahren an Tiefe und damit letzten Endes auch an Verlässlichkeit bei weitem übertrifft." Heydte und Sacherl: Soziologie, S. 211/12. ,89 ) Heydte und Sacherl: Soziologie, S.42 (Hervorhebung im Original). 185

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Seiten 190 ) wurden nur die Probleme und Widerstände gegen die Bildung einer echten politischen Elite erörtert, aber keine konkreten beziehungsweise institutionellen Vorschläge gemacht, mit anderen Worten: Auch Heydte und Sacherl verwickelten sich am logischen Ende ihres intellektuellen Unterfangens in die Aporien der Wert- und Charakter-Modelle. In gewissem Sinne bedurfte es daher eines noch schlichteren oder zumindest stärker rückwärts gewandten Konservatismus, um kohärente - wenn schon nicht realitätstüchtige - Ideen zur Schaffung einer politischen Elite, die keine Funktions- beziehungsweise Positions-Elite sein sollte, zu entwickeln. Ein solcher Konservatismus existierte in den intellektuellen Milieus der 1950er Jahre durchaus. In einem von ihnen reifte gegen Ende des Jahrzehnts die Idee einer Verfassungsänderung zur Schaffung eines „Oberhauses" - das mehr oder weniger explizit den Bundesrat ersetzen sollte - zu Bildung einer „politischen Elite". Im Jahr 1957 erschien die überarbeitete, bei Hans-Joachim Schoeps in Erlangen entstandene Dissertation von Joachim H. Knoll über „Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie", 191 ) die genau dieses politisch-ideelle Projekt verfolgte. Knoll, der später zum Professor für Pädagogik avancierte, war der erste deutschsprachige Autor, der zumindest damit begann, die bereits verfasste Literatur zum Elite-Thema zu sichten. Auch wenn seine Arbeit in dieser Hinsicht bei weitem nicht die Gründlichkeit und Tiefenschärfe entwickelte, mit der wenige Jahre später Urs Jaeggi und Hans Peter Dreitzel vorgingen, und Knoll die Literatur nach den Maßstäben seines eigenen vorab entwickelten Elite-Begriffs beurteilte, so unternahm er zumindest den Versuch einer systematischen Übersicht über die vorhandenen Positionen im Raum der Diskussion, und zwar bis hin zu den neuesten Veröffentlichungen von Max Graf Solms, Gerhard Schröder und Otto Stammer - letztere lehnte Knoll übrigens heftig ab. 192 ) Seinen eigenen - konservativen, bisweilen monarchistischen - Standpunkt bezeichnete er als „liberal", und als Ausfluss des Altliberalismus des 19. Jahrhunderts lässt sich wohl auch sein eigenes Elite-Konzept verstehen: „Elite in liberaler Vorstellung bedeutet: Gruppe von Menschen, die über Bildung oder Besitz verfügt und aus festgegründeter sozialer und freiheitlicher Weltanschauung ihr Leben gestaltet, mit hervorragenden fachlichen Qualitäten ihrer Lebensgemeinschaft dient und mit einer Souveränität im Bereich des Geistigen begabt ist." 193 )

190

) Heydte und Sacherl·. Soziologie, S.41-47. ) Die ein Jahr zuvor eingereichte Qualifikationsschrift trug noch den Titel „Elitebildung im Liberalismus des Kaiserreichs"; die veröffentlichte Fassung stimmte mit dieser weitgehend überein. 192 ) Knoll bezeichnete Stammers Warnung vor einer Verfestigung und sozialen „Verharschung" einmal an der Macht befindlicher Gruppen als „Wunschbild", wobei er nicht empirisch-erfahrungswissenschaftlich argumentierte, sondern ganz doxisch feststellte: „Der Kampf um die Macht ist eine Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Oligarchien." Knoll: Führungsauslese, S.29. 193 ) Knoll·. Führungsauslese in Liberalismus und Demokratie, S. 13. An anderer Stelle definierte Knoll ganz ähnlich die „Elite" als „eine Gruppe der Bildungs- und Besitzkräfte, die sich kraft eminenter fachlicher Begabung, klarer Weltanschauung und einer Souverä191

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Es ist dabei sehr bemerkenswert, dass Knoll - dessen Buch ja von der „Führungsauslese" handelt - einen Elite-Begriff konstruierte, der selbst in keiner Weise auf der Kategorie der Auslese beruhte, sondern allein auf Besitz: ökonomischem, kulturellem, weltanschaulichem und charakterlichem Kapital und Vermögen. Von dieser Elite-Konzeption aus inspizierte Knoll die Formen und Ideen zur Besetzung politischer Leitungspositionen von der Zeit des Freiherrn vom Stein bis in die Gegenwart. 194 ) In diesem Zusammenhang diskutierte er auch die verschiedenen historischen Ausprägungen eines Oberhauses - einer Ersten parlamentarischen Kammer - und die Vorschläge zu deren Verbesserung und fand dafür geradezu emphatische Worte: „Oberhaus - das ist für die Liberalen der Inbegriff einer kultivierten Politik, der abwägenden Entscheidung, des konstruktiven Konservatismus, ist der höchste Grad politischer Nobilität gewesen. Die Erste Kammer sollte eine Stätte der Auserlesenen und der Auslese sein. Das liberale Oberhausideal entstand aus der Sehnsucht nach einer stilbildenden, der Begehrlichkeit des Parteikampfes entrückten Einrichtung." 195 )

Etwas abgeschwächt gilt dieser Befund auch für Knolls Urteil zur Stellung des Adels in der (alt)liberalen Gesellschaftstheorie. 196 ) Doch vor allem der Oberhaus-Gedanke zog sich durch die verschiedenen Passagen des Buches. Dieser mehr als wohlwollende Darstellung liberaler und konservativer Ideen zur Einrichtung einer Parlamentskammer, deren Mitglieder nicht gewählt, sondern ernannt werden, stellte Knoll die Verfallsgeschichte des politischen Systems der Bundesrepublik entgegen. Wie viele andere Konservative war er der Überzeugung, dass die schrankenlose Demokratie - zu der für ihn auch der Wohlfahrtsstaat gehörte - in den Totalitarismus münden werde. 197 ) In der Pathologie der Parteiendemokratie verlören die Parlamente ihren Charakter als demokratisch legitimierte Repräsentativorgane. Bei diesem Befund stützte sich Knoll übrigens auf Ergebnisse der frühen empirischen Forschung in der Politikwissenschaft, die in der von Dolf Sternberger herausgegebenen Reihe „Parteien, Fraktionen, Regierungen" publiziert worden waren. Das zeigt, dass sich die heute vielleicht bizarr anmutenden Überlegungen Knolls während der 1950er Jahre keineswegs derart außerhalb der Hauptströmungen politischen Denkens bewegten. Als Chiffre der politischen Situation in der Bundesrepublik sah Knoll den von Theodor Eschenburg geprägten Terminus der „Herrschaft der Verbände", zog daraus jedoch überraschende Konsequenzen: einerseits eine mögnität im Bereich des Geistigen Autorität sicherte - das ist die liberale Konzeption". Knoll·. Die Elitebildung im Liberalismus des Kaiserreichs, S. 19, fast wortgleich in ders.: Führungsauslese, S.28. 194 ) Der Untersuchungszeitraum der Dissertationsschrift reichte nur bis in die Weimarer Republik. Für den verlegerischen Erfolg war dessen Verlängerung bis in die unmittelbare Gegenwart selbstverständlich von großer Bedeutung. 195 ) Knoll·. Führungsauslese, S. 82. m ) Knoll. Führungsauslese, S.86. 197 ) Knoll: Führungsauslese, S. 209-39, auch für das Folgende.

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liehst weitgehende Trennung von Parteien und Beamtenschaft, die ihre einstige Neutralität verloren habe (auf welche Weise das geschehen sollte, führte Knoll allerdings nicht aus) - andernfalls falle „das Beamtentum heute ... im Hinblick auf die Bildung einer staatlichen Führungsschicht... weithin aus" 198 ) - und andererseits die Integration der Verbandsvertreter in eine zu bildende Erste Kammer. Der Vorteil dieser auf den ersten Blick widersinnigen Lösung bestünde darin, dass die Intransparenz der Verflechtung von Parteien und Verbänden beseitigt würde und die Verbandsführer echte Verantwortung übernähmen. Wie aber wäre eine neue politische Elite zu schaffen, die Knolls oben zitierten Kriterien entsprechen könne? Auch Knoll war der Meinung, dass Eliten nicht „gezüchtet" werden könnten - wie Heydte und Sacherl und viele andere konservative Wissenschaftler und Intellektuelle hielt er eine langsame, kontinuierliche und vor allem nicht manipulierte (das heißt: eine „organische") Entstehungsweise für notwendig. Der Weg dahin könne immerhin über den „traditionsgebundenen Institutionsgedanken" führen. Ein Beispiel dafür sah er im bayerischen Senat, trotz dessen Machtlosigkeit. Und tatsächlich findet sich hier eine weitere Gemeinsamkeit mit der obigen „Soziologie der deutschen Parteien", denn wie deren Autoren bezog sich auch Knoll an dieser Stelle auf Hans Nawiasky, der maßgeblich an den Beratungen zur Bayerischen Landesverfassung teilgenommen hatte. Was Knoll hier zu finden glaubte, waren „sachliche", „parteipolitisch neutrale" Auseinandersetzungen, ein „parteientzogener" Stil der „produktiv-vornehmem Politik", mit anderen Worten, Knoll artikulierte Phantasmagorien eines politischen Klassenrassismus, der sich der Zumutungen der Massendemokratie, in welcher erstmals unterbürgerliche Schichten mit Macht die politische Bühne betreten hatten, mittels verbindlicher Handlungsweisen aus einer soziokulturellen Synthese aus Adel und Bürgertum zu erwehren erhoffte. Knoll konnte eine ganze Reihe von Politikern anführen, die ihm brieflich ihr Bedauern darüber versichert hätten, dass „der Parlamentarische Rat den Weg zur Ersten Kammer im traditionellen, qualitätsbestimmten Sinn nicht gefunden hat", darunter der extrem konservativ-katholische ehemalige bayerische Kultusminister Alois Hundhammer (CSU) - genannt „der schwarze Schatten über Bayern" 199 ) - , die Alterspräsidentin des Bundestages Marie-Luise Lüders (FDP) oder Bundespostminister Ernst Lemmer (CDU) - tatsächlich hatten sich die beiden letzteren, die übrigens beide aus der DDP-Tradition der Weimarer Republik stammten, lediglich gegen die Institution des Bundesrates als Ländervertretung ausgesprochen. Doch vor allem stützte sich Knoll auf einen zunächst unveröffentlichten Vortrag seines Doktorvaters Hans-Joachim Schoeps mit dem Titel „Elitebildung in der modernen Massengesellschaft". Und bei Schoeps finden wir den 198

) Knoll: Führungsauslese, S.224. ) Schwarz: Adenauer, Bd. 2, S.690.

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Topos vom Oberhaus als einer Einrichtung zur politischen Elite-Bildung, von der Einrichtung einer Parlamentskammer, deren Mitglieder nicht gewählt, sondern ernannt werden, voll ausgebildet. Schoeps, Professor für Religionsund Geistesgeschichte in Erlangen, veröffentlichte 1958 eine Essaysammlung mit dem programmatischen Titel „Konservative Erneuerung", in der er eine Reihe von Vorträgen und Aufsätzen zur politischen Ideengeschichte Deutschlands versammelte. 200 ) In diesen Aufsätzen entfaltete Schoeps ein ganzes Panorama konservativer Doxa über die Ordnung der sozialen Welt. Das Thema der Elite-Bildung leitete Schoeps dabei noch im Artikel über „Preußentum und Gegenwart" mit ersten Überlegungen zur „Aufgliederung der modernen Massen zwecks Ermöglichung der Elitebildung" ein. 201 ) Im Nachvollzug der wichtigsten intellektuellen Strömungen nach 1945 ging Schoeps von der Massen-Doxa und der mit ihr verbundenen Phantasmagorien aus: der anonymen, formlosen und traditionslosen Menschenmenge, die ob ihrer Inhumanität in den Totalitarismus und den Völkermord führt. 202 ) Als Gegenbewegung empfahl er - offensichtlich gänzlich rückwärtsgewandt - die „organische Aufgliederung" der Masse zur Wiederbelebung „korporativer Lebensformen" (sie!) nach Vorbild von Ideen der Brüder Gerlach in den 1850er Jahren. Was hier als „rückwärtsgewandt" bezeichnet wird, ist also in erster Linie eine politisch-ideelle Bindung an die ständische Doxa der Notwendigkeit einer sozialharmonischen Ordnung durch die Kongruenz von politischer und sozialer Macht. Die materielle Basis dieses sozialen Glaubens lag in den Umbruchs- und Krisenjahrzehnten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als es aus Sicht seiner Anhänger galt, vor allem die Folgen politischer Dynamiken einzuhegen - eine Sorge, die in der späten Adenauerzeit jeder Grundlage entbehrte. Auch welcher Art diese korporativen Institutionen sein sollten, blieb vorerst offen. 203 ) Die gegenwärtige „Funktionärselite der Roboter" konnte nicht als Richtschnur dienen, denn sie „repräsentiert gerade das antipreußische Eliteprinzip kat' exoehen". 204 ) Der preußische Adel, konstituiert nicht durch Leistung, sondern durch „Vornehmheit" und durch die Orientierung an geistigen und moralischen Werten, war bedauerlicherweise von der Bühne der Geschichte verschwunden. Und so stand für Schoeps vorläufig nur fest, dass die 20

°) Bedauerlicherweise enthält das Buch weder Angaben über den Entstehungszusammenhang der einzelnen Texte noch über den Zeitpunkt, an dem sie verfasst wurden. Möglicherweise sind sie in chronologischer Reihenfolge angeordnet; dafür spricht jedenfalls die argumentative Entwicklung der Themenbehandlung. Der von Knoll zitierte Vortrag vor dem Rhein-Ruhr-Club (also vor einer Unternehmer-Zusammenkunft) aus dem Jahr 1957, „Elitebildung in der modernen Massengesellschaft", findet sich hier unter dem Titel „Probleme der Elitebildung in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft". 201 ) Schoeps: Erneuerung, S. 104. 202 ) Schoeps: Erneuerung, S. 105. 203 ) Das modelltheoretische Problem der Beziehung zwischen Staat und Korporationen war aber von den konservativ-korporatistischen Theoretikern während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht gelöst worden; vgl. Kondylis: Konservativismus, S.496. 204 ) Schoeps: Erneuerung, S. 107.

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5. Die neue symbolische Ordnung

„Institutionalisierung einer führenden Gesellschaftsschicht... heutzutage freilich nicht mehr an Voraussetzungen des Standes und der Herkunft gebunden sein darf, sondern sich rekrutieren müsste aus allen Schichten der Gesellschaft." 205 ) In dem aus einem Vortrag entstandenen Aufsatz „Probleme der Elitebildung in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft" spann Schoeps diesen Faden weiter. Auch hier ging sein rückwärtsgewandter und monarchistisch-ständischer Konservatismus 206 ) also von der Massen-Doxa aus; letzteres allerdings zumindest vordergründig angepasst an die neuere soziologische Terminologie (die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft"). Um den Staat nicht zur „Beute außerparlamentarischer Interessengruppen" werden zu lassen, könne es sich „nur darum handeln, die Gefahren durch den Einbau von Gegengewichten zu vermindern und so die Demokratie zu stabilisieren". 207 ) Deutlich wird hier, dass sich der deutsche Konservatismus der 1950er Jahre von demjenigen der 1920er und 30er Jahre auch darin unterschied, dass die demokratische Ordnung nicht mehr grundsätzlich abgelehnt, sondern nach Möglichkeiten gesucht wurde, diese in konservativem Sinne auszugestalten. Ein Mittel dieser Ausgestaltung war die Suche nach einer neuen „Führungsschicht", einer politischen „Elite". Allerdings war Schoeps überzeugt, dass es eine „wirkliche" Elite - wie der preußische Adel sie dargestellt hatte - nicht mehr gebe und die Bildung derselben unmöglich sei; diese Feststellung zieht sich durch den gesamten Text unbeschadet der Tatsache, dass Schoeps darin ständig die Möglichkeiten und Probleme der Elitebildung untersuchte und seine Erörterung nicht nach wenigen Seiten mit der Feststellung der Unmöglichkeit einer Elite-Bildung beendete. Die konsequenteste und weitreichendste Lösung des Problems stellte in dieser Konstellation natürlich „die Umwandlung unserer Staatsform in die der parlamentarischen Monarchie englischen Musters" dar; sie „könnte viele Probleme lösen". Denn „die Monarchie (hat) für unser Thema deshalb eine große Bedeutung, weil sie typusbildende Kraft besitzt und die Auslese der staatlich Denkenden [sie!] durch Nobilitierung institutionalisieren könnte. 208 ) Es ist sehr fraglich, ob die Rückwärtsgewandtheit dieses Konservatismus noch deutlicher werden kann als durch einen Vorschlag im Jahre 1958 - Schoeps strich diese Passage auch nicht drei Jahre später in der zweiten Auflage - , die Bundesrepublik in eine Monarchie umzuwandeln. Die Idee war jedoch insofern konsequent, als die konzeptionellen Probleme der Bildung einer politischen Elite als Wert- und Charakter-Elite, deren gedachte sozial-moralische Qualitäten auf der Herkunft aus einem stabilen, sozial verfestigten Milieuzusammenhang mit hoher materieller Privilegierung stammen sollten, in der Realität einer demokratisch verfassten Industriegesellschaft kaum eine andere 205

) ) 207 ) 208 ) 206

Schoeps: Schoeps: Schoeps: Schoeps:

Erneuerung, Erneuerung, Erneuerung, Erneuerung,

S. 109 (Hervorhebung im Original). S.119. S. 123. S. 133.

5.1 Versuche der Elite-Bildung

431

Lösung zuließen, als die Rahmenbedingungen der Ausleseprozesse grundlegend politisch zu verändern. Allerdings war die Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland bereits um 1960, vorsichtig gesagt, sehr unwahrscheinlich. Aus diesem Grund unterbreitete Schoeps eine Reihe weiterer Möglichkeiten und diskutierte sogar deren Realisierungschance. Die erste Variante lautete „Elitebildung durch das Wahlverfahren". 209 ) Hier präsentierte er zunächst die altbekannten konservativen Bedenken gegen das allgemeine Wahlrecht, also zum einen das unzulängliche politische Wissen bei der breiten Masse der Wähler - ein Topos, der schon den argumentativen Ausgangspunkt von Winfried Martini dargestellt hatte. Zum anderen kämen durch das gleiche Wahlrecht „die wertvollen Minoritäten nicht zum Zug". Als Ausweg ging Schoeps jedoch über Martini hinaus und propagierte faktisch die Abschaffung des gleichen Wahlrechts mit „zusätzliche(n) Wählerstimme(n) für solche Staatsbürger ... die von Amt und Beruf her im Gesellschaftsganzen ein erhöhtes Maß an Verantwortung besitzen oder es freiwillig aus eigener Initiative auf sich genommen haben". Unter Verweis auf Julius Edgar Jung und Ernst Jünger das „Plural- oder Qualitätswahlrecht" einzuführen, um „die Demokratie ... vor sich selbst (zu schützen)" - das musste auch auf konservativer Seite argumentativ wenig zugkräftig erscheinen, gerade weil der Mut fehlte, das demokratische System als solches in Frage zu stellen. Gerade auf Seiten der konservativen Avantgarde um Arnold Gehlen - die ihrerseits um 1960 aufhörte, Avantgarde zu sein - findet sich keinerlei Hinweis auf eine ernsthafte Beschäftigung mit den Schriften von Schoeps. Zu weit entfernt war offenbar dessen Ansatz von ihrem paretianischen Blick (dass eine andere Behandlung der Wahlrechtsfrage in dieser Perspektive durchaus möglich gewesen wäre, zeigen die Schriften Gaetano Moscas, der das allgemeine Wahlrecht nicht kritisiert hatte, um die Demokratie vermeintlich vor sich selbst zu schützen, sondern um den Nachweis zu führen, dass in Wahrheit doch in allen Epochen der Geschichte nur eine kleine Minderheit herrsche). Schoeps wiederum gelangte am Ende seiner Ausführungen doch zu der Erkenntnis, dass „die Parteiendemokratie ... nur abzuschaffen (ginge) um den Preis der Diktatur", 210 ) und so landeten seine Wunschträume hart auf dem Boden der Realität. Übrig blieb in dieser Hinsicht lediglich die Aufforderung, „die Möglichkeiten zur Elitebildung erst einmal zu erkennen und dann bewusst auszunutzen". 211 ) Die zweite Variante lautete demnach: Einführung eines Zweikammersystems, „das unter den gegebenen Verhältnissen wohl die stärkste Aussicht hat, politische Elitebildung zu gewährleisten". 212 ) Von einer „Ersten Kammer" nach Vorbild des Preußischen Herrenhauses oder des englischen House of Lords und nach Umgestaltung des Bundesrates versprach sich Schoeps, dass 209

) ) 2n ) 212 ) 210

Schoeps: Schoeps: Schoeps: Schoeps:

Erneuerung, Erneuerung, Erneuerung, Erneuerung,

S. 134-41, auch für das Folgende. S. 139. S. 140. S. 141.

432

5. Die neue symbolische Ordnung

sie „als ein Elitegremium korrigierend und nobilitierend auf die Parteipolitik" einwirke, „indem sie selber ein überparteiliches Prinzip vertritt". 213 ) Dabei sollte ein Drittel der Mitglieder - „Männer von Charakter, Weitblick und Format" - auf Lebenszeit vom Bundespräsidenten ernannt werden, ein weiteres Drittel von den Bundesländern delegiert und das letzte Drittel schließlich berufsständisch aus den Spitzenverbänden befristet entsandt werden. Darin sah er „ein Gegengewicht zu dem rein parteipolitisch nach arithmetischen Prinzipien aufgebauten Parlament" errichtet. 214 ) Im Horizont unserer Fragestellung ist dabei weniger der offene Widerspruch interessant, in den sich Schoeps an dieser Stelle verwickelte - warum sollten die Funktionäre der Interessenverbände, deren Lobbyarbeit eben noch als zerstörerisch für das politische System beschrieben wurden, nun durch die Aufnahme in die Erste Kammer zur politischen Elite nobilitiert werden? als vielmehr die offensichtliche Unmöglichkeit, diese politischen Ideen zu verwirklichen und damit die - im schlechten Sinne - „Ortlosigkeit" dieser politischen Utopie. Sollten die Parteien der Bundesrepublik selbst ihrer Teilentmachtung zustimmen; sollten die Wähler auf ihre demokratischen Rechte verzichten? Befand sich das politische System in einer derartigen Krise, dass sich gravierende verfassungsrechtliche Änderungen abzeichneten? Das war schon Ende der 1950er Jahre nicht zu erwarten. Und so lag der Gedanke nahe, dass „die Einrichtung eines Senats, einer Ersten Kammer oder eines Oberhauses", einer „Stätte der politische(n) Nobilität" nicht nur auf der politischen Tagesordnung der Bundesrepublik gar nicht zur Debatte stand - ganz im Unterschied zu Spätphase der Weimarer Republik, als entsprechende Überlegungen Julius Edgar Jungs immerhin mitten hinein in eine Staatskrise fielen - , sondern dass diese „politische Elite" gar nicht fehlte angesichts der am Ende der Ära Adenauer erreichten politischen Stabilität: Zu dieser Zeit wurde mehr und mehr gerade die Stabilität (oder Stagnation) als politisch-intellektuelles Problem wahrgenommen, nicht ihr Fehlen. Deutlich wird an diesen politischen Phantasmagorien und Spekulationen jedoch auch die damals typische ständische Auf- oder Überlagerung der Elite-Doxa. Und es scheint gerade dieses Mischungsverhältnis gewesen zu sein, das die Integration des intellektuellen Konservatismus in die neue Demokratie ermöglichte. Denn - so fern jeder Realisierungschance und so bizarr diese Vorschläge heute anmuten - es darf nicht der Schluss gezogen werden, Schoeps sei damit ein reiner Exzentriker geblieben und habe keinerlei Gehör gefunden. Wiederholt schrieb er für die Neue Rundschau, für die Deutsche Rundschau, den Monat, die Universitas, den Merkur und für die Neuen Deutschen Hefte. Auf der Loccumer Tagung „Probleme der Autorität" im Oktober 1958 präsentierte er

213

) Schoeps: Erneuerung, S. 142. ) Schoeps: Erneuerung, S. 143.

2U

5.2 Von der Elite zu den Eliten

433

eine komprimierte Fassung der hier untersuchten Vorschläge. 215 ) Im Merkur - wahrlich keine Rezensionszeitschrift! - besprach der Schriftsteller und Essayist Curt Hohoff, den man durchaus zum engeren Kern des politisch-literarischen Establishments der Bundesrepublik zählen kann, ausführlich die Werke von Schoeps. 216 ) Schoeps repräsentierte einen Teil des konservativen Milieus, der sich zwar in seinen politisch-ideellen Vorstellungen als äußerst rückwärtsgewandt erwies, jedoch keinerlei genuin politische Anstrengungen unternahm, die politische Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Der Elite-Code, in dessen Sprache die Kritik an der repräsentativen Demokratie artikuliert wurde, bewirkte gerade die Integration dieser Akteure in die Demokratie (oder zumindest in das Repräsentativsystem) durch das Versprechen ihrer konservativen Ausgestaltung. Andererseits bewies nichts nachdrücklicher das Scheitern aller Wert- und Charakter-Modelle als der Traum von der Bildung einer politischen Elite durch eigene - antidemokratische - Institutionen. Nur die gleichartige Erfolglosigkeit der Evangelischen Akademien dürfte eine vergleichbare wissenschaftlich-intellektuelle Wirkung entfaltet haben. Aus diesem Grund leiteten die ersten Autoren, die die Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs einleiteten, namentlich Urs Jaeggi und Hans Peter Dreitzel, ihre Untersuchungen mit einer prononcierten Ablehnung aller Vorstellungen einer materiell beziehungsweise politisch privilegierten Wert- und Charakter-Elite ein und empfahlen zunächst eine gründliche Lektüre der „klassischen" Elite-Theorien und das Entwerfen eigener Modelle erst aus der Auseinandersetzung mit diesen „Klassikern" heraus. 2 1 7 ) Gerade weil jener konservative Traum zum Ziel hatte, eine privilegierte quasi-ständisch definierte Gruppe zu schaffen beziehungsweise ihre Regeneration zu ermöglichen, beruhte die Vorstellung, eine politische Elite mittels eines Oberhauses zu kreieren, auf Elite-Konzepten, die sich (noch) nicht durch die Kategorie der individuellen Auslese, sondern allenfalls der kollektiven Auserlesenheit konstituieren konnten.

5.2 Von der Elite zu den Eliten. Die Pluralisierung des Begriffs Vergegenwärtigt man sich den Diskussionsstand der sozialen und symbolischen Ordnung der Gesellschaft bis zur Mitte der 1950er Jahre, so erscheint es fraglich, ob der bis zu dieser Zeit in der Bundesrepublik entwickelte und nun in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit zirkulierende Elite-Begriff

215

) Hans Joachim Schoeps: Probleme der Autorität und Elitebildung in unserer Zeit, in: L061, S. 16-25. 216 ) Curt Hohoff. Das doppelte Gesicht Preußens, in: Merkur 13.1959, S. 181-86. Hohoff diskutierte allerdings hauptsächlich das Preußenbild in der neuren deutschen Geschichte und nicht die hier erörterten Probleme. 217 ) Jaeggi: Elite, S. 12-14; Dreitzel: Elitebegriff, S. 1-9.

434

5. Die neue symbolische Ordnung

noch in die folgende Dekade hätte hinüber transportiert werden können. Festgelegt auf Wertbindungen und Charakterqualitäten, hatten sich alle Versuche als Fehlschlag erwiesen, ihn zur Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft und als movens einer symbolischen Erneuerung des Feldes der Macht durch konkrete Maßnahmen der Elitebildung zu verwenden. Die wichtigsten aus dem Ausland stammenden Ansätze zu einer Neubestimmung des Elite-Begriffs wurden von der Qualitätspublizistik, den geisteswissenschaftlich orientierten Humanwissenschaftlern und erst recht den intellektualisierenden Politikern, die in die Debatte eingriffen, ebenso wenig aufgegriffen wie der einzige bedeutende deutsche Beitrag (derjenige Otto Stammers), der langfristig in den Sozialwissenschaften auch durchaus große Wirkung entfalten konnte. Bei allem Erfolg, den die Evangelischen Akademien als neutrale Orte zur Diskussion von Zeitproblemen für sich verbuchen konnten - dass sich die hier anwesenden Unternehmer, Politiker und Wissenschaftler bereits durch die Erfahrung des „Gesprächs" als Elitemitglieder qualifiziert und konstituiert hätten, ließ sich nach außen nicht in einen Anspruch auf besondere soziale Schätzung umwandeln. Das Lamento von der fehlenden Elite mochte die verbreitete Demokratieskepsis treffend ausdrücken und zur Delegitimation der neuen politischen Ordnung während der ersten Hälfte der 1950er Jahre noch Anklang gefunden haben, doch die politischen Erfolge der Adenauer'schen Kanzlerdemokratie und die wirtschaftliche Prosperität jener Jahre ließen das Bedürfnis nach derlei Delegitimation zusehends geringer werden. Das größte Manko der zur Mitte der 1950er Jahre vorherrschenden EliteModelle bestand in ihrer mangelnden Offenheit für pluralistische Ansätze und damit in ihrer mangelnden Tauglichkeit für die empirische Untersuchung der Gegenwartsgesellschaft. Die politische Soziologie hatte gerade deshalb begonnen, Modelle mit einer größeren Realitätsadäquanz zu entwickeln, doch die Akteure im Literarisch-Politischen Feld erwiesen sich als unfähig, diese ausdrücklich nicht als normativ konzipierten Entwürfe aufzugreifen. Unterschiedliche Eliten, auch nur Teilgruppen einer Elite ließen sich innerhalb des Horizonts der Wert- und Charaktermodelle nicht identifizieren, ja sie mussten sogar als Bedrohung erscheinen, denn die Existenz unterschiedlicher, tendenziell miteinander konkurrierender Werteliten anzuerkennen hätte bedeutet, einen Pluralismus von Wertordnungen zu akzeptieren oder gar zu befürworten, und das erschien der Mehrheit der westdeutschen Intellektuellen während jener Jahre offenbar unmöglich. Die „Pluralisierung" des Elite-Begriffs - von der einen (Wert- und Charakter-)Elite zur Möglichkeit mehrerer (funktional oder positional definierter) Eliten und der damit verbundenen Richtungswechsel des intellektuellen mainstream - stellte deshalb die wichtigste intellektuelle Leistung innerhalb der westdeutschen Elite-Diskussion während der 1950er Jahre dar. U m diese Leistung zu verstehen, ist es zunächst notwendig, auf zwei Autoren einzugehen, die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen konnten, die jedoch auf eine höchst ambivalente Weise an ihr beteiligt waren - Robert Michels und Vilfredo Pareto - , und sich dann der westdeutschen

435

5.2 Von der Elite zu den Eliten

konservativen Avantgarde im Intellektuellen Feld zuzuwenden. Diese Vorgehensweise ist aus einer Reihe von Gründen notwendig. Die Wirkung der Schriften von Robert Michels vollzog sich in den 1950er Jahren zunächst kaum sichtbar, weil sie auf enge Kreise von Humanwissenschaftlern beschränkt blieb. Die ernsthafte Rezeption der Arbeiten von Vilfredo Pareto in Westdeutschland setzte sogar erst um 1960 ein. Deshalb tauchen beide Autoren aus eigenem Recht erst an dieser Stelle unserer Untersuchung auf. Die konservative Avantgarde um Arnold Gehlen und Helmut Schelsky schließlich wirkte trotz ihrer nur en passant vollzogenen Beschäftigung mit dem Elite-Begriff stark auf die publizistische Debatte (fast überhaupt nicht hingegen auf die sozialwissenschaftliche), jedoch wurde diese Wirkung erst gegen Ende der 1950er Jahre sichtbar. Ein gemeinsamer Zug verbindet darüber hinaus diese drei Ansätze und bündelte ihre Wirkung auf die westdeutsche Elite-Diskussion: ihre Nähe zu antidemokratischen Ideen und Haltungen, gepaart mit dem wissenschaftlichen Gestus äußerster Distanziertheit, Kälte und Objektivierung. 5.2.1 Robert Michels und die Tradierung

des

Elite-Begriffs

Der bereits 1936 verstorbene deutsch-italienische Soziologe Robert (Roberto) Michels war in den Diskussionen der westdeutschen Intellektuellen und Sozialwissenschaftler nach 1945 zunächst persona non grata. Zu heftig war seine Ablehnung der parlamentarischen Demokratie gewesen, zu nüchtern-objektivierend seine Bemerkungen zur „Gegenwartsfeindlichkeit" des Konservatismus der 1920er Jahre und dessen politisch-intellektuellen Aporien und zu emphatisch seine Begrüßung des italienischen Faschismus - Frank Pfetsch hat ihn sogar als „faschistischen Schriftsteller" charakterisiert - und zu früh sein Tod für eine Strategie der intellektuellen Distanzierung von jenem Regime, die zahlreiche deutsche Intellektuelle seit den späten 1930er und frühen 40er Jahren gegenüber dem Nationalsozialismus einschlugen, was ihnen über die Zäsur von 1945 hinaus fortwährende Wirkung ermöglichte. 218 ) Nicht einmal zur ideologischen Überhöhung des Kalten Krieges war sein Werk in den 1950er Jahren zu gebrauchen, weil er sich geweigert hatte, kommunistische Ziele und Praktiken als der westlichen, vor allem der anglo-amerikanischen Demokratie materiell und moralisch entgegengesetzt zu analysieren. Weder drangen seine Texte und Thesen bis zum Ende des Untersuchungszeitraums in die Debatten der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit ein, noch zirkulierten seine Ideen an den Evangelischen Akademien. Seine Aufsätze wurden nicht nachgedruckt, obwohl er Zeit seines Lebens immer auch publizistisch, keineswegs nur fachwissenschaftlich tätig gewesen war, und in den zeitkritischen Beiträgen dieser Jahre wurde er nicht einmal namentlich erwähnt. Das Schlagwort vom „eher-

218

) Pfetsch: Robert Michels, S.210, S. 223-27; Stölting: Robert Michels, S. 242-48.

436

5. Die neue symbolische Ordnung

nen Gesetz der Oligarchie",219) das Michels in seiner 1911 erstmals erschienenen „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" entwickelt hatte, fand keine Resonanz, obwohl es seinem Grundgedanken nach nicht weit entfernt war von dem sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit rasch ausbreitenden, oben dargestellten Topos von der ewigen Elite-Herrschaft. Mit anderen Worten, die oben skizzierten Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" Eliten-Modelle in den 1950er Jahren beschränkten auch die weitere Verbreitung seiner Ideen. Wer hätte sich auch für die Lektüre seiner Texte einsetzen sollen, wo Michels sich doch ausschließlich auf die sozialistischen und syndikalistischen Parteien Europas konzentriert und Liberalen und Konservativen kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Folglich trugen westdeutsche liberale und konservative Intellektuelle seine Texte nicht über die Schwelle der nationalsozialistischen Niederlage in die Bundesrepublik. Somit blieb die Auseinandersetzung mit Michels' Werk auf die Fachwissenschaft beschränkt: Stammer kommentierte das „Gesetz der Oligarchie" bezeichnenderweise ablehnend, weil - in der Tat - antidemokratisch (was, wie wir gesehen haben, in den 1950er Jahren ansonsten kein allgemeines Hindernis für die Verbreitung von Ideen darstellte); Schelsky zitierte Michels in anderem Zusammenhang zustimmend.220) Erst 1957 erschien ein Nachdruck der zweiten Auflage der „Soziologie des Parteiwesens", nun allerdings versehen mit einem Nachwort des einflussreichen Historikers Werner Conze, der sich als unorthodoxer Konservativer mit völkischer Vergangenheit für den sozialhistorischen Ansatz von Michels interessierte (den er allerdings „schwach" fand). 221 ) Conze lobte insbesondere die „historisch angewandte Massenpsychologie" als „faszinierend"; ein Zeichen dafür, dass die Massen-Doxa 1957 noch keineswegs vollkommen aus dem Denken der Intellektuellen und Wissenschaftler verschwunden war. Die vertiefte Rezeption der Arbeiten von Michels setzte dann im Wesentlichen erst Mitte der 1970er Jahre ein, nach dem Ende unseres Untersuchungszeitraumes.222) Und doch ist die Bedeutung seines Werkes, vor allem seiner „Soziologie des Parteiwesens", für die Durchsetzung der Elite-Doxa in Deutschland kaum zu überschätzen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens gehörte Michels vermutlich zu den wichtigsten „Importeuren" der Ideen Moscas und Paretos in den deutschen Sprachraum.223) Michels präsentierte deren Werke, die ja erst in den 1950er beziehungsweise 60er Jahren ins Deutsche

219

) Michels: Soziologie des Parteiwesens, bes. S. 351-69. °) Stammer: Elitenproblem, S.201, S.215; Schelsky: Schichtungsbegriff, S.335; ders.: Klassenbegriff, S. 387. 221 ) Conze: Nachwort, S. 381. Die Historiker Horst Stuke und Wolfgang Köllmann, die wie Conze der „Rothfels-Gruppe" angehörten, besprachen dieses Nachwort dann wiederum als „richtungsweisend für die Parteisoziologie". Vgl. Etzemüller. Sozialgeschichte, S.46. 222 ) Vgl. auch die Literaturangaben bei Stölting: Robert Michels, S.249. 223 ) Diese Ansicht vertritt auch Schwentker: Aristokratie, S. 671/72. 22

5.2 Von der Elite zu den Eliten

437

übersetzt wurden, einerseits in besonderen Aufsätzen, andererseits in seiner wichtigsten Monographie - eben der „Soziologie des Parteiwesens", die schon 1925 eine zweite Auflage und 1957 den Neudruck erfuhr und zwar nicht bloß en passant in einer Fußnote, sondern in intensiven Erörterungen. 2 2 4 ) Die Auseinandersetzung mit dem dort aufgestellten „ehernen Gesetz der Oligarchie" wurde nach 1945 zwingend für jede empirisch arbeitende sozialwissenschaftliche Untersuchung von Theorie und Praxis der Parteiendemokratie, denn aufgrund seines Bekanntheitsgrades im Feld der Sozialwissenschaften 225 ) und der Fülle der von Michels herangezogenen Literatur ließ sich sein Werk hier nicht ignorieren. Politologen und Soziologen stießen daher bei der Michels-Lektüre ganz zwangsläufig auf die Konzepte und Theorien von Mosca und Pareto. Zweitens verwendete Michels als einer der ersten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts den Begriff der Elite tatsächlich als ein zusammenhängendes Modell der sozialen Ordnung. Auch hier dürfte seine Wirksamkeit sich viel stärker in den Sozialwissenschaften als im publizistischen Feld entfaltet haben. Die gehobene Publizistik der späten 1940er und frühen 50er Jahre berief sich auf Ortega y Gasset und Wilhelm Röpke, die dem „Aufstand der Massen" einen „Aufstand der Elite" entgegenstellen wollten, um ihre Gegenwart zwischen Massengesellschaft und politisch-ethischer Notwendigkeit der Elite zu verorten, nicht auf Michels, der die Komplementarität dieser beiden sozialen Aggregate postuliert hatte, und auch nicht auf Paretos ewige Zirkulation der Eliten. Dabei erscheint der Elite-Begriff, wie Michels ihn einsetzte, in formaler Hinsicht durchaus typisch für seine Verwendung während des gesamten Untersuchungszeitraumes: Analytische Schärfe und formale Kohärenz waren ihm nämlich nicht zu eigen. Anders gesagt, „Elite" konnte bei Michels ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen. In den 1927 im Jahrbuch für Soziologie erschienenen „Prolegomena zur Analyse des nationalen Elitegedankens" meinte der Terminus nichts anderes als „Auserwähltheit". 2 2 6 ) Hier untersuchte Michels ganze Nationen hinsichtlich deren Vorstellungen, ein „auserwähltes Volk" zu sein. A m farbigsten wird der Elite-Begriff bei ihm jedoch in der „Soziologie des Parteiwesens" sowie in einem schmalen 1934 erschienenen Buch mit dem missverständlichen Titel „Umschichtungen in den herrschenden Klassen nach dem Kriege"; missverständlich, weil Michels kaum systematische Vergleiche zwischen der Morphologie der europäischen und US-amerikanischen Oberklassen vor 1914 und nach 1918 anstellte, sondern eher nach langanhaltenden sozialhistorischen Trends suchte, also nicht den

224

) Michels: Soziologie, bes. S. 352-54. ) Conze schrieb in dem erwähnten Nachwort, die „Soziologie des Parteiwesens" sei in der Zwischenkriegszeit „ungemein viel gelesen worden". Conze: Nachwort, S.379. 226 ) Michels: Prolegomena, passim. Konsequenterweise verzichtete Michels in diesem Beitrag auf jegliche Literaturangaben zum Elite-Begriff, wie Mosca, Pareto oder Sorel, deren Elite-Konzepte auf diese Problemstellung nicht anzuwenden waren. 225

438

5. Die neue symbolische Ordnung

Wandel, sondern die Persistenz sozialer Strukturen in den Vordergrund stellte. Das Buch enthält jedoch ein methodisch-theoretisches Zentralkapitel, betitelt „Zum Kreislauf der Eliten", in dem er auf der Basis der Schriften von Mosca, Pareto sowie seiner eigenen Forschungen eine Reihe von Grundannahmen und Ursachen der morphologischen Verschiebungen innerhalb der herrschenden Klassen entwickelte. 227 ) Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Übernahmen der Vorstellungen Paretos, wie es ja schon in der Kapitelüberschrift zum Ausdruck kommt. Allerdings stellte sich Michels' Variante dieses Kreislaufs deutlich weniger ausdifferenziert dar als bei Pareto, der eine ganze Systematik vorrationaler Antriebskräfte („Residuen") menschlichen Handelns entwickelt hatte, um jene Zirkulation zu erklären. Wichtiger jedoch als die geringere Komplexität der Problemstellung und seiner Lösung bei Michels ist in unserem Untersuchungszusammenhang, dass dieser geradezu offensiv die zentralen Kategorien seiner Untersuchungen immer wieder gegeneinander austauschte oder synonym verwendete. Für einen an Max Weber geschulten professionellen Soziologen ausgesprochen ungewöhnlich, bezeichnete Michels in den „Umschichtungen" die „Bourgeoisie" mal als „Klasse", dann wieder als „Schicht", sprach gelegentlich auch von „Klassenschichten" (damit waren aber keine Binnendifferenzierungen gemeint, also „Schichten" innerhalb von „Klassen"), dann wieder von „Elite", „Aristokratie" und der „politischen Klasse". Dies ist umso befremdlicher angesichts der auf den unmittelbar davor liegenden Seiten ausführlich vorgenommenen Präzisierung des Klassen-Begriffs in Form einer langen und subtilen begriffsgeschichtlichen Erörterung. 228 ) Darin verwarf Michels ausdrücklich die ökonomistischen Klassenmodelle der Erwerbs-, Besitz- und Berufsklassen ebenso wie alle polarisierenden beziehungsweise dichotomen Klassenkampfvorstellungen, um stattdessen eine Theorie der funktional konstituierten, gleichwohl sozialen Klassen zu favorisieren. 229 ) Vor allem aber stellte die „Elite" bei Michels nichts anderes dar als die Kollektivbezeichnung für die Gruppe der „Führer", mit anderen Worten, Elite-Begriff und Führer-Begriff waren bei ihm kategorial kaum getrennt. Beide konstituierten sich durch Charisma und Machtwillen. 230 ) Um welcherart soziales Aggregat es sich bei dieser „Elite" nun handelte - die durch ihre Tüchtigkeit Auserlesenen, die Mächtigen oder die durch ihre Außeralltäglichkeit positiv privilegierten Angehörigen einer sozialen beziehungsweise funktional bestimmten Gruppe - das blieb völlig offen. Auch zur Entstehung des „Führertums" machte er nur wenige Angaben. Am Beginn seiner Genese stand in Michels' Vorstellung die „spontane Selektion" an der Basis eines Herrschaftssystems (zum Beispiel einer Partei oder einer Gewerkschaft), in welcher sich eine Art Proto-Elite der durch Interesse und basale Fähigkeiten 227

) ) 229 ) 230 ) 228

Michels: Umschichtungen, S. 36-41. Michels: Umschichtungen, S. 1-36. Ebd., bes. S. 24/25, S. 112-20. Ebd., S. 40.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

439

Qualifizierten zusammenfand. 2 3 1 ) Wichtiger als eine genaue Analyse der Elite - der umfangreiche vierte Teil der „Soziologie des Parteiwesens", betitelt „Soziale Analyse der Führerschicht", konzentrierte sich vor allem auf die psychischen Antriebe der mittleren und hohen Kader in den Organisationen der europäischen Arbeiterbewegungen - war für Michels die immer wiederkehrende, stets neu variierte Betonung der Komplementär-Beziehungen zwischen den Herrschaftsansprüchen der „Führer" einerseits und dem „Führungsbedürfnis", der „Dankbarkeit" und dem „Verehrungsbedürfnis" der „Massen" andererseits. Erst der oder die Führer verliehen der Masse die Möglichkeit, ihre Wünsche durch Schaffung einer festen Organisation zu erfüllen, wie umgekehrt nur die Massen durch die Massen-Organisation die Herrschaftsansprüche der Führer zu befriedigen vermochten. 2 3 2 ) Diese sozialpsychologische Fundierung hatte Michels offensichtlich aus der französischen und italienischen Literatur zur Massen-Theorie, mit der er sich intensiv auseinandersetzte, übernommen. Politische und soziale „Massen"-Phänomene vorwiegend psychologisch zu erklären, war wiederum typisch für diese Ansätze seit den frühen 1890er Jahren. 2 3 3 ) Massen-Denken und Führer-Denken waren bei Michels aufs Engste aufeinander bezogen, Führer-Begriff und Elite-Konzept noch nicht wirklich voneinander geschieden. Der Elite-Begriff, den Michels damit in den deutschen Diskussionszusammenhängen popularisierte, blieb in dieser Hinsicht also gewissermaßen unvollständig und konzeptionell wenig kohärent. Die konsequente Präzisierung einer eigenständigen Elite-Theorie über die modelltheoretische Ausweitung der Zahl der „Führer" hinaus stieß hier offenbar an die Grenzen der in Deutschland bereits fest etablierten Führer-Doxa. Eine solche Theorie hätte das spezifische Handeln und die Genese und Reproduktion einer „Elite" von derjenigen eines oder mehrerer „Führer" unterscheiden müssen. „Elite", also der Kollektivsingular zur Bezeichnung der „Führer" oder der Inhaber von Machtpositionen, wurde hier stattdessen zu einer ubiquitären und universal einsetzbaren Spielmarke. Doch gerade diese Offenheit gegenüber unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Problemstellungen machte auch später die Attraktivität des Elite-Begriffs für Politikwissenschaftler und Soziologen aus. Kritisiert wurde dann zum Beispiel von Stammer auch nur das antidemokratische „Gesetz der Oligarchie", nicht die Kohärenz des Elite-Begriffs als solchen bei Michels. 5.2.2 Die Rezeption und Wirkung der Arbeiten Vilfredo Paretos Im Gegensatz zu den Arbeiten Gaetano Moscas war das Werk Vilfredo Paretos, obgleich es ebenfalls zunächst nicht in deutscher Übersetzung vorlag, seit 231

) Michels: Soziologie des Parteiwesens, S.47. 232) vgl Jas Schaubild in Michels: Soziologie des Parteiwesens, S. 368. 233 ) Bellamy: Advent; Geiger. Democracy.

440

5. Die neue symbolische Ordnung

Beginn des Untersuchungszeitraumes in der westdeutschen Diskussion über „Elite" präsent. Die Natur dieser Präsenz verdient allerdings eine Erläuterung. Noch komplizierter als die Rezeptions- ist die Wirkungsgeschichte seiner Elite-Theorie: Die Bedeutung seiner Schriften für die westdeutsche Diskussion ist kaum zu überschätzen - sie bestand vor allem in dem Impuls zur Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs allerdings äußerte sich diese Bedeutung erst mit einiger Verzögerung, denn während der 1950er Jahre wurden Paretos Ideen von den westdeutschen Intellektuellen mehrheitlich vehement abgelehnt 234 ) und für die von ihnen entworfenen Elite-Konzepte diente schon der Name Pareto als Punkt der Abgrenzung. Die Verzögerung zeigt sich bereits darin, dass zu Lebzeiten Paretos und zwei Jahrzehnte über seinen Tod 1923 hinaus keine seiner größeren Arbeiten ins Deutsche übertragen wurde. Ohne Übersetzungen betrieb kein Verlag Werbung für Pareto, erschienen keine Besprechungen, entstand kein spezifisch intellektuelles Interesse, sich mit seinen Schriften zu beschäftigen. Einer seiner Schüler, Bousquet, präsentierte 1926 ein schmales Büchlein mit einer Zusammenfassung der Grundgedanken des „Trattato", 235 ) bei der die Vorstellung von Paretos Methodologie - der „logisch-experimentellen Methode" sowie dessen Theorie der nicht-logischen Handlungen, ihrer vorrationalen Antriebe („Residuen") und deren scheinlogischen Begründungen und Rechtfertigungen („Derivationen") im Vordergrund standen. Bousquet stellte auch die Theorie der Eliten und ihren Kreislauf eingehend dar. Allerdings stießen diese Abschnitte im deutschen Sprachraum zunächst auf nur wenig Interesse. 236 ) Bousquets Schrift blieb nämlich durchaus nicht ohne Aufmerksamkeit - nur zwei Jahre später nahm der Nationalökonom und Soziologe Otto Weinberger sie zum Anlass einer eingehenden Würdigung von Paretos CEuvre an prominenter Stelle, nämlich in der traditionsreichen Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft,237) Weinberger fand allerdings den Ökonomen und Statistiker Pareto weitaus interessanter als den Soziologen. Die „besondere Beach-

234

) Diese Ablehnung beschränkte sich keineswegs auf deutschsprachige Autoren, sondern war eine internationale Erscheinung, wie die Zitate bei Eisermann: Denker, S. 387/88, zeigen. Allerdings überwog in Deutschland die Geringschätzung zunächst recht deutlich. 235 ) Bousquet: Grundriss. In der Einleitung des Herausgebers G. Salomon erklärte dieser (S. 1), eines Übersetzung des „Monumentalwerkes" (eben des „Trattato") sei „zur Zeit unmöglich". Dass Bousquet auf genaue Verweise auf den Originaltext verzichtete - er nannte keinerlei Paragraphen des „Trattato" -, scheint dafür zu sprechen, dass er (und der Herausgeber) für absehbare Zeit tatsächlich nicht mit einer Übersetzung des Werkes rechneten. Die „Unmöglichkeit" der Übersetzung scheint dann bis in die 1950er Jahre angehalten zu haben. 236 ) Die Ausdehnung der Perspektive der Pareto-Rezeption auf den deutschen Sprachraum - statt einer Beschränkung auf „Deutschland" - wird gebieterisch verlangt von der Tatsche, dass ein nicht unerheblicher Teil der deutschsprachigen Schriften über Pareto in Schweizer Verlagen und Zeitschriften erschien - immerhin hatte Pareto längere Zeit in Lausanne gelehrt. 237 ) Weinberger: Pareto.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

441

tung", die seiner Meinung nach das von Pareto festgestellte „Auf und Ab der herrschenden Klassen" verdiente, schenkte er ihr selbst nämlich nicht, denn er kam auf dieses Thema erst fast am Ende seines Aufsatzes und nur knapp zu sprechen, und nur, um Pareto zu einem Kronzeugen des Sozialdarwinismus, des „Kampfs ums Dasein" zu machen.238) Den Grundstein für die Ablehnung von Paretos Theorien legte vermutlich Leopold von Wiese. Der Kölner Ordinarius verfasste 1936 für die Zeitschrift für National-Ökonomie einen Überblicksaufsatz über den „Trattato", in welchem er Pareto „Hohn auf sittliche Grundsätze, Unbilligkeit gegen Andersdenkende, ausgesprochenen Mangel eines Sinns für Humor, unübersteigbare Ich-Sucht" vorwarf und erklärte, sein Werk sei „unwissenschaftlich und unsoziologisch".239) Hier finden wir deutlich ausgesprochen den Hauptvorwurf, der gegen Pareto in den 1950er Jahren erhoben wurde: Die (scheinbar) vollkommene Wertfreiheit und bis zum Zynismus gesteigerte Amoralität seiner Theoreme. Als „Philosoph der Rebarbarisierung" bezeichnete ihn von Wiese, mit dem bemerkenswertem Zusatz „im guten und schlechten Sinn", um Paretos prophetische Gabe auf politisch-ideellem Gebiet zu würdigen - ein Zusatz, der nach den barbarischen Erfahrungen des Nationalsozialismus allerdings keinerlei positive Würdigung mehr enthielt. Auf professionellem Gebiet fällte von Wiese ein vernichtendes Urteil über den italienischen Soziologen. Bemühe man sich unvoreingenommen, den wissenschaftlichen und dauernden Gehalt des Systems herauszuarbeiten, desto mehr müsse man „feststellen, dass die Gesamtheit des Werks brüchig und ergebnisarm" sei.240) Letztlich handelte es sich um einen Konflikt über die buchstäblich „letzten Dinge", den von Wiese hier austrug. Der Konzentration auf nicht-logische Antriebe des menschlichen Handelns („Residuen") hielt von Wiese rhetorisch die Bedeutung der Ideen als Triebkräfte der Geschichte entgegen: „Will man im Ernst glauben, dass Aristoteles, Thomas Hobbes, Kant und andere durch die Bosheiten Paretos ,erledigt' worden sind?" 241 ) Gleichzeitig lieferte er mit dem Verweis auf die deutsche Tradition der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Sozialwissenschaften eine Erklärung für die hiesige Ablehnung von Paretos Werk.242) Auch Paretos Handlungslehre, die sich in den 1950er Jahren als durchaus attraktiv für Soziologen erwies und einen Grund für die erste Teilübersetzung des „Trattato" darstellte, fand keine Gnade vor von Wieses Augen. Er erblickte in Paretos „Residuen" lediglich einen verbrämten „Psychologismus", der

238) Weinberger. Pareto, S. 538/39. Es ist bezeichnend, dass Weinberger in diesem Zusammenhang auch nur auf die kürzeren Textstellen der „Systfemes Socialistes" und nicht auf die letztlich maßgebenden im „Trattato" verwies. 239 ) Wiese: Soziologe, S.434, S.436. 24 °) Wiese·. Soziologe, S.436. 241 ) Ebd., S. 445. 242 ) Ebd., S. 439.

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5. Die neue symbolische Ordnung

keineswegs geeignet sei, den „zwischenmenschlichen Zusammenhang" zu erfassen. Folglich kam von Wiese zu dem Schluss, dass Paretos Elite-Ansatz, der, wie gleich zu zeigen sein wird, ganz wesentlich auf einer Theorie dieser Residuen beruht, von „gering(m) wissenschaftliche(m) Fachwert" sei, weil er sich „auf keine soziologischen Grundgedanken, sondern auf die voraussehende, breit angelegte Trieblehre stützt und viel zu sehr tendenzbelastet im Dienste der Tagespolitik steht". 2 4 3 ) Dieses bemerkenswerte Urteil verrät meines Erachtens vor allem eines, nämlich dass sich am Elite-Begriff während der 1930er Jahre noch keine intellektuellen und wissenschaftlichen Interessen zu entzünden vermochten. Erst mit der beginnenden Durchsetzung der Elite-Doxa und dem relativen Niedergang der geisteswissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaften fanden Paretos Arbeiten und besonders seine Elite-Konzeption eine große Aufmerksamkeit in der Fachsoziologie. Ironischerweise beginnt auch die tiefer gehende deutschsprachige Auseinandersetzung mit Paretos Werk durch einen sehr prominenten Autor, der sich nun für vieles an diesem Werk interessierte, nur nicht für denjenigen intellektuellen und wissenschaftlichen Beitrag, dessentwegen uns Pareto heute noch bekannt ist: Seine Elite-Definition und seine Theorie des „Kreislaufs der Eliten". 2 4 4 ) Arnold Gehlen veröffentlichte 1941 einen längeren Aufsatz über „Vilfredo Pareto und seine ,neue Wissenschaft'", der gewissermaßen eine Einleitung in dessen Werk leisten sollte, da man, wie Gehlen im Rückblick schrieb, „im Jahre 1941 von Pareto als einem insbesondere in Deutschland vernachlässigten Autoren sprechen" konnte. 2 4 5 ) Die spezifische Doppelbödigkeit in Gehlens wissenschaftlich-publizistischem Schaffen, die uns eingehend im nächsten Abschnitt beschäftigen wird, begegnet uns hier gleich auf der ersten Seite. Obwohl Gehlens Fragestellung im Wesentlichen auf die Relevanz des „Trattato di sociologia generale" für die Anthropologie zielte, attestierte er Paretos Hauptwerk gleich eingangs „eine große philosophische Bedeutung". 2 4 6 ) Anders gesagt, er bewertete die sozialwissenschaftliche Bedeutung Paretos im Horizont des Wahrheitsanspruches der Philosophie - so wie er die „philosophischen" (erkenntnistheoretischen) Aussagen Paretos nach den Maßstäben der empirisch arbeitenden „Wirklichkeitswissenschaft" Soziologie beurteilte. 2 4 7 ) Gehlen selbst interessierte sich gerade als Anthropologe zum einen für Paretos breit ausgearbeitete Theorie der nicht-logischen Antriebe des menschlichen Handelns, also der „Residuen", deren Darstellung er in seinem Aufsatz viel Platz einräumte. Was ihn zum anderen offensichtlich faszinierte und was zahlreiche deutschsprachige Wissenschaftler der 1950er Jahre abstieß, war der 243

) Ebd., S. 442. ) Michael Hartmann hat unlängst geschrieben, „die Formulierung, mit der Pareto in die Geschichte, auch [sie!] die der Soziologie" eingegangen sei, sei „die vom Kreislauf der Eliten". Hartmann·. Elite-Soziologie, S.25. 245 ) Gehlen: Anthropologie und Soziologie, S.343. 246 ) Gehlen: Pareto, S. 149 (Hervorhebung von M.R.). 247 ) Gehlen: Pareto, S. 154-59. 2U

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erkenntnistheoretische Gestus Paretos, die „logisch-experimentelle Methode". 2 4 8 ) Damit ist weniger gemeint, menschliches Handeln nach dem Vorbild der Naturwissenschaften mit der ihnen eigenen Formalisierung in speziellen Wissenschaftssprachen zu erforschen, als vielmehr die Abwertung aller anderen Vorgehensweisen als „Scheinwissenschaften" und damit verbunden „ein gewisses Vergnügen an der Demaskierung, eine Art negativer Begeisterung in der Aufweichung des Nonsens, der Selbsttäuschung, des Scheinarguments" sowie die vermeintliche Fähigkeit, „subjektive Interessen und Gefühle irgendwelcher A r t " als „Gesinnungen" in der eigenen Forschung auszuschließen. 249 ) Dass der Angriffspunkt Paretos bei dieser scheinbar äußerst distanzierten Entlarvungsarbeit auf der „modernen plutokratischen Demokratie" lag, dürfte ganz auf Gehlens eigener politisch-intellektueller Linie - sowohl nach 1933 wie nach 1945 - gelegen haben. 2 5 0 ) Und noch eine Äußerung über Pareto ist typisch für Gehlens eigenen intellektuellen Gestus: Er schrieb dem Ökonomen und Soziologen Eigenschaften zu, „die in den Wissenschaften selten und unpopulär sind: Humor, ein fachlich unbegrenzbares Sachinteresse, eine vollkommene Illusionslosigkeit". 251 ) Der scientific community Humorlosigkeit zu attestieren (und diesen Ball indirekt an von Wiese zurückzuspielen) mochte noch angehen, aber ein weites Interessenspektrum und professionelle Distanz nicht nur zur Rarität, sondern zur Ursache von Anfeindungen zu erklären und sich mit der Verbeugung vor Pareto gleichzeitig zu diesen Werten zu bekennen zeigt die Strategie eines Etablierten, sich selbst zum Außenseiter zu stilisieren und auf diese Weise die potenziellen, sich normalerweise aber gegenseitig ausschließenden wissenschaftlichen und intellektuellen Chancen und Profite, die an diese gegensätzlichen Positionen im Feld gebunden waren, zu vereinen. Diese Strategie des Doppelspiels war typisch für die spätere konservative Avantgarde der frühen Bundesrepublik, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird. Diese außerordentlich positive Würdigung Paretos durch Arnold Gehlen während des Dritten Reiches 2 5 2 ) wich in der Bundesrepublik einem vorsichtigeren Umgang, und zwar wesentlich aus politischen Rücksichten. An den Herausgeber des Merkurs, Hans Paeschke, schrieb er im Februar 1962, „ich zitiere aber Sorel und Pareto nur noch anonym, sonst schreien die Leute gleich Faschisten!!!' und hören gar nicht mehr hin, was gesagt wird". 253 ) Zuallererst gibt diese Aussage Aufschluss über die politisch-ideellen Zwänge und Rah248

) Die Einführung der „logisch-experimentellen Methode" durch Pareto galt Gehlen noch 1957 eine Pioniertat in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Gehlen: Seele, S.31. 249 ) Gehlen: Pareto, S. 153/54. 250 ) Ebd., S. 152/53. 251 ) Ebd., S. 152. 252 ) Eine Verbeugung vor Paretos „Trattato" findet sich auch in Gehlens 1940 erstmals veröffentlichtem anthropologischem Hauptwerk „Der Mensch", S. 305/06. 253 ) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (22.2.1956).

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5. Die neue symbolische Ordnung

menbedingungen im Literarisch-Politischen Feld der frühen Bundesrepublik. Zumindest Gehlen hatte den Verdacht, dass es wegen der - unbezweifelbaren - Nähe Paretos zum Faschismus gefährlich sei, dessen Gedanken und Einsichten offen zu diskutieren. Dass derartige Zwänge angesichts der Übernahme des paretianischen Gestus der äußersten Distanz und „Illusionslosigkeit" durch Gehlen die Verachtung für die „moderne plutokratische Demokratie" nur verstärken konnte, liegt auf der Hand. Hier sind allerdings Differenzierungen vorzunehmen. Erstens beruhte die Ablehnung der Ideen Paretos während der 1950er Jahre tatsächlich weniger auf dessen politischer Diskreditierung (die ihn von den westdeutschen Intellektuellen und Wissenschaftlern dieser Zeit nicht grundlegend unterschied), sondern auf seiner Distanzierung von allen wertgebundenen („nicht-logischen") Urteilen, die so gar nicht mit den oben rekonstruierten intellektuellen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre in Übereinstimmung zu bringen war. In diesen Zusammenhang gehört auch ein grundlegender methodologischer Unterschied zwischen dem italienischen beziehungsweise franko-schweizerischen Soziologen und der deutschen Wissenschaftstradition, nämlich Paretos Desinteresse an allen hermeneutischen Verfahren: „Es ist dies ein Problem wesentlich der deutschen Philosophie, das ihm ferne liegt", hatte Gehlen schon 1941 geschrieben.254) Und zweitens trifft Gehlens Behauptung, er könne Pareto (und Sorel) nicht mehr zitieren, um überhaupt gehört zu werden, nicht zu. Im Gegenteil, in allen seinen größeren Schriften, die nach 1945 erschienen, verwies er auf sein politischideelles Vorbild.255) Auch hier stilisierte sich Gehlen wieder zum Außenseiter, der verleugnete Einsichten ans Licht bringt. Es stellt sich nun allerdings die Frage, weshalb einerseits die Einstellungen, Arbeiten und Ergebnisse Paretos auf heftige Kritik und Nichtachtung stießen und andererseits ein Wissenschaftler und Intellektueller wie Arnold Gehlen, der vielfach auf diese Ergebnisse zurückgriff und der sich in seinem wissenschaftlichen und zeitkritischen Gestus ausgesprochen „paretianisch" gab, zur gleichen Zeit so außerordentlich erfolgreich arbeiten und seine Ideen verbreiten konnte. Ein bloßer Verweis auf die Solidarität der in ihrer Mehrheit zumindest zeitweise dem Nationalsozialismus mehr oder weniger nahe gestanden habenden westdeutschen Intellektuellen gegenüber Angriffen von Remigranten wie Horkheimer oder Adorno 256 ) führt hier nicht weiter. Zum einen traf Gehlen mit seinen Zeitdiagnosen auf eine weit verbreitete Nachfrage, die er 254

) Gehlen·. Pareto, S. 163. ) Neben den genannten Stellen in „Die Seele im technischen Zeitalter" und in der Neuauflage von „Der Mensch" sind hier zu nennen sein institutionentheoretisches Hauptwerk „Urmensch und Spätkultur" sowie die Aufsatzsammlungen „Anthropologische Forschung" und „Studien zur Anthropologie und Soziologie", darin auch die Wiederveröffentlichung seines Pareto-Aufsatzes aus dem Jahr 1941. 256 ) Horkheimer und Adorno versuchten beispielsweise 1958, durch gutachterliche Tätigkeit die Berufung an die renommierte Heidelberger Universität zu verhindern. Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, S. 603/04. 255

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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mit der Methode der philosophischen Anthropologie und inhaltlich durch seine Beschäftigung mit Formen der Hochkultur (seine Aufsätze zur modernen Malerei wurden oben zitiert) geradezu perfekt - nämlich in vollkommener Übereinstimmung mit den Traditionen deutscher Zeitkritik - bediente. Und zum anderen zeichnete sich Gehlens publizistisches Schaffen, seinem paretianischen Gestus zum Trotz, durch äußerste Wertgebundenheit aus, deutlich sichtbar beispielsweise in seinen antiaufklärerischen Polemiken oder seiner Apotheose der „Persönlichkeit", und kam genau damit den Bedürfnissen eines auf ethischer Orientierungssuche befindlichen Publikums entgegen. Nach 1945 schlug in der deutschsprachigen Pareto-Rezeption zunächst einmal die Stunde der Schweizer Veröffentlichungen. Der erwähnte Ökonom und Soziologe Otto Weinberger diskutierte 1948 noch einmal die Bedeutung der Untersuchungen Paretos „für die Gegenwart" und fand deren Relevanz erneut vor allem auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet. 2 5 7 ) Im gleichen H e f t der renommierten Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik machte der Züricher Rechtsanwalt und Lehrbeauftragte für Soziologie Hans Karrer auf die Schwierigkeiten der deutschsprachigen Pareto-Rezeption aufmerksam, die er in der fehlenden Übersetzung, im spezifisch „lateinischen" Denkstil Paretos sowie schließlich in der Konzeption und dem Umfang des „Trattato" (ein häufig kritisierter Punkt) ausmachte. 258 ) Hier stand nun - erstmalig in einem deutschsprachigen wissenschaftlichen Text - die Elite-Theorie Paretos ganz im Vordergrund, wiederum übrigens unter Hinweis auf eine Schweizer Veröffentlichung. 259 ) Ganz wie es der sozialen Position des Autors in der Mitte zwischen Literarisch-Politischem und Wissenschaftlichem Feld entsprach, changierte auch diese Würdigung Paretos zwischen publizistischen und sozialwissenschaftlichen Formen und Erträgen. Die Maßstäbe, die Karrer an Paretos Arbeiten anlegte, waren durchaus literarische beziehungsweise publizistische: Umfang und vor allem Komposition des Textes, leichte Verständlichkeit, Stil und Brillanz der Gedankenführung. Im Übrigen sprach Karrer erstmals durchgängig von „Eliten", nicht mehr von „Aristokratien" oder „herrschenden Klassen", und er stellte diesen „Eliten" - und das war nun tatsächlich Neuerung und nicht mehr der Sprachgebrauch Paretos - die „Masse" gegenüber. Auch wenn sich die westdeutsche Diskussion in den Jahren bis zum Ende des Untersuchungszeitraums nicht auf Karrers Aufsatz bezog, so finden wir bei ihm doch charakteristische Züge der hiesigen Elite-Diskussion der 1950er Jahre (nur eben nicht die Ablehnung von Paretos Thesen) vorgebildet: Die außerordentliche Orientierungsleistung der Gegenüberstellung von Elite und Masse (Karrer lobte insbesondere Paretos politisch-gesellschaft-

257

) Weinberger. Gegenwart. ) Karrer: Rückblick, S. 500-02. 259 ) Karrer bezog sich auf einen Artikel in der Neuen Schweizer Rundschau aus dem Jahr 1935, nämlich Ch. La Roche: Vilfredo Pareto - ein Theoretiker des Fascismus (2.1935, S. 800 ff.). 258

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liehe Beobachtungen zwischen Jahrhundertwende und frühen 1920er Jahren, in denen er scharfsichtig den Verfallsprozess der europäischen Eliten diagnostiziert habe), das Legitimationspotenzial des Elite-Begriffs (zu Recht merkte Karrer an, dass sich Paretos Denken über gesellschaftlichen Wandel und soziales „Gleichgewicht" ganz auf die „Eliten" konzentrierte, mit anderen Worten, dass diese Prozesse und Arrangements ganz von den „Eliten" abhingen), und er missinterpretierte die Theorie vom Kreislauf der Eliten sogar als unmittelbare Handlungsaufforderung Paretos, der an die Eliten appelliert habe, „mehr mit den Mittel der List, auf dem Wege der Staatskunst und Diplomatie (zu) kämpfen", während die Stärke der Masse „in der zahlenmäßigen Überlegenheit und größeren Härte" liege. 260 ) Derartige unmittelbare Handlungsanweisungen waren jedoch überhaupt nicht mit dem paretianischen, streng wissenschaftlichen Gestus vereinbar und finden sich so vereinfacht auch nicht im „Trattato". Es ist dagegen bezeichnend, dass Karrer den vielleicht wichtigsten Beitrag Paretos zur Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs, nämlich den die Elite konstituierenden Index menschlicher Leistungsbeweise, nicht einmal erwähnt. Und noch ein weiteres zentrales Charakteristikum von Paretos Elite-Theorie fehlte typischerweise in Karrers Darstellung, nämlich die ostentative Wertfreiheit seines Elite-Begriffs. Karrer diskutierte diesen Punkt nicht einmal. Mit anderen Worten, er ignorierte einfach das größte Hindernis für eine positive A u f n a h m e von Paretos Elite-Begriff. Alles in allem kam dieser Aufsatz für die westdeutsche Leserschaft, trotz seiner grundsätzlich vertrauten inhaltlichen, formalen und sprachlichen Maßstäbe nach Ort und Zeit ein wenig ungelegen: In einer wissenschaftlichen Zeitschrift des Nachbarlandes publiziert, fehlte dem Autor auch das Intellektuelle Kapital, über das beispielsweise Franz Borkenau verfügte, der fünf - entscheidende - Jahre später seinen gar nicht unähnlichen Text im Monat lancierte. Karrers Aufsatz bezeichnete somit eine mögliche, aber bis in die 1950er Jahre in Westdeutschland nicht realisierte Rezeptionsweise der Ideen Paretos. Doch nicht nur in der Schweiz, auch in Westdeutschland wurden nach 1945 einige weitere wissenschaftliche Texte über Paretos Arbeiten veröffentlicht, nachdem in den 1930er Jahren auch in Kulturzeitschriften, nämlich zuerst noch vor Wieses Aufsatz! - in der Tat (man ist geneigt zu fragen: wo sonst? 2 6 1 )) und im Hochland vorsichtig zustimmende Notizen erschienen waren. 2 6 2 ) Überhaupt stammten die Protagonisten der Diskussion über Pareto mittlerweile praktisch ausschließlich aus dem wissenschaftlichen Feld, die auch nur gelegentlich die Ergebnisse ihrer Pareto-Lektüre in die Literarisch-Politische

26

°) Karrer: Rückblick, S. 503. ) Der betreffende Artikel stammte von Ernst Wilhelm Eschmann, der dem engeren Γαί-Kreis angehörte („zweifellos die bedeutendste Begabung des Kreises", schrieb Möhler) und in der Tat vor allem über das faschistische Italien schrieb. Möhler. Konservative Revolution, S. 435/36. 262 ) Vgl. die Angaben bei Waffenschmidt: Allgemeine Soziologie, S. 14-19. 261

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Öffentlichkeit hineintrugen, während die Schriftsteller-Intellektuellen sich aus dieser Diskussion vollständig verabschiedeten. Die Protagonisten der Grundlegung der Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs in Westdeutschland durch die Rezeption der Arbeiten Vilfredo Paretos waren ganz offensichtlich Sozialwissenschaftler, und zwar gerade nicht die Vertreter der Politikwissenschaft, sondern Soziologen, Anthropologen und Nationalökonomen. Mit dem schmalen Buch des Mannheimer Volkswirtschaftlers Walter Waffenschmidt lag 1948 erstmals eine detaillierte Zusammenfassung von Paretos Hauptwerk, dem „Trattato", vor, das allerdings, ausweislich der Literaturangaben nachfolgender Werke, nur eine geringe Verbreitung gefunden zu haben scheint. Auch Waffenschmidt streifte Paretos Elite-Theorie jedoch nur en passant. Ein Jahr später präsentierte dann James Bumham in seinem eigenen Beitrag zur Elite-Diskussion, auf den wir oben im Zusammenhang mit den Grenzen der Rezeption „machiavellistischer" Eliten-Modelle in den 1950er Jahren ausführlich eingegangen sind, den deutschsprachigen Lesern eine fünfzehnseitige Zusammenfassung von Paretos Elite-Theorie. 263 ) In ihr traten bereits alle Bestandteile der Elite-Doxa in Erscheinung: Die fundamentale Scheidung der sozialen Welt in die Elite und die Nicht-Elite, die Bedeutung der Elite für den Charakter einer Gesellschaft, das spezifische Rollenhandeln der Elite als Mischung von Innovation („Kombinationsinstinkt" der „Füchse") und Verteidigung des Erreichten (Residuum der „Gruppen-Beharrlichkeit" bei den „Löwen"), die Auswahl der Elite-Individuen durch Leistungsauslese. Bei Burnham fanden die deutschen Leser in einem langen wörtlichen Zitat auch zum ersten Mal den berühmt gewordenen Index der unterschiedlich verteilten menschlichen Fähigkeiten. 264 ) Burnham machte sie auf diese Weise eingehend mit der „Zirkulation in der Elite" bekannt. Vor allem aber, und das ist für die Entwicklung des Elite-Begriffs in der Bundesrepublik von großer Bedeutung, finden wir bei ihm einen ersten Hinweis darauf, dass in einer Gesellschaft nicht die eine, kohärente und wertgebundene Elite wirke, sondern dass jede Elite in eine herrschende und eine nicht-herrschende Gruppe zerfalle, was nicht weniger sagen will als dass - dem erwähnten Leistungsindex zum Trotz - in der Herrschaftsausübung, und nicht in der Leistung oder Wertbindung, das entscheidende Merkmal und die soziale Relevanz der Eliten bestünde. Eine pluralistische und machtgestützte 265 ) Elite, deren Teilgruppen sich in einem ewigen Kampf untereinander befanden - dieses Tableau, das zweifellos 263

) Burnham·. Machiavellisten, S. 209-24. Der gesamte Pareto-Abschnitt, der längste im ganzen Buch, nahm fast 50 Seiten ein (S. 117-224). Pareto erschien damit ganz zu Recht als der wichtigste intellektuelle Stichwortgeber für Burnham. 264 ) Burnham·. Machiavellisten, S. 211. 265 ) Dies ist nicht der Ort, die traditionsreiche und subtile Differenzierung zwischen den Kategorien Macht und Herrschaft fortzuführen. Tatsache ist, dass die Autoren der EliteDiskussion während des Untersuchungszeitraums, von wenigen Ausnahmen abgesehen, diese Differenzierung nicht (gebührend) beachteten bzw. nicht kategorial verwendeten, um sie hier zu einem Gegenstand der Analyse zu machen.

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auch sein eigenes war, lieferte Burnham als Pareto-Exegese dem deutschsprachigen Publikum. Wie wir gesehen haben, blieb Burnhams Buch zunächst ohne größeren publizistischen Einfluss. Allerdings fanden Paretos Ideen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre langsam eine immer größere Aufmerksamkeit, bis 1955 die erste deutsche Auswahlübersetzung des „Trattato", herausgegeben und kommentiert von dem mittlerweile verstorbenen Soziologen Carl Brinkmann, 266 ) erschienen. Brinkmann hatte fünf Jahre zuvor in einem Fachjournal einen interessanten Aufsatz über Pareto veröffentlicht; interessant, weil er ihn gerade in seiner (übrigens radikal indiviualistischen, so dass man bei Pareto kaum von einer Theorie sozialen Handelns reden kann) Handlungstheorie über den deutschen Klassiker Max Weber stellte.267) Brinkmann sprach bereits von dem „berühmte(n) Modell von Paretos ,Elitenkreislauf" (auf den er jedoch nur kurz einging), obwohl dieses Modell einer deutschen Leserschaft nur vom Hörensagen bekannt sein konnte. 268 ) Allerdings lagen den Soziologen längst Übersetzungen ins Französische und ins Englische vor, die die Rezeption seines Werks vereinfachten. 269 ) Überhaupt waren es die Soziologen, die sich um die Verbreitung der Ideen Paretos bemühten. Schriftsteller-Intellektuelle beteiligten sich, wie erwähnt, gar nicht daran, und aus den übrigen Humanwissenschaften finden wir einzig den Historiker und Politikwissenschaftler Franz Borkenau. Dieser hatte sich schon 1936 im englischen Exil mit einer Pareto-Biographie hervorgetan, und 1953 veröffentlichte er im Monat einen Aufsatz über den „Kreislauf der Eliten". Die Entdeckung dieses Kreislaufs nannte Borkenau Paretos „originellste und bedeutsamste Leistung".270) In einem wichtigen Punkt unterschied sich Borkenau übrigens von seinem Mitstreiter aus dem CCF James Burnham: 271 ) Für ihn zählte Pareto nicht zu den „Verteidigern der Freiheit" (so der Untertitel von Burnhams Buch), sondern zu den Gegnern derselben. Die Nähe Paretos zum italienischen Faschismus, die nicht wenige Autoren euphemisierend zu umschreiben versuchten, benannte er ganz offen. Überhaupt ging Borkenau mit Pareto sehr kritisch ins Gericht, und zwar vor allem mit dessen Handlungstheorie, die er als „völlig misslungene Psychologie" beurteilte, die jedoch schon das große Interesse der Soziologen und Anthropologen 266

) Brinkmann war u. a. Mitherausgeber des renommierten „Handwörterbuches der Sozialwissenschaften". Sein zeitweiliger Assistent - und hier schließt sich der ideengeschichtliche Zirkel zum Γαί-Kreis - war kein anderer als Giselher Wirsing. Vgl. Kruip: „Welt"„Bild", S. 96-99. 267 ) Brinkmann: Pareto. 268 ) Brinkmann: Pareto, S.9. 269 ) Schon Arnold Gehlen hatte sich im Wesentlichen auf die französische Ausgabe gestützt. Gehlen: Pareto, S. 149. 270 ) Franz Borkenau·. Vom Kreislauf der Eliten. Zum dreißigsten Todestage Vilfredo Paretos, in: Der Monat Nr. 59 (1953), S. 493-502, Zitat S.498; ähnlich S.497. 271 ) Hochgeschwender rechnet Borkenau und Burnham nicht etwa zu unterschiedlichen, sondern zum gleichen Flügel innerhalb des CCF, nämlich dem „radikalantikommunistischen". Hochgeschwender: Freiheit, S. 174.

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auf sich gezogen hatte und weiter ziehen sollte. Für Borkenau bestand sie aus nichts als einer „metaphysischen Anthropologie, und zwar von extrem pessimistischem Typ".272) Was ihn hingegen interessierte, war die Bedeutung des „Kreislaufs der Eliten" als Beitrag zu einer Theorie der Revolution. Zu Recht deutete er Paretos soziologisches Schaffen als Gegenentwurf zu den Ergebnissen von Marx.273) Bei Pareto fand er ein Modell, „die Umbildung der herrschenden Klasse ohne Bezugnahme auf die Veränderungen der Gesellschaftsordnung darzustellen".274) Ausführlich, wenn auch wenig systematisch, nicht unbedingt präzise und mit vielen Abschweifungen und persönlichen Wertungen (eben wie ein typischer Beitrag in einer Kulturzeitschrift) erläuterte Borkenau zu diesem Zweck den Kreislauf der Eliten aus den unterschiedlichen Geschwindigkeiten im „Aufstieg der Begabten". Wenn hier eine Verlangsamung oder ein Stau eintrete, komme es zum „gewaltsamen Durchbruch. Dies ist Paretos Theorie der Revolution". 275 ) Während nun die Marxsche Theorie geeignet sei, die großen „bürgerlichen Revolutionen" der Vergangenheit zu erklären, sei Paretos Ansatz besser für die Gegenwart geeignet: für „die deutsche Revolution von 1933, weitaus am besten jedoch [für] ... jene schreckliche Ausrottungskampagne, die 1936 bis 1938 in Russland Millionen von höheren und mittleren Funktionären in die Todeskeller und Todeslager warf und andere Millionen an die Stelle der Ausgerotteten setzte, ohne dabei an der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung irgend etwas Wesentliches zu ändern".

Ein schwarzer Denker für das schwarze Jahrhundert sozusagen. Das bedeutete jedoch im Umkehrschluss (den Borkenau nicht ausdrücklich zog), dass Paretos Soziologie für die Untersuchung demokratischer entwickelter Gesellschaften kaum geeignet erschien. Zu diesem Schluss gelangte Borkenau nicht nur aufgrund seines Verständnisses von Paretos Theorie politisch-sozialen Wandels (die, wie er richtig sah, auf die Bestätigung des Immer-Gleichen, des Kampfes zwischen zwei verschiedenen Fraktionen der Elite hinauslief), sondern noch aus einem zweiten Grund. Paretos Übertragung seiner Lehre von den für die Zusammensetzung der Eliten und ihr Handeln wesentlichen Residuen der Klassen I („Instinkt der Kombinationen") und II („Persistenz der Aggregate") 276 ) auf verschiedene „Wirtschaftstypen", nämlich „Spekulanten" und „Rentiers", schien ihm nämlich für eine Beurteilung moderner Gesellschaften kaum geeignet; sie passe „viel besser auf antike und auf frühneuzeitliche Bedingungen". Pareto sei eben „ganz und gar in der Mittelmeerkultur" 272

) Borkenau·. Vom Kreislauf der Eliten, S.497. Ähnliche Formulierungen: „völlig misslungene Psychologie", „Grundfehler", „leeres Wort" (für die „Residuen", M.R.), S.495, S.497. m ) „Paretos Theorie der Revolution steht der Marxschen diametral gegenüber. Hier nur der gesellschaftliche Strukturwandel, dort nur der ewig gleiche Kampf der Individuen um die Macht". Borkenau: Vom Kreislauf der Eliten, S.501. 274 ) Borkenau: Vom Kreislauf der Eliten, S.497. 275 ) Borkenau: Vom Kreislauf der Eliten, S. 501. 276 ) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 888. In Borkenaus Worten: „Typen des beweglichen und des konservativen Menschen". Borkenau: Vom Kreislauf der Eliten, S.500.

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verwurzelt und habe Deutschland, Großbritannien und die U S A kaum gekannt. Das war eine große Einschränkung des Wertes von Paretos Arbeiten für die aktuelle Zeitdiagnostik. Gerade in diesem Punkt unterschied sich Borkenaus Einschätzung diametral von derjenigen seines CCF-Mitstreiters James Burnham. Abschließend zog er eine außerordentlich negative Bilanz: Paretos Sozialphilosophie bedeute ein „Vernichtungsurteil über alle grundlegenden Werte des Abendlandes (...) Wo jeder echte Glaube versinkt, dort beginnt das Zeitalter der reinen Gewalt". 277 ) Diese Abendland-Rhetorik war durchaus untypisch für die CCF-Intellektuellen, nicht jedoch für Borkenau, der zu dieser Zeit häufiger für die Zeitschrift Neues Abendland schrieb. Und vor allem zeigt sie, dass die Beurteilung von Paretos Werk auch abhing von dem akademischen Standort und dem daran gebundenen Verwendungszusammenhang der Urteilenden: Während sich die Soziologen gerade von dem objektivistischen Gestus, von der Breite der Perspektiven und kategorialen Möglichkeiten, die Paretos Theorie des nicht-logischen Handelns den Sozialforschern in die Hand gab, fasziniert zeigten, stieß die Amoralität des paretianischen Blickes, die geringe Stringenz im Aufbau des aus vielen Hunderten von Paragraphen bestehenden „Trattato" und der allumfassende Erklärungsanspruch Paretos die auf engere politische Phänomene und Prozesse fixierten Politologen (und Publizisten) eher ab. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Borkenaus Aufsatz, also 1955, lag dann mit der von dem mittlerweile verstorbenen Carl Brinkmann ausgewählten und übersetzten „Allgemeinen Soziologie" endlich zumindest eine deutsche Teilausgabe des „Trattato" vor. 278 ) Auf der Grundlage dieser Teilausgabe trieben Urs Jaeggi, Hans Peter Dreitzel und Wolfgang Zapf dann im Verlauf der frühen 1960er Jahre die weitere Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs voran. Kaum eine Erörterung über den Gegenstand „Elite" kam nun noch ohne einen Verweis auf Pareto (ob zustimmend oder ablehnend) aus; auch darin liegt die Bedeutung dieser Veröffentlichung. Im Gegensatz zu seinem Aufsatz aus dem Jahr 1950 machte Brinkmann das Theorem vom „Kreislauf der Eliten" nun beinahe zur raison d'etre der Veröffentlichung. 279 ) Allerdings nahm Brinkmann gerade in den Abschnitten, die sich mit dem „Kreislauf" beschäftigen, einige interessante Kürzungen beziehungsweise Auslassungen vor, die den politischen Kritikern Paretos leichte Angriffsfläche geboten hätten, darunter den berühmt gewordenen § 2186, in welchem er von der „Rückenmarkschwindsucht der Humanitätserwägungen" gesprochen hatte, 2 8 0 ) sowie 277

) Borkenau: Vom Kreislauf der Eliten, S.502. ) Die übrigen großen Werke Paretos, der „Cour d'economie politique" (1896/97), „Les systemes socialistes" (1902/03) und das „Manuale di economia politica" (1906) erschienen bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes nicht in deutscher Sprache. 279 ) Brinkmann: Einführung, in: Pareto: Allgemeine Soziologie, S. 1-7, hier S.5-7. 280 ) Hier zitiert nach der Übersetzung von Eisermann: Paretos System, § 2186. Wie in der neueren Literatur üblich, werden hier und im Folgenden bei der Zitation unterschiedlicher Pareto-Ausgaben stets nur die zitierten Paragraphen statt der Seitenzahlen angegeben. 278

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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andere Paragraphen, in denen er hämisch den „neue(n) Gott, dem man den Namen .Allgemeines Wahlrecht' gegeben hat", denunziert und unter dem „Flittergold der humanitären und ethischen Deklamationen einzig und allein die Gewalt" entdeckt hatte. 281 ) Die gesamte Fülle von Paretos Elite-Theorie muss hier nicht ausführlich wiedergegeben werden, zumal derartige Explikationen in unterschiedlicher Läge vorliegen. 282 ) Angesichts der Bedeutung von Paretos Elite-Konzept (auch, aber selbstverständlich nicht nur) für die westdeutsche Diskussion kann aber nicht darauf verzichtet werden, dessen zentrale Elemente kurz vorzustellen und zu erörtern. Wie alle Elite-Theoretiker unterteilte Pareto die Gesellschaft zunächst ganz grundsätzlich in die Elite und die „niedere, elitefremde Schicht".283) Den Ausgangspunkt seiner Theorie bildete sodann der bereits mehrfach angesprochene Index menschlicher Leistungen, der die eine Grundlage für Paretos Elite-Begriff darstellt. Einen solchen Index schlug Pareto vor, um eine „möglichst genaue theoretische Definition" der „Elite" zu gewinnen: „Nehmen wir also an, in allen Zweigen menschlicher Tätigkeit wird jedem Individuum eine Messzahl seiner Fähigkeiten zugeteilt, ungefähr so, wie man bei Prüfungen in Schulfächern Punkte gibt. Dem in einem Beruf Hervorragenden werden wir 10 geben, dem, der es nicht zu einem einzigen Kunden oder Anhänger bringt, 1 so dass 0 für den wirklich Geistesschwachen verbleibt. Wer auf gute oder schlimme Weise Millionen zu erwerben wusste, wird 10 erhalten; wer tausend Franken, 6; wer auf dem Existenzminimum lebt, 1; wer der öffentlichen Fürsorge anheim fällt, 0. Der politischen Frau, wie Perikles Aspasia, Ludwigs XIV. Maintenon, Ludwigs XV. Pompadour, die die Gunst eines Mächtigen zu gewinnen verstand und in seiner Regierung eine Rolle spielte, werden wir etwa die Note 8 oder 9 zuerkennen, der Dirne, die nur die Sinne jener Großen befriedigte, 0. Dem geschickten Betrüger, der dem Strafgesetz zu entgehen weiß, die Note 8, 9 oder 10 je nach Zahl der Betrogenen oder Menge ihnen abgenommenen Geldes; dem kleinen Dieb, der in den Gaststätten Essgeschirr stiehlt und sich dazu noch von der Polizei festnehmen lässt, 1. Einem Dichter wie Musset geben wir je nach Geschmack 8 oder 9; einem Reimeschmied, der die Leute mit seinen Sonetten verfolgt, 0. Für Schachspieler können wir genauere Messzahlen aus der Auswahl und Art gewonnener Partien errechnen. Und so weit er für alle Zweige menschlicher Tätigkeit. (...) Bilden wir also eine Klasse aus den Menschen mit der höchsten Messzahl in ihrem Tätigkeitszweige und geben dieser Klasse den Namen Elite." 284 )

In der westdeutschen Publizistik der frühen 1950er Jahre musste eine solche Passage geradezu verstörend wirken. Die (scheinbare) Amoralität ist hier mit Händen zu greifen. Weniger wegen der Klassifizierung von Menschen in einen Index (auch wenn schon ein solches Verfahren zeittypischen Anforderungen wie derjenigen, den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt aller Betrachtungen zu stellen, Hohn sprechen musste), sondern in erster Linie, weil die 281

) Eisermann: Paretos System, § 2180, § 2183. 282) vgl beispielsweise Hamann: Elitentheorie; Hübner. Klasse. Eine kompakte Zusammenfassung von Paretos Elite-Theorie findet man bei Hartmann: Elite-Soziologie, S. 2531. 283 ) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 2034. 284 ) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 2027, § 2031.

452

5. Die neue symbolische Ordnung

hervorragenden beruflichen Leistungen an Kriminellen und sozialen Außenseitern, nämlich Dieben, Betrügern, Armen und Huren exemplifiziert wurden. Die soziale Wirksamkeit von Frauen erscheint hier lediglich denkbar als käufliche Sexualpartnerinnen. Eine solche Vorgehensweise war mit keinem denkbaren Konzept einer Wert- und Charakter-Elite in Übereinstimmung zu bringen. Dennoch zeigt sich sofort, dass die Amoralität und „Wertfreiheit" Paretos nur eine scheinbare war: Die niedrigsten Ziffer vergab er nur für „Geisteskranke", Besitzlose und Frauen. Ein zweiter Gesichtspunkt ist vielleicht noch wichtiger: Pareto und die ihm nachfolgenden Propagandisten des Elite-Gedankens verabsolutierten einen einseitigen faktizistischen Leistungs-Begriff („Wohlbemerkt: es geht um tatsächliche, nicht um mögliche Leistung" 285 )), der einzig das messbare Endergebnis und niemals den sozialen Kontext, den Grad der Ausschöpfung jeweiliger Leistungschancen, nicht einmal den eingesetzten Aufwand und damit die Effizienz der Arbeit (für einen führenden Vertreter der Lausanner Grenznutzen-Schule der Wirtschaftswissenschaften eine recht eigenartige Leerstelle) einbezog. Vor allem dieses Absehen vom sozialen Kontext, der die ungleiche Verteilung der Leistungschancen determiniert, und die Abqualifizierung sozialer Außenseiter und Frauen erweist Paretos Elite-Theorie als nichts weniger als „wertfrei", vielmehr durch und durch als Produkt der bürgerlich-zweckrationalen Werteordnung seiner Zeit. Dreierlei war damit jedoch tatsächlich für den Elite-Begriff gewonnen: Erstens war dieser mit Paretos Index vollständig an eine persönliche Auswahl und zweitens durch die Teilung der Gesellschaft in die Elite und die „elitefremde Schicht" die Kategorie Macht in allen sozialen Feldern, nicht allein in demjenigen der Politik, wie es Moscas Terminus der „Politischen Klasse" vorschlägt, gebunden. Und drittens wurde der Weg zur Pluralisierung des Elite-Begriffs beschritten, denn Eliten gab es nun in allen verschiedenen Berufszweigen, sogar in denjenigen außerhalb der Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft. Der berühmte „Elite-Kreislauf" bestand nun zunächst ganz einfach aus den durch Leistungsauslese gesteuerten Auf- und Abstiegsprozessen in die verschiedenen Teil-Eliten hinein und aus ihnen heraus. 286 ) Pareto führte diese Pluralisierung allerdings nicht weiter aus. Er interessierte sich vielmehr für die Bedeutung der Eliten für das gesellschaftliche „Gleichgewicht" - eine Denkfigur, die er offensichtlich den Wirtschaftswissenschaften entlehnt hatte 287 ) und die bei ihm denjenigen logischen Ort einnahm, den bei den Advokaten der Wertund Charakter-Modelle das „Gemeinwohl" inne hatte - und konzentrierte sich mit der Unterscheidung zwischen der „regierenden" und der „nichtregierenden" Elite auf die Kategorie der (politischen) Herrschaft. 288 ) Die in diesem Zusammenhang entwickelte Revolutions-Theorie wurde oben bereits 285

) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 2028. ) Pareto: Allgemeine Soziologie, §§ 2042-2045.

286

287

) Eisermann·. Nationalökonom, S.6.

288

) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 2034.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

453

erwähnt, deshalb genügt hier der Hinweis, dass die Revolutionen bei Pareto stets die historische Alternative zu einem flüssigen Elite-Kreislauf darstellten. Allerdings entwarf er noch ein weitergehendes Modell des „Gebrauchs der Gewalt in der Gesellschaft",289) in welches seine Revolutionstheorie eingebettet war und dessen politisch-ideell „problematische" Paragraphen 290 ) - fast die Hälfte dieses ganzen Abschnittes - Brinkmann in seine Auswahl eben nicht mit aufnahm. Die oben eingehend rekonstruierten Grenzen der Rezeption machiavellistischer Eliten-Modelle in den 1950er Jahren treten hier noch einmal deutlich zu Tage; ebenso allerdings die sich wandelnde Attraktivität von Paretos Handlungstheorie für die Fachsoziologen. Brinkmann veröffentlichte in seiner Ausgabe recht ausführlich Paretos Ausführungen über den Zusammenhang zwischen den Residuen der Klasse IV („Soziabilität") und deren Unterform β („Bedürfnis nach Einförmigkeit")291) sowie über die Versuche, die Gesellschaftsordnung mit Gewalt zu verändern 292 ) - Passagen, die den Herausgeber der Ausgabe von 1962 nicht mehr interessierten. In den 1962 erstmals veröffentlichten Paragraphen hingegen begründete Pareto seine Vorstellung von der Notwendigkeit des Gebrauchs von Gewalt zur Aufrechterhaltung dauerhafter Herrschaft. Hier suchte er den „Humanitätsglauben", die „Theologie des Fortschritts" und die Institution des Rechtsstaates als „Derivationen" zu entlarven - scheinwissenschaftliche Begründungen für tatsächlich nicht-logische Handlungen (die wir üblicherweise als „Ideologien" zu bezeichnen gewohnt sind) - , während in Wahrheit die Verteilung der Residuen der Klassen I und II innerhalb der herrschenden Klasse darüber entscheide, welche Strategien der Herrschaftssicherung hauptsächlich Anwendung fänden: die Überredung und Bestechung durch die kombinationsbegabten „Füchse" oder die Repression durch die gewalttätigen „Löwen".293) Zum Fluchtpunkt seiner Ideen machte Pareto einmal mehr die Vorstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts, zu dem jede soziale (Pendel-)Bewegung am Ende wieder tendiere.294) Daneben offenbart sich jedoch erneut das Doppelspiel des paretianischen Gestus: Während er einerseits über die „Theologie des Fortschritts" spottete, konnte er andererseits seine Ablehnung eines quietistischen, jeglichen Unsturz verdammenden Konservatismus nur mit dem historischen Aufstieg von der Barbarei in den „gegenwärtigen zivilisierten Zustand" 295 ) rechtfertigen. Die von uns gerade erwähnte Verteilung der Residuen innerhalb der herrschenden Klasse stellt übrigens keinen terminologischen Lapsus dar. Pareto verwendete die Begriffe „Elite", „herrschende Klasse und Aristokratie" mehr 289

) Pareto: Allgemeine Soziologie, §§ 2170-2202. °) Dies betrifft die §§ 2180-2191, darunter auch das oben genannte Zitat aus § 2186. 291 ) In der Ausgabe Eisermanns lautet die Übersetzung „Gleichförmigkeit". Eisermann: Paretos System, § 2174. 292 ) Pareto: Allgemeine Soziologie, §§ 2171-2173, §§ 2175-2176. 293 ) Eisermann: Paretos System, §§ 2178-2190. 294 ) Eisermann: Paretos System, § 2190. 295 ) Eisermann: Paretos System, § 2182, § 2194. 29

454

5. Die neue symbolische Ordnung

oder weniger synonym; hinzu kommen Probleme bei den Übersetzungen. So lautet das berühmte Friedhofs-Zitat bei Brinkmann: „Die Geschichte ist ein Friedhof von Aristokratien"; bei Eisermann heißt es: „Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten". 296 ) Diese etwas diffuse Terminologie wird nur wenig schärfer durch Paretos Bemerkung, dass „gewisse, mitunter wenig bestimmte Aggregate, die man Aristokratien nennt, ... einen Teil der Oberschicht, der Gesellschaft" bildeten. 297 ) Pareto betrachtete „Aristokratien" offensichtlich als einen exklusiven Teil der „regierenden Elite" und löste auf diese Weise das uns inzwischen bekannte konzeptionelle Problem der Rekrutierung einer Persönlichkeits-Elite analog zu den bis dahin in der Bundesrepublik kursierenden Unterscheidungen zwischen „Elite" und „Oberschicht". Allerdings verwendete Pareto, anders als die übrige westdeutsche Diskussion, hier die Begriffe „Elite" und Oberschicht" grundsätzlich synonym, während für ihn die „Aristokratie" einen kleinen Teil der - und nicht die gesamte - „regierenden Elite" darstellte. Diese terminologische Verschiebung machte die Konzeption eines begrifflich kohärenten Elite-Modells nicht leichter und dürfte einen der Gründe für die auch in den 1960er Jahren nur bruchstückhafte Übernahme von Paretos Elite-Theorie darstellen: In der Regel wurden nur Teilelemente aufgegriffen - etwa die Koppelung des Elite-Begriffs an herausragende individuelle Leistung oder an die Kategorie Herrschaft oder die Vorstellung, dass selbst Revolutionen lediglich auf eine ins Stocken geratene Eliten-Zirkulation zurückgehen, oder einfach der Gestus äußerster Distanzierung und Entlarvung nicht aber wurde versucht, systematisch oder historisch Forschungen zum Zusammenhang zwischen (Gewalt-)Herrschaft und Eliten-Zirkulation voranzutreiben oder aber eine weiterführende Handlungstheorie der Elite zu entwickeln. Dafür aber erwiesen sich viele Ideen Paretos von außerordentlich weit reichender fachwissenschaftlicher Wirkung: So beeinflusste Paretos Sozialtheorie die frühen Arbeiten von Talcott Parsons 298 ) (und wirkte auf diese Weise, nämlich durch den Wissenschaftstransfer funktionalistischer Ansätze aus den USA in die Bundesrepublik durch Ralf Dahrendorf zurück auf die westdeutschen Diskussionen, auch auf diejenigen zum Elite-Problem). Und noch in Pierre Bourdieus Konzept vom „Feld der Macht" finden sich die Echos der Vorstellung vom Kreislauf der Eliten und ebenso den paretianischen Gestus der Entlarvung in Bourdieus Soziologie der Intellektuellen und der Felder wissenschaftlicher Produktion. 299 ) 296

) Pareto: Allgemeine Soziologie, § 2053. In der französischen Fassung wie der amerikanischen Übersetzung heißt es ebenfalls „Aristokratien". Hartmann: Elite-Soziologie, S.27. 297 ) Pareto·. Allgemeine Soziologie, § 2051; ähnlich § 2052, auch für das Folgende. Diese beiden Paragraphen fehlen in der Übersetzung von Eisermann. 298 ) Bach: Vilfredo Pareto, S. 110. 2 " ) Grundsätzlich sind hier die Interviews und Vorträge leichter zugänglich als die umfangreicheren Werke. Vgl. die zahlreichen Artikel in Bourdieu: Rede und Antwort; ders.: Praktische Vernunft; ders.: Soziologische Fragen; ders.: Die verborgenen Mechanismus der

5.2 Von der Elite zu den Eliten

455

Trotz dieser langfristigen Wirksamkeit dieser Ideen müssen wir noch einmal kurz auf die Grenzen ihrer Rezeption in den 1950er Jahren zurückkommen. Der ökonomisch geschulte Soziologe Pareto übertrug seine Theorie der nichtlogischen Handlungen auch auf das Wirtschaftsleben. Aus den mit dem „Instinkt der Kombination" versehenen „Füchsen" wurden hier die „Spekulanten", aus den von der „Persistenz der Aggregate" beherrschten „Löwen" die „Rentiers". 300 ) Zu den „Spekulanten", die er als Urheber „wirtschaftlicher und sozialer Änderung und Fortschrittlichkeit" ansah, rechnete Pareto selbstverständlich zuallererst die Unternehmer, warnte jedoch ausdrücklich davor, die „Kategorien der wirtschaftlichen Beschäftigung" mit diesem Schema zu identifizieren. Es ist offensichtlich, dass das einfache Gegensatzpaar der „Spekulanten" und der „Rentiers" kaum weniger abstrakt und offen für polemische Verwendungsweisen war als Schumpeters Definition des Unternehmers als desjenigen, der „neue Kombinationen" durchsetze, und dem er die bloßen „Wirte" gegenüber stellte. 301 ) Jedoch finden wir in den oben dargestellten Auseinandersetzungen um die legitime Unternehmer-Definition während der 1950er Jahre keinerlei Hinweis auf eine Rezeption beziehungsweise Verbreitung von Paretos Terminologie. Dieser Befund ist nicht allein mit dem geringeren Bekanntheitsgrad und der bis 1955 fehlenden Übersetzung von Paretos Werk zu erklären. Die Gegenüberstellung von „Unternehmern" und „Wirten" fügte sich, trotz der Notwendigkeit einer mehr oder weniger absichtsvollen Verzerrung von Schumpeters Begrifflichkeit (dieser hatte bekanntlich nicht alle Unternehmer als Innovatoren bezeichnet, sondern Akteure einzig und allein während des Prozesses der Innovation als „Unternehmer"), weitaus besser in die überlieferte Semantik ökonomischen Handelns in Deutschland als das Gegensatzpaar der „Spekulanten" und „Rentiers". Etwas vereinfachend gesagt, war der Begriff des „Unternehmers" sowohl innerhalb des Schumpeter'schen Begriffssystems wie in der Sprache der Geschäftswelt positiv konnotiert, wohingegen die Bezeichnung „Spekulant" auf eine lange Geschichte als negativer Kampfbegriff, auch und gerade in der antisemitischen Propaganda, zurückblicken konnte. Überdies war der Terminus des „Rentiers" oder „Rentners" in der deutschen Geschichte politischer Begriffe gerade nicht derart neutral gehalten, wie bei Pareto, sondern durchaus positiv als lebensweltliche Idealvorstellung antikapitalistisch gestimmter, gleichwohl konservativer Intellektueller (man denke nur daran, wie noch Max Weber geMacht; ders.: Die Intellektuellen und die Macht; ders. und Wacquant: Reflexive Anthropologie; sowie die großen Monographien Bourdieus: Die feinen Unterschiede; ders.: Homo Academicus; ders.: Regeln; ders.: Staatsadel; ders.: Meditiationen. 30 °) Pareto: Allgemeine Soziologie, §§ 2233-2236, auch für das Folgende. Brinkmann wie Eisermann übersetzen den letzteren Begriff mit „Rentner". Der heute gebräuchlichen Redeweise entsprechend soll hier und im Folgenden von „Rentiers" die Reden sein. Pareto selbst verwendete übrigens, seiner Vorliebe für mathematisierende Kürzel folgend, vorwiegend die Bezeichnungen „Kategorie S" und „Kategorie R". 301 ) Schumpeter: Theorie, S. 114-22; ders.: Konjunkturzyklen, Bd. 1 S. 111/12.

456

5. Die neue symbolische Ordnung

gen die deutsche „Rentnergesinnung" zu Felde zog).302) Und so bezog sich in den Orientierungsreferaten an den Evangelischen Akademien und in der unternehmernahen Publizistik niemand auf diesen Ausschnitt paretianischer Begriffsbildung. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich die weitgehende Ablehnung von Paretos Arbeiten um 1960 deutlich abgeschwächt hatte - zusammen mit dem generellen Wandel des intellektuellen Feldes in dieser Zeit und der Auflösung der bislang geltenden Rahmenbedingungen. Einen großen Anteil an dieser Bewegung hatte der Soziologe Gottfried Eisermann, der in den Jahren 1961/62 mit einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen den Höhepunkt der Verbreitung von Paretos Ideen in der Bundesrepublik herbeiführte. Diese Reihe begann jedoch schon 1956, und zwar ganz klassisch mit einer umfangreichen Rezension von Brinkmanns Auswahl-Edition am denkbar prominentesten Ort, nämlich in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.303)

Die

Beurteilung dieser Edition war nicht weniger als vernichtend. Für die sprachliche Seite von Brinkmanns Übersetzung hatte Eisermann nur das Wort „Verdeutschung" übrig,304) und die rhetorische Abschlussfrage - „Gibt sie [Brinkmanns Auswahl] eine für wissenschaftliche Zwecke zulängliche Vorstellung von dem Hauptwerk Paretos?" - verneinte er.305) Wichtiger für unsere Problemstellung ist jedoch erstens, dass Eisermann das zentrale wissenschaftliche Anliegen Brinkmanns, nämlich die Verbreitung von Paretos Theorie nicht-logischer Handlungen, negierte. Diese sei nämlich „überholt". 306 ) Nicht Paretos Handlungstheorie sei heute noch von Bedeutung, sondern seine Gesellschaftstheorie. Die diesbezüglichen Kapitel 12 und 13 des „Trattato" - „für jeden Kenner das eigentliche Substrat von Paretos soziologischer Erkenntnis" komme in Brinkmanns Auswahl viel zu kurz.307) Und zweitens äußerte sich Eisermann 1956 noch außerordentlich kritisch gegenüber dem Elite-Begriff. Dieser sei „im Deutschen so missverständlich ... ein etikettierender Name ... weiter nichts", so dass es ratsam sei, ihn zu vermeiden. 308 ) Wie wir oben an dem berühmten Friedhofs-Zitat gesehen haben, hatte Brinkmann an dieser Stellte tatsächlich korrekt von „Aristokratien" gesprochen, und es war Eisermann, der hier wenige Jahre später den Elite-Begriff verwendete. Eisermanns Monitum zeigt jedoch auch, dass der Prozess der Verwissenschaftlichung der Elite-Doxa zur Mitte der 1950er Jahre im deutschen Sprachraum erst eingesetzt hatte und noch nicht soweit fortgeschritten war, als dass er bereits als 302

) Weber: Wahlrecht, S. 249/50. ) Eisermann: Deutschland. 304 ) „Brinkmann (hat) in seiner Verdeutschung der Paretianischen Latinität in ihrer lässigen Eleganz und galligen Heiterkeit seine eigene unverkennbar schwerfällige Diktion aufgeprägt". Eisermann: Deutschland, S.649. 305 ) Eisermann: Deutschland, S.652. 306 ) Ebd., S. 649/50. 307 ) Tatsächlich hatte Brinkmann die Paragraphen des 13. Kapitels gänzlich weggelassen. 308 ) Eisermann: Deutschland, S.651. 303

5.2 Von der Elite zu den Eliten

457

legitime Kategorie sozialwissenschaftlicher Analysen statt allein als Instrument zeitkritischer publizistischer Polemik anerkannt gewesen wäre. Dieser Langrezension aus Eigeninteresse folgten in den Jahren 1961 und 1962 drei umfangreiche Aufsätze, in denen Eisermann Vilfredo Pareto als „politischen Denker", als „Nationalökonom und Soziologen" sowie als „Wissenssoziologen" vorstellte, bevor er im zweitgenannten Jahr seinerseits eine Auswahledition des „Trattato" veröffentlichte. 309 ) Ein weiterer Vergleich mit der entsprechenden, ähnlich umfangreichen Arbeit Brinkmanns kann hier unterbleiben, weil er kaum über die oben bereits erwähnten Unterschiede, die sich ja im Wesentlichen aus den bei Brinkmann festgestellten Auslassungen ergeben, hinaus führen würde. So genügt der Hinweis, dass Eisermann dem 12. und 13. Kapitel tatsächlich viel mehr Platz (etwa 90 von gut 200 Seiten) einräumte. Bei allen drei Aufsätzen und auch bei der langen Einleitung in die neue Teilübersetzung von Paretos Hauptwerk 3 1 0 ) (letztere war allerdings stärker biographisch gehalten) handelte es sich um unterschiedlich lange, verschieden fokussierte (sich in ihrer Formulierung allerdings auch wiederholende) und enthusiastische 311 ) Einführungen in das umfangreiche Werk Paretos. Die Theorie nicht-logischer Handlungen schien Eisermann jetzt nicht mehr für überholt zu halten, denn ihrer Darstellung widmete er zustimmend breiten Raum. Nach wie vor zielten die Bemühungen der westdeutschen Soziologie darauf, dieses Werk überhaupt erst bekannt zu machen. Weiterführende Versuche, Paretos Überlegungen und Modelle durch die Konfrontation mit anderen Konzepten oder mit eigenen Ideen fortzuentwickeln oder Paretos Ansätze empirisch anzuwenden und so auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen, standen nicht auf der wissenschaftlichen Agenda. Vor allem über Paretos Ausführungen zum „Kreislauf der Eliten" beziehungsweise zu dessen Elite-Theorie brachte Eisermann wenig Neues. 312 ) Und tatsächlich spielten seine eigenen Schriften - im Gegensatz zu seiner und Brinkmanns Übersetzungen - in der zu dieser Zeit einsetzenden intensiven wissenschaftlichen Diskussion zum Elite-Thema ausweislich der einschlägigen Literaturverzeichnisse keine Rolle. Weniger als der fehlende Eigenbeitrag war

309

) Eisermann: Denker; ders.: Vilfredo Pareto als Nationalökonom und Soziologe; ders.: Vilfredo Pareto als Wissenssoziologe. Diese Aufsätze erschienen als Beiträge zu renommierten Zeitschriften bzw. Schriftenreihen, nämlich erneut in der Kölner Zeitschrift, in KYKLOS und in einem Band von „Recht und Staat". 31 °) Die Behauptung Eisermanns in seinem Vorwort, hier würde „die soziologische Theorie Vilfredo Paretos vollständig in deutscher Sprache zugänglich gemacht" (Eisermann: Paretos System, S. V [Hervorhebung von M.R.]), war selbstverständlich eine Übertreibung. 31 ') Seiner Übersetzung des „Trattato" gab Eisermann die Widmung „Omaggio al genio del popolo italiano". 312 ) Abgesehen von einem von ihm übersetzten längeren Zitat aus den „Systemes Socialistes", das einen früheren Arbeitsstand Paretos zum Thema „regierende Elite, nicht-regierende Elite und Rest der Bevölkerung" reflektierte. Eisermann: Nationalökonom, S.47.

458

5. Die neue symbolische Ordnung

hierfür jedoch vermutlich der Umstand verantwortlich, dass sich Eisermann halbherzig! - für die Aufgabe des Elite- zu Gunsten des Klassen-Begriffs aussprach, weil er diesen für die Beschreibung der von Pareto entdeckten Zirkulationsprozesse als präziser ansah. 313 ) Hinter dieser Forderung stand erneut die zutreffende Beobachtung, dass im deutschen Sprachraum der Elite-Begriff mit Wert- und Charakter-Vorstellungen aufgeladen war. Was Eisermann jedoch nicht sah, waren die Chancen, die sich mittlerweile aus der Verwissenschaftlichung des Begriffs boten. Die Bedeutung der Schriften Paretos für die westdeutsche Diskussion über „Eliten" liegt also zuallererst in der forcierten Verwissenschaftlichung und Pluralisierung des Elite-Begriffs. Beide Momente stellten zentrale Bedingungen für die endgültige Durchsetzung der Elite-Doxa in der Bundesrepublik dar. Zweifellos haben sich Vorstellungen über die Auslese der Elite nach Werthaltungen und Charaktermerkmalen bis in die Gegenwart erhalten: Ein Blick in die Publizistik (auch in die publizistischen Veröffentlichungen von Sozialwissenschaftlern) nach Ende des Untersuchungszeitraums zeigt, dass nach wie vor versucht wird, ökonomische und politische Ungleichheit mit dem Hinweis auf die moralische und charakterliche Überlegenheit der Privilegierten zu rechtfertigen. 314 ) Dennoch kommt die Glaubwürdigkeit auch dieser Elite-Konzepte nicht mehr ohne die Herstellung von Evidenz durch die empirisch arbeitenden, vor allem die quantifizierenden Sozialwissenschaften aus - diese Entwicklung begann in der Bundesrepublik in den Jahren um 1960, und die Rezeption der Arbeiten Paretos stellt einen der wichtigsten Auslöser für ihren Beginn dar. Diese Befunde geben auch die Antwort auf die mögliche Frage, weshalb die stets umstrittenen Arbeiten Paretos und nicht die, wie wir oben gesehen haben, in den 1920er Jahren als Geheimtipp geltenden Schriften Gaetano Moscas eine derart große Bedeutung zu erlangen vermochten. Zum einen verstand sich die Politikwissenschaft, anders als die Soziologie, zu dieser Zeit noch überwiegend als eine normativ ausgerichtete Orientierungswissenschaft, die die offen antidemokratischen Impulse und Bestandteile in Moscas Werk in sehr viel geringerem Maße von dessen methodologisch möglicherweise interessantem Rest zu trennen vermochte als es der „Wirklichkeitswissenschaft" Soziologie mit dem CEuvre Paretos gelang, schon weil deren personelle Kontinuitäten zumindest in Teilen der Disziplin eine Affinität zu diesen antidemokratischen Einstellungen ermöglichten. Zum anderen erklären sich der relative (posthume) „Erfolg" Paretos und der „Misserfolg" Moscas gerade durch die Fokussierung des letzteren auf politische Phänomene, wohingegen Paretos wissenschaftliche Interessen viel breiter gestreut waren - selbst als die Zustimmung zu seinen soziologischen Arbeiten in Westdeutschland noch sehr gering 313

) Eisermann: Nationalökonom, S. 47-52.

314

) Vgl. exemplarisch Konrad Adam: Berge gibt es auch im Flachland. Wozu Elitenbildung?, in: Universitas 52.1999, S. 842-49; sowie die Beiträge in Kaltenbrunner (Hg.): Rechtfertigung.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

459

war, konnten sich seine akademischen Erben immer noch auf seine Leistungen als Ökonom berufen und taten dies auch. 315 ) Deshalb fiel es ihnen auch verhältnismäßig leicht, Paretos antidemokratischen Invektiven von seinem wissenschaftlichen Werk - etwa seiner Handlungstheorie oder seiner Erklärung für Revolutionen - zu trennen. Moscas Theorie der „herrschenden Klasse" dagegen blieb bis zum Ende des Untersuchungszeitraums unauflöslich mit seiner Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der liberalen Demokratie und seinem Wohlwollen gegenüber dem italienischen Faschismus verbunden. Das erschwerte eine positive Aufnahme seiner Gedanken in Westdeutschland nach 1945.316) Ein abschließender Blick auf die fachsoziologische Diskussion am Ende des Untersuchungszeitraums entkräftet diese Feststellung nicht, obwohl Mosca und Pareto nun, gegen Ende der 1960er Jahre, zumeist im gleichen Atemzug genannt wurden. Die Politisierung des Literarisch-Politischen Feldes bereitete den Boden für den Aufstieg der „Neuen Linken", die - verstärkt durch die Studentenbewegung - nicht ohne Erfolg eine Renaissance des Klassen-Denkens und -Handelns herbeizuführen suchte. Obwohl der Elite-Doxa damit vorübergehend eine starke politisch-ideelle Herausforderung gegenüber zu treten schien, wird eine genauere Betrachtung vermutlich den Befund zu Tage fördern, dass die Verfechter des Elite-Denkens in dieser Auseinandersetzung ihren letzten ernstzunehmenden Gegner aus dem Weg räumten. Nichtsdestoweniger erschienen gegen Ende unseres Untersuchungszeitraums einige Darstellungen, die ein vor allem aus den Schriften Moscas und Paretos gewonnenes Elite-Konzept mit einem mehr oder weniger erneuerten marxistischen Klassen-Modell konfrontierten. 317 ) Bei allen Unterschieden im Einzelnen kamen diese Bücher übereinstimmend zum gleichen Ergebnis, nämlich dass der Elite-Begriff beziehungsweise Elite-Theorien nicht in der Lage seien, Prozesse der Herrschaftsausübung und sozialen Wandel in komplexen modernen Gesellschaften hinreichend erfassen und erklären zu können. Die Autoren sparten dabei nicht mit deutlichen Worten. Rudolf Hamann bemühte sich in seiner Hamburger Dissertation um eine Unterscheidung zwischen der Elite-Theorie Paretos, die er als wegweisend ansah, und dessen akademischen Erben der 1950er und frühen Jahre, die kaum über Paretos Erkenntnisse hinaus gekommen, vielmehr hinter diese zurückgefallen seien. 318 )

315

) Dies gilt sowohl für Weinberger: Vilfredo Pareto, als auch für Brinkmann: Vilfredo Pareto, und Eisermann: Nationalökonom. 316 ) So erwähnt Klaus vom Beyme in seiner Untersuchung der politischen Elite der Bundesrepublik - ein Thema ganz in der Tradition der Forschungen Gaetano Moscas - in den Abschnitten zur Konzeption seiner Arbeit nicht einmal dessen Namen (der auch nicht ins Register aufgenommen wurde), wohl aber denjenigen Paretos, was durchaus femer liegt. Beyme: Politische Elite, S. 9-21, S. 194-215. 317 ) Hamann: Paretos Elitentheorie; Hübner: Klasse (Untertitel: „Eine Strukturanalyse der Gesellschaftstheorien Moscas und Paretos"). 318 ) Hamann: Paretos Elitentheorie, S.72.

460

5. Die neue symbolische Ordnung

Drei Jahre später diskutierte dann Peter Hübner die konzeptionellen und empirischen Vor- und Nachteile eines an Mosca und Pareto gewonnenen Elite-Begriffs und seine marxistisch inspirierten Überlegungen über Klassenbildungsprozesse und sozialökonomisch motivierte Interessenkonflikte. Hübner verwarf dabei entschieden Paretos Handlungsmodell und dessen Vorstellung der Revolution als Resultat einer fehlgeleiteten Eliten-Zirkulation zu Gunsten sozialstruktureller Erklärungen. Und nachdem er Mosca, Pareto und deren Nachfolgern (Hübner nannte ausdrücklich Ralf Dahrendorf) vorgeworfen hatte, das Ziel der Aufhebung der Entfremdung und das Erreichen einer befreiten Gesellschaft als im schlechten Sinne utopisch denunziert zu haben, wandte er abschließend deren stärkste intellektuelle Waffe, den paretianischen Blick, gegen seine Urheber: „Das Selbstverständnis, es handle sich um eine erfahrungswissenschaftliche Konstruktion, ist bloße Täuschung und Selbsttäuschung in einem." 319 ) Diese Angriffe auf den Elite-Begriff als Instrument der Gesellschaftsanalyse blieben jedoch im Wesentlichen wirkungslos. In den folgenden Jahren erschienen immer weitere empirische Studien, die die Existenz von Eliten in entwickelten Gesellschaften - auch in der DDR! 320 ) - nachwiesen.321) Die zentrale Frage der Elite-Diskussion hatte sich endgültig weg von der Sorge über die fehlende Wert- und Charakter-Elite und hin zur Untersuchung der Rekrutierungsmuster und den politischen Einstellungen der Inhaber von Elite-Positionen verschoben. Die Ursache für diesen epistemologischen Wandel ist jedoch nicht in einer grundlegenden morphologischen Veränderung der westdeutschen Sozialstruktur zu suchen, sondern sie findet sich in der Wirkung der sozialen Magie, die die veränderten Verfahren der Wissensproduktion entfalteten. Anders gesagt, verschoben hatten sich nicht die Positionen im sozialen Raum, sondern die Grenzen im symbolischen Universum. 5.2.3 Der kalte Blick der konservativen

Avantgarde

I. In mancherlei Hinsicht stellt der Beitrag der hier als „konservative Avantgarde" bezeichneten losen Verbindung von Humanwissenschaftlern zur EliteDiskussion eine Fortsetzung von Paretos Unternehmen dar. Tatsächlich waren die meisten ihrer hier in Rede stehenden Texte ganz im paretianischen Gestus der Demaskierung gehalten. In einem wichtigen Punkt unterschieden sich diese Wissenschaftler allerdings von dem italienischen Ökonomen und Soziologen: Auch wenn sie mit der Attitüde des vorurteilslosen Wissenschaftlers auf-

319

) Hübner: Klasse, S. 164-67, Zitat S. 170. ) Vgl. Wurster: Herrschaft. 321 ) Neben den in den folgenden Abschnitten näher untersuchten Arbeiten sowie den oben bereits erwähnten Studien sind hier maßgeblich die Arbeiten Erwin K. Scheuchs aus den frühen 1970er Jahren zu nennen. Vgl. allgemein die Übersicht bei Felber: Eliteforschung, S. 245-63. 320

5.2 Von der Elite zu den Eliten

461

traten, der höherwertige Wissensformen produziert als die auf bloßes Meinungswissen fixierten Intellektuellen - wie sich zeigen lässt, war die Abneigung gegen „die Intellektuellen" geradezu konstitutiv für die konservative Avantgarde - , so veröffentlichten sie doch zahllose Texte nicht für eine wissenschaftliche, sondern für eine Literarisch-Politische Öffentlichkeit. Wenn hier von der konservativen Avantgarde als einer losen Verbindung von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen die Rede ist, so soll damit ausgedrückt werden, dass es sich hierbei nicht um eine festgefügte akademische „Schule" mit gemeinsamen institutionalisierten Forschungs- und Lehrzusammenhängen, eigenen Kommunikationsmitteln (wie Zeitschriften und Buchreihen) und als interne Vorbilder und Muster fungierende, „paradigmatische" Lösungen von Forschungsproblemen handelt, 322 ) auch wenn die wichtigsten hier bezeichneten Akteure aus der sogenannten „Leipziger Schule" der Soziologie stammten. Vielmehr zeichnete ihre Mitglieder ein gemeinsamer „Denkstil", ein „gerichtetes Wahrnehmen" und „Verarbeitung des Wahrgenommenen" und folglich auch ein „stilgemäßer Denkzwang" aus, 323 ) der sich vorläufig durchaus mit dem „kalten Blick" des paretianischen Gestus umreißen lässt. Bei den älteren Mitgliedern dieses „Denkkollektivs" bildete sich dieser „Denkstil" in der völkischen Studentenbewegung der 1920er Jahre aus, deren Entstehung in den frühen 1920er Jahren von Ulrich Herbert unter dem Stichwort „Generation der Sachlichkeit" beschrieben und an Ernst Jünger und Carl Schmitt von Helmut Lethen als Lebensversuch der „kalten persona" exemplarisch untersucht worden ist. 324 ) Michael Wildt hat anhand der „Miltenberger Tagung" im April 1929 die Vergemeinschaftungsprozesse dargestellt, die diese „Generation des Unbedingten" formten. 325 ) Allerdings stellt sich die Frage, ob nicht die Ausprägung wesentlicher Spezifika dieses Denkstils doch in weitaus größerem Maße als bislang angenommen von der spezifischen historischen Konstellation der 1920er Jahre unabhängig war. Jüngere Vertreter dieses Denkstils dürften kaum von der Konfrontation der die erste Nachkriegszeit bestimmenden ideengeschichtlichen Kräfte geprägt worden sein. Die Bedingung der Möglichkeit dieses Denkstils, der vor allem auf dem Anspruch beruhte, einer wissenschaftlichen Avantgarde anzugehören, die sich über die Doxa des zeittypischen Meinungswissens hinwegsetzt, um zum Kern der Dinge vorzustoßen, lag in einer besonderen Struktur der Beziehung zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Literarisch-Politischen Feld. Diese Struktur existierte zumindest seit dem späten Kaiserreich und auch während der Weimarer Republik, und sie wurde nach 1945, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, erneuert. Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem die

322

) Zur Konzeption wissenschaftlicher „Schulen" vgl. Hüttig und Raphael: „Marburger Schule(n)", S. 294-96. 323 ) Vgl. Fleck: Entstehung, S. 130/31. 324 ) Herbert. Generation; Lethen: Verhaltenslehren. 325 ) Wildt: Generation, S. 112-25.

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5. Die neue symbolische Ordnung

relative Autonomie und Stärke des Literarisch-Politischen Feldes, in dem Schriftsteller-Intellektuelle zahlenmäßig dominierten, aber einzelne Humanwissenschaftler, die sich vor allem die sprachlichen Regeln dieses Feldes zu eigen gemacht hatten - was ihnen die geisteswissenschaftliche Orientierung ihrer akademischen Disziplin zweifellos erleichterte - ein enormes symbolisches Kapital akkumulierten und damit eine außerordentlich große Deutungsmacht ausübten. Diese Form der Beziehung zwischen humanwissenschaftlicher und literarisch-politischer Sphäre löste sich zu Beginn der 1960er Jahre auf, doch verweist sie, genau so wie die personellen Kontinuitäten, auf die ideengeschichtlichen Verbindungen zwischen der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik. Und in dieser Struktur bestand gewissermaßen die Grundlage der politisch-ideellen Wirksamkeit von einflussreichen Wissenschaftler-Intellektuellen wie Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky.326) Gerade bei den beiden letztgenannten zeigt sich das paretianische Doppelspiel besonders deutlich, weil sie es auch auf ihre Arbeitsgrundlage richteten, also auf den Ort ihrer intellektuellen Tätigkeit. Denn für die Mehrheit derjenigen, die diese Tätigkeit ausübten, also „die [Schriftsteller-]Intellektuellen", hatten sie kaum mehr als Verachtung übrig. Die folgende Passage aus einem Brief Helmut Schelskys an Hans Paeschke gibt dieser Verachtung Ausdruck, und sie zeigt darüber hinaus, dass es sich bei der konservativen Avantgarde nicht um eine geschlossene Einheit handelte (was Schelsky hier auch demonstrativ ausschloss), sondern um eine lose Gruppe, deren Akteure in intellektuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden miteinander verbunden waren: „Ich mag, ehrlich gesagt, von Intellektuellen und ähnlichen Problemen nichts mehr hören. Was Ihren Verweis auf den Essay von Gehlen über die Intellektuellen betrifft, so kenne ich den natürlich sehr genau. Gehlen hat sehr viel früher als ich die Intellektuellen-Kritik von Georges Sorel aufgenommen und sicherlich stimmen wir zu einem großen Teil überein. ... Von Gehlen unterscheidet mich sicherlich Zweierlei: Er hat sich niemals dazu durchgerungen, diese Intellektuellengruppe positiv in ihrer Funktion in der Gesellschaft zu sehen, sondern sie verfallen eigentlich restlos und pauschal in die Zeitkritik (Beispiel Journalisten). Damit hängt das Zweite zusammen: Dass er im Grunde genommen nur Verachtung für sie empfindet; sie stehen für ihn ,am Rande des Geschehens', so ζ. B. die Geisteswissenschaften usw., während ich hier wesentlich pessimistischer und der Überzeugung bin, dass diese Gruppen in das Zentrum der Herrschaft vordringen werden. So gibt es Unterschiede zu Topitsch, Scheuch, Hermann Lübbe und manchen anderen, mit denen ich gewisse Thesen teile. Aber eine solche Auseinandersetzung ist für die Betroffenen unnötig, die anderen haben sich sowieso schon auf die Einheitsformel,Neo-Konservativismus' geeinigt." 327 )

326

) Weil die neueren Arbeiten zu den genannten Autoren zumeist im Horizont werkimmanenter Interpretationen verbleiben und weder diese „strukturalistische" noch die darauf aufbauende „praxeologische", die intellektuellen Strategien der Akteure einbeziehende Perspektive entwickeln, fällt es ihnen entsprechend schwer, deren politisch-ideelle Wirkung zu erklären, wofern sie nicht einfach den Arbeiten ihrer Helden eine unerklärliche überlegene Qualität zuschreiben. Kruse: Zeitdiagnosen; Rehberg: Deutungswissen; Thies: Krise; Nolte: Ordnung; Braun: Schelskys Konzept; Kersting: Schelskys „Skeptische Generation"; Muller: God. Vgl. dagegen Klingemann: Umbauten. 327 ) D L A , D: Merkur, Briefe von Helmut Schelsky, Schelsky an Paeschke (23.1.1965).

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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Diese Passage macht jedoch auch auf die besondere rhetorische Strategie aufmerksam, mit der Schelsky und Gehlen sich durch die Attitüde der äußersten Distanzierung zur intellektuellen Avantgarde stilisierten. Schelsky präsentierte Gehlen als einen äußerst pessimistischen Beobachter politisch-sozialer Entwicklungen (hier: des Aufstiegs der Intellektuellen), um sich selbst gleich darauf als noch „wesentlich pessimistischer" darzustellen, wobei das Wort „pessimistisch" in dieser Rhetorik in der Bedeutung von „vorurteilsfrei" zu lesen ist. Die Attitüde der äußersten Distanzierung erstreckte sich jedoch nicht allein auf die positionale Abgrenzung von den Schriftsteller-Intellektuellen, sondern auch auf die Sprache der Zeitkritik. Abgegriffene und dadurch inhaltsleer gewordene Modewörter musste eine Avantgarde in jedem Falle hinter sich lassen. Bereits 1957 stimmte Hans Paeschke brieflich dem Vorschlag Gehlens zu, ein „Tabu über Ausdrücke wie ,Elite' und,Massenmensch'" zu legen: „Wir sind vollkommen einverstanden". 328 ) Tatsächlich äußerte sich Gehlen nur angelegentlich und gleichsam widerwillig explizit zum Elite-Thema, was angesichts dessen öffentlichen Relevanz immerhin überrascht. Gehlen klärte dieses Rätsel jedoch selbst auf, wieder in einem Brief an Hans Paeschke aus dem Jahr 1957. Wieder war es der Versuch der Distanzierung von der Mehrheit der Akteure und Konkurrenten in verschiedenen Feldern der Wissensproduktion, der ihn trieb: „Ich sprach noch mit keinen Intellektuellen über .Eliten' ohne zu merken, dass er sich dazurechnete. Also: Dünkel und Selbstsucht in der legitimierten Form. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass die Intellektuellen (Professoren, Journalisten, Politiker, Akademiker...) das Volk aus tiefstem Herzen verachten und sich mit den Sozialisten und Klerikalen einig sind, dass es möglichst nichts erfahren soll? Von welchem Standpunkt aus wollen Sie denn jetzt noch moralisch argumentieren, und wie würden Sie sich verhalten, wenn Ihre Tochter mit Leuten aus dem Hinterhof zusammen die Schulbank drücken sollte, und auch die im Hörsaal, bis sie erwachsen ist und einen von denen heiratet - geschweige denn mit Negern?" 329 )

Halten wir uns mit Gehlens hier zu Tage tretendem Rassismus und „KlassenRassismus" nicht weiter auf und erinnern uns stattdessen an seine Verdammung der „Pleonexie" im Zusammenhang mit seinen Askese-Vorstellungen, so finden wir hier die moralische Grundlage seiner Verachtung der kulturellen und politischen „Eliten" der Bundesrepublik. Außerdem machte Gehlen hier - privatim! - auf eine ganz besondere Funktion der Elite-Diskussion aufmerksam, nämlich auf den Effekt der Selbstzuschreibung im Moment des Redens über Elite: Wer ein sachverständiges Urteil über sie abzugeben vermochte, ja, für wen dieses Thema überhaupt Anlass zu einem Urteil gab (man denke nur an die Gegenüberstellung von „Elite" und „Prominenz"), der musste ihr wohl selbst angehören. Anders gesagt: Wie Gehlen ganz zutreffend feststellte, geschah das publizistische Reden über Elite ganz überwiegend im Modus der Innensicht und Selbstzuschreibung.

328 329

) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Paeschke an Gehlen (26.11.1957). ) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (1.11.1957).

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5. Die neue symbolische Ordnung

Im Verfolgen seiner Strategie äußerster Distanzierung verwendete Gehlen übrigens selbst den von Lethen untersuchten, auf einer einfachen Analogie beruhenden Topos der Kälte (in dieser Codierung wird zeitkritisches Engagement mit „Hitze" und wissenschaftliche Distanz mit „Kälte" ausgedrückt330)). Gegenüber Hans Paeschke erläuterte er im Dezember 1957 sein politisch-ideelles Ziel: „Es kommt darauf an, die Atmosphäre, in der der Schwindel durchsichtig wird, herzustellen, und die liegt am absoluten Kältepol. (...) Denn in Zukunft könnte es die Geister oberen Ranges charakterisieren dass sie nicht (wie früher) die Macht, sondern die allgemeine Grundverlogenheit diskret und mit leichter Hand manipulieren müssen. 331 )

Der letzte Satz drückt sehr präzise die veränderte politisch-intellektuelle Eigenpositionierung der konservativen Avantgarde aus: von der Hoffnung nach 1933, den Führer führen zu können, zum Wunsch nach Demaskierung und gleichzeitiger Steuerung der Massenmeinung nach 1945. Richtet man die Feststellungen Gehlens über die Innensicht und Selbstzuschreibung der Teilnehmer an der Elite-Diskussion auf ihn selbst, so gelangt man sehr schnell zu dem Schluss, dass er sich selbst zu den „Geistern oberen Ranges" zählte. Den besten Beleg für diese These liefert die Auseinandersetzung über ein Aufsatzmanuskript Helmut Schelskys über die Arbeit der Evangelischen Akademien. Darin hatte er die Frage aufgeworfen, ob die „Dauerreflexion ... institutionalisierbar" sei.332) Zuallererst offenbart der Text Schelskys Anspruch auf eine Avantgarde-Position im Intellektuellen Feld und seine Verachtung für die Diskussionen der „Vielen" und für die Verflachung intellektueller Debatten. 333 ) Schelsky hatte sein Manuskript offenbar zunächst dem Merkur angeboten, der jedoch ablehnte, weshalb er beschloss, es einer „religiösen Zeitschrift" anzubieten.334) Tatsächlich erschien der Text ein Jahr später, also 1957, im ersten Jahrgang der Zeitschrift für Evangelische Ethik und wertete diese damit auf einen Schlag zum Flaggschiff des intellektuell ambitionierten Protestantismus auf. Diese Aufwertung geschah nicht zuletzt durch die Qualität der Kontrahenten, die sich umgehend zu Wort meldeten: Sechs namhafte Professoren, davon vier Theologen, ein Pädagoge und ein Politikwissenschaftler, antworteten Schelsky,335) allerdings ohne sich mit dessen argumentativer Grundlage 33

°) Zur Wirkungsweise derartiger Analogien vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn, S.7 (Joyce-Zitat), S.158-63. 331 ) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen, Gehlen an Paeschke (10.12.1957). 332 ) Schelsky. Dauerreflexion. 333 ) Deshalb halte ich das Urteil von Schiidts Schüler Treidel, Schelsky habe den Akademien „nahegestanden", für völlig falsch. Treidel·. Evangelische Akademien, S.79. 334 ) DLA, D: Merkur, Briefe von Helmut Schelsky, Schelsky an den Merkur (18.10.1956, 28.11.1956). 335 ) Friedrich Delekat: Kann und darf die dauernde theologische Reflexion zu einem kirchlich-institutionellen Dauerreflex werden?, in: ZSfEE 1.1957, S. 254-71; Heinz Horst Schrey: Die künftige Gestalt der Religionssoziologie. Zu H. Schelskys Frage nach der Institutionalisierbarkeit der Dauerreflexion, in: ebd., S. 271-78; Otto Heinrich von der

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auseinanderzusetzen und ohne deshalb seine Thesen entkräften zu können, wie Schelsky in seiner Replik befriedigt feststellen konnte. 336 ) Schelsky war in seinem Text, unter intensiver Verwendung des Institutionen-Begriffs von Arnold Gehlen (den seine Kontrahenten nicht angriffen), zu dem bemerkenswerten Ergebnis gekommen, dass - aus der Sicht der „soziologischen Realitätsdiagnose" - die Institutionalisierung des religiösen Gesprächs mit innerer Notwendigkeit „zu Formen trivial-banaler Selbstverständlichkeit gelangen" müsse. Dies liege geradezu im Wesen einer Institution, denn „Institutionalisierung" bedeute nun einmal „eine Stabilisierung von Verhaltensweisen als Trivialisierung und Banalisierung". 337 ) Die „Diskussion und Unterhaltung bis zum Gerede und Geschwätz" seien „von Institutionellen her induziert und von ihm aus gesichert". 338 ) Das war ein vernichtendes Urteil angesichts der Zielsetzung und der Prätentionen der Evangelischen Akademien, auf die Schelsky in diesem Zusammenhang ausdrücklich verwies. 339 ) Denn es beinhaltete nicht nur ein äußerst herabwürdigendes Urteil über die spezifische Arbeitsweise (und Innovation) der Akademien, sondern auch eine Absage an das Programm der Bildung einer protestantischen Elite in den Akademien, wie es in der Debatte von Heinz Horst Schrey auch propagiert wurde. 340 ) Schelsky verwarf diese Versuche der Elite-Bildung ja nicht aus demokratischen oder partizipatorischen Erwägungen, sondern im Gegenteil von einer extrem „elitistischen" Position aus: Institutionen waren notwendig zur „Hintergrundserfüllung von Bedürfnissen", zur Sicherung der Verhaltensstabilität der Durchschnittsmenschen. Sein eigener Standpunkt oberhalb der „Menge" erforderte dagegen den „Mut... das Banale in der eigenen Gegenwart zu bejahen, zu ertragen und auf Dauer stellen zu wollen". 341 ) Deshalb sah er in der Banalisierung der Gesprächsinhalte auch keinen Grund zur Beunruhigung, sondern umgekehrt gerade einen Beweis für die Möglichkeit und Notwendigkeit, die Dauerreflexion zu institutionalisieren. Arnold Gehlen sah sich in diesen Thesen vollkommen verstanden. An Hans Paeschke (der den Aufsatz abgelehnt hatte) schrieb er:

Gablentz: Kann Religion die Dynamik der Gegenwart deuten und bewältigen?, in: ebd., S. 278-81; Wilhelm Loew: Dauerreflexion?, in: ebd., S. 281-83; Hans-Rudolf Müller-Schwefe: Naive oder reflektierte Aufklärung? Eine Anfrage an Helmuth (sie!) Schelsky, in: ebd., S. 283-85; Oskar Hammelsbeck·. Warum bin ich evangelisch? Zu Schelskys Frage nach Reflexion und Institution, in: ebd., S.286-91. 336 ) Helmut Schelsky: Religionssoziologie. Auch dieser Aufsatz erschien zuerst in der ZSfEE 1959. 337 ) Schelsky: Dauerreflexion?, S.264. 338 ) Schelsky: Dauerreflexion?, S.269. Diese These war Schelsky so wichtig, dass er sie gleich noch einmal wiederholte: „Von der bloßen soziologischen Realitätsdiagnose her sind die modernen Glaubensgemeinschaften daher ebenso richtig als Gesprächs- wie als Geschwätz-Gemeinden zu bezeichnen." 339 ) Schelsky: Dauerreflexion?, S.268. 340 ) Schrey: Religionssoziologie, S. 275/76. 341 ) Schelsky: Dauerreflexion?, S.264, S.266.

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5. Die neue symbolische Ordnung

„Es geht ihm [Schelsky] wie auch mir: präzise formuliert, sind unsere Erkenntnisse derart anstößig, dass man kaum auf Pardon rechnen kann, die übelsten Insulten riskiert... oder als arrogant usw. gilt. Es ist in der Tat kurios, wenn er das Geschwätz und Gerede vom Kreise der evg. Akademien applaudiert, weil endlich ein bekömmlicher und dauerhafter Grad von Trivialität erreicht sei - aber das sind Einsichten der Art, wie sie früher bei Hegel und solchen Leuten immerfort ausgesprochen wurden. Ich kenne Ihre Einwände nicht, aber Sch. erzählte mir, dass Sie von Zynismus geredet hätten - überlegen Sie mal, was alles vorkommen wird, wenn Sch. oder ich auf der Ebene meines letzten Buches weiter formulieren - wir werden dann nicht weniger Anstoß erregen, als Joyce anno 1922. Offenbar sind derartige Thesen sachlich zwingend, aber brüskierend: es war ja auch schwer vorstellbar, dass die Philosophie auf die Dauer im Niveau der Sancho-Pansahaften Hausweisheiten von Litt betrieben würde. Dabei finde ich durchaus, und sprach es Sch. gegenüber aus, dass man mit der Goldwaage ausmessen sollte, was man den Zeitgenossen zumuten kann, man soll auch klug sein und unnötige Verärgerungen und Risiken gelassen vermeiden." 342 ) D i e s e äußerst abwertende Einschätzung der Akademiearbeit hielt allerdings weder Gehlen noch Schelsky davon ab, vor wie nach jener Kontroverse auf den Akademietagungen, vor allem in Loccum, als Referenten aufzutreten, noch die Tagungsleiter davon, die beiden „Star-Intellektuellen" einzuladen. 3 4 3 ) D e n eigenen Referenzpunkt bildete für Schelsky (so wie für Gehlen Joyce und H e g e l ) die Figur des „Heiligen": D a s „,echte Gespräch', die innere Begegnung und Sich-finden subjektiver Erfahrungen in der gemeinsamen Verbindlichkeit des Glaubens" waren nach Schelsky gerade nicht „institutionelle Realität", sondern standen nur den Heiligen offen, diese aber „waren immer überinstitutionelle Erscheinungen". 3 4 4 ) D i e Ähnlichkeit dieser Vorstellungen mit Arnold Gehlens Begriff der „Persönlichkeit", nämlich „Menschen ... die eine Situation auswerten können, ζ. B. eine Gesprächssituation, die also nicht auch unter vier Augen jenes verwaschene Gerede produzieren, das aus dem ewigen Hinschielen auf das Öffentliche und Soziale kommt und aus einem schon zur Gewohnheit gewordenen Einschwenken auf die dort vertretbaren Formeln", 345 ) liegt auf der Hand, wie Gehlen und Schelsky überhaupt in ihren Texten ständig aufeinander verwiesen. D e r „Heilige" wiederum verkörpert genau diejenige intellektuell-soziale Position, die Gehlen und Schelsky für sich beanspruchten: Sie verbindet die an sich unvereinbaren Standpunkte des Propheten, Künders

342

) DLA, D: Merkur, Briefe von Arnold Gehlen Gehlen an Paeschke (22.11.1956). ) Helmut Schelsky: Technische und soziale Evolution, in: L041, S. 33-42; Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit - die Idee der deutschen Universität, in: L074, S.2-6; Helmut Schelsky: Die Bildung von Forschungsschwerpunkten an den Hochschulen, in: L l l l , S. 1216; Arnold Gehlen: Das Ende der Persönlichkeit, in: L041, S. 12-16; Arnold Gehlen: Die einsame Masse, in: L053, S. 40-44; Arnold Gehlen: Die Intellektuellen und der Staat, in: L105, S. 1-7; Arnold Gehlen: Das Verhältnis des modernen Menschen zu den Dingen im Spiegel der abstrakten Kunst/Gesellschaft zwischen Vermassung und Spezialisierung, in: BB044, S. 1-3. 344 ) Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?, S.269. 345 ) Arnold Gehlen: Ende der Persönlichkeit?, in: Merkur 1956, S. 1154. 343

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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und „unmittelbare(n) Produzent(en) der Prinzipien einer mehr oder weniger systematischen Sicht der Welt und des Daseins" 3 4 6 ) mit derjenigen des hohen Priesters, der durch die Gewalt über die religiöse (oder universitäre) Bürokratie und über die Mittel verfügt, um die Lehren der Verkündigung in eine alltäglich wirksame Ordnung (eine Institution) zu überführen. Sowohl Schelskys „überinstitutionelle" Figur des „Heiligen" als auch die von Gehlen angeführten Genies (Joyce, Hegel) verweisen im politisch-sozialen Denken beider Autoren weniger auf das kollektive Phänomen der Elite, nicht einmal auf dasjenige des Elite-Individuums, sondern vielmehr auf die Kategorie des in seiner Herkunft rational nicht erklärbaren Führers oberhalb der institutionalisierbaren Ordnungen. Ebenso wichtig wie Gehlens Abscheu vor der von ihm diagnostizierten Verlogenheit der politischen Auseinandersetzungen in Demokratien waren noch zwei weitere Aspekte jener paretianischen Distanzierung, mit der die konservative Avantgarde ihre Arbeit inszenierte. Zum einen trieben sie die Attitüde der Distanziertheit so weit, dass sie, obwohl dominierende Positionen im wissenschaftlichen Feld einnehmend, sich gelegentlich noch von ihrer eigenen akademischen Disziplin abgrenzten, so Helmut Schelsky, der sich am Ende einer nicht nur wissenschaftlich und publizistisch, sondern auch bildungspolitisch äußerst erfolgreichen Karriere zum „Anti-Soziologen" stilisierte. 347 ) Ähnlich verfuhr der Staatsrechtler Ernst Forsthoff, dessen Laufbahn nicht weniger von Erfolg gekrönt wurde als diejenige Schelskys (er war von 1960 bis 1963 Präsident des obersten Verfassungsgerichtshofes der Republik Zypern), der aber nichtsdestotrotz die Pose des „lästigen Juristen" einnahm, als sei er wegen seiner Unbotmäßigkeit zum öffentlichen Außenseiter im Politischen, im Publizistischen oder im Juristischen Feld geworden. 3 4 8 ) Zweifellos ging die Distanzierung Schelskys weiter - dieser ging in einem Maße auf Abstand zu seiner akademischen Disziplin, wie es der konservative Staatsrechtler niemals tat: Schelsky fürchtete nämlich das Unruhepotenzial der Soziologie, Forsthoff dagegen verblieb bei seiner Zeitkritik auf dem Boden der Rechtswissenschaft. Dennoch, beide schlugen eine eigentümliche Distinktionsstrategie ein, mit der sie die Position eines völlig ungebundenen (paretianischen) Solitärs einzunehmen trachteten; eine Strategie, die lediglich Akteuren mit einem extrem großen Besitz an wissenschaftlichem und intellektuellem Kapital offen stand, weil sie eine absolvierte Laufbahn voraussetzte, in welcher die höchsten akademischen und außerakademischen Positionen erst eingenommen werden mussten, um diese Würden anschließend hinter sich zu lassen. Zweifellos standen hinter diesen Distanzierungen echte politisch-ideelle Anliegen. 3 4 9 ) Dennoch lässt sich der Inhalt jener Anliegen nicht von der Form ihrer Wahrneh346

) ) 348 ) 349 ) 347

Bourdieu·. Schelsky. Forsthoff·. Vgl. dazu

Interpretation der Religion, S.24. Rückblicke. D e r lästige Jurist. Rehberg: Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, S. 90-92.

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5. Die neue symbolische Ordnung

mung trennen, nicht nur, weil diese Form eben an spezifische soziale Voraussetzungen gebunden war, sondern vor allem, weil sie in einer Kontinuität wissenschaftlicher und publizistischer Arbeit stand, die lange hinter die Rückblicke älterer Männer am Endpunkt ihrer Laufbahn zurückreichte, und schließlich, weil sich in den Äußerungen im Literarisch-Politischen Feld die Form niemals gänzlich von deren Inhalt trennen lässt. Zum anderen, und damit beschließen wir unsere Untersuchung des kalten paretianischen Blicks der konservativen Avantgarde der 1950er Jahre, bedienten sich ihre Angehörigen auch ganz bestimmter argumentativer Strategien. Die vielleicht wirkungsvollste bestand in einem ständigen Wechsel der disziplinaren Ebenen: Philosophische Fragen beispielsweise wurden soziologisch, soziologische philosophisch oder psychologisch beantwortet. Es ist leicht einsichtig, dass diese Strategie vor allem gegen wissenschaftliche und politischideelle Konkurrenten beziehungsweise Gegner gerichtet war, weil philosophischen Arbeiten ihre soziologische Insuffizienz, soziologischen Fragestellungen ihre philosophische Irrelevanz vorgeworfen werden konnte, und immer so fort. 350 ) In seinem weit verbreiteten Buch „Die Seele im technischen Zeitalter" 351 ) ging Gehlen so weit, gleich den gesamten nichtsystematischen, „klassischen" Humanwissenschaften zu attestieren, sie seien „für Köpfe größerer Kapazität" (hier denken wir wieder an ihn selbst) „uninteressant" geworden, und zwar mit dem bemerkenswerten Argument, dass seit Paretos Einführung der „logisch-experimentellen Methode" in den Sozialwissenschaften (die Gehlen ja schon Anfang der 1940er Jahre begrüßt hatte) die Wissensproduktion derart „unsinnlich und abstrakt, schließlich auch autonom" (Gehlen schreibt nicht, wovon autonom, gemeint sein dürfte jedoch eine Autonomie von den intellektuellen Bedürfnissen und Phantasmagorien eines „allgemeinen" Publikums) geworden sei, dass die narrativen und philologischen Verfahren der Geisteswissenschaften auf diesem Niveau keine relevanten Resultate mehr zu liefern im Stande seien. Die avanciertesten Bereiche der wissenschaftlichen Kultur (zu denen er vermutlich auch die „philosophische Anthropolo35

°) Diese argumentative Strategie ließ sich allerdings auch auf befreundete Autoren anwenden. In Arnold Gehlens Besprechung von Hans Freyers „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" ζ. B. stellte er den Autor als „einen unserer ersten Soziologen" vor, sah den Ertrag des Buches jedoch vor allem in seinen Anregungen - angesichts von Gehlens Sprache müsste man wohl von „Denkzwängen" sprechen - für die Anthropologie und für die politische Philosophie, wobei er abschließend die zeitgenössische Philosophie der Bedeutungslosigkeit beschuldigte, weil er sie nicht für willens oder fähig ansah, ihre Aufgabe den „Verwirrungen" ihrer Zeit „überlegen" zu bleiben - zu erfüllen, eben weil Freyer und Gehlen diese Verwirrungen als vorwiegend materieller Art ansahen. Arnold Gehlen·. Zu Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, in: Merkur 9.1955, S. 578-82. 3S1 ) Das Büchlein, eine erweiterte Fassung der kurzen Arbeit über „Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft" aus dem Jahr 1949 (der es auch seinen Untertitel entnahm), erschien 1957 in der populären Reihe „rde" und erzielte bis 1970 eine Auflage von 95 000 Exemplaren.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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gie", also seine eigene Fachrichtung zählte) würden zum „Virtuosenreservat". 3 5 2 ) Mit dieser Behauptung betonte er vor allem eine überlegene Erklärungskraft der neueren systematischen gegenüber den älteren geisteswissenschaftlichen Humanwissenschaften, wobei sein eigener Ansatz tatsächlich den Versuch einer prekären Verschmelzung beider Richtungen darstellte und seine Attraktivität eben deshalb von einem bestimmten Arrangement zwischen dem Humanwissenschaftlichem und dem Literarisch-Politischem Feld abhing. Angesichts der überaus starken Position, die nicht nur, aber vor allem die Soziologen aus der konservativen Avantgarde während der 1950er Jahre in der gehobenen Publizistik und in den Sozialwissenschaften einnahmen, scheint diese wissenschaftspolitische Strategie nicht ganz erfolglos geblieben zu sein. Dieser Erfolg erklärt sich jedoch nicht zuletzt aus der strukturellen Verwandtschaft, die zwischen dem von der konservativen Avantgarde kultivierten kalten Blick des paretianischen Gestus und dem nomos des Literarisch-Politischen Feldes, dem „dire des choses tel quel sont" bestand. Anders gesagt, die herausfordernde Attitüde, mit der Gehlen und andere ihre Arbeiten während der 1950er Jahre umgaben, bestand faktisch in nichts anderem als dem getreuen Befolgen der zu dieser Zeit herrschenden Regeln des Intellektuellen Feldes. Die konservative Avantgarde verfolgte ihre Strategie übrigens selbst von einem Standpunkt aus, der geisteswissenschaftlich fundiert (immerhin war Gehlens intellektuelles und wissenschaftliches Programm der „Philosophischen Anthropologie" verpflichtet!) 353 ) und zeitkritisch motiviert war, jedoch durch die Liaison mit den empirischen (und tatsächlich nur in geringem Maße systematischen) Sozialwissenschaften eine überlegene Form des Wissens zu hervorzubringen prätendierte. Neben der Autonomisierung der Sozialwissenschaften, die sich ihre Fragestellungen und Verfahren zusehends weniger von den intellektuellen Bedürfnissen eines „allgemeinen" Publikums diktieren ließen, zerstörte die Politisierung des Literarisch-Politischen Feldes die Existenzbedingung dieser Avantgarde-Position durch die Einführung eines ganz neuen Referenzsystems in der Publizistik, eines Referenzsystems nämlich, in dem nicht mehr Strategien der Distanzierung, sondern des Engagements prämiiert wurden. II. Während der frühen 1950er Jahre erschien eine ganze Reihe von Texten aus der Feder der genannten Autoren zum Thema „Elite", die ganz unterschiedlichen Genres entstammten. Den wichtigsten, weil die breiteste Leserschaft erreichenden Beitrag, stellte sicherlich der Eintrag „Elite" im Großen Brockhaus dar, der 1952 erschien und der wesentlich auf Hans Freyer zurückging. Bevor wir uns diesem zuwenden, müssen wir allerdings unser Augenmerk auf mehrere Beiträge von Arnold Gehlen lenken, darunter ein Gelegen352

) Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S.32. ) Zum Wissenschaftskonzept der „Philosophischen Anthropologie" vgl. die Beiträge in Weiland (Hg.): Philosophische Anthropologie.

353

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heitsvortrag, der zwei Jahre später an einem nicht allzu prominenten Ort veröffentlicht wurde - allerdings bevor das Elite-Thema derart populär wurde, dass der Avantgardist Gehlen sich wieder davon abwandte - und der uns ob seiner etwas freieren Formgebung gewissermaßen als semantischer Schlüssel für den unter weitaus rigideren Bedingungen der Zensur erschienenen Lexikonartikel, aber auch für die an exponierter Stelle veröffentlichten weiteren Arbeiten Gehlens dienen soll. Der Vortrag „Das Elitenproblem" erschien 1954 zusammen mit anderen Radio vorträgen, die Gehlen im Schweizer Rundfunk gehalten hatte, in dem Sammelband „Macht einmal anders gesehen", den der Züricher Fontana-Verlag publizierte - sicherlich nicht die erste Wahl für Gehlens Arbeiten. 3 5 4 ) So kurz dieser Text ist, so wenig scheint Gehlen Rücksichten der oben zitierten Art gegenüber seinen Zuhörern und Lesern geübt zu haben und so klar treten seine Vorstellungen hier zu Tage. Von vornherein, schon mit dem ersten Satz, baute er ein Spannungsverhältnis zwischen den Kategorien Leistung und Wert(-bindung) als konstituierende Kriterien des Elite-Status auf. Bemerkenswerterweise hielt er ebenfalls noch im ersten Satz einen Hinweis auf die „Elitetruppen" des Militärs für nötig, um die Bedeutung des Begriffs zu veranschaulichen (was er einige Seiten später wiederholte). Eine militärische Elite-Definition passte ausgezeichnet zu der Vorstellung einer elitären Dienstaskese, wie Gehlen sie besonders in den frühen 1950er Jahre propagierte. 3 5 5 ) Der erste Problemzusammenhang, den Gehlen dann ansprach, bestand in dem damals vieldiskutierten Thema „Elite und Herrschaft" beziehungsweise „Elite und Demokratie". Dass die „regierende Klasse" in jeder Regierungsform eine Minderheit darstelle, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Diese „regierende Klasse" definierte er nun aber ganz rechtlich-positional, zählte also die Minister, Parlamentarier und hohen Beamten dazu, des Weiteren die Spitzen der großen Interessenverbände, Großunternehmer, das heißt alle diejenigen, die in der Lage seien, politische Entscheidungen zu beeinflussen. An diesem Punkt nahm Gehlen eine doppelte Abgrenzung gegenüber den zeitgenössischen konservativen Forderungen nach Initiativen und Institutionen für eine planmäßige und den demokratischen Verfahren entzogene Bildung der (politischen) Elite vor. Nur am Rande sei vermerkt, dass er sich mit dieser Abgrenzung gleichzeitig vom Denkhorizont des konservativen Mittelfeldes distanzierte und auf diese Weise erneut seinen Anspruch auf eine intellektuelle Avantgarde-Position unterstrich. Zum einen erklärte er ganz ausdrücklich, wovor sich die mai'nsfream-Konservativen in der Regel hüteten, es offen auszusprechen, nämlich dass derartige Vorstellungen mit dem demokratischen

354

) Arnold Gehlen: Elitenproblem; hier und im Folgenden zitiert - soweit nicht anders vermerkt - nach: Einblicke, S. 105-09; vgl. auch die editorischen Bemerkungen Rehbergs ebd., S. 448. 355 ) In diesem Zusammenhang ist auch der dem „Elitenproblem" vorangestellte Vortrag unter dem Titel „Die Rolle des Lebensstandards in der modernen Gesellschaft" zu sehen.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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System nicht vereinbar waren. 356 ) Zum anderen jedoch, und in diesem Befund zeigt sich auch der Scharfsinn Gehlens, machte er deutlich, dass bereits die Forderung nach einer Herrschaft der „Besten" - wofern man diese überlegene Qualität nicht als reines Sein verstehe - überhaupt nur im Horizont eines demokratischen Prinzips gedacht werden könne. Anders gesagt, er überführte die konservativen Kritiker der Demokratie der denkerischen Inkonsequenz, des Angekränkeltseins von eben den demokratischen Ideen, die sie doch zu kritisieren glaubten, kurz: der intellektuellen Mittelmäßigkeit. 357 ) Um das Problem „in die Zukunft gerichtet" zu beleuchten, das heißt jenseits des Horizonts der nivellierten massendemokratischen Gegenwart, skizzierte Gehlen die „Merkmale einer Gesellschaft... in der eine Elite gute Entstehungsbedingungen hat". Hier zeigte er sich ganz als Anhänger der These notwendiger sozialer Ungleichheit als Voraussetzung der Elite-Bildung. Bereits Schumpeter habe gezeigt, dass „eine wesentliche Bedingung dafür, dass Menschen von hinreichend hoher Qualität zum Zuge kommen, in der Existenz einer sozialen Schicht (liege), die selbst das Produkt eines strengen Auswahlprozesses ist. Diese Schicht muss .offen' in dem Sinne sein, dass der Neuzutritt zu ihr stets möglich ist, aber dieser Neuzutritt darf nicht allzu sehr erleichtert werden." 358 )

Das war nun eine überaus radikalisierte Schumpeter-Lektüre. Jener hatte nämlich behauptet, auch sozialistische (antibürgerliche) Regimes könnten es sich bei Gefahr ihres eigenen Zusammenbruchs nicht leisten, Angehörige des Bürgertums wegen ihrer Klassenzugehörigkeit grundsätzlich von Entscheidungspositionen fernzuhalten, einfach weil die Qualifikationen und Qualitäten dieser Gruppe ganz unentbehrlich seien. 359 ) Schumpeter sah das Bürgertum, und zwar sowohl das Wirtschaftsbürgertum als auch das Bildungsbürgertum, ganz wesentlich als eine „Leistungselite" (ohne diesen Begriff zu verwenden, jedoch mit dem ständigen Hinweis auf qualifikationsgesteuerte Ausleseprozesse). 360 )

356

) Der weitergehende Unterschied bestand selbstverständlich darin, dass Gehlen im Gegensatz zu der Mehrzahl dieser Konservativen gar nicht daran dachte, dem demokratischen System irgendwelche intellektuellen Konzessionen in seinem Denken zu machen. 357 ) Gehlen sprach in diesem Zusammenhang von „Nörgelei" und „Herumkritisieren", jedoch so verklausuliert, dass seine Kritik an den konservativen Kritikern (die ja sein Publikum bildeten) nicht allzu offen zu Tage trat. Gehlen: Das Elitenproblem, S. 106. 358 ) Gehlen: Das Elitenproblem, S. 107. 359 ) Schumpeter: Kapitalismus, S. 325-27. 36 °) Schumpeter schreckte dabei allerdings auch nicht vor einer Soziodizee des Bürgertums zurück, als er erklärte: „Das typische Individuum der bürgerlichen Klasse ist in bezug auf intellektuelle und willensmäßige Fähigkeiten dem typischen Individuum jeder andern Klasse der industriellen Gesellschaft überlegen. Das ist zwar nie statistisch festgestellt worden und kann es auch kaum je werden, doch dies folgt aus einer Analyse jenes sozialen Selektionsprozesses in der kapitalistischen Gesellschaft. Die Natur des Prozesses bestimmt auch den Sinn, in dem der Ausdruck ,Überlegenheit' verstanden werden muss. Durch eine ähnliche Analyse anderer sozialer Welten lässt sich zeigen, dass das gleiche für alle herr-

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5. Die neue symbolische Ordnung

Gehlen radikalisierte diesen Gedankengang, indem er die Existenz einer hinreichend abgeschlossenen sozialen Schicht zur Vorbedingung der Elite-Bildung erklärte. Der Gedanke, dass die soziale Abschließung durch Leistungsauslese eine Notwendigkeit zur Qualitätssicherung des Führungsnachwuchses darstelle, findet sich bei Schumpeter nicht - für jenen resultierten die scharfen Auslesemechanismen einfach aus den Marktkräften, die auf dem Bürgertum stärker als auf anderen sozialen Klassen lasteten. Seinem paretianischen Gestus zum Trotz argumentierte Gehlen an dieser Stelle also ganz auf der Linie traditioneller Konservativer. Dieser erstaunliche Konventionalismus bei Gehlen war nur die konsequente Folge seines Elite-Konzepts, das eben nur zur einen Hälfte auf Leistungsauslese beruhte, zur anderen aber auf Persönlichkeitsmerkmalen. Gehlens Konventionalismus wird noch offensichtlicher, wenn man den untersuchten Text in der Originalfassung liest, deren interpretationsleitende Zwischenüberschriften in der von Rehberg besorgten Werkausgabe fortgelassen wurden. Dort ist beispielsweise vom „Verfall der Eliten" die Rede, eine Formulierung, die dem überlieferten Text eine zusätzliche - ganz konventionell kulturpessimistische - Schärfe verlieh.361) Doch zurück zu der Unterscheidung zwischen „Elite" und „Oberschicht". Erst wenn die Angehörigen dieses relativ abgeschlossenen Stratums bestimmte Wertbindungen - die in Gehlens asketischer Dienstethik keine anderen als „unbeugsame Ehrbegriffe" sein konnten - ausbildeten, waren sie in der Lage, das „unter soziologischem Gesichtspunkt ... eigentliche Elitemerkmal" zu erreichen, nämlich „die Position des so genannten ,anstrebenswerten Vorbildes'".362) Erst die „Funktion des anstrebenswerten Vorbildes" unterschied für Gehlen die Elite von der „Majorität", machte die „quantitative Minorität" zur „qualitativen Majorität" (Gehlen vermied hier den längst zum Allerweltsbegriff herabgesunkenen Terminus „Masse"). „Ein Eliteanspruch (muss) also stets durch eine Askeseforderung legitimiert sein",363) darin bestand die Quintessenz von Gehlens Konzeption einer auf Leistung beruhenden, aber erst durch

sehenden Klassen gilt, über die wir historische Informationen besitzen. Das heißt: es kann in allen Fällen gezeigt werden, erstens dass die menschlichen Moleküle innerhalb der Klasse, in die sie hineingeboren werden, steigen und fallen, in einer Art, die zu der Hypothese passt, dass sie dies wegen ihrer relativen Fähigkeiten tun; zweitens kann auch gezeigt werden, dass sie über die Grenzlinien ihrer Klasse hinüber in der gleichen Art steigen und fallen. Dieses Steigen und Fallen in höhere und tiefere Klassen braucht in der Regel mehr als eine Generation." Das war gewissermaßen ein historisch stillgestellter Kreislauf der Eliten, der zwar wie in der Konzeption Paretos einen Zusammenhang zwischen menschlichen Fähigkeiten und Klassenlagen behauptete, daraus jedoch gerade keine Theorie sozialen Wandels begründete. Schumpeter. Kapitalismus, S. 326-27. 361 ) Dort erwähnte Gehlen zwar die „Dekadenz der Eliten", jedoch nur als historische Möglichkeit. Den Schlussabschnitt des Vortrags mit „Der Verfall der Eliten" zu überschreiben, lief jedoch auf eine Gegenwartsdiagnose hinaus. Gehlen: Das Elitenproblem, in: Macht einmal anders gesehen, S. 37/38. 362 ) Gehlen: Elitenproblem, S. 107. 363 ) Gehlen: Elitenproblem, S. 108.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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Persönlichkeitsmerkmale qualifizierten Elite, in der Wertbindungen und Charakterqualitäten miteinander verschmolzen. Dies war ein ausgesprochen eklektischer Elite-Begriff; entwickelt in einem Bezugsrahmen, als dessen Eckpunkte sich Joseph Schumpeter, Peter Hofstätter (dessen Studien Gehlen die Idee des Gegensatzes zwischen den Werthaltungen der Minorität und denen der Majorität entnahm) sowie ungenannt Vilfredo Pareto und Gaetano Moscas Begriff der „regierenden Klasse" darstellten. Seine Bedeutung für den weiteren Erörterungszusammenhang zum „Elite"-Thema lag vor allem in dem Versuch, die Wert- und Charakter-Konzepte des mami/ream-Konservatismus sowie dessen Modelle der abgeschlossenen Oberschicht als Rekrutierungsmilieu der wahren Elite mit neueren soziologischen beziehungsweise sozialpsychologischen Theorien zu verbinden. Noch allerdings war damit der Weg zur Pluralisierung des Elite-Begriffs nur halb beschritten; an den entscheidenden Stellen verwendete Gehlen stets den Singular, denn wenn er auch einen Pluralismus von Werthaltungen in einer jeweiligen Gesellschaft als gegeben (diese aber eben nicht als gleichberechtigt) ansah, so konnte das vorbildliche Wertsystem nur ein einheitliches, nämlich ein dem asketischen Dienst verpflichtetes, sein. Gehlen entwickelte dieses Elite-Modell in späteren Arbeiten nicht ausdrücklich weiter, das heißt er korrigierte seine inhärenten Schwächen - die unüberprüfbare gesellschaftliche Wirksamkeit dieser Elite oder den Umstand, dass die Unterscheidungslinie zwischen der „regierenden Klasse" und der „Elite" letztlich vollkommen willkürlich gezogen war - nicht. Aber in seinen entsprechenden Schriften aus der Mitte der 1950er Jahre, die an weitaus prominenteren Orten erschienen, verschob er den Schwerpunkt der konstituierenden Elite-Kriterien doch merklich. Allerdings stand in diesen Texten das Problem der Elite(-Persönlichkeit) nicht unmittelbar im Vordergrund; Gehlen zielte in seiner Intellektuellen-Kritik dieser Jahre vielmehr auf bestimmte Doxa der Zeitkritik: vor allem die Überzeugung, in einem Zeitalter der Massen zu leben, das die psychische und kulturelle Integrität des (bürgerlichen) Individuums existenziell bedrohe. Für Gehlen waren dies abgelebte Stereotypen, genauer, eine Kulturkritik „aus soziale(m) Reflex", die nicht auf der Höhe der Zeit schrieb. 364 ) Daher bemühte er sich um den Nachweis, dass es auch in der „Massengesellschaft" möglich sei, (bürgerlicher) Mensch zu bleiben, und dass man das „Ende der Persönlichkeit" zu früh ausgerufen habe. Die betreffenden Texte erschienen in der konservativen deutsch-österreichischen Kulturzeitschrift Wort und Wahrheit sowie im Merkur, einen der wichtigsten trug er auf einer Tagung in Loccum vor.365) Dabei übernahm er die entscheidenden Passagen fast wortgleich in der erweiterten Fassung der „Sozialpsychologischen Probleme in der industriellen Gesellschaft" von 1957.366) In diesen Passagen umriss Gehlen ein Bild der Elite-Persönlichkeit, das eine 364

) Arnold Gehlen: Mensch trotz Masse, in: Wort und Wahrheit 7.1952, S. 579-85. ) Arnold Gehlen: Das Ende der Persönlichkeit?, in: L041, S.3-12. 36«) Gehlen: Seele, S. 115. 365

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5. Die neue symbolische Ordnung

implizite Veränderung gegenüber dem kurzen Aufsatz von 1954 beinhaltete (auf den er an keiner Stelle mehr hinwies!), weil jetzt nicht mehr die DienstAskese das „eigentliche Elitemerkmal" darstellte, sondern die Kombination von politischem, bürokratischem, besonders jedoch ökonomischem Machtbesitz einerseits und dem Gestaltungswillen des „Machers", wie man heute sagen würde, andererseits. Es lohnt sich, diese Textstelle im Wortlaut zu lesen, schon weil sie so gar nichts mit dem spröden Ton von 1954 gemein hat und gegenüber der Leichtigkeit seines abgeklärt-distanzierten Stils, in dem viele seiner besten Schriften gehalten sind, geradezu hymnisch den Gegenstand seiner Darstellung feiert („cum emphasi" solle man den Begriff der Persönlichkeit denken, hatte er 1949 geschrieben, 3 6 7 ) als dieser Abschnitt noch nicht enthalten war): „Nun gibt es aber einen Sinn des Wortes Persönlichkeit, den wir auch noch vorweg behandeln müssen - das ist der Meta-Routinier, der Mehr-als-Routinier: eine in unserer Gesellschaft höchst bedeutsame, geradezu stürmisch nachgefragte Figur. Hier haben wir den Mann, der Impulse gibt, schöpferische Einfälle hat, der seine Sache mit sich selbst und sich selbst mit seiner Sache durchsetzt - den Mann mit Initiative und Übersicht, mit der überdurchschnittlichen Arbeitskraft, der Menschen behandelt und Situationen meistert. Wir wissen aus psychologischen Untersuchungen, dass so jemand drei Anforderungen zu entsprechen hat: Intelligenz, vitale Energie und Selbstbeherrschung (self control). Es ist auch kein Zweifel, dass die moderne Gesellschaft diesen Typus verlangt und erzeugt, denn sie ist eine offene, immerfort ihre eigenen Traditionen zerbrechende, nach vorwärts stürmende Gesellschaft und zugleich diejenige, die, ganz in Spezialleistungen aufgelöst, stets von der Routineerstarrung bedroht bleibt. Deshalb ist der Meta-Routinier, der Mann, der sich über die Routine erhebt und sie durchstößt, indem er sie beherrscht, eine ihrer Schlüsselfiguren. Überall: in der Verwaltung, unter Politikern, in der Wirtschaft, auf jedem Gebiet erzeugt und verbraucht die Gesellschaft den .ErfinderUnternehmer'. Daher auch die merkwürdige Formalisierung der mitgedachten Eigenschaften: einfallsreich, gewandt, vital, zuverlässig usw. sind formale Kategorien, das Inhaltliche gibt die jeweilige Fachleistung her, und daher ist dieser Begriff von Persönlichkeit zuletzt ganz an der Leistung orientiert. Es wird erwartet, dass eine Reihe überdurchschnittlicher Fähigkeit sich zuletzt an der Leistung ausweist, eine Persönlichkeit ohne Erfolge ist ein Widerspruch, und gerade der Facherfolg erfordert heutzutage mehr als Fachfähigkeiten. Die Persönlichkeit in diesem Sinne ist ein Solltypus unserer Arbeitswelt, von ihr hängt ganz konkret sehr viel ab, auch ist dieser Solltypus gar nicht so leicht zu erfüllen, er ist in hohem Grade suggestiv und lässt viele Opfer auf der Strecke - wer sich übernimmt, war ihm nicht gewachsen."368) Es steht außer Zweifel, dass Gehlen diesen „Meta-Routinier" bewunderte. Außer Zweifel steht jedoch ebenfalls, dass er hier einen Typus zeichnete, der dem Führer-Glauben mindestens ebenso nahe stand wie der Elite-Doxa. Wenn nicht außeralltäglich, so doch zumindest seine Umgebung überragend war diese Persönlichkeit. Mit dieser Beschreibung elitären Rollenhandelns berührte Gehlen einen der zentralen konzeptionellen Problempunkte des Elite-Begriffs 367

) Gehlen'. Sozialpsychologische Probleme, S.45. ) Arnold Gehlen: Das Ende der Persönlichkeit?, in: Merkur 10.1956, S. 1149-58, Zitat S. 1152. 36S

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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überhaupt. Denn wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, widmeten sich die Sozialwissenschaftler, abgesehen von den wenig zusammenhängenden Aussagen zum Begriff der „Führung", nicht einer systematischen Ergründung der Art und Weise, wie Eliten individuell und kollektiv handelten. 369 ) Einzig Pareto hatte mit seiner Theorie der Residuen - Eliten sichern ihre Macht durch Akkumulation von Reichtümern und Bestechung (Kombination) oder durch Repression (Persistenz) - hier einen gegenläufigen Akzent gesetzt, doch gerade seine Handlungstheorie setzte sich in der Soziologie ja in keiner Weise durch. Die Äußerungen aus der Geschäftswelt wiederum waren viel zu sehr auf deren lebensweltliche und berufliche Aufgaben ausgerichtet, als dass sie eine Systematisierung elitären Rollenhandelns ermöglicht hätten. Mit anderen Worten, Gehlen füllte mit seiner Rollenbestimmung des Sich-Erhebens über die alltäglichen Handlungsroutinen der übrigen Menschen kraft Kenntnis und Manipulation dieser Gleichförmigkeiten eine konzeptionelle Leerstelle des Elite-Begriffs, und er tat dies in einer Weise, die das Elite-Individuum deutlich in die Nähe einer Führer-Figur rückte. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass Gehlen den „Meta-Routinier" hauptsächlich im ökonomischen Feld verankerte. Dies war sicherlich mehr als eine Konzession an das Loccumer Publikum, als Gehlen im Dezember 1955 auf einer Unternehmer-Tagung diese Gedanken erstmals entwickelte. Ausdrücklich sprach er vom „Erfinder-Unternehmer" und beschrieb die funktionale Notwendigkeit dieses Typus für die rastlose Dynamik einer Wirtschaftsgesellschaft. Die Vorstellung, dass nur dieser Typus der mit Durchsetzungsfähigkeit gepaarten Kreativität die Gesellschaft vor der Erstarrung bewahren könne, zeigt offenbar die Übernahme von Schumpeters Begriff des Unternehmers als desjenigen, der „neue Kombinationen" durchsetzt. 370 ) Die Annahme hingegen, die in ständiger Bewegung befindliche moderne Wirtschaftsgesellschaft könne von routinehafter Erstarrung bedroht sein, stellt sich als ein typisches Produkt Gehlen'scher Dialektik dar. III. Der Artikel „Elite" im zwölfbändigen „Großen Brockhaus" aus dem Jahr 1953 steht ideengeschichtlich in weitaus größerer Nähe zu den frühen Begriffsbestimmungen durch Arnold Gehlen, als dass er von den zeitgenössischen Diskussionen der Intellektuellen und anderer Wissenschaftler beeinflusst worden wäre. Diese Nähe war schon durch die Präsenz seines akademischen Lehrers Hans Freyer in der „Brockhaus"-Redaktion gegeben. Gehlen selbst war im „Großen Brockhaus" für die „Abt. Philosophie und Psychologie" vorgesehen, scheint dann aber keinen Artikel beigesteuert zu haben. Die meisten Einträge zu soziologischen und sozialgeschichtlichen Themen stammen offenbar

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) Dieser Befund gilt für die deutschen „Elitestudien" bis heute, die stets die Positionierung, nicht aber das Handeln und auch nicht die Ausleseprozesse der Elite-Mitglieder thematisieren. 370 ) Schumpeter. Theorie, S. 114-22; ders.: Konjunkturzyklen, Bd. 1 S. 111/12.

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5. Die neue symbolische Ordnung

von den einstmals der völkischen Bewegung nahe stehenden Soziologen Hans Freyer, Gunther Ipsen und Wilhelm Emil Mühlmann.371) Gerade vor dem Hintergrund der dominierenden Wert- und Charakter-Modelle, die sich nur allzu häufig durch ihre konzeptionelle Inkohärenz auszeichneten und in die oben dargestellten modelltheoretischen Aporien mündeten, hinterlässt dieser „Brockhaus"-Artikel den Eindruck einer großen intellektuellen Geschlossenheit. In seinem Aufbau war dieser Lexikon-Artikel viergeteilt.372) Das erste Viertel des Eintrags, in dem die eigentliche Begriffsbestimmung vorgenommen wurde, bestand aus einer verhältnismäßig klaren und konzisen, soziologisch orientierten Eingrenzung der Bedeutung des Terminus. Unter Berufung auf die „moderne Soziologie", die den Begriff „wertfrei" gebrauche, wurde dieser an die Kategorie der politischen Macht gekoppelt, dass heißt, zur „Elite" wurden einerseits diejenigen gezählt, die durch ihre Position legitimiert seien, Entscheidungen von politischer Tragweite zu fassen (also Politiker und hohe Beamte), und andererseits diejenigen, die in der Lage wären, diese Entscheidungen zu beeinflussen, wie Industrielle, Gewerkschafter, Verbandsmanager und so weiter. Das Postulat der Wertfreiheit beinhaltete dabei nicht nur eine Spitze gegen eher liberale Soziologen wie Alfred Weber oder Max Graf Solms, die den Elite-Begriff ausdrücklich an Wertbindungen gekoppelt hatten, sondern ebenso gegen all die übrigen, eher einem konventionellen Konservatismus verhafteten Intellektuellen und Humanwissenschaftler, die genauso verfuhren. Deshalb kennzeichnet dieses Postulat mehr das Selbstverständnis und den paretianischen Gestus der „Brockhaus"-Autoren als den damaligen Diskussions- und Entwicklungsstand der Sozialwissenschaften. Als „Qualitäten, die über die Zugehörigkeit zur Elite entscheiden", bezeichneten die Autoren jedoch nicht persönliche Merkmale charakterlicher Art, wie es die meisten konservativen Intellektuellen und Wissenschaftler der 1950er Jahre taten, sondern die Grundlagen der politischen Macht; ausdrücklich nannten sie Abstammung und Tradition, Reichtum, Wissen sowie die Manipulation der öffentlichen Meinung. Diese Bestimmung des Elite-Begriffs als politische (Macht-)Elite deckte sich weitgehend mit derjenigen im frühen Aufsatz von Arnold Gehlen über das „Elitenproblem". Sie deckte sich darüber hinaus auch mit der Definition des „Volks-Brockhaus", der unter der „Elite" ja eine „politische Führerschicht" verstanden hätte. Die Traditionslinie dieser Begriffsbestimmung, reichte also weit über das Schwellenjahr 1945 zurück. Im zweiten Viertel des „Brockhaus"-Artikels wurde dann der uns bereits vertraute Gedanke der Unterscheidung zwischen der „Elite" und der „gesellschaftlichen Oberschicht" ins Spiel gebracht: „Jede Elite entsteht aus Elementen insbes. der oberen Schichten, die für die Anforderungen der Staatlichkeit ansprechbar und fähig sind, im Staate zu herrschen. Im Zuge der Elitebildung treten diese Elemente aus den Bindungen und Überlieferungen ihrer sozialen 371

) Klingemann: Umbauten, S. 121-25. ) „Elite", in: Der Große Brockhaus, 16. Aufl. Wiesbaden 1953, Bd. 3 S.537.

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Herkunft mehr oder minder heraus und unterwerfen sich einer eigentüml. Diszplinierung, harten Verzichten oder Forderungen der Askese. Andererseits drängt jede zur Macht gelangte E. nach Einwurzelung in die bestehende Oberschicht. Zwischen Führungsschicht und Oberschicht entstehen daher Wechselverhältnisse mannigfacher Art. (...) Die Qualitäten, die über die Zugehörigkeit zur E. entscheiden, sind je nach den geschichtl. Anforderungen an die Führung in den einzelnen Gesellschaftsordnungen verschieden. Solche Qualitäten können sein: vornehme Abstammung und Tradition (Geburtsadel), Wissen (Mandarinen), Reichtum (Plutokratie) oder auch die Fähigkeit zur Beeinflussung und Organisation von Massen (Manager) und Meinung (Presse)." 373 )

Das war nun gleichermaßen eine Systematisierung und eine Aufweichung von Gehlens rigidem Modell. Eine Aufweichung, weil hier die Existenz einer abgeschlossenen Oberschicht nicht mehr zur notwendigen Vorbedingung der Elite-Bildung verklärt wurde, sondern die Rekrutierung der „Elite" aus der „Oberschicht" nur mehr hauptsächlich, aber nicht ausschließlich geschehen sollte. Und obwohl die Lexikon-Autoren Gehlens Vorstellung der „harten" Dienstethik und Askese übernahmen, schwächten sie seine Rigidität doch insofern ab, als die daraus folgende Vorbildlichkeit, die erst den Elite-Status wirklich und soziologisch relevant begründe, von ihnen nicht mehr erwähnt wurde. Streng modelltheoretisch gesehen stellte im „Brockhaus" die Unterwerfung unter die Askese-Disziplin kein Konstituens der Elite mehr dar, sondern ein besonderes Merkmal unter mehreren denkbaren. Andererseits ist es durchaus bemerkenswert, dass die konservative Avantgarde mit ihrem Beharren auf Disziplin und Askese und ihrem selbstgewählten paretianischen Vorbehalt der Wertfreiheit zum Trotz ihren Elite-Begriff im „Brockhaus" alles andere als „wertfrei" komponierte. Systematischer hingegen als in Gehlens Vortrag stellte der Lexikon-Artikel die Auslese der Elite-Individuen und die Beziehung von „Elite" und „Oberschicht" dar. Das dritte Viertel des Lexikon-Eintrags skizzierte schließlich einen überhistorischen Kreislauf der Elite-Bildung, allerdings ohne die Spannweite von Paretos Elite-Kreislauf mit seiner ausgefeilten Handlungstheorie und seinem Modell zur Erklärung historischer Revolutionen, dafür jedoch einschließlich dessen (und Gehlens) Annahmen über den „Verfall" von Eliten. Alles in allem vermittelte der Artikel eine merkwürdige Vorstellung: Die politische Herrschafts-Elite entsprach einerseits weder der demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik, denn die Unterscheidung zwischen der „gesellschaftlichen Oberschicht" und der aus dieser hervorgehenden „Elite" trug der Besetzung politischer Spitzenpositionen in Repräsentatiwerfassungen mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht kaum Rechnung; andererseits verlor diese Unterscheidung für die Betrachtung all der langen Jahrhunderte, in denen Herrschaftspositionen durch Erbfolge weitergegeben wurden, in der individuelle Auslese also nur eine geringe Rolle gespielt haben konnte,

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) „Elite", in: Der Große Brockhaus, S.537.

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jeden Sinn. Gleiches gilt deshalb übrigens auch für alle vormodernen Gesellschaften und Herrschaftsordnungen in Europa, weil sich erst mit der entstehenden modernen Staatlichkeit die Unterscheidung zwischen den Herrschaftsträgern und einer weiteren Oberschicht begründen ließ. Vor allem aber wurde die Logik der Elite-Konstituierung nicht problematisiert, anders gesagt, das Verhältnis zwischen Machtpositionen, Ausleseprozessen und der Bedeutung persönlicher Qualität blieb unklar. Denn wenn die Qualitäten, die über die Auslese der Elite-Individuen entscheiden, 374 ) auch historisch bedingt waren es stellt sich die Frage, aus welchem Grund die Autoren behaupteten, eine jede Elite in jeder historischen Epoche rekrutiere sich in erster Linie aus den Oberschichten, weshalb sie also ihre historischen und soziologischen Beobachtungen derart normativ aufluden und ideologisch überhöhten. Offensichtlich vertraten sie die Auffassung, dass die über die Elite-Zugehörigkeit entscheidenden Qualitäten weitgehend an die Herkunft aus den Oberklassen gebunden waren (Abstammung, Tradition, Reichtum, Zugang zu höherer Bildung). Die „Siebungsprozesse", bei denen diese Qualitäten den Eintritt in die „Elite" regulierten, konnten dann jedoch nicht als individuelle Leistungsauslese funktionieren (von der im gesamten Text auch keine Rede war!), sondern mussten sich umgekehrt wohl als Prozesse der Kooptation, der Besetzungsstrategie und der Protektion vollziehen. Diese „Qualitäten" hatten offensichtlich wenig gemein mit denjenigen Attributen, mit denen der konservative intellektuelle mainstream damals die Elite-Individuen versah, sondern sie bezeichneten Formen sozialer Macht, die sich analytisch gesprochen als ökonomisches, soziales, kulturelles usw. Kapital verstehen lassen und die auf dem Weg von der „Oberschicht" zur „Elite" in politisches Kapital transformiert werden. Und erst auf diesem Weg kamen jene im engeren Sinn persönliche Qualitäten ins Spiel, wie sie sich in der Mehrzahl der zeitgenössischen Texte zum Thema finden; im Zentrum stand die namentlich von Arnold Gehlen als Elite-Qualität entwickelte Kategorie der Askese (was wiederum auf den Einfluss der Soziologie der „Leipziger Schule" in den humanwissenschaftlichen Artikeln des „Großen Brockhaus" hinweist). Auf diese Weise blieben auch die Legitimations-Effekte der Modelle einer Charakter- oder Persönlichkeits-Elite erhalten. Vor allem aber spielten die Persönlichkeitsmerkmale der potenziellen Elite-Individuen für deren Auslese eine ganz besondere Rolle: Sie konstituierten für die „Brockhaus"-Autoren die Elite-Zugehörigkeit nicht bereits unabhängig von ihrem sozialen Kontext, 374

) Der Halbsatz „Die Qualitäten, die über die Zugehörigkeit zur Elite entscheiden..." ist angesichts der einleitenden Definition, bei der Elite handele es sich um die „Minderheit, die als Führungsschicht eines Gemeinwesens, insbesondere eines Staates, in diesem die Macht ausübt", gerade nicht - und damit also gegen den zeitgenössischen mainstream! - so zu verstehen, als wenn der Besitz der persönlichen Qualitäten als solcher zur Elite-Mitgliedschaft qualifizierte, sondern dass diese Qualitäten erst im Verlauf des „Siebungsprozesses", von dem die Autoren sprachen, zur Besetzung der Elite-Positionen führten. „Elite", in: Der Große Brockhaus, S.537.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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sondern sie erhielten ihre Bedeutung erst im Prozess der Gruppenbildung dieser Individuen zu einer staatlichen Herrschafts-Elite mittels eines besonderen, asketischen und disziplinorientierten Ethos, der unschwer als ideologische Überhöhung des preußisch-deutschen Beamten-Ethos zu erkennen ist. Der vierte und letzte Abschnitt des „Brockhaus"-Eintrags gab dann einen Überblick über die historische Entwicklung der Eliten-Theorie. Diese habe bei Machiavelli begonnen, sei im 19. Jahrhundert vor allem von Saint Simon, aber auch von Marx, Engels, Comte und Thaine sowie in darwinistischer Weise von Otto Ammon weiterentwickelt worden, bevor Mosca und Michels bewiesen hätten, dass weder eine Demokratie noch demokratische Parteien ohne Eliten auskämen, und Pareto, aufbauend auf Sorel, die Theorie vom Kreislauf der Eliten entwickelt habe. Das war im Wesentlichen eine zutreffende Darstellung der Genese des Elite-Begriffs, wenn man einmal davon absieht, dass die gesamte anglo-amerikanische Diskussion zum Thema, die bereits viel weiter fortgeschritten war als die deutsche - die aber als Bezugspunkt der konservativen Avantgarde überhaupt keine Rolle spielte und diese auch nicht spielen konnte - vollkommen unberücksichtigt blieb. In der Tat liegt der Gedanke nahe, dass es sich bei diesem ideengeschichtlichen Abriss wie bei den folgenden Literaturangaben vor allem um eine Skizze von Traditionslinien politisch-gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe handelte, als deren intellektuelle Erben sich die Autorengruppe selbst ansah. Wenig überraschend ist dabei die Berufung auf Mosca, Pareto, Michels und Sorel sowie auf Michael Freunds Studie über letzteren und auf Ortega y Gassets „Aufstand der Massen". Im Wesentlichen handelte es sich bei diesen um ausländische Ideengeber der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit und um die Ahnherren der konservativen Avantgarde nach 1945. Etwas überraschender ist der Verweis auf Otto Ammon, der viel über „Auslese" geschrieben hatte, allerdings durchweg von einem sozialdarwinistischen und rassistischen Standpunkt aus. 375 ) Von Ammon ließ sich die Vorstellung des Aufstiegs und Verfalls der „höheren Stände" (die bei ihm noch nicht „Eliten" hießen) übernehmen, wie wir sie im „Brockhaus"-Artikel, aber auch in Arnold Gehlens Aufsatz über das „Elitenproblem" gefunden haben, anders als bei Pareto jedoch nicht durch die Veränderung handlungsleitender vorrationaler Antriebe (Residuen), sondern eben sozialdarwinistisch und rassistisch begründet. Vor allem aber findet sich in Ammons Darstellung der „natürlichen Grundlagen" einer Gesellschaftsordnung eine umfassende Rechtfertigung sozialer Ungleichheit, die mit der Leistungsauslese der „Begabten an Einsicht und Tapferkeit" seit dem frühen germanischen Adel legitimiert wurde. 376 ) Die Konsekration von Ammons Werk durch die Aufnahme 375

) Ammort: Natürliche Auslese; ders.: Gesellschaftsordnung. ) Ansonsten berichtete Ammon, dass über „die Entstehung des germanischen Adels" gar nichts bekannt sei - dessen Genese aus der Leistungsauslese war für ihn gleichwohl über jeden Zweifel erhaben. Ammon: Natürliche Auslese, S. 300/01. 376

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in das Literaturverzeichnis des Lexikons, also in die gewissermaßen geprüfte und offiziöse Bibliographie zum Thema wurde übrigens in den Folgeauflage, der „Brockhaus"-Enzyklopädie" in 20 Bänden aus dem Jahr 1968, fallen gelassen; dort war im „Elite"-Lemma vielmehr vermerkt, dass sich die Forderung nach einer Herrschaft der „Besten" auch in Ammons „sozialdarwinistisch(er) Vorstellung der rassisch ,Tüchtigsten'" finde. 377 ) Anders gesagt, Ammons sozialdarwinistische und rassistische Rechtfertigungen erschienen mittlerweile nicht mehr tragbar als ideengeschichtliche Vorläufer des nunmehr anerkannten und positiv bewerteten Elite-Begriffs und der durch ihn ausgedrückten, anzustrebenden Ordnung. 378 ) Vielleicht nicht weniger bemerkenswert als der Verweis auf das offen rassistische und sozialdarwinistisch argumentierende Werk Otto Ammons in einem „Brockhaus"-Artikel des Jahres 1953 ist eine andere Literaturangabe in diesem Artikel, nämlich auf das Buch „Haltung" von Georg C.L. Schmidt. Das Werk dieses Schweizer Autors aus dem Jahr 1944 belegt einmal mehr die lebhafte Diskussion des Elite-Themas während der 1940er Jahre. Umso erstaunlicher ist die geringe Resonanz, die Schmidts Buch in Westdeutschland fand. Rund ein Viertel des Umfangs seiner publizistisch gehaltenen „Gedankengänge durch das öffentliche Leben" (so der Untertitel) nahm nämlich die Erörterung der „Elitebildung in der Demokratie" ein;379) eine zeitkritische Gegenwartsdeutung, die der westdeutschen Debatte auch zehn Jahre später noch alle Ehre gemacht hätte. 380 ) Schmidt beklagte in kulturpessimistisch und larmoyant gehaltenem Ton zunächst den „Niedergang der Eliten", bevor er sein Modell einer Wert- und Charakter-Elite entwarf, das den im Folgejahrzehnt in der Bundesrepublik diskutierten Konzepten zum Verwechseln ähnlich war: „Rückkehr zur Ehrfurcht", „Wendung zum Glauben", Verantwortungsbewusstsein, Übersicht, Selbstlosigkeit und Standhaftigkeit waren die Merkmale seines Elite-Verständnisses.381) Doch wie die übrigen Schweizer Beiträge zum 377

) „Elite", in: Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Aufl. Wiesbaden 1968, Bd. 5 S.465. ) Selbstverständlich verblieben die Schriften Moscas, Paretos und Sorels in den neuen Literaturangaben; alles andere wäre ideengeschichtlich unseriös gewesen. An deutschsprachigen Titeln wurden jetzt jedoch nur nach 1945 erschienene Schriften aufgenommen, die deutsche Traditionslinie war damit von ihren rassistischen und protofaschistischen Elementen gereinigt. 379 ) Schmidt: Haltung, S. 283-357. 380) Vermutlich aus diesem Grund nahmen die „Brockhaus"-Autoren das Buch auch in ihre Literaturauswahl auf. Doch unterschied sich Schmidts Modell bis auf einen oder zwei Punkte wiederum nicht sonderlich von demjenigen Erwin Racks, das ja mittlerweile vorlag und viel diskutiert wurde, das jedoch - wie noch zu zeigen sein wird - in der konservativen Avantgarde auf wenig Begeisterung stieß. Die Option für Schmidt könnte in der außerordentlich christlichen Prägung von Racks Elite-Konzept gelegen haben, die sich in diesem Ausmaß bei Schmidt nicht wiederfindet und für die es kaum Anknüpfungspunkte bei der konservativen Avantgarde gab, sowie Racks larmoyante Baltikum-Nostalgie, aus der keinerlei Zukunftsorientierung folgen konnte und die bei Freyer, Gehlen usw. wohl ebenfalls nicht auf Interesse stieß. 381 ) Schmidt: Haltung, S. 340-57. 37S

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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Elite-Problem wurde auch diese Arbeit weitgehend ignoriert. Kaum ein Autor oder Redner erwähnte sie. Über die Gründe dafür lassen sich nur Mutmaßungen aufstellen; auf jeden Fall verbargen sich gerade die Ähnlichkeiten zwischen Schmidts Zeitdeutungen und den später in Westdeutschland zirkulierendenlnterpretationenhinterderscheinbardominierenden Standortgebundenheit von Schmidts „Gedankengängen". Dieser sprach nämlich, anders als beispielsweise Ortega y Gasset, Hendrik de Man oder Karl Mannheim, die als Ausländer oder Emigranten in der westdeutschen Diskussion durchaus präsent waren, selten von universalen Entwicklungen, sondern beschränkte seine Aussagen fast immer auf Gesellschaft und Politik seiner Heimat. Und da er auch zu den großen westdeutschen Kulturzeitschriften und zu den Akademien keinen Zutritt suchte oder fand, blieben seine Ideen in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik unberücksichtigt. Damit teilte er jedoch nur das Schicksal zahlreicher seiner Landsleute: Von dem viel weiter fortgeschrittenen Schweizer Diskussionsstand zum Thema profitierten die westdeutschen Intellektuellen und Wissenschaftler nur in geringem Maße oder gar nicht. Bevor wir unsere Ausführungen zu den Literaturangaben und ideengeschichtlichen Traditionen im „Großen Brockhaus" schließen, muss noch vermerkt werden, dass der wegweisende Beitrag Otto Stammers überhaupt nicht gewürdigt wurde; übrigens selbst in der „Brockhaus Enzyklopädie" 15 Jahre später noch nicht. Diese Ignoranz bestätigt nicht nur die relative Marginalisierung von Stammers Beiträgen innerhalb der gesamten Elite-Diskussion bis zum Ende des Untersuchungszeitraums trotz seiner starken akademisch-professionellen Stellung; es überrascht auch angesichts der Tatsache, dass Gehlen und Schelsky, die den „Brockhaus"-Autoren ja nahe standen, Stammer den Abschnitt über „Politische Soziologie" und damit über das Elite-Thema in ihrem Lehrbuch „Soziologie" überließen. Eine eindeutige und einfache Erklärung dafür, die erste wissenschaftlich ernstzunehmende deutschsprachige Arbeit zu ignorieren, findet sich nicht. Zweifellos war Stammers konsequent funktionalistischer Ansatz mit demjenigen der „Brockhaus"-Autoren ebenso wenig zu vereinbaren wie sein demokratischer Impetus mit dem politisch-ideellen Hintergrund der konservativen Avantgarde. Vor allem aber hätte die Erwähnung eines neuen, umfangreichen und hoch elaborierten deutschsprachigen Textes ein ausführliches Eingehen auf dieses neue Konzept erfordert, und eine solche Erörterung hätte die autoritative Begriffsbestimmung der „Elite" als der durch Askese und Dienstethik moralisch auserlesene Teil der Oberklassen, der die politischen Machtpositionen besetzt, zutiefst in Frage gestellt. Dennoch wird man, was diese lexikalische Modellüberlieferung anbetrifft, die stärkere Kontextualisierung der Persönlichkeitsmerkmale innerhalb eines Prozesses komplexen sozialen Handelns als professionelle Differenzierungsleistung von Fachsoziologen auf knappem Raum ansehen müssen, die das Modell auf ein höheres Reflexionsniveau anhob, als es den meisten westdeutschen Veröffentlichungen zum Thema damals eigen war.

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5. Die neue symbolische Ordnung

IV. Von den führenden Protagonisten der konservativen Avantgarde, Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, beteiligte sich letzterer recht diskontinuierlich an der Durchsetzung des neuen Ordnungsmodells „Elite". Einen gesonderten Text zu diesem Thema veröffentlichte Schelsky nicht, und in seinen empirischen Arbeiten kam dem Begriff, so er ihn überhaupt verwendete, nur am Rande eine analytische Funktion zu. 382 ) In seinem Modell der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft" war zwar theoretisch durchaus Platz für politische, ökonomische, technische und bürokratische „Eliten" zum Ausfüllen der systemnotwendigen Steuerungsfunktionen, doch war Schelsky in den entsprechenden Studien viel zu sehr darauf konzentriert, die Bedeutungslosigkeit des Klassenbegriffs für eine adäquate Sozialwissenschaftliche Analyse und Deutung der Nachkriegsgesellschaft nachzuweisen, als dass er größere Mühe darauf verwendet hätte, den spezifischen logischen Status von Funktionseliten - die ja modelltheoretisch durchaus an die Stelle der Herrschenden Klasse hätten treten können - innerhalb seines Deutungsentwurfs zu präzisieren. 383 ) Insgesamt wandelte sich seine Elite-Vorstellung von der starren und intellektuell wie wissenschaftlich unfruchtbaren Ablehnung funktionalistischer Ordnungsmodelle (im frühen Manager-Aufsatz) zu einem ganz paretianischen Doppelspiel in den bildungssoziologischen Studien. Die konzeptionelle Brücke zwischen diesen beiden Positionen stellte seine begriffsbildende Studie über „Die skeptische Generation" aus dem Jahr 1957 dar. Hier verwendete Schelsky den Elite-Begriff weitaus häufiger als in seiner familiensoziologischen Arbeit und den darauf aufbauenden Aufsätzen zur Widerlegung von Klassen-Kategorien zur adäquaten Analyse der Gesellschaft und zur Durchsetzung seines Konzepts der „Nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Dabei verwendete Schelsky allerdings ein eher konventionelles Elite-Konzept, auch wenn dies nicht mehr ganz so rückwärts gewandt war wie im Manager-Aufsatz aus dem Jahr 1950.384) V. Eine ganze Reihe von Autoren, die zum akademischen und intellektuellen Umfeld von Freyer, Gehlen und Schelsky gehörten, allerdings außerwissenschaftlich weniger prominent geworden sind, beteiligten sich an dieser Arbeit zur Entwicklung eines Ordnungsmodell für die soziale Welt, das auf einer zeitgemäßen und weniger larmoyanten Elite-Konzeption basieren sollte. Überwiegend verfochten sie dabei Konzepte, die weniger konventionell ausfielen als diejenigen Schelskys. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass ihre Texte (fast ausschließlich wissenschaftliche Arbeiten) zumeist später als diejenigen Schelskys erschienen, so dass die Nachfolger gewissermaßen von einem höheren modelltheoretischen Niveau aus schreiben konnten und (auf-

382

) Am ehesten trifft dies aus seinen während des Untersuchungszeitraums erschienenen Studien für die erwähnten bildungssoziologischen Arbeiten zu. 383 ) Schelsky·. Familie; ders.: Schichtungsbegriff; ders.: Klassenbegriff. 384 ) Schelsky. Skeptische Generation, S. 94/95, S.114, S.313.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

483

grund der spezifischen Zwänge des sozialwissenschaftlichen Feldes) auch argumentieren mussten. Zu diesen Texten gehört die parallele Besprechung von Erwin Racks oben erwähntem „Problem der Elite" und Moscas im gleichen Jahr ins Deutsche übersetzten „Elementi di scienza politica" durch den hoffnungsvollen Nachwuchssoziologen Hanno Kesting, die 1954 in der von Schelsky mitbegründeten Zeitschrift Soziale Welt erschienen. 385 ) Kesting wies sich schon durch sein Vokabular als Teil der konservativen Avantgarde und deren Selbstverständnis, Soziologie mit kaltem Blick als „Wirklichkeitswissenschaft" zu treiben, aus. 386 ) Die Leitvokabeln seines Textes waren (soziale) „Wirklichkeit" und das Adjektiv „konkret"; eine Verpflichtung auf dieses Denken verteidigte er mit dem Argument, der „Ernüchterung unseres politischen Denken(s)" zu dienen, gegen den Vorwurf des „Zynismus" und des „Machiavellismus". Was Kesting in seinem Beitrag der christlich-konservativen und äußerst traditionellen Elite-Theorie Racks vorwarf, war nicht weniger, als dass „die Suggestivkraft des echten Begriffs verbraucht [werde] als Vorspann eines so hoffnungslosen wie pseudopolitischen Illusionismus." 387 ) Nicht weniger vernichtend waren die weiteren Kommentare Kestings zu Racks Buch: „Man hat Latein gelernt, aber nicht Pareto gelesen" - „Leichter kann man es den Kommunisten nicht machen" - „Nur wenige scheinen zu wissen, dass ,Elite' ein soziologischer Begriff ist, der einen konkreten Tatbestand [sie!] bezeichnet". Mit diesen Feststellungen entzog Kesting nicht nur allen larmoyanten Fragen danach, ob in Westdeutschland denn überhaupt eine wahre Elite existiere, jede Grundlage. Er fällte auch das schlimmste Urteil, das sich über irgendeine intellektuelle Arbeit treffen ließ, nämlich dasjenige der politisch-ideellen Irrelevanz aus Inkompetenz. Der Einfalt Racks stellte Kesting sodann Moscas Buch gegenüber, das nun „endlich deutsch verfügbar" sei. Jenem gebühre - wie Pareto - das Verdienst, eine zentrale Frage der Gegenwart aufgeworfen zu haben, nämlich „das Problem der Elite als Frage nach den konkreten Inhabern der Herrschaft" zu formulieren. 388 ) Diese Frage erhalte gerade durch die gegenwärtige Dezentralisierung, Parzellierung, Pluralisierung und vor allem das Unsichtbarwerden der Herrschaft, die aus den Händen des Staates in diejenigen der Gesellschaft geraten sei, ihre Bedeutung. Sie zerreiße „die Schleier der Ideologie" und mache „die Grundwahrheiten der politischen und sozialen Wirklichkeiten sichtbar". Das war gut paretianisch gedacht und offenbarte die konservative Furcht vor dem Bedeutungsverlust des Obrigkeitsstaates und vor einer pluralistischen Gesellschaft. Moscas Anliegen, diese Problemstellungen zu systematisieren -

385

) Kesting: Problem. Kesting war Assistent von Arnold Gehlen und Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle Dortmund. Weischer. Empirische Sozialforschung, S.71. 386 ) Rehberg: Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, S. 82-85. 387 ) Kesting: Problem, S.93. 388 ) Kesting: Problem, S.93.

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5. Die neue symbolische Ordnung

das heißt sein Versuch einer Grundlegung der politischen Wissenschaften - sei zwar gescheitert, so Kesting, aber das sei weniger wichtig als der Versuch, diese überhaupt deutlich gemacht zu haben. Die Elite nicht als christlich gebundenes moralisches Vorbild, sondern als Bezeichnung für die Inhaber der Politischen Macht - das traf im Wesentlichen die Begriffsbestimmung des „Großen Brockhaus" und wich doch stark von dem Bedeutungsgehalt ab, den Schelsky dem Terminus gegeben hatte. Wichtiger als diese internen Differenzierungen im Denkkollektiv der konservativen Avantgarde ist hier jedoch der Befund, dass sich mit der gezielten Abwertung eines christ-konservativen Meinungswissens zu Gunsten empirisch erhärteten sozialwissenschaftlichen Wissens der Beginn eines Wandels der Elite-Doxa abzuzeichnen begann. Dieser Wandel vollzog sich zunächst innerhalb des weiteren konservativen Intellektuellenmilieus, denn die Ergebnisse der mittlerweile vorliegenden Studien Otto Stammers berücksichtigte Kesting überhaupt nicht. Anders gesagt, bei allem vorgeblich unbefangenen Blick des paretianischen Gestus setzte sich auch dieser Repräsentant der konservativen Avantgarde nicht mit den wissenschaftlich-intellektuellen ebenbürtigen Konkurrenten auseinander (eine Auseinandersetzung, die auch die Überprüfung eigener Überzeugungen und Gewissheiten erzwungen hätte), sondern verblieb letztlich im Horizont konservativen Meinungswissens. Der Text Hanno Kestings war nicht sonderlich lang und erschien in einer allerdings erstrangigen - Fachzeitschrift weit entfernt von den Zentren der intellektuellen Meinungsdebatten. Sein Einfluss auf den weiteren Diskussionsverlauf ist sicherlich nicht sehr hoch einzuschätzen; seine Bedeutung ist eher diejenige eines Indikators. Anders dürfte es mit den Beiträgen eines weiteren Wissenschaftlers ausgesehen haben, der eher am Rande des Denkkollektivs der konservativen Avantgarde stand, nämlich des Psychologen und Sozialpsychologen Peter R. Hofstätter. 389 ) Hofstätter entwickelte bereits in seiner zuerst 1957 in der „rde" erschienenen, enorm einflussreichen und begriffsprägenden Studie390) „Gruppendynamik" seine spezifische Sicht auf das EliteProblem, die er auch später weiterverfolgte. Das Buch trug nicht umsonst den Untertitel „Kritik der Massenpsychologie", denn auch Hofstätter komponierte seinen Elite-Begriff gewissermaßen von der Massen-Doxa her. Als akademisch lehrender Psychologe ging er dabei allerdings ganz andere Wege als die Publizisten und Wissenschaftler-Intellektuellen, die zum Teil nur wenige Jahre früher oder sogar noch zur gleichen Zeit dem „Aufstand der Massen" eine Wert- und Charakter-Elite entgegenwerfen wollten. Schon auf den allerersten Seiten machte er sich über die Phantasmagorien lustig, die traditionell in der 389

) Hofstätter hatte vor dem Krieg in Wien zunächst Physik studiert und war dann unter dem Einfluss der Schriften Oswald Spenglers zur Psychologie übergewechselt. Nach seiner Arbeit als Wehrmachtspsychologe lehrte und forschte er sieben Jahre in den USA, später in Wilhelmshaven und in Hamburg. Hofstätter: Gruppendynamik, S. 195/96. 390 ) Von der „Gruppendynamik" erschienen bis 1971 nicht weniger als 160000 Exemplare.

5.2 Von der Elite zu den Eliten

485

Masse-Doxa ausgedrückt wurden. Voller Ironie und mit dem paretianischen Gestus der Entlarvung, den wir in gleicher Weise schon bei Arnold Gehlens Bemerkung gegenüber Hans Paeschke gefunden haben, dass diejenigen, die von „Elite" sprächen, dies vor allem täten, um ihre Zugehörigkeit zu derselben zu dokumentieren, erklärte Hofstätter, dass die „Tröstungen Le Bons" und Ortegas darin bestünden, dem Leser zu versichern, dass er selbst keinesfalls ein Bestandteil der Masse, vielmehr „höchst wahrscheinlich ein Angehöriger der Elite" sei. 391 ) In diesem Spott findet sich bereits der erste einer ganzen Reihe von Gründen, die es unmöglich machen, Hofstätters Buch auf einen einfachen ideengeschichtlichen Nenner zu bringen. Was Hofstätter hier ironisierte, waren immerhin die Ikonen des traditionellen wie des AvantgardeKonservatismus. Auf den folgenden Seiten verschärfte er diese Abgrenzungsstrategie, indem er anhand der Befragung von Versuchspersonen „Polaritätsprofile" der Zuschreibungen zu den Kategorien „Masse" und „Persönlichkeit" entwickelte, also eines ganz traditionellen Gegensatzpaares der Elite-Doxa, das aber mit ganz leichten Veränderungen auch von Arnold Gehlen verwendet worden war. Dieser hatte zwar die Befürchtung des traditionellen Konservatismus zurückgewiesen, das Massen-Zeitalter lasse keinen Raum mehr für die „Persönlichkeit", die Kategorie „Masse" dabei jedoch nicht aus grundsätzlich abgelehnt und diejenige der „Persönlichkeit" geradezu emphatisch gefeiert. 392 ) In dem sozialpsychologisch angelegten Versuch, die in die Jahre gekommene „Massenpsychologie" zu widerlegen, stieß Hofstätter also gewissermaßen von selbst auf den modelltheoretischen Gegenpol zur „Masse", also auf die „Elite". Wie in den früheren Erörterungen zur Massen-Thematik tauchte auch bei ihm der Terminus nur am Rande auf, und wo er ihn im Zusammenhang seiner Untersuchungsergebnisse verwendete, setzte er ihn in Anführungszeichen wie zur Demonstration, dass es aktuell keine bessere Bezeichnung gäbe, dass sie analytisch jedoch recht unpräzise sei. 393 ) An einem Punkt jedoch wich er von dieser Kennzeichnung ab, nämlich um in der Untersuchung sozialpsychologischer „Distanzrelationen" die Selbstdistanzierung der „Elite" von der „Majorität" unterscheiden zu können von der unfreiwilligen Distanzierung (oder Exklusion) der „Gettobewohner" von der Mehrheit. 394 ) Genau dieses Untersuchungsproblem griff Hofstätter einige Jahre später in einem Aufsatz für die Kölner Zeitschrift wieder auf. Mittlerweile hatte sich die westdeutsche Debatte zum Elite-Problem allerdings wesentlich verändert, vor allem hatte sie sich verwissenschaftlicht, und Hofstätters Aufsatz stellte bereits einen Teil dieses Verwissenschaftlichungsprozesses dar. In seinem Aufsatz bemühte sich Hofstätter um den Nachweis, dass „Minoritäten", das heißt 391

) ) 393 ) 394 ) 392

Hofstätter: Gruppendynsmik, S.7-13, Zitat S.7. Gehlen: Mensch trotz Masse; ders.: Ende der Persönlichkeit? Hofstätter: Gruppendynamik, S. 134, S. 161, S. 167. Hofstätter: Gruppendynamik, S. 168.

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5. Die neue symbolische Ordnung

von der Mehrheit einer Gesellschaft diskriminierte Minderheiten, nichts anderes als verhinderte „Eliten" darstellten. 395 ) In einen bestimmten zeitgenössischen oder historischen Kontext bettete Hofstätter seine These auf den ersten Blick nicht ein. Und auch wenn er diese Behauptung dahingehend einschränkte, dass nur kleine Minoritäten, die keinerlei Bedrohung für die Mitglieder der Majorität darstellen, „in die Nachbarschaft möglicher Eliten" gerieten, so berücksichtigte er doch keinerlei soziale Voraussetzungen wie ökonomische, politische oder kulturelle Ressourcen für die eventuelle Erlangung des Elite-Status. Vielmehr entwarf Hofstätter sein Elite-Konzept streng rollentheoretisch, und zwar ausgehend von Siegmund Freuds Bestimmung der „Führerrolle", wobei Hofstätter zwischen „Führer" und „Elite" keine weitere Unterscheidung traf, sondern letztere einfach als den „vereinheitlichenden Plural" für ersteren bezeichnete. 396 ) Die rollentheoretische Definition der Elite bestand darin, dass diese einerseits als Projektionsobjekt für die Machtwünsche der „Gefolgschaft" diene, die ihrerseits auf dem Wege der Identifikation Teil am Charisma der „Auserwählten" habe; andererseits binde sich die „Elite" in gleicher Weise, also durch Projektion und Identifikation, an eine höhere „Idee" (Religion, Schicksal, „Sinn der Geschichte" usw.). 397 ) Auf diesem Wege werde die Elite zur Verkörperung des „Autostereotyps der Gruppe". Der Sinn und Zweck der elitären Rolle für die gesamte Gruppe bestünde dabei hauptsächlich in der Koordinierung des Handelns der Gruppenmitglieder zum Erbringen notwendiger oder erwünschter Leistungen. Im Wesentlichen handelte es sich bei den Elite-Mitgliedern also um die Herren über die gruppennotwendigen Koordinations- und Allokationsentscheidungen, das heißt um eine „Entscheidungselite", oder anders gesagt, die Elite setzte sich aus denjenigen zusammen, die in der Lage waren, jene Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Anders als die herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Elite-Konzepte von Mosca und Pareto bis Otto Stammer verzichtete Hofstätter damit vollkommen auf die Kategorie der sozialen Macht (übrigens auch auf diejenige der Auslese), auf welche die Elite in den von diesen Autoren entworfenen Modellen zur Erfüllung ihrer systemnotwendigen Funktionen angewiesen war. Diese Kategorie ersetzte er vielmehr durch die Reziprozität von Identifikation und Projektion, die die Majorität mit der Elite und diese mit jener „höheren Idee" verband, welche die Grundlage des „Autostereotyps" der Gesamtgruppe darstellte. Im Weiteren reicherte Hofstätter sein rollentheoretisches Elite-Konzept mit einer höchst interessanten Formalisierung der Voraussetzungen zur EliteBildung an, in dem er Relationen wie Teilgruppengrößen und -beziehungen oder psychosoziale und moralische Bindungen ansatzweise mathematisierte. Andererseits offenbarte sich hier die intellektuelle und wissenschaftliche Hofstätter: Eliten S.60, S.67, S.82. Hofstätter: Eliten S. 61. » 7 ) Ebd. 395) 396)

5.2 Von der Elite zu den Eliten

487

Sackgasse seines ganzen Modells. Hofstätter vertrat nämlich die Ansicht, dass eine (jede) Elite eines „gemeinsamen Idealbildes" bedürfe, aus dem ihr Sendungsbewusstsein und letztlich auch das Selbstbild der Gruppe insgesamt resultiere. Damit kehrte er faktisch nicht nur zu denjenigen Ansätzen zurück, die eine starke Wertbindung zum ausschlaggebenden Kriterium für die Zugehörigkeit zur Elite erhoben - mit dieser Annahme suspendierte er nämlich auch die von Mosca und Pareto eröffnete konzeptionelle Möglichkeit, soziale Konflikte als Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Elite-Gruppen zu deuten, mit anderen Worten, Hofstätters Konzept besaß keinerlei Raum für die Vorstellung eines Elitenpluralismus innerhalb von Gesellschaften. Trotz seiner Bemühungen um eine sozialwissenschaftliche Formalisierung und damit eine Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs stellte sein Elite-Modell daher eher eine Sackgasse für die weitere konzeptionelle Arbeit zum EliteProblem dar. 398 ) VI. Eine Untersuchung des Beitrags der konservativen Avantgarde zur Konstituierung der Elite-Doxa bliebe unvollständig, würde das „Altern" dieser Avantgarde und der Verlust ihres Status als intellektueller Stichwortgeber unberücksichtigt bleiben. Dieses „Altern" und der relative Bedeutungsverlust des so betitelten Denkkollektivs traten im Verlauf der 1960er Jahre aber ganz offen zu Tage. Und auch in den Diskussionen zum Gegenstand „Elite", die in diesem Jahrzehnt gerade im Feld der Sozialwissenschaften intensiviert geführt wurden, verlor die - nunmehr einstige - konservative Avantgarde ihre bisherige Funktion als intellektuelle Vorhut. Kaum ein Beitrag zeigt diese Entwicklung besser als der Aufsatz „Herrschaftsstruktur und Elitenbildung", den der deutsch-griechische Soziologe Johannes Papalekas 1963 im traditionsreichen, von Helmut Schelsky mitherausgegebenen Jahrbuch für Sozialwissenschaft veröffentlichte. 399 ) Papalekas hatte auch etwa zur gleichen Zeit den Artikel „Masse" für das „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften" verfasst sowie diverse Aufsätze zu Aspekten der Herrschaftsorganisation in Industriegesellschaften.

398

) Wohl aus diesem Grund wurde Hofstätters Beitrag in die Mehrzahl der einschlägigen Bibliographien der 1960er Jahre zum Stichwort „Elite" auch nicht aufgenommen; z.B. Stammer: Elite und Elitenbildung; Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie; Zapf. Wandlungen; von Beyme: Elite. 399 ) Papalekas: Herrschaftsstruktur. Papalekas, geboren 1924 in Athen (und damit zwölf Jahre jünger als Helmut Schelsky und 20 Jahre jünger als Arnold Gehlen), wurde 1958 Abteilungsleiter und apl. Prof. an der Sozialforschungsstelle Dortmund und 1963 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Bochum. Vgl. Grebing: Konservative, S.390. Als Mitglied des konservativen Denkkollektivs um Gehlen und Schelsky weist ihn übrigens - neben den gleich zu entwickelnden Parallelen in Form und Inhalt seiner Argumentation und den ausführlichen Literaturverweisen auf deren entsprechende Referenzschriften - auch das Fahnenwort aus dem Untertitel seines Aufsatzes aus: Papalekas sprach nämlich zum Thema „Herrschaftsstruktur und Elitenbildung" von einem „bleibende(n) Problem der gesellschaftlichen Wirklichkeit" (Hervorhebung von M.R.).

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5. Die neue symbolische Ordnung

Den Kontext seines Aufsatzes bildeten die verschiedenen zeitgenössischen Annahmen, Forderungen und Besorgnisse über einen Verlust staatlicher Autorität, den Papalekas verknüpfte mit der Warnung vor einer „ideologische(n) Abwertung von Herrschaft und Elite". 400 ) In diesem ideengeschichtlichen Zusammenhang stellte sich Papalekas deutlich auf die Seite der Verfechter staatlicher Autorität und einer autoritären Herrschaftsordnung. Folglich suchte er zu beweisen, dass die Ideen von Volkssouveränität und Partizipation, die seit der Französischen Revolution in Europa entstanden waren, von Denkern wie Nietzsche und Bergson, Sorel und Pareto, Mosca, Michels und Max Weber, aber auch von Marxisten wie Lenin, Georg Lukacs und Ernst Bloch und last but not least von Carl Schmitt längst „widerlegt" worden seien.401) Bereits dieser Befund macht deutlich, weshalb Papalekas' Text eher den Problemstellungen der frühen 1950er Jahre verhaftet war und weshalb auch die jüngere Generation des konservativen Milieus um Schelsky und Gehlen auf die zeitgenössische Diskussion nicht mehr befruchtend wirken konnten: Zu einem Zeitpunkt, an dem die empirische Sozialforschung im Begriff war, aus der „Gründungsphase" in ihre „große Zeit" einzutreten 402 ) und zum dominierenden Produzenten gesellschaftsbezogener Wissensbestände zu werden (und an dem im publizistischen Feld zunehmend über Möglichkeiten der Demokratisierung von Politik und Gesellschaft diskutiert wurde), argumentierte der Fachsoziologe Papalekas rein geistesgeschichtlich und knüpfte nur an die gleichartigen und publizistischen, nicht aber an die empirischen Arbeitsergebnisse seiner akademischen Vätergeneration an. Neben dieser gleichsam formalen Perspektive zeigt auch die inhaltliche Begutachtung, dass Papalekas dem Denken der frühen 1950er Jahre verhaftet geblieben war, indem er auf Fragestellungen antwortete, die dem veränderten Diskussionsstand im Intellektuellen wie im humanwissenschaftlichen Feld in keiner Weise mehr entsprachen. Die Angst vor einem Verlust staatlicher, jedoch ausdrücklich nicht demokratisch kontrollierter Autorität und vor der Auflösung einer rigiden stratifizierten gesellschaftlichen Ordnung, die ungefähr während der ersten beiden Legislaturperioden des neuen Staates das vorherrschende Leitmotiv intellektueller Arbeit dargestellt hatte, war längst von der Sorge um die demokratische Haltung der Westdeutschen (und vor allem der akademischen Jugend als der zukünftigen „Elite") und um deren Bereitschaft, die nationalsozialistischen Verbrechen auch strafrechtlich zu verfolgen, sowie um die Glaubwürdigkeit einer politischen Wiedervereinigungsperspektive abgelöst worden. Doch trotz dieser antiquierten Fragestellung wies sich Papalekas auf eine ganz andere Weise als Erbe der konservativen Avantgarde aus, und zwar durch das typische Doppelspiel dieses Denkkollektivs, das ja darin bestand, die pessimistischen Gegenwartsdeutungen und Prognosen konservativer Provenienz durch 400

) Papalekas: Herrschaftsstruktur, S.61. ) Papalekas: Herrschaftsstruktur, S. 61-69. 402 ) Weischer: Empirische Sozialforschung, S. 35/36 und passim. 401

5.2 Von der Elite zu den Eliten

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die noch pessimistischere Annahmen seiner Mitglieder zu übersteigern. Dieses Verfahren wandte Papalekas im Kern seiner Argumentation an, nämlich in dem Versuch, die These seines Lehrers Helmut Schelsky von der fortschreitenden Einengung politischer Handlungsspielräume durch (im weitesten Sinne „technische") „Sachzwänge" zu entkräften. 4 0 3 ) Dass diese „Technokratie"These von Seiten Schelskys und Gehlens mit der Hoffnung verbunden gewesen war, zukünftige Sachzwänge würden die Gestaltungsräume demokratischer Politik minimieren, überging beziehungsweise ignorierte Papalekas vollkommen. 4 0 4 ) Ihn beunruhigte allein die Gefahr für das „Wesen des Staates", die von einem System auszugehen schien, in welchem vertraute Kategorien konservativen Denkens - Herrschaft, Staatsraison, traditionelle Legitimität - keinen Platz und keinen Sinn mehr zu besitzen schienen. Dass Papalekas diese These mit dem Hinweis auf die fortbestehende Notwendigkeit von Herrschaft widerlegt zu haben glaubte, ist für unsere Fragestellung allerdings weniger wichtig als die Feststellung, dass sein Elite-Begriff weit hinter dem von Gehlen und Schelsky und vor allem hinter dem schon über zehn Jahre zuvor von der „Brockhaus"-Redaktion erreichten Diskussionsstand zurückfiel. Papalekas wärmte konservative mainstream-Gemeinplätze der frühen 1950er Jahre auf, als er beklagte, dass „Machtverbände und Einflussgruppen ... keine eigentliche Elite [sie!] zu entwickeln in der Lage" seien. 405 ) Es gäbe zwar einzelne Teileliten oder „elitäre Wirklichkeiten", aber deren „integrierende Gesamtlegitimation" fehle. Damit verstrickte sich Papalekas in die gleichen Widersprüche wie seine Vorgänger in der frühen Nachkriegszeit, denn eingangs seines Aufsatzes definierte er die „Elite" ganz einfach - für einen Fachsoziologen ein wenig zu einfach - als „herrschende Schicht" oder „herrschende Klasse". 406 ) In seiner im Wesentlichen geistesgeschichtlich argumentierenden Untersuchung befasste er sich dann mit der „ideologischen Abwertung" der Elite - weshalb das Realphänomen „Elite", dessen gleichsam „natürliche" Existenz er als gesichert annahm, von dieser ideologischen Bewegung in Mitleidenschaft gezogen worden sein sollte, war aus dem Untersuchungsgang also nicht ersichtlich. Erst auf den letzten zwei Seiten argumentierte er dann „empirisch", nämlich scheinbar als Beobachter realsoziologischer Phänomene, in Wahrheit jedoch rein doxisch, dass die „konkurrierende(n) Machtstrukturen" der Gegenwart eine Rückkehr zum „entschieden führenden Voll-Staat" erforderten und damit Anstrengungen einer integrativen Elitenbildung. Der Zusammenhang zwischen der Existenz sektoraler Teileliten und der Notwendigkeit einer solchen Elitenbildung blieb rein normativ. Überhaupt wurde der logische Status

403

) Diese Auseinandersetzung nahm den Großteil von Papalekas' Text ein, nämlich die Seiten 70 bis 83. 404 ) Zur konservativen Binnendiskussion um den „technischen Staat" vgl. Lenk: Konservatismus, S. 237^44; Greiffenhagen: Dilemma, S. 336-46; Grebing: Konservative, S. 257-60, S. 390-402, mit der dort angeführten zeitgenössischen Literatur. 405 ) Papalekas·. Herrschaftsstruktur, S.85, auch für das Folgende. 406 ) Papalekas: Herrschaftsstruktur, S. 59-61.

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5. Die neue symbolische Ordnung

der Elitenbildung - der Terminus zierte immerhin die Überschrift - in seiner Erörterung nicht deutlich: Hin und her gerissen zwischen Sein und Sollen, blieben ihre Formen und Probleme im Dunklen. Eine analytische Funktion kam dem Begriff jedenfalls nicht zu; hätte Papalekas ihn einfach weggelassen, seine Argumentation hätte dadurch keinen Schaden genommen. Die „eigentliche Elite" blieb eine Metapher für die legitime Herrschaft des autoritären Obrigkeitsstaates - das war ein Rückfall in soziale Phantasmagorien, die gerade Papalekas' akademische Lehrer zu überwinden geholfen hatten. Auf scheinbar paradoxe Weise illustriert Papalekas' Beitrag die Bedeutung der konservativen Avantgarde für die Weiterentwicklung des Elite-Begriffs und damit für die Durchsetzung der Elite-Doxa in der Bundesrepublik. Während der 1950er Jahre verfügte sie über eine außerordentlich starke Position im Intellektuellen Feld - sichtbar am leichten Zugang zu dessen wichtigsten Medien (Zeitschriften, Akademien, große Lexika) und betrieben dort, und nicht etwa im Feld der Sozialwissenschaften, die Verbreitung und Formung eines spezifischen Elite-Begriffs, der zwischen einer empirischen Überprüfung soziologisch fassbarer Macht- und Herrschaftspositionen einerseits und der Überhöhung der Elite-Persönlichkeit andererseits changierte. Auf diese Weise trugen gerade diese Autoren entscheidend zur Überwindung der anfangs vorherrschenden konservativen Modelle von Wert- und Charakter-Eliten, die einen recht geringen Komplexitätsgrad aufwiesen, bei. Am greifbarsten wird dieser ideengeschichtliche Fortschritt im Moment des Abschieds von der Vorstellung, es könne nur die eine moralisch-charakterlich einheitliche Elite geben. Geschult an den klassischen Texten von Michels und Pareto, öffneten Gehlen und Schelsky wirkungsvoller als andere Autoren - vor allem als solche, die nicht den konservativen Milieus entstammten, die das Intellektuelle Feld jener Jahre beherrschten - den westdeutschen Diskussionszusammenhang für die Akzeptanz eines konservativen Eliten-Pluralismus. Im folgenden Jahrzehnt versank nicht nur die konservative Dominanz im Intellektuellen Feld, die (ehemalige) Avantgarde fungierte auch nicht mehr als Stichwortgeber für die Auseinandersetzungen der westdeutschen Intellektuellen im Allgemeinen und für die Elite-Diskussion im Besonderen. Gerade der Beitrag von Papalekas zeigt diese Entwicklung, ja es hat den Anschein, als hätten ihm die intellektuellen Innovationen seiner akademischen Lehrer einen solchen Schrecken eingejagt, dass er keine andere als eine vollständig rückwärtsgewandte Argumentationslinie einzuschlagen vermochte. Die modelltheoretischen Öffnungen der späten 1950er Jahre - Pluralismus, empirische Überprüfbarkeit, tendenzielle Abkehr von der auf (christlicher) Wertbindung und Charakterqualitäten beruhenden Definition - fanden auf dieser Linie keinen Schnittpunkt.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa Die Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs setzte um 1960 ein, als der Terminus bewusst und planvoll der publizistischen Sphäre des Meinungswissens (in der er selbstverständlich weiter verwendet wurde) entrissen wurde, um ihn zum Ausgangspunkt neuer sozialwissenschaftlicher Untersuchungen der westdeutschen Gesellschaft zu machen. Gleichzeitig setzten sich diese Arbeiten auch von vorhergehenden sozialwissenschaftlichen Autoren wie Solms oder von Wiese ab, weil diesen vorgeworfen wurde, eher allgemeine Orientierungsbedürfnisse befriedigt zu haben als genuin wissenschaftlichen Fragen gefolgt zu sein. Unzweifelhaft brachte dieser Verwissenschaftlichungsprozess sehr schnell erstaunliche Ergebnisse zu Stande: Hans Peter Dreitzel entwickelte bereits 1962 ein hoch ausdifferenziertes Modell der Funktions-Elite in modernen Industriegesellschaften, und Wolfgang Zapf legte die erste Elitestudie der empirischen Sozialwissenschaft vor. Dazwischen lag die Rezeption angelsächsischer Autoren, vor allem C. Wright Mills' Modell der power elite. Die Verwissenschaftlichung stellte damit den fehlenden Schlussstein zur Durchsetzung der Elite-Doxa dar: Der Elite-Begriff war endgültig als sozialwissenschaftliche Kategorie etabliert, die Existenz der Elite, an der während der 1950er Jahre so heftig gezweifelt worden war, empirisch bewiesen, und schließlich war die individuelle Auslese der Elite-Individuen zum Inbegriff der neuen symbolischen Ordnung geworden. 5.3.1 Das theoretische Fundament des verwissenschaftlichten

Elite-Begriffs

I. Um 1960 erfolgte ein massiver Schub der Verwissenschaftlichung des EliteBegriffs, als der Terminus über den Bereich des Orientierungs- und Meinungswissens hinaus zum Gegenstand genuin wissenschaftlicher Erörterungen wurde, was sich daran zeigt, dass die neuen Aussagen zum Elite-Begriff keinen Anspruch mehr auf von Raum, Zeit und sozialer Konstellation uneingeschränkte Gültigkeit und Reichweite erhoben, und ebenso daran, dass die Modi des Zustandekommens der Ergebnisse und deren Überprüfbarkeit als gleichberechtigte Fragen neben den bloßen Austausch von Meinungen über Elite und Eliten traten. Mit anderen Worten, die Funktion und Zusammensetzung der Elite wurde nun erst zu einem sozialwissenschaftlichen „Problem". Der Umstand, dass dieser Prozess zunächst mit dem Gestus erfolgte, den Elite-Begriff dem Meinungswissen quasi gewaltsam zu entreißen und von den Schlacken der Kulturkritik reinigen zu müssen, macht deutlich, wie tief die Elite-Diskussion in Westdeutschland bis dahin tatsächlich im Literarisch-Politischen und wie wenig sie im Humanwissenschaftlichen Feld verwurzelt war. Gleichzeitig wird hier deutlich, dass der Prozess der Weiterentwicklung des Elite-Begriffs notwendigerweise nicht mehr in der Sphäre der Kulturzeitschriften stattfinden konnte, weil er anderen als den publizistischen, nämlich disziplinär-professionellen Standards verpflichtet war. Mit diesem Wechsel der

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5. Die neue symbolische Ordnung

Medien wanderte die relevante Debatte zum Elite-Problem partiell aus dem Literarisch-Politischen Feld aus; eine Entwicklung, die angesichts der großen Bedeutung des Themas ihrerseits symptomatisch war für den relativen Niedergang der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt äußerte sich der Prozess der Verwissenschaftlichung also - noch - nicht in Form der „dauerhafte(n) Präsenz humanwissenschaftlicher Experten, ihrer Argumente und Forschungsergebnisse ... in Parteien und Parlamenten, bis hin zu den alltäglichen Sinnwelten sozialer Gruppen, Klassen oder Milieus". 407 ) Noch - denn Humanwissenschaftler hatten, wie wir mehrfach gesehen haben, bis dahin zwar durchaus wiederholt in die Diskussion eingegriffen, jedoch stets in Form der Verbreitung publizistischen Orientierungs- und Meinungswissens, nicht sozialwissenschaftlicher Expertise. Nun aber intervenierten Sozialwissenschaftler nicht nur an anderen Orten (nämlich im Feld der Fachsoziologie), sondern auch mittels formal veränderter (nämlich anderen Normen verpflichteter) Aussagen. Der Impuls der Verwissenschaftlichung offenbarte sich zunächst ganz sichtbar darin, dass nun Nachwuchswissenschaftler Qualifikationsarbeiten über Aspekte des Elite-Problems anfertigten. Diese Texte mussten schon wegen der an sie gestellten formalen Anforderungen eine präzise historische und philosophische Rekonstruktion des Begriffs sowie dessen Kontextualisierung vornehmen und den Elite-Begriff auf diese Weise aus dem reinen Meinungswissen lösen. Auch entwickelten diese Arbeiten, schon durch das um Vollständigkeit bemühte Literaturverzeichnis, ein entsprechendes Verweissystem, das nicht nur die Einsicht erzwang, dass der Elite-Begriff keineswegs aus der Natur menschlicher Gesellschaften erwachsen, sondern von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich gefüllt und verwendet worden war, und darüber hinaus auch die relevanten von den irrelevanten Aussagen und Autoren schied. Tatsächlich setzten sich die im Folgenden zu nennenden Autoren nicht nur rhetorisch vom Meinungswissen der publizistischen Diskussion ab, sondern sie ignorierten auch sämtliche dort erschienene Literatur, und zwar sowohl diejenige der Kulturzeitschriften als auch die einflussreicheren Monographien, wie Racks „Problem der Elite" oder Zahrnts „Probleme der Elitebildung". 408 ) Damit ist allerdings auch gesagt, dass der Antrieb zu dieser Arbeit kaum aus den intellektuellen Profiten zu erklären ist, die aus der Produktion von Meinungs- und Orientierungswissen zu erzielen waren. Gerade Qualifikationsarbeiten speisen sich kaum aus derartigen Impulsen. Vielmehr ist der Antrieb zur frühen sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand „Elite" in dem Bemühen zu sehen, den Elitebegriff als genuin soziologische Kate-

407

) Raphael·. Verwissenschaftlichung, S. 166. ) Jaeggi etwa bekannte sich ganz offen dazu, „alle nicht im strengen Sinne soziologischwissenschaftlichen Theorien außer acht gelassen" zu haben, wissend, dass „es doch gerade diese Elitetheorien waren, die sich in der Realität am stärksten ausgewirkt haben und dadurch den Elitebegriff bestimmten". Jaeggi: Elite 2 , S.XI. 408

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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gorie der Analyse moderner Gesellschaften zu formulieren (und damit zu etablieren) und auf diese Weise wissenschaftliche Profite zu akkumulieren. Dieses Bemühen tritt bereits in den Titeln der im Folgenden zu untersuchenden Beiträge hervor: „Der Elitebegriff als soziologische Kategorie" sollte definiert, der Zusammenhang zwischen „Elitebegriff und Sozialstruktur" geklärt werden. Die Unterschiede zu den geistesgeschichtlich-ontologischen, universalen Problemstellungen der um Deutungswissen bemühten Schriften aus der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit dürften auf der Hand liegen. Eine der ersten dieser Dissertationen, nämlich diejenige von Joachim Knoll, ist uns bereits im Abschnitt über Versuche zur Bildung politischer Eliten begegnet. Aufgrund ihrer - offenbar geduldeten oder sogar erwünschten - primär politisch-pädagogischen Zielsetzung spielte sie jedoch für den Prozess der Verwissenschaftlichung kaum eine Rolle. Wenn im Folgenden zunächst der Verlauf der Diskussion zwischen Urs Jaeggi, Hans Peter Dreitzel und Wolfgang Schluchter rekonstruiert wird, so ist zu bedenken, dass das parallel dazu verlaufende Unternehmen Ralf Dahrendorfs, auf das noch zurückzukommen sein wird, zunächst nicht den Eindruck erweckte, es handle sich hierbei um einen Beitrag zur Elite-Diskussion. II. Die 1960 erschienene Berner Dissertation von Urs Jaeggi stellt gewissermaßen den Auftakt zur Verwissenschaftlichung des westdeutschen Erörterungszusammenhangs zur „Elite" dar. 409 ) Das schmale Buch ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Erstens fand zum ersten Mal ein Beitrag aus der fortgeschrittenen schweizerischen Diskussion größere Aufmerksamkeit in den und Einfluss auf die westdeutschen Debatten. Zweitens rückte Jaeggi den Zusammenhang zwischen den Kategorien „Elite" und „soziale Macht" ins Zentrum der Problemstellung, und zwar gleich mit dem Untertitel seiner Schrift. 410 ) Drittens zielte Jaeggi mit seiner Arbeit hauptsächlich darauf, der empirischen Erforschung der deutschen Eliten, wie sie in der Bundesrepublik überfällig und in den Vereinigten Staaten (auf die er ausdrücklich verwies) längst im Gange war, eine solide theoretische Ausgangsbasis zu verschaffen. Auf die Bedeutung dieser Fokussierungen werden wir gleich zurückkommen. Und viertens schließlich begann - erst! - mit diesem Buch im deutschen Diskussionskreis eine systematische Auseinandersetzung mit den „Klassikern" der verschiedenen Elite-Theorien. Beginnen wir mit diesem letzten Punkt.

409

) Vgl. etwa die Darstellung bei Felber, der 1986 erstmalig die fachsoziologische Diskussion zum Elite-Begriff in der Bundesrepublik nachzeichnete und dabei im Wesentlichen die Ansätze von Jaeggi, Scheuch und Dahrendorf miteinander verglich. Felber. Eliteforschung. - Die Bedeutsamkeit der Pionierstudien wird auch daran ersichtlich, dass noch 40 Jahre später diejenigen Texte, die jenen Prozess der Verwissenschaftlichung einleiteten, nun selbst zu „Klassikern" konsekriert worden waren und ihrerseits die methodologische Grundlage neuer Darstellungen bilden. Vgl. beispielsweise Pohl: Eliten, S. 48/49. 410 ) Der Titel seiner Studie lautete: „Die gesellschaftliche Elite. Eine Studie zum Problem der sozialen Macht".

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5. Die neue symbolische Ordnung

Jaeggi gliederte seine mit rund 160 Seiten nicht besonders umfangreiche Arbeit in zwei Teile: Der erste, der fast drei Viertel des ganzen Buches einnahm, bestand in einer komprimierten Sichtung und Kommentierung von zehn derartigen „Klassikern" sowie einer ausführlichen Darstellung der mittlerweile weit fortgeschrittenen US-amerikanischen Debatte über „Eliten". Im zweiten, deutlich kürzeren Teil entwickelte er seine eigene Elite-Definition über eine Bestimmung der „Elitefunktionen" und stellte Überlegungen zur empirischen Erforschung gegenwärtiger und historischer Eliten an, wobei er unter anderem dafür plädierte, streng zwischen „Eliten" einerseits und (herrschenden) „Klassen" oder (Ober-)Schichten andererseits zu unterscheiden. 4 1 1 ) Obwohl er in seiner Einleitung ausdrücklich erklärte, keine „Inventuraufnahme" geschrieben zu haben, zeugt die Gewichtung des ersten Arbeitsschrittes von der Notwendigkeit einer solchen Vorgehensweise, zumal Jaeggi gleich eingangs hervorhob, „dass über den Begriff ,Elite' ein beinah schrankenloser Wirrwar" herrsche. In der Tat ist es erstaunlich - und bezeichnend für die relative Rückständigkeit der westdeutschen Debatten dass trotz der traditionellen geistesgeschichtlichen Ausrichtung der deutschen Humanwissenschaften eine derartige Aufbereitung und Rekonstruktion des Kontexts aller bedeutenderen Elite-Theoreme bislang nicht geleistet worden war. 412 ) Einzig James Burnhams in Deutschland kaum zur Kenntnis genommenes Werk über die „Machiavellisten" hatte gut zehn Jahre zuvor eine derartige Anstrengung unternommen, ohne hier jedoch damit irgendwelche intellektuellen Einflüsse ausüben zu können. Auch seinen genuin begriffsgeschichtlichen Anspruch löste Jaeggi allenfalls teilweise ein. Der „Zweck dieser Arbeit" bestehe darin, „an einem konkreten Beispiel (zu) zeigen, wie ein Begriff - den Tatbeständen des gesellschaftlichen Lebens entsprechend - mit dem sozialen Wandel seinerseits Wandlungen erfuhr". 4 1 3 ) Tatsächlich prüfte er jedoch im Wesentlichen zehn klassische EliteTheorien und die neuere amerikanische Diskussion hinsichtlich seiner Leithypothese: „Elitebeziehungen sind Machtbeziehungen und ,Eliten' Machtträger".4U) Dabei verdichtete er diese Theorien in den Kapitelüberschriften meistens zu den bekannten, längst mit ihren Urhebern untrennbar verbunde-

411

) „Schichtungscharakter hat die Machtstruktur demnach nur dort, wo sie mit der Prestige-, der Klassen- oder der Herrschaftsstruktur ganz oder wenigstens nahezu zusammenfällt. In diesem Sinne sprachen die älteren Elitetheorien von .Aristokratie' oder .Oberschicht', obwohl auch in diesen stabilen .Ordnungen' die Schichtung keineswegs so eindeutig verlaufen sein dürfte und es neben den ideal gesehenen formalen Strukturen immer auch aktuelle Machtstrukturen gab." Jaeggi·. Elite, S. 128/29; ähnlich S. 140, S. 149. 41Z ) Dies erkannte sogar die nicht übermäßig wohlwollende Rezension von Hans Peter Dreitzel an. Dreitzel: Rezension, S.560. Ganz ähnlich („ein informative[s], wenngleich nicht sehr phantasievolle[s] Buch") äußerte sich auch Ralf Dahrendorf: Eine neue Deutsche Oberschicht, in: Die Neue Gesellschaft 9.1962, S. 18. 413 ) Jaeggi: Elite, S. 13. 414 ) Ebd. (Hervorhebung im Original).

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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nen Losungen. 415 ) Für unsere, auf die Bedeutung seiner Arbeit im Prozess der Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs abzielende Fragestellung ist es nun weniger von Belang, ob Jaeggi diese „Klassiker" auch „richtig" interpretierte. Vielmehr gilt es zunächst, auf den Bruch hinzuweisen, den Jaeggi mit der bisherigen (westdeutschen) Diskussion vollzog. Jaeggi begann seinen Versuch der Klärung und Modellierung eines sozialwissenschaftlich brauchbaren Elite-Begriffs mit der Reinigung des Begriffsgehaltes von der mangelnden Präzision, die aus seiner politisch-publizistischen Verwendung her rührte: „Wir fanden, dass die übliche Bezeichnung ,Elite' soziologisch kaum brauchbar ist. Viel zu häufig wird der Begriff in der verschwommenen Alltagssprache verwendet". 416 ) In den Zusammenhang dieser „Reinigung" gehört auch Jaeggis Insistieren auf die Existenz von Eliten in seiner Gegenwart (die, wie wir mehrfach gesehen haben, in der gehobenen Publizistik häufig bestritten wurde). 417 ) Die erwünschte Klarheit glaubte er mittels der gerade zitierten Bindung an die Kategorie der Macht gefunden zu haben, wobei er allerdings in seinem Bemühen, „Elitebeziehungen" auch außerhalb von Herrschaftsverbänden als „Machtbeziehungen" definieren zu können, vermeintlich eine Ausweitung der Weber'schen Definition des Macht-Begriffs vornahm, 418 ) während er inhaltlich tatsächlich im Rahmen von Webers MachtBegriff verblieb. 419 ) Das Ergebnis seiner Inspektion der erwähnten Klassiker des Elite-Denkens bestand zunächst in einer kritischen Typologie dieser Theorien, die er ganz zutreffend in drei Gruppen einteilte: Theorien der „Machtelite", der „Wertelite" und der „Funktionselite" 4 2 0 ) Es ist durchaus bezeich415

) Kapitelüberschriften lauteten ζ. B.: „Gaetano Mosca: Die Theorie der .herrschenden Klasse'"; „Robert Michels: Das eherne Gesetz der Oligarchie"; „Vilfredo Pareto: Vom Kreislauf der Eliten"; „Alfred Weber: Die Eliten im Kultur- und Zivilisationsprozess"; „Karl Mannheim: Die Elite als „freischwebende Intelligenz". 416 ) Jaeggi: Elite, S. 13. Jaeggi fuhr fort: „Man spricht dort von der Elite der Skifahrer, von der Elite der Wissenschaftler und so fort und meint dabei die ,Spitzenleute', die .Besten'. Diese Verwendung hat zweifellos im täglichen Gebrauch einen gewissen Sinn, weil etwas ,Gemeinsames' gemeint wird. Man weiß, wovon die Rede ist. Aber weiß man es, wenn dieselbe Bezeichnung im wissenschaftlichen Sprachgebrauch auftaucht? Kaum." Die spätere Attraktivität des Elite-Begriffs im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, die ja ebenfalls auf seiner verhältnismäßig geringen Präzision beruhte, unterschätzte er damit allerdings. 417 ) Jaeggi: Elite, S.120. Und so durchziehen seinen Text immer wieder heftige Angriffe auf die zeitgenössische Publizistik zum Elite-Thema, etwa S. 130. 418 ) Weber hatte den Macht-Begriff bekanntlich nicht nur von demjenigen der Herrschaft ausdrücklich unterschieden, sondern die Handlungskategorien Befehl und Gehorsam dem Begriff der Herrschaft zugeordnet. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28. Jaeggi hingegen sprach von Befehlen und Gehorsam im Zusammenhang mit Macht. 419 ) Beispielsweise dadurch, dass er „Macht" an Individuen gebunden sah, „Herrschaft" dagegen an Positionen. Die „Herrschaftsstruktur" sage deshalb „etwas aus über die Organisation, die Machtstruktur aber über die tatsächliche (personelle) Machtverteilung". Jaeggi: Elite, S. 155. Vgl. dagegen die Einschätzung Schluchters, der tatsächlich eine „terminologische Veränderung der klassischen Weberschen Bestimmung" zu erkennen glaubte. Schluchter: Elitebegriff, S. 238/39. «°) Jaeggi: Elite, S. 97-117.

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nend für den damaligen Diskussionsstand in der Bundesrepublik, dass er deutschsprachige Titel als Beispiele derartiger Begriffsbildungen nur für die „Wertelite" anzugeben vermochte, denn die Kategorie „Macht" und die Fokussierung auf die spezifischen Funktionen der Elite - die umgekehrt eine Definition der Elite anhand dieser Funktionen ermöglichte - hatten sich hier noch nicht eingebürgert. Tatsächlich bemühte sich Jaeggi entschieden um eine funktionale Definition des Elite-Begriffs. Die erste und grundlegende Anforderung war für ihn, dass dieser „in der engsten Fassung ... allgemein (oder wenn man will: formal)" sein müsse. 421 ) Diese Anforderung, einen „formalen" Elite-Begriff komponieren zu müssen, führte ihn, unter Berufung auf den amerikanischen Theoretiker der „Machtelite" C. Wright Mills, zu einer gleichermaßen umfassenden wie überhistorischen und nicht auf sozialen Positionen festgelegten Bestimmung: Es „müsse möglich sein, ein adäquates Modell der .leadership' zu geben, das sowohl ,Lenin auf dem Weg nach Finnland verstehe wie die Frau im nächsten Haus, die unsere Tochter in make-up [instruiert]'. In gleicher Weise sollten Elitehypothesen sich als geeignet erweisen, Machtbeziehungen in geschlossenen Geburtsständen feudaler Systeme, die Machtstrukturen der demokratischen Massengesellschaft in parlamentarischen Körperschaften oder bürokratischen Apparaten, oder Elitebeziehungen in einem unpolitischen Dorfverein zu verstehen." 4 2 2 )

Dieses Modell, das er mittels der „grundlegenden Kategorie" der „Über- und Unterordnungsverhältnisse" beziehungsweise „einseitige(r) Machtbeziehungen" konzipierte, zielte auf nicht weniger als auf eine „Theorie der mittleren Reichweite". 423 ) (Anmerkungsweise sei hier notiert, dass dieser Fokus auf Machtbeziehungen im strengen Sinne keine funktionale Begriffsdefinition ergab, was die spätere Kritik an Jaeggi durchaus vermerkte. 424 )) Zu diesem Zweck, und um den Elite-Begriff sowohl zur mikro- als auch zur makrosoziologischen Analyse praktikabel zu machen, sichtete Jaeggi deutsche und amerikanische Literatur, wobei er zu dem wenig überraschenden Ergebnis gelangte, dass kleine Gruppen sich zur direkten Beobachtung von Über- und Unterordnungsverhältnissen besser eigneten und diese Verhältnisse sich hier besser als in „Globalgesellschaften" nachweisen ließen, „Elitestudien" jedoch nur dann „sinnvoll" seien, wenn sie Bezug auf die soziale Strukturierung größerer Sozialverbände und deren „institutionelle Rangordnung" nähmen. Weil nun aber „der Macht- oder Autoritätsstruktur primär keine Schichtungsstruktur zugrunde" liege, sei sie „häufig äußerst informell" und keineswegs aus dem sozialen Prestige von Individuen oder Gruppen abzuleiten. 425 ) Aus dieser Relativierung des Prestigemoments gelangte Jaeggi zu einer Schlussfolgerung, die 421

) Jaeggi: Elite, S. 120. ) Ebd., S. 121. 423 ) Ebd., S. 122; Jaeggi bezog sich bei der „middle range theory" ausdrücklich auf Richard Merton. 424 ) Schluchter: Elitebegriff, S.238. 425 ) Jaeggi: Elite, S. 129.

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um 1960 noch verhältnismäßig wenig bedeutungsvoll zu sein schien, und die er eher en passant traf, die jedoch mit Blick auf die neueren bundesrepublikanischen „Elitestudien" von Autoren wie Ursula Hoffmann-Lange, Edo Enke, Wilhelm Bürklin, Rudolf Wildenmann und anderen geradezu prophetischen Charakter erhielt: Jaeggi bemerkte nämlich, dass „Eliteuntersuchungen" mit einem Elite-Begriff, der „lediglich sagt, wer dazu gehört, wenig anfangen (können); vielmehr müssen die faktischen Prozesse [der Machtausübung, M.R.] eruierbar sein". 426 ) Diese, von der späteren Eliten-Forschung weitgehend uneingelöste beziehungsweise ignorierte Forderung, von einem funktionalen Elite-Begriff ausgehend das tatsächliche Handeln von Eliten empirisch zu untersuchen und die bestehenden Über- und Unterordnungsverhältnisse sichtbar zu machen, stellt einen ersten von Jaeggi konstruierten Problemzusammenhang dar, der als genuin sozialwissenschaftliches Programm einen verwissenschaftlichen Elite-Begriff erforderte und rechtfertigte. Ein zweiter derartiger Problemzusammenhang bestand in der komplexen Beziehung zwischen den funktional definierten „Machtagglomerationen" der Elite und dem Schichtungscharakter der Gesellschaft, oder vereinfacht gesagt, zwischen funktionalen und positionalen Perspektiven auf die Elite als Gegenstand der empirischen Forschung. Zur Schärfung seines Begriffs hatte Jaeggi immer wieder auf die kategoriale Verschiedenheit von (amorpher) Machtstruktur und (institutionalisierter) Herrschaftsstruktur einer Gesellschaft hingewiesen, und die Reichweite des möglichen Erkenntnisgewinns einer „bloßen" Elite-Untersuchung dahingehend eingeschränkt, dass „erst durch das Ineinandergreifen der einzelnen Problemkreise wie Elite - Klasse - Status - sozialer Konflikt - sozialer Wandel u.a. ... die Fragestellung sinnreich" werde. 427 ) Tatsächlich unterstellte dann die spätere empirische Forschung häufig, dass positional definierte (und damit leicht auffindbare) Eliten auch die faktisch Dominierenden in den untersuchten Überund Unterordnungsbeziehungen seien, und setzten auf diese Weise auch und gerade unter Berufung auf Jaeggi positionale und funktionale Definitionen, die dieser doch streng geschieden wissen wollte, in eins. Die politikwissenschaftlichen Studien über die „Eliten in der Bundesrepublik", aber auch sozialhistorische Forschungen zum deutschen Wirtschaftsbürgertum geben dafür hinreichend Beispiele. 428 ) Paradoxerweise bewirkte also gerade der erfolgreiche Versuch einer Präzisierung des Elite-Begriffs und der Modellierung eines kohärenten Elite-Konzepts im Gefolge der Kanonisierung dieser Arbeit 426

) Ebd., S. 129. ) Jaeggi: Die gesellschaftliche Elite, S. 151. 428) Wildenmann: Eliten, S.XII/XIII (auf dieser Studie und ihren expliziten und impliziten Vorannahmen basieren dann auch die folgenden, nach ihren universitären Ursprungsorten benannten „Elitenstudien", die „Mannheimer" und die „Potsdamer Elitestudie"). Vgl. Enke: Oberschicht; Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt, S. 85-90; Bürklin und Rebenstorf. Eliten, S. 11-18. Zur sozialhistorischen Verwendungsweise positionaler und funktionaler Kriterien vgl. Ziegler: Elite, S. 12-14; ders.: Kontinuität, S. 35-39. 427

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die Verbreitung eines eher diffusen, positionale und funktionale Elemente eher vermischenden als analytisch trennenden Elite-Begriffs in sozialwissenschaftlichen Forschungen und damit längerfristig die Stabilisierung der EliteDoxa als fester Bestandteil des Meinungswissens. Ein dritter, durch Jaeggis Buch aufgeworfener Problemzusammenhang wirkte ebenfalls weitreichend auf die nachfolgende Diskussion und Modellbildung ein: Zwar hatte Jaeggi einerseits durch sein funktionales (besser: relationales) Elite-Konzept, auf dessen Probleme noch einzugehen sein wird, die Kategorien Machtbesitz und Legitimität voneinander entkoppelt und auf diese Weise den Elite-Begriff vom Ballast affirmativer Zuschreibungen des Meinungswissens befreit, wie sie uns bei Michael Freund geradezu paradigmatisch begegnet sind und wie sie im Verständnis von „Führung" als legitime Herrschaftsausübung durchschienen. Auch diese Befreiung von Anforderungen des Orientierungs- und Handlungswissens lässt sich als „Verwissenschaftlichung" verstehen. Andererseits jedoch stellte sein derart konzipiertes Elite-Modell der weiteren wissenschaftlichen Arbeit, und zwar sowohl der empirischen wie der modelltheoretischen, die dringende Aufgabe, das Problem zu lösen, auf welche Weise das Element der (individuellen) Auslese, immerhin der semantische Ursprung des Begriffs, wichtigstes Element der Elite-Doxa und Angelpunkt aller Elite-Theorien seit Mosca und Pareto, soweit es sich bei ihnen um weiterreichende Theorien des sozialen Wandels handelte, in eine Macht-basierte Vorstellung von „Elite" zu integrieren sei. Denn der Preis, den Jaeggi für die von ihm konzipierte radikale Bindung des Begriffs der Elite (beziehungsweise der „Elitefunktion") an die Kategorie sozialer Macht zahlte, bestand in der weitgehenden Vernachlässigung des Prinzips der Auslese als Teil seines Elite-Modells. Daher überrascht es nicht, dass der mit diesem Prinzip eng verbundene Begriff der Leistung, der auf die eine oder andere Weise die Ausleseprozesse steuern musste - bis hin zu der tautologischen Denkfigur, wonach die Leistung der Elite-Mitglieder zumindest darin besteht, sich in einem Ausleseprozess durchgesetzt zu haben, was sie wiederum als Mitglieder der Elite konstituiert - , in Jaeggis Elite-Konzept kaum eine Rolle spielte. Auch wenn er konstatierte, dass von den drei „Eliteselektionsprinzipien", die bereits Karl Mannheim 429 ) aufgestellt hatte (Blut, Besitz, Leistung), der „Primat auf der Leistung" liege, so sah er diesen doch durch die vielfältigen Formen der Kooptation durchbrochen. In dieser Perspektive stellte Jaeggis Arbeit eine große modelltheoretische Herausforderung dar, und tatsächlich bezogen sich die großen diesbezüglichen Fortschritte, die nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von „Die gesellschaftliche Elite" erzielt wurden, alle auf die eine oder andere Weise auf dieses Buch. Insofern ist Jaeggis Elite-Konzept nicht allein in ideengeschichtlicher 429

) Jaeggis Angabe des Erscheinungsjahrs 1951 der erweiterten Ausgabe von „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus" ist allerdings falsch. Jaeggi: Elite, S. 136, S. 161.

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Perspektive wegen seiner Ausdifferenzierung und seines „Fortschritts" gegenüber Vorläufern als Markstein auf dem Weg der Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs in der Bundesrepublik anzusehen, sondern es wirkte im zeitgenössischen Feld der Sozialwissenschaften selbst als ein Beschleuniger des Prozesses der Integration von und Formung durch genuin wissenschaftliche Argumentationsweisen. III. Noch im Jahr des Erscheinens der „gesellschaftlichen Elite" erschien eine umfangreiche Besprechung des Buches in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie aus der Feder Hans Peter Dreitzels. 430 ) Zwei Aussagen durchzogen diese Rezension: Erstens die Anerkennung für Jaeggis Arbeit der kritischen Sichtung und Kommentierung der bisherigen Klassiker der Eliten-Theorie, die nun erstmals in deutscher Sprache vorlägen (hier irrte Dreitzel bekanntlich, was zeigt, wie wenig verbreitet Burnhams „Machiavellisten" geblieben waren). Und zweitens findet sich das wiederkehrende (und ganz zutreffende) Monitum, Jaeggi habe ein durch und durch unhistorisches Elite-Konzept konstruiert - was ja genau dessen Absicht gewesen war. Weder habe er den sozialhistorischen Hintergrund der von ihm analysierten EliteTheorien ausgelotet, noch einen wirklichen Beitrag zur empirischen Untersuchung der gegenwärtigen Elite der Bundesrepublik geleistet (obwohl dies ja den eigentlichen Fluchtpunkt von Jaeggis Arbeit darstellte), noch habe sich Jaeggi überhaupt die Frage gestellt, „warum der Elitebegriff gerade in unserer Zeit so wichtig geworden ist". 431 ) Antworten auf diese Problemstellungen suchte Dreitzel in seiner zwei Jahre später erschienenen, bei Helmuth Plessner entstandenen Dissertation. 432 ) Von ganz ähnlichem Umfang wie Jaeggis Buch, bemühte sich Dreitzel darin, „den Funktionszusammenhang der industriellen Gesellschaft mit Hilfe der soziologischen Kategorien ,Elite' und ,Leistungswissen' zu verstehen". Den dazu notwendigen methodologischen Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung bildete die These, dass „die industrielle Gesellschaft... unter dem Gesichtspunkt der,elitären Sozialstruktur' interpretiert werden" könne. 433 ) Mit diesem Argumentationsgang verfasste Dreitzel eine Studie, deren Wirkung auf den Prozess der Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs kaum zu überschätzen ist, und zwar aus zwei Gründen: Erstens forderte Dreitzel für die Gültigkeit des von ihm streng funktional konstruierten Elite-Begriffs eine Beschränkung auf die moderne Industriegesellschaft, was den Begriff (scheinbar) jeder Beliebigkeit entriss und ihn auf diese Weise als eine genuin wissenschaftliche Kategorie konstituierte, und zweitens bettete er diesen Begriff als tragendes Element in eine weitere Gesellschaftstheorie ein, womit er ihm eine ganz neue Form der Relevanz verschaffte. Der Umstand, dass Dreitzels Buch den theoretisch an430

) Dreitzel·. Rezension. ) Dreitzel: Rezension, S.560. 432 ) Dreitzel·. Elitebegriff. 433 ) Dreitzel: Elitebegriff, o.P. (Vorwort) (Hervorhebung von M.R.). 431

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spruchsvollsten deutschsprachigen Beitrag zur Elite-Diskussion darstellt, der während des Untersuchungszeitraums (und weit darüber hinaus) erschien, und die Möglichkeit, an diesem Beispiel nahezu alle Elemente des Konzepts der „Funktions-Elite" zu diskutieren, rechtfertigen daher die ausführliche Analyse dieses Werkes. Doch wie groß der Erkenntnisfortschritt war, den zuvor Jaeggis Arbeit erbracht zunächst hatte, lässt sich nicht zuletzt gerade am Aufbau von Dreitzels Buch ermessen: Dieser konnte nämlich die Auseinandersetzung mit den „Klassikern" des Elite-Denkens auf ein weit ans Ende gerücktes Kapitel verschieben, während er seine Abgrenzung von Jaeggis Begriff der funktional definierten Machtelite offensichtlich gleich auf den allerersten Seiten leisten musste. 434 ) Die Argumente seiner Rezension wiederholend, plädierte er für eine historische Einbettung der Elite-Diskussion und einen historischen EliteBegriff, das heißt ein Verständnis von „Elite", das nur auf bestimmte historische Konstellationen - und zwar auf diejenige der modernen Industriegesellschaft - anzuwenden wäre. Schon der Umstand, dass der Elite-Begriff erst seit der Jahrhundertwende intensiver diskutiert worden und diese Diskussion nicht mehr abgerissen sei, müsse als Beleg dafür gewertet werden, dass ein enger Realzusammenhang zwischen dem Begriff und der Sozialstruktur seiner Gegenwart bestehe. Diesen Zusammenhang sah er in dem Umstand gegeben, dass „die hochentwickelte Technik und Wirtschaft der Industriegesellschaft" - marxistisch gesprochen: der Entwicklungsstand der Produktivkräfte - ihren Führungskräften ganz spezifische Leistungen abverlange, nämlich die Beherrschung, Planung und Organisation der „kompliziert gewordenen Gesellschaftsstruktur" 435 ) Damit sei zum ersten Mal in der Geschichte das Leistungswissen zum zentralen Auslesekriterium der Führungskräfte geworden: „Wir sehen also, wie die Entwicklung einer pluralistischen Elitestruktur verbunden ist mit dem Prinzip der sachlichen und fachlichen Qualifizierung durch sichtbare Leistung und dem gleichzeitigen Rückgang von Bildung als Auslesekriterium. Das qualifikatorische Element des Elite-Begriffs - an sich schon das Definiens der bürgerlichen Bildungselite wird dominant, wenn aus der Klassengesellschaft eine Elitengesellschaft wird. Dieser Übergang bezeichnet einen Wandel in der dominierenden idealtypischen Struktur der Gesellschaft: Das Leistungswissen ersetzt den Besitz ... als das ausschlaggebende Kriterium nicht nur der Elitenauslese, sondern auch der sozialen Differenzierung überhaupt. Für die entstehende industrielle Sozialstruktur wird ,Elite' zu einem Schlüsselbegriff: Was der Klassenbegriff für die bürgerliche Gesellschaft war, ist der Elitebegriff für die moderne Gesellschaft: eine zentrale Kategorie für ihre Analyse."

Mit dieser Argumentationsrichtung verzahnte Dreitzel den Elite-Begriff mit einer spezifischen Gesellschaftsstruktur und entwickelte damit auch Paretos Konzept der Leistungsauslese entscheidend weiter. Jener hatte bekanntlich die Elite anhand des berühmten Indexes menschlicher Fähigkeiten konstituiert; Dreitzel zeigte nun, dass die moderne Industriegesellschaft - und nur 434

) Dreitzel·. Elitebegriff, S.3/4. ) Ebd., S.54, auch für das folgende Zitat.

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diese! - darauf angewiesen sei, ihre Führungspositionen mit Personen zu besetzen, die sich in Prozessen der individuellen Leistungsauslese (und nicht durch Geburt oder Besitz) qualifiziert hätten, kurz: dass erst diese Gesellschaftsform eine „Elitegesellschaft" sei. Zum Nachweis dieser These erarbeitete Dreitzel im ersten Teil des Buches eine lange Geschichte des Elite-Begriffs, 436 ) in der er eine „Abfolge" historischer Stadien entwickelte, die er durch die Begriffe „Stand - Klasse - Elite" gekennzeichnet sah - Begriffe, die ebenso sehr „idealtypische Herrschaftsstrukturen" wie analytische Kategorien darstellten. 437 ) So wie die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Klassengesellschaft gewesen sei, verfüge die moderne Industriegesellschaft über eine „elitäre Sozialstruktur". Klasse, Stand und Elite stellten für Dreitzel einerseits „historische Begriffe" und andererseits „soziologische Begriffe" dar, wie er sie in einem begriffsgeschichtlichen Exkurs 438 ) zum grundsätzlichen Erkenntniswert des Elite-Begriffs präparierte. Darin gab er bemerkenswerterweise der theoretischen Arbeit am Begriff einen überragenden Vorrang vor der empirischen Untersuchung sozialer Eliten, die für ihn lediglich eine der theoretischen Analyse dienende Funktion besitzen könne. 439 ) Im zweiten, weitaus umfangreicheren Teil des Buches vermaß Dreitzel dann „die soziologische Reichweite des Begriffs". 440 ) Diese Kapitel stellen den wohl bedeutendsten, wirkungsmächtigsten und ausdifferenziertesten deutschsprachigen Beitrag zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Elite-Begriffs 441 ) und längerfristig zur Durchsetzung des Glaubens an die Existenz und Bedeutung der Elite dar. Zunächst stellte Dreitzel noch einmal klar, dass das Moment der „Qualifikation" (er verwendete diesen Terminus, der sozial neutraler und „wissenschaftlicher" klingt als das Wort „Auslese", sowohl in dieser Bedeutung als auch in derjenigen des erworbenen Wissens, ohne diesen Unterschied jeweils deutlich zu machen) konstitutiv für den Elite-Begriff sei. Erst diese Feststellung ermöglichte überhaupt die Präzisierung und Abgrenzung des Elite-Be436

) Dreitzel: Elitebegriff, S.9-56 („Erster Teil. Die geschichtliche Dimension des Begriffs"). 437 ) Dreitzel·. Elitebegriff, S. 5/6. 438 ) Ebd., S. 56-62. In diesem Exkurs legte Dreitzel übrigens ein klares Bekenntnis zu einem reflektierten Historismus ab und unterschied zwischen „Formalbegriffen" wie „Struktur" oder „Position" und „perspektivischen Begriffen", wie dem der Elite, die die Soziologie aus dem „vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch" übernehme. Mit dieser theoretischen Fundierung seiner Untersuchung löste Dreitzel das begriffsgeschichtliche Problem der Spannung zwischen der Sprache der Quellen bzw. der außerwissenschaftlichen Sprache und derjenigen des Forschers und leitete damit gleichzeitig seine Forderung nach einer Beschränkung des Elite-Begriffs auf die Untersuchung moderner Industriegesellschaften ein, auf die allein er angewandt werden könne. 439 ) Dreitzel: Elitebegriff, S.58, S.61; ähnlich zuvor schon S.8/9. 440 ) Dreitzel: Elitebegriff, S. 63-161. 441 ) Ein ähnliches Urteil auch bei Hartmann: Elite-Soziologie, S.57-60.

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griffs gegenüber den unterschiedlichen Ausprägungen von Klassen-Konzepten (eine Präzisierung, die das Konstituens: soziale Macht - das unter anderem Jaeggi verwandt hatte - eben nicht in dieser Klarheit zu leisten vermochte 442 ), auch wenn sie ja keineswegs den Verzicht auf das Einbauen dieser Kategorie in ein Elite-Modell bedeuten musste). Und erst durch diese Festlegung des Elite-Begriffs auf individuelle Auslese, die modelltheoretisch gewissermaßen eine erste Vollendung der Elite-Doxa bedeutete, konnte eine historische Elite-Theorie, die den Begriff an eine bestimmte historische Konstellation oder einen Entwicklungsstand band (und den Verzicht auf ein überhistorisches Elite-Konzept implizierte), überhaupt erarbeitet werden - wie Dreitzel es auch tat. In seiner Ausdifferenzierung der Leistungsauslese traf dieser dabei eine Reihe von bemerkenswerten konzeptionellen Entscheidungen. Erstens kam er zu dem Schluss, dass die Herrschaft einer nach Leistungskriterien auserlesenen Elite „rationale Herrschaft" im Sinne Max Webers darstelle, weil Elitebildung „eine gewisse Rationalität der Ausleseprozesse" verlange, die dann wiederum den „eigentlichen Legitimationsgrund der Eliten bilden". 443 ) Schon mit diesem Rekurs auf Weber koppelte Dreitzel den EliteBegriff an moderne Gesellschaften und verlieh der Herrschaft von Eliten darüber hinaus selbst eine enorme Legitimität, weil diese nun der Moderne angemessen erscheinen musste. Zweitens schränkte Dreitzel die gesellschaftlichen Bereiche, in denen Leistungsauslese zur Bildung einer Elite führe, gegenüber der Theorie Paretos, der sich auch eine Elite der Diebe und der Prostituierten hatte vorstellen können, enorm ein, nämlich auf diejenigen Bereiche, die „für die Gesellschaft von Interesse und Bedeutung" seien - also diejenigen der Steuerung und Organisation der modernen Industriegesellschaft. 444 ) Die Vorstellung, dass innerhalb derartiger Gesellschaften eine Mehrzahl von „Wertstrukturen" koexistieren und sogar miteinander konkurrieren, dass diese also keineswegs derart einheitlich und kohärent sein könnten, wie Dreitzel in seinem Modell unterstellte - ein theoretisches und praktisches Problem, wie wir es, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Analyse der zeitgenössischen Schwierigkeiten, eine präzise Vorstellung vom spezifischen Führungs-Handeln unternehmerischer „Eliten" kennen gelernt haben - , vor allem aber die aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu gewinnende Erkenntnis, dass die im

442

) Man denke nur daran, dass Gaetano Mosca in seiner für die Elite-Doxa wegweisenden Arbeit überwiegend von der „politischen Klasse" (bzw. in den Übersetzungen von der „herrschenden Klasse") sprach! 443 ) Dreitzel·. Elitebegriff, S.67. 444 ) Dreitzel bezeichnete diese Idee Paretos als „grotesk", befand allerdings - im Horizont seines Elite-Konzepts ganz zu Recht dass sie das Fehlen eines modelltheoretischen Zusammenhangs zwischen der Auslese der Elite-Individuen und der „herrschenden Wertstruktur" verrate. Andererseits scheint sich die Entrüstung Dreitzels über Paretos hier deutlich zu Tage tretende Provokation jeder wertorientierten Soziologie nicht nur aus fachlich-professionellen, sondern mindestens ebenso aus moralischen Quellen gespeist zu haben. Dreitzel: Elitebegriff, S.68.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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Einzelnen sachrationalen Allokations- und sonstigen Organisationsentscheidungen der Elite für die gesamte Gesellschaft schwerwiegend destruktive und zutiefst inhumane Wirkungen entfalten könnten - diese Vorstellungen war mit Dreitzels umfassender Elite-Theorie allerdings nicht vereinbar. Tatsächlich gingen die Erfahrungen des Nationalsozialismus an keiner Stelle in Dreitzels doch so historisch bedachte Elite-Theorie ein. Dieser Befund muss auch insofern überraschen, als Dreitzel bereits in dem oben angeführten längeren Zitat von der „Entwicklung einer pluralistischen Elitenstruktur" gesprochen hatte. „Eliten-Pluralismus" meinte bei Dreitzel daher nur die Existenz komplementärer Funktionsgruppen in komplementären sozialen Feldern. Anders gesagt, auch bei seinem Elite-Konzept handelte es sich im Kern nicht um ein pluralistisches Modell in dem Sinne, dass beispielsweise eine pluralistische „Wertstruktur" konkurrierende Eliten hervorbringen könnte, denn der Konflikt zwischen unterschiedlichen Eliten war hier nicht vorgesehen. Ausdrücklich wandte sich Dreitzel gegen Begriffe wie „Konterelite" oder „Gegenelite", weil diese „in keiner positiven Beziehung" zur „Wertstruktur" der Industriegesellschaft stünden. 445 ) Das war nicht nur eine Absage an einen Elite-Begriff, der die Basis bilden sollte für eine Theorie des sozialen Konflikts, wie sie Jaeggi vorgeschwebt hatte, 446 ) sondern auch an einen Elite-Begriff als Grundlage einer noch weiter reichenden Theorie des sozialen und vor allem historischen Wandels, wie Ralf Dahrendorf sie wenig später entwickeln sollte. Stattdessen entstand mit einem solchen Elite-Begriff ein gewaltiges Legitimations-Potenzial, weil im Umkehrschluss die gegenwärtigen Funktionsträger hinsichtlich der Anforderungen ihrer Gesellschaft offensichtlich objektiv angemessen ausgewählt waren und das Aufrechterhalten rationaler Herrschaftsorganisationen verbürgten, was die Möglichkeiten der Kritik an ihnen grundsätzlich stark einschränken musste. Drittens ließen sich Eliten nach der Herkunft und der Reichweite ihrer Macht unterscheiden. Dreitzel verzichtete also keineswegs auf diese Kategorie in seinem Modell, allerdings ohne sie weiter zu problematisieren und ohne sie konzeptionell enger mit dessen anderen Elementen zu verknüpfen. Viertens schließlich legte er Wert darauf, den Elite-Status an das Bekleiden formeller Spitzenpositionen zu binden, um der Gefahr zu entgehen, sozial ortlose Eliten zu konstruieren, wie es in der Publizistik seit den 1950er Jahren gang und gäbe war. Und so konnte er nun, etwa in der Mitte des Buches, darangehen, eine „endgültige Definition des Elitebegriffs" vorzunehmen: „Eine Elite bilden diejenigen Inhaber der Spitzenpositionen in einer Gruppe, Organisation oder Institution, die auf Grund einer sich wesentlich an dem persönlichen Leistungswissen orientierenden Auslese in diese Positionen gelangt sind, und die kraft ihrer Positions-Rolle die Macht oder den Einfluss haben, über ihre Gruppenbelange hinaus zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur und der sie tragenden Normen unmittelbar beizutragen oder

445

) Dreitzel: Elitebegriff, S.68. ) Jaeggi: Elite, S. 151-58.

446

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die auf Grund ihres Prestiges eine Vorbildrolle spielen können, die über ihre Gruppe hinaus das Verhalten anderer normativ mitbestimmt,"447)

Mit dieser Definition war Dreitzels Untersuchung jedoch keineswegs abgeschlossen. Auf den folgenden rund 80 Seiten entwickelte er eine Theorie der Eliten in der Industriellen Gesellschaft, 448 ) die auf der These beruhte, dass zwischen der fortschreitenden Industrialisierung einerseits und der Ausbildung der elitären „Sozialstruktur" andererseits ein kausaler Zusammenhang bestehe. Diesen sah er im säkularen Aufstieg des Leistungsprinzips und, daraus folgend, des „Leistungswissens" für die Besetzung der gesellschaftlichen Spitzenpositionen, weil „der besondere Wert der Leistung im Wissen und Können eine Funktion der Produktivitätssteigerung ist, auf welcher diese Gesellschaft beruht". 449 ) Die berufliche Qualifikation wiederum, die (hier griff Dreitzel eine Behauptung Helmut Schelskys auf) die „Produktionsmittel... Kapital und Rohstoffe" an Bedeutung längst weit abgeschlagen hätte, 450 ) besäße zwei für die Ausprägung der „elitären Sozialstruktur" der modernen Industriegesellschaft entscheidende Charakteristika: Erstens sei sie stets an die persönliche Leistung gebunden, und zweitens stehe ihr Erwerb prinzipiell jedermann offen. Die Betonung liegt in diesem Satz auf dem Wort „prinzipiell", denn für die empirische Überprüfung dieser Tendenz interessierte sich Dreitzel ebenso wenig wie für die Effekte jeder Art von Soziodizee, die die grundsätzliche Vernachlässigung der Blockaden jener Offenheit entstehen ließ. Den Stellenwert, den die „Berufsqualifikation" in diesem umfassenden Modell einnahm, musste Dreitzel nun erst einmal gegen die Positionen der Kulturkritik der 1950er Jahre verteidigen. Diese Kulturkritik, vorgetragen unter anderem in dem bereits erwähnten, äußerst einflussreichen Buch von David Riesmann „Die einsame Masse" sowie zahlreichen publizistischen Vulgarisatoren, 451 ) hatte unter anderem ein ständiges Absinken der persönlichen Bin-

447

) Dreitzel·. Elitebegriff, S.71 (Hervorhebung im Original). ) Eine solche Theorie konnte übrigens für Dreitzel gerade vom Strukturfunktionalismus Parson'scher Prägung, der zu Beginn der 1960er Jahre in der Soziologie der Bundesrepublik bereits seinen Siegeszug angetreten hatte, nicht ausgehen, weil dieser den Menschen zum selbstentfremdeten Rollen-Träger degradiere. Einen Ausweg erkannte er vorerst nur in der Philosophischen Anthropologie seines Lehrers Helmuth Plessner. Dreitzel·. Elitebegriff, S. 77-79; Tenbruck: Soziologie, S. 85-91. 449 ) Dreitzel: Elitebegriff, S.79; ähnlich S.85, wo er das Leistungswissen als das „konstitutive Element der Auslese in Elitepositionen" bestimmte. 450 ) Diese Definition der Produktionsfaktoren lag ganz auf der politisch-intellektuellen Linie Schelskys, den Gegensatz zwischen den „klassischen" Faktoren Kapital und Arbeit herunterzuspielen und damit auch das Denken in Klassen-Kategorien. Dass Dreitzel diese Argumentationsfigur hier übernahm, weist darauf hin, dass auch er an jenem Projekt mitarbeitete, Klassen-Vorstellungen zu Gunsten der Elite-Doxa zu verabschieden, wie es in seiner historischen Stadienfolge ja überdeutlich zum Ausdruck kommt. Vgl. Schelsky. Beruf, S. 238-49. 451 ) Dreitzel zitierte u. a. den weithin bekannten Publizisten und Journalisten Herbert von Borch, der zwischen 1949 und 1969, also während unseres Untersuchungszeitraums, nicht weniger als 21 (!) Beiträge allein im Merkur veröffentlichte. 448

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dung der Menschen an ihren Beruf sowie ein dramatisches Ansteigen ihrer konsumistisch-konformistischen Haltungen, verursacht durch ein Verkümmern der - traditionell bürgerlich verstandenen - Individualität („innengelenkter Typ"), und die immer weitere Verbreitung von an der Umgebung orientierten Verhaltensweisen („außengelenkter Typ") beklagt. Dreitzel wies diese Zeitdiagnosen jedoch als übertrieben oder falsch verstanden zurück. 452 ) In dem zentralen Kapitel „Die Dialektik des Erfolgs" verzahnte Dreitzel dann sein Elite-Konzept mit einer bis dahin in dieser Differenziertheit nicht erreichten Theorie der Elite in der modernen Gesellschaft, kurz: der „elitären Sozialstruktur". Zunächst betonte er noch einmal in aller Deutlichkeit den zentralen Unterschied zwischen der Auslese für die Spitzenpositionen in vormodernen und in modernen Gesellschaften: „Wie mannigfaltig aber diese [vormodernen, M.R.] Formen der legitimen Herrschaft auch sein mögen, sie unterscheiden sich durch ihren mehr oder weniger .geschlossenen' Charakter doch noch einmal grundsätzlich von der Elitenherrschaft. Die elitäre Sozialstruktur verlangt prinzipielle Offenheit ihrer Spitzenpositionen für jeden und stellt damit das Problem der Auslese in neuartiger Schärfe. Erst durch diese Zuspitzung der Frage ist das Ausleseproblem allgemein zum Bewusstsein gekommen und so erklärt sich denn auch, warum die Elitetheorien im wesentlichen gerade in der Zeit der bürgerlichen Revolutionen und der darauf folgenden Liberalisierung der Aufstiegswege entstanden sind. Für die industrielle Gesellschaft ist die prinzipielle Offenheit der Berufsstruktur darüber hinaus eine funktionale Notwendigkeit, weil sie die Voraussetzung ihrer Leistungsfähigkeit ist." 453 )

Für die Industriegesellschaft sei nun aber die prinzipielle Offenheit der „Berufsstruktur" eine „funktionale Notwendigkeit" als Voraussetzung ihrer „Leistungsfähigkeit". Die Folge zunehmenden Professionalisierung der Berufsarbeit sah er dabei ganz zu Recht in ständig steigenden Anforderungen an das Leistungswissen der Arbeitenden - besonders der Führungskräfte - und in der Konsequenz in der „Verschulung" der Ausleseprozesse. Bemerkenswerterweise sah Dreitzel jedoch ausgerechnet die Unternehmerschaft von allen Elite-Gruppen am wenigsten fortgeschritten auf diesem Weg, außer in den Vereinigten Staaten. Obwohl Dreitzels Bemerkungen an dieser Stelle auf einer mehr als schmalen Literaturgrundlage standen, trafen sie durchaus ins Schwarze, wie wir im vorhergehenden Kapitel an Hand des äußerst zähen Widerstandes weiter Teile der Unternehmerschaft gegen eine Professionalisierung des Unternehmer-Berufs gesehen haben. Dennoch müssen Dreitzels Ausführungen (der ja durchaus zu Recht auf die Akademisierung der Großunternehmerschaft hätte verweisen können, 454 ) nur dass die juristische Ausbildung

452

) In einem cleveren argumentativen Schachzug wies er u. a. darauf hin, dass die Klage über Konformismus und den Zwang zur Anpassung seit Hermann Melville ein feststehendes Thema der amerikanischen Literatur sei. Dreitzel·. Elitebegriff, S.91. 453 ) Dreitzel: Elitebegriff, S.93. Vormoderne Formen sah Dreitzel zum Beispiel in der „Blutsaristokratie" oder der „Häuptlingsfamilie". 454 ) Wissenschaftliche Beobachtungen in dieser Richtung lagen spätestens seit den 1930er Jahren mit den Arbeiten Sachtiers und Nothaas' durchaus vor.

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eben nur bedingt der Vorbereitung von Allokationsentscheidungen dient) hier überraschen: Denn seine Verknüpfung des Elite-Begriffs mit der modernen /ni/wsin'egesellschaft beruhte ja ganz wesentlich auf der Vorstellung der Notwendigkeit des Leistungswissens als ökonomische Produktivkraft. Dreitzels Argument ging jedoch in eine andere Richtung: Er verwies zunächst ganz zutreffend auf die wachsende Bedeutung der Hochschulen für die Auslese der Führungskräfte, die - wiederum - in den USA, aber vor allem auch in Frankreich weiter vorangeschritten sei als in Deutschland. Dennoch - und darin bestand die im Titel des Kapitels angeführte „Dialektik" - machte sich Dreitzel nicht zum Propheten einer sozial offenen Leistungs- und Wissensgesellschaft. Den Grund für die Unmöglichkeit der Herrschaft einer Meritokratie sah er in der Ambivalenz des Erfolgs, welcher durch die Auslese prämiert werde, und der nicht allein auf die Akkumulation von Leistungswissen zurückginge. „Erfolg" bestünde nicht nur aus „Leistungs-", sondern auch aus „Erfolgstüchtigkeit", die wiederum „jene Eigenschaften und Verhaltensweisen" beinhalte, die „auf die Durchsetzung der Leistung und zuletzt der eigenen Persönlichkeit gerichtet sind". Mit dieser doppelten Voraussetzung für die Aufnahme in die Elite glaubte Dreitzel auch Pareto und die übrigen Vertreter „machiavellistischer" Elite-Konzepte widerlegt zu haben, weil die reine „Erfolgstüchtigkeit" (die Dreitzel mit dem „Machiavellismus" identifizierte) eben nur eine der konstitutiven Eigenschaften für den Aufstieg in die Elite darstelle, die „Leistungstüchtigkeit" aber nicht vernachlässigt werden könne. Diese „Erfolgstüchtigkeit" lässt sich als „Spielsinn" verstehen, das heißt als praktisches Wissen um die - meistens ungeschriebenen - Regeln und Normen, die im Wettbewerb um den Aufstieg in gesuchte Führungspositionen über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Dieser Spielsinn wäre demnach niemals allein das Resultat formaler Curricula. Zu jener „Erfolgstüchtigkeit" rechnete Dreitzel auch das soziale Kapital der Zugehörigkeit zu den mehr oder weniger geschlossenen Gruppen, die die Ausleseprozesse kontrollieren oder steuern. Mit anderen Worten, „Nepotismus und Patronage gehören wohl zu den wichtigsten und zugleich am schwersten nachweisbaren Momenten faktischer Auslese, die den Erfolg jenseits der Leistungsnormen mitbestimmen können." 455 ) In diesem Zusammenhang interessierte sich Dreitzel jedoch zunächst weniger für die soziale Engführung, die aus den ungleichen Chancen des Besuchs höherer Bildungsanstalten sowie aus dem höchst ungleich verteilten sozialen Kapital resultierten. Ihn beunruhigte vielmehr der Konformismus der Eliten, der aus der vorweggenommenen Anpassung der Aufstiegs-Kandidaten an die Werte der etablierten Elite resultierte. In dem folgenden Abschnitt, der sich mit den Formen der Auslese von Elite-Individuen beschäftigte, zeigte sich nicht nur, wie stark Dreitzels Konzept noch den Diskussionen der 1950er Jahre verhaftet war, sondern auch, wie groß

455

) Dreitzel·. Elitebegriff, S.101.

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das Einfallstor für moralische Wertungen selbst in diesem scheinbar so streng analytisch konstruierten Modell der Funktionselite war. Dreitzel unterschied nämlich, unter Auswertung der neueren deutschsprachigen Elite-Literatur,456) als derartige Formen idealtypisch die Delegation, Berufung, Selbstergänzung und Protektion. Während die Selbstergänzung nach Erfolgskriterien dabei diejenige der Leistungsgesellschaft am klarsten angemessene Form der Auslese darstelle, minderten Protektion und Delegation die Erfolgsrelevanz des individuellen Leistungsprinzips. Vor allem aber sah Dreitzel die Gefahr, dass die Legitimation der Elite durch Leistungsauslese irgendwann nur noch auf einem weitverbreiteten Glauben beruhen könnte, während tatsächlich nur noch nach Delegation und Protektion verfahren werde, so dass die Elite zur „Prominenz" degeneriere und die tatsächliche bloße Prominenz zur Elite „manipuliert" werde. 457 ) Eine mögliche Bedeutungsminderung der Leistungsauslese wurde damit nicht einfach konstatiert und soziologisch bewertet, sondern moralisch, als Degeneration und als „Prominenz". Zum Historismus des Dreitzel'schen Untersuchungsansatzes gehörte also nicht nur das Hervorheben der Verkörperung spezifischer, an die Anforderungen der Gesellschaft angepasster Werte durch die Elite, sondern auch das Beharren auf das eigene Normensystem in seiner Konzeption des Elite-Begriffs. Erst im letzten Abschnitt der „Dialektik des Erfolgs" wandte sich Dreitzel dann den Barrieren zu, die von der Struktur der sozialen Ungleichheit in den Gesellschaften errichtet wird zwischen dem theoretisch notwendig offenen Zugang zu Elite-Positionen und der faktischen Exklusion weiter Bevölkerungskreise von den Institutionen der Auslese. Für Dreitzel war klar, dass

456

) Im Wesentlichen stützte er sich auf die mehrfach erwähnten Arbeiten von Otto Stammer und von Dietrich Goldschmidt. Dreitzel: Elitebegriff, S. 103-08. 457 ) Diese Denkfigur griff Dreitzel im letzten Kapitel seines Buches noch einmal auf, als er die „weitgehende Trennung zweier verschiedener Bereiche in der sozialen Welt der industriellen Gesellschaft (einer Arbeits- und Leistungssphäre und einer Konsumsphäre") behauptete und daraus auf die Existenz zweier verschiedener „Elitetypen" schloss, „deren Führungsfunktion sich auf je einen dieser Bereiche bezieht". Gemäß der differierenden Vorbildhaftigkeit der in diesen Bereichen herrschenden Normen unterschied er folglich zwischen „Leistungshelden" und „Freizeithelden" als „Vorbildtypen", die diese Eliten darstellten. Zu den „Freizeithelden" zählte er wenig überraschend „Film- und Theaterstars", Sportler, „Schlagerkönige" und „Modeschöpfer", „aber auch Künstler, Literaten und zuweilen Philosophen und Kulturkritiker". Der „Freizeitheld" verkörpere jedoch kein „vorbildhaft wirkendes Rollenmodell", weil seine Nachahmung nicht einer Handlungsweise, sondern einer (ontologisch gedachten) Person gelte. Die Funktion des „Leistungshelden" dagegen bestehe darin, „in der hochmobilen Industriegesellschaft die Rolle eines normativen Bezugsmodells im beruflichen Leistungsbereich" zu spielen. Nur der Leistungsheld konnte also den Anspruch erheben, einen positiven Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur und der Vermittlung ihrer systemnotwendigen Normen herzustellen. Die doxische Argumentationsfigur des Gegensatzes zwischen der gesellschaftlich notwendigen Elite und der systemisch bestenfalls überflüssigen, schlimmstenfalls degenerierten Prominenz war damit - auf höchstem sozialwissenschaftlichen Niveau! - bestätigt. Dreitzel. Elitebegriff, S. 147-49.

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„eine Gesellschaft, deren Berufshierarchie auf dem Leistungswissen beruht... die Egalisierung der Auslesechancen für alle anstreben" müsse. 458 ) Dass eine derartige Egalität in der Gesellschaft der Bundesrepublik nicht gegeben war, daran zweifelte Dreitzel nicht, und ebenso wenig daran, dass die Zugangschancen zum Bildungssystem höchst ungleich nach der sozialen Herkunft verteilt waren (anders als es in den 1950er Jahren etwa der mehrfach zitierte Pädagoge Heinrich Weinstock im Hinblick auf die „Elitebildung" gesehen hatte), und anders auch als es bei dem Soziologen Karl Valentin Müller zu lesen war, der nach 1945 noch ernsthaft behauptete, Erbfaktoren seien für die überwältigende Dominanz von Angehörigen der Oberklassen unter den Gymnasiasten und den Studenten verantwortlich. 459 ) Derartige Behauptungen wies Dreitzel scharf zurück und ebenso scharf den „Rahmenplan" des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen. 460 ) Dennoch lag auch hier für Dreitzel das zentrale Problem nicht in den bestehenden Ungleichheiten der Bildungs- und damit der Aufstiegschancen (zumal es ihm, wie erwähnt, lediglich um die grundsätzliche oder „prinzipielle" Offenheit des Bildungssystems ging), sondern in den - materiell wie soziokulturell bedingten - fehlenden Auistiegserwartungen und -bestrebungen der Angehörigen unterer Klassen. Denn „wesentlich für die Elitengesellschaft ist nicht so sehr die tatsächliche Mobilität - die bei allem Gesagten freilich immer noch weit stärker als in vorindustriellen Gesellschaften ist - als vielmehr ihre Möglichkeit. Prinzipiell muss die industrielle Sozialstruktur ,offenen' Charakter haben, muss der Aufstieg in die Spitzenqualifikation jedem möglich sein, der die geforderte Leistungsqualifikation erwerben kann. Welche Determinanten die Erfolgsrelevanz dieser Leistungsqualifikation außerdem noch mitbestimmen, sagt etwas aus über Qualifikationsgrad und sozialer Struktur der Eliten, besagt aber nichts über die elitäre Struktur der industriellen Gesellschaft." 461 )

Das war nun eine klare Absage an empirische Untersuchungen sozialer Aufstiegs- und Abstiegsprozesse als Teil der soziologischen Analyse von Eliten. Der Schlüssel zur Erklärung lag für Dreitzel in den Schicht- und geschlechtspezifischen Statuszielen, die für die „Egalisierung der Auslesechancen ebenso wie [für] die verschiedenen Selektionsformen offenbar ... eine kaum zu überschreitende Grenze" darstellten. 462 ) Alles andere, also eine intensivere Analyse der Ausleseprozesse und damit notwendig verbunden ein stärkeres Hervorheben der gesellschaftlichen Blockaden für den Aufstieg in die Elite aus 458

) Dreitzel·. Elitebegriff, S.108. ) Bemerkenswerterweise ging Dreitzel auf Weinstocks Texte zur „Elitebildung" weder an dieser noch an einer anderen Stelle ein - möglicherweise aus Rücksicht auf seinen akademischen Lehrer Helmuth Plessner, der in seinem eigenen Beitrag zum Thema gerade hinsichtlich des Hochschulzugangs Positionen vertreten hatte, die nicht fern von denjenigen Weinstocks gelegen waren. Plessner: Über Eliten und Elitenbildung, in: GMH; Weinstock: Elitebildung in der Demokratie. "«>) Dreitzel: Elitebegriff, S. 108/09. 461 ) Dreitzel: Elitebegriff, S. 111. 462 ) Dreitzel: Elitebegriff, S. 110/11. 459

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unteren sozialen Lagen hätte allerdings auch die Gefahr bedeutet, der gegenwärtigen Gesellschaft möglicherweise den Status der „elitären Sozialstruktur" absprechen zu müssen. Darin bestand das Grundproblem des konsequent funktional definierten Elite-Konzepts, wie man es bei Dreitzel am differenziertesten und besonders prägnant beschrieben findet: Sobald die Modi der Elite-Auslese als notwendige und rationale Konsequenzen gesellschaftlicher Basisprinzipien konstruiert wurden, konnten Konflikte um den Zugang oder Strategien der Monopolisierung sozialer Macht allenfalls als vernachlässigenswerte Abweichungen von der Norm in den Blick genommen werden. Erst im nun folgenden, vorletzten Kapitel des Buches begann Dreitzel mit einer eingehenderen Erörterung der „Klassiker" der Elite-Diskussion, nämlich Mosca, Michels und Pareto, indem er konzeptionell nicht ungeschickt ihre Beiträge unter dem Stichwort des „Machiavellismus" zusammenfasste 463 ) und damit den modelltheoretisch noch fehlenden Zusammenhang zwischen dem Elite-Begriff und der Kategorie der Macht thematisierte. Schließlich musste auch sein Entwurf eine Lösung für das modelltheoretische Problem der sozialen Wirksamkeit der Elite anbieten. 464 ) Nach dem bisher Gesagten wird es kaum überraschen, dass Dreitzel nicht nur dem paretianischen Gestus der scheinbar interessenlosen Provokation eher distanziert gegenüberstand, sondern den Vorwurf erhob, die Machiavellisten hätten Macht mit Erfolg verwechselt und die wirkliche Bedeutung der Elite in der modernen Industriegesellschaft verkannt, so dass der enge Zusammenhang zwischen der Leistungsauslese und der Machtfunktion der Eliten aus dem Blickfeld gerate. Diese „Machtfunktion" bestand für Dreitzel in nicht weniger als der „Durchsetzung rationaler Planziele in der Leistungsgesellschaft", in der „letztlich Rechtsstaatlichkeit, Freiheitlichkeit und Funktionsfähigkeit" der politischen Ordnung von der Struktur der Eliten abhingen 465 ) - eine reichlich apologetische Wendung, in welcher Dreitzel jedoch eine der Grundannahmen der Elite-Doxa, dass nämlich die Elite den wesentlichen und relevanten Teil der Gesellschaft ausmache, auf einer markant höheren Reflexionsebene als sie deutschsprachige Autoren (vielleicht mit Ausnahme Karl Mannheims und Otto Stammers) jemals zuvor erreicht hatten aussprach. Im wichtigen Schlusskapitel über „Führungsfunktion und Vorbildrolle" interessierte sich Dreitzel nur wenig für die Frage, auf welche Weise die Funktions- und Leistungseliten ihre Aufgabe - die Sicherung der Funktionsfähigkeit aller verschiedenen Teilbereiche der modernen Industriegesellschaft - tatsächlich ausführten (eine empirische Frage), sondern suchte hier die Grundlagen der „Führung" als spezifische Leistung der Eliten theoretisch zu bestimmen. Die Definition des Führungs-Begriffs übernahm er von Theodor Geiger,

463

) ten, ^ 465 )

Dreitzel bezog sich hier auf das oben untersuchte Buch von Burnham: Machiavellisdessen Rezeption bei Jaeggi noch gefehlt hatte. Dreitzel·. Elitebegriff, S. 113-28, Zitat S. 113. Dreitzel·. Elitebegriff, S. 128-133.

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5. D i e neue symbolische Ordnung

der ihn, wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, faktisch als Ausübung legitimer Herrschaft im Sinne Max Webers handhabte. Allerdings übernahm Dreitzel nicht die - auf Alfred Vierkandt zurückgehende und von Geiger aufgegriffene - Unterscheidung zwischen (persönlicher) Führung und (institutionalisierter) Herrschaft. Stattdessen unterschied Dreitzel hinsichtlich der von Elite-Mitgliedern eingenommenen Machtpositionen zwischen den institutionalisierten Autoritätsbeziehungen, aus denen sich ihre „Führungsrolle" ableite, und der Gruppenstruktur, das heißt der Beziehung zwischen dem „Führer" (sie! - in der Tat sprach Dreitzel durchgehend und unter Berufung auf die fachsoziologische Theoriebildung von „Führern", wo Mitglieder der Elite gemeint waren) und den Gruppenmitgliedern, von der die „Autoritätsrolle" abhinge. Diese Abweichung von der eingeführten Terminologie erleichtert das Verständnis nicht unbedingt. Sie wird jedoch plausibel, wenn man bedenkt, dass Dreitzel gerade nicht die Herrschaftsausübung der Elite, sondern ihre auf die Durchsetzung von Leistungs- und Erfolgsnormen gerichtete - gesellschaftliche Funktion zu ergründen suchte. Hier suchte er den Nachweis, dass die „Führungsfunktion" mit innerer Notwendigkeit auf „die kollektive Verwirklichung von Leistungswerten [hin] angelegt ist". 466 ) Denn die Autoritätsrolle habe wesentlich „die Aufgabe, die Funktionsfähigkeit und den Leistungsstandard der Gruppe zu gewährleisten. Insofern die Eliten ihre Existenz der Leistungsqualifikation verdanken, werden sie dazu tendieren, ihre Führungsfunktion in den Dienst der Leistungs- und Produktivitätswerte zu stellen". 467 ) Damit schloss sich gewissermaßen der argumentative Kreis in Dreitzels EliteModell. Erst die Teilsysteme der modernen Industriegesellschaft brachten durch die Möglichkeiten und Zwänge, unter denen sie selbst standen, mittels Leistungs- und Erfolgsauslese Eliten hervor, die - ihrerseits unter Leistungsund Erfolgskonkurrenz stehend - einerseits die Funktionsfähigkeit dieser Teilsysteme gewährleisteten und andererseits die systemnotwendigen Leistungs- und Erfolgsnormen gesellschaftlich durchsetzten. Die wesentliche Bedeutung dieses außerordentlich originellen, in sich schlüssigen und bis dahin vielleicht bis heute - am weitesten ausdifferenzierten Elite-Konzepts bestand zweifellos in dem modelltheoretischen Nachweis, dass die individuelle Auslese Eliten konstituiere und dass erst die moderne Industriegesellschaft derartige Eliten hervorbringe und benötige. Damit ließ Dreitzel nicht nur die publizistischen Klagen über eine fehlende Elite hinter sich, sondern ebenso sämtlich Wert- und Charakter-Modelle und schließlich sogar den vertrauten Gegensatz zwischen Elite und Masse, eine Vorstellung, die er mehrfach als unbrauchbar zurückwies. 468 ) Allerdings hinterließ Dreitzels Buch für die weitere Debatte über die Sozialordnung der Bundesrepublik eine Reihe weitreichender Hypotheken. Zum einen vervielfachte es das Legitimationspotenzial, das der Elite466

) Dreitzel: Elitebegriff, S. 139. ) Ebd., S. 138. 46s ) Dreitzel: Elitebegriff, S. 150-52. 467

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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Begriff ohnehin schon besaß, indem es der Elite, deren Existenz nun auf theoretischem Weg bewiesen war, bescheinigte, führender und funktional unentbehrlicher Exponent einer rationalen Sozial- und Wirtschaftsordnung zu sein. Die Inhaber der Spitzenpositionen dieser Ordnung konnten sich damit bestätigt sehen, ihre Stellung individueller Leistungs- und Erfolgsauslese zu verdanken. Dreitzels Thesen ließen sich deshalb mühelos als Apologie des sozialen Status Quo missverstehen. Gerade die avancierteste Sozialforschung erzeugte hier Ergebnisse, die innerhalb einer spezifischen politisch-ideellen Interessenkonstellation zur Verbreitung eines sozialen Glaubens beitrugen, den der Sozialwissenschaftler eigentlich hatte überwinden wollen. Zum anderen erwies sich Dreitzels Konzept (wie übrigens letztendlich auch dasjenige Jaeggis) als wenig brauchbar für die weitere empirische Untersuchung von Eliten oder Teileliten. 469 ) Kaum eine der nachfolgenden empirischen Arbeiten suchte ernsthaft eine tiefergehende methodologische Auseinandersetzung mit Dreitzels Buch. Weder Über- und Unterordnungsbeziehungen noch der historische Zusammenhang zwischen der modernen Industriegesellschaft und der Leistungsauslese der Führungskräfte aller Bereiche wurden tatsächlich zu analytischen Leitfragen der historiographischen wie der gegenwartsbezogenen Elitenstudien. Stattdessen wurden die entsprechenden Zitationen in die Einleitungskapitel verbannt (die, wie Michael Hartmann kürzlich süffisant festgestellt hat, immer kürzer und nichtssagender würden 470 )), und die Bezugnahme auf Dreitzels (und Jaeggis) methodisch reflektierte Pionierstudien diente hauptsächlich zur Begründung der Relevanz von empirischen Forschungen, denen Methodenprobleme nur zu oft bereits mit den entsprechenden Literaturverweisen geklärt schienen. Vor allem die vorschnelle, weil unbesehene Identifizierung bestimmter herausgehobener sozialer Positionen mit der Ausübung der systemnotwendigen Führungs-, Allokations- und Organisationsentscheidungen (in der Sprache der Elitenforschung: die Gleichsetzung „positionaler" und „funktionaler" Untersuchungsdesigns) findet in der Arbeit Dreitzels ihren Ursprung. In gewisser Hinsicht war dieser mit seiner bewussten Vernachlässigung der Probleme empirischer Forschung daran nicht ganz unschuldig. Weder die Erforschung der tatsächlichen sozialen Offenheit von Eliten, noch Fragen nach deren sozialer Homogenität beziehungsweise Heterogenität und ebenso wenig die Untersuchung der Konkurrenz zwischen Eliten oder Teileliten ließen sich mit Dreitzels Elite-Theorie vertieft bearbeiten. Und schließlich ließ das Fehlen einer Typologie oder zumindest einiger strukturierender Kriterien das individuelle und kollektive Handeln einer Elite nicht anders als funktional angemessen erscheinen. Kurz und gut: Während die großen konzeptionellen Anstrengungen Dreitzels einerseits ein enormes

469

) Dieser Vorwurf trifft Jaeggi selbstverständlich stärker als Dreitzel, weil ersterer seine Studie wie erwähnt als Anregung der empirischen Forschung verstanden hatte, während letzterer ja ohnehin die Überlegenheit theoretischer Arbeit postulierte. 470 ) Hartmann·. Elite-Soziologie, S. 66/67.

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5. Die neue symbolische Ordnung

politisch-soziales Legitimationspotenzial zu entfalten vermochten, fanden gerade diese Anstrengungen andererseits kaum tieferen Eingang in die Praxis der Sozialforschung. IV. Das bloße Erscheinen zweier Monographien zum gleichen Thema und einer kurzen Rezension in einer Fachzeitschrift hätten möglicherweise noch nicht genügt, um den beiden Studien die bleibende Aufmerksamkeit zu kommen zu lassen, die ihnen bald zuteil wurde. Doch ein Jahr nach dem Erscheinen von Dreitzels Buch veröffentlichte die Kölner Zeitschrift eine umfangreiche Besprechung beider Werke durch Wolfgang Schluchter, einen Schüler Otto Stammers.471) Wie fast alle anderen Sozialwissenschaftler, die sich um eine Definition des Begriffs vor seiner wissenschaftlichen Verwendung bemühten, 472 ) versuchte auch Schluchter zunächst, sich vom politisch-publizistischen Alltagsgebrauch des Elite-Begriffs zu distanzieren, anders gesagt, ihn von „wertmäßigen Vorbelastungen" und „weltanschaulichen Überforderungen" zu befreien, kurz, ihn zu verwissenschaftlichen. Umgekehrt gingen die hier diskutierten Argumente, Modelle, Verfahrensweisen und Autoren auch nicht in die Auseinandersetzungen der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit ein. Tatsächlich erreichte dieser Verwissenschaftlichungsprozess zur Mitte der 1960er Jahre hin seinen Höhepunkt, und Schluchters erkenntnistheoretische Kritik an den Arbeiten Jaeggis und Dreitzels markiert einen wichtigen Teil dieses Gipfels. Bemerkenswert ist Schluchters Aufsatz vor allem, weil er ziemlich präzise die Höhe des zu dieser Zeit erreichten sozialwissenschaftlichen Diskussionsniveaus anzeigt. Die Lektüre dieses Textes macht deutlich, dass jenes Niveau damals weitaus stärker von Dreitzel als von Jaeggi definiert worden war. Die Kritik an letzterem stellte für Schluchter gewissermaßen nur den Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen dar; Überlegungen, deren Fluchtpunkt erst durch eine intensive Auseinandersetzung mit Dreitzels Elite-Theorie als Teil einer umfassenden Theorie der Gesellschaft zu bestimmen war. Jaeggi, so stellte Schluchter ganz zu Recht fest, habe es unterlassen, die von ihm als Macht-Inhaber konstruierte Elite in Beziehung zur Machtstruktur der Gesellschaft zu setzen - eine Aufgabe, die vermutlich ein jedes überhistorisches und nicht auf eine bestimmte Sozialordnung festgelegtes Elite-Konzept auch überfordert hätte. Dazu gehöre aber auch die Frage nach den Modi des Erwerbs von Macht, mit anderen Worten, auch das Konzept einer durch Machtbesitz und -ausübung definierten Elite könne das Problem der Auslesemechanismen dieser Elite nicht ignorieren (schon hier zeigt sich die ideengeschichtliche Wirkungsmacht von Dreitzels Buch, der genau diesen Gedanken ins Zentrum seiner Untersuchung gestellt und den Elite-Begriff unwiderruflich mit dem Prinzip der Auslese verbunden hatte). Genau das habe Jaeggi 471

) Schluchter: Elitebegriff. ) „Ziel dieses Versuches ist es, den Ansatz zu einem Elitenmodell zu formulieren", schrieb Schluchter eingangs. Schluchter: Elitebegriff, S.235.

472

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

513

aber getan und damit letztlich selbst gezeigt, dass ein derartiges Elite-Konzept für die Analyse der Industriellen Gesellschaft - um die es ja gehen müsse, so Schluchter - nur wenig tauglich sei.473) Mit dieser Kritik schied Jaeggis Konzept aus dem Repertoire der sozialwissenschaftlichen Instrumentarien für makrosoziologische Fragestellungen jeder Art faktisch aus. Ausdrücklich und an mehreren Stellen verlangte Schluchter, den Elite-Begriff nicht als Selbstzweck, sondern als notwendiges Instrument zur Analyse gegenwärtiger Gesellschaften anzusehen und für genau diesen Zweck weiterzuentwickeln. Gerade in der Idee der Vermittlung zwischen der Sozialstruktur und der Elite durch das Moment der Auslese sah Schluchter den theoretischen Fortschritt von Dreitzels Konzept gegenüber Jaeggi474) (und allen früheren Elite-Modellen). In der Gegenüberstellung dieser beiden Autoren entwickelte Schluchter dann jene kategoriale Alternative, die die weitere wissenschaftliche Debatte über angemessene und praktikable Elite-Modelle maßgeblich strukturieren sollte: Wie er ganz zutreffend bemerkte, lägen ihren Elite-Konzepten „verschiedene Gesellschaftsmodelle zugrunde: ein Konfliktmodell und ein Integrationsmodell",475) Tatsächlich ordneten sich praktisch alle später entwickelten EliteKonzepte mehr oder weniger ausdrücklich einer dieser beiden Alternativen zu. Aus diesen Modellen folgte aber auch die implizite Vorstellung darüber, welche Funktion die Eliten in der Gesellschaft ausübten. Schluchters Befund, dass Dreitzels Entwurf „ein ausgesprochenes Integrationspostulat" enthalte, weil er „Eliten nur in positiver Beziehung zum bestehenden Normensystem der Gesellschaft denkt", traf den Nagel auf den Punkt. Noch hellsichtiger allerdings war seine Schlussfolgerung, dass in dieser Perspektive „die Eliten ... zu Stabilisierungsfaktoren des Bestehenden" würden. 476 ) Damit war der apologetische oder zumindest stark legitimatorische Zug, der dem Elite-Begriff in der gehobenen Publizistik von Anfang an innewohnte, noch in den ausdifferenziertesten wissenschaftlichen Modellen mit höchstem Reflexionsgrad an die Oberfläche getreten. Allerdings zog Schluchter aus dieser Feststellung keinerlei Schlussfolgerungen. Im Gegenteil: In Fortsetzung des von seinem Lehrer Otto Stammer entworfenen Modells der politischen Funktionselite, das, wie wir oben gesehen haben, neben einem wissenschaftlichen Anliegen, nämlich die wesentliche Bedeutung politischer Mandatsträger und Journalisten als Konzeptoren der politischen Willensbildung für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie herauszuarbeiten, auch eine politische Ausrichtung besaß, nämlich diese in Deutschland lange Zeit wenig angesehenen Gruppen mit dem neuen Elite-Begriff zu „adeln" und ihnen (und der Demo-

473

) Schluchter. Elitebegriff, S. 238-41. ) Schluchter brachte das Ergebnis seines Vergleichs der beiden Ansätze auf die einprägsame Formel: „Eliten sind durch Qualifikation mächtig, nicht durch Macht qualifiziert." Schluchter: Elitebegriff, S.243. 475 ) Schluchter: Elitebegriff, S.244 (Hervorhebungen von M.R.). 476 ) Schluchter: Elitebegriff, S.244 (Hervorhebung von M.R.). 474

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5. Die neue symbolische Ordnung

kratie) eine höhere Legitimität zu verschaffen, formulierte Schluchter, es sei die „Aufgabe" der Eliten, „als Repräsentanten von Subkulturen die Brücke zur Gesamtkultur zu schlagen". In Schluchters Perspektive besaßen Eliten also die ausdrückliche „Aufgabe" der Integration der verschiedenen „Subkulturen". Die Denkfigur der Aufgabe, die den Eliten gestellt sei, stellte damit nicht weniger als eine normative Aufladung des Funktions-Begriffs dar. Vielleicht noch deutlicher wird dieser Befund in einer anderen Formulierung Schluchters, wonach Eliten „die Aufgabe (haben), nach innen zu führen und nach außen Gruppennormen und Gruppenziele zu repräsentierten sowie die Koordination mit den gesamtgesellschaftlichen Normen und Zielen anzustreben". 477 ) Eine solche normative Aufladung der von den Elite-Mitgliedern zu erbringenden Führungsleistungen (ihrer Organisations- und Allokationsentscheidungen, und das heißt: der Macht, diese Entscheidungen durchzusetzen) mag angesichts der funktionalistischen Perspektive Schluchters - aber auch Dreitzels und Stammers - auf den ersten Blick überraschen. Sie lag jedoch vollauf in der Konsequenz ihrer wissenschaftlichen und intellektuellen Anliegen, den Elite-Begriff als sinnvollen und notwendigen Faktor für das Funktionieren industriell entwickelter und demokratisch verfasster Gesellschaften zu konzipieren. Die modelltheoretisch immanent angelegte Verbindung der Integrationsperspektive mit dem normativ aufgeladenen Terminus der „Aufgabe" gab somit die ideengeschichtliche Entwicklungsrichtung vor, in der selbst einstmals kritische, weil dezidiert auf die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft hin angelegte Konzepte - und erst recht alle folgenden - in legitimatorisch wirkende Doxa transformiert wurden, in denen der Elite-Begriff keine andere denkbare Rolle als diejenige der „Stabilisierungsfaktoren des Bestehenden" zu spielen vermochte. Schluchters methodische Kritik an Dreitzel, aus der heraus er seine eigenen Überlegungen entwickelte, konzentrierte sich auf zwei Punkte: Zum einen auf den falschen Gebrauch der Weber'schen Kategorie des Idealtypus, was zu einer modelltheoretisch angelegten Teleologie führe, und zwar mit der „elitären Sozialstruktur" als Ziel der Geschichte; zum anderen und daraus folgend sei der Elite-Begriff bei Dreitzel in Wahrheit kein heuristisches Instrument zur Analyse moderner Gesellschaften, sondern bloße Benennung dessen, was schon bekannt sei (nämlich der „Leistungsqualifikation"). 478 ) Anstatt den Elite-Begriff einzusetzen, um den Zustand der „elitären Sozialstruktur" zu untersuchen beziehungsweise die These von der historischen Entwicklung hin zu dieser Gesellschaftsverfassung zu überprüfen, habe Dreitzel aus der gegenwärtigen - aber nicht früheren - Existenz der „elitären Sozialstruktur" geschlossen, dass der Elite-Begriff ein historischer Begriff sei. Doch unbeschadet dieser Kritik müsse an dem von Dreitzel „in den Mittelpunkt gestelltefn]

477

) Schluchter. Elitebegriff, S.252. ) Schluchten Elitebegriff, 242-46.

478

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

515

Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Elitebegriff" - denn darin sah Schluchter Dreitzels große Leistung - festgehalten werden. Der eigene konzeptionelle Beitrag Schluchters zur Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs blieb gegenüber seiner kritischen Lektüre der beiden Bücher vergleichsweise marginal. 479 ) Er versuchte, neben die von seinem Lehrer Otto Stammer herausgearbeiteten Typen der „Wertelite" und der „Funktionselite" einen dritten Typus zu stellen, denjenigen der „Repräsentationselite", den er als die dominierende Elite-Form in den Parteien der parlamentarischen Demokratie vorstellte. Schon aus Raumgründen musste die Konstruktion dieses Typus, den er offenbar nicht an anderer Stelle weiter entwickelte, ohne jeden empirischen Hinweis auskommen und verblieb im Modus der Behauptung. 480 ) In einer stark komprimierten und sehr schematischen Übersicht kreuzte er schließlich die drei Elite-Typen mit den Möglichkeiten der Selektionsform und des Selektionskriteriums und gewann daraus die wenig überraschende Einsicht, dass Werteliten nach traditional-wertrationalen Gesichtspunkten durch Berufung auserlesen würden, Funktionseliten nach Kriterien der Zweckrationalität durch Selbstergänzung, und Repräsentationseliten emotional-utilitaristisch in Form der Delegation. Dieses einfache Schema war allerdings durchaus geeignet, kommenden Generationen empirisch arbeitender und an Methodenfragen wenig orientierter Sozialforscher als Hilfsmittel der elitetheoretischen Zuordnung ihres jeweiligen Gegenstandes zu dienen. Von diesem methodologischen Höhepunkt der sozialwissenschaftlichen Elite-Diskussion aus fiel der Abstieg offensichtlich leichter als der Aufstieg. Tatsächlich war die große Zeit der methodologischen Debatten über den Gegenstand „Elite" mit der Jaeggi-Dreitzel-Schluchter-Kontroverse vorbei. Zumindest vorübergehend war damit übrigens auch die Zeit des von den publizistischen Auseinandersetzungen weitgehend abgeschotteten rein innerwissenschaftlichen Austauschs vorbei. Das Vermächtnis dieser Kontroverse muss jedoch zumindest ambivalent ausfallen. Zweifellos wurde ihre Reflexionshöhe in der Bundesrepublik kaum je wieder erreicht. Ihre Bedeutung für die Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs ist damit gar nicht zu überschätzen. Andererseits jedoch ersetzte die Berufung auf diese schnell kanonisierten 481 ) Titel offenbar in späteren Arbeiten nicht selten die eigene Anstrengung zur methodologischen Reflexion. Für die Durchsetzung der Elite-Doxa hatte diese Entwicklung vielschichtige und komplexe Auswirkungen. Zu bedenken ist nämlich einerseits, dass der Streit über die unterschiedlichen Elite-Konzepte und die damit verbundenen Gesellschaftsvorstellungen weder unent479

) Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Schluchter im Wesentlichen ja eine ausführliche Sammelbesprechung verfasst hatte und darin keinen umfassenden Neuentwurf präsentieren konnte. 48 °) Dies war übrigens ein Vorwurf, den er selbst gegenüber Dreitzel erhoben hatte. Schluchter: Elitebegriff, S.244. 4S1 ) Diese Kanonisierung erfolgte bereits mit den allerersten empirischen Elite-Studien, wie wir unten sehen werden.

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5. Die neue symbolische Ordnung

schieden noch mit dem „vollständigen Sieg" eines der Kontrahenten endete, sondern dass Modellen der Funktions- und Leistungs-Elite zwar der Vorzug gegeben wurde, doch ohne dass Macht-Elite gänzlich der sozialwissenschaftlichen Diskussion verwiesen worden wäre (wie beispielsweise die Wert- und Charakter-Konzepte). Dadurch (und durch das Ausbleiben einer weitergeführten Methodendebatte) blieb es möglich, sich unterschiedlicher Elemente, die einander widersprechenden Modellen entstammten, gleichzeitig zu bedienen, ohne negativ sanktioniert zu werden. Andererseits war der Elite-Begriff nun endgültig in den Status eines wissenschaftlichen Begriffs samt zugehöriger weiterer Gesellschaftstheorien erhoben - Theorien, denen man nun nicht mehr vorwerfen konnte, durch und durch antidemokratisches Gedankengut zu transportieren -, so dass die politisch-publizistische Verwendung dem Rechtfertigungszwang enthoben war und zu Recht darauf verweisen konnte, auf der Höhe der humanwissenschaftlichen Diskussion zu argumentieren. Auf wissenschaftlicher wie auf intellektueller Ebene markiert die Jaeggi-Dreitzel-Schluchter-Kontroverse deshalb einen wirklichen Meilenstein. Allerdings müssen wir unsere Darstellung dieser Kontroverse noch mit einer kleinen Coda versehen. Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Dissertation nahm Jaeggi 1967 Stellung zu der Kritik Dreitzels und Schluchters an seinem Konzept der machtgestützten Elite und ging kurz auf die mittlerweile erschienene neuere Literatur zum Thema ein.482) Dabei übernahm er Schluchters Unterscheidung zwischen Konflikt- und Integrationsansätzen und radikalisierte beziehungsweise politisierte dessen Kritik an Dreitzel, dass die Vorstellung, die Leistungsgesellschaft als Elitegesellschaft existiere bereits, die Gefahr konservativer Ideologiebildung heraufbeschwöre. Auch dem umfassenden Einsatz des Elite-Begriffs durch Ralf Dahrendorf in dessen mittlerweile erschienenem, unten ausführlich zu würdigenden Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" warf er vor, wissenschaftliches und politisches Engagement durcheinander zu bringen (ein Vorwurf, der bald auf seinen Urheber zurückfallen musste).483) Bemerkenswert ist jedoch vor allem Jaeggis Hinweis auf das Buch von Thomas B. Bottomore. 484 ) Bottomore - auch seine Arbeit über „Elite und Gesellschaft" wird längst als klassischer Beitrag der

482

) Jaeggi: Elite 2 , S.XI-XXIII („Eliten und Demokratie: eine neue Einleitung"). 483) v g l di e spätere Arbeit von Jaeggi: Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik (1969, S. 19-25), in der er nicht nur seine Kritik an Dahrendorf weiterführte, sondern vor allem, mittlerweile aus marxistischer Perspektive argumentierend, ausdrücklich den Elitezu Gunsten eines Klassen-Ansatzes verwarf - was die Redakteure von „Meyers Enzyklopädischem Lexikon" nicht daran hinderte, in dem entsprechenden Eintrag gerade dieses Buch als wichtigsten Literaturverweis zum Thema „Elite" anzuführen (!); ein sprechendes Beispiel für die missverständliche Rezeption wissenschaftlichen Wissens bei dessen Import in Felder einer weiteren Öffentlichkeit. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl. Mannheim 1973, Bd. 7 S. 409. 484 ) Bottomore·. Elite (1966).

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

517

sozialwissenschaftlichen Diskussion zur Schärfung des Elite-Begriffs zitiert hatte nämlich in seiner Schrift, die vom Umfang her denjenigen von Jaeggi und Dreitzel entsprach, nach einem konzisen Durchgang durch die neueren, vor allem englischsprachigen Texte zum Thema den „Elitetheoretikern" vorgeworfen, „das Erbe der inegalitären Gesellschaften der Vergangenheit" gerade durch Zugeständnisse an den „Geist der Gleichheit" zu verteidigen. Nicht ganz unzutreffend kam er zu dem Befund, dass diese Advokaten der Ungleichheit „die Spaltung der Gesellschaft in Klassen ... bejahen und rechtfertigen", wobei sie aber versuchten, sie „schmackhafter zu machen, indem sie die Oberklassen als Eliten beschreiben und zu verstehen geben, dass sich die Eliten aus den fähigsten Individuen zusammensetzen ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft". 4 8 5 ) Bottomore formulierte damit eine Absage an jede Elite-Theorie; übrigens favorisierte er selbst gemäßigt undogmatische Klassen-Konzepte. 486 ) Diesen Schritt mochte Jaeggi in der zweiten Auflage seiner „Gesellschaftlichen Elite" noch nicht gehen, wie die zustimmenden, aber vor der letzten Konsequenz zurückschreckenden Schlusssätze des neuen Vorworts zeigen. 487 ) Doch schon zwei Jahre später, in „Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik", wagte er energisch diesen Schritt und beschrieb die Bundesrepublik als Klassengesellschaft, wobei er den gängigen Elite-Theorien eine größere Erklärungskraft ausdrücklich absprach. Damit hatte sich Jaeggi schließlich aus den Horizont der Elite-Doxa herausbewegt mit der Folge, dass seine Schriften (einschließlich seiner noch ganz anders ausgerichteten Dissertation) von der Elite-Forschung der 1990er Jahre und danach kaum noch zur Kenntnis genommen wurden. 5.3.2 Macht und Herrschaft: importierte

Kategorien

I. Wir haben oben gesehen, dass die für die Durchsetzung der Elite-Doxa wesentlichen Theorie-Importe, nämlich die Übersetzung der Arbeiten von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto, verhältnismäßig spät erfolgten, weil ihr starke ideengeschichtliche Traditionen - das unbedingte Festhalten an wertgebundenen Ordnungsentwürfen in der konkreten Gestalt der Wert- und Charakter-Modelle - entgegen standen. Diese Resistenz, die sich auch am geringen Interesse für die immerhin deutschsprachige Elite-Diskussion in der Schweiz beobachten ließ, schwächte sich erst um 1960 ab. Die Werke und Autoren, deren Ideen nun in die westdeutschen Debatten einzusickern begannen, stellten jedoch alles andere als einen kohärenten Text-Korpus oder gar ein stabiles Denkkollektiv dar. Vielmehr lassen sich zwei Zugänge zu den Feldern der deutschen Diskussion unterscheiden, die drei verschiedene Rezeptionswei-

485

) Bottomore: Elite, S. 152/53. ) Bottomore: Elite, S. 23-32. 487 ) Alles andere hätte freilich auch bedeutet, in der zweiten Auflage eines Buches, in welchem der Autor sich bemüht, eine Neudefinition oder Präzisierung des Elite-Begriffs vorzunehmen, einleitend das Scheitern bzw. die Sinnlosigkeit dieses Bemühens einzugestehen. m

518

5. Die neue symbolische Ordnung

sen und ideengeschichtliche Auswirkungen hervorbrachten. Erstens erschien zwischen 1957 und 1961 eine Reihe von US-amerikanischen sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die sich für aktuelle und zukünftige Trends der jungen westdeutschen Demokratie interessierten und die in diesem Zuge diejenigen Kräfte, die diese Trends bestimmten - die „decision makers" - in den Blick nahmen. Obwohl sich diese Texte ausdrücklich mit der westdeutschen „Elite" beschäftigten und deshalb auf ein breites Interesse beim bundesdeutschen Publikum hätten treffen können, fanden sie Eingang nur in die sozialwissenschaftliche Fachdiskussion. Und zweitens erschienen seit 1960 an unterschiedlichen Orten der westdeutschen Publizistik einige Aufsätze und Bücher verschiedener aüsländischer Autoren über die „Eliten" ihrer Heimatländer, die bemerkenswerterweise einen teilweise sehr großen Einfluss auf die deutsche Diskussion erlangten. In diesem Zusammenhang wird besonders auf die Schrift „Die amerikanische Elite" von C. Wright Mills einzugehen sein. Wenden wir uns zunächst den englischsprachigen Studien über die bundesdeutsche „Elite" zu. Schon die Titel der Bücher zeigten die Interessenrichtung der Autoren: „West German Leadership and Foreign Policy" beziehungsweise ganz bündig „Germany Rejoins the Powers". 488 ) Außerdem publizierte Lewis Edinger in den folgenden Jahren zwei weitere Aufsätze aus dem Umfeld dieser Untersuchungen. 4 8 9 ) Und ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der beiden Bücher lässt deutlich werden, dass sie in Anlage und Fragestellung ganz der amerikanischen Ausprägung der Elite-Doxa verhaftet waren, 4 9 0 ) denn die traditionell in den deutschen Intellektuellen und (Geschichts-)Wissenschaftlichen Feldern dominierenden Vorstellungen von bestimmenden Faktoren der Außenpolitik, wie die Wirkungskraft der Geistesgeschichte, die Bedeutung großer Staatsmänner (das heißt: dier Führer-Doxa) oder die geographische Mittellage, welche die deutsche Außen- (und Innen-)Politik determiniere, kamen hier gar nicht beziehungsweise nur als zu überwindende „Ideologie" (!) zur Sprache. Stattdessen schlugen Karl Deutsch und Lews Edinger sehr schnell die Brücke von den Institutionen zu den Eliten 4 9 1 ) und gingen dabei, was das 488

) Speier und Davison (Hg.): West German Leadership (1957); Deutsch und Edinger. Germany (1959). 489 ) Edinger. Post-Totalitarian Leadership (mit dem sprechenden Untertitel „Elites in the German Federal Republic") sowie ders.: Continuity and Change in the Background of German Decision-Makers. 49 °) Der doxische Charakter der Anlage des Buches (also all das, was nicht mehr hinterfragt wird) erweist sich auch darin, dass Deutsch und Edinger den von ihnen verwendeten Elite-Begriff in keiner Weise problematisierten und darüber hinaus im Literaturverzeichnis auf die Anführung konzeptioneller Literatur - etwa der klassischen Schriften von Mosca und Pareto oder der US-amerikanischen Diskussion - vollständig verzichtet wurde. 491 ) Teil 2 ihres Buches war überschrieben: „Institutions and Elites" und untersuchte „legislative" und „exekutive Eliten", die Funktionäre der großen Interessenverbände sowie die „Torhüter der öffentlichen Meinung", das heißt die „Medien-Eliten". Einschließlich der Kirchen und des Militärs waren damit alle wichtigen Einflussgruppen im Sample von Deutsch und Edinger vertreten. Deutsch und Edinger: Germany, S. 51-141.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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empirische Wissen der Sozialwissenschaften über westdeutsche Funktionsund Herrschaftsträger anbetrifft, in eine wegweisende Richtung. Die beiden Autoren waren nämlich die ersten, die mit den quantifizierenden Methoden der empirischen Sozialforschung die „außenpolitischen Eliten" untersuchten, indem sie prosopographische Daten über die Inhaber von 250 beziehungsweise 529 hierfür (so die Annahme) ausschlaggebenden Positionen zusammentrugen. Zu diesem Zweck unterteilten sie ihr Sample in eine A- und eine B-Elite absteigender Relevanz für die Außenpolitik - ein interessantes Verfahren zu Unterscheidung abgestuft einflussreicher Herrschaftsgruppen, das sich jedoch in der empirischen „Elitenforschung" nicht durchsetzte. Auch wenn die Kategorien im quantifizierenden Teil der Untersuchung noch verhältnismäßig grob waren, entstand damit erstmalig der Umriss eines Sozialprofils der westdeutschen Funktions- und Herrschaftsträger. Insgesamt werteten Deutsch und Edinger ihr Material in sieben Richtungen aus: 492 ) Sie gruppierten die Angehörigen des Samples in Alterskohorten, gingen ihrer geographischen Herkunft nach, ordneten sie nach der religiösen Zugehörigkeit (mit dem den heutigen Leser wenig überraschenden Ergebnis, dass die Katholiken nur unter den CDU-Mitgliedern der „politischen Elite" dominierten, doch war die Vorherrschaft der Protestanten schon im Stichjahr der Untersuchung, 1956, außer in der Generalität keineswegs so erdrückend, wie vielleicht erwartet), 493 ) orientierten sich über den Militärdienst in den beiden Weltkriegen, erfragten ihr Bildungskapital, versuchten eine Einschätzung ihrer früheren politischen Betätigung während des Nationalsozialismus (ein Fragekomplex, der bis zum biologischen Ausscheiden der vor 1945 beruflich aktiven Generationen - also etwa bis 1980 - von großer politisch-moralischer Relevanz sein musste und für den sich wenig später auch Wolfgang Zapf interessierte, der jedoch bezeichnenderweise von den „Elitestudien" seit den frühen 1970er Jahren fallen gelassen wurde) 494 ) und untersuchten schließlich die soziale Herkunft. Gerade hier waren die Kategorien besonders grob, denn Deutsch und Edinger differenzierten nur nach den Ordnungsklassen Aristokratie, Mittelklassen und Arbeiterschaft. Die Ausstrahlungskraft der Studie von Deutsch und Edinger beschränkte sich jedoch keineswegs auf ihre Vorbildlichkeit als - auch - empirisch-quantifizierend verfahrende Untersuchung, sondern sie beeinflusste die nachfolgenden deutschen Arbeiten, namentlich diejenigen von Ralf Dahrendorf und Wolfgang Zapf, auch durch eine Reihe von grundsätzlichen Vorannahmen. 492

) Deutsch und Edinger: Germany, S. 133-41, Tab. 9.1 bis 9.8. ) Deutsch und Edinger: Germany, S.135 Tab. 9.3. Allerdings lagen ausgerechnet über die „economic interest group elite", zu denen die Autoren auch eine Reihe von Gewerkschaftsführern rechneten, nur sehr wenige Daten zur konfessionellen Zugehörigkeit vor. 494 ) Angesichts der äußerst schmalen Datenbasis in diesem Bereich - der Anteil derjenigen, über die keine Information vorlagen, lag bei Elite-Gruppe Α um 77% und bei Gruppe Β um 85 % - ist die Reichweite der hier getroffenen Aussagen allerdings eher gering einzuschätzen. Deutsch und Edinger: Germany, S. 139, Tab. 9.6. 493

520

5. Die neue symbolische Ordnung

Beispielsweise sahen die beiden amerikanischen Autoren die ihrer Meinung nach recht geringe Konkurrenz auf dem „Meinungsmarkt", das heißt den relativ geringen Austausch von Ideen über Milieugrenzen hinweg in der Stellung der „außenpolitischen Eliten" zueinander und weiter in der „rigide stratifizierten und wenig pluralistischen deutschen Gesellschaft" insgesamt begründet. 495 ) Diesen Gedanken, dass die politische Konkurrenz der einzelnen Eliten-Gruppen untereinander von Vorteil für die politische Willensbildung in der (liberalen) Demokratie sei, dass mithin die Morphologie der Elite dem aufmerksamen Beobachter Aufschluss geben könne über die Liberalisierungspotenziale einer Gesellschaft, stellte Dahrendorf wenige Jahre später in den Mittelpunkt seiner großen Darstellung von „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland". Doch vor allem führte er die Studie von Deutsch und Edinger als empirisch-quantifizierend verfahrende Untersuchung an. Und damit ist bereits die Grenze der Rezeption der US-amerikanischen Arbeiten über die westdeutschen „Eliten" bezeichnet. Dahrendorf war seit seinen Aufenthalten in Großbritannien und den USA mit der englischsprachigen Literatur zum Elite-Thema bestens vertraut, und bereits in seiner ersten bedeutenderen Beschäftigung damit griff er diese Schriften auf.496) In „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" zitierte er Deutsch und Edinger sehr häufig, kaum jedoch die eher konventionell angelegten Beiträge über das politische Handeln von Unternehmern, Spitzenpolitikern, hohen Beamten, Gewerkschaftsführern und den Massenmedien in dem kurz zuvor erschienenen Sammelband von Hans Speier und Phillips Davison, der sich ebenfalls mit den bestimmenden sozialen Kräften hinter der bundesdeutschen Außenpolitik beschäftigte.497) Und damit stand Dahrendorf keineswegs allein. Sein Schüler Wolfgang Zapf, auf dessen Arbeiten, wie auf diejenigen Dahrendorfs, im nachfolgenden Abschnitt ausführlich einzugehen sein wird, zitierte ebenso wie die maßgeblichen empirischen Studien von Klaus von Beyme und Helge Pross lediglich Deutsch und Edinger, nicht aber Speier und Davison.498) Die oben diskutierten Untersuchungen von Urs Jaeggi, von Hans Peter Dreitzel und von Wolfgang Schluchter, die sich in erster Linie um eine konzeptionelle Klärung des Elite-Begriffs bemühten, ignorierten die empirischen Analysen aus den USA vollkommen. Letztere erreichten also nur einen gewissen Teil der sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion, und zwar denjenigen der empirisch verfahrenden, nicht den der konzeptionell interessierten. Das lag nicht zuletzt in dem insgesamt recht geringen Ertrag gerade der Quan-

495

) Deutsch und Edinger. Germany, S. 124. ) Schon in seinem Aufsatz von 1962 zitierte er sowohl die Arbeiten von Deutsch und Edinger, als auch den Beitrag von Gabriel Almond zum Sammelband von Speier und Davison. Ralf Dahrendorf. Eine neue deutsche Oberschicht? Notizen über die Eliten der Bundesrepublik, in: Die Neue Gesellschaft 9.1962 Η. 1 S. 18-30. 497 ) Speier und Davison (Hg.): West German Leadership. 498 ) Zapf. Wandlungen; von Beyme: Politische Elite; Pross und Boetticher: Manager.

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5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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tifizierung durch Deutsch und Edinger begründet, denn für die Feststellung, dass die „Außenpolitischen Eliten" Westdeutschlands - mit Ausnahme der SPD und der Gewerkschaften - überwiegend Adenauers Politik der Westbindung unterstützten, war die Rekonstruktion ihres Sozialprofils von eher zu vernachlässigender Erklärungskraft, und auch der mögliche Punkt, an dem diese Unterstützung nachlassen könnte, war auf diesem Wege nicht zu bestimmen. 499 ) Immerhin zeigten sowohl Deutsch und Edinger als auch Speier und Davison die Möglichkeit, die tatsächliche Existenz der Elite in der sozialen Welt nachzuweisen, indem sie den Elite-Begriff an politische Machtchancen banden - was vice versa ihre Rezeption in der westdeutschen Publizistik vor 1960 angesichts der hier vorherrschenden Klage über das Fehlen einer Elite blockierte. II. Nächst der überfälligen Übertragung der grundlegenden Werke von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto ins Deutsche stellte die Übersetzung des 1956 im amerikanischen Original erschienenen Buches von C. Wright Mills „The Power Elite" den wichtigsten ausländischen Import für die Elite-Diskussion in der Bundesrepublik dar. Erst die Rezeption der Schriften Pierre Bourdieus seit den 1980er Jahren befruchtete die sozialwissenschaftliche und publizistische Debatte über die „Eliten" der Bundesrepublik in ähnlicher Weise. 500 ) Gleichzeitig markiert das Werk von Mills ideengeschichtlich den äußersten Punkt, von dem aus der Elite-Begriff in den Beiträgen undogmatisch-marxistischer linker Intellektueller in gesellschaftskritischer Absicht verwendet worden ist und wohl auch nur werden kann und konnte - jenseits dieses Punktes muss Gesellschaftskritik vermutlich bereits in Klassen-Kategorien gedacht und artikuliert werden. 501 ) Um diesen epistemologischen wie politisch-intellektuellen Punkt zu bestimmen, ist es lediglich notwendig, den logischen Zusammenhang zwischen den Institutionen zur Rekrutierung der Elite-Mitglieder und den Versuchen der „Elite" (oder der „herrschenden Klasse"), diese Institutionen zu bewahren oder zu verändern, zu problematisieren. 502 )

4

") Deutsch und Edinger. Germany, S. 132. 500) vgl. etwa Michael Hartmanns Überblick „Elitesoziologie", der in seiner rund hundertseitigen Diskussion der Literatur zum Thema den „etablierten Klassikern" Mosca, Michels und Pareto sowie den „neuen Klassikern" Mills und Bourdieu nicht weniger als zwei Drittel des Textes einräumt. Hartmann: Elitesoziologie, S. 13-108. Der Einfluss Bourdieus findet sich prägnant auch bei Rebenstorf. Politische Klasse. 501 ) Bezeichnenderweise verschwimmen bei Michael Hartmann und Beate Krais, die in vielerlei Hinsicht Mills verpflichtet sind, Klassen- und Elite-Kategorien miteinander. Vgl. Hartmann: Klassenspezifischer Habitus; ders.: Mythos; ders.: Elitesoziologie, bes. S. 76-84; Krais: Spitzen. 502 ) Im Horizont der Klassen-Doxa handelt es sich dabei um kalkulierte Interventionen, die im Klasseninteresse der Herrschenden Klasse liegen und die Formen des KlassenKampfes annehmen; die Elite-Doxa fokussiert dagegen auf die Gewährleistung der individuellen Leistungsauslese in diesen Institutionen und auf den zumindest theoretisch sozial offenen Zugang zu ihnen.

522

5. D i e neue symbolische Ordnung

Mills' „Power Elite" bildete den Abschluss einer großen Trilogie über die soziale und politische Machtverteilung in den Vereinigten Staaten (der Band über die Gewerkschaftsbewegung wurde allerdings nicht ins Deutsche übersetzt, derjenige über die gehaltsabhängigen Mittelschichten erschien 1955 unter dem Titel „Menschen im Büro"). 503 ) Der Autor, selbst einer der ersten Vordenker der „Neuen Linken", bemühte sich darin um den Nachweis, dass die Politik der Vereinigten Staaten von einer kleinen, hochkonzentrierten Gruppe aus Konzernlenkern, hohen Militärs und Spitzenpolitikern bestimmt werde. Die Monopolisierung der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Machtmittel durch diese „Power Elite" stellte für Mills jedoch bemerkenswerterweise keineswegs die hinreichende Voraussetzung ihrer Machtstellung dar. Vielmehr sah er im Verfall der politischen Öffentlichkeit, in der politischen Apathie der „Massengesellschaft" sowie - und das war wirklich ein bemerkenswertes Argument eines politisch linken amerikanischen Intellektuellen - im Fehlen eines Berufsbeamtentums spiegelbildlich deren Grundlage. Damit transzendierte er bei weitem die bloße Ideographie der Elite, auf die sich die Mehrzahl der Elite-Studien beschränkt, indem er die Bedingungen ihrer Existenz rekonstruierte. In seinem Buch formulierte Mills eine ganze Reihe von Denkfiguren und Grundannahmen der Elite-Soziologie, die die westdeutsche Diskussion nachdrücklich beeinflussten. Zuallererst ist hier die von ihm verwendete Definition des Elite-Begriffs selbst zu nennen. Die Macht-Elite, so Mills, bestehe „aus Männern", denen ihre Positionen „die Möglichkeit (gäben), Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen". 504 ) Diese noch eher metaphorische (ja, geradezu tautologische) Begriffsbestimmung präzisierte Mills jedoch sofort, indem er sie positional füllte. Als diejenigen mit der Macht über Entscheidungen von größter Tragweite 505 ) sah er die Inhaber der Schlüsselpositionen der „großen institutionellen Hierarchien" - Politik, Wirtschaft und Militär: 506 ) Sie „beherrschen ... die mächtigsten Hierarchien und Organisationen der modernen Gesellschaft. Sie leiten die großen Wirtschaftsunternehmen. Sie sitzen an den Schalthebeln des Staatsapparates und beanspruchen für sich alle Vorrechte, die sich daraus ergeben. Sie befehligen die Streitkräfte. Sie nehmen in unserer Gesellschaftsstruktur die strategisch wichtigen Kommandostellen ein und verfügen damit auch über alle Mittel, von der Macht, dem Reichtum und der Berühmtheit, deren sie sich erfreuen, wirksam Gebrauch zu machen." 5 0 7 )

Die Betonung der Kategorie der Macht als Konstituens des Elite-Status, die dem Buch auch seinen Titel verlieh, und die relative Vernachlässigung des

503

) Vgl. das Portrait Mills' von Hess: C. Wright Mills. ) Mills: Amerikanische Elite, S. 16. 505 ) „They are in positions to make decisions having major consequences", hieß es nüchtern im Original. Mills: Power Elite, S.4. 506) Mills: Amerikanische Elite, S. 17. 507 ) Mills: Amerikanische Elite, S. 16. 504

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Moments der Auslese ist bis heute typisch für die anglo-amerikanische Ausprägung der Elite-Doxa. 508 ) Mills durchzog das gesamte Buch mit diesem cantus firmus, dass der ausschlaggebende Faktor der amerikanischen Politik im „Machtdreieck" der Spitzen der großen Institutionen von Großunternehmen, Militär und Politik zu finden sei. Diese Feststellung wollte Mills jedoch keinesfalls als eine Art überhistorisches beziehungsweise geschichtsphilosophisches Axiom verstanden wissen. Ausdrücklich wandte er sich gegen Grundannahmen wie diejenigen Moscas und Paretos, wonach „in allen Epochen der menschlichen Geschichte und in allen Ländern eine schöpferische Minderheit, eine herrschende Klasse, eine allmächtige Elite die historischen Ereignisse nach ihrem Willen gelenkt hätte. Solche Behauptungen erweisen sich bei sorgfältiger Prüfung gewöhnlich als bloßes Spiel mit Worten, und selbst wenn mehr dahinter steckt, sind sie so vage und allgemein, dass für eine Deutung der zeitgeschichtlichen Verhältnisse nichts damit anzufangen ist. (...) Wir dürfen die Konzeption der Elite, die wir so definieren wollen, nicht mit einer der vielen Theorien über ihre Rolle verwechseln, nach der die Angehörigen der Elite diejenigen sind, die in unserer Zeit Geschichte machen." 509 )

Und in der Tat zog Mills auch die modelltheoretische Konsequenz aus dieser Ablehnung und beschrieb ausführlich in einem Fünf-Phasen-Modell die historische Genese der Macht-Elite in den USA. 510 ) Während der Revolutionszeit hatten „die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Institutionen praktisch eine Einheit" gebildet, die sich in der zweiten Phase, im frühen 19. Jahrhundert, zu Gunsten einer Hegemonie des Ökonomischen in eine „Vielzahl von kleinen Führungsgruppen" aufgelöst habe. Die dritte Phase begann demnach am Ende des Bürgerkrieges und war gekennzeichnet mit der „Vorherrschaft der Großindustrie", die Politiker und Richter nach Belieben kaufte, so dass Politik und Militär deutlich untergeordnet blieben. In der Ära des New Deal, der vierten Phase, veränderte sich die Figuration der politischsozialen Kräfte erneut. Neben die Großindustrie traten die Gewerkschaften, innerhalb der ökonomischen Interessengruppen kam es zu ernsten Auseinandersetzungen, die Parteipolitik erstarkte. In diesem relativen Gleichgewicht gelang es der New-Deal-Administration, das Schwergewicht auf ihre Seite zu ziehen. In der späten Regierungszeit Roosevelts und vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg verschmolzen die Spitzen dieser Gruppen dann zur gegenwärtigen „Macht-Elite" - und erst seit diesen Jahren sollte man, so Mills, den Terminus verwenden - , während gleichzeitig eine erneute Kräfteverschiebung zwischen ihnen erfolgte. Der Niedergang der politischen Öffentlichkeit schwächte die Berufspolitiker, während zugleich mehr und mehr Grußunter-

508 ) Z.B. Keller. Elites; dies:. Beyond the Ruling Class; Guttsman: Politische Elite; Rubinstein: Elites and the Wealthy; Field und Higley: Eliten. 509 ) Mills: Amerikanische Elite, S. 34/35. Eine Fußnote in der Originalausgabe macht deutlich, dass Mills sich hier vor allem auf Gaetano Mosca bezog. Mills: Power-Elite, S.367. 510 ) Mills: Amerikanische Elite, S. 299-310, auch für das Folgende.

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nehmer politische Ämter übernahmen. Durch den Zweiten Weltkrieg und den nachfolgenden Kalten Krieg etablierte sich, was Mills die „permanente Kriegswirtschaft" nannte, wodurch sich politische, wirtschaftliche und militärische Interessen immer stärker miteinander verbanden, die Spitzenpositionen in den Institutionen der Macht immer austauschbarer wurden und Positionswechsel tatsächlich mehr und mehr zunahmen. Der „innere Kern" der amerikanischen „Macht-Elite" bestand demnach erstens „aus den Männern, die die Führungsrollen in den drei Institutionen untereinander austauschen: dem Admiral, der gleichzeitig Bankier und Anwalt ist und jetzt einer wichtigen Bundesbehörde vorsteht; dem Generaldirektor, dessen Gesellschaft zu den drei größten Kriegsmaterial-Produzenten gehörte und der jetzt Verteidigungsminister ist".

Zweitens rechnete Mills zu diesem „inneren Kern" die Leiter einiger großer Anwaltsfirmen sowie eine Reihe von Bankiers, die die Rolle eines „professionellen Mittelsmann(es) zwischen Wirtschaft, Politik und Militär" spielten. 511 ) Diese Personen standen in einem ständigen beruflichen wie privaten Austausch miteinander und prägten so eine gemeinsame Wert- und Wahrnehmungsstruktur aus. Die „Männer an der Peripherie der Macht-Elite" bekleideten dagegen eine Spitzenposition in nur einem der drei Bereiche, und in ihren und „den darunter gelegenen Rängen geht die Macht-Elite allmählich in die mittleren Machtebenen über". 512 ) Mit der Beschreibung der historischen Genese der „Macht-Elite" stellte Mills nicht nur klar, dass es sich bei diesem politisch-sozialen Phänomen um eine geschichtliche und keineswegs um eine überhistorische Erscheinung handelte; er demonstrierte auch, dass die „Macht-Elite" ihre Stellung nicht einer Verschwörung oder unfähigen Politikern verdankte, sondern strukturellen Entwicklungen. 513 ) Diese Ablehnung der These einer überhistorischen und ubiquitären Eliten-Herrschaft drückt zweifellos eine Distanz Mills' gegenüber jener bei vielen Eliten-Theoretikern verbreiteten Überzeugung aus und fügte sich nicht in die Doxa, die sich im Intellektuellen Feld der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zu etablieren begann. Sowohl die Betonung der Macht-Kategorie als auch die Historisierung des Begriffs der Macht-Elite mussten in Deutschland, wo sich Intellektuelle und Sozialwissenschaftler zu dieser Zeit bemühten, neue Ordnungsentwürfe mit überhistorischem Geltungsanspruch und in Gestalt von Wert- und Charakter-Modellen unter Verleugnung der Kategorie sozialer Macht durchzusetzen, auf wenig Resonanz stoßen. Tatsächlich war die Präsenz der Arbeiten von Mills in den westdeutschen Diskussionen bis zum Erscheinen der deutschen Ausgabe von „The Power Elite" 1962 äußerst schwach. Ein Vortrag, den er 1957 in Frankfurt hielt und in dem er die Ergebnisse dieses Buches komprimiert präsentierte, wurde nicht übersetzt und erschien auch in keiner wissenschaftlichen oder allgemeinen deutschen Zeit-

511

) ) 513 ) 512

Mills·. Amerikanische Elite, S. 320-27, Zitat S.323. Mills: Amerikanische Elite, S.325. Mills: Amerikanische Elite, S. 327-33.

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schrift. 514 ) In den wichtigsten Kulturzeitschriften erschienen keine Rezensionen, weder der amerikanischen noch der deutschen Ausgabe, was sich im Falle des Monats auch durch Mills' seit 1960 vorgetragene Angriffe auf den CCF und dessen „offizielle Ideologie" des „Endes der Ideologien" erklärt. 515 ) Die ganze Schwierigkeit deutscher Leser mit dem Werk von Mills zeigt sich in einem Artikel, den Herbert von Borch 1959 im Merkur veröffentlichte. 516 ) Schon seine im Untertitel konturierte Fragestellung verriet jene demokratieskeptische Einstellung, die wenige Jahre zuvor Winfried Martini artikuliert hatte, der - wie im zweiten Kapitel dargelegt - grundsätzlich bezweifelte, dass Demokratien in der Lage seien, im Systemkonflikt mit dem Kommunismus die notwendigen sicherheitspolitischen Anstrengungen zu erbringen. Borch setzte sich auf mehreren Seiten mit Mills „Power-Elite" auseinander. In seiner von einem traditionellen deutschen Konservatismus geprägten Perspektive stellte sich die Macht-Elite als „das Rückgrat der Macht" dar, „das Amerika heute handlungsfähig macht". 517 ) Die Vorstellung, „dass außenpolitische Handlungsfähigkeit durch eine ,Machtelite' oberhalb des demokratischen Prozesses gesichert wird", stand nun aber sicher diametral dem politisch-intellektuellen Impuls, der Mills bei seiner Untersuchung angetrieben hatte, entgegen. Denn für Mills bedrohte die Existenz einer unkontrollierten Macht-Elite die partizipative Demokratie, während westdeutsche Intellektuelle in den ideengeschichtlich konservativ dominierten 1950er Jahren die Bedrohungen für das politische System, die von der Massengesellschaft ausgingen, durch eine demokratisch nicht kontrollierte Wert- und Charakter-Elite zu bannen hofften. Diese Konstellation mit ihren ganz unterschiedlichen politisch-ideellen Interessenschwerpunkten erschwerte gewiss die Aufnahme von Mills' Ideen bis zum Beginn der ideengeschichtlichen Trendwende um 1960. Kehren wir zu Mills' Konzeption der Macht-Elite zurück, so stellen wir fest, dass dieser über die institutionell-positionale Auffüllung des Begriffs und über die Ablehnung geschichtsphilosophischer Verallgemeinerungen hinaus noch eine weitere modelltheoretische Präzisierung vornahm: Obwohl er zur Beschreibung der „Macht-Elite" gelegentlich auf Elemente der marxistischen Klassen-Theorie zurückgriff (etwa auf den Terminus des „Klassenbewusstseins", das er unter den verschiedenen sozialen Großgruppen in den Vereinigten Staaten eigentlich nur in dieser „Macht-Elite" ausgeprägt sah, und überhaupt durch die gelegentliche Bezeichnung der „Macht-Elite" als „soziale Klasse"), 518 ) verwahrte er sich gegen den Terminus der „Herrschenden Klasse"

514

) Mills: Machtstruktur. ) Vgl. Hochgeschwender: Freiheit, S. 535-37. 516 ) Herbert von Borch: Der durchlässige Staat. Zum Problem außenpolitischer Handlungsfähigkeit der Demokratie, in: Merkur 13.1959, S. 1065-79. 517 ) Borch: Der durchlässige Staat, S. 1077, S. 1079, auch für das Folgende. 518 ) Mills: Amerikanische Elite, S. 316; ders.: Power-Elite, S. 11, S. 15; in einigen dieser Fälle wurde in der deutschen Ausgabe „class" mit „Schicht" übersetzt. 515

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als Bezeichnung für die von ihm untersuchte und als „Macht-Elite" benannte Gruppe, weil damit eine Suprematie der Großunternehmer über ihre anderen Teile suggeriert werde, denn konstitutiv für die Klassen-Theorie sei ihr ökonomischer Bias, und nur ein „Vulgär-Marxist" sehe „im Monopolkapitalisten den Mann, der alle Macht besitzt". 519 ) Und in der Tat modellierte Mills seinen Elite-Begriff nicht als „Klasse", sondern definierte Elite, unter Verweis auf Überlegungen Schumpeters, als Status-Gruppe, die sich selbst als „innere(r) Kreis der oberen Gesellschaftsklasse" sehe und auch als solcher gesehen werde. 520 ) Die Vorteile dieser Annäherung an das Problem erläuterte Mills in einer langen Fußnote, die ebenfalls in der deutschen Übersetzung fehlt. In diesem Abschnitt unterschied Mills zunächst grundsätzlich vier verschiedene Möglichkeiten, den Begriff der Macht-Elite zu konzeptionieren: erstens anhand einer institutionellen Position und der Sozialstruktur dieser Institution; zweitens durch die statistische Verteilung bestimmter (Nutz-)Werte; drittens anhand der Zugehörigkeit zu bestimmten Kleingruppen (Mills sprach im Original gern von „clique"); und viertens schließlich durch bestimmte charakterlich verankerte Wertbindungen. Auch wenn sich die ersten drei dieser Zugänge in der sozialwissenschaftlichen Praxis nicht streng voneinander trennen lassen, eröffneten sie einen Raum konzeptioneller Möglichkeiten, den die spätere westdeutschen Eliten-Forschung jedoch weitgehend ignorieren sollte. Mit anderen Worten: Der Weg, die Macht-Elite „institutionell" zu definieren, stellte sich für Mills gewissermaßen als Königsweg der Forschung dar, weil die konkurrierenden Verfahren letztlich in diesen einmündeten. 521 ) Es ist bemerkenswert, dass nahezu alle diese konzeptionellen Passagen, die Mills in teilweise mehrseitigen Fußnoten ans Ende des Buches gestellt hatte, in der deutschen Ausgabe weggelassen wurden. In den Vereinigten Staaten ging der Erfolg seiner Bücher - nicht nur seiner Eliten-Studie! - weit über die fachwissenschaftlichen Debatten hinaus. 522 ) Nicht zuletzt wegen ihrer leben-

519

) Mills: Amerikanische Elite, S.309, S.30. Vice versa sei die Annahme, dass „auf jeden Fall der Politiker an der Spitze der Machtpyramide" stehe, Ausdruck eines „doktrinären Liberalismus". Ebd. In einer Fußnote, die in der deutschen Übersetzung weggelassen wurde, verteidigte er seine eigene Terminologie als die präzisere, vor allem weil der Terminus der „Herrschenden Klasse" die relative A u t o n o m i e der politischen Ordnung und ihrer Akteure ignoriere. Mills: Power-Elite, S.277. 52 °) A u c h hier ist das Original ein wenig präziser, denn „the inner circle of ,the upper social classes'" setzte die „oberen sozialen Klassen" nicht nur in Anführungszeichen und kennzeichnete sie damit als eher umgangssprachlichen denn als korrekten sozialwissenschaftlichen Begriff; das Original sprach auch von den Oberklassen im Plural und vermied auf diese Weise jede Nähe zur marxistischen Terminologie. D i e klärende Fußnote, in der er die „Power-Elite" als Statusgruppe definierte, fehlt ebenfalls in der deutschen Übersetzung. Mills: Power-Elite, S. 11, S.365/66. 521 ) Mills: Power-Elite, S. 366/67. 522 ) Von seinem Buch über die Angestellten, „White Collar", wurden in den U S A allein im Jahr des Erscheinens 35000 Exemplare verkauft; der Erfolg von „Power Elite" war noch größer. Hess: C. Wright Mills, S. 180.

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digen Sprache fanden seine Bücher großen Anklang. 523 ) Diesen Erfolg gedachte der Hamburger Holsten-Verlag offenbar im deutschen Sprachraum zu wiederholen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe versuchte der Verlag, das Buch exakt in der Mitte der Schnittfläche von sozialwissenschaftlichem und politisch-publizistischem Feld zu positionieren - genau dahin, wo der PiperVerlag wenige Jahre später Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" lancierte indem er die Seriosität des Autors und seiner Ergebnisse (etablierter Forscher, angesehene Rezensenten, Validität der Befunde, Reflexion der Untersuchungsmethoden) ebenso wie die politische und intellektuelle Relevanz und Reichweite der daraus entstandenen Deutungen hervorzuheben sich bemühte. Diese Deutungen sollten sich auf weit mehr als den engeren Gegenstand der Untersuchung, also die herrschenden Sozialgruppen der USA, erstrecken, denn Mills stoße „mit diesem Buch in das Zentrum der politisch-soziologischen Problematik [sie!] vor: Er wirft die Frage nach den Machtverhältnissen in den Vereinigten Staaten auf, und zwar als Frage nach der eigentlichen Entscheidungsgewalt. Gemeinhin wird diese Frage von den Soziologen in dieser Form selten oder nie gestellt, weil man sie für wissenschaftlich kaum beantwortbar hält." 5 2 4 )

Und tatsächlich beeinflusste Mills die deutsche Eliten-Forschung nicht mit seinen modelltheoretischen Überlegungen, sondern durch eine Reihe von Denkfiguren eher geringeren wissenschaftlichen Gehalts. Vor allem drei ein spezifisches Meinungswissen ausdrückende Annahmen sollten sich in der Bundesrepublik als enorm wirkungsmächtig erweisen, nämlich erstens Mills' Definition der Macht-Elite in ihrer kürzesten und eher präzisierungsbedürftigen Form („die Möglichkeit, Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen"), zweitens die Überlegung, dass eine hohe Binnenkohäsion einen notwendigen Bestandteil der Stabilität einer Macht-Elite darstelle, und drittens schließlich die These, dass sich diese Kohäsion nicht allein durch ähnliche soziale Merkmale (Herkunftsmuster, Schul- und Hochschulgänge, Berufslaufbahnen) herstelle, sondern dass dieser Zusammenhalt ganz wesentlich auf dem zwanglosen gesellschaftlichen Umgang miteinander und den darauf fußenden persönlichen Beziehungen beruhe. Diese Annahmen wurden zuerst von Ralf Dahrendorf in seinem äußerst einflussreichen Werk „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" aufgegriffen und markierten seitdem argumentative Positionen, die in den Auseinandersetzungen über die Gestalt der westdeutschen Elite nicht mehr zu ignorieren waren. Dahrendorf hatte sich Anfangs der 1960er Jahre intensiv mit der amerikanischen Soziologie auseinandergesetzt und damit nicht nur den Strukturfunktionalismus Talcott Parsons' in die westdeutschen Diskussionsfelder impor-

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) )

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Hess: C. Wright Mills, S.182. Mills: Amerikanische Elite, S.7.

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tiert, sondern er hatte auch die Arbeiten von Mills studiert. 525 ) Auch wenn er Mills in den zentralen Thesen eloquent widersprach - „Mills allmächtige Elite kann die Farmsubventionen nicht streichen und die Automobilindustrie nicht verstaatlichen, dem Senat seine hearings nicht verbieten und die katholische Kirche nicht zwingen, Ehescheidungen zu akzeptieren. (...) Es gibt diese Machtelite nicht, weder in der amerikanischen noch in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart" 5 2 6 ) - , so ließ er sich doch in den oben erläuterten Denkfiguren deutlich von Mills anregen. Wie noch zu zeigen sein wird, lief Mills' Grundannahme der Monopolisierung gesellschaftlicher Macht in den Händen einer soziokulturell homogenen Gruppe seinen eigenen Ansichten über das „Kartell" der Eliten, das geradezu aus einer Pattsituation stark heterogener Gruppen resultierte, diametral entgegen - wie Klaus von Beyme bereits 1971 bemerkte. 5 2 7 ) Alles in Allem war es eine ganze Reihe konstitutiver Merkmale, die Mills' Studie für eine deutsche Leserschaft interessant machte und die sie bis heute über den Durchschnitt der „Elite-Forschungen" hinaushebt. Letzteres gilt zuallererst für die Herangehensweise, mit der er seinen Untersuchungsgegenstand konstruierte. Mills verzichtete auf die „positivistische" Frage „Wer gehört dazu?" (die die deutsche Bürgertums-Forschung, auch sie eine „ElitenForschung", lange belastet hat) und stellte daher kein positional definiertes Sample zusammen, das er dann quantifizierend ausgewertet hätte. Stattdessen untersuchte er die historische und politisch-soziale Logik des Entstehens der „Macht-Elite" und des Handelns ihrer Mitglieder, wobei er zwar durchaus auf quantitative Daten (etwa über das Einkommen, die soziale Herkunft oder Bildungswege) anderer Wissenschaftler und Journalisten zurückgriff, diese jedoch zumeist illustrativ verwendete (weshalb sie zu einem beträchtlichen Teil den Kürzungen in der deutschen Übersetzung zum Opfer fielen) und in der Regel qualitativ argumentierte. Eine nichtwissenschaftliche westdeutsche Leserschaft konnte dagegen - wie oben aus der Verlagswerbung zitiert - eine der ersten Analysen der Macht-Konstellation innerhalb der Vereinigten Staaten lesen. Angesichts der politischen Verschiebungen innerhalb des Intellektuellen Feldes der Bundesrepublik stießen dabei wohl gerade Mills Warnungen vor einer Bedrohung der Demokratie im Amerika - dem demokratischen Musterland schlechthin - auf Interesse. III. Mills' Untersuchung war nicht die einzige, die den veränderten politisch-ideellen Kontext der frühen 1960er Jahre anzeigte. Nur ein Jahr nach

525

) Dahrendorf. Angewandte Aufklärung, S. 59-66, S. 186-96. ) Dahrendorf·. Gesellschaft und Demokratie, S.294. Der 1962 verstorbene Mills hätte auf die beiden ersten Argumente vermutlich entgegnet, dass dies den Interessen der „Power-Elite" direkt zuwider gelegen hätte, dass die Arbeit des Senats zumindest von Teilen der Macht-Elite selbst durchgeführt würde und dass die Frage der Ehescheidung nun wirklich nicht zu den „Entscheidungen von größter Tragweite" gehöre. 527 ) Beyme: Politische Elite, S. 198. 526

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dem Erscheinen der deutschen Ausgabe der „Power Elite" zog der Piper-Verlag nach und veröffentlichte Anthony Sampsons 1962 in Großbritannien verlegtes Buch „Wer regiert England?" mit den Untertitel „Anatomie einer Führungsschicht" (im Original prägnant „Anatomy of Britain"). Im Gegensatz zu Mills handelte sich hierbei um ein von vornherein publizistisch angelegtes Werk - Sampson war ein erfolgreicher Journalist beim Observer. Der publizistische Charakter des Buches, das in 39 Kapiteln die wichtigsten Gruppen und Institutionen der britischen „Führungsschicht" vorstellte, zeigt sich am besten im Gestus von Werk und Autor. Zum einen überwog ganz deutlich eine narrative und personalistische Darstellungsweise, denn Sampson wollte „die vielfältigen Beziehungen zwischen Mensch und Macht" erforschen. Zum anderen hatte Sampson sich nämlich „zum Ziel gesetzt, ein informeller Führer in einem lebendigen Museum [sie!] zu sein, der Räume und Ausstellungsgegenstände so schildert, wie er sie vorfindet" - ein „politischer ,Baedecker' für England", wie das Vorwort es ausdrückte. 528 ) Das war weder der paretianische Blick scheinbar distanziertester Analyse und Enthüllung der konservativen Avantgarde der 1950er Jahre und ebenso wenig der aufklärerische Gestus kritischen Bemühens um die Demokratisierung von Politik und Gesellschaft mit den Mitteln der Sozialwissenschaften, wie wir ihn bei Otto Stammer oder C. Wright Mills kennen gelernt haben und bei Ralf Dahrendorf wiederfinden werden. Es war der Gestus eines Cicerone, der - zumal deutschen Lesern - Kuriositäten vorführt. In der Bundesrepublik stellte das Buch eine politisch-intellektuelle Harmlosigkeit dar - ohne den politischen Sprengstoff, den Mills' Werk barg wegen seiner Infragestellung des demokratischen Charakters des amerikanischen Regierungssystems - und bewirkte, als Aussage in doxischer Modalität, die Bestätigung des schon vorher Gewussten, nämlich der Bedeutung der Elite für das Wohl und Wehe einer Gesellschaft. Sampsons „Anatomy" wurde ein enormer Erfolg - sie erlebte bis Sampsons Tod 2005 fünf weit verkaufte Neufassungen. Für die deutsche Ausgabe schrieb Theodor Eschenburg ein Vorwort, der nach Vergleichsmaßstäben für die Frage suchte: „Ist das Regierungspersonal im weitesten Sinn nach Herkunft, Ausbildung und Auswahl, und sind ebenso Regierungsorganisationen und Regierungsmethoden der neuen Entwicklung gewachsen?" 529 ) Der erste Teil von Eschenburgs Frage - das Problem der richtigen Auslese der politischen Elite verrät, wie fraglos die Elite-Doxa mittlerweile auch von Politikwissenschaftlern, die sich bis dahin nicht explizit zu diesem Thema geäußert hatte, übernommen worden war. Trotz des publizistischen Erfolgs stand die unmittelbare Wirkung des Buches in der Bundesrepublik deutlich hinter derjenigen des Werks von Mills zurück. Ein Einfluss auf die wissenschaftliche Eliten-Diskussion ist überhaupt nicht

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) Sampson: England, S. 15, S. 14. ) Eschenburg: Vorwort, in: Sampson: England, S. 13.

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feststellbar. Dahrendorf, der, wie noch zu zeigen sein wird, die bundesrepublikanische „Elite" ausdrücklich am englischen Vorbild maß, verwies an keiner der einschlägigen Passagen auf Sampson. 530 ) Und auch auf konservativer Seite entzündete sich keine Phantasie mehr am englischen Vorbild. Joachim Knoll beispielsweise, der nur wenige Jahre zuvor die englischen Parteien und Public Schools als vorbildliche Instanzen der Elite-Bildung gepriesen hatte 531 ) und für den - wie vor allem für seinen akademischen Lehrer Hans-Joachim Schoeps - die englische Aristokratie und ihr House of Lords ein Vorbild für ein in der Bundesrepublik zu schaffendes Oberhaus darstellte, lobte zwar ausdrücklich Sampsons Buch in der Universitas532) (und besonders die Darstellung der Public Schools), angesichts der politischen Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Intellektuellen Feld nach links kam derartigen Aufforderungen jedoch vorerst keinerlei Bedeutung mehr zu. Deutlich mehr Aufmerksamkeit gebührt dagegen einem ungleich bekannteren ausländischen Autor, der sich wiederholt auf Englisch und Französisch - allerdings zunächst nur einmal in deutscher Sprache - mit dem EliteThema beschäftigte, nämlich Raymond Aron. Aron war bereits in den 1950er Jahren (also noch als Journalist und vor Erscheinen seines berühmten Buches „Opium für Intellektuelle" aus dem Jahr 1957) wegen seiner Deutschkenntnisse in den deutschen Kulturzeitschriften ein gesuchter Autor, 533 ) der häufig im antikommunistischen Monat und gelegentlich in der Universitas publizierte. Sein wegweisender Aufsatz aus dem Jahr 1950 über „Social Structure and the Ruling Class" wurde zwar erst in den 1970er Jahren ins Deutsche übertragen. 534 ) Dennoch beeinflussten seine französischen und englischen Beiträge vor allem die sozialwissenschaftliche Diskussion der frühen 1960er Jahre, namentlich Ralf Dahrendorf und Wolfgang Zapf. 535 ) Insofern ist das Urteil von Joachim Stark, Aron sei „in Deutschland praktisch nicht rezipiert" worden, „wegen seines Festhaltens an der soziologischen Betrachtung der Eliten und seiner Akzeptanz von Eliten als einer unvermeidlichen Begleiterscheinung

530

) Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie. Sampsons Buch ist zwar im Literaturverzeichnis aufgeführt, aber nicht im Text zitiert. 531 ) Knoll: Führungsauslese, S. 130, S. 146. 53Z ) Joachim H. Knoll·. (Rezension von) Anthony Sampson: Wer regiert England?, in: Universitas 19.1964, S. 199. 533 ) DLA, D: Merkur, Aktennotiz von Paeschke (15.12.1960). 534 ) Aron: Social Structure. Das Original wurde in The British Journal of Sociology veröffentlicht und wenige Jahre darauf in den einflussreichen, von Reinhard Bendix und Seymour Martin Lipset herausgegebenen Sammelband „Class, Status and Power" aufgenommen; die deutsche Übersetzung „Die Gesellschaftsstruktur und die herrschende Klasse" erschien im Jahr 1975. Hier und im Folgenden wird auf die deutsche Fassung verwiesen. 535 ) Dahrendorf hatte sich schon Mitte der 1950er Jahre mit Aron auseinandergesetzt. Zapf bezog sich ebenfalls u.a. auf „Social Structure and the Ruling Class". Dahrendorf: Klassenkonflikt, S. 190-95 (bezeichnenderweise unter der Überschrift „Eliten und herrschende Klassen"); Zapf: Wandlungen der deutschen Elite.

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der modernen Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaft", doch zu relativieren. 536 ) In „Social Structure and the Ruling Class" hatte Aron eine Synthese marxistischer und paretianischer Ideen versucht mit dem Ziel einer praktikablen Kategorienbildung der Sozialstrukturanalyse. 537 ) In dieser Hinsicht blieb das Ergebnis seiner Untersuchung mager. Aron resümierte nämlich, dass „man eine Gesellschaft nicht nur durch die Klasse, die über die Produktionsmittel verfügt, kennzeichnen" könne, „aber auch nicht nur durch den psychologischen oder sozialen Charakter ihrer Elite" 538 ) und deshalb beide Wege beschreiten müsse. In einer anderen Hinsicht wurden seine Überlegungen dafür sehr wirkungsmächtig. Nach einer längeren Beschreibung der französischen Gesellschaft nach 1945 und der „Struktur" ihrer „Elite", sowie nach einer Untersuchung „herrschender Eliten" in Diktaturen gelangte Aron nämlich zu dem Ergebnis, dass die Morphologie, die Frage, ob es sich um „gespaltene" oder „einheitliche Eliten" in einer Gesellschaft handle, die Freiheitspotenziale eines politischen Systems determiniere: „Eine einheitliche Elite bedeutet das Ende der Freiheit. Wenn aber die Gruppen der Elite nicht nur nicht nur voneinander abgegrenzt sind, sondern sich entzweien, bedeutet es das Ende des Staates. Die Freiheit lebt in jenen ständig bedrohten Zwischenregionen". 539 ) Wie wir gleich weiter unten sehen werden, erweiterte Ralf Dahrendorf diese These zu einem seitdem feststehenden Topos der Elite-Forschung, von dem aus er die deutsche Gesellschaft von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart analysierte und deutete. Vorerst jedoch mussten sich deutsche Leser mit einem kürzeren Text Arons begnügen, der 1960 in der Universitas erschien. 540 ) Aufschlussreich ist dieser Artikel deshalb, weil Aron hier nicht nur jene These von der Bedeutung der Eliten-Morphologie wiederholte, sondern vor allem in seiner Funktion als Indikator des ideengeschichtlichen Wandels um 1960, der auch den deutschen Konservatismus nachhaltig veränderte (die schrittweise Verschmelzung liberalen und konservativen Gedankenguts haben wir oben bereits am Beispiel Wilhelm Röpkes beobachtet). Denn ausgerechnet die Universitas, die alles in allem einem eher traditionellen Konservatismus verpflichtet war, veröffentlichte einen Beitrag, in welchem ein prominenter Autor implizit eine ganze Reihe von Annahmen des traditionellen Konservatismus angriff. Erstens sprach Aron konsequent von „Eliten" im Plural und stellte dabei eine ganze Typologie von Eliten auf: militärische, religiöse, politische und administrative Eliten (die er zu den „traditionellen Eliten" rechnete), sowie „Betriebsführer", „Mas-

536

) Stark: Raymond Aron, S. 122. ) Aron:: Gesellschaftsstruktur, S. 136/37. 538 ) Aron: Gesellschaftsstruktur, S. 188. 539 ) Aron: Gesellschaftsstruktur, S. 188/89. 540 ) Raymond Aron: D i e Eliten und die Industrielle Zivilisation, in: Universitas 15.1960, S. 1109-114. Der Text beruhte auf einem Vortrag an der R I A S Universität Berlin. 537

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senführer" und „politische Führer" als „neue Kategorien". 541 ) Dass dabei die Unterscheidung zwischen der traditionellen politischen Elite, den „Massenführern" und den „politischen Führern" eher unscharf blieb, mag der Kürze des Textes und seiner publizistischen Gattungszugehörigkeit geschuldet gewesen sein. Wichtiger war, dass Aron zweitens seinen Elite-Begriff nach der „Erfüllung ökonomisch-sozialer Funktionen" konzipierte, mit anderen Worten, dass er einem Modell der Funktions-Elite das Wort redete, das gerade von traditionellen und besonders von religiös argumentierenden konservativen Intellektuellen scharf angegriffen worden war. Die Pluralisierung des Elite-Begriffs und seine funktionalistische Füllung, die in der deutschen konservativen Avantgarde eher en passant, zum Teil unter Abwesenheit des Terminus „Elite" (man denke an Gehlens Hymnus auf die „Persönlichkeit") und nicht in einer geschlossenen Darstellung, fokussiert auf das Elite-Thema stattfand, wurde von Aron hier ganz offen und direkt ausgesprochen. Und noch an einer dritten Stelle überschritt Aron die Grenzen des traditionellen deutschen Konservatismus: Er sprach sozialen Konflikten, wenn sie denn in geregelten Bahnen verliefen, eine fruchtbare Bedeutung zu, wandte sich also gegen die vertrauten Topoi der Ganzheitlichkeit und Konfliktlosigkeit. 542 ) Dennoch bestanden für deutsche Konservative auch Anknüpfungspunkte an Arons Elite-Modell. Zum einen beklagte auch Aron das Fehlen einer einheitlichen Führungsschicht, das wir oben als einen der ideengeschichtlichen Ausgangspunkte der Elite-Doxa in der Bundesrepublik ausgemacht haben, und wies mit geradezu emphatischen Worten darauf hin, dass die funktional definierten Teil-Eliten eine derartige soziale Ganzheit nicht ausgebildet hätten: „Es ist die Größe und ebenso die Schwäche der modernen Demokratien, dass sie von sich aus keine führende Klasse haben. Sie besitzen führende Gruppen, die die verschiedenen aktiven Kräfte der Gesellschaft ausdrücken und die sich unvermeidbar im Gegensatz zueinander fühlen. Das Schicksal der Demokratie hängt von der Fähigkeit der führenden Gruppen ab, sich ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber der Demokratie bewusst zu werden." 543 )

Im Kontext der westdeutschen Debatte ließ sich eine solche Aussage verstehen als Forderung nach einer privilegierten sozialen Schicht, aus der die Elite hervorgehen sollte. Schon das oben angeführte Zitat aus dem älteren Aufsatz weist darauf hin, dass Aron sein Elite-Modell sicher nicht als eine Fürsprache für eine exklusive, sozial homogene und bei der Rekrutierung der Elite-Positionen privilegierte Machtgruppe verstanden wissen wollte („Eine einheitliche Elite bedeutet das Ende der Freiheit"). Dennoch sprach er sich offen für die Exis-

541

) Aron: Die Eliten und die Industrielle Zivilisation, S. 1110/11. ) An diesem Punkt war Aron allerdings sicherlich nicht der entscheidende Stichwortgeber für Dahrendorf, der seine Theorie des sozialen Konflikts an anglo-amerikanischen Vorbildern entwickelt hatte. 543 ) Aron: Die Eliten und die Industrielle Zivilisation, S. 1113 (Hervorhebungen im Original). 542

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tenz einer einheitlichen derartigen Gruppe aus, wie er an Hand einer Gegenüberstellung der britischen und der deutschen Zeitgeschichte exemplifizierte: „Das typische Land, in dem die führenden Gruppen eine führende Klasse bilden, ist Großbritannien, dem die historische Tat gelungen ist, die Kontinuität aufrechtzuerhalten, indem es die neuen Eliten nach und nach einbaute. Dieses historische Meisterwerk druckt sich vor allem darin aus, dass das Regime selbst nicht in Frage gestellt wird. Die Demokratie ist ein Spiel, dessen Regeln einmütig angenommen werden müssen. (...) Das Unglück der deutschen Demokratie der Weimarer Zeit war es, dass zu viele Menschen, Parteien und soziale Gruppen die Spielregeln nicht annahmen, sich ungerecht behandelt fühlten und dem Kampf so weit trieben, dass das Regime selbst in Frage gestellt wurde. (...) Alles, was den sozialen Abstand zwischen dem Volk und den Privilegierten verringert, begünstigt auch am Ende die Demokratie. Um es noch einmal zu sagen: die Stärke und Schwäche der modernen Demokratien liegt darin, dass sie zum Fortschritt verurteilt sind, wenn sie nicht untergehen wollen." 544 )

Wie zahlreiche deutsche Konservative - vor allem jene, die sich selbst als „Liberale" bezeichneten - betrachtete auch Aron Großbritannien als Vorbild einer geglückten Integration unterschiedlicher Teil-Eliten. Und auf der gleichen argumentativen Linie lag auch die Deutung des Scheiterns der Weimarer Republik an ihrem mangelnden Eliten-Konsens. Im Unterschied zu den Überzeugungen der deutschen Konservativen bestand Aron auf der „notwendigen Aufgabe, aus rivalisierenden Gruppen eine führende Klasse zu schaffen", jedoch nicht im Interesse der Einheitlichkeit eines autoritär definierten staatlichen Handelns oder nicht weniger autoritär definierter kultureller Werte, sondern zum Nutzen demokratischer Systeme. Diese Mischung aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten machte die Lektüre Arons nicht nur für Konservative attraktiv, ihr prominenter Erscheinungsort gibt auch Aufschluss über den Wandel des Konservatismus selbst, der die Elite-Doxa annahm und sich dabei im neuen politischen System ebenso sehr einrichtete, wie er sich dieses anverwandelte und ausgestaltete. Gleichzeitig beinhaltete Arons Beitrag einen Moment der Verwissenschaftlichung der Elite-Doxa, und zwar einerseits wegen des Ortes seines Erscheinens (als Vortrag innerhalb einer RundfunkUniversität, als Aufsatz in der Kulturzeitschrift mit der größten Nähe zur Wissenschaft) und andererseits, weil hier Fragmente sozialwissenschaftlich gewonnenen Wissens aus vorangehenden Studien (die Bedeutung der Morphologie der Eliten für das Verständnis politischer Systeme) in den Raum der „allgemeinen" publizistischen Debatte sickerten und popularisiert wurden. 5.3.3 Die Vollendung der Elite-Doxa I. Parallel zur Jaeggi-Dreitzel-Schluchter-Kontroverse, doch fast ohne jede Berührung mit ihr und an ganz anderen Orten entspann sich in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren ein Diskussionszusammenhang zum EliteThema, der mit seinen Arbeitsergebnissen gewissermaßen den fehlenden

544

) Aron·. Die Eliten und die Industrielle Zivilisation, S. 1113/14, auch für das Folgende.

534

5. Die neue symbolische Ordnung

Schlussstein in den sozialwissenschaftlichen Bau einer neuen symbolischen Ordnung einsetzte und damit letztlich die Durchsetzung der Elite-Doxa vollendete. Die Zentralfigur dieses Diskussionszusammenhangs war niemand anderes als Ralf Dahrendorf. Dahrendorf unternahm während der Mitte der 1950er Jahre, noch nicht einmal dreißigjährig und noch vor seiner Berufung zum Professor, in seinem Buch „Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft" zunächst den Versuch einer Reanimierung des Klassen-Begriffs in der westdeutschen Soziologie. Zu dieser Feststellung sind allerdings mindestens drei Erläuterungen notwendig. Erstens bemühte sich Dahrendorf, offensichtlich unter dem Eindruck eines längeren England-Aufenthalts stehend, um ein dezidiert nichtmarxistisches, gewissermaßen „rein-soziologisches" und aller eschatologischen Gehalte entkleidetes (oder in seiner eigenen Terminologie: um ein nicht-utopisches) Klassen-Konzept. 545 ) Zweitens zielte Dahrendorf mit seinem Vorhaben, den erneuerten Klassen-Begriff zum Ausgangspunkt einer Theorie des sozialen Wandels zu machen, von Anfang an auf eine weitere Öffentlichkeit, die von der Soziologie „verwendbare ... Lösungen" verlange; über den Kreis der Fachsoziologie hinaus. 546 ) Drittens schließlich sind für das Verständnis der gesamten weiteren wissenschaftlichen und intellektuellen Strategien Dahrendorfs nicht nur seine Auslandsaufenthalte, sondern auch seine wissenschaftliche Laufbahn und sogar sein Lebensalter in Rechnung zu stellen. Dahrendorf definierte Klassen entgegen der soziologischen Konvention nicht als - ökonomisch bestimmte - Ansammlung gleichartiger sozialer Lagen, aus denen gleichartige sozialökonomische Interessen und antagonistische Interessenkonflikte hervorgehen, sondern als dominierte oder dominierende Herrschaftsverbände, und entwickelte daraus eine „Klassentheorie", in der die von Klassen geführten Konflikte das Movens sozialstrukturellen Wandels darstellten. Kurz gesagt, Dahrendorfs Versuch einer Erneuerung des Klassen-Begriffs scheiterte, genauer: Sie ließ sich innerhalb der deutschen Fachsoziologie nicht durchsetzen - nicht nur wegen konzeptioneller Inkonsistenzen und weil die Neubestimmung eines einmal etablierten Begriffs naturgemäß auf große Widerstände treffen muss, sondern auch weil das Denken in Klassen-Kategorien gerade in Deutschland traditionell auf starke Ablehnung stieß. Kein geringerer als Helmut Schelsky machte sich die Mühe, Dahrendorfs Thesen in einem ungewöhnlich langen Aufsatz zu widerlegen (was bei allen inhaltlichen Differenzen auch einen Akt der Konsekration darstellte; außerdem gab Schelsky Dahrendorf in Einzelpunkten durchaus Recht). 547 ) Die Argumentationsstruk545

) Dahrendorf: Klassenkonflikt, passim. ) Bereits auf der ersten Seite von „Soziale Klassen und Klassenkonflikt" verwies er gleich drei Mal auf die (weitere) „Öffentlichkeit". Dahrendorf. Klassenkonflikt, S. VII. 547 ) Schelsky: Die Bedeutung des Klassenbegriffes für die Analyse unserer Gesellschaft (zuerst 1961 im Jahrbuch für Sozialwissenschaften erschienen). Schelsky war übrigens auch Mitherausgeber der Reihe „Soziologische Gegenwartsfragen", in der 1957 „Soziale Klassen und Klassenkonflikt" erschienen war. 546

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

535

tur Schelskys bestand dabei im Wesentlichen darin, den Klassenbegriff auf seine dogmatisch-marxistische und „totale" Form zuzuspitzen und sodann dessen empirisch-analytische Untauglichkeit zu demonstrieren. 548 ) Der Versuch Dahrendorfs, die Konfliktanalyse von Gesellschaften auf den „Hauptnenner" manifester oder latenter „Herrschafts-Macht-Konflikte" zu bringen, verzerre „kategorial voreingenommen" eben die sachangemessene Untersuchung, so der Vorwurf Schelskys, der bereits 1961 befriedigt (und zu Recht) feststellte, dass Dahrendorf seine Thesen mittlerweile zurückgenommen beziehungsweise sich vom Klassenbegriff wieder verabschiedet habe. 549 ) In der Rückschau erscheint die durchaus respektvolle Konfrontation 550 ) zwischen Dahrendorf und Schelsky als nicht ganz zufällig. In gewissem Sinne „beerbte" Dahrendorf nämlich den Münsteraner Soziologen (nur dass dieser noch nicht „verstorben" war), und zwar sowohl hinsichtlich der Veröffentlichungsstrategie als auch - und vor allem - bezüglich des Avantgarde-Status im Intellektuellen Feld. Tatsächlich finden sich eine ganze Reihe von Äquivalenzen beziehungsweise Parallelen zwischen der politischen, intellektuellen und wissenschaftlichen Position Schelskys in den 1950er Jahren und derjenigen Dahrendorfs im Folgejahrzehnt. Äquivalenzen finden sich zunächst in der sozialen Laufbahn und der Einbettung der beiden Akteure. Für den wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolg bedeutete die Zugehörigkeit Schelskys zum ehemals konservativ-revolutionären Netzwerk um Hans Freyer und Arnold Gehlen ungefähr das Gleiche wie die mit einer Herkunft aus dem politisch-intellektuellen Establishment gekoppelte biologische Jugend Dahrendorfs. 551 ) Gleicherweise lassen sich Schelskys Verwurzelung in der deutschen

548

) Schelsky: Klassenbegriff, S.359, S.379. ) Schelsky: Klassenbegriff, S. 379, S. 387/88. Schelsky bezog sich auf Dahrendorfs inzwischen erschienene Antrittsvorlesung „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen" (dort S.31). 550 ) In dem Aufsatz „Deutsche Richter" machte Dahrendorf dann seinerseits entschieden Front gegen die „Ideologie der Nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Ralf Dahrendorf: Deutsche Richter, in: Gesellschaft und Freiheit, S. 176-96, hier S. 177, S. 195. Ähnlich Ralf Dahrendorf. Deutsche Oberschicht im Übergang, in: Merkur 18.1964, S. 323-33, hier S.324. 551 ) Ralf Dahrendorf wurde 1929 als Sohn von Gustav Dahrendorf geboren, Redakteur des sozialdemokratischen Hamburger Echo und Mitglied der SPD-Fraktion der Hamburger Bürgerschaft (1927-1933) sowie des Deutschen Reichstags (1932-1933); er war zuletzt Vorsitzender des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften. Ralf Dahrendorf promovierte 1952 in Hamburg zum Dr. phil. und anschließend in London zum Ph.D. Nach einem kurzen Gastspiel am Frankfurter Institut für Sozialforschung erhielt er ein „glänzendes Angebot" der Universität Saarbrücken, wo er Assistent wurde und sich 1957 habilitierte. Im folgenden Jahr erhielt er einen Ruf als Professor für Soziologie an die Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg (die schon für Schelsky eine wichtige Karrierestation dargestellt hatte). Nach einer Gastprofessur an der Columbia University in New York lehrte er ab 1960 an der Universität Tübingen. 1966 wechselte er an die Universität Konstanz. Ab 1969 beurlaubt, kehrte er 1984 wieder auf seinen Konstanzer Lehrstuhl zurück (bis 1987). - Die Jugendlichkeit Dahrendorfs noch nach dem Erscheinen von „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" unterstrich beispielsweise Hans Paeschke in einem Brief 549

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5. Die neue symbolische Ordnung

soziologischen Tradition geisteswissenschaftlicher Prägung mit Dahrendorfs in langen USA- und England-Aufenthalten erworbenen intimen Kenntnissen der anglo-amerikanischen Soziologie, an der in Westdeutschland spätestens seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein großes Interesse bestand, parallelisieren. So wie sich Schelsky während der 1950er Jahre, als im Intellektuellen Feld eine unmittelbare politische Parteinahme im Wortsinne verpönt war, trotz seiner avantgarde-konservativen Ideen, im engeren Sinne politisch nur schwer einordnen ließ und auch sozialdemokratische Nachwuchspolitiker seine Thesen bereitwillig übernahmen, so betätigte sich Dahrendorf seit den 1960er Jahren politisch engagiert im Intellektuellen Feld und zusehends auf herausgehobenen Positionen auch im Politischen Feld. 552 ) Schelsky wie Dahrendorf betätigten sich sowohl als Wissenschaftspolitiker wie als Kommentatoren der eigenen akademischen Disziplin.553) Vor allem aber: Wie Schelsky veröffentlichte auch Dahrendorf Texte nicht nur im Wissenschaftlichen oder im Publizistischen Feld, sondern schlug immer wieder die Brücke zwischen beiden Feldern; vor allem „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" bleibt keinem von ihnen - oder beiden! - zuzurechnen. Seit 1960 publizierte Dahrendorf eine Reihe von Aufsätzen zum Thema „Eliten in Westdeutschland", die hinsichtlich der Orte ihrer Veröffentlichung eine aufsteigende (oder, aus akademischer Perspektive, eine absteigende) Linie vom Wissenschaftlichen zum Publizistischen Feld (und innerhalb der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit von der Peripherie zu deren Zentrum) hin bildeten und die damit einhergehend in ihrem Sujet einen zunehmend deutenden und abnehmend analytischen Charakter trugen. Den Anfang machte 1960 „Deutsche Richter. Ein Beitrag zur Soziologie der Oberschicht" im Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik,554) gefolgt von „Eine neue deutsche Oberschicht" in der Neuen Gesellschaft,555) „Ausbildung einer

an Hannah Arendt. Wiggershaus: Frankfurter Schule, S.525; DLA, D: Merkur, Briefe von Hannah Arendt, Paeschke an Arendt (3.5.1966). 552 ) Im Jahr 1947 trat Dahrendorf der SPD bei. Die Mitgliedschaft verfiel 1952.1962 kandidierte er in Tübingen auf der FDP-Liste für den Gemeinderat und wurde 1967 Mitglied der Liberalen. 1968 wurde er für die FDP in den Landtag von Baden-Württemberg gewählt. Seit Anfang 1968 war er zudem Vorstandsmitglied im südwestdeutschen FDP-Landesverband und ab 1969 Bezirksvorsitzender in Konstanz. Von Januar 1968 bis September 1974 gehörte er dem FDP-Bundesvorstand an. 1969 wurde Dahrendorf MdB. Der damalige Außenminister und FDP-Vorsitzende Walter Scheel holte ihn als Parlamentarischen Staatssekretär ins Auswärtige Amt, aber schon Ende Mai 1970 wechselte Dahrendorf zur Europäischen Kommission nach Brüssel. Hier war er für Außenhandel und Äußere Beziehungen der EWG verantwortlich. 553) Vgl. Schelsky. Ortsbestimmung; ders:. Anpassung; ders.: Einsamkeit. Außerdem war Schelsky Vorsitzender des Planungsbeirats des nordrhein-westfälischen Kultusministeriums für die Entwicklung des Hochschulwesens. 554 ) Hier und im Folgenden zitiert nach Dahrendorf. Gesellschaft und Freiheit, S. 176-96. 555 ) Ralf Dahrendorf: Eine neue deutsche Oberschicht? Notizen über die Eliten der Bundesrepublik, in: Die Neue Gesellschaft 9.1962, S. 18-31.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

537

Elite" im Monat,556) einem Artikel in Hans Werner Richters „Bestandsaufnahme" von 1962557) sowie zwei Haupt-Aufsätzen im Merkur: „Deutsche Oberschicht im Übergang" und „Das Kartell der Angst", letzterer bereits ein Auszug aus seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland". 558 ) Die Studie über deutsche Richter beziehungsweise über die Ausbildung der Juristen stellte zunächst die einzige empirische Grundlage der immer weiter reichenden Aussagen über die deutsche „Oberschicht" dar. Bereits die Überschriften machen zwei wesentliche Merkmale dieser Texte deutlich: Erstens verwendete Dahrendorf offensichtlich nicht mehr den Begriff der „Klasse", dem er noch 1957 den Vorzug gegenüber dem bloß „deskriptiven" Schichtungsbegriff gegeben hatte. 559 ) Und zweitens blieb die Differenzierung zwischen der „Elite" und der „Oberschicht" auch im Weiteren bei Dahrendorf höchst widersprüchlich. Während beispielsweise die betreffenden Passagen in der Richter-Studie noch so zu verstehen waren, dass die „funktionalen Eliten" nur einen bestimmten Teil der „Oberschicht" darstellten, verwendete er später die Termini „Oberschicht" und „Elite" einfach synonym.560) Vor allem aber war mit dem Wechsel der Terminologie eine Verschiebung der Perspektiven verbunden: Nicht mehr die Konflikte zwischen Interessengruppen - und damit soziale Prozesse - standen nun im Vordergrund seiner Untersuchungen, sondern die Morphologie der Eliten. Dabei konnte Dahrendorf sogar an eigene Vorarbeiten anknüpfen, denn schon in „Soziale Klassen und Klassenkonflikt" hatte er sich, wenn auch nur kurz, mit den Thesen der kanonischen Elite-Theoretiker, also hauptsächlich Moscas und Paretos, auseinandergesetzt, interessanterweise jedoch gar nicht unter den Vorzeichen des Elite-Begriffs, dem Gedanken der Auslese, des Elite-Masse-Gegensatzes oder der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Existenz von Eliten, und erst recht nicht unter denjenigen der illiberalen beziehungsweise antidemokratischen Zielsetzungen jener Autoren, sondern hinsichtlich der Konflikte zwischen der Herrschenden und der Beherrschten Klasse.561) Diese Lektüre konnte sich immerhin auf die Terminologie der beiden Verfasser stützen, von denen Mosca bekanntlich durchgängig von der „Politischen Klasse" gesprochen und Pareto den Klassen-Begriff, wenn auch ohne dessen marxistische Implikationen, verwendet hatte. Dennoch, gerade diese Konflikt-Perspektive auf die „Eliten" gab Dahrendorf im Folgenden auf. 556

) Ralf Dahrendorf. Ausbildung einer Elite. Die deutsche Oberschicht und die juristischen Fakultäten, in: Der Monat Nr. 166 (1962), S. 15-26. 557 ) Dahrendorf. Die neue Gesellschaft. 558 ) Dahrendorf. Deutsche Oberschicht im Übergang; Ralf Dahrendorf. Das Kartell der Angst, in: Merkur 19.1965, S. 803-15. 559 ) Dahrendorf. Klassenkonflikt, S.IX. 560 ) Dahrendorf. Deutsche Richter, S. 179; ders.: Ausbildung einer Elite, S. 17. 561 ) Ausdrücklich verwarf Dahrendorf allerdings die Annahme von Mosca wie Pareto, die Elite-Mitglieder seien durch besondere charakterliche oder moralische Eigenschaften qualifiziert. Dahrendorf. Klassenkonflikt, S. 190-95.

538

5. Die neue symbolische Ordnung

Allerdings blieb der wissenschaftliche wie der intellektuelle Fluchtpunkt dieser Arbeit zunächst noch unklar oder im Verborgenen; Dahrendorf enthüllte ihn erst in seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland". 562 ) Grundsätzlich zielte schon der Versuch einer unorthodoxen Rehabilitierung des Klassen-Begriffs unausgesprochen auf ein Aufbrechen der Dominanz konservativer Doxa der 1950er Jahre - vor allem der Furcht vor der Anerkennung innergesellschaftlicher Konflikte in den Staaten des „Westens", vor allem natürlich der frühen Bundesrepublik. Was mit Kenntnissen über die Zusammensetzung der Eliten anzufangen sei, blieb vorerst unklar. Allerdings ließe sich plausibel argumentieren, dass der eben Habilitierte in dem Bewusstsein handelte, dass derart weitreichende Thesen, wie er sie denn Mitte der 1960er Jahre formulierte, angesichts seines wissenschaftlichen Status nur als Anmaßung erscheinen konnten. Auch musste er sich seine Position im Literarisch-Politischen Feld erst noch schaffen; weder in den großen Kulturzeitschriften noch in Loccum oder Bad Boll war er bis dahin aufgetreten. In jedem Falle bedeutete die Beschäftigung mit der Zusammensetzung und Rekrutierung empirisch dingfest gemachter Eliten eine perspektivische Verschiebung der symbolischen Ordnung: Nicht mehr das geradezu krampfhafte Bemühen um soziale Stabilität und Integration stellte nun die intellektuelle Motivation zu dieser Beschäftigung dar, sondern die Suche nach Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Liberalisierung der Bundesrepublik. Und nicht der - wie auch immer gedeutete - Zusammenhang zwischen dem Funktionieren der parlamentarischen Demokratie und den Aufgaben der Elite bildete den Gegenstand dieser Erörterungen, sondern die Zusammensetzung und die Rekrutierung der elitären Teilgruppen. Solange allerdings eine konzeptionell ausdifferenzierte und empirisch belastbare Theorie des Zusammenhangs zwischen der Morphologie der Eliten und der politisch-sozialen Verfasstheit ganzer Gesellschaften nicht zur Verfügung stand (und dies dürfte bis heute nicht erreicht sein), musste jene Verschiebung notwendigerweise in das Credo der ElitenForscher münden, das Dahrendorf formulierte und das seitdem zahlreichen „Elite-Studien" implizit oder explizit vorangestellt wird. Dieses Credo stellte gewissermaßen die Ausformulierung eines der Hauptsätze der Elite-Doxa dar, nämlich desjenigen über die Elite als dem (einzig) relevanten Teil der Gesellschaft, in dem sich gewissermaßen die illusio der Elite-Forscher über die Relevanz ihres Untersuchungsgegenstandes und Deutungsobjektes ausdrückte: „Wenn es richtig ist, dass jede Gesellschaft in dem Licht erscheint, das ihre Führungsgruppen ausstrahlen - und manches spricht für diese Theorie - dann verlangen die Führungsgruppen das besondere Interesse dessen, der den Charakter seiner Gesellschaft verstehen will." 563 ) 562

) In „Deutsche Richter" war davon die Rede, „das Gesellschaftsbild der funktionalen Eliten" den gewandelten „realen Strukturen der Gesellschaft" anzupassen; im Monat erhoffte Dahrendorf die „Ausbreitung einer liberaleren Grundstimmung". Dahrendorf: Deutsche Richter, S. 193; ders.: Ausbildung einer Elite, S.24. 563 ) Dahrendorf: Eine neue deutsche Oberschicht?, S. 18.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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Allerdings verlagerte sich in diesen noch tastenden Vorstößen zu einer umfassenderen Deutung der inhaltliche Schwerpunkt von Dahrendorfs Beiträgen. Die Richter-Studie versuchte einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft westdeutscher Richter an Oberlandesgerichten, ihren soziopolitischen Einstellungen und in Konsequenz den sozialen Ressentiments, die ihre Urteile beeinflussen könnten, herzustellen - eine Beweisführung, die notwendigerweise zu ihrem Ende hin spekulativ bleiben musste (und blieb). In den „Notizen über die Eliten der Bundesrepublik" kehrte Dahrendorf dann zu den Fragestellungen der 1950er Jahre zurück, nämlich der Beziehung zwischen Elite und Demokratie, indem er die weitreichende These vom Kausalzusammenhang zwischen der spezifischen Morphologie einer Elite, nämlich einer pluralistischen Gestalt derselben, und dem Funktionieren repräsentativer Institutionen und damit den „Chancen der deutschen Demokratie" behauptete. 564 ) Zu diesem Zweck referierte er die amerikanische Studie von Karl Deutsch und Lewis Edinger über die Zusammensetzung und Binnenzirkulation der westdeutschen Elite-Gruppen (auch wenn hier nur Quantifizierungen nach Konfession und geographischer Herkunft vorlagen). 565 ) Erstmals traf Dahrendorf hier auch die Feststellung von der Dominanz der Unternehmerschaft innerhalb der Gesamt-Elite, da sie die einzige Teil-Elite („Vetogruppe") darstelle, die die führenden Politiker („Machtelite") wirkungsvoll zu beeinflussen vermöchte, allerdings ohne wirkliche Beweise beibringen zu können. 566 ) Das war immerhin ein großer Schritt vorwärts zum Einsatz des Elite-Begriffs zur umfassenden Deutung der Geschichte und Gegenwart der deutschen Gesellschaft. In einem Aufsatz für den Monat, „Ausbildung einer Elite", setzte Dahrendorf diese Thesenbildung fort. Nachdem er recht nüchtern die Bedeutung der Ausbildung zum Juristen für die Besetzung von Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Unternehmerschaft herausgearbeitet hatte, argumentierte Dahrendorf, die juristischen Fakultäten stellten in der Bundesrepublik ein Äquivalent zu den britischen Public Schools dar. Wie diese verenge auch die deutsche juristische Ausbildung den Zugang zu den Positionen der EliteGruppen und garantiere auf diese Weise deren soziale Exklusivität. Weil die juristischen Fakultäten jedoch die einzigen derartigen Institutionen in der Bundesrepublik darstellten, sei die westdeutsche Elite morphologisch weitaus inhomogener als beispielsweise diejenigen in Frankreich oder in Großbritannien. Doch nicht etwa das Anprangern der sozialen Ungleichheit der Mobilitätschancen stellte Dahrendorfs intellektuelles Anliegen dar. Die vergleichsweise unspektakulären Befunde 567 ) interpretierte er nämlich als einen Mangel

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) Dahrendorf: Eine neue deutsche Oberschicht?, S.29. ) Deutsch und Edinger: Germany (1959). 566 ) Dahrendorf. Eine neue deutsche Oberschicht?, S. 25-27, S.30. 567 ) Dennoch erregte Dahrendorf mit seinen Bemerkungen sofort den Widerspruch des herrschenden Meinungswissens. In einem der folgenden Hefte wurden - für den Monat 56s

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5. Die neue symbolische Ordnung

an einer etablierten Elite, die in der Lage wäre, eine „verlässliche Struktur sozialer Beziehungen" zu garantieren. Was damit gemeint sein könnte, verdeutlichte Dahrendorf allerdings erst zwei Jahre später in einem Aufsatz für den Merkur, also mittlerweile angekommen am Pol maximaler Deutungsmacht innerhalb der gehobenen Publizistik. Jetzt schloss er nämlich aus der bereits dargelegten sozialen Heterogenität der Oberschichten sowie aus einigen neueren Untersuchungen zur sozialen Selbsteinschätzung der westdeutschen Bevölkerung, „dass es gegenwärtig keine eindeutige Oberschicht gibt, deren Mitglieder sich ihrer Zugehörigkeit bewusst sind und von denen alle übrigen wissen, dass sie zu dieser Schicht gehören. An den Spitzen der Gesellschaft hat ein Prozess der Komplizierung eingesetzt, eine Tendenz ... zur Auflösung der Eindeutigkeit sozialer Zugehörigkeiten".

Die Folge sei eine „gewisse Ängstlichkeit" der Mitglieder der Oberschichten, die „nur allzu leicht zu Kurzschlusshandlungen führen" könne. 568 ) Was damit allerdings gemeint war, blieb wiederum zunächst offen. Auch in diesem Aufsatz präsentierte Dahrendorf wieder in langen Passagen gesichertes soziologisches Wissen, um eingangs und gegen Ende des Textes wieder zu weiterreichenden Deutungen zu gelangen. Dennoch, ein präziser Fluchtpunkt seiner Argumentation war noch immer nicht zu erkennen. Um diesen zu bestimmen und um wirklich den umfassenden Deutungsentwurf vorzulegen, der die unterschiedlichen Perspektiven aller dieser Einzelbeiträge zu bündeln vermochte, benötigte Dahrendorf allerdings sehr viel mehr Raum, als ein Aufsatz zu bieten vermochte - und eine erweiterte empirische Basis, die über die Ergebnisse einiger verstreuter Aufsätze, die sich mit unterschiedlichen Gegenständen (dem Sozialprofil von Richtern, der sozialen Selbsteinschätzung der Bundesdeutschen, der Möglichkeit von „Gegeneliten" in totalitären Systemen) hinausging. II. Diese notwendige empirische Grundlage für weitergehende Interpretationen lieferte 1964/65 Dahrendorfs wissenschaftlicher Assistent Wolfgang Zapf mit seiner Pionierstudie „Wandlungen der deutschen Elite" sowie mit einem Sammelband, der einige kleinere Arbeiten aus dem Tübinger Umfeld

nicht eben gewöhnlich - gleich drei längere Leserbriefe veröffentlicht, die ihm an verschiedenen Punkten widersprachen: Zum einen hinsichtlich seiner Ausführungen zu den deutschen Juristen (offensichtlich meinten die Autoren, deren Bild in ein besseres Licht rücken zu müssen), zum anderen auf ganz grundsätzlicher Ebene, als ein Prof. Dr. Adolf Hintringer den dekadenten deutschen und britischen Oberschichten die Vitalität der bolschewistischen „Parteigarde" gegenüberstellen zu müssen glaubte und sich damit auf Topoi berief, die seit dem Abklingen der ideologischen Überhöhung des Kalten Krieges aus den „regulären" Beiträgen der großen Kulturzeitschriften verbannt waren. Im Übrigen markiert der Artikel Dahrendorfs auch sprachlich eine Abkehr von den Doxa der 1950er Jahre, u. a. indem er die Termini „Elite" und „Prominenz" synonym - und nicht etwa gegensätzlich verwendete. Dahrendorf: Ausbildung einer Elite, S.25; Briefe des Monats. Zur Soziologie der Eliten, in: Der Monat Nr. 169 (1962), S. 82-86. 568 ) Dahrendorf. Deutsche Oberschicht im Übergang, S.323, S.333.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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Dahrendorfs versammelte. 569 ) Wie groß mittlerweile die Nachfrage nach gesichertem soziologischen Wissen über die westdeutsche Elite, zusammengetragen mit den neuesten Verfahren der empirischen Sozialforschung, geworden war, zeigt der verlegerische Erfolg: Beide Bücher erlebten bereits binnen Jahresfrist ihre zweite Auflage. Diese große Nachfrage bei Publikum ist durchaus bemerkenswert, handelte es sich doch um Veröffentlichungen von bislang durchweg unbekannten Nachwuchswissenschaftlern. Und während der Sammelband dabei aus der peripheren Position einer bislang nicht eingeführten und eher esoterisch betitelten wissenschaftlichen Reihe starten musste, 570 ) gelangte Zapfs Dissertation, ebenfalls nicht eben gewöhnlich, auf Anhieb in den weniger wissenschaftlichen und stark publizistisch orientierten Piper-Verlag (der auch Dahrendorfs Bücher erfolgreich herausgab und in dem auch die erweiterte zweite Auflage des Sammelbandes erschien!), doch ohne Abstriche seines Charakters als fachwissenschaftliche Arbeit und ohne Konzessionen an publizistische Orientierungssuche. 571 ) Zapf verfolgte in seiner Monographie nicht weniger als 2000 Inhaber von rund 300 gesellschaftlichen Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz, Militär, Kirchen und Kultur über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren hinweg, nämlich von 1919 bis in seine unmittelbare Gegenwart hinein. Ausdrücklich stellte er auf der Grundlage prosopographischer Daten die Frage nach den personellen Kontinuitäten und Brüchen entlang der historischen Zäsuren der Jahre 1919,1933 und 1945. Der empirische Teil bestand dabei aus vier Abschnitten: Der Beschreibung der untersuchten Spitzenpositionen, deren Inhaber er als „Elite" identifizierte, der „Zirkulation" der TeilEliten (im Wesentlichen also der Frequenz der [Neu-]Besetzungen), der Untersuchung der erwähnten personellen Kontinuitäten und Brüche, sowie schließlich der Rekonstruktion des Sozialprofils der Teil-Eliten. Das war ein enormer wissenschaftlicher Fortschritt gegenüber allen bisher vorgelegten deutschsprachigen Arbeiten, die bis dahin lediglich derartige empirische Forschungen eingefordert hatten oder bestenfalls konzeptionelle Vorarbeiten zu derartigen Unternehmungen leisten wollten. Nicht umsonst avancierte Zapfs Studie sofort zum „Klassiker" der deutschen Elite-Literatur und wurde in praktisch alle einschlägigen Literaturverzeichnisse aufgenommen.

569

) Zapf (Hg.): Beiträge. Dieser Sammelband erschien bereits 1964; die Monographie stellte Zapf ebenfalls 1964 fertig, so dass Dahrendorf in diesem Jahr bereits auf sie verweisen konnte (Dahrendorf. Deutsche Oberschicht im Übergang, S.332), veröffentlicht wurde sie jedoch erst im folgenden Jahr. Auch die oben mehrfach zitierte, von Dahrendorf betreute Dissertation von Gertraud Linz über „Literarische Prominenz in der Bundesrepublik" erschien in diesem Jahr. 57 °) Das Buch erschien als Band 3 der „Studien und Berichte aus dem Soziologischen Seminar der Universität Tübingen". 571 ) Dies wird beispielsweise an den weiter unten zu diskutierenden Konsequenzen deutlich, die Zapf selbst aus den Ergebnissen seiner empirischen Untersuchungen zog.

542

5. Die neue symbolische Ordnung

Diesen Status erreichte Zapf nicht zuletzt durch die wissenschaftliche Sorgfalt seiner Untersuchung, von der hier nur zwei Kennzeichen hervorgehoben sollen, weil diese auch die weiterreichende Wirkung seiner Arbeit verstärkten. Zum einen mühte sich Zapf erfolgreich um eine forschungspragmatisch sinnvolle und kohärente Klärung des Elite-Begriffs (worauf gleich noch weiter eingegangen werden soll), und zum anderen verarbeitete er die breite englisch· und auch französischsprachige Literatur zum Elite-Thema, die in dieser Konsequenz auch von Jaeggi, der diesem Diskussionszusammenhang ein eigenes Kapitel gewidmet hatte, nicht erreicht worden war. 572 ) Vor allem blieben diese Auseinandersetzungen nicht innerhalb der Untersuchung isoliert, sondern gingen unmittelbar in Zapfs eigenes Elite-Konzept ein. 573 ) In diesem Konzept griff er ein Problem auf, dass uns bereits in den Texten von Dahrendorf begegnet ist, nämlich das Problem der Abgrenzung der „Elite" von der „Oberschicht". Dieses Problem stellte sich für eine soziologische Qualifikationsarbeit auch mit ungleich größerer Dringlichkeit als für einen Beitrag im Publizistischen Feld. Dahrendorf hatte in seinen Aufsätzen beide Termini schließlich synonym verwendet, und Zapf erweckte den Anschein, er würde gleiches tun. Vergleicht man die Titel der beiden von Zapf verfassten beziehungsweise herausgegebenen Bücher, so zeigt sich, dass dieser seinen Untersuchungsgegenstand das eine Mal als „Wandlungen der Elite" fasste und ein „Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen" zu modellieren versuchte, das andere Mal jedoch „Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht" veröffentlichte. Tatsächlich jedoch präzisierte Zapf seinen Elite-Begriff in beiden Büchern dahingehend, dass er nur die beiden ersten Begriffe synonym verwendete, und die „Eliten" (beziehungsweise die „Führungsgruppen") als einen Teil der Oberschicht ansah, 574 ) und zwar als denjenigen Teil, der sich in Positionen befindet, von denen aus sie „Gesetze machen können". 575 ) Etwas weniger lax formuliert, rechnete er - unter Rückgriff auf entsprechende Überlegungen des Soziologen Gabriel Almonds, der sich in unterschiedlichen Kontexten mit deutschen und amerikanischen „Eliten" beschäftigt hatte, sowie unter Verweis auf die Arbeiten von Otto Stammer - zu diesen „Führungsgruppen" die „Verwaltungseliten", „Politische Eliten", „Interessengruppen" und

572

) Verwiesen sei hier bloß auf Arbeiten von Raymond Aron, Reinhard Bendix, Karl Deutsch und Lewis Edinger, W. L. Guttsman, C. Wright Mills, Anthony Sampson und Harold Lasswell. Übrigens musste auch Zapf - und dies ist bezeichnend für den relativen Rückstand der westdeutschen Diskussion - den Abschnitt über den Forschungsstand zu empirischen Untersuchungen von Funktions- und Herrschaftsträgern nahezu ausschließlich mit englischsprachiger Literatur bestreiten. Zapf: Wandlungen, S. 16-18, S. 20-30. 573 ) Zapf: Wandlungen, S. 30-37. 574 ) Zapf: Wandlungen, S. 36, S. 60. 575 ) Zapf. Führungsgruppen, S.6 (in Anlehnung an eine Definition Dahrendorfs). In „Wandlungen der deutschen Elite", S. 36, wählte er dann eine ähnlich klingende, allerdings etwas funktionalistischere Definition in Anlehnung an Dreitzel.

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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„Meinungsbildner". 576 ) Es ist offensichtlich, dass eine exakte soziale Positionierung dieser Teil-Eliten bei den beiden ersten Gruppen leichter fällt als bei den beiden letzten, denn während hohe Beamte und Spitzenpolitiker eindeutig identifizierbare Positionen einnehmen, ist dieses bei „Meinungsbildnern" nicht gegeben, und mit hinreichender Präzision auch nicht bei „Interessengruppen", weil sich die Auswahl und Gewichtung dieser Gruppen nicht mit der gleichen Stringenz treffen lässt wie innerhalb des formalisiert und hierarchisch aufgebauten Staatsapparates (wir müssen im Zusammenhang mit der Elite-Definition Dahrendorfs auf dieses Problem zurückkommen). Nichtsdestotrotz argumentierte Zapf mit guten Gründen, dass ein solches Vorgehen praktikabler sei und gleichzeitig zu präziseren Ergebnissen gelange als ein streng funktionales Vorgehen, wie Talcott Parsons es vorgeschlagen hatte. 577 ) Die bedeutendste wissenschaftliche, nämlich methodische Innovation des Buches und gleichzeitig das politisch-ideell wichtigste Resultat bestand jedoch zweifellos in Zapfs Analyse der sozialen Kohärenz der bundesrepublikanischen „Führungsgruppen". Hierzu entwickelte er ein verhältnismäßig einfaches Verfahren zur Bestimmung der „Distanz" zwischen den einzelnen Teilgruppen in der Bundesrepublik mit dem Stichjahr 1955. Mit den abschließenden Fragen „Gibt es ein deutsches Establishment? Gibt es eine deutsche Power-Elite?" 578 ) griff er nicht etwa die besorgten Fragestellungen der 1950er Jahre wieder auf, sondern zielte - analytisch gesprochen - auf die soziale Morphologie der verschiedenen Fraktionen im westdeutschen Feld der Macht, genauer, auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Sozialprofilen der einzelnen Teilgruppen. Die zweite Frage zielte - in der Tradition von C. Wright Mills - auf die mögliche Existenz eines kleinen exklusiven Kreises, der die relevanten Machtmittel aus Politik, Ökonomie, der Massenkommunikation und der Wissenschaft für sich monopolisiert hat. (Es ist leicht einsichtig, dass eine solche Fragestellung hinsichtlich der atomaren und wirtschaftlichen Supermacht USA eine ganz andere politisch-publizistische Bedeutung, Plausibilität und Brisanz erzeugen musste als in der halbsouveränen Mittelmacht Bundesrepublik Deutschland.)

576

) Zapf. Wandlungen, S. 36/37. Zapf setzte bei dieser Übersicht jeweils Almonds englische Begriffe in Klammern hinzu („administrative elites", „political elites", „interest group elites", „communication elites") und stellte damit gewissermaßen seine fachsoziologische Weitläufigkeit, jedenfalls aber seinen Anspruch, den neuesten Stand der Forschung zu repräsentieren, unter Beweis. 577 ) Neuerdings hat Michael Hartmann Zapfs Studie vorgeworfen, „fast völlig auf präzisere begriffliche Definitionen (verzichtet)" und die Termini „Elite"; „Führungsgruppe" und „Oberschicht" synonym verwendet zu haben. Diese Behauptung geht meines Erachtens sowohl an Zapfs oben angeführter Arbeitsdefinition als auch am Zuschnitt seiner empirischen Studie vorbei. Im Übrigen unterschlägt sie den zweifellos vorhandenen ideengeschichtlichen und untersuchungspragmatischen Fortschritt, den Zapfs Begriffsbestimmung im Jahr 1965 darstellte. Hartmann: Elite-Soziologie, S.55. 578 ) Zapf. Wandlungen, S. 199/200, auch für das Folgende (Zitat S. 199).

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Die Antwort auf die erste Frage dagegen lieferte die exakte Grundlage des intellektuellen Projekts von Ralf Dahrendorf, das sich schemenhaft bereits in den untersuchten Aufsätzen abgezeichnet hatte und das er in seiner großen Darstellung „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland", der wir uns abschließend widmen wollen, in breiter Perspektive ausführte. Zapf verneinte beide Fragen ausdrücklich (wobei er sich ein näheres Eingehen auf die zweite ersparte). Hinsichtlich eines westdeutschen Establishments kam er zu dem Ergebnis, dass „im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ... die einzelnen Sektoren: Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaft, Kirchen, Kommunikation in sich recht homogen [sind]. Zwischen ihnen aber bestehen deutliche Distanzen. (...) Es gibt keinen freien Austausch innerhalb der Elite; sie ist in Westdeutschland in feststrukturierten Einheiten von langer Tradition und weithin ähnlichen Schicksalen zwar nicht gespalten, aber doch getrennt." 579 )

Und die abschließenden Feststellungen über die „Charakterzüge der Nachkriegsgesellschaft" (die hier bereits aus der Morphologie der „Eliten" abgeleitet werden!) klingen dann, als hätte ihm Dahrendorf die Feder geführt: „Unsicherheit und Uneinheitlichkeit in der Spitze, das Fehlen einer ,guten Gesellschaft', die den Ton angibt... relative Trennung von Macht, Einkommen und Prestige".580) Der modelltheoretische Zusammenhang zwischen dem Grad der sozialen Integration verschiedener Teil-Eliten und dem Ausmaß, in dem diese ihre Führungsansprüche selbstbewusst anmelden, blieb allerdings unausgeführt. Vielleicht ist es daher an dieser Stelle notwendig, die betreffenden empirischen Ergebnisse Zapfs kritisch zu sichten. Die zentrale Quelle für Zapfs Ergebnisse bildete die Aggregation verschiedener Daten über die soziale und geographische Herkunft, Bildungsabschlüsse, Alter, Konfessionszugehörigkeit und so weiter zu einer Kreuztabelle der „Distanzeinheiten" zwischen den einzelnen westdeutschen „Führungsgruppen" des Jahres 1955.581) In dieser Tabelle nahmen das Bundeskabinett und die Verwaltungsspitze durch die niedrigsten Werte (65 respektive 66 „Distanzeinheiten") eine Position relativ großer Zentralität ein, wohingegen die Gewerkschaftsführer wenig überraschend den höchsten Wert (118 Punkte) besaßen und folglich eine Außenseiterposition einnahmen. Fast alle übrigen Gruppen jedoch waren mit Punktzahlen zwischen 69 und 81 keineswegs besonders peripher positioniert, sondern in relativer Nähe zueinander gelegen.582) Einzig für die „Kommunikationseliten" der Chefredakteure und Rundfunkinten-

579

) Zapf. Wandlungen, S. 199/200. °) Zapf: Wandlungen, S.200. 581 ) Zapf. Wandlungen, S. 198. 582 ) An diesem Punkt hätte es zweifellos nahe gelegen, einen „Raum der Führungsgruppen" mit verschiedenen Dimensionen - eben denen der sozialen Attribute, mittels derer Zapf die „Distanzeinheiten" festlegte - zu konstruieren. Offensichtlich war die Zeit noch nicht reif für diese Innovation.

58

5.3 Verwissenschaftlichung des Elite-Begriffs und Vollendung der Elite-Doxa

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danten errechnete Zapf einen etwas höheren Wert von 92, wobei diese in Zapfs virtuellem „Raum der Führungsgruppen" (avant la lettre) übrigens in größter Opposition zu den hohen Richtern standen (vor allem wegen der Unterschiede im Alter und der früheren Haltung zum Nationalsozialismus583)), mit denen sie im Verlauf der 1960er Jahre ja auch des Öfteren aneinander gerieten.584) Vor allem die Abstände zwischen den politischen, bürokratischen und ökonomischen „Eliten" waren also keineswegs so groß, wie es weitergehende Interpretationen Zapfs (und Dahrendorfs) vorgaben. Vor allem aber führte Zapf die Distanzanalyse nicht über die Aggregation einfacher sozialer Attribute hinaus zur einer Untersuchung der Unterscheide und Gemeinsamkeiten soziopolitischer Einstellungen und Dispositionen sowie der gemeinsamen, konkurrierenden oder auch antagonistischen Interaktionen dieser Gruppen. Somit blieb die Isolation der Teil-Eliten voneinander mehr vermutet als bewiesen, die „Unsicherheit und Uneinheitlichkeit in der Spitze" ohnehin eine bloße Behauptung. Auch die korrektive Frage, weshalb „die relative Trennung von Macht, Einkommen und Prestige" angesichts der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, die eine solche Trennung durch die Ausbildung unterschiedlicher Arbeitswelten und Aufstiegswege hervorbringt, überhaupt eine Anomalie darstellen solle, wurde nicht gestellt. Mit der von Dahrendorf aufgeworfenen und von Zapf scheinbar empirisch beantworteten Frage nach dem Zusammenhang zwischen der sozialstrukturellen Morphologie der Gruppen von Funktions- und Herrschaftsträgern und den Chancen zur Konsensfindung zwischen den verschiedenen, lebensweltlich unterschiedlich vorgeprägten Teil-Eliten etablierte sich eine Untersuchungsrichtung unter den „Elite-Forschern", die bis in die Gegenwart reicht und die bei allen unterschiedlichen Vorannahmen die Beteiligten in der Annahme eint, dass die politische und soziale Stabilität (bei ausreichender Flexibilität) entwickelter Gesellschaften im Wesentlichen von der Fähigkeit der „Eliten" zu konsensualem Handeln abhängt. Insofern stellt die Auffassung, jene Fähigkeit werde durch eine zu große Rücksichtnahme auf die Ansichten und Interessen breiter Bevölkerungsschichten nur eingeschränkt585) - selbstverständ583

) Die hohen Richter waren signifikant älter und hatten seltener Verbindungen zum Widerstand besessen. 584 ) Auch die Distanz zu den Bischöfen war überdurchschnittlich hoch. 585 ) In diesem Zusammenhang sei nur am Rande vermerkt, dass das Buch von Field und Higley (Eliten und Liberalismus; das englische Original aus dem Jahr 1980 trägt bezeichnenderweise den Titel „Elitism"), das zweifellos einen derartigen ultra-elitistischen Ansatz verfolgt - die Kapitel tragen Überschriften wie „Elitismus als Verpflichtung" oder „Eliten und das Management von Weltproblemen" trotz der Tatsache, dass es in der Reichweite seines Erklärungsanspruches und der Überprüfbarkeit seiner Behauptungen durch und durch den Charakter einer Publikation politisch-literarischen Meinungswissens trägt und in dieser Hinsicht den entsprechenden westdeutschen Texten der 1950er Jahre - von denen sich die westdeutsche Sozialwissenschaft zunächst vehement abzugrenzen suchte und die sie dann dem Vergessen übergab - in nichts nach steht, nichtsdestotrotz von der neueren „Eliten-Forschung" als seriöse wissenschaftliche Arbeit behandelt wird (z.B. durch gemein-

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lieh zum Nachteil Aller! lediglich eine besonders gesteigerte und prononcierte Ausformulierung der Elite-Doxa dar, nämlich des Glaubens an die „Elite" als den relevantesten oder sogar einzig relevanten Teil der Gesellschaft. Betrachtet man diese Wirkung der von Zapf angewandten und schnell nachgeahmten Verfahren, so lässt sich seine „Distanzanalyse" auch als ein Danaergeschenk an die weitere Erforschung der Funktions- und Herrschaftsträger der Bundesrepublik verstehen. Angesichts der raschen und weiten Verbreitung, die Zapfs Arbeit fand, ist es äußerst bemerkenswert, dass seine abschließenden Reflexionen über die Grenzen der empirischen Erforschung von Eliten praktisch folgenlos blieben. Obwohl Zapf völlig zu Recht für seine Studie in Anspruch nahm, einen Beitrag zum Wissen über den sozialen Wandel der deutschen „Führungsgruppen" geleistet zu haben, musste er auch konzedieren, dass damit über politische Prozesse, also über das spezifische Handeln der „Führungsgruppen und auf welche Weise diese ihre Macht ausüben", noch wenig ausgesagt werden konnte. Auch die Klärung der Machtverhältnisse zwischen den Teil-Eliten blieb trotz der zahlreichen „Distanzanalysen" eher vage. 586 ) Zur vorläufigen Beantwortung der Frage „Wer hat die Macht?" verwies Zapf daher zunächst auf fremde empirische Arbeiten über das Funktionieren des westdeutschen Regierungssystems, in erster Linie auf die Mitte der 1950er Jahre unter Anleitung von Dolf Sternberger entstandenen Bücher der Reihe „Parteien, Fraktionen, Regierungen", 587 ) sowie auf Studien zum „Gesellschaftsbild" von Elite-Gruppen, beispielsweise „Student und Politik" von Habermas und anderen. Die „Aufgabe, das Zusammenspiel aller Faktoren bei tatsächlichen Entscheidungsprozessen aufzuzeigen" - und das bedeutete letztlich: der Nachweis der Nützlichkeit von Elite-Untersuchungen war damit (und mit den anderen von Zapf angeführten Schriften) jedoch nicht erfüllt. Ganz zu Recht stellte er fest, dass „die Eliteforschung ... bisher eine Vorliebe für das Problem entwickelt [hat], wer die Spitzengruppen sind (who they are), und sie ist in Gefahr" - und wie sich herausstellen sollte, war diese Warnung durchaus prophetisch

same Veröffentlichungen [etwa von Ursula Hoffmann-Lange und John Higley], v.a. jedoch durch die entsprechenden Literaturverweise und inhaltlichen Referenzen). Hoffmann-Lange: Eliten, Macht und Konflikt, S. 15, S. 19-34; Bürklin und Rebenstorf: Eliten, S. 12. Vgl. die Kritik an derartigen Positionen bei Hartmann: Elite-Soziologie, 66-74. 586) Das Schlusskapitel lässt sich daher auch als ein Versuch verstehen, „die Frage ,Wer hat die Macht?'" zum einen als den Fluchtpunkt aller empirischen Elite-Forschung zu etablieren und zum anderen sich an die Beantwortung dieser Frage heranzutasten - ohne allerdings vorerst eine befriedigende, gesicherte Antwort geben zu können. Zapf·. Wandlungen, S. 201-11. 587 ) Zapf nannte u. a. die Arbeiten von Rudolf Wildenmann („Partei und Fraktion", 1954), Götz Roth („Fraktion und Regierungsbildung", 1954), Bruno Dechamps („Macht und Arbeit der Ausschüsse", 1954), Heinz Markmann („Das Abstimmungsverhalten der Parteifraktionen in deutschen Parlamenten", 1955), Emil Obermann („Alter und Konstanz von Fraktionen", 1956) sowie Rupert Breitling („Die Verbände in der Bundesrepublik, ihre Arten und ihre politische Wirkungsweise", 1955).

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- , „zu selten zu fragen, wie sie ihre Macht ausüben, wie der politische Wettbewerb aussieht, wie sie ihre Gefolgschaft suchen, kurz: was sie tun (what they do)". 588 ) Diese Warnung, über den (unbestreitbaren) Aufwand der Positionsund Sozialprofilanalysen das konkrete Handeln von Elite-Gruppen und dessen Auswirkung auf und Bedeutung für die Gesellschaft zu vernachlässigen, verhallte indessen ungehört. Offensichtlich waren die nachfolgenden EliteForscher davon überzeugt, dass ihre empirischen Ergebnisse über soziale Merkmale und Einstellungen der Untersuchungsgruppen für sich selbst sprächen, beziehungsweise dass sich die Relevanz ihrer Ergebnisse per se und unmittelbar aus der gesellschaftlichen Bedeutung der Elite ergäben 589 ) - ein klarer Hinweis auf die Macht der Elite-Doxa über die fachliche Arbeit und die Methodenreflexion der betreffenden Sozialwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Zapfs Lösung des Problems, wie über „die reine Deskription" hinauszukommen wäre, bestand in einem eindringlichen Werben für die schon von Dürkheim propagierte Methode des Vergleichs. Vier komparative Perspektiven boten sich seines Erachtens als Ausweg aus der Sackgasse bloßer Beschreibung ohne Erklärungskraft an: die Maßstäbe und Bezugsgrößen der ElitenZirkulation, um Urteile über die soziale Offenheit von Elite-Positionen und die soziale Stabilität der Aggregate zu ermöglichen; die funktionale Äquivalenz von Eigenschaften oder Institutionen, welche die Veränderungen oder die Stabilität unterschiedlicher Eliten bewirkten; drittens die vergleichende Klärung der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen von „Führungsgruppen" und den dafür vermutlich ausschlaggebenden sozialen Merkmalen, und viertens schließlich die Untersuchung der Relationen zwischen Elite(n) und Sozialstrukturen. Die tiefergehende komparative Erforschung von Eliten begann in der Bundesrepublik jedoch erst viele Jahre später, nämlich in der historischen Mobilitätsforschung seit etwa 1980,59°) und in der Soziologie erst in den 1990er Jahren mit der Analyse der Rekrutierungswege von Spitzenunternehmern in den großen Industrieländern. 591 )

588

) Zapf. Wandlungen, S. 204. ) Bereits die nächste auf umfangreichem empirischen Material basierende „Elite-Studie" (eine veröffentlichte Arbeitsstudie der Mannheimer Erhebung „Eliten in der Bundesrepublik" von 1968) stellte ihrem Text folgendes Zitat Vilfredo Paretos voran: „Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des fortwährendes Austausches gewisser Eliten; wenn eine aufsteigt, fällt die andere!" Enke: Oberschicht, o.S.Enke leitete seine Untersuchung allerdings noch mit einer ausführlichen Reflexion über Theorien und Methoden der Erforschung von Eliten ein. 59 °) Zu nennen sind hier in erster Linie die Arbeiten Hartmut Kaelbles (vor allem „Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert", 1983), die allerdings keineswegs ausschließlich die Mobilität von „Eliten" untersuchen. Ders. (Hg.): Geschichte der sozialen Mobilität (1978). 591 ) Hartmann·. Topmanager (1996), S. 149-83; ders.: Elite-Soziologie (2004), S. 109-52. 589

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Es liegt nahe, einen solchen komparativen Ansatz schon in dem im für die Durchsetzung der Elite-Doxa bedeutsamen Jahr 1965 erschienenen Sammelband „Die Macht-Eliten der Welt" zu erblicken, den der Redakteur des Bayerischen Rundfunks Kurt Hoffmann nach einer Reihe von Radiovorträgen herausgab. Eine derartige Einschätzung führte jedoch in die Irre. Zwar gab das bei Knaur erschienene Taschenbuch einen interessanten Überblick über die Gruppen der Funktions- und Herrschaftsträger in sieben Ländern der Welt sowie in Afrika, 592 ) doch eine gemeinsame vergleichende Perspektive lag diesem eher publizistischen als wissenschaftlichen Projekt 593 ) nicht zu Grunde. Nicht umsonst waren die Autoren - außer Ralf Dahrendorf und Wolfgang Leonhard, die dem Publizistischen Feld ebenfalls nicht vollkommen fern standen - ausnahmslos Journalisten und Publizisten. Und obwohl beispielsweise Hoffmann in seinen einleitenden Bemerkungen den Elite-Begriff ausdrücklich - wenn auch nicht ausschließlich - von C. Wright Mills ableitete (wie ja bereits der Titel des Buches andeutet), 594 ) tauchte der von Mills geprägte Terminus (und sein Urheber) ausgerechnet im Beitrag über die USA gar nicht auf. 595 ) Doch weniger die fehlende Vergleichsperspektive als zwei andere Dinge machen Hoffmanns Sammelband interessant: Erstens erfolgte die Drucklegung der Radiobeiträge offenbar sehr schnell nach ihrer Ausstrahlung, denn diese waren ausweislich der zitierten Literatur nicht älter als 1964. Offensichtlich war das Elite-Thema in der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit inzwischen interessant genug für eine ganze eigene Rundfunkreihe und eine schnelle nachfolgende Buchveröffentlichung.596) Und zweitens bediente sich der Herausgeber des mittlerweile eingeführten Topos der Vorbildhaftigkeit der englischen upper class. Wie wir nicht zuletzt in der Untersuchung von allerlei Programmen zur Errichtung eines westdeutschen „Oberhauses" gesehen haben, stellte der englische Adel schon für anglophile deutsche Konservative das Vorbild einer Herrschaftsschicht dar, die sich durch langsame Öffnung gegenüber sozialen Aufsteigern und durch das Ergreifen der Chancen, die Parla592

) Im Einzelnen referierten Anthony Hartley über England, Richard Rovere über die Vereinigten Staaten, Hans Wilhelm Vahlefeld über Japan, Wolfgang Leonhard über die Sowjetunion, Peter Coulmas über China, Herbert Kaufmann über Afrika, Lothar Ruehl über „Frankreichs Führungsschicht" sowie Ralf Dahrendorf über Deutschland. 593 ) Typisch für den publizistischen Charakter der Veröffentlichung ist etwa die ganz unwissenschaftliche Gleichsetzung der Begriffe „Macht-Elite" und „Establishment" durch den Herausgeber Hoffmann; Termini, deren einzig sinnvoller Gebrauch der einer Gegenüberstellung gewesen wäre. Hoffmann: Einführung, S. 5-11, hier S. 10. 594 ) Hoffmann: Einführung, S.6-9. 595 ) Rovere: Die Vereinigten Staaten. 596 ) Das war in diesem Umfang tatsächlich neu: Während der Vortrag Arnold Bergstraessers im N D R („Ist eine Elite heute noch möglich?") von 1957 ungedruckt blieb, fand 1960 ein entsprechender, oben bereits analysierter Beitrag des sehr prominenten und umworbenen Raymond Aron den Weg in eine der großen Kulturzeitschriften. (Aron: Die Eliten und die industrielle Zivilisation.)

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mentarismus und kapitalistische Wirtschaftsweise boten, Tradition und Moderne zu verbinden verstand und die eigene Herrschaftsposition über eine lange Dauer zu verteidigen vermochte. Ralf Dahrendorf wiederum empfahl (wie noch eingehend dargestellt wird) die englische upper class als Beispiel einer weitgehend homogenen und wohletablierten Elite - wie in der Bezeichnung „establishment" zum Ausdruck kommt die liberale Freiheitsrechte letztlich für die gesamte Gesellschaft erkämpft und bewahrt habe. Hoffmann, der das englische „establishment" als „Musterbeispiel einer Macht-Elite" bezeichnete, griff diesen Topos in beiden Varianten auf. Weil nun aber im Zentrum seiner Betrachtung die Morphologie der Eliten und nicht ihr Handeln stand, konnte Hoffmann gar nicht umhin, von der Gestalt der Elite unmittelbar auf den Zustand der Gesellschaft zu schließen. Die Warnung Zapfs vor diesem Vorgehen erschien im gleichen Jahr, und Hoffmann wird sie noch nicht gekannt haben, aber Hoffmanns Text bestätigte Zapfs Prognose. Nicht also wegen einer möglichen vergleichenden Perspektive - also des Exports eines wissenschaftlichen Verfahrens in die Literarisch-Politische Öffentlichkeit - ist das Taschenbuch Hoffmanns für unsere Fragestellung von Bedeutung, sondern weil in ihm das gewachsene publizistische Interesse an den ausländischen „Eliten" zum Ausdruck kommt. Bereits die Übersetzungen der Bücher von Mills und Sampson hatten den Blick über nationale Grenzen hinweg geöffnet. Dieses gesteigerte Interesse verweist auf die mittlerweile erreichte Dominanz der Elite-Doxa als Modell der symbolischen Ordnung. Vorherrschend war inzwischen nicht mehr die larmoyante Nabelschau („Gibt es in Deutschland noch eine Elite?"), sondern die Neugier auf die Zusammensetzung der einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen, weil sich - so die viele Autoren leitende Annahme - aus ihrer Morphologie auf den Zustand der gesamten Gesellschaft schließen lasse. III. Im Jahr 1965 erschien schließlich dasjenige Buch, das durch seinen Aufbau wie durch seine große Verbreitung die Völlendung der Elite-Doxa bewirkte: des Glaubens an die überragende soziale Bedeutung einer von der übrigen Gesellschaft abgesonderten und diese (beziehungsweise die einzelnen Teilbereiche) durch „Führung" legitim beherrschende Gruppe individuell auserlesener Akteure. Gemeint ist „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" von Ralf Dahrendorf. Vermutlich ist mindestens eine ganze Generation bundesdeutscher Sozialwissenschaftler und Intellektueller durch dieses Buch politisch-ideell geprägt worden. 597 ) Die Bedeutung, die ihm sofort zugemessen wurde, zeigt sich an seinen prominenten Rezensenten: Jürgen Habermas besprach es im Spiegel,598) Eugen Kogon in den Frankfurter Heften;599) für

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) Darauf weisen jedenfalls einige vom Verfasser en passant geführte Gespräche mit Historikerinnen und Historikern, die um 1940 geboren wurden, hin. 598 ) Jürgen Habermas: Die verzögerte Moderne, in: Der Spiegel Nr. 53 1965, S. 87/88. 5 " ) Eugen Kogon: Der Ausbau des autoritären Leistungsstaates in der Bundesrepublik, in: FH 21.1966, S. 229-37.

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den Merkur waren zunächst Dolf Sternberger oder Hannah Arendt vorgesehen; 600 ) in der Neuen Gesellschaft setzte sich Erwin Scheuch ausführlich mit ihm auseinander (und hielt ihm eigene Befunde und Annahmen entgegen). 601 ) Die Relevanz von Dahrendorfs Buch für unsere Fragestellung nach den Bedingungen und Verbreitungswegen, auf denen die Elite-Doxa durchgesetzt wurde, liegt zuallererst darin, dass es eine umfassende Deutung der deutschen Geschichte und Gegenwart auf neuester sozialwissenschaftlicher Grundlage darstellt, in welcher für den Autor (und angesichts des Verkaufserfolgs offenbar auch für die Leser) der Glaube an die ausschlaggebende Bedeutung der Eliten offensichtlich den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der deutschen Gesellschaft bildete. Tatsächlich versprach Dahrendorf in seinem Vorwort keineswegs zu viel, als er ankündigte, hier das am prominentesten von Helmut Schelsky geforderte „Werk ... das das ,Ganze' unserer Gesellschaft... darzustellen versucht" vorzulegen. 602 ) Dass er dem Publikum wirklich dieses lang gesuchte Werk präsentierte, das seinem Urheber im Falle des Gelingens - das heißt im Fall seiner Anerkennung durch die maßgeblichen Rezensenten des Literarisch-Politischen Feldes - ein enormes symbolisches Kapital verschaffen musste, wurde von der Kritik (beispielsweise im Merkur) sofort bemerkt. Allerdings hatte Dahrendorf von Anfang an und nicht ganz risikolos sein bisher akkumuliertes Kapital in die Waagschale geworfen, als er eine radikale Neuformulierung der „deutschen Frage" zum Aufhänger seines intellektuellen Unternehmens machte. Die „deutsche Frage" - das war nun nicht mehr die alte und wieder aktuelle Besorgnis um die Möglichkeiten der staatlichen Einheit, und auch nicht die in Deutschland scheinbar anders als in Westeuropa zu beantwortende Frage nach dem rechten Verhältnis von „Geist" und „Macht" unter den Zwängen der kontinentalen Mittellage, sondern sie lautete nun: „Was muss geschehen, damit auch Deutschland ein Land der liberalen

6Ü0

) DLA, D: Merkur, Briefe an Dolf Sternberger, Paeschke an Sternberger (13.9.1965); ebd., Briefe von Hannah Arendt, Paeschke an Arendt (29.12.1965). Am Ende schrieb jedoch Hermann Proebst die ungewöhnlich lange Rezension: Von der Leidensgeschichte unserer Demokratie. Betrachtungen zu Ralf Dahrendorfs Deutschland-Buch, in: Merkur 21.1967, S. 171-75. 601 ) Erwin K. Scheuch·. Führungsgruppen und Demokratie in Deutschland, in: NG13.1966, S. 356-70. Scheuch vertrat zum einen die These, die westdeutschen „Führungsgruppen" rekrutierten sich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern aus breiteren Schichten der Gesellschaft, zum anderen fielen seiner Ansicht nach formale Position und tatsächlicher Einfluss häufiger auseinander als von Dahrendorf angenommen. Vor allem aber wies Scheuch Dahrendorfs Hauptthese - siehe weiter unten - zurück, dass die Entwicklung der westdeutschen Demokratie vom Entstehen einer „einheitlichen Führungsschicht", einem „Establishment" abhinge. Allerdings fallen diese und weitere Arbeiten Scheuchs bereits in die Zeit nach Ende unseres Untersuchungszeitraums. 602 ) Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie, S.9. Schelsky hatte in seiner „Ortsbestimmung der deutschen Soziologie" auf dieses Desiderat nachdrücklich aufmerksam gemacht, S. 83/84, S. 149.

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Demokratie werden kann?" 603 ) Allein schon der Umstand, dass eine solche Bestimmung der deutschen Frage - der wichtigsten politisch-publizistischen Frage überhaupt! - im Zentrum der Literarisch-Politischen Öffentlichkeit erscheinen konnte, markiert durch den ihr innewohnenden politischen, linksliberalen Impuls den ideengeschichtlichen Wandel von den 1950er zu den 60er Jahren. Die deutsche Frage in einem radikalen Bruch mit der Tradition derart umzuformulieren, bedeutete aber nichts anderes als den Versuch, eine neue symbolische Ordnung der deutschen Politik und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart zu konstituieren. Das tragende Element dieser neuen symbolischen Ordnung wiederum stellte die spezifische Morphologie der ( w e s t d e u t schen Eliten dar. Eine Analyse der Elite als Antwort auf die neu gestellte „deutsche Frage" - darin bestand hier das intellektuelle Programm Dahrendorfs. Allerdings musste dazu auch das empirische Wissen über die Elite auf eine breite Basis gestellt werden. Letztere lieferten, neben der mittlerweile für aufmerksame Sozialwissenschaftler unübersehbar gewordenen amerikanische Literatur über die neue westdeutsche Elite, die Dahrendorf wiederholt heranzog (was die wissenschaftliche Fundierung seiner Thesen und die Weite seines Horizonts zu belegen vermochte), und neben Dahrendorfs eigenen Vorarbeiten, hauptsächlich über Juristen, vor allem die Arbeiten seines Schülers Wolfgang Zapf. Allerdings hatte Zapf eine untersuchungspragmatisch „enge" Definition des Elite-Begriffs verwendet, die für Dahrendorfs weitreichendes Unterfangen unbrauchbar erscheinen musste. In Zapfs Begriffsbestimmung stellte die „Elite", wie wir gesehen haben, lediglich einen sehr kleinen Teil der weiteren „Oberschicht" dar, und zwar denjenigen, der die 300 herausgehobenen gesellschaftlichen Positionen von großer sozialer Macht (der „Macht, Gesetze zu machen") bezeichnete. Diese Definition verwendete auch Dahrendorf (unter Verweis auf John Locke), 604 ) und sie unterscheidet sich nicht sehr stark von derjenigen, die Mills getroffen hatte (die Möglichkeit, qua Position „Entscheidungen von größter Tragweite zu treffen"). Allerdings wird sich zeigen, dass Dahrendorf und Mills vom gleichen Ausgangspunkt zu gänzlich verschiedenen Ergebnissen gelangten. Mit dem Wissen über eine derart definierte Elite ließ sich zwar - wie Zapf selbst gesehen hatte - Aufschluss über das Sozialprofil der Entscheidungsträger an der Spitze der Pyramide und deren Neigung zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen gewinnen, die Erklärung langwirkender struktureller Defizite und Blockaden ermöglichte ein derartig enges Elite-Konzept jedoch nicht. Folgerichtig erweiterte Dahrendorf den zahlenmäßigen Umfang der als „Elite" angesprochenen sozialen Gruppe um nicht weniger als das Zehnfache - er sprach von der „Machtelite" als den „zwei- bis dreitausend Spitzenpositionen der Macht" 605 ) doch er berief sich weiterhin auf die Ergebnisse Zapfs, die strenggenommen für eine ganz andere 603

) Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie, S.27. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie, S. 246. ω5 ) Dahrendorf. Gesellschaft und Demokratie, S.247, S.255.

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oder zumindest viel kleinere Untersuchungseinheit Geltung beanspruchten. Gleichzeitig übernahm er dessen Unterscheidung zwischen der „Elite" und der weiteren „Oberschicht" (und verzichtete zunächst auf die synonyme Verwendung dieser beiden Termini) und sprach nun mit Mosca von der „politischen Klasse", wenn er auf die Ausübung politischer Herrschaft durch die „Elite" zielte.606) Der - theoretisch - vielversprechendste Weg zur Beantwortung von Dahrendorfs Ausgangsfrage nach den illiberalen Beharrungskräften in der deutschen Gesellschaft und den Möglichkeiten zu deren Liberalisierung bestand hinsichtlich seiner Untersuchung der (west-) deutschen „Eliten" - in der vertieften Analyse der Zusammenhänge zwischen ihrer beruflichen Position, den sich hier bildenden kollektiven Mentalitäten und dem daraus folgenden typischen sozialen Handeln. Die systematische Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen den Zwängen und Chancen, die die verschiedenen Ausleseinstanzen, Karrierewege und Berufspositionen ausübten beziehungsweise boten, einerseits und den daraus geprägten vorherrschenden sozialpsychologischen Dispositionen und vorpolitischen Einstellungen andererseits erlaubte sicherlich sehr viel plausiblere Rückschlüsse auf die vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Wahrnehmungsweisen und Handlungsmuster der betreffenden Akteure, als es die bloße Kurzschlussverbindung zwischen dem Sozialprofil einer noch so einflussreichen Gruppe und den weitreichenden Annahmen über die politische und kulturelle Verfassung ganzer Gesellschaften taten, wie sie in Dahrendorfs eigenem Postulat von dem „Licht", dass die „Führungsgruppen ausstrahlen" und in dem sie ihre Gesellschaft erscheinen lassen, zum Ausdruck kamen - eine Kurzschlussverbindung, die eben lediglich auf der Ebene des Meinungswissens funktionieren konnte. Allerdings verlangte eine derartige Rekonstruktion einen erheblichen methodischen Aufwand, den die meisten nachfolgenden „Elite-Studien" offenbar scheuten, und sich mit der Abfrage parteipolitischer Präferenzen und Stellungnahmen zu tagespolitischen Einstellungen begnügten, ohne einen Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen und denjenigen sozialen Orten und Laufbahnen, die diese Dispositionen prägten, herzustellen.607) Dahrendorf selbst, der wie erwähnt bereits in Aufsätzen die juristischen Fakultäten als Instanzen der Eliten-Bildung problematisiert hatte, näherte sich jenem Zusammenhang in „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" eher impressionistisch-essayistisch als sozialwissenschaftlich-systematisch,608) indem er zwar den Anteil der Juristen an den Inhabern politischer und wirtschaftlicher Spitzenpositionen durch die Sekundärliteratur beziffern konn-