Handlung und Interpretation: Studien zur Philosophie der Sozialwissenschaften [Reprint 2016 ed.] 9783110863987, 9783110079104


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German Pages 224 [232] Year 1982

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften
Unbestimmtheit und Interpretation
Die Theorie des rationalen Menschen
Maximieren, Moralisieren und Dramatisieren
Die Bedeutung des Glaubens anderer Kulturen
„Realistischer“ Realismus und der Fortschritt der Wissenschaft
Über „Die Wirklichkeit der Vergangenheit“
Geschichte und Sozialwissenschaft auf „realistischer“ Grundlage betreiben
Personenverzeichnis
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Handlung und Interpretation: Studien zur Philosophie der Sozialwissenschaften [Reprint 2016 ed.]
 9783110863987, 9783110079104

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de Gruyter Studienbuch Grundlagen der Kommunikation Herausgegeben von Roland Posner

Handlung und Interpretation Studien zur Philosophie der Sozialwissenschaften Herausgegeben von Christopher Hookway und Philip Pettit

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1982

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Grassl und Hans Georg Zilian. Titel der Originalausgabe Action and Interpretation. Studies in the Philosophy of the Social Sciences. © 1978 by Cambridge University Press, England.

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Handlung und Interpretation : Studien zur Philosophie d. Sozialwiss. / hrsg. von Christopher Hookway and Philip Pettit. [Aus d. Engl, übers, von Wolfgang Grassl u. Hans Georg Zilian], — Berlin ; New York : de Gruyter, 1982. (De-Gruyter-Studienbuch : Grundlagen d. Kommunikation) Einheitssacht.: Action and Interpretation ( d t . ) ISBN 3-11-007910-0 NE: Hookway, Christopher [Hrsg.]; EST

© Copyright 1982 für alle deutschsprachigen Rechte by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

Inhaltsverzeichnis Die Autoren Einleitung

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MARY HESSE Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften

6

CHRISTOPHER HOOKWAY Unbestimmtheit und Interpretation

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PHILIP PETTIT Die Theorie des rationalen Menschen

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ALAN RYAN Maximieren, Moralisieren und Dramatisieren

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J O H N SKORUPSKI Die Bedeutung des Glaubens anderer Kulturen

106

NICK JARDINE „Realistischer" Realismus und der Fortschritt der Wissenschaft. . . 136 J O H N McDOWELL Uber „Die Wirklichkeit der Vergangenheit"

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J O H N DUNN Geschichte und Sozialwissenschaft auf „realistischer" Grundlage betreiben 183 Personenverzeichnis

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Einleitung In der Philosophie der Sozialwissenschaften haben wir es vor allem mit drei Gruppen von Problemen zu tun. Erstens stellt sich die Frage, ob die Erklärungstypen der Sozialwissenschaften sich dem Muster der Naturwissenschaften fügen. Dies wurde von vielen Seiten verneint, und man behauptete, daß sich zumindest die Erklärung von Handlungen durch Bezugnahme auf Geisteszustände von einer gewöhnlichen Erklärung unterscheide. Ein zweiter Punkt betrifft die Prinzipien, auf die wir uns in der Wahl sozialwissenschaftlicher Theorien stützen. Es handelt sich hier darum, ob dabei Wertgesichtspunkte in einem solchen Ausmaß einfließen, daß die Theorienwahl eine moralische und politische Bedeutung erhält. Zuletzt stellt sich die Frage, ob es Arten sozialwissenschaftlicher Erklärung gibt, die nicht von unseren Erklärungen menschlicher Handlungen abhängig sind. Individualisten würden dies verneinen, während Holisten behaupten würden, daß manche gesellschaftliche Phänomene durch Gesetze zu erklären seien, deren Bestehen nicht bloß als Ergebnis unabhängig erklärbarer menschlicher Handlungen zu verstehen sei. Die in diesem Band behandelten Probleme betreffen die erste und zweite Fragestellung. Sie werden meist vor dem Hintergrund der Annahme abgehandelt, daß die Äußerungen und Handlungen von Menschen durch Bezugnahme auf Geisteszustände zu erklären seien. Eine solche Erklärung schließt das Interpretationsverfahren mit ein, Zustände wie Glaubenseinstellungen und Wünsche von den Handlungen abzulesen, zu deren Erklärung sie herangezogen werden. Daher auch der Titel des Bandes: Handlung und Interpretation. Obwohl es viele Arten einer interpretierenden Erklärung von Verhalten gibt, beziehen sie sich alle auf Zustände von der Art des Glaubens und Wünschens. Diese Zustände sind insofern „intentional", als wir sie durch Bezugnahme auf ihre Objekte identifizieren, wir diese Objekte aber als nur unter bestimmten Beschreibungen erfaßbar zulassen. Angenommen wir lassen ihre Objekte Propositionen sein: wir sagen, daß John glaubt oder wünscht, daß dieses oder jenes zutreffe. Die Intentionalität der Geisteszustände bedeutet, daß wir sie nicht anders als durch Bezugnahme auf ihr propositionales Objekt bezeichnen können, und daß wir, sollten wir

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Einleitung

versuchen, dieses Objekt durch Ersetzung von „dieses oder jenes" durch einen äquivalenten Satz neu bestimmen, Gefahr laufen, nicht nur einen anderen Glauben oder Wunsch zu bezeichnen, sondern einen Glauben oder Wunsch, den die Person in Wirklichkeit gar nicht hat. Dies läßt sich durch ein Beispiel verdeutlichen: John mag glauben, daß diejenige Person, die seine Brieftasche gestohlen hat, asozial ist, oder er mag den Wunsch hegen, daß diese Person bestraft werde, ohne das aber von James zu glauben oder es ihm zu wünschen, obwohl James der fragliche Dieb ist. Die Intentionalität von Glaubenseinstellungen und Wünschen wirft ein Problem auf. Wir können nicht sicher sein, was jemand glaubt oder wünscht, wenn wir nur sehen, welches „ O b j e k t " sich seiner Aufmerksamkeit darbietet, denn wir wissen nicht, ob wir das Objekt passend beschreiben. Wir können es auch nicht als sichere Hilfe betrachten, wenn die fragliche Person uns sagt, was sie glaubt oder wünscht, denn wenn wir ihre Aussagen in unseren Idiolekt übersetzen, verlassen wir uns wiederum auf Annahmen über ihre Geisteszustände. Wenn auch eine Untersuchung ihres nichtverbalen Verhaltens unsere anderen Informationsquellen ergänzen und so den Bereich der Glaubenseinstellungen und Wünsche, die wir ihr glaubhafterweise zuschreiben können, einschränken wird, können wir nicht ausschließen, daß nicht dennoch ein beträchtlicher Interpretationsspielraum verbleibt. Vielleicht ist dies ein Sonderfall einer allgemeineren Erscheinung: daß die Berufung auf Erfahrung die Anzahl erklärender Theorien nicht auf eine einzige reduziert, und daß deshalb Prinzipien der Theorieanwahl angewendet werden müssen, um aus jenen Theorien, die mit denselben Daten verträglich sind, eine auszuwählen. Q u i n e beschreibt dieses Phänomen als die Unterbestimmtheit von Theorien durch Erfahrung und meint, daß im normalen Wissenschaftsbetrieb Theorien dann gegenüber ihren mit denselben Daten verträglichen Konkurrenten bevorzugt werden, wenn sie zum Beispiel einfacher sind und weniger neue Elemente einführen. Mary Hesses Aufsatz im vorliegenden Band setzt sich mit den Folgen der Unterbestimmtheit von Theorien durch Daten auseinander. Sie meint, die Theorienwahl sei in den Naturwissenschaften hauptsächlich durch das pragmatische Kriterium des Erfolges von Prognosen bestimmt, glaubt aber nicht, daß dieses Prinzip auch immer in den Sozialwissenschaften Anwendung finden kann. Sie wirft somit die Frage auf, ob man bei der Wahl zwischen sozialwissenschaftlichen Theorien nicht auf umstrittenere Prinzipien zurückgreifen müsse. Diese Prinzipien würden willkürlich angenommene Wertgesichtspunkte zum Ausdruck bringen und die Wahl

Einleitung

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einer sozialwissenschaftlichen Theorie ähnlich der eines politischen Standpunktes erscheinen lassen. Prinzipien der Theorienwahl werden bisweilen durch das Argument gerechtfertigt, daß die von ihnen ausgewählten Theorien eine größere Aussicht auf Wahrheit hätten. Man behauptet, daß uns die Anwendung solcher Prinzipien hilft, die unbeobachtbaren Mechanismen zu erfassen, welche die Erscheinungen erklären. Die Auffassung, die Sozialwissenschaften seien wertbeladen, kann nun auf der Meinung beruhen, daß ihre Prinzipien nicht auf die besagte Weise gerechtfertigt werden können. Man geht dabei von der Vorstellung aus, daß die Prinzipien nur dazu dienen, Überlegungen praktischer Natur auszudrücken. Eine Möglichkeit, diese Idee zu begründen, besteht in Quines Argument für die Ubersetzungsunbestimmtheit, das darauf hinausläuft, daß zwar die Theorienwahl in den Naturwissenschaften die Wahrheitsfrage aufwirft, dies aber nicht für den Fall des Intentionalen zutreffe. Die Behauptung besteht darin, daß es im Falle unterbestimmter Theorien über die Glaubenseinstellungen und Wünsche einer Person keinen sprachunabhängigen Bereich der Bedeutungen gebe, bezüglich dessen sich die Theorien unterscheiden. Der Bereich der Sprache und des Verhaltens, über den die Theorien übereinstimmen und mit dessen Daten sie gleich verträglich sind, ist alles, was uns zur Verfügung steht, womit die Wahl zwischen den Theorien eine bloß praktische Bedeutung erhält. Christopher Hookways Aufsatz stellt einen Versuch dar, eine problemfreie Version von Quines Argument auszuarbeiten, und einige der Folgen dieses Arguments für unser Verständnis der Interpretation, besonders in der Sozialanthropologie, aufzuzeigen. Hookway behauptet, daß eine nichtrealistische Auffassung von Intentionalität deshalb vorzuziehen sei, weil sie die beste Erklärung dafür liefere, warum wir uns untereinander so gut und leicht verstehen, und weil sie auch erklären könne, wie öffentliche Bedeutungen unsere privaten intentionalen Zustände beeinflussen. Selbst wenn wir in unseren Entscheidungen, wie das Verhalten anderer Leute und anderer Gruppen zu interpretieren sei, viel Spielraum haben, läßt sich behaupten, daß in allen unseren Theorien bestimmte allgemeine Beschränkungen eingehalten werden müssen. Philip Pettit meint, daß diese Beschränkungen eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens bilden, die er „Theorie des rationalen Menschen" („rational man theory") nennt. Sein Aufsatz behandelt das Wesen und die Funktion dieser Theorie, sowie ihre Anwendungsmöglichkeit in den Sozialwissenschaften, besonders in der Sozialpsychologie.

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Einleitung

Alan Ryan befaßt sich in seiner Arbeit vor allem mit der Sozialpsychologie und unterscheidet drei Arten rationaler Erklärung von Handlungen: als Maximierung des Ertrags, Einhaltung von Verpflichtungen und Inszenierung von Aufführungen. Er wirft einige der bekannten Schwierigkeiten von Erklärungen durch Bezug auf Ertragsmaximierung und Verpflichtungseinlösung auf und stellt sich die Frage, ob die dramaturgische Version, wie sie sich in Erving Goffmans Arbeiten darstellt, wirklich eine selbständige Alternative ist. Der Aufsatz schlägt zwei Lesarten dramaturgischer Erklärungen vor: eine stellt die Menschen als am Spielen ästhetischer Rollen interessiert dar, die andere sieht sie als mit dem Aushandeln von Definitionen ihrer Lage beschäftigt. Der Beitrag von John Skorupski verlagert den Schwerpunkt von der Sozialpsychologie auf die Sozialanthropologie. Er untersucht, wie wir die Gedanken- und Tätigkeitssysteme einer fremden Kultur verstehen und versucht zu zeigen, wie eine solche Interpretation durch unsere philosophische Bedeutungstheorie beeinflußt wird, d. h. durch unsere Auffassung über die Beziehung von Sprache und Welt. In den drei Hauptabschnitten seines Aufsatzes untersucht Skorupski verschiedene Vorstellungen über Rituale, die Plausibilität des Relativismus, sowie die Frage, bis zu welchem Ausmaß unsere Interpretationen imstande sind, in einem fremden Glaubenssystem Unvereinbarkeiten aufzuzeigen. Nick Jardine beschäftigt sich mit der Interpretation in der Wissenschaftsgeschichte, wobei sein Ziel eine Verteidigung der realistischen Auffassung ist, daß frühere Forscher mit denselben Gegenständen befaßt waren wie ihre gegenwärtigen Kollegen. Er kritisiert ein von Hilary Putnam verteidigtes Interpretationsprinzip — das „Prinzip des Zweifelsfalles" („principle of the benefit of the doubt") — und schlägt als Alternative eine Reihe von Prinzipien vor, die er unter Berufung auf eine Konsensustheorie des Gegenstandsbezugs verteidigt. Die Frage des Realismus bildet den Hintergrund für viele Aufsätze in diesem Band, wobei unter der realistischen Annahme jene zu verstehen ist, daß wir von der Wahrheit oder Falschheit eines Satzes auch dann sinnvoll sprechen können, wenn wir über keine Mittel verfügen, den Wahrheitswert des Satzes endgültig zu bestimmen. John McDowell verteidigt in seinem Beitrag eine gemäßigte Form des Realismus gegen die von Michael Dummett vorgebrachten antirealistischen Argumente. Dummett behauptet, daß unser Verständnis eines Gedankens durch unsere Kenntnis von Verfahren bestimmt sei, seine Wahrheit oder Falschheit festzustellen, und nicht durch ein Verständnis einer möglicherweise unentdeckbaren Wahr-

Einleitung

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heitsbedingung. Er bezweifelt damit die Verständlichkeit der Auffassung, es hätte in der fernen Vergangenheit Ereignisse geben können, die keine Spur zurückließen und nun unzugänglich sind. McDowell stellt diesen Antirealismus bezüglich seiner Folgen für unser Wissen sowohl von der Vergangenheit als auch vom Fremdpsychischen in Frage. Der abschließende Aufsatz stammt von John Dunn, der als praktizierender Sozialwissenschaftler an die in diesem Band aufgeworfenen Probleme herangeht. Er verteidigt eine interpretierende oder hermeneutische Auffassung des Verstehens menschlichen Verhaltens, sieht aber ein, daß die Probleme einer mentalistischen Auffassung intentionaler Zustände die Möglichkeit einer realistischen hermeneutischen Wissenschaft in Frage stellen. Er behauptet, daß diese Schwierigkeiten uns nicht von einem hermeneutischen Ansatz abhalten können, und meint, dieser Ansatz müsse nicht zu irgendeiner Form des Relativismus führen. Dieser Aufsatzband ist ein Nebenprodukt einiger kleiner Treffen von Philosophen und Sozialwissenschaftlern, die von der Thyssen Philosophy Group organisiert und durch die Großzügigkeit der Fritz Thyssen Stiftung finanziert wurden. Die Aufsätze stellen überarbeitete Fassungen einiger bei diesen Zusammenkünften gehaltener Vorträge dar. Im Namen der Thyssen Philosophy Group möchten wir der Fritz Thyssen Stiftung für ihre finanzielle Unterstützung, und dem Direktor der Stiftung, Herrn Dr. Gerd Brand, für seinen Rat und seine Förderung unseren Dank aussprechen. Januar 1977

CHRISTOPHER HOOKWAY PHILIP PETTIT

MARY H E S S E

Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften I

Viele Gründe wurden für die Annahme vorgebracht, daß die Sozialwissenschaften Methoden und Rechtfertigungsweisen erfordern, die sich von jenen der Naturwissenschaften unterscheiden, wie auch für die entgegengesetzte Auffassung, daß diese Methoden und Rechtfertigungsweisen dieselben seien oder sein sollten. Ich möchte hier nicht alle diese Argumente wiederholen, sondern mich vielmehr auf zwei Merkmale der Naturwissenschaften beschränken, die bereits erkennen lassen, daß die üblichen Argumente bezüglich dieser Ähnlichkeiten und Unterschiede unzureichend sind. Diese Merkmale können etwa in der nunmehr ziemlich unumstrittenen Aussage zusammengefaßt werden, daß alle wissenschaftlichen Theorien durch Tatsachen unterbestimmt sind, und in den viel umstritteneren Behauptungen, daß es deshalb weitere Kriterien für wissenschaftliche Theorien gebe, die rational zu diskutieren wären, und daß diese Kriterien Wertgesichtspunkte beinhalten könnten. Ob die Natur- und Sozialwissenschaften als einander ähnlich oder als von einander verschieden betrachtet werden, hängt natürlich von unserer Auffassung von den Naturwissenschaften ab. Die Auffassung, die ich hier voraussetzen, aber nicht begründen werde, ist jene, die im Zuge der jüngsten nach-deduktivistischen Diskussion bekannt geworden ist, der ich aber noch eine entscheidende pragmatische Dimension hinzufüge 1 . Sie läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1

Ich habe mich mit diesen Fragen in den Kapiteln 1, 2 und 12 meines Buchs The Structure of Scientific Inference (London, 1974) sowie in „ T r u t h and the Growth of Scientific Knowledge", abgedruckt in F. Suppe und P. D . Asquith (Hrsg.), PSA, 1976 (Philosophy of Science Association, East Lansing, Mich., 1976), auseinandergesetzt. Da der Begriff der „Unterbestimmtheit" vor allem von Q u i n e verwendet wurde, sollte ich betonen, daß ich seine Unterscheidung zwischen der „normalen wissenschaftlichen Induktion" und der „ontologischen Unbestimmtheit", die anscheinend die Auffassung impliziert, daß rein wissen-

Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften

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(1) Theorien sind in logischer Hinsicht dürch Tatsachen eingeschränkt, sind aber durch diese Tatsachen unterbestimmt. Während sie, um annehmbar zu sein, auf mehr oder minder plausible Art mit den Tatsachen übereinstimmen müssen, können sie durch Tatsachenaussagen allein weder endgültig widerlegt noch aus ihnen eindeutig gewonnen werden, so daß keine Theorie in einem bestimmten Bereich die allein annehmbare ist. (2) Theorien unterliegen einem historischen Wandel, und dieser erstreckt sich sogar auf die Sprache, die in den theoriebeladenen „Tatsachenaussagen" vorausgesetzt wird. Theorien setzen somit Begriffe voraus, deren Bedeutung zumindest teilweise durch den Zusammenhang der Theorie festgelegt wird. (3) Es gibt weitere entscheidende Kriterien für Theorien, die in verschiedenen geschichtlichen Abschnitten den Status vernünftiger Forderungen, Konventionen oder heuristischer Mittel erlangen. Zu diesen Kriterien zählen allgemeine metaphysische und faktische Annahmen, z. B. über Substanz und Kausalität, Atome oder Mechanismen, sowie formale Urteile über Einfachheit, Wahrscheinlichkeit, Analogie usw. (4) In der Geschichte der Naturwissenschaften haben diese zusätzlichen Kriterien bisweilen auch das umfaßt, was zurecht als Werturteile bezeichnet wird. Diese wurden im Laufe der Entwicklung der Theorien aber zunehmend ausgesondert. (5) Der „Aussonderungsmechanismus" wurde in den Naturwissenschaften durch die allgemeine Annahme eines ausschlaggebenden Wertes bestimmt, nämlich des Kriteriums der zunehmend erfolgreichen Vorhersage und Kontrolle der Umwelt. Im folgenden werde ich dies das pragmatische Kriterium nennen. Die Punkte (4) und (5) bedürfen einer weiteren Erläuterung. Werturteile in bezug auf die Wissenschaft können im allgemeinen von zweierlei Art sein. Sie können Bewertungen der Verwendung wissenschaftlicher Ergebnisse darstellen, wie etwa des Wertes der Krebsforschung oder des Unwertes der Atombombe. Es kann sich aber auch um Bewertungen handeln, die enger in die Theorienkonstruktion eingehen, und zwar als Behauptungen, daß es wünschenswert sei, daß die Welt ein bestimmtes Aussehen habe, und daß sie dieser Wunschvorstellung entweder entspricht oder nicht entspricht. Beispiele positiver Bewertungen von Tatsachen sind der Glauschaftliche Theorien schließlich durch induktive Methoden allein zu gewinnen seien, nicht akzeptiere. Einige Gründe dafür werden im folgenden dargelegt werden.

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Mary Hesse

be an die Vollkommenheit der Kugelsymmetrie, und somit der Glaube, daß der sichtbare Himmel die Symmetrie einer Kugel besitze; der Glaube, daß die Menschen sich am Mittelpunkt des Weltalls befinden sollten und sie diesen Mittelpunkt deshalb auch bilden, und daß sie unter den Organismen biologisch überlegen und einzigartig seien; der Glaube, daß es den Geist entwerten würde, wenn er als ein natürlicher Mechanismus betrachtet würde, und daß er deshalb nicht auf Materielles reduzierbar sei. Ein Beispiel einer negativen Bewertung einer Tatsache ist der marxistische Glaube, daß in der gegenwärtigen vorrevolutionären Phase des Klassenkampfs verschiedene Elemente des gesellschaftlichen Lebens, die anscheinend wertvolle Stützen der sozialen Stabilität darstellen, in Wirklichkeit Hindernisse für die gewünschte Revolution bilden und als solche zu entlarven seien. Angesichts eines solchen Glaubens erhält beispielsweise die Verelendung des Proletariats einen positiven Wert, und wird zur grundlegenden Kategorie für die Beschreibung komplexer gesellschaftlicher Tatsachen. Es ist die zweite Art von Bewertung in der Wissenschaft, mit der ich mich befassen werde. Alle Beispiele dieser Art werden in Behauptungen und nicht in Imperativen ausgedrückt und bringen folglich einen Ubergang von 5o//-Urteilen auf wi-Sätze mit sich. Sind sie nicht deshalb sofort als in jeder Form wissenschaftlichen Denkens ungültig zu verwerfen? Zwei Punkte können gegen diesen Einwand vorgebracht werden. Erstens gibt es zweifellos historische Beispiele, in welchen der genetische Fehlschluß nicht als ein Fehlschluß betrachtet wurde, so daß der Historiker bei der Beschreibung der in diesen Beispielen enthaltenen Gedankenprozesse zumindest Formen des Quasi-Schließens wie die vorhin genannten anerkennen muß. Die zweite und wichtigere Überlegung beruht aber auf dem oben angeführten Punkt (3): daß nämlich, weil kein Schluß von den Daten auf eine Theorie zwingend sein kann, weitere Entscheidungskriterien durchaus auch Tatsachenbehauptungen über die Welt beinhalten können. Diese beruhen aber manchmal in überzeugender Weise auf Urteilen, wie die Welt sein sollte. Hier liegt kein logischer Fehlschluß vor, da es sich gar nicht um einen logischen Schluß handelt, sondern vielmehr um die Wahl einiger Hypothesen, die unter vielen anderen möglichen in der Hoffnung zu untersuchen sind, daß die Welt sich je nach dem angenommenen Wertsystem als gut erweisen wird. Im Falle der Naturwissenschaften könnte hingegen eingewendet werden, daß die werthaften und teleologischen Annahmen der vergangenen Wissenschaft entweder widerlegt wurden oder durch Sparsamkeits- und

Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften

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Einfachheitskriterien für Theorien ausgesondert wurden. Es wäre ein Fehler, anzunehmen, sie hätten durch die Tatsachen allein widerlegt werden können, denn selbst wenn wir die starke Wertbeladenheitsthese (2) nicht annehmen, steht es im allgemeinen außer Zweifel, daß Tatsachen auf verschiedene Weise theoretisch interpretierbar sind und daß selbst wenn solche Werturteile als von ausschlaggebender Bedeutung (wichtiger als alles außer der Logik) betrachtet werden, man den Tatsachen gerecht hätte werden können, wenn auch vielleicht auf Kosten der Sparsamkeit. Aber die Forderung nach theoretischer Sparsamkeit oder Einfachheit ist aus zumindest zwei Gründen eine ebensowenig befriedigende Antwort. Erstens wurden Theorien, die auf den ersten Blick einfach schienen, oft zugunsten komplexerer Theorien aufgegeben. Beispiele sind die Feldtheorien anstatt der Fernwirkungstheorien, Atomtheorien statt phänomenologischer Volumens- und Gewichtsbeziehungen in chemischen Reaktionen, sowie das heliozentrische Weltbild des Kopernikus, in dessen Theorien mehr Parameter benötigt werden, als im überkommenen geozentrischen Weltbild. In den meisten dieser Fälle waren nicht die Tatsachen zusammen mit einer Einfachheitsbewertung ausschlaggebend, sondern die Tatsachen mit ihrer Interpretation im Rahmen eines verständlichen oder wünschenswerten Weltmodells. Zweitens ist es bisher noch niemandem gelungen, Definitionen von Einfachheit vorzulegen, die in allen jenen Fällen anwendbar wären, in denen man sich auf die Einfachheit berufen hat. Aber es ist zumindest klar geworden, daß es nicht einen einzigen, sondern viele Einfachheitsbegriffe gibt, und die Vermutung verstärkt sich, daß nicht die Einfachheit an sich ein endgültiges Entscheidungskriterium ist, sondern daß sie sich vielmehr unter Bezugnahme auf jene anderen Kriterien der Theorienwahl definieren läßt, die als auschlaggebend betrachtet werden. Das wichtigste dieser weiteren Kriterien ist in den Naturwissenschaften jenes, das ich als pragmatisches Kriterium erfolgreicher Vorhersagen bezeichnet habe. Beim Betrachten von Beispielen aus der Geschichte stellt sich für die Wissenschaftstheorie nicht so sehr die Frage nach den besonderen (gesellschaftlichen, biographischen, psychologischen usw.) Faktoren, welche die momentanen und kurzfristigen Entscheidungen von Einzelpersonen beeinflussen, sondern vielmehr die Frage, ob es ein allgemeines Kriterium für die langfristige Annehmbarkeit einer Theorie gegenüber einer anderen sowie für die Ersetzung alter Theorien durch neue gibt. Diese Frage setzt voraus, daß deshalb, weil alle formalen Kriterien der Verifikation, Bestätigung und Falsifizierbarkeit in bestimmten kurzfristigen wissenschaftlichen Situationen als Kriterium der Theorienwahl versagt

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zu haben scheinen, keine allgemeinen Kriterien für eine langfristige Theorienwahl zur Verfügung stehen. Revolutionäre Darstellungen der Wissenschaftsgeschichte haben aber nicht den Einwand beseitigt, daß die Naturwissenschaften sich hinsichtlich ihrer Theorien nicht nur als revolutionär darstellen, sondern in gewissem Sinne auch kumulativ und fortschrittlich sind, und mittels langfristigen Prüfens gesamter Theoriekomplexe die Verbindung mit der Erfahrungswelt bewahren. Beharrt man auf der Frage nach dem Subjekt des Fortschritts, so ist die einzig mögliche langfristige Antwort: die Fähigkeit, die Wissenschaft zu benützen, um die Umwelt zu erforschen und Vorhersagen zu machen, von deren Ergebnissen wir erwarten können, daß sie uns nicht überraschen. Unter dem „pragmatischen Kriterium" verstehe ich diese Neufassung des traditionellen empirischen Kriteriums der Bestätigung und Falsifizierbarkeit2. Mit der Zunahme erfolgreicher Vorhersagen sondert das pragmatische Kriterium sowohl Einfachheitskriterien als auch andere Werturteile aus. Durch einen historischen Rückblick kann man feststellen, daß in den frühen Stadien einer Wissenschaft Werturteile (wie die Stellung des Menschen im Mittelpunkt des Universums) einige der Gründe für die Wahl zwischen rivalisierenden unterbestimmten Theorien liefern. Mit der Entstehung einer systematischen Theorie und der Zunahme des Erfolges in pragmatischer Hinsicht können solche Urteile jedoch ausgeschaltet werden, und ihre Vertreter ziehen sich geschlagen aus der wissenschaftlichen Diskussion zurück. So wurden die theologischen und metaphysischen Argumente gegen Kopernikus, Newton und Darwin für die Wissenschaft in zunehmendem Maße unbedeutend. Das heißt natürlich nicht, daß unsere eigenen Vorlieben in Entscheidungen zwischen unterbestimmten Theorien nicht selbst durch unsere Werturteile und für selbstverständlich erachteten Glaubenseinstellungen beeinflußt wären oder daß sich diese nicht 2

Die holistische Auffassung von der Uberprüfung von Theorien, die Duhem in seinem Werk Ziel und Struktur der physikalischen Theorie (Leipzig, 1908; ursprünglich 1906 als La théorie physique: son ohjet et sa structure erschienen) entwickelte, kündigte den Niedergang der späteren und engeren Kriterien empirischer Prüfung an. Die Arbeiten von I. Lakatos haben in jüngster Zeit Wissenschaftstheoretiker mit dem Problem der theoretischen Annehmbarkeit in langfristiger historischer Perspektive vertraut gemacht, wenn auch seine Kriterien für „fortschrittliche Forschungsprogramme" nicht die prognostische Seite des pragmatischen Kriteriums wie es hier dargestellt wurde, einbeziehen. Siehe besonders seinen Aufsatz „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme", in I. Lakatos und A . Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt (Braunschweig, 1974).

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dem Rückblick zukünftiger Wissenschaftshistoriker erschließen würden. 3 Wenn ein solcher Einfluß auch sehr wahrscheinlich ist, so widerspricht er aber nicht dem Begriff der Zunahme des pragmatischen Erfolgs der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Wissenschaft. In einem bestimmten Sinn gehen Werturteile auch in die Annahme des pragmatischen Kriteriums selbst ein — in das Urteil, daß die Bedingung des Prognoseerfolgs allen anderen möglichen Kriterien der Theorienwahl vorausgehen soll. Das ist jenes Werturteil, welches natürlich nicht ausgesondert wird, sondern im pragmatischen Kriterium vorausgesetzt wird. Es ist ein Urteil, das vielleicht selten von einer wissenschaftlichen Gesellschaft der Vergangenheit wissentlich angenommen wurde, das aber, wie sich in zunehmendem Maße herausstellt, in der Zukunft wissentlich abgelehnt werden kann. Es ist hier nicht meine Absicht, die Beziehung zwischen dem, was ich als pragmatisches Kriterium bezeichnet habe, und orthodoxeren Theorien der Objektivität und Wahrheit im Detail zu erörtern. Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß aber noch etwas erwähnt werden. Erstens bringt der Begriff der „erfolgreichen Vorhersage" eine Schwierigkeit mit sich. Wenn wir die in Punkt (2) erwähnten vieldiskutierten Schwierigkeiten vernachlässigen könnten und eine theorieneutrale Beobachtungssprache annehmen, für die es eindeutig anwendbare Wahrheitskriterien gibt, könnten wir versucht sein, den Begriff der „zunehmend erfolgreichen Vorhersage" durch eine anwachsende Menge wahrer Beobachtungssätze zu definieren, die aus der Gesamtheit wissenschaftlicher Theorien ableitbar sind. Diese Schwierigkeiten können jedoch ebensowenig übergangen werden wie die daraus resultierende Tendenz, „Wahrheit" nicht im Sinne einer Ubereinstimmung, sondern als Kohärenz innerhalb einer gegebenen Theorie und damit als theorierelativ zu verstehen. D a in der Diskussion der Wahrheitstheorien noch keine Eindeutigkeit erzielt werden konnte, ist es besser, 3

Jüngere Studien zur Geschichte und Soziologie der Naturwissenschaften deuten an, daß der Einfluß von Bewertungen und außerwissenschaftlichen Standpunkten auf die Theoriebildung weit stärker war als allgemein anerkannt wurde. Siehe z. B. P. Forman, „Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, 1918—1927. Adaptation by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment", in R. McCormmach (Hrsg.), Historical Studies in the Physical Sciences, Band 3 (Philadelphia, 1971), die Aufsätze in M.Teich und R. M. Young (Hrsg.), Changing Perspectives in the History of Science (London, 1973), die zahlreichen Verweise in Barry Barnes, Scientific Knowledge and Sociological Theory (London, 1974), sowie David Bloor, Knowledge and Social Imagery (London, 1976).

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eine Deutung des Begriffs der erfolgreichen Vorhersage zu finden, die unabhängig von einer bestimmten Wahrheitstheorie ist. Ich schlage vor, sich hier aus pragmatischen oder erläuternden Gründen die tatsächliche Entwicklung der Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert vor Augen zu führen, die uns eine Ansammlung erfolgreicher Vorhersagen zeigt, die unabhängig vom Theorienwechsel und von bestimmten Begriffschemata sind, in denen wissenschaftliche Erfolge beschrieben werden. Ein Raumschiff fliegt ungeachtet dessen, ob dies eher in einem Newtonschen oder einem relativistischen Rahmen beschrieben wird. Pragmatische Erkenntnis kann ohne eine absolut theorieneutrale Beschreibungssprache gewonnen werden. Es ist vielleicht nützlich, eine Analogie (wenn auch nicht mehr als eine Analogie) zwischen der Methode der Naturwissenschaft und dem Programm eines Computers (etwa einer Zeichenerkennungsmaschine) herzustellen, der darauf programmiert ist, Umweltdaten zu verarbeiten und erfolgreiche Vorhersagen zu machen. Die Kriterien für den Erfolg einer solchen Maschine können unabhängig vom tatsächlichen „Sprach"-System angegeben werden, das der Computer verwendet, um Daten zu speichern und zu verarbeiten und um Anweisungen für die Uberprüfung von Theorien an weiteren Daten zu geben. Zwei oder mehrere Computer können gleichen Erfolg ungeachtet ihrer sehr unterschiedlichen internen Sprachsysteme haben, obwohl natürlich bestimmte Sprachsysteme für eine bestimmte Art von Daten brauchbarer sind als für andere Daten, und es im Programm sogar Feedbackmechanismen geben könnte, welche die Verwendung einer brauchbareren Sprache erlauben, wenn sich dies aus der Erfolgs- und Mißerfolgsrate ergeben sollte. Ein zweites mögliches Mißverständnis des pragmatischen Kriteriums könnte in der Tatsache gesehen werden, daß die auffallendsten Beispiele zunehmend erfolgreicher Vorhersagen technologische Anwendungen sind. Wissenschaftstheoretiker sollten sich wohl von dem von Popper stammenden Vorurteil lösen, pragmatische Anwendungen hätten nichts mit der Wissenschaftslogik zu tun. Andererseits ergibt sich aus erfolgreichen Vorhersagen nicht notwendigerweise eine technologische Verfügungsgewalt. Viele Theorien (etwa über Fossilien oder Quasare) erweitern unser pragmatisches Wissen, ohne deshalb bereits die Grundlage einer Technologie zu bilden. Eine dritte Schwierigkeit besteht darin, daß die Beziehung zwischen dem pragmatischen Kriterium und den einzelnen Wahrheitstheorien unklar ist und einer genaueren Prüfung unterzogen werden müßte als es hier

Theorien und Werte in den Sozialwissenschaften

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möglich ist. Im Falle einer bestimmten Version der Korrespondenztheorie, zu der Wahrheitstheoretiker nun in zunehmendem Maße neigen, scheint es zumindest keinen unüberwindlichen Gegensatz zum pragmatischen Kriterium zu geben. Die gegenwärtigen Korrespondenztheorien der Wahrheit werden oft mittels einer „Erfüllungsrelation" zwischen der Welt und den wahren Sätzen formuliert, und sind an sich unabhängig von der Frage, wie eine solche Erfüllung in bestimmten Fällen festzustellen sei. Mit solchen Feststellungen sind zahlreiche Schwierigkeiten verbunden — dieselben Schwierigkeiten, die dem Begriff der unterbestimmten Theorien und der Kritik an einer grundlegenden Beobachtungssprache anhaften. Das pragmatische Kriterium tauscht diese Schwierigkeiten gegen andere ein, indem es die Frage nach dem Bezug der theoretischen Sprache umgeht und sich auf die nichtsprachliche Idee der erfolgreichen Vorhersage stützt.

II Unserer Erörterung, ob die Naturwissenschaften, wie sie durch die Punkte (1) bis (5) charakterisiert werden, ein geeignetes Modell für die Sozialwissenschaften darstellen, lassen sich zwei weitere Punkte hinzufügen: (6) Es gibt in den Sozialwissenschaften gegenwärtig keine allgemeinen Theorien, die das pragmatische Kriterium von (5) erfüllen würden, und es ist vielleicht nicht einmal sinnvoll, sich solche Theorien überhaupt zu erwarten. Es gibt also keine Theorien, die zunehmend erfolgreiche Vorhersagen und Steuerungen im sozialen Bereich ermöglichen. (7) Da überdies die Annahme des pragmatischen Kriteriums selbst ein Werturteil einschließt, ist es möglich, sich gegen das Kriterium als ein ausschlaggebendes Ziel der Sozialwissenschaften zu entscheiden und andere Werte anzunehmen. Der Punkt (7) setzt nicht die Wahrheit von (6) voraus. Ich bezweifle sogar, daß (6) in allgemeiner Form beweisbar ist. In einer gegebenen Situation kann immer nur untersucht werden, worauf Klagen über die Rückständigkeit, theoretische Trivialität und empirische Unexaktheit der meisten Sozialwissenschaften beruhen, da doch andererseits auf speziellen Gebieten ein gewisser Erfolg im Aufstellen elementarer Gesetzeshypothesen erzielt werden konnte. Es hat zwar auf einer logischen Ebene Versuche gegeben, den nicht-naturwissenschaftlichen Charakter der Sozialwissenschaften zu beweisen. Man bezog sich dabei auf Charakteristika des Gegenstandsbereichs der Sozialwissenschaften, wie etwa auf seine Komplexi-

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tat, Instabilität und Unbestimmbarkeit, sowie auf die unvermeidliche Beeinflussung der Daten durch experimentelle Untersuchungen, den Selbstbezug sozialen Theoretisierens als Teil seines eigenen Gegenstandsbereichs usw. Ich glaube aber bereits deshalb nicht, daß solche Beweise je überzeugend sein können, da sich die meisten dieser Charakteristika auch in den Naturwissenschaften finden. Ziehen wir als Analogie für die naturwissenschaftliche Methode den Computer heran, der seine Umgebung vorherzusagen lernt, so folgt daraus unmittelbar, daß es einige Umgebungen und einige Arten von Daten geben wird, die aus einem der angeführten Gründe von einem Computer mit begrenzter Kapazität nicht gelernt werden können. Die soziale Umwelt kann eine solche Umwelt im Ganzen oder teilweise darstellen. Ich glaube nicht, daß sich hierüber eine stärkere Aussage treffen läßt und ich bezweifle, daß sich Versuche lohnen, diese Situation auf der allgemeinen und abstrakten Ebene eingehender zu formulieren. Die Erfüllung des pragmatischen Kriteriums durch bestimmte sozialwissenschaftliche Theorien muß Fall für Fall erörtert werden. Der Punkt (7) bleibt jedoch bestehen. Er wird in sozialwissenschaftlichen Abhandlungen marxistischer Richtung ausdrücklich anerkannt und findet sich auch in der älteren Tradition der verstehenden Sozialwissenschaft, sowie in ihrem jüngeren Sproß, der Hermeneutik (obwohl die beiden letzteren Traditionen die Dimension des „Interesses" vernachlässigen, das dem Marxismus zufolge der Sozialtheorie unvermeidlich anhaftet). Der restliche Teil dieses Aufsatzes wird einer Untersuchung der Folgen von Punkt (7) gewidmet sein. Es ist wichtig, zu erwähnen, daß Punkt (7), zusammen mit den Punkten (1) bis (5), eine Untersuchung zwischen zwei Arten von „Wertbeladenheit" in den Sozialwissenschaften impliziert. Die erste ist analog der Wertbeladenheit in den Naturwissenschaften und ist das, woran empiristische Philosophen bei ihren Versuchen dachten, Werturteile aus der wissenschaftlichen Sozialtheorie auszuschließen. Es ist jene Art von Werturteil, auf die ich mich in Punkt (4) bezog und die man mit theoretischen Interpretationen entweder aufgrund des selektiven Interesses des Forschers verbindet (der es z. B. vorzieht, stabile Systeme als Normen zu untersuchen) oder aufgrund der Annahme jener Hypothesen, welche die Welt als in mancher Hinsicht tatsächlich so darstellen, wie wir sie uns wünschen (so sind, je nach der bevorzugten Ideologie, erworbene Merkmale entweder ererbt oder nicht). Ich habe vorgeschlagen, das wesentliche Merkmal der Naturwissenschaften darin zu sehen, daß trotz der heuristischen Rolle, die solche Urteile in der Hypothesenbildung spielen mögen,

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sie durch die Wirkung des pragmatischen Kriteriums oft ausgesondert werden, und daß die Art, wie die Welt „sein sollte" oft ihrem wirklichen Zustand oder aber den einzigen glaubwürdigen und verständlichen Möglichkeiten widerspricht, Tatsachen und erfolgreiche Vorhersagen zu interpretieren. Wo sich das pragmatische Kriterium in den Sozialwissenschaften auswirkt, da erwarten wir, daß einige Werturteile auf ähnliche Weise ausgesondert werden. So scheint es etwa möglich, daß einige zur Zeit umstrittene Fragen über das Bestehen einer Beziehung zwischen dem Intelligenzquotienten und der Abstammung von einer bestimmten Rasse genügend genau formuliert werden könnten, um einer strengen Uberprüfung zugänglich zu werden, und daß daraus Gesetze abgeleitet werden könnten, die dem Kriterium der erfolgreichen Vorhersagen genügen würden (ob es aber wünschenswert wäre, sich in diesem Fall auf das pragmatische Kriterium zu berufen und es mit aller Strenge anzuwenden zu versuchen, ist eine völlig andere Frage). Wo das pragmatische Kriterium jedoch nicht auf eine konvergente Art angewendet werden kann, ist es auch nicht möglich, Werturteile auf solche Weise auszusondern. Es kann sich dann um eine zweite Art von Werturteil handeln, das bei der Auswahl jener Theorien, die wir unserer Betrachtung unterziehen, in verschiedenem Ausmaß den Platz des pragmatischen Kriteriums einnimmt. Diese Urteile sind Wertziele für die Wissenschaft, die in Konkurrenz zum pragmatischen Ziel des Erfolgs von Vorhersagen stehen. Alternative Ziele dieser Art wurden in der Literatur oft zur Kenntnis genommen, so etwa in Webers Kategorie der Wertrelevanz und in Myrdals Forderung einer ausdrücklichen Annahme eines Wertstandpunkts, vorzugsweise eines solchen, der einer tatsächlichen Machtgruppe innerhalb der Gesellschaft entspricht4. Alternative Wertziele wurden jedoch im allgemeinen eher in einem negativen Sinn zur Kenntnis genommen — insofern man ihre Rolle nämlich im „Entlarven" sogenannter nicht-objektiver Werturteile sah — und weniger als im positiven Sinn bewußt angenommene Ziele, die sich vom pragmatischen Kriterium unterscheiden. Es ist schwierig, solche Standpunkte, während sie wirksam sind, bewußt und deutlich zu machen, aber die Literatur ist zur Zeit voll von Arbeiten zur kritischen Soziologie der Soziologie, in denen die Stand4

M. Weber, Methodologische Schriften (Frankfurt, 1968) und Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. (Tübingen, 1968). G . Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung (Berlin, 1932), Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft (Hannover, 1965) und Objectivity in Social Research (London, 1970).

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punkte der Vergangenheit sowie jene anderer gegenwärtiger Gruppierungen von Soziologen „entlarvt" werden. Es ist eine bekannte Taktik von Marxisten, die nicht-intellektuellen Interessen sogar selbsternannter Positivisten aufzudecken: es wird gezeigt, daß die, welche sich am stärksten für eine wertfreie und objektive Sozialwissenschaft aussprechen, jene sind, die ein Interesse an der Beibehaltung des Status quo besitzen sowie daran, daß ihre Position nicht durch die Aufforderung zu ausdrücklicher Kritik und einer Auseinandersetzung über Werte erschüttert wird. Solche Arbeiten finden sich allerdings nicht ausschließlich unter den Studien marxistischer Autoren. So hat etwa Robin Horton eine interessante Analyse der Richtungen der Sozialanthropologie in diesem Jahrhundert vorgelegt, wobei er besonders den Wandel in den Einstellungen des Westens — in seinen imperialistischen und liberalen Perioden — gegenüber seinen ehemaligen Kolonien berücksichtigte, als diese politisch unabhängig wurden und nach kultureller Selbständigkeit strebten5. Weber traf eine sorgfältige Unterscheidung zwischen der Wertrelevanz und der Wertfreiheit des Sozialwissenschaftlers hinsichtlich einer politischen Tätigkeit. Er akzeptierte also, daß Urteile über Interessen den Gegenstand der Sozialwissenschaften auswählen sollen, lehnte aber die Annahme ab, der Sozialwissenschaftler als solcher solle seine Theorien dazu verwenden, um zugunsten einer bestimmten politischen Tätigkeit einzutreten. Sogar hinsichtlich der Wertrelevanz forderte er, man müsse letztlich die kausale Angemessenheit von Theorien nachweisen. Webers eigenes Wertinteresse gerade an der Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Kapitalismus und der protestantischen Ethik bestand zweifellos darin, die Marxsche Behauptung einer einseitigen Bestimmtheit des ideologischen Überbaus durch die ökonomische Basis zu widerlegen. Weber betont jedoch, daß seine Theorie solcher Beziehungen als eine sachliche Theorie über Ursache und Wirkung aufzufassen sei, die durch positive Beispiele bestätigbar und durch negative Beispiele widerlegbar ist. Ohne auf die Details von Webers methodologischen Erörterungen einzugehen, wird man ihm meines Erachtens durch die Feststellung gerecht, daß er das Ziel der Erkenntnis und der Geltendmachung von Wahrheit als ein für die Natur- und Sozialwissenschaften im wesentlichen gleichermaßen gelten-

5

R. Horton, „Levy-Bruhl, Dürkheim and the Scientific Revolution", in R. Horton und R . Finnegan (Hrsg.), Modes ofThought (London, 1973). Eine weitere Demaskierung des Positivismus findet sich in A. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise (Reinbek, 1974), besonders in Kapitel 4.

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des Ziel auffaßt, daß er jedoch eine zu einfache Auffassung von Kausalgesetzen in den Naturwissenschaften besitzt, die ihn zur Übertragung einer beinahe naiven Millschen Methode auf die Sozialwissenschaften verleitet. Er bezweifelt nicht, daß Urteile über Wertrelevanz von der positiven Wissenschaft getrennt und in diesem Sinn aus Schlußfolgerungen mit Erkenntnisanspruch „ausgesondert" werden können. Weber hat noch nicht den „wissenschaftstheoretischen Umschwung" mitgemacht, der sich mit dem Erkennen, Hinterfragen und vielleicht Ersetzen des pragmatischen Kriteriums in den Sozialwissenschaften ergibt. Er hat aber auch noch nicht die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Urteilen über Wertrelevanz getroffen — zwischen jenen, die letztlich durch das pragmatische Kriterium ausgesondert werden können, sowie solchen, von denen dies deshalb nicht zu erwarten ist, da sie von einer Kausalauffassung abhängig sind, die ebendieses Kriterium voraussetzt. Das Wesen dieses wissenschaftstheoretischen Umschwungs wurde von manchen anderen Sozialwissenschaftlern nicht verstanden. In einem Kommentar zu Myrdals Forderung nach einer völligen Eindeutigkeit des Wertstandpunkts und nach der Identifikation mit einer bestehenden Machtgruppe vermeint John Rex die darin inbegriffene Andeutung zu finden, daß Objektivität im Machtgleichgewicht solcher Gruppen bestünde und dieses Machtgleichgewicht „ziemlich objektiv bestimmbart" sei, so als ob das Gegebene durch den Standpunkt der mächtigeren Gruppe bestimmt wäre 6 . Wenn es auch wahr sein mag, daß die mächtigste Gruppe der Entwicklung des Gesellschaftssystems zu einem gewissen Grad ihren Willen auferlegen kann, folgt daraus noch keineswegs, daß unter Zugrundelegung des pragmatischen Kriteriums jene Theorie, die dem Wertstandpunkt dieser Gruppe entspricht, die wahren dynamischen Gesetze des Gesellschaftssystems liefert, noch daß mittels eines anderen Kriteriums als jenes, daß die Wahrheit im Lauf eines Gewehrs liege, die beste Theorie gefunden werden könne. O b in Großbritannien letzten Endes die Gewerkschaften oder die Scheichs die Macht erlangen, ist für die theoretische Annehmbarkeit der beiden damit verbundenen Wirtschaftsdoktrinen unbedeutend. Und immerhin könnten auch Christus und Sokrates die besten Theorien besitzen. Obwohl sich Myrdal selbst vorsichtiger gibt, läßt er die genaue Beziehung zwischen der Objektivität als Ziel der Naturwissenschaften und den 6

J. Rex, Grundprobleme S. 1 5 6 - 1 5 9 .

der

soziologischen

Theorie

(Freiburg,

1970),

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Wertkriterien wie sie in den Sozialwissenschaften unweigerlich angenommen werden müssen, doch weitgehend unberücksichtigt. Über die Wissenschaft im allgemeinen schreibt er: Unser ständig anwachsender Vorrat an Beobachtungen und Schlußfolgerungen ist nicht nur einer ständigen Kontrolle und kritischen Diskussion ausgesetzt, sondern wird bewußt geprüft, um verborgene Vorurteile und vorgefaßte Meinungen aufzudecken und zu korrigieren. Die vollständige Objektivität ist jedoch ein Ziel, das wir dauernd anstreben, aber nie erreichen können. Auch der Sozialwissenschaftler ist Teil der Kultur, in der er lebt, und er kann sich nie gänzlich von der Abhängigkeit befreien, die ihn mit den herrschenden Meinungen und Vorurteilen seiner Umgebung verbindet 7 .

Wenn „Objektivität" in diesem Sinn das unerreichbare Ideal darstellt, sind Wertungen ein notwendiges Übel. In einem negativen Licht betrachtet, ist es unwahrscheinlich, daß die Wahl zwischen Wertungen einer logischen oder philosophischen Prüfung unterzogen werden wird, und das Vakuum kann (wie Rex meint) durchaus von Machtkriterien oder Schlimmerem ausgefüllt werden. Stimmt es aber, daß die ideale Objektivität unerreichbar ist und daß Wertungen notwendig sind, s o täte der Philosoph sicherlich besser daran, diese Notwendigkeit in einem positiven Licht darzustellen und die Wertentscheidungen, die sich dann bieten, kritisch zu untersuchen. In den Punkten (4) bis (7) habe ich versucht, eine solche positive Sichtweise zu entwickeln, indem ich wertbeladene Theorien, die dem pragmatischen Kriterium unterliegen, von den Wertzielen unterschied, die für das gesamte Unternehmen der Wissenschaft angenommen werden. Mannheim ist ein weiterer Vertreter der Soziologie der Soziologie, der sich durch die Nichtbeachtung dieser Unterscheidung irreführen ließ. Er vertritt bekanntlich einen Relativismus der totalen Ideologie, demzufolge alles Wissen (außer auf den Gebieten der Logik, Mathematik und Naturwissenschaften) nur ein Wissen in bezug auf einen Beobachterstandpunkt ist 8 . In unseren Kategorien kann dies als eine Anerkennung der Wertbeladenheit der Sozialwissenschaften und als die Idee gedeutet werden, daß das Bewertungskriterium von einem Beobachterstandpunkt bestimmt wird. Mannheim stellt sich sodann die Frage, welcher Standpunkt am

7 8

Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, S. 121. F. Mannheim, Ideologie und Utopie (Bonn, 1929), besonders Kapitel 2 und 5. Es ist freilich eine Ironie, daß es die von Kuhn, Feyerabend und anderen vorgenommene Einführung ideologischer und sozialer Kriterien in die Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien ist, der eine bedeutende Rolle für das Wiederaufleben der gegenwärtigen Diskussion über die Wissenssoziologie zukam.

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ehesten die Ermittlung der Wahrheit ermögliche. Dies führt ihn dazu, die zwei klassischen marxistischen Antworten — der Standpunkt des Proletariats bzw. jener der klassenbewußten, der Partei angehörigen Teile des Proletariats — zu verwerfen und an ihre Stelle die Intelligenz zu setzen, die frei von Macht und Interessen sei und die Wissenssoziologie verstünde. Ungeachtet der Vorzüge, die diese Auffassung haben mag, ist es doch klar, daß Mannheim nun von seiner flüchtigen Idee einer letztlichen Festlegung auf Wertziele abgerückt ist und nach einem idealen Standpunkt Ausschau hält, von dem aus die Wahrheit so aufgefaßt wird wie in den Naturwissenschaften. Abgesehen von der Unrichtigkeit der Behauptung, die Intelligenz habe keine Interessen, gerät Mannheim dadurch in den logischen Zirkelschluß der Wissenssoziologie, der Gegenstand zahlreicher Untersuchungen ist: Von welchem Beobachterstandpunkt aus ist es wahr, daß die Intelligenz keine Interessen hat? Wie diese Frage auch immer beantwortet werden mag, ist es doch offensichtlich, daß eine so definierte Wahrheit noch immer relational ist und nicht objektiv im Sinne des pragmatischen oder eines anderen, für die Naturwissenschaften angenommenen, Kriteriums. Unter allen Autoren zur Wissenssoziologie ist es vielleicht noch am ehesten Alvin Gouldner, der den Punkt (7) ausdrücklich anerkennt. Nach einer gründlichen und vernichtenden Untersuchung der soziologischen Herkunft und der Determinanten der amerikanischen funktionalistischen Soziologie und nach einer kürzeren Analyse der sowjetischen Soziologie stellt er sich im Nachwort zu seinem Werk („Der Theoretiker zieht sich — teilweise — wieder auf sich selbst zurück") die entscheidende Frage: Was sind nun aber die soziologischen Wurzeln und Determinanten von Gouldners Bemühungen, die amerikanischen Soziologen zu entlarven? Er verwirft sodann ausdrücklich den Ansatz jener Methodologen, „die die Interaktion von Theorie und Forschung betonen, (. . .) die Rolle rationaler oder kognitiver Faktoren" 9 , d. h. der orthodoxen Wissenschaftstheoretiker, die Festlegungen auf Werte ablehnen. Der Soziologe müsse stattdessen reflexiv sein — seines eigenen Standpunkts bewußt — und müsse seine Verbundenheit damit auf eine Weise akzeptieren, die eine neue Praxis erforderlich macht — einen neuen Lebensstil, in dem es letztlich keine Trennung mehr zwischen seinen Rollen als Soziologe und als Mensch gibt. Aber wichtiger als dieser Ton eines beschaulichen Moralisierens ist Gouldners Beschreibung der Aufgabe des Soziologen: 9

Die westliche Soziologie in der Krise, S. 567.

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Mary Hesse Der Gesellschaftstheoretiker versucht im allgemeinen, die Spannungen zwischen einem sozialen Ereignis oder Prozeß, die er als real gegeben nimmt, und einem Wert, der dadurch verletzt wurde, zu reduzieren. Ein Großteil der Theoriearbeit nimmt ihren Ausgang von einem Mißverhältnis zwischen einer zugeschriebenen Realität und bestimmten Werten oder in dem unbestimmten Wert einer zugeschriebenen Realität. Theoriebildung ist deshalb nicht selten ein Versuch, es mit einer Drohung aufzunehmen — einer Bedrohung eines bestimmten Bereichs, in dem der Theoretiker selbst tief und persönlich vermittelt ist und an dem er hängt 10 .

So sind „die Französische Revolution, der Aufstieg des Sozialismus, die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 oder eine neue Welt der Werbung und der aggressiven Verkaufstechniken" persönlich erfahrene Tatsachen, die weniger eine Erklärung im Sinne der Naturwissenschaften (die wir vielleicht niemals geben werden können) erfordern als vielmehr eine Wiederbeschreibung (Deutung, Verstehen) in Kategorien, die diese Tatsachen in Ubereinstimmung mit einer gewählten Wertordnung bringen. Ein Vergleich mit Webers Wunsch, menschliche Ideale vor der Bestimmtheit durch ökonomische oder bürokratische Verhältnisse zu retten, bietet sich hier an, sowie ein Vergleich mit Dürkheims Einsicht, daß die Gesellschaft angesichts der zügellosen und unvernünftigen Wünsche der Menschen eines sozialen Zusammenhalts und Gleichgewichts bedürfe. Analogien lassen sich auch zum Ton des Protests herstellen, der dem Marxschen „wissenschaftlichen " Begriff der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft eigen ist und letztlich auch zu Gouldners eigenen, ziemlich offensichtlich negativen Bewertungen der Soziologien von Goffman und Garfinkel, deren Herkunft er „entlarvt" und deren Angemessenheit er nicht anhand einer fragwürdigen „Objektivität" beurteilt, sondern aufgrund seines eigenen Gefühls der moralischen Entartetheit ihrer Vorstellungen von der sozialen Welt („alles ist erlaubt", „Spione", „dämonisch", „Lager", „Sensationen", „der Schmerzensschrei ist (. . .) Garfinkeis Augenblick des Triumphes", „Sadismus")11. Im Lichte von Gouldners ziemlich klarer Annahme von Kriterien, die nicht dem pragmatischen Kriterium entsprechen, können wir die Herausforderung akzeptieren, die in seiner zu Beginn seines Buches getroffenen Äußerung enthalten liegt, daß nämlich, „ob Gesellschaftstheorien notwendigerweise Hintergrundannahmen zur Voraussetzung haben und logischerweise auf ihnen beruhen, ( . . . ) eine Frage [ist], die micht hier nicht beschäftigt. Sicher handelt es sich hierbei 10 11

Ebda., S. 568. Ebda., S. 453 - 4 7 2 .

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um ein wichtiges Problem, aber in erster Linie um eines, für das Logiker und Wissenschaftstheoretiker zuständig sind" 1 2 . Obwohl er hier scheinbar ein Agnostiker bleibt, liefert seine Analyse, wenn sie akzeptabel ist, doch gute Gründe für eine Annahme von Punkt (7) aus methodologischen Gründen, d. h. für die Erkenntnis, daß dort, wo das pragmatische Kriterium nicht zur Wirkung gelangt, andere Wertziele für die Sozialwissenschaften angenommen werden sollten 13 .

III Zusammenfassend möchte ich einige mögliche empiristische Mißverständnisse ausschalten, eine Folgerung für die Wissenssoziologie ziehen, und eine Analogie für die Wahl von Wertzielen vorschlagen. Es könnte der Einwand vorgebracht werden, daß ich aufgrund meiner Betonung der Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wahl von Wertzielen und theoretischen Wertannahmen in der Wissenschaft die Rolle, die das pragmatische Kriterium (oder eigentlich jedes vorstellbare realistische Wahrheitskriterium) in den Sozialwissenschaften tatsächlich spielt, vernachlässigt habe. Diesem Einwand würde ich entgegnen, daß nichts, was ich über die Wahl von Wertzielen gesagt habe, die Möglichkeit ausschließen soll, daß es in den Sozialwissenschaften Gebiete gibt, auf denen die Methoden und Kriterien der Naturwissenschaften brauchbar und wünschenswert sind. Es gibt allgemeine Gesetze menschlichen Verhaltens (wenn auch, wie ich meine, bloß elementare, in ihrem Wirkungsbereich eng begrenzte Gesetze), es gibt Modelle und Idealtypen, deren Folgerun-

12 13

Ebda., S. 4 3 . Ein weiterer Autor, der die Wahl von Wertzielen für die Erkenntnis klar herausstellt, ist J. Habermas, besonders im Anhang zur englischen Ausgabe von Erkenntnis und Interesse (Frankfurt, 1968), die 1972 unter dem Titel Knowledge and Human Interests erschien. Habermas trifft dort eine dreifache Unterscheidung zwischen dem technischen Interesse der empirischen Wissenschaften, dem praktischen Interesse der historischen Wissenschaften, das in Anlehnung an die hermeneutische Tradition als „die Intersubjektivität möglichen, die Handlungen steuernden, gegenseitigen Verstehens" (S. 310 der englischen Ausgabe) definiert wird, und dem emanzipatorischen Interesse der Sozialwissenschaften, deren Funktion die Kritik der herrschenden Gesellschaftsordnung sei. Im Lichte von Beispielen wie denen in Anmerkung 17 dieses Aufsatzes hieße eine solche Klassifikation jedoch, den Gegebenheiten eine allzu enge Zwangsjacke anzulegen.

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gen deduktiv untersucht und überprüft werden können, und es gibt begrenzte Vorhersagen, die sich manchmal als erfolgreich herausstellen. Wo diese Dinge zutreffen, spricht man von einer „Objektivität" auf sozialem Gebiet in genau demselben Sinn wie in den Naturwissenschaften, und wir können (müssen aber nicht) dieselbe Art von Wertzielen für die Sozial- wie für die Naturwissenschaften treffen. Meine Behauptung ist, daß es eine vorsätzliche blinde und die Verantwortung der Sozialwissenschaften als kognitive Disziplinen vernachlässigende Einstellung wäre, würde man die Tatsache übersehen, daß ein Großteil der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Theorien diesem Typus nicht entspricht und vielleicht nie entsprechen kann. Ich habe mich hauptsächlich mit der Folgerung befaßt, daß nicht-pragmatische Wertentscheidungen getroffen werden müssen. Natürlich wird es schwierig sein, Typen von Wertentscheidungen abzugrenzen, vor allem dort, wo man im Zweifel darüber ist, wie weit das pragmatische Kriterium angewendet werden kann und Anwendung finden soll, wie etwa in den jüngsten Diskussionen über die Vererbbarkeit von Merkmalen in bestimmten Rassen oder darüber, ob Garfinkel Daten über geistig stark beeinträchtigte Personen in ihren gewöhnlichen gesellschaftlichen Beziehungen sammeln soll. Es lassen sich für solche Auseinandersetzungen keine allgemeinen Regeln aufstellen, da es sich dabei im Grunde genommen um Auseinandersetzungen um den Wert der Ziele bestimmter sozialwissenschaftlicher Untersuchungen handelt. Aber dies alles bedeutet nicht, daß es in den Sozialwissenschaften keine Tatsachen oder Gesetze gibt oder daß, wenn es sie gibt, sozialwissenschaftliche Theorien nicht mit ihnen übereinstimmen sollen. Ebenso wie naturwissenschaftliche, sind auch sozialwissenschaftliche Theorien durch Tatsachen zwar eingeschränkt, nicht aber durch Tatsachen bestimmt. Ob wir mit Myrdal die Anwendung des Begriffs „Objektivität" über den Bereich solcher Tatsachen hinaus auch auf Wertentscheidungen ausdehnen wollen, ist eine zum Teil begriffliche Frage 14 .

14

Dies findet sich vor allem in Myrdals später erschienenen Buch Objectivity in Social Research (London, 1970), S. 55—6, in dem er die positivistische Auffassung von Objektivität, wie sie in Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft zum Ausdruck kommt, folgendermaßen ergänzt: „ D i e einzige Möglichkeit, nach der .Objektivität' theoretischer Analysen zu streben, besteht darin, Wertungen klar aufzuzeigen, sie bewußt und deutlich zu machen, und es ihnen zu gestatten, die theoretischen Untersuchungen zu bestimmen".

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Ein grundlegender empiristischer Einwand ist jedoch der folgende 15 . Man könnte vorbringen, daß das Aufzeigen gangbarer Zielsetzungen für die Sozialwissenschaften, die Alternativen zum pragmatischen Kriterium darstellen, sehr schwierig ist und daß weiter in jenen Fällen, wo solche Zielsetzungen anscheinend aufgezeigt und beschrieben werden, sie in der Praxis doch immer auf das pragmatische Kriterium zurückgreifen. Um alternative Zielsetzungen vorzuschlagen, hat man sich traditionellerweise auf verschiedene Versionen des hermeneu tischen Ansatzes berufen. Es scheint jedoch, daß man mit jedem Versuch, das Verhalten einer Person zu verstehen, seine eigenen Erwartungen bezüglich ihres zukünftigen Verhaltens zu erfüllen versucht. Jede menschliche Interaktion hängt vom Erfolg solcher Vorhersagen von Reaktionen aufeinander ab, und das kommt doch einer Anwendung des pragmatischen Kriteriums nahe. Es überrascht deshalb keineswegs, wenn die erfolgreiche Erfüllung von Erwartungen als ein Kriterium jeden Urteilens über die Welt — einschließlich aller induktiven Verallgemeinerungen niedrigster Stufe — angetroffen wird. Dieses Argument darf jedoch nicht so ausfallen, daß seine Beweiskraft zu groß ist. Es zeigt sicherlich nicht, daß das pragmatische Kriterium, wie es in Punkt (5) beschrieben ist, ausreicht, um die theoretische Interpretation des Verhaltens von Menschen eindeutig festzulegen, denn es ermangelt in diesem Zusammenhang der weitreichenden und systematischen Allgemeinheit, die für die Naturwissenschaften typisch ist, und es ermangelt somit auch eines Aussonderungsmechanismus, der letztlich Werturteile als Kriterien der Theorienwahl eliminieren würde. Nun scheint noch eine Bemerkung zu den Konsequenzen angebracht, die unsere Überlegungen für die Wissenssoziologie haben. Ob wir erkenntnistheoretisch vorbelastete Begriffe wie „Wissen", „Objektivität", „Wahrheit" und „Erkenntnis" auf annehmbare sozialwissenschaftliche Theorien anwenden wollen oder nicht, so folgt aus meinen Behauptungen doch, daß die Kriterien für die Annehmbarkeit pluralistisch sind — ebenso vielseitig wie unsere Wahl von Wertzielen. Und wenn wir von der Wahl von Werten sprechen wollen, so müssen wir auch einen bestimmten Freiheitsraum in unseren theoretischen Überlegungen voraussetzen. Wir sind nicht gänzlich daran gebunden, bestimmte Theorien aufgrund von Tatsachen, aufgrund unserer Annahme bestimmter Wertziele, oder aufgrund der sozialen und ökonomischen Umgebung anzunehmen. Es wäre mit 15

Dieser Einwand wurde von Teilnehmern des Kolloquiums vorgebracht, das vom 2 6 . - 2 8 . September 1975 in Ross-on-Wye stattfand.

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dieser These also unvereinbar, eine Form der Wissenssoziologie zu vertreten, derzufolge die sozioökonomische Basis alles Wissen prägt, wahrscheinlich auch die Annahme oder Ablehnung der Wissenssoziologie selbst. Wie bereits von zahlreichen Autoren gezeigt wurde, ist eine solche deterministische Ansicht — wenn nicht geradewegs selbstwidersprüchlich — so doch selbstvernichtend16. Meine Darstellung der Wertbasis der Sozialwissenschaft enthält allerdings eine schwächere Form einer Wissenssoziologie, da einer der Gründe für die Annahme, die Wahl von Werten sei von sozialwissenschaftlichen Theorien nicht trennbar, gerade darin besteht, daß gezeigt werden kann, daß die Theorien anderer Menschen (und bisweilen auch die eigenen) teilweise durch die soziale Umwelt bestimmt sind. Wenn nun dieses „gezeigt werden kann" im Sinne eines objektiven, empirischen Wissens verstanden wird, sind wir wieder mit dem Dilemma konfrontiert, entweder zumindest hier eine Art objektiv empirischer und interessensunabhängiger Soziologie akzeptieren zu müssen, oder aber die Beweisbarkeit der Abhängigkeit unserer Theorien von der sozialen Umwelt nur auf der Grundlage einer weiteren, und wahrscheinlich durch Interessen beeinflußten, Wertwahl vertreten zu können. Die erste Alternative ist verhängnisvoll; die zweite kann allerdings aufgrund der hier vertretetenen pluralistischen Vorstellung der Wahl von Werten angenommen werden. Die Frage lautet nun: Selbst wenn wir nicht gezwungen sind, die schwächere wissenssoziologische These anzunehmen, fügt sie sich nicht unserem Wertsystem als wünschenswerter Bestandteil ein, der unklare Bereiche der gesellschaftlichen Interaktion erhellt und zu unserem Verständnis anderer Menschen sowie zu unserem Selbstverständnis beiträgt? Diese Frage kann nur durch Betrachtung bestimmter Beispiele und unter Berücksichtigung persönlicher Reaktionen auf diese beantwortet werden. Für mich selbst möchte ich sagen, daß ich viele Beispiele in den Werken von Marx, Mannheim, Myrdal, Gouldner, und mancher Vertreter der „kritischen Soziologie" aufschlußreich finde 17 . 16

17

Vgl. dazu meinen Aufsatz „Models of Method in Natural and Social Sciences", Methodologe and Science 8 (1975), S. 163. In R. Blackburn (Hrsg.), Ideology in Social Science (London, 1972) finden sich einige gute (und manche schlechte) Beispiele „kritischer Soziologie". C . B . Macpherson beschreibt die Funktion der Sozialtheorie als Rechtfertigung eines Gesellschaftssystems (ebda., S. 19, 23; vgl. dazu auch Gouldners vorhin zitierte „Spannungsminderung"). Andererseits sieht M. Shaw in seiner Kritik an Gouldner das Ziel in der Überwindung der akademischen Soziologie „durch die

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25

Zuletzt noch eine nützliche Analogie: Ich schlage vor, das Vorbringen einer sozialwissenschaftlichen Theorie eher im Sinne einer politischen Argumentation, und nicht einer naturwissenschaftlichen Erklärung, aufzufassen. Es soll nach Tatsachen suchen und, soweit solche vorhanden sind, sie berücksichtigen. Es kann aber nicht eine möglicherweise unerreichbare vollständige Erklärung abwarten. Das Vorbringen einer sozialwissenschaftlichen Theorie muß sich ausdrücklich auf Werturteile berufen und kann sich sogar rhetorischer Uberredungsversuche bedienen. Zweifellos sollte es sich von den meisten politischen Argumentationen dadurch unterscheiden, daß es sich gewissenhafter um das Aufsuchen und Berücksichtigen von Tatsachen bemüht und seine Rhetorik nicht in derbe Apologetik und demagogische Propaganda ausarten läßt. Hier kommt das Erbe naturwissenschaftlicher Tugenden dem Sozialwissenschaftler zur Hilfe, und ich hoffe, daß nichts von dem, was ich gesagt habe, als Untergrabung dieser Tugenden ausgelegt wird. Die Tatsache, daß die hier dargelegte Sicht der Sozialwissenschaften häufig mit der besonderen Wertentscheidung der revolutionären Linken verbunden wird, schwächt meine These nicht im geringsten, noch wird dadurch die Notwendigkeit für die gemäßigte Mitte und Rechte gemindert (sondern vielmehr verstärkt), sich um die eigenen Wertentscheidungen zu kümmern 18 . Weder das liberale Leugnen, daß es solche Wertentscheidungen gibt, noch ihre zynische Verbannung aus dem Bewußtsein seitens der Rechten, werden der Sache gerecht. Hume versuchte, Wahrheitsfragen von Wertfragen zu trennen, während manche wissenschaftliche Humanisten versucht haben, Werte aus Tatsachen abzuleiten. Aus meinen Ausführungen folgt wiederum, daß Entwicklung des revolutionären Selbstbewußtseins der Arbeiterklasse" (ebda., S. 44). In gemäßigterer Weise meinen S. W. Rousseas und J. Farganis, daß die (von einer Sozialtheorie untrennbare) Ideologie „sich mit der Lage der Menschen und ihrer Verbesserung in einer unvollkommenen Welt befassen muß. Ihre Berechtigung besteht, kurz gesagt, im Fortschritt" (I. L. Horowitz (Hrsg.)),

The New Sociology: Essays in Social Science and Social Theory in Honour of C. Wright Mills (Oxford, 1964), S. 274.

18

Es ist erwähnenswert, daß G. S. Jones in einem von Althusser inspirierten Aufsatz in Blackburns Ideology die Idee zurückweist, daß Werte oder Interpretationen bei der Theorienwahl im Spiel seien, und behauptet, daß viel eher neue Vorstellungen von Struktur vonnöten seien (S. 114). Der hartgesottene Marxist kehrt also zu einer Auffassung der Sozialwissenschaften zurück, die diese als ausschließlich wertbeladen betrachtet, wenngleich natürlich die Theorie (und die Werte) jene von Marx sind.

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zumindest in den Humanwissenschaften ein nicht rein pragmatischer Sinn von „ W a h r h e i t " aus einer Vorentscheidung für bestimmte Werte und Ziele ableitbar ist 1 9 .

19

Ich möchte allen jenen danken, die auf dem Treffen der Thyssen Philosophy Group in Ross-on-Wye eine erste Fassung dieser Arbeit kommentierten, sowie David Thomas für die Gespräche, die ich mit ihm über Wertprobleme in den Sozialwissenschaften führen konnte.

CHRISTOPHER HOOKWAY

Unbestimmtheit und Interpretation I Anthropologen versuchen oft, den Mitgliedern der von ihnen untersuchten fremden Stämme Auffassungen und Wünsche zuzuschreiben. Sie hoffen, sich ein Verständnis des Verhaltens der Einheimischen dadurch zu sichern, daß sie ihnen verschiedene kognitive Einstellungen zuschreiben und Deutungen ihrer Sprache vornehmen. Das Datenmaterial, das den Forschern zur Verfügung steht, ist anscheinend sehr begrenzt. Sie können die Handlungen der Einheimischen beobachten, nicht aber die intentionalen Beschreibungen, die diese Handlungen kennzeichnen. Sie können beobachten, welche sprachliche Verhaltensweisen die Einheimischen von sich aus hervorbringen oder anerkennen, und schließlich können sie beobachten, unter welchen Bedingungen diese Handlungen und Äußerungen auftreten. Es ist zweifelhaft, ob den Forschern ein umfangreicheres Datenmaterial zur Verfügung steht als dieses. Sie verfügen über eine nicht-intentionale Kennzeichnung des Verhaltens einer Person und über bestimmte Beziehungen der Person zu ihrer Umwelt, und müssen nun auf dieser Grundlage interpretative Theorien entwickeln, die über den nicht-intentionalen Bereich hinausgehen. Jeder derartige Versuch stößt jedoch auf eine Schwierigkeit: Es scheint, daß interpretative Theorien durch die verfügbaren nicht-intentionalen Daten unterbestimmt sind, und das kann zu einer skeptischen Haltung gegenüber der Möglichkeit der von den Anthropologen versprochenen Kenntnis fremder Kulturen führen. Die Hindernisse, die einem Verständnis des Verhaltens von Einheimischen im Weg stehen, verbleiben auch dann, wenn wir das allgemeine Problem des Fremdpsychischen gelöst haben. Wir müssen zum Beispiel in Betracht ziehen, daß Menschen einen Maßstab für Vernünftigkeit besitzen können, der von unserem abweicht. Wenn wir die Auffassung vertreten, daß Intentionalität hinsichtlich ihrer funktionellen Rolle in einer durch Regeln festgelegten Praxis zu erklären sei, werden wir zugeben müssen, daß die durch bestimmte Sätze einer fremden Sprache ausgedrückten funktionellen Rol-

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Christopher Hookway

len in unserer eigenen Sprache überhaupt nicht ausdrückbar sind. Man nimmt an, daß die kognitiven Zustände und Haltungen der Einheimischen sich unserer Untersuchung als objektive Gegenstände darbieten, deren Untersuchung kritische Methodenprobleme aufwirft. Man wählt somit einen realistischen Zugang zu dieser Frage. So meint etwa Martin Hollis, man müsse annehmen, daß die Einheimischen unseren Rationalitätsmaßstab teilen, und er betrachtet das als ein wichtiges apriorisches Prinzip über die menschliche Wesensart 1 . Peter Winch scheint zu glauben, daß der Forscher versuchen müsse, in die regelgeleiteten Gewohnheiten einzudringen, die für die einheimische Lebensform bestimmend sind 2 . Beide halten die Schwierigkeiten des Anthropologen vor allem für methodologische. Hollis erkennt, daß solche Schwierigkeiten auch mit dem Versuch verbunden sind, Mitglieder der eigenen Kultur zu verstehen, scheint dies aber nicht als der Objektivität dieser Fragen abträglich zu sehen — wahrscheinlich meint er, daß solche Schwierigkeiten nicht meinem Verständnis meiner eigenen Geisteszustände anhaften. Ich vermute, daß Winch den Trennungsstrich zwischen dem Verstehen von Mitgliedern der eigenen und Mitgliedern einer fremden Kultur ziehen würde. Ich möchte in diesem Aufsatz ein Argument untersuchen, das von den Methodenproblemen des Anthropologen zu der Auffassung führt, daß zu den wesensmäßigen Eigenschaften von Handlungen, kognitiven Einstellungen und sprachlichem Verhalten keine intentionalen Bestimmungen gehören. Ein Ubersetzer kann also nicht nach der Bedeutung des Satzes S einer fremden Sprache fragen. Er muß stattdessen nach der Bedeutung fragen, die S durch das Übersetzungsschema T beigelegt wird, wobei es zu T empirisch völlig ausreichende Alternativen gibt, die für S allerdings nichtäquivalente Ubersetzungen liefern würden. Quines These von der Ubersetzungsunbestimmtheit versucht mittels eines solchen Arguments eine nichtrealistische Einstellung gegenüber psychischen Zuständen zu rechtfertigen. In weiterer Folge legt sie die Grenzen angemessener Theorien des Geistes fest, die wiederum Auswirkungen für jene besitzen, die fremde Kulturen verstehen wollen. Sie stellt eine Grundlage für manche Argumente zugunsten einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften dar. Trifft diese These zu, so liefert sie eine abstrakte Formulierung eines Problems, von dem ausgehend 1

2

M. Hollis, „The Limits of Irrationality", in B. Wilson (Hrsg.), Rationality (Oxford, 1970). P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (Frankfurt 1966).

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sich eine Anzahl von Antworten auf Probleme, die mit dem Verstehen anderer Kulturen und anderer Mitglieder der eigenen Kultur verbunden sind, klar ausdrücken lassen. Quine hat mehrere Versuche unternommen, seine These und die Argumente zugunsten dieser These zu formulieren. Leider ist keiner dieser Versuche besonders klar, sodaß ich es für sinnvoll erachtet habe, einen beträchtlichen Teil dieses Aufsatzes einem Versuch zu widmen, die These und die Argumente darzulegen. Eine Anzahl von Widerlegungsversuchen wurde angeboten, aber die meisten scheinen am Wesentlichen vorbeizugehen. Auch dafür gibt es eine Reihen von Gründen, und zwei davon sollen hier erwähnt werden. Vielleicht ist es nützlich, zwischen drei Fragen zu unterscheiden, die sich uns stellen: (1) Sind Ubersetzungen unbestimmt? (2) Wie groß ist das Ausmaß der Unbestimmtheit? (3) Wie sollen wir uns angesichts der Unbestimmtheit unserer naturwissenschaftlichen Theorien sowie unserer Auffassung von psychologischer Forschung verhalten? Während die beiden letzteren Fragen eine positive Antwort auf (1) voraussetzen, kann eine Vielzahl von Antworten auf (2) und (3) mit der Unbestimmtheitsthese verträglich sein. Quine setzt sich mit allen diesen Fragen auseinander und bezieht jeweils einen bestimmten Standpunkt. Wir können also mit einem Großteil von Quines Erörterung nicht übereinstimmen, ohne deshalb die Übersetzungsbestimmtheit in Zweifel zu ziehen. Es kommt Quine in Wort und Gegenstand über weite Strecken darauf an, zu zeigen, daß die Quantifikation und Identität, welche die ontologischen Verpflichtungen einer Theorie aufweisen, von der Ubersetzungsbestimmtheit betroffen sind. Sogar die ontologischen Verpflichtungen eines Beobachtungssatzes werden als unbestimmt aufgefaßt. Wir könnten geneigt sein, diese Auffassung abzulehnen und zu bestreiten, daß die Übersetzung von „Gavagai" unbestimmt ist, ohne deshalb zu bestreiten, daß einige Übersetzungen unbestimmt sind. Die Unbestimmtheitsthese wird durch die Anwendung eines sehr abstrakten Arguments gerechtfertigt, das auf methodologischen Eigenschaften der Ubersetzungssituation beruht: sie kann nur dadurch widerlegt werden, daß die Unwirksamkeit des abstrakten Arguments aufgezeigt wird. Die Diskussion über die These von der Ubersetzungsunbestimmtheit enthält auch einen Zirkelschluß, der jedoch harmlos und angesichts von Quines Philosophieauffassung unvermeidlich ist, der aber für einen Außenstehenden die jeweiligen Standpunkte unzugänglich erscheinen läßt. Eine mögliche Antwort auf (3) besteht

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sicherlich darin, zu zeigen, daß die Unbestimmtheitsthese aus seiner Bevorzugung des Physikalismus folgt. Dieses Argument ließ einen Kritiker den Einwand äußern, daß die These von zweifelhaften physikalistischen Annahmen abhängig sei. Quine scheint die These jedoch andererseits auch zur Verteidigung seines Physikalismus zu verwenden und ähnelt darin eher Davidson, dem die Unregelmäßigkeit geistiger Phänomene als Argument zugunsten einer physikalistischen und monistischen Theorie der Natur dient 3 . Das Problem liegt hier teilweise in der Schwierigkeit, zwischen Stellen zu unterscheiden, in denen sich Quine mit unserer ersten Fragestellung befaßt und solchen, in denen er die dritte Fragestellung aufgreift. Sein physikalistisches Mißtrauen gegenüber einer hervorgehobenen Stellung der Philosophie führt Quine sogar dazu, seine methodologischen und ontologischen Untersuchungen als Teil der Theorie der Natur zu betrachten. Seine Untersuchungen können nicht umhin, seine Ansichten über die Grenzen annehmbarer Forschung zum Ausdruck zu bringen. Ich hoffe jedoch, daß wir in der glücklichen Lage sind, in vielen Schriften Quines eine abstrakte Argumentationsstruktur zu erkennen, die nicht auf Annahmen beruht, die bereits auf den ersten Blick unannehmbar sind.

II Was besagt also die Unbestimmtheitsthese? In "Wort und Gegenstand bietet Quine drei Formulierungen dieser These an, von denen sich allerdings nur eine direkt auf die Situation der Ubersetzung bezieht. Das sprachliche Wissen eines Sprechers — die Bedeutungen, die er seinen Wörtern beilegt — kommt in erster Linie in seinen Neigungen zum Ausdruck, Sätzen zuzustimmen oder mit Sätzen nicht übereinzustimmen. Wollen wir sein sprachliches Wissen ergründen, müssen wir seinen Wörtern auf eine solche Art Bedeutungen beilegen, daß wir eine Erklärung seiner sprachlichen Neigungen — besonders seiner Neigungen, Sätzen zuzustimmen oder sie abzulehnen — erzielen. Es geht darum, seine Wörter so zu interpretieren, daß sie eine verständliche Menge von Annahmen ausdrücken. Später können wir den Bereich des zu berücksichtigenden Sprachverhaltens erweitern wollen, obwohl dies von uns verlangen würde, Annahmen über Wünsche zu machen. Von dem Hintergrund dieser Auf3

D. Davidson, „Mental Events", in L. Foster und J. W. Swanson (Hrsg.), Experience and Theory (London, 1970).

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fassung vom Sprachverhalten trifft Quine die erste Formulierung seiner These folgendermaßen: Zwei Menschen könnten unter allen möglichen Reizeinflüssen auf ihre Sinne in all ihren Dispositionen zu verbalem Verhalten genau übereinstimmen, und dennoch könnten die jeweiligen Bedeutungen oder Ideen, die durch ihre identisch ausgelösten und identisch lautenden Äußerungen ausgedrückt würden, in einem weiten Bereich von Fällen radikal auseinandergehen4.

Diese Formulierung macht noch immer von einer mentalistischen Ausdrucksweise Gebrauch und erinnert an den aus den Schriften von C. I. Lewis und Russell bekannten Skeptizismus: es gibt keinen Grund, nicht zu glauben, wir würden alle eine eigene Welt privater Bedeutungen bewohnen, sodaß die Unterschiede zwischen unseren Bedeutungen prinzipiell unentdeckbar wären. Ein solches Bild stellt sicherlich den Hintergrund eines Großteils der Quineschen Ausführungen dar, und wenn wir nicht gewillt sind, seine ontologischen Folgerungen aus Quines Argument zu ziehen, sind wir auf diesen Standpunkt vielleicht auch festgelegt. Quine muß allerdings eine Umformulierung vornehmen, in der nicht mehr von Bedeutungen gesprochen wird: Die Gesamtheit der Sätze der Sprache eines Sprechers läßt sich so permutieren bzw. auf sich selbst abbilden, daß (a) die Gesamtheit der Dispositionen des Sprechers zu verbalem Verhalten unverändert bleibt und daß (b) die Abbildung dennoch keine bloße Korrelation von Sätzen mit äquivalenten Sätzen ist (in einem plausiblen Sinne von Äquivalenz, und sei er auch noch so unbestimmt)5.

Eine weniger abstrakte Umschreibung fügt sich unmittelbar daran an: Handbücher der Ubersetzung von einer Sprache in die andere können auf voneinander verschiedene Weise eingerichtet sein, so daß sie alle mit der Gesamtheit der Rededispositionen in Einklang stehen und doch miteinander unverträglich sind6.

Will ich also eine Übersetzung aus Li in L2 vornehmen, stehen mir dazu als Alternativen verschiedene Wörterbücher zur Verfügung. Beobachtungen des Sprachverhaltens von Sprechern liefern keine Grundlage, um zwischen ihnen zu unterscheiden: die zweite und dritte Formulierung treffen diese Feststellung jeweils für den Fall, daß Li gleich L2 ist bzw. daß Li von L2 verschieden ist. (Diese Ausdrucksweise ist zwar nicht wirklich zufriedenstellend, außer man verfügt über das geeignete Kriterium für die Identität

4 5 6

W. V. O . Quine, Wort und Gegenstand Ebda., S. 60. Ebda.

(Stuttgart, 1980), S. 59f.

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von Sprachen. Ich glaube aber, daß der hier zum Ausdruck gebrachte Gedanke einleuchtend ist.) Sofort tauchen Probleme der Auslegung auf, wie zum Beispiel: In welchem Sinn können die alternativen Ubersetzungswörterbücher als unverträglich bezeichnet werden? Darauf muß ich in weiterer Folge zurückkommen. Zuerst ist zu beachten, daß die bisher betrachteten Formulierungen nur besagen, daß nicht einmal alle möglichen Beobachtungen von Sprachverhalten eine einzige Interpretation der Sätze einer Sprache festlegen. Quine möchte offensichtlich eine weitere Schlußfolgerung ziehen: nicht nur ist die Ubersetzung durch die jeweiligen Daten nicht bestimmt, sondern es handelt sich im Fall der Ubersetzung gar nicht darum, ob eine der Theorien (Ubersetzungswörterbücher) wahr ist und die anderen falsch sind. Der Ubersetzer muß erraten, welche der zulässigen Theorien korrekt ist, wie es auch C. I. Lewis zufolge der Fall wäre. W o eine Unbestimmtheit der Übersetzung vorliegt, stellt sich nicht die Frage einer richtigen Wahl: selbst innerhalb der zugestandenen Unterbestimmtheit einer Theorie der Natur handelt es sich nicht um einen Unterschied bezüglich Tatsachen 7 .

Die schwierigsten Aspekte des Arguments betreffen diese zusätzliche Behauptung. Quine verwendet die Aus drucks weise der grundlegenden Ubersetzung. Wir sollen uns dabei die Lage eines Übersetzers vor Augen führen, der mit Sprechern einer völlig fremden Sprache konfrontiert ist. Dieses Problem wird als Modell für die Interpretationsbemühungen eines Übersetzers verwendet, der andere Sprecher einer Sprache verstehen will, mit der er oder seine Kollegen vertraut sind. Jene zusätzlichen Hilfen, die die Aufgabe des letzteren Ubersetzers leichter zu machen scheinen, erweisen sich in Wirklichkeit als irreführend. Wir verstehen es alle, mit der Unbestimmtheit zu leben. Es gibt Entscheidungsprinzipien, die wir dazu verwenden, die Anzahl konkurrierender Ubersetzungswörterbücher zu verringern. Einige davon sind leicht anwendbar und werden beinahe allgemein akzeptiert. Interpretiere ich beispielsweise die Ausdrücke von Englischsprechenden, deren Sprache ich also teile, versuche ich einzuräumen, daß sie Wörter so verwenden, wie ich sie verwende. Will man Sprecher des Französischen verstehen, ist es ratsam, sich an die festgelegten Ubersetzungsgewohnheiten zu halten. Manche haben versucht, Quine dadurch zu 7

W . V. O . Quine, „Replies", in D. Davidson und J . Hintikka (Hrsg.), Words and Objections: Essays on the Work ofW. V. Quine (Dordrecht, 1969), S. 303.

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widerlegen, daß sie Ubersetzungsprinzipien vorschlugen, welche die Auswahlmöglichkeiten begrenzen. Quines Antwort darauf ist, daß es sich dabei um „regulative Maximen" handle, deren Annahme zwar nicht völlig willkürlich sei, die aber dennoch nicht als methodologische Prinzipien des Beweises gelten dürften, die der Forschung dienlich wären. Solche Prinzipien helfen, die Frage der Verwendung von Wörterbüchern zu beantworten, geben aber keine Antwort auf die Frage, welches Wörterbuch die echten Bedeutungen enthält. Aus der Perspektive der Forschung geht es dem „grundlegenden" Ubersetzer also nicht schlechter als dem Benützer derselben Sprache. Wir befassen uns deshalb vorrangig mit der Problematik des ersteren, um einen irreführenden Anschein zu vermeiden.

III Das interessanteste Argument, das von Quine vorgebracht wurde (und das als das „Argument von oben" bezeichnet wird 8 ), scheint eine sehr einfache Struktur aufzuweisen, (a) Nimm als Prämisse an, daß die Theorie der Natur durch alle möglichen Beobachtungen unterbestimmt ist — vielleicht durch alle möglichen Beobachtungen und die methodischen Prinzipien der Wissenschaft, (b) Daraus folgt, daß Ubersetzungen durch alle möglichen Beobachtungen unterbestimmt sind, (c) In weiterer Folge ergibt sich daraus, daß wir, wenn uns keine pragmatistische Definition von Synonymie zur Verfügung steht, nicht eine realistische Interpretation der Wahrheitstheorie annehmen sollen: Sätze besitzen keine bestimmten Bedeutungen, noch haben Handlungen bestimmte intentionale Beschreibungen, außer sie werden in Beziehung zu einzelnen Interpretationstheorien gesetzt. Diese letzte Stufe ist die am wenigsten klare, und Quine scheint sie in seinen Werken nirgendwo ausdrücklich behandelt zu haben. Uber Quines erste Prämisse wird es wahrscheinlich kaum eine Diskussion geben; die Unterbestimmtheit von Theorien durch mögliche Beobachtungen wird allgemein angenommen. Es ist jedoch nützlich, einige Charakteristika des Forschungsmodells zu betrachten, das Quine voraussetzt. Wie die meisten Pragmatisten, ist auch er an der Problematik eines Forschers interessiert, der bereits über eine Theorie oder eine Menge von Annahmen verfügt, und sich überlegt, wie diese zu ändern wären. Sein 8

W . V. O. Quine, „ O n the Reasons for the Indeterminacy of Translation", 67 (1970).

Journal of Philosophy,

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Grund für eine Änderung kann darin liegen, daß der Kausalvorgang der Wahrnehmung eine Unregelmäßigkeit in seiner Menge von Annahmen entstehen ließ — Quines Darstellung der Rolle der Wahrnehmung findet sich in Kapitel 1 von The Web of Belief („Belief and Change of Belief") und im ersten Abschnitt von Die Wurzeln der Referenz („Aufnehmen und Wahrnehmen")9. Er kann sich aber auch bloß eine einfachere und klarere Menge von Annahmen wünschen, da er sich vielleicht eine Meinung über eine Frage bilden möchte, über die er bisher noch kein Urteil getroffen hat. Es gibt allgemeine methodologische Prinzipien, die beim Vergleichen möglicher Nachfolger auf die gegenwärtigen Mengen von Annahmen Verwendung finden, und Quine betont, daß Philosophen diese Prinzipien nur durch das Beobachten der Praxis geübter Forscher entdecken können. In The Web of Belief stellt er eine Liste von fünf „Vorzügen von Hypothesen" auf, wobei man sich bei der Änderung seiner Theorie möglichst an jedes Prinzip halten soll. Es ist jedoch einfacher, nur zwei allgemeine Prinzipien zu betrachten, die in Die Wurzeln der Referenz von Bedeutung sind, da sie vor allem die beiden verschiedenen Funktionsweisen dieser Prinzipien aufzeigen. Es handelt sich um die Prinzipien der Einfachheit und des Konservatismus, die aus Wort und Gegenstand bekannt sind. Angenommen unser Forscher verfügt über die Menge von Annahmen Tj und überlegt sich, diese zugunsten von T 2 oder T3 aufzugeben. Insofern T2, unserem intuitiven Einfachheitsverständnis zufolge, einfacher als T3 ist, ist T 2 vorzuziehen; daß T 2 einfacher als Ti (oder im Gegensatz zu Ti nicht unregelmäßig) ist, und T 2 weiters einfacher als T 3 ist, stellt einen einleuchtenden Grund für die Annahme von T2 dar. Diese Einfachheitsvorstellung ist äußerst komplex: sie bringt unsere verwurzelte Auffassung von Ähnlichkeit und Analogie und unsere unbewußten induktiven Gewohnheiten zum Ausdruck. Quine bezeichnet diese Vorstellung nun als Induktionsprinzip. Das zweite Prinzip findet auf bestimmte Beziehungen zwischen Theorien Anwendung: wenn die Kluft zwischen Ti und T2 „kleiner" ist als jene zwischen Tj und T3, dann gibt es einen verständlichen Grund, T 2 anzunehmen. Man könnte behaupten, daß Quine über bloß ein Einfachheitsprinzip verfügt, das sowohl für Theorien wie für die Ubergänge zwischen ihnen gilt. Quine bezeichnet das Konservatismusprinzip nun als Prinzip des Empirismus. Die Forderung des relativen Empirismus verlangt nach „kurzen Sprüngen", d. h. man soll sich nicht

9

W . V. O. Quine und J. S. Ullian, The Web of Belief (New York, 1970); W . V. O. Quine, Die Wurzeln der Referenz (Frankfurt, 1976).

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weiter als notwendig von der Basis sinnlicher Evidenz entfernen 10 . Da diese Prinzipien nicht geordnet sind, können sie in der Praxis in Widerspruch geraten, sodaß wir zwischen ihnen entscheiden müssen. „Sie stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis" 11 . Konkurrierende Theorien können also Quine zufolge nicht nur mit allen möglichen Beobachtungen übereinstimmen, sondern es ist auch unwahrscheinlich, daß sich eine dieser Theorien durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden als die beste erweisen wird. Es bietet sich keine pragmatistische oder methodologische Wahrheitsdefinition an, wie sie gewöhnlich Peirce zugeschrieben wird. Mehrere Behauptungen laufen hier zusammen. Quine meint offensichtlich, daß wir gezwungen sein könnten, eine willkürliche Wahl zwischen Theorien vorzunehmen, zwischen denen methodologische Prinzipien nicht entscheiden können. Es ist auch klar, daß die Theorie, die man schließlich vertritt, von individuellen Einfachheitsmaßstäben abhängen kann, und Quine gibt zu, daß sich diese ändern können. Die Theorie wird auch von geschichtlichen Besonderheiten des Forschungsverfahrens abhängen: der Konservatismus kann jemandem, der Ti vertritt, nahelegen, T2 anzunehmen, während er einem Anhänger von To rät, sich T3 zu eigen zu machen. Popper zieht methodologische Wahrheitsdefinitionen aus einer anderen Perspektive in Zweifel: während Quine zu viele erfolgreiche Theorien vermutet, befürchtet Popper, daß es zu wenige geben könnte 12 . Es besteht kein Grund, sich unbedingt auf Quines Seite zu stellen, um die Diskussion in Gang zu bringen. Der Begriff der Gesamtheit möglicher Beobachtungen mag bereits verdächtig erscheinen. Allerdings steht auch eine schwächere Formulierung zur Verfügung, derzufolge es keinen Grund zur Annahme gibt, wir könnten durch die bisherigen Beobachtungen je gezwungen sein, bloß eine Theorie anzunehmen; für jede solche Theorie wird es Konkurrenten geben.

IV Worin besteht die methodologische Problematik des Ubersetzens? Quine zufolge muß der Ubersetzer versuchen, eine Funktion zu definieren, die 10 11 12

Die Wurzeln der Referenz, S. 191.

Ebda., S. 190. K. R. Popper, „Uber Wolken und Uhren", in Objektive burg, 1973).

Erkenntnis

(Ham-

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jedem Satz der fremden Sprache genau einen Satz der eigenen Sprache zuordnet. Diese Funktion muß bestimmten Bedingungen genügen. Einem Beobachtungssatz der fremden Sprache — einem Satz, dem nur unter bestimmten Beobachtungsbedingungen zugestimmt wird, auf den aber von allen muttersprachlichen Sprechern auf gleiche Weise reagiert wird — muß ein Satz der eigenen Sprache zugeordnet werden, dem im allgemeinen unter den gleichen Bedingungen zugestimmt wird. Ein reizanalytischer Satz der fremden Sprache — bei dem alle Sprecher sich immer auf eine Zustimmung einigen — soll in einen reizanalytischen Satz der eigenen Sprache übersetzt werden. Schließlich soll für die fremde Sprache die wahrheitswertfunktionale Logik angenommen werden. Diese Funktion kann dann als eine analytische Hypothese bezeichnet werden. Die Bedingungen, die Quine angibt, sollen uns wahrscheinlich an die Idee Carnaps erinnern, daß durch die Angabe der empirischen Bedeutungen der grundlegenden Sätze und der analytischen Zusammenhänge ein Begriffsrahmen beschrieben werden kann. Er möchte zeigen, daß die Begriffe der empirischen Bedeutung und der Analytizität, insofern sie in eine empirisch annehmbare Form gebracht werden können, nicht ausreichen, um eindeutig einen Begriffsrahmen festzulegen. Zwei Probleme müssen dabei unterschieden werden: Einerseits können wir die Frage stellen, ob analytische Hypothesen durch Beobachtung unterbestimmt sind; andererseits läßt sich aber auch fragen, ob Quine die richtigen Bedingungen für eine Ubersetzung gewählt hat. Er verlangt, allgemein angenommene Binsenwahrheiten in allgemein angenommene Binsenwahrheiten zu übersetzen — da solche Sätze reizanalytisch sind —, obwohl es gewiß scheint, daß derartige Behauptungen mit der Zeit oft verworfen werden. „Die Sonne bewegt sich in Kreisbahnen um die Erde" mag im Mittelalter reizanalytisch gewesen sein; ich nehme an, daß es heutzutage Sprachgemeinschaften gibt, in denen dieser Satz reizwidersprüchlich ist. Wir können also Quines zweite Bedingung in Zweifel ziehen. Andererseits wird aber manchmal behauptet, daß es Bedingungen gebe, die er vernachlässigt habe. (So verlangt etwa Davidson, Quines Theorie der Ubersetzung durch eine Theorie der Interpretation zu ersetzen, die ihrer Form nach der Tarskischen Wahrheitsdefinition analog ist, wenn diese mit Hilfe eines sehr großzügig verstandenen Nachsichtigkeitsprinzips („principle of charity") aufgebaut wird13. Wir sind gezwungen, die Einheimischen für so wahrhaftig wie möglich zu halten. Ist eine solche Theorie möglich, so können wir einer Wahrheitstheorie den 13

D. Davidson, „Radical Interpretation", Dialectica,

27 (1973).

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Vorzug geben, die eine echte Interpretation ermöglicht, da der interpretierende Ausdruck verwendet und nicht erwähnt wird. Das kann das Ausmaß an Unterbestimmtheit verringern, wird es aber wahrscheinlich nicht beseitigen. Das Nachsichtigkeitsprinzip ist nicht auf eine so einsichtige Weise rechtfertigbar. Wir werden das Argument für die Stufe b im nächsten Abschnitt untersuchen, wenn wir flüchtig den Stellenwert der Übersetzungsprinzipien erörtern werden. Um nachweisen zu können, was die Sätze einer fremden Sprache bedeuten, müssen wir feststellen, welche Annahmen sie ausdrücken. Das heißt nicht, daß wir in der Lage sein müssen, die gesamte Menge von Annahmen anzugeben, ohne auf sprachliche Daten zurückzugreifen: einige Annahmen erraten wir, womit wir einige Beobachtungssätze erhalten, und schließlich legen die vorläufigen Übersetzungen weitere Übersetzungen fest, die ihrerseits weitere Annahmen nahelegen. Unsere Ubersetzungen des anfänglichen Brückenkopfes müssen vielleicht überprüft werden. Die Schwierigkeit dabei ist, daß wir die Sätze möglicherweise durchwegs uminterpretieren können, wenn wir bereit sind, unsere Auffassung von den Annahmen der Einheimischen zu ändern. Gelingt es uns nicht, aus den Beobachtungen, die er getätigt hat, vorherzusagen, welche Theorie ein Einheimischer vertritt, dann sollte es uns bei ausreichendem Geschick doch gelingen, seine Sätze so umzuinterpretieren, daß er jede Theorie, die mit seinen Beobachtungen übereinstimmt, vertreten könnte. Wir könnten gezwungen sein, einige sehr komplexe Ubersetzungen anzunehmen, indem wir vom Einheimischen verlangen, schwierige Formulierungen zu verwenden um das auszudrücken, was wir als einfache Gedanken betrachten. Wir könnten gezwungen sein, dem Einheimischen sehr bizarre Auffassungen zu unterschieben; aber es scheint von vornherein klar, daß wir durch die Art von Daten, die wir betrachtet haben, nicht gezwungen sind, ihm nur eine Menge von Auffassungen zuzuschreiben. Ubersetzungen sind unterbestimmt, weil wir nicht sagen können, welche Theorie die Einheimischen besitzen. Selbst wenn diese Frage entschieden wäre, könnte es offene Fragen darüber geben, welche Sätze der Sprache welche Teile der Theorie ausdrücken. Die Ubersetzung ist also noch nicht entschieden, wenn wir wissen, welche Theorie der Einheimische besitzt, und diese wiederum ist nicht durch die Beobachtungen bestimmt, die er als mit dieser Theorie verträglich betrachten würde. Wir können ihn nicht in der Hoffnung als rational bezeichnen, das Ausmaß an Unterbestimmtheit auf jene Theorien zu beschränken, die sich in Ubereinstimmung mit der wissenschaftlichen Methode befinden. Quine würde sich weigern, den

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Einheimischen dieselben Intuitionen hinsichtlich der Einfachheit von Theorien zuzugestehen. Die Wirkung des Prinzips des Konservatismus hängt weiters von vorhergehenden kognitiven Zuständen ab. Theorien, die von der unseren zu stark abweichen, um für uns als echte Möglichkeiten in Frage zu kommen, können für die Einheimischen sehr wohl solche Möglichkeiten darstellen.

V Drei Kritiken dieser Stufe in unserem Argumentationsgang sind vorstellbar. Zuerst ließe sich behaupten, daß auch Annahmen im Verein mit Wünschen Handlungen festlegen. Hat es sich als unmöglich erwiesen, das Verhalten des Handelnden auf der Grundlage der ihm zugeschriebenen Menge von Annahmen zu verstehen, so muß unsere Zuschreibung dieser Annahmen fehlerhaft sein. Schränken wir den Bereich zuschreibbarer Wünsche hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Komplexität nicht auf apriorische Weise ein, so scheint ihn auch die Notwendigkeit, eine Handlungstheorie zu entwickeln, nicht weiter zu beschränken. Nimmt man solche Einschränkungen aber vor, trifft man starke apriorische Annahmen über psychologische Gegebenheiten. Wenn jeder Wunsch ein Wunsch ist, P herbeizuführen (für ein beliebiges P), dann reichen die von Quine festgelegten Einschränkungen aus, um zu garantieren, daß ein Wunsch in Übereinstimmung mit irgendeinem der zur Verfügung stehenden Übersetzungswörterbücher angemessen formuliert wird. Das mag zur Folge haben, daß sich viele Eingeständnisse von Handelnden, Wünsche zu haben, als falsch herausstellen. Die Klage, daß Berichte über Wünsche die vorhandenen Möglichkeiten einschränken würden, führt uns zur zweiten kritischen Bemerkung, die von Kirk stammt (dem sich wiederum Blackburn anschloß) 14 . Der semantische und intentionale Diskurs der Subjekte stellt eine weitere Kontrollinstanz dar: befragen wir die Subjekte über logische Folgebeziehungen zwischen Sätzen und über die Bedeutungen verschiedener Wörter, gelingt es uns vielleicht, die Anzahl der Möglichkeiten auf eine einzige zu beschränken. Leider ist dies aber nicht zufriedenstellend. Wir sehen uns mit der Frage konfrontiert, wie das Wesen des

14

R. Kirk, „Undetermination of Theory and Indeterminacy of Translation", Analysis, 33 (1972 - 73); S. Blackburn, „TheIdentity of Propositions", in Blackburn (Hrsg.), Meaning, Reference and Necessity (Cambridge, 1975).

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semantischen Diskurses zu verstehen sei. Der hier zur Diskussion stehende Vorschlag ist, die Untersuchung auf die semantischen Behauptungen anderer zu gründen. Eine Berufung auf Zeugenaussagen bedeutet, weitere Mittel zu verwenden, die von der Möglichkeit einer direkteren Untersuchungsmethode des Gegenstands abhängen. Worum es sich hier handelt, ist die Art dieser direkteren Untersuchungsmethode. Wir möchten wissen, wie ein Einheimischer wissen kann, was andere Einheimische meinen — und das ist natürlich für seinen eigenen Gebrauch von Bedeutung — und wie wir wissen können, was ein Einheimischer meint. Jedes Hindernis, das unserer Auffindung einer einzigen Theorie der Interpretation im Wege steht, betrifft auf den ersten Blick auch andere Einheimische. Kritiker können drittens einwenden, daß Quine nicht genügend die Schlußfolgerungen betrachtet habe, die Einheimische ziehen und für plausibel finden. Es wird behauptet, daß einige Übersetzungsschemata dazu führen könnten, daß wir Eingeborenen sehr sonderbare Arten von Schlußfolgerungen zuschreiben müssen 15 , oder daß jene Arten, die für die Angabe von Verbindungen zwischen Sätzen, welche die Struktur der Theorie bilden, bedeutsam sind, sich nicht in den Daten ausdrücken, die Quine in Betracht zieht 16 . In den meisten Fällen würde allerdings ein Handelnder, wenn er aus P und Q auf R schließt, ebenfalls annehmen, daß R aus P und Q (wahrscheinlich) folgt. Die meisten Folgebeziehungen drücken sich in reizanalytischen Sätzen aus, da ihre Funktion zum Teil darin besteht, Verbindungen zwischen Sätzen anzugeben. Ausgefallene Arten von Schlußfolgerungen führen wahrscheinlich zu unserer Vorstellungskraft widersprechenden Ubersetzungen reizanalytischer Sätze. Dummett meint, daß es dann neben Annahmen auch noch Schlußregeln geben müsse. Allerdings besteht kein Grund, zu vermuten, daß der Handelnde jenen Sätzen, die Anwendungen dieser Regel ausdrücken, nicht zustimmen würde — selbst wenn dies auf einen unendlichen Regreß von Regeln und Regelformulierungen hinausliefe. Wenn beispielsweise der Modus Ponens eine solche Regel ist, so kann der Handelnde dem Schluß zustimmen: „Wenn es regnet und es nur dann regnet, wenn Wolken am Himmel sind, dann sind Wolken am Himmel". Schließlich ist es von Bedeutung, daß Regeln metasprachliche Formulierungen erfordern: sie können als Normen aufgefaßt werden, die den Gebrauch von Wörtern festlegen. Sich auf

15 16

H . Putnam, „The Refutation of Conventionalism", Noüs, 8 (1974), S. 35. M. Dummett, Frege: Philosophy of Language (London, 1973) und „The Significance of Quine's Indeterminacy Thesis", Synthese, 27 (1974).

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Regeln zu berufen, bedeutet wiederum, in den Fehler einer Petitio principii zu verfallen und sich auf den semantischen Diskurs zu beziehen, um den semantischen Diskurs zu verstehen. Wenn nämlich eine Unbestimmtheit vorliegt, beeinflußt diese wahrscheinlich jene Ubersetzung aus der Objekt- in eine Metasprache, die eine Formulierung von Regeln mit sich bringt. Damit Regeln für uns von Nutzen sein können, ist es notwendig, daß wir die Metasprache auf eine bestimmte Weise übersetzen können, was jedoch unwahrscheinlich ist. Es scheint also, daß Ubersetzungen durch alle möglichen Daten unterbestimmt sind, die einem grundlegenden Übersetzer zur Verfügung stehen. In diesem Fall ist eine Sozialwissenschaft, die auf der intentionalen Beschreibung der Zustände von Subjekten beruht, auf ähnliche Weise unterbestimmt, sodaß wir vorsichtig sein müssen, uns auf psychologische Verallgemeinerungen zu berufen, um das Ausmaß an Unterbestimmtheit zu verringern 17 . Dies spielt eine Rolle bei der Interpretation; die Art dieser Rolle ist aber wiederum ein Teil des Problems, und kann somit nicht verwendet werden, um eine Lösung herbeizuführen. Wenn psychologische Verallgemeinerungen auf den Beobachtungen des Verhaltens derjenigen beruhen, deren Verhalten wir verstehen, können sie keine wesentliche empirische Notwendigkeit darstellen, die eine Interpretation unbestimmt machen würde.

VI Die letzte Stufe in Quines Argumentationsgang ist die schwierigste. Nimmt man die Unterbestimmtheit der Übersetzungstheorie durch mögliche Beobachtungen als gegeben an, wäre daraus zu folgern, daß es auf dem Gebiet der Ubersetzungen keine objektiven Tatbestände gibt. Einige Kritiker von Quines Auffassungen 18 haben dem entgegengehalten, daß Quine durch nichts seine Ansicht gerechtfertigt habe, daß Unterbestimmtheit durch Daten der Objektivität der Übersetzung, nicht jedoch jener der Physik entgegenstehe. Beide sind empirisch »wierbestimmt, doch nur die Übersetzung ist ««bestimmt. Quine hält den Einwand ganz 17 18

D. K. Lewis, „Radical Interpretation", Synthèse, 27 (1974); Putnam, a. a. O. Z. B. N. Chomsky, „Quine's Empirical Assumptions", in D. Davidson und J. Hintikka (Hrsg.), Words and Objections; R. Rorty, „Indeterminacy of Translation and of Truth", Synthèse, 23 (1972); Blackburn, „The Identity of Propositions", a. a. O.; und Dummett, a. a. O.

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offensichtlich für unberechtigt, und in einer unklaren Stelle von Wort und Gegenstand versucht er, ihm zuvorzukommen. Eine Untersuchung dieser Diskussion mag es uns ermöglichen, die Stärke dieses Schrittes in der Argumentation zu erkennen. Allerdings sollte ich hinzufügen, daß die betreffende Stelle sehr unklar ist und ich mir nicht sicher bin, wie gerecht ihr die Interpretation wird, die ich zu geben versuche. Es handelt sich um folgendes: Weder „wahr" noch „bedeutungsgleich mit" sind methodologisch definierbar, da wir für keinen der beiden Ausdrücke über ein Kriterium verfügen. Der Ausdruck „bedeutungsgleich" wird aus diesem Grund gemieden, während „wahr" trotzdem ein annehmbarer Begriff bleibt. Aber weshalb? Eine Antwort darauf wäre, daß selbst dann, wenn es kein 'Wahrheitskriterium geben kann, der Begriff auf unproblematische Weise definierbar sei, und genau das habe Tarski uns gezeigt. Eine Darstellung, wie ein anderer Philosoph, der Quines pragmatische Sympathien teilt, Tarskis Definition dahingehend interpretierte, daß sie es uns ermöglichen würde, trotz des Fehlens einer methodologischen Wahrheitsdefinition am Realismus festzuhalten, findet sich in Poppers Aufsatz über die semantische Wahrheitstheorie in seinem Buch Objektive Erkenntnis19. Die ersten Abschnitte in Quines „Die zwei Dogmen des Empirismus" stellen einen Versuch dar, zu zeigen, daß es keine Definition der Synonymie gibt, die sowohl leicht anzugeben als auch unproblematisch wäre20. Vielleicht besteht die eigentliche Asymmetrie dann darin, daß „wahr" im Gegensatz zu „bedeutungsgleich" auf unproblematische („eindeutig extensionale") Weise definierbar ist. Nur in einem der beiden Fälle kann das Fehlen einer methodologischen Definition ausgeglichen werden21. Vieles an dieser Argumentation ist fragwürdig. Die Bedingung, daß annehmbare Begriffe definierbar sein müssen, ist ebenso anfechtbar wie Quines Vorstellung davon, was unproblematisch sei. Wir werden allerdings einen anderen Einwand aufgreifen. Tarskis Arbeiten zeigen uns, wie ,,wahr-in-L" für ein bestimmtes L zu definieren ist; sie geben uns aber keine Darstellung eines nicht-relativierten Wahrheitsbegriffs. Die Definition ist völlig immanent. Ein Gegner dieser Definition könnte einwenden, daß sich dasselbe für „bedeutungsgleich mit" machen ließe. Wir kön19

20

21

K .R. Popper, „Philosophische Bemerkungen zu Tarskis Theorie der Wahrheit", in Objektive Erkenntnis. W . V. O. Quine, „Zwei Dogmen des Empirismus", in Von einem logischen Standpunkt (Stuttgart, 1979). W . V. O . Quine, „Bemerkungen zur Theorie der Referenz", a. a. O .

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nen leicht festlegen, wann zwei Ausdrücke hinsichtlich einer analytischen Hypothese F bedeutungsgleich sind, so daß keine echte Asymmetrie bewiesen wurde. Gibt es nun eine Möglichkeit, die Asymmetrie wiederherzustellen? Diese Frage führt uns zum wesentlichen Punkt. Erinnern wir uns an Quines Einwand gegen den Relativismus: Zielen wir jetzt so niedrig, uns mit einem relativistischen Wahrheitsbegriff zufriedenzugeben — wonach die Aussagen jeder Theorie als wahr relativ zu dieser Theorie beurteilt werden —, ohne eine Kritik von oben zuzulassen? Keineswegs. Hier kommt uns die Überlegung zu Hilfe, daß wir unsere eigene Wissenschaft als Ganzes ernst nehmen, also unsere eigene besondere Welttheorie bzw. das gesamte lockere Gewebe von Quasitheorien — wie immer es zu beschreiben ist 22 .

„Eine Theorie ernst nehmen" bedeutet vermutlich, ihre Sätze für wahr zu betrachten, und nicht nur für „wahr im Rahmen dieser Theorie". Um diese Unterschiede zu verstehen, müssen wir uns näher vor Augen führen, was es bedeutet, Sätze einfach als wahr zu betrachten, und weshalb Quine meint, daß wir dies vernünftigerweise tun dürften. Tarskis Definition stellt mit ihrem Kriterium für vermeintliche Wahrheitsdefinitionen eine Verbindung zum nicht-relativierten Wahrheitsbegriff her. Ein Prädikat T ist ein Wahrheitsprädikat wenn es so definiert wird, daß für jeden Satz der Objektsprache s die als Definition dienende Theorie einen Satz der Form T s genau dann wenn p logisch impliziert, wobei „p" die Übersetzung von s in die Metasprache darstellt. Unserem Verständnis des Wahrheitsbegriffs gemäß stimmen wir bikonditionalen Sätzen der Art „Cambridge ist eine Stadt" ist wahr genau dann wenn Cambridge eine Stadt ist selbstverständlich zu. Diese Bereitschaft steckt hinter Ramseys Behauptung, die zwei Aussagen „,Cambridge ist eine Stadt' ist wahr" und „Cambridge ist eine Stadt" hätten denselben Gehalt, und sie findet sich auch in Quines Ansicht wieder, der Ausdruck „ist wahr" sei hauptsächlich ein „Mittel der Zitataufhebung" („device of disquotation"). Wichtig ist, daß man sich bei der Äußerung eines Satzes als einer Aussage auf seine Wahrheit festlegt; zwischen Aussage und Wahrheit besteht ein enger Zusammenhang. Hält man nämlich den Relativismus nur dann für verständlich, 22

Quine, Wort und Gegenstand,

S. 57.

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wenn sein Vertreter die Relativität seiner eigenen Aussagen durch Äußerungen der Art 5 ist wahr in L aufweisen kann, dann stellt der Relativismus überhaupt keine echte Alternative dar. Mit seiner Aussage, daß s wahr-in-L sei, legt sich der Sprecher nämlich auf die Wahrheit der Behauptung, s sei in L wahr, fest; dennoch ist diese Festlegung selbst nicht ausdrücklich relativiert. Will man dem Relativismus Ausdruck verleihen, darf es keine Sätze geben, die wir verwenden, anstatt sie zu erwähnen; Aussagen bringen jedoch die Verwendung von Sätzen mit sich. Ein ausdrücklicher und durchgehender Relativismus ist also mit dem Geltendmachen von Aussagen überhaupt unverträglich. Dies zeigt bloß, daß es keinen durchgehenden Relativismus geben kann. Er mag höchstens hinsichtlich eines begrenzten Gebiets wie der theoretischen Wissenschaft gerechtfertigt sein. Aber selbst das wird dann unhaltbar, wenn wir darauf bestehen, daß das Verständnis des Wahrheitsbegriffs durch einen Sprecher sich in einer Bereitschaft ausdrücken soll, bikonditionalen Sätzen der Art zuzustimmen, wie sie vorhin vorgestellt wurden. Muß nämlich unser Relativist der Aussage 5 ist wahr in L genau dann wenn p dann zustimmen, wenn er 5 ist wahr in L zustimmt, so muß er schließen und behaupten können, daß p. Dieses Argument würde darauf hinauslaufen, daß der Relativismus gar keine echte Alternative biete. Es beruht jedoch auf zwei fragwürdigen Annahmen. Die erste besteht darin, daß sich keine verständliche Form des Relativismus vertreten läßt, wenn der Relativist seine Festlegung nicht zur Gänze auf die beschriebene Art offenlegen kann. Ein Kritiker mag einwenden, daß sich der Relativismus in einem anderen Merkmal der Sprachpraxis des Relativisten ausdrücken könne, obwohl es schwer ist, festzustellen, um welches Merkmal es sich dabei handeln sollte. Die zweite Annahme ist die viel weniger plausible Behauptung, daß ein Sprecher, der über ein Verständnis des Wahrheitsbegriffs verfügt, befähigt sein muß, dieses durch Zustimmung zu bikonditionalen Sätzen der richtigen Art, die jede Zuschreibung von Wahrheit beinhalten, die er vorzunehmen bereit ist, aufzuzeigen. Auf diese Annahmen wird hier nicht weiter eingegangen werden, da sie uns zu weit vom eigentlichen Thema wegführen würden. Glücklicherweise bietet Quines Diskussion ein weiteres Argument an, das

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den Relativismus ebenfalls als grundlosen Standpunkt in der Theorie der Natur erweisen würde. Wir können ihm dadurch Ausdruck verleihen, daß wir eine weitere Interpretation von „eine Theorie ernst nehmen" berücksichtigen. Wir nehmen unsere alltäglichen Auffassungen ernst, wenn wir sie als eine Grundlage unserer Handlungen verwenden. Unser alltägliches Bild von der Welt stellt einen Hintergrund dar, vor dem wir unsere Pläne und Tätigkeiten ausführen. Nun scheint Quine eine Auffassung von Wissenschaft und ihrer Beziehung zum Alltagsverstand zu vertreten, die der Theorie des „kritischen Commonsense" von Peirce oder dem „Commonsense-Realismus" Poppers ähnlich ist. Unsere Theorie der Natur ist das Ergebnis wiederholter Versuche, unsere alltägliche Auffassung von der Welt zu verbessern und zu verfeinern; es gibt keinen Grund dafür, eine Unterscheidung zwischen dem Alltagsverstand und der theoretischen Wissenschaft zu ziehen, die eine unterschiedliche Haltung zu beiden rechtfertigen würde. Solange wir mit einer allgemeinen Weltauffassung arbeiten, besteht kein Grund, uns davon auf eine relativistische Art zu distanzieren: Können wir daraus den Schluß ziehen, daß die Obersetzungssynonymie schlimmstenfalls nicht schlechter dasteht als die Wahrheit in der Physik? Sich damit zu beruhigen, hieße die Parallele zu verkennen. Dadurch, daß man nun innerhalb einer umfassenderen Theorie von der Wahrheit eines Satzes sprechen kann, wird man nicht sonderlich behindert, denn schließlich arbeitet man stets im Rahmen einer bequem umfassenden Theorie, wie provisorisch sie auch sein mag. (. . .) Kurzum, die Parameter der Wahrheit bleiben die meiste Zeit über konstant. Anders ist es mit den analytischen Hypothesen, den Parametern der Übersetzung. Wir sind stets bereit, uns zu fragen, was die Bemerkung eines Ausländers bedeutet, ohne uns dabei auf ein bestimmtes System analytischer Hypothesen zu beziehen, und selbst dann, wenn analytische Hypothesen gar nicht vorhanden sind23.

Von Bedeutung ist, daß wir nun eine nicht-relativistische Auffassung von Theorien vertreten, und daß es keinen Grund gibt, diese aufzugeben. Quines evolutionäres Bild des Erkenntnisfortschritts scheint eine solche Auffassung vorauszusetzen; sie aufzugeben würde weder Anomalien beseitigen noch unsere Vorstellung von Forschung vereinfachen. Dieser Vorstellung zufolge ist der Relativismus eine alternative Weltauffassung, die unseren üblichen methodologischen Regeln gemäß aufgegeben werden muß — was ja auch dem Quineschen Philosophieverständnis zufolge geschehen müßte, vorausgesetzt der Relativismus kann wirklich als eine 23

Ebda. S. 141 f.

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kohärente Position gelten. Keine dieser Argumentationsmöglichkeiten würde einen Relativismus hinsichtlich der Synonymität ausschließen. Einer Aussage entspricht nichts, was eine transzendente Grundlage für unseren Synonymitätsbegriff bilden könnte, keine Handlung, durch die wir uns auf absolute Synonymitätsbeziehungen festlegen. Daher steht auch einer Relativierung von Berichten über Ubersetzungen oder Synonymitätsbeziehungen auf eine bestimmte Ubersetzungstheorie oder auf die analytische Hypothese der Sprechergemeinschaft nichts im Wege. (Vielleicht enthält unsere gewöhnliche Verwendung von Übersetzungsbegriffen sogar einen versteckten Hinweis solcher Art. In diesem Fall können wir unsere gewöhnlichen Ausdrücke für propositionale Einstellungen vielleicht mit einer Anerkennung der Ubersetzungsunbestimmtheit dadurch in Ubereinstimmung bringen, daß wir diese Ausdrücke so auffassen wie Davidson sie in seinem Aufsatz ,,On Saying That" 2 4 interpretiert, und damit vermeiden, die Unbestimmtheitsthese als einen Vorschlag zur Revision unserer Sprachgewohnheiten aufzufassen.) Sobald wir erkennen, daß ein solcher Relativismus zumindest eine Möglichkeit in der Ubersetzungstheorie darstellt, sehen wir auch, wie eine Quinesche Antwort auf die Behauptung zu geben wäre, daß dieses Argument auf einer willkürlichen Diskriminierung zugunsten der Theorie der Natur und zuungunsten der Übersetzungstheorie beruhe. Betrachten wir die Situation eines Ubersetzers. Er entwickelt drei Übersetzungshypothesen, die mit allen von Quine berücksichtigten Daten übereinstimmen. Der Ubersetzer hat dann vier Theorien über die Bedeutungen von Wörtern der anderen Sprache, zwischen denen er sich entscheiden muß, und die verfügbaren Daten stützen alle vier in gleicher Weise. Drei dieser Theorien besagen, daß eine der drei aufgestellten Hypothesen die wahren Bedeutungen des Ausdrucks der Fremdsprache korrekt wiedergeben. Bezeichnen wir die drei Hypothesen mit Fi, F 2 und Fj, so besagen diese drei Theorien: (1) S bedeutet T genau dann wenn S, Fi zufolge, T bedeutet (2) S bedeutet T genau dann wenn S, F2 zufolge, T bedeutet (3) S bedeutet T genau dann wenn S, F3 zufolge, T bedeutet Die vierte Theorie besagt, daß es zwar objektiv wahre Aussagen geben könne, was Ausdrücke Fi-zufolge, F2-zufolge usw. bedeuten, jedoch keine objektiv wahren Aussagen darüber, was Ausdrücke schlechthin bedeuten. Es gibt keinen absoluten Bedeutungsbegriff, dem sich diese 24

D . Davidson, „ O n Saying That", in Davidson and Hintikka (Hrsg.), Words and Objections.

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relativierten Begriffe annähern. Diese vierte Hypothese behauptet, daß die Ubersetzung unbestimmt sei. Die Unbestimmtheitsthese ist also durch die empirischen Daten selbst unterbestimmt. Wir können erkennen, weshalb die Unterbestimmtheit der Wahl einer Übersetzungstheorie durch Beobachtungen notwendig für die Unbestimmtheitsthese ist: wenn nur eine Ubersetzungstheorie jemals empirisch korrekt ist, besteht kein Grund, von dieser nicht anzunehmen, daß sie den absoluten Bedeutungsbegriff erfassen würde. Schließlich verfügen wir bloß über diesen Bedeutungsbegriff. Diese Rekonstruktion zeigt, daß Quine hinsichtlich der Ubersetzung ebenso ein Realist ist wie hinsichtlich der Physik. Mit seiner Entscheidung zugunsten der Unbestimmtheitsthese wählt er bloß eine aus einer Anzahl empirisch gleichwertiger Theorien, die er als wahr erachtet. Die Bestimmtheit der Ubersetzung wird als eine schlechte Theorie aufgegeben. Weshalb ist sie jedoch schlecht? Diese Frage soll im letzten Abschnitt aufgegriffen werden. An den Schluß dieses Abschnitts sollen zwei Bemerkungen zur bisherigen Argumentation gestellt werden. Es wäre der Einwand denkbar, daß die Art, wie die Argumentation präsentiert wurde, intentionale Begriffe oder Ubersetzungsbegriffe voraussetzt, die nicht auf bestimmte Ubersetzungshypothesen relativierbar sind, so daß die Argumentation sich als inkonsequent erweist. Die Feststellung von Zustimmung und Ablehnung seitens Einheimischer geht unabhängig von einem Bezug auf eine bestimmte Ubersetzungstheorie vor sich und dient sogar zum Sammeln von Daten, mit denen wir Theorien auf ihre empirische Angemessenheit hin vergleichen. Läßt man diese Anzahl intentionaler Daten zu, wäre es sicherlich Willkür, weitere auszuschließen; wir können beispielsweise zumindest feststellen, was ein Handelnder für unsinnig oder absurd erachtet. Auf eine ähnliche Schwierigkeit wurde von John Wallace hingewiesen25. Die Daten umfassen Behauptungen über die Bedingungen, unter denen Realisierungen eines bestimmten Äußerungstyps angeboten oder akzeptiert werden. Der Begriff eines Äußerungstyps ist, wie John Wallace betont, allerdings selbst mit Hinblick auf die Übersetzungssituation zu verstehen: bei welchen Äußerungen es sich um Realisierungen desselben Typs handelt, ist nicht durch eine rein physikalische Charakterisierung der fraglichen Ereignisse bestimmt. Keine dieser Schwierigkeiten muß aber einen Verteidiger der Unbestimmtheitsthese in Verlegenheit bringen. Es gibt keine echte Alternative, als die meisten Äußerungen als Behauptungen 25

J. Wallace, „ A Query on Radical Translation", Journal ofPhilosophy, 64 (1967).

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zu betrachten, und wir können ein Zeichen der Zustimmung als ein solches aufgrund seiner Verbindung mit einer Behauptung erkennen: Sprecher stimmen dem zu, was sie behaupten. Die Schwierigkeit, die dann auftaucht, wenn man sich auf Reaktionen auf absurde Situationen verläßt, liegt darin, daß wir von den Einheimischen nicht erwarten können, daß sie unsere Maßstäbe von Absurdität teilen, und daß diese nicht von bestimmten semantischen Merkmalen von Sätzen der Sprache abhängig gemacht werden können. Die richtige Antwort auf Wallace wäre, daß Quine uns kein allgemeines Argument gegen die Verwendung von Übersetzungsbegriffen schlechthin (im Sinne von Wallace) anbietet. Eine Anerkennung der Unbestimmtheit mag im semantischen Fall berechtigt, im syntaktischen Fall hingegen unberechtigt sein. Zuletzt noch eine Bemerkung zur Identität von Theorien. Anscheinend bedeutet ein Akzeptieren der Ubersetzungsunbestimmtheit, Quines entschiedenen Antirelativismus hinsichtlich naturwissenschaftlicher Theoriebildung zu entwerten. Angenommen wir vertreten Theorie Ti und fragen uns, ob wir sie durch T 2 oder T 3 ersetzen sollen. T 2 und T 3 sind empirisch äquivalent, aber verschiedene Theorien, und damit nicht logisch äquivalent. Ein Satz S kann also selbst Teil von T 2 sein, während seine Negation Teil von T3 ist. Quine hält es für fragwürdig, ob T 2 oder T3 wahr ist, und zugunsten welcher Theorie die Entscheidung ausfallen solle. Angenommen wir entscheiden uns, daß die beste Art, unseren Korpus von Annahmen zu verbessern, in der Zustimmung zur Satzmenge T 2 und nicht zu jener von T3 besteht. Es gibt dann ein angemessenes Wörterbuch für die Ubersetzung aus unserer Sprache in dieselbe Sprache, das zu allen unseren sprachlichen Dispositionen paßt, aufgrund derer wir uns für T3 anstatt von T 2 entschieden haben. Ist die Unbestimmtheitsthese wahr, liegt unserer Entscheidung zugunsten einer der beiden empirisch äquivalenten Theorien keine faktische Basis zugrunde. Sobald wir versuchen, ein semantisches Kriterium für die Identität von Theorien zu entwickeln, scheint es unmöglich, zwischen empirisch äquivalenten Theorien zu unterscheiden. Vom Standpunkt des Forschers der nun T vertritt ist der Unterschied zwischen T 2 und T 3 natürlich völlig klar, da sie unterschiedliche und unverträgliche Umgestaltungen seiner Menge von Annahmen darstellen. Dies ist wahrscheinlich von jeder Theorie zu erwarten, die sprachlichen Ausdrücke eine wesentliche Rolle bei der Beantwortung von Fragen der Identität von Annahmen einräumt.

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VII Das bisher Gesagte zwingt uns noch keineswegs, eine realistische Auffassung von Bedeutungen und Propositionen aufzugeben. Wieso sollen wir die These von der Ubersetzungsunbestimmtheit als die plausibelste Darstellung dieses Bereichs unserer Erfahrung betrachten? Man kann sich dem Problem mittels einer Analogie mit unseren Meßpraktiken nähern. Von den Prinzipien, auf die wir uns bei der Wahl zwischen konkurrierenden physikalischen Theorien berufen, erwarten wir, daß sie durch Daten gestützt sind; wir nehmen sie deshalb an, weil sie uns der Wahrheit näher bringen sollen. Bei der Konstruktion einer physikalischen Theorie müssen wir uns vielleicht entscheiden, ob wir unsere Messungen in Fuß und Zoll oder aber in Metern angeben wollen. Die Prinzipien, die uns dabei leiten, sind jedoch nicht empirischer Natur — wir stellen uns nicht die Frage, welcher Maßstab die wahre Länge angibt. Wir müssen uns auf Grundsätze verlassen, welche den am einfachsten handzuhabenden Maßstab oder jenen, der unseren praktischen Bedürfnissen am besten entspricht, aufweisen, und diese lassen sich als regulative Prinzipien bezeichnen. Es ist keinesfalls willkürlich, welchen Maßstab wir verwenden — für viele Zwekke hat z. B. ein metrisches System klare Vorteile. Wir verfügen nun über Prinzipien für die Wahl zwischen konkurrierenden Ubersetzungstheorien, und gewöhnlich erwarten wir uns, daß diese Prinzipien eine Ubersetzungstheorie als die ihren Konkurrenten überlegene ausweisen. Die Frage ist dann, ob die Wahl zwischen Übersetzungstheorien durch empirische oder durch regulative Prinzipien bestimmt wird. Entspricht die Entscheidung, ob „bedeutet Fi zufolge" oder „bedeutet F2 zufolge" verwendet werden soll, der Wahl zwischen der Angabe von Meßergebnissen in Zentimetern oder in Zoll? Gibt man die Unbestimmtheit der Ubersetzung zu, so betrachtet man die Wahl zwischen Ubersetzungstheorien als der Wahl zwischen Meßsystemen ähnlich. Dieser Standpunkt läßt sich auf zumindest zweierlei Weise begründen. Erstens könnte man unter der Bedingung, daß die relativistische Theorie unserer Ubersetzungspraxis gerecht wird, es für unwahrscheinlich halten, daß sie einfacher als alle ihre Konkurrenten ist, weil sie sich nicht auf die Existenz von Gegenständen wie etwa Propositionen festlegt, die notwendig sind, um Übersetzungsbeziehungen festzulegen. Da der Begriff der Synonymität nicht operational definierbar ist, müssen wir aber vermutlich auf Propositionen zurückgreifen, die von Sätzen ausgedrückt werden und die Bedeutungen dieser Sätze bestimmen. Wenn wir die Annahme von

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Propositionen allerdings vermeiden und dennoch unseren Ubersetzungsgewohnheiten gerecht werden können, sollten wir auf jeden Fall diesen Weg einschlagen. Einige Stellen lassen die Vermutung zu, daß Q u i n e sich dieser Argumentation anschließen würde. Die zweite Begründungsmöglichkeit besteht in der Suche nach einem Argument, welches beweist, daß die relativistische Position eine bessere Darstellung unserer Ubersetzungsgewohnheiten zu liefern imstande ist als ihre Konkurrenten — daß also mit diesen Probleme verbunden sind, die uns noch nicht gegenwärtig sind, wenn wir die Unbestimmtheit anerkennen. Vielleicht führt eine Ablehnung der Unbestimmtheit zu unüberwindlichen Schwierigkeiten im erkenntnistheoretischen Verständnis von Interpretation und Ubersetzung. Dies läuft nicht auf ein skeptisches Argument zugunsten einer Änderung unserer Ubersetzungsgewohnheit hinaus. Es soll vielmehr eine Betrachtungsweise unserer Übersetzungsgewohnheiten angeboten werden, derzufolge solche skeptischen Argumente unbegründet sind. Diese zweite Argumentationsmöglichkeit ist deshalb zugkräftiger, da sie nicht auf Annahmen über die Vorteile ontologischer Sparsamkeit beruht, die nicht von jedermann geteilt werden. Sie ist für uns von besonderem Interesse, da sie unmittelbar jene erkenntnistheoretischen Probleme der Interpretation betrifft, die im ersten Abschnitt eingeführt wurden. Unsere Übersetzungsprinzipien scheinen denjenigen Personen, deren Verhalten wir zu interpretieren versuchen, Standards rationalen Schließens und vernünftigen Verhaltens zuzuschreiben, die im wesentlichen unsere eigenen Standards sind. Nehmen wir solche Prinzipien nicht an, ist es, wie Hollis bemerkt, schwer einsichtig, wie es überhaupt zu einer Ubersetzung kommen kann. Welche Prinzipien anzuwenden seien und wie diese zu rechtfertigen wären, ist unter anthropologisch interessierten Philosophen und über Methodenfragen reflektierenden Anthropologen eine große Streitfrage, da es schwierig ist, die Standards wissenschaftlicher Objektivität mit dieser Übertragung unserer eigenen Kriterien von Vernünftigkeit auf die Subjekte unserer Untersuchung in Einklang zu bringen. Im restlichen Teil dieses Aufsatzes möchte ich einen Zugang zu diesen Problemen skizzieren, der mit einer Anerkennung der Unbestimmtheit verträglich ist, und die Bedeutung eines solchen Zugangs für andere Diskussionspunkte aufzeigen. Angenommen wir gestehen dem Übersetzer den Grundsatz zu, die beste Ubersetzungstheorie zu verwenden. Welche nun die beste Theorie ist, mag sehr davon abhängen, wofür sie verwendet werden soll, und das wiederum kann davon abhängen, welche Arten sozialer Interaktion zwi-

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sehen dem Ubersetzer und den Einheimischen die Ubersetzung erleichtern können. Nehmen wir uns nun den Fall eines Forschers vor, der sich mit einem Einheimischen in dessen Muttersprache verständigen können möchte und sich eine analytische Hypothese oder Interpretationstheorie aufbaut, die bestimmten empirischen Bedingungen entspricht. Er mag sich für die einfachste unter den möglichen Übersetzungsfunktionen entscheiden, obwohl das bedeutet, daß er dem Einheimischen zahlreiche falsche Annahmen, unverständliche Wünsche und vielleicht auch eine sehr komplexe Struktur seiner Theorie zuschreibt. Die Einfachheit einer Ubersetzungsfunktion ist für Übersetzungstheorien von Vorteil, da sie eine schnelle und bequeme Übersetzung in einem Gesprächszusammenhang erleichtert. Ein anderer Forscher mag auf die Einfachheit der Ubersetzungsfunktion verzichten und dem Einheimischen eher Annahmen oder Schlußweisen zugestehen, die ihm selbstverständlich sind. Das ermöglicht es, Reaktionen des Einheimichen auf neuartige Situationen vorauszusehen und ihn als eine Person zu betrachten: weil wir dazu imstande sein wollen, ist es für Übersetzungstheorien von Vorteil, wenn sie die Einheimischen als nach unseren Standards vernünftig anerkennen. Ein dritter Forscher wiederum mag den Wahrheitsgehalt der Annahmen der Einheimischen maximieren wollen und entdecken, daß ihre Wünsche seinen eigenen ähneln. Dies wäre für eine Ubersetzungstheorie dann ein Vorteil, wenn sie dazu verwendet werden soll, gemeinsame Unternehmungen, die sowohl den Einheimischen als auch den Forscher einbeziehen, zu erleichtern. Es ist denkbar, daß verschiedene Übersetzungstheorien diesen Wünschen entsprechen können; einer Theorie käme der eine, den anderen Theorien die anderen Vorzüge zu. Welche Theorien man annehmen soll, würde dann von den praktischen Erfordernissen abhängen, denen die Theorie genügen soll. Dieses Bild ist stark vereinfacht. Es gibt keine plausible Darstellung, wie das Übersetzen vor sich geht. Normalerweise wird eine einzige Übersetzungstheorie allen Erfordernissen gerecht. Es ist im übrigen vorteilhaft, nur über eine Theorie zu verfügen. Diese Skizze kann aber dazu verwendet werden, einige Aufschlüsse über das Ubersetzen zu geben. Der erste Punkt betrifft das Interpretieren des Verhaltens anderer Mitglieder der eigenen Gesellschaft: wir verstehen einander normalerweise, indem wir ein homophones Übersetzungssystem verwenden und annehmen, daß die Gesprächspartner ihre Ausdrücke gleich wie wir verwenden. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sich dieses System als das in jeder Hinsicht beste erweisen wird. Es ermöglicht eine sehr einfache Ubersetzung und

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belastet uns nicht mit unterschiedlichen Systemen für die Interpretation unserer eigenen sowie anderer Sprachen. Da wir derselben Gesellschaft angehören, wird dieses System auch eine beträchtliche Ubereinstimmung zwischen uns und anderen über die Natur der Wirklichkeit aufzeigen, zumal es zur Erweiterung theoretischer Erkenntnis durch gemeinsame Forschung beigetragen haben wird. Das System wird den anderen auch einen theoretischen Rahmen zuschreiben, der unserem Maßstab zufolge sehr einfach ist, da wir wahrscheinlich einen Großteil davon teilen werden und es nicht für unglaubwürdig halten. Die Übersetzungstheorie, die ich für die am besten geeignetste betrachte, das Sprachverhalten anderer Mitglieder meiner Gesellschaft zu interpretieren, wird mit jenem System übereinstimmen, das sie als das für die Interpretation meines Sprachverhaltens geeignetste erachten. Diese Überlegungen (denen sich bestimmt noch etliche hinzufügen ließen) zeigen bereits, daß die von mir verwendete Ubersetzungstheorie es leicht macht, mit anderen Mitgliedern meiner Gesellschaft Unterhaltungen aufzunehmen, von ihnen zu lernen und mit ihnen gemeinsame Forschungen durchzuführen. Die Prinzipien, die bei der Übersetzung fremder Sprachen im Spiel sind, weisen in dieselbe Richtung wenn ich andere Sprecher meiner eigenen Sprache übersetze. Dies trifft — wenngleich zu einem geringeren Grad — auch dann noch zu, wenn ich die Sprache einer Gesellschaft übersetze, die meiner eigenen ähnlich ist: wahrscheinlich aus diesem Grund sind sich die Gesellschaften auch ähnlich. Die intuitive Idee eines Verstehens, das sich aus den Erfahrungen mit anderen Sprechern derselben Sprache ergibt, bringt uns also nicht weiter, wenn das Problem im Verstehen des Sprachverhaltens Einheimischer liegt. Unter einer Bedingung kann ich Einheimische ebenso verstehen wie die Mitglieder meiner Gesellschaft, indem ich nämlich eine empirisch hinreichende Übersetzungstheorie aufstelle. Andererseits kann ich sie aber nicht auf dieselbe Art verstehen, wenn das eine Theorie voraussetzt, die allen diesen Bedingungen genügt. Sind die Gesellschaften unterschiedlich, ist dies sogar unmöglich. Eine mögliche Antwort darauf, die mit Quines Unbestimmtheitsthese übereinstimmen würde, bestünde in der Behauptung, daß es sich bei diesen Schwierigkeiten nicht um erkenntnistheoretische Hindernisse handle, die der Lösung einer bestimmten Frage im Wege stünden, sondern daß sie sich deshalb ergeben, weil wir die Problemstellung nicht gut angegeben hätten. Im homophonen Fall ist dies nicht notwendig, weil sich die verschiedenen Desiderata alle in einer Theorie finden. Quine meint, daß Naturwissenschaftler vor allem nach einem wirksamen Mittel für Vorhersagen und folglich für Erklärun-

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gen streben. Für den Anthropologen gibt es hingegen nicht ein einziges vorherrschendes Ziel in diesem Sinne, und das teils deshalb, weil die gewünschte Form des Verstehens nicht durch den bekannten Fall des Verstehens eines Sprechers derselben Sprache festgelegt wird. Eine Möglichkeit, es zu bestimmen, bestünde darin, für verschiedene Untersuchungen unterschiedliche Übersetzungstheorien zu verwenden. Die interessanten Probleme, die von der Interpretation in der Anthropologie aufgeworfen werden, beinhalten also die Frage, welche Eigenschaften von Übersetzungstheorien wir positiv bewerten sollen. Welche Art von Verständlichkeit ist einem fremdsprachigen Korpus zuzuschreiben? Quine meint, Übersetzungstheorien sollten zumindest annäherungsweise die Reizbedeutungen wiedergeben können. David Lewis hat eine Anzahl von Bedingungen angeführt, denen gute Ubersetzungstheorien genügen sollen. Das Rätsel besteht hier darin, wie man zugunsten solcher Standpunkte argumentieren kann, und es scheint, daß das vorhin untersuchte abstrakte Argument dabei von geringer Hilfe ist. Ich vermute, daß wir nur durch eine genaue Untersuchung der in der anthropologischen Praxis verwendeten Prinzipien und unter Berücksichtigung der einer Übersetzung zugrundeliegenden Motive zu einem Verständnis dieser Probleme gelangen können. Auch die philosophische Argumentation ist von Belang: wir sind möglicherweise in der Lage zu zeigen, daß bestimmte Bedingungen von jeder Übersetzungstheorie erfüllt werden müssen, die es uns gestattet, den Einheimischen als Person zu behandeln. Rorty und Davidson meinten, daß wir ihm die meisten unserer Annahmen und Standards zuschreiben müßten, wenn wir ihn als Bewohner derselben Welt betrachten 26 . Der Ubersetzer müsse also beträchtliche Zugeständnisse machen. Überlegungen dieser Art würden uns allerdings über die Grenzen dieses Aufsatzes hinausführen. Aus dem soeben Gesagten folgt nicht, daß die untersuchte Argumentation keine Folgen für unser Verstehen anthropologischer Interpretation besitzt. Akzeptieren wir nämlich die Argumentation, so müssen wir zumindest zugeben, daß die Regeln für unsere Wahl zwischen Übersetzungen von unserer Auffassung des Zwecks oder Wesens anthropologischen Verstehens abhängen. Kein Begriff der Synonymität kann eine Auffassung von richtiger Ubersetzung garantieren, die als Datenquelle anthropologi26

R. Rorty, „A World Well Lost"Journal of Philosophy, 69 (1972); D. Davidson, „The Very Idea of a Conceptual Scheme", Proceedings of the American

Philosophical

Association,

47 (1973/74), S. 5-20.

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scher Forschung in Frage käme. Auch die Berücksichtigung der Bedeutung hilft uns nicht weiter. Winch vertritt einen besonderen Standpunkt zu diesem Problem, der auf bedeutungstheoretischen Überlegungen beruht — auf Überlegungen zum Wesen der Regeln, deren Beherrschung die Kenntnis einer Sprache ausmacht. Es wird daher nützlich sein, unsere Erörterung des Wahrheitsghehalts der Unbestimmtheitsthese in die Form einer Diskussion des Begriffs einer semantischen Regel zu kleiden. Dem müssen wir uns aber durch Betrachtung einer alternativen, etwas unplausiblen mentalistischen Theorie, nähern. Angenommen es gibt eine „Sprache des Denkens", in der eine Person seine Gedanken, Vermutungen und Annahmen ausdrückt. Zum Zwecke der Verständigung muß er seine Gedanken in die öffentliche Sprache übersetzen. Worauf es ankommt, ist, daß die Intentionalität der Gedanken endgültig und einzigartig ist; ein Beispiel einer solchen Auffassung findet sich in Chisholms Theorie der Intentionalität, wie sie in seinem Aufsatz „Sentences about Believing" zum Ausdruck kommt 27 . Jeder Einheimische besitzt ein Ubersetzungsschema für die Übertragung von Gedanken in Worte: er kann die Verwendung des Schemas durch die Beobachtung des Sprachverhaltens seiner Gefährten rechtfertigen. Jeder verwendet das Schema, das ihm am einfachsten erscheint; jedes Schema genügt den erwähnten Bedingungen. Aufgrund der verschieden strukturierten Denkweisen und Einfachheitsstandards und wegen der unterschiedlich gewichteten Interpretationsprinzipien verwendet jedoch jeder Einheimische eine andere Ubersetzungshypothese. Das mag einem Aufbau der Psychologie als empirischer Wissenschaft im Wege stehen und kann sogar zu Auseinandersetzungen darüber führen, welche Revisionen im Falle einer Unregelmäßigkeit am geeignetsten sind. Dieser Standpunkt ist eine krude Abart des Standpunktes, wie er sich in einigen Schriften von C. I. Lewis und Russells findet — daß Bedeutungen privat und für die Kommunikation belanglos sind. Da jedermann ein verschiedenes Ubersetzungssystem verwendet, gibt es keine Anwort auf die Frage, welches dieser Systeme das richtige sei — denn jeder versucht, seine Praxis derjenigen der anderen anzupassen. Damit wird ein skeptisches Problem aufgeworfen. Wir können unsere Intuition vielleicht dazu verwenden, die Bedeutung auf einer bestimmten Ebene festzulegen. Dies reicht aber noch nicht aus, Bedeutungen in einem gesellschaftlichen Kontext festzulegen: wahrscheinlich bedarf es dazu ei27

R. Chisholm, „Sentences about Believing", Proceedings of the Aristotelian Society, n.s., 56 ( 1 9 5 5 - 5 6 ) , S. 1 2 5 - 1 4 8 .

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ner öffentlichen Intuition. Vielleicht besteht eine natürlichere Antwort darin, die öffentliche Sprache als eine Art von Konstruktion aus dem Bereich privater Sprachgewohnheiten aufzufassen, wobei die Übereinstimmung mit den öffentlichen Regelmäßigkeiten eine Schranke für die Angemessenheit privater Regelmäßigkeiten darstellt. Man verwendet die Sprache dann korrekt, wenn sein Sprachverhalten den öffentlichen Regelmäßigkeiten entspricht: die Wahl einer analytischen Hypothese oder Interpretationstheorie ist eine pragmatische Angelegenheit. Es wäre nicht unvernünftig, eine bestimmte Hypothese zu wählen und gleichzeitig anzunehmen, daß sie sich von den von anderen verwendeten unterscheidet: auch wenn sich die privaten Bedeutungen unterscheiden, ergeben sich dieselben öffentlichen Bedeutungen. Der Zwiespalt zwischen öffentlichen und privaten Bedeutungen ist unbefriedigend. Wir können auf ihn dadurch reagieren, daß wir die privaten Intuitionen des intentionalen Gehalts beseitigen und so der öffentlichen Bedeutung den Vorrang geben, oder indem wir versuchen, eine Art öffentlicher Intuition anzunehmen, um intentionale Beschreibungen festzulegen. Quine entscheidet sich für den ersten Weg: Brentanos These von der Nichtreduzierbarkeit intentionaler Ausdrucksformen steht mit der These von der Unbestimmtheit der Ubersetzung voll und ganz in Einklang. Man kann Brentanos These akzeptieren und entweder so verstehen, daß sie die Unabdingbarkeit der intentionalen Ausdrucksformen und die Bedeutung einer eigenständigen Wissenschaft von den Intentionen zeigt, oder aber so, daß sie die Grundlosigkeit der intentionalen Ausdrucksformen und die Gehaltlosigkeit einer Wissenschaft von den Intentionen zeigt. Im Gegensatz zu Brentano bin ich der letzteren Auffassung 2 8 .

Es gibt Philosophen, die den Begriff der Regel so einführen, daß Regeln in einer sozialen Praxis beruhen, wobei angenommen wird, daß die Regeln intentionale Beschreibungen festlegen. Auch wenn wir Gefahr laufen, sie mißzuverstehen, können wir Wilfrid Seilars und Peter Winch als Vertreter dieser Richtung anführen 29 . Wenn die Verwendung eines Ausdrucks durch einen Sprecher regelgeleitet ist, muß es dem Sprecher sicherlich möglich sein, sich durch Selbstreflexion bewußt zu werden, was die Regel verlangt. Er hat eine Auffassung darüber, wie der Ausdruck verwendet werden sollte, und diese ermöglicht ihm eine kritische Einschätzung seines sprachlichen Verhaltens. Er muß sich also der zwei Möglichkeiten bewußt 28 29

Quine, Wort und Gegenstand, S. 381. W . Seilars, „Some Reflections on Language Games", in Science, Perception Reality (London, 1963); Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft.

and

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sein, seine eigene Auffassung über die Regel zu kritisieren, um besser mit dem Sprachverhalten seiner Gemeinschaft übereinzustimmen, und seinen eigenen Sprachgebrauch der Regel anzupassen. In beiden Fällen scheint dies nur durch eine Entscheidung darüber erreichbar zu sein, ob eine öffentliche Regelmäßigkeit der Regel entspricht. Aber jede öffentliche Regelmäßigkeit entspricht vielen Regeln. Da die Regeln überdies nur sprachlich formuliert sind, werden durch den Regelbegriff bestimmte Bedeutungen nur dann festgelegt, wenn die mit dem Regelgebrauch verbundenen zwei Ubersetzungsprobleme gelöst werden können und die Bedeutungen der in den Regelformulierungen verwendeten Ausdrücke festgelegt sind. Auf den ersten Blick scheint der Versuch, den Regelbegriff zur Festlegung der Bedeutung zu verwenden, also problematisch zu sein. Oft wird der Begriff einer sozialen Praxis oder „Lebensform" eingeführt, um diese Schwierigkeit auszuräumen. Wenn sich die Praxis jedoch bloß als eine Regelmäßigkeit im Sozialverhalten erweist, ist schwer einzusehen, wie sie das Problem lösen kann: die erkenntnistheoretische Kluft bleibt bestehen. Die Möglichkeit der Unbestimmtheit scheint sich mit dem Begriff einer Regel einzustellen, außer man führt (wie Seilars Gegner Metaphysicus30), eine bizarre Form einer Intuition des Gehalts einer Regel ein. Diese Problematik wird klarer, wenn wir einen möglichen Einwand betrachten. Einem Kind wird beigebracht, einen Ausdruck gemäß einer bestimmten Regel zu verwenden. Das Unbestimmtheitsargument ist also bloß eine Behauptung, daß es immer denkbar ist, daß sich das Verhalten des Kindes geändert hat — und das läuft auf einen nutzlosen Skeptizismus der cartesischen Variante hinaus. Sobald die Semantik des eigenen Sprachverhaltens festgelegt ist oder des Sprachverhaltens einer Person, die man unterrichtet hat — wenn sie in der Absicht unterrichtet wurde, ihr Verhalten homophon übersetzbar zu machen, gibt es bloß skeptische Gründe für einen Zweifel an der Korrektheit dieses Schemas — so liefert dies eine Basis für eine empirische Fundierung psychologischer Verallgemeinerungen, die dazu verwendet werden kann, das Sprachverhalten anderer Mitglieder der Gemeinschaft zu interpretieren, besonders weil es ein Netz von Schüler-Lehrer-Beziehungen geben wird, die diese Verallgemeinerungen verbinden. Die Schwäche des Einwands liegt in seiner Annahme, daß der Lehrvorgang eine Bestimmtheit hervorbringt. Wenn die Bedeutung der Regelbildung selbst unbestimmt ist, wird sich diese Unbestimmtheit natürlich auf die Bedeutungen von regelmäßig verwendeten Ausdrücken 30

Seilars, a. a. O.

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übertragen. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, daß das Verhalten des Kindes so konditioniert ist, daß das Funktionieren eines homophonen Ubersetzungssystems noch nicht bedeutet, daß kein anderes System funktionieren würde, oder daß, wenn es alternative Systeme gäbe, nur das homophone System korrekt wäre. Die Praxis kann vielmehr auf verschiedene Arten beschrieben werden, und unterschiedliche Beschreibungen sind für verschiedene Erklärungszwecke verwendbar. Diese Argumentation verleiht also der Unbestimmtheitsthese Gewicht: das Lehren muß lediglich den Gebrauch einer bestimmten Übersetzungstheorie ermöglichen. Welche Bedeutung hat dies für Winchs Auffassung? Er scheint anzunehmen, daß der gesellschaftliche Kontext Regelformulierungen festlegt, und schließt, daß ein Versuch, das Verhalten einer Gesellschaft von außen zu interpretieren, auf Schwierigkeiten stößt. Vertritt er diese Auffassung, so können wir entgegnen, daß er seine Bedeutungstheorie nicht begründet, und daß kein Anlaß zur Vermutung besteht, der Regelbegriff könne dies nicht leisten. Geben wir die Unbestimmtheit der Bedeutung zu, so verschwindet seine Problemstellung überhaupt. Allerdings gibt es auf diesem Gebiet ein Problem, und möglicherweise handelt es sich um jenes, auf das es auch Winch ankommt. Wir haben einen Unterschied zwischen den Interpretationsbemühungen bemerkt, die auf die Mitglieder einer Gesellschaft abzielen, und wir haben behauptet, daß man mit gutem Grund erwarten kann, daß eine Interpretationstheorie sich bereits anfangs als optimal erweisen wird — die meisten jener Vorzüge besitzt, die wir in Theorien suchen. Gehören die Sprecher der interpretierten Sprache einer von der unsrigen völlig verschiedenen Gesellschaft an, gibt es weniger Grund zu einer solchen Annahme. Daraus folgt, daß die Kenntnis der Interpretationstheorie nur im ersten Fall uns mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit befähigt, am Leben der jeweiligen Gemeinschaft teilzunehmen. Nehmen wir nun an, wir wollen das Verhalten der Gemeinschaft so verstehen, wie ihre Mitglieder sich selbst verstehen. Wir können das erreichen, da wir ebenso wie sie eine rationalisierende Interpretation geben können. Aber gleichzeitig gelingt es uns doch nicht, denn wir können keine Interpretation liefern, die eine Teilnahme an ihrer Lebensart erleichtert. Winch scheint zu behaupten, daß ein Verständnis, das nicht eine Teilnahme begünstigt (wobei es sich um einen starken Begriff von Teilnahme handelt) notwendigerweise verzerrend ist. Aber ohne das bedeutungstheoretische Argument, das wir zurückweisen zu können meinten, ist es überhaupt nicht klar, warum dies so ist. Während die Unbestimmtheits-

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these selbst also keine Antworten auf die zentralen Fragen der Philosophie der Anthropologie liefert, zwingt sie ihnen doch eine bestimmte Perspektive auf, die einige ansonsten fruchtbare Ansätze ausschließt.

PHILIP PETTIT

Die Theorie des rationalen Menschen1 Jede Erklärungspraxis ist die Umsetzung einer erklärenden Theorie; denn wenn wir gewohnt sind, A-Ereignisse heranzuziehen, um B-Ereignisse verständlich zu machen, dann heißt das, daß wir eine Theorie haben, die solche Ereignisse als Gegenstände eines inhaltlichen Interesses zuläßt, und die Regelmäßigkeiten ihrer Aufeinanderfolge als bedeutsam auffaßt. Es geht mir in diesem Aufsatz um die durch Alltagsverstand und Sozialwissenschaft dargestellten Praktiken der Erklärung menschlichen Handelns. Ich nehme an, (1) daß die in der Alltagserklärung allgemein zugrundegelegte Theorie des menschlichen Akteurs den Menschen als rational darstellt, und (2) daß eine derartige Theorie auch von der sozialwissenschaftlichen Erklärung des Handelns zugrundegelegt werden sollte. Ich habe vor, eine Skizze der „Theorie des rationalen Menschen" zu liefern und begreiflich zu machen, welche Rolle sie in den Sozialwissenschaften spielen sollte. Eine vollständige Verteidigung meiner Annahmen, und eine vollständige Ausarbeitung der durch diese implizierten Auffassung würde den Rahmen eines kurzen Aufsatzes überschreiten2. Der Aufsatz enthält drei Abschnitte. Im ersten betrachte ich das Wesen der Theorie des rationalen Menschen, wobei ich besonders Fragen über ihre Struktur, ihren Status und über die Methoden, sie auszuwählen, behandle. Im zweiten gehe ich zur Funktion der Theorie über: also zur Rolle, die sie in der alltäglichen Organisation unserer Angelegenheit spielt. Im dritten Abschnitt komme ich schließlich auf ihre Anwendung in der 1

2

Ich möchte den kritischen Bemerkungen im Anschluß an mein Referat auf der Tagung der Thyssen Philosophy G r o u p im M ä r z 1 9 7 6 meine Anerkennung zollen; ich h o f f e , daß ich ihnen bei dieser Revision einigermaßen Rechnung getragen habe. — Ich habe weiters von Diskussionen mit Attracta D u n l o p , Ross Harrison, Chris H o o k w a y und Graham MacDonald profitiert. Zur Ergänzung siehe P. Pettit, „The L i f e - W o r l d and Role-Theory", in E. Pivcevic (Hrsg.), Phenomenology and Philosophical Understanding (Cambridge, 1975), und „Making Actions Intelligible", in R. Harre (ed.), Life Sentences (London, 1976).

Die Theorie des rationalen Menschen

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Sozialwissenschaft zu sprechen. Dort versuche ich zu zeigen, daß die Theorie des rationalen Menschen bedeutsamen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zugrundeliegen kann, obwohl sie einen impliziten Teil unseres alltäglichen Wissens darstellt.

I Die Theorie einer Person über einen beliebigen Gegenstand ist die Menge der Annahmen, die er bereit ist, darüber auszudrücken. Hinzu kommen jene Annahmen, bezüglich derer man ihn so weit bringen kann, daß er eingesteht, daß sie in seinen Äußerungen implizit enthalten sind. Um es weniger psychologisch auszudrücken: jemandes Theorie über irgendein Thema ist die Menge der Sätze in einem spezialisierten Vokabular (das dem Thema angemessen ist), die er bereit ist, zu behaupten, einschließlich jener Sätze, die nach seinen eigenen Schlußregeln aus ihnen folgen. Uber den Aufbau jeder Theorie kann man drei Hauptfragen aufwerfen. Diese können zweckmäßigerweise als Untersuchungen über die Struktur der Theorie, ihren Status, und die Methode, sie auszuwählen, formuliert werden. Anzugeben, wie die Sätze einer Theorie intern angeordnet sind, ist das Problem der Struktur. Das Problem des Status bezieht sich darauf, wie man sich die Beziehung zwischen der Theorie und ihrem Gegenstandsbereich vorstellen soll — ist sie ein Bild davon, wie die Dinge sind, vielleicht sogar ein Versuch, das Bild zu entwerfen, oder etwas ganz und gar Unbildliches? Und das Problem der Auswahl liegt in der Frage: Wie begründen wir, daß die Theorie ihren Konkurrenten vorgezogen werden soll — indem wir uns auf die Tatsachen berufen, auf formale Kriterien oder solche des Verfahrens verweisen, oder auf irgendeine andere Art? Wir befassen uns hier mit einer Menge von Annahmen, die von Mitgliedern der Common-sense-Gemeinschaft vertreten und von Sozialwissenschaftlern, die sich dem Bild des rationalen Menschen verhaftet fühlen, unterhalten werden. Im Zusammenhang mit der Theorie werden wir die Fragen der Struktur, des Status und der Auswahl aufwerfen, obwohl wir viele der damit verknüpften Fragen nur streifen werden können. Das Hauptergebnis der Diskussion wird in der Entdeckung liegen, daß die Theorie des rationalen Menschen hinsichtlich der Methode, sie auszuwählen, ungewöhnlich ist. Dies wird uns im nächsten Abschnitt zu einer Erörterung der Funktion führen, die eine solche ungewöhnlich begründete Theorie erfüllen kann.

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Philip Pettit

In der Frage der Struktur legt die Orthodoxie des Positivismus zunächst einmal nahe, innerhalb jeder Theorie zwischen analytischen und synthetischen Wahrheiten zu unterscheiden und, einer überlappenden Unterscheidung gemäß, zwischen theoretischen Wahrheiten und Beobachtungswahrheiten. Die erste Unterscheidung geht davon aus, daß einer Theorie einige Wahrheiten durch ihre Sprache aufgezwungen werden, die zweite davon, daß ein solcher Zwang durch die Erfahrung ausgeübt wird. Aber weder Sprache noch Erfahrung weisen die von diesen Voraussetzungen implizierte Theorieunabhängigkeit auf. Wenn ein Theoretiker Wahrheiten akzeptiert, die mit seinem Sprachgebrauch selbst verknüpft sind, dann bedeutet das nicht, daß die Wahrheiten Konventionen sind, bezüglich derer ihm keine Wahlmöglichkeit offensteht: sein Sprachgebrauch spiegelt seine Theorie wider. Und wenn er andererseits unmittelbar von der Erfahrung gestützte Wahrheiten akzeptiert, dann heißt das ebenfalls nicht, daß er hilflos ist, denn wie sich die Erfahrung darstellt, wird von den theoretischen Annahmen bestimmt, auf deren Grundlage sie beschrieben wird. Zumindest im Prinzip steht es dem Theoretiker frei, diese Annahmen zu revidieren. Diese Hinweise geben uns, ohne daß wir sie weiter ausführen, Grund dazu, die traditionellen Abgrenzungen innerhalb der Sätze einer Theorie beiseite zu lassen. Aber auf welche Unterteilungen sollten wir uns dann überhaupt noch einlassen? Nun, wenn wir die Theorie des rationalen Menschen in geordneter Form darlegen wollten — etwa in axiomatischer Form, wobei wir eine Teilmenge von Sätzen isolieren, von denen wir zeigen, daß die anderen aus ihnen aufgrund bestimmter Schlußregeln folgen — dann werden wir wahrscheinlich zwischen mindestens drei Klassen von Sätzen unterscheiden wollen. Die erste wäre die Menge der logischen Wahrheiten, die festlegt, was innerhalb der Theorie woraus folgt, und im gegenwärtigen Zusammenhang brauchen wir darüber nichts weiteres zu sagen. Die zweite und dritte wären dann Postúlate über den rationalen Menschen und Gesetze über den rationalen Menschen, wie ich sie nennen werde. Die beste Methode der Erläuterung, was mit „Postulaten über den rationalen Menschen" gemeint ist, ist die Erstellung einer Liste von Aussagen, denen man diesen Titel verleihen könnte. Hier werde ich fünf Postúlate skizzieren. Ich glaube, daß einfache Überlegung die meisten von uns dazu bringen wird, ihnen zuzustimmen. Man beachte, daß sie Aussagen sind, von denen man gemeinhin annimmt, daß sie einen zumindest impliziten Teil alltäglicher Annahmen darstellen; sie müssen nicht Aussagen sein, die explizit vertreten werden.

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(1) Jede menschliche Handlung entspringt einem Wunsch, oder einer Menge von Wünschen, den oder die sie nach Ansicht des Handelnden zu erfüllen verspricht („erfüllen" wird in Postulat 4 definiert). (2) Die Wünsche jedes Handelnden, sofern sie im eigentlichen Sinn menschlich sind, können durch öffentliche Standards der Normalität erklärt werden (siehe Abschnitt II). (3) Die Annahmen jedes Handelnden, sofern sie im eigentlichen Sinn menschlich sind, können durch öffentliche Standards der Normalität erklärt werden (siehe Abschnitt II). (4) Glauben und Wünsche führen mittels bekannter rationaler Prinzipien zur Handlung. Es ist Aufgabe der Entscheidungstheorie, diese Prinzipien herauszuarbeiten 3 . (5) Glauben, Wünsche und Entscheidungsprinzipien können manchmal, bevor die Handlung erfolgt, aus vergangenem Verhalten — unter Annahme persönlicher Verhaltenskonsequenzen — und aus gegenwärtigen Umständen — unter Annahme der Gemeinsamkeit von Reaktionen — erschlossen werden. Andere Faktoren, wie etwa der Ausdruck von Gefühlen, können diese Art von Interpretation ebenfalls erleichtern. Die Unterscheidung zwischen Postulaten und Gesetzen über den rationalen Menschen ist im wesentlichen eine graduelle: strenggenommen zählen auch die Postúlate zu den Gesetzen der Theorie. Aber ich werde diesen Begriff für die potentielle Unendlichkeit von wahren universellen Sätzen vorbehalten, die aus den Postulaten — oder zumindest aus den stabilen Postulaten (1) bis (4) — als aus Axiomen abgeleitete Theoreme folgen. In jedem dieser Sätze wird eine bestimmte Handlungssituation beschrieben, wobei die Beschreibung ein gegebenes Muster von Annahmen und Wünschen voraussetzt, und die Wahl einer Handlung — die rationale Wahl — vorhergesagt wird. (Solche Gesetze setzen Verfahrenswahrheiten darüber voraus, wie man Annahmen und Wünsche feststellt — z. B. die in der von Jeffrey 4 beschriebenen Methode Ramseys verwendeten — und diese müssen sich aus Postulat (5) herleiten. Der Einfachheit halber sparen wir sie aus unserer Darstellung der Theorie des rationalen Menschen aus.) Es ist zweckmäßig, sich die Gesetze über den rationalen Menschen als Bedingungssätze vorzustellen, in denen das Antezedens eine eine Handlungssituation beschreibende Matrix ist, und das Konsequens die Vorher-

3

4

Siehe Richard Jeffrey, The Logic of Decisión

Ebda.

(New York, 1965).

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sage einer rationalen Wahl. Immer wenn ein Akteur handelt, wird er, in Anbetracht dessen, was er glaubt, mit Folgendem konfrontiert: (a) einer Liste von Wahlmöglichkeiten, (b) einer Menge von Ergebnissen, die er mit jeder Wahlmöglichkeit verknüpft, und (c) einer Einschätzung, falls eine solche zur Verfügung steht, der Wahrscheinlichkeit des Eintreffens jedes Ergebnisses, sollte die damit verknüpfte Handlung gewählt werden. Die Wünsche des Akteurs kommen hier insofern ins Spiel, als sie die relative Attraktivität oder den relativen Nutzen jedes der Ergebnisse bestimmen, deren Ausprägung wir als numerisch darstellbar annehmen können. Somit können wir erwarten, daß das Antezedens jedes beliebigen Gesetzes über den rationalen Menschen ungefähr so aussieht: Wahl 1

Wahl 2

Wahr 3

Erstes Ergebnis Zweites Ergebnis Drittes Ergebnis WahrscheinlichWahrscheinlichWahrscheinlichkeit 0.25 keit0.25 keit0.5 Nutzen 0.5 Nutzen 0.4 Nutzen 0.2 Erstes Ergebnis Zweites Ergebnis Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit unbekannt unbekannt Nutzen 0.8 Nutzen 0.1 Einzig mögliches Ergebnis Wahrscheinlichkeit 1 Nutzen 0.45

Das Gesetz wird mit einem solchen Antezedens als Konsequens die Vorhersage verknüpfen, daß ein bestimmtes Element aus der Menge, oder zumindest aus einer bestimmten Teilmenge, der Wahlmöglichkeiten ausgewählt wird, wobei die Wahlmöglichkeiten durch die in Postulat (4) erwähnten entscheidungstheoretischen Prinzipien angegeben werden. Nach der Frage ihrer Struktur müssen wir zur Theorie des rationalen Menschen jene ihres Status aufwerfen. Aus der Statusfrage erwachsen Kontroversen zwischen Realismus und Antirealismus, Konventionalismus und Essentialismus, und Monismus und Pluralismus, aber wir werden uns nur mit der ersten und dritten befassen. In der ersten Kontroverse geht es darum, ob die Theorie des rationalen Menschen als Menge von wahren oder falschen Sätzen aufgefaßt werden soll, die Aussagen darüber treffen, wie die Dinge, vielleicht sogar unbeobachtbare Dinge, in der Welt beschaffen sind. Der Antirealismus, der der Theorie einen derartigen abbildenden Status absprechen würde, kann in zwei verschiedenen Varianten auftreten: in einer reduktionistischen, derzufolge die Sätze wahr

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oder falsch sind, sich aber nur auf streng Beobachtbares beziehen, und in einer instrumentalistischen, die ihnen Wahrheits-werte abspricht und behauptet, sie seien nicht mehr als zweckmäßige Instrumente, um Erwartungen auszudrücken. Nehmen wir als Beispiel einen Satz, der nicht aus der Theorie des rationalen Menschen stammt, sondern eine Anwendung dieser Theorie darstellt: die Erklärung, daß ein bestimmter Akteur A anstelle von B wählte, da er glaubte, daß A bei jedem möglichen Ausgang die Wünsche erfüllen würde, die jeder mögliche Ausgang von B seinen Erwartungen zufolge erfüllen würde. Nach Auffassung des Realisten wäre dies die Zuschreibung eines gänzlich unbeobachtbaren geistigen Zustandes — ob dieser nun auf einen Gehirnzustand reduzierbar ist oder nicht — dessen Auftreten als Ursache der Wahl von A genannt wird. Nach Auffassung des Reduktionisten wäre dies bloß eine Umschreibung der Wahl von A als ein Versuch, die erwähnten Wünsche zu erfüllen, eine Umschreibung zudem, die keinerlei Implikationen für Unbeobachtbares hätte. Nach Auffassung des Instrumentalisten wäre dies ein Weg, Erwartungen darüber zu erzeugen, was bei Nichterfüllung irgehdeiner Bedingung geschehen hätte können, oder darüber, was noch geschehen könnte, wäre der Akteur mit einer verwandten Entscheidung konfrontiert — dies, ohne irgendeine faktische Wahrheit bezüglich des Akteurs oder seiner Handlung zu implizieren. Wenn wir die vorliegende Streitfrage unter Rückgriff auf unser intuitives Verständnis der Sprachpraxis entscheiden, dann muß sich sicherlich der Realismus als die zu vertretende Doktrin herausstellen. Liefern wir eine Erklärung der erwähnten Spielart, dann legen wir uns gewiß auf mehr als eine Darstellung fest, wie es um die beobachtbaren Dinge bestellt ist. Zumindest implizieren wir — worauf der Instrumentalist beharrt — daß bestimmte kontrafaktische Aussagen gewährleistet sind: wir legen zum Beispiel nahe, daß der Akteur, hätte er nicht geglaubt, daß A die ihm zugeschriebene Eigenschaft hätte, vielleicht nicht so gehandelt haben würde, wie er gehandelt hat. Aber wenn das den Reduktionismus widerlegt, dann können wir uns andererseits des Intrumentalismus entledigen, indem wir uns überlegen, daß wir eine solche kontrafaktische Aussage nicht vertreten würden, glaubten wir nicht, daß irgendetwas beim Akteur vorlag — etwas, das von ihm faktisch, aber vielleicht nicht beobachtbar wahr ist — das erklärt, warum die Hypothese verteidigt werden kann. Unsere Praxis bei der Zuweisung von Erklärungen über den rationalen Menschen, und bei der Ableitung von Folgerungen daraus, legt nahe, daß der Realismus die angemessene Betrachtungsweise dieser Theorie darstellt.

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Es gibt Argumente dafür, warum wir unsere Sprachpraxis — oder zumindest unsere Annahmen darüber, worauf sie uns festlegt — unter Annahme einer anti-realistischen Sprachauffassung revidieren sollten, aber wir können diese Argumente hier weder darstellen noch widerlegen 5 . Wenn wir davon ausgehen, daß die realistische Auffassung der Theorie des rationalen Menschen angemessen ist, dann ist die andere Statusfrage, der wir uns zuwenden müssen, die, ob wir die Theorie nach einem monistischen oder nach einem pluralistischen Muster entwerfen sollen. (Es sei angemerkt, daß sich die Frage für jene, die sich statt für den Essentialismus für den Konventionalismus entschieden haben, in besonders scharfer Form stellt; wir sind jedoch übereingekommen, diese Debatte außer Acht zu lassen.) 6 Das Problem des Monismus und Pluralismus kann im Zusammenhang mit einer einzelnen oder mit mehreren Theorien auftreten. Vorausgesetzt, wir fassen unsere Sätze realistisch auf, stellt sich folgende Frage: Wie sollen wir reagieren, wenn eine gegebene Datenmenge uns gestattet, irgendeine aus einer Anzahl konkurrierender Aussagen S l , S2 oder S3 zu behaupten? Pragmatisch werden wir uns vermutlich für die eine oder andere von diesen Aussagen als das, was zu sagen ist, entscheiden müssen; aber was sollen wir dann von den von uns verworfenen halten? Wenn sie aus derselben Theorie stammen und mit der von uns gewählten Aussage unverträglich sind, oder wenn sie aus einer anderen Theorie nur so übersetzbar sind, daß sie als unverträglich erscheinen, sollen wir dann einfach sagen, daß sie falsch sind, und damit einen Monismus vertreten? Oder sollen wir uns vielleicht weigern, solche Sätze als wahr oder falsch auszuzeichnen, unter der Annahme, daß die Realität auf irgendeine rätselhafte Weise mit allen übereinstimmt? Es sollte klar sein, daß die Problematik, wenn sie so formuliert wird, sich mit unserem Bekenntnis zum Realismus anlegt — zumindest solange wir Wahrheit im natürlichen Sinn einer Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit auffassen7— und daß uns dann nur eine monistische Position offensteht. Unverträgliche Sätze haben Wahrheitsbedingungen, die wir uns nicht als gleichzeitig erfüllt vorstellen können, und wenn wir einen

5 6

7

Siehe John McDowells Beitrag in diesem Band. Für eine konventionalistische Auffassung siehe W . V . O . Quine, Wort und Gegenstand (Stuttgart, 1980); für eine essentialistische Auffassung siehe Hilary Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung" (Frankfurt, 1979). Siehe John Mackie, Truth, Probability and Paradox (London, 1973), Kap. 2.

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dieser Sätze behaupten, müssen wir die anderen verneinen. Können wir also schließen, daß wir unsere Theorie des rationalen Menschen nicht bloß als eine realistische Abbildung der Dinge auffassen sollen, sondern als eine Abbildung, die wir zu dem Ausmaß, zu dem wir sie unterstützen, als die einzig genaue betrachten müssen? Die Antwort ist bejahend, wenn auch zur Erläuterung hinzugefügt werden muß, daß die Unterstützung einer Theorie mit Vorbehalten vereinbart werden kann: wir können an die Möglichkeit von Alternativen glauben, die uns unsere gewöhnlichen Kriterien der Theorienwahl vorziehen lassen würden. Können wir aber auch schließen, daß wir, wenn wir innerhalb der Theorie — das heißt bei ihrer Anwendung — eine Anzahl von unterbestimmten, aber unverträglichen Sätzen akzeptieren, den gewählten Satz einfach als wahr, und die anderen als falsch auffassen sollen? Die Antwort ist wiederum bejahend, aber zur Erläuterung müssen wir etwas weiter ausholen als im anderen Fall. Im besonderen muß gesagt werden, daß wir dort, wo wir solche Sätze auf den ersten Blick als mit der von uns gewählten Aussage über die Dinge unverträglich zurückweisen, nichts überstürzen sollten, indem wir sie etwa für schlicht falsch erklären. Obwohl Quines Argument zugunsten der Unbestimmtheit der Übersetzung nicht zum Pluralismus in irgendeinem strengen Sinn führt, hat es doch gezeigt, daß bei der Zuschreibung propositionaler Einstellungen der Anschein der Unverträglichkeit ernstlich trügen kann 8 . Eine derartige Zuschreibung liegt bei der rationalen Handlungserklärung vor, denn eine solche Erklärung schreibt dem Akteur propositionale Einstellungen zu — den Glauben oder den Wunsch, daß dieses oder jenes — was eine Parallele zu den in einer Ubersetzung zugeschriebenen Einstellungen darstellt — die Behauptung, der Forderung oder dem Wunsch, zum Beispiel daß dieses oder jenes. Wesentlich an Quines Argumentationsgang ist folgendes. Wenn wir voraussetzen, daß es keine sprachunabhängigen Gegenstände wie etwa Propositionen gibt — das es nur sprachspezifische Sätze gibt, in denen wir jemandes propositionale Einstellungen ausdrücken können — dann müssen wir zahlreiche scheinbare Unvereinbarkeiten der Ubersetzung mit einer Großzügigkeit betrachten, die jener des Pluralisten nahekommt. Denn nehmen wir einen Fall, wo uns alle verfügbaren — und vielleicht alle vorstellbaren — Daten gestatten, jemandes Äußerung in einer von zwei unverträglichen Varianten zu übersetzen, indem wir sagen, daß er meint, 8

Siehe Quine, Wort und Gegenstand, trag in diesem Band.

Kap. 2, und Christopher Hookways Bei-

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daß dieses oder jenes der Fall, oder daß es nicht der Fall sei. Mit Quine können wir annehmen, daß diese Situation tatsächlich auftreten kann, und zwar nicht nur bei exotischen, sondern auch bei alltäglichen Anlässen. Wenn wir die Idee verwerfen, daß hinter dem von dem Menschen verwendeten Satz eine Proposition steckt, und wenn wir entscheiden, daß der Satz selbst und das ganze damit einhergehende übersetzerische Datenmaterial mit beiden Interpretationen verträglich ist, dann haben wir damit akzeptiert, daß es keine faktische Grundlage gibt, in bezug auf die rivalisierende Ubersetzungen in unsere Sprache richtig oder unrichtig sind. Wir müssen dann annehmen, daß die Wirklichkeit — oder was von ihr nach der Verbannung von Propositionen bleibt — in bezug auf die konkurrierenden Interpretationen unbestimmt ist, oder, weniger überspitzt ausgedrückt, daß die Wirklichkeit nicht so weit reicht: daß sie bestimmt ist, aber nicht bis zum Unterschied zwischen den Interpretationen. Wenn wir Quine in der Verwerfung von Propositionen folgen — wofür alles spricht — dann müssen wir bereit sein, bei der Zuschreibung von propositionalen Einstellungen nicht nur Unterbestimmtheit, sondern auch Unbestimmtheit hinzunehmen. Das macht uns jedoch in unserer Auffassung von der Theorie des rationalen Menschen nicht zu Pluralisten. Wir müssen lediglich einräumen, daß einige Entscheidungen bei der Anwendung dieser Theorie auf andere Personen oder Personengruppen etwas anderes darstellen können als Interpretationsmöglichkeiten der objektiven Wirklichkeit. Sie müssen uns nun als Entscheidungen von bloß praktischer Bedeutung erscheinen, wie die Entscheidung, ob wir in Zoll oder in Zentimetern messen sollen9. Nachdem wir die Probleme von Struktur und Status hinter uns gebracht haben, wenden wir uns schließlich der Frage zu, wie die Theorie des rationalen Menschen ausgewählt wird. Die Situation der Theorienwahl wird von Mary Hesse unter Bezug auf eine Analogie mit einer Lernmaschine elegant dargestellt 10 . Die Grundidee ist dabei, daß wir uns eine Theorie als eine Maschine vorstellen, deren Lernen sich in Interaktion mit einer Umgebung entwickelt, die ständig Daten zufließen läßt. Es ist Aufgabe der Theorie, diese Daten aufzuzeichnen und zu klassifizieren, Beobachtungen unter eine handliche Menge von allgemeinen Gesetzen zu bringen, diese Gesetze zur Projektion zukünftiger Daten zu verwenden, 9 10

Siehe Christopher Hookways Beitrag in diesem Band. Mary Hesse, „Models of Theory C h a n g e " , in Patrick Suppes u. a. (Hrsg.), Logic, Methodology and Philosophy of Science (Amsterdam, 1973).

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und dabei vorherzusagen, was unter verschiedenen Bedingungen wahrscheinlich geschehen wird. Die Theorie wird erfolgreich sein, und einen Gleichgewichtszustand mit ihrer Umgebung herstellen, wenn sie Gesetze der Art entwickelt, daß sie jedes neu eintreffende Datenelement berücksichtigen kann, und wenn die Projektionen, die sie auf der Grundlage dieser Gesetze erstellt, nicht versagen. Die Analogie mit der Lernmaschine legt nahe, daß wir uns eine Theorie als aus zumindest drei deutlich unterscheidbaren Bestandteilen zusammengesetzt vorstellen: einem Aufnahmegerät, einem Theoretiker und einem Prognostiker. Das Aufnahmegerät registriert die von der äußeren Umgebung gelieferten Daten, verarbeitet sie, und liefert dann dem Theoretiker eine Menge von Sätzen, die unter Rückgriff auf einen gegebenen Bestand an Prädikaten die beobachteten Ereignisse darstellen. Der Theoretiker — die eigentliche Theorie — übernimmt diese Berichte und versucht, sie als Anwendungsfälle allgemeiner Wahrheiten auszuzeichnen, so daß beispielsweise „Ein P stellte sich als Q heraus" als ein weiteres Beispiel des Gesetzes „Alle P sind Q" gekennzeichnet wird. Schließlich übernimmt der Prognostiker diese Verallgemeinerungen vom Theoretiker und verwendet sie zu Vorhersagezwecken, wobei er festlegt, was sich unter verschiedenen konkreten Umständen ereignen kann. Diese Vorhersagen, ob nun bestätigt oder widerlegt, werden Bestandteil des empirischen Inputs, der dem Aufnahmegerät zugeliefert wird: werden sie eingelöst, dann wird die theoretische Abbildung der Umgebung gerechtfertigt; werden sie falsifiziert, dann muß das Bild von neuem betrachtet und berichtigt werden. Das Berichtigen einer Theorie — das Kernstück des Auswahlprozesses — kann, grob gesprochen, auf vier verschiedenen Ebenen vorgenommen werden, wie leicht ersichtlich ist, wenn wir uns die verschiedenen möglichen Reaktionen auf die den Gesetzen der Theorie widersprechende Beobachtung, daß ein P kein Q ist, vorstellen: (1) Eine erste mögliche Reaktion ist einfach eine Berichtigung des Beobachtungsberichts, indem man ihn als fehlerhaft klassifiziert: was beobachtet wurde, war nicht wirklich ein P, oder nicht wirklich ein Q. (2) Eine zweite Reaktion ist die Revision des Bestandes an Prädikaten, die dem Aufnahmegerät zur Verfügung stehen, indem man zum Beispiel festlegt, daß ein P, das sich nicht als Q herausstellte, nicht mehr als P gelten wird: der Wal, der nicht durch die Kiemen atmet, wird nicht mehr als Fisch zugelassen. (3) Eine dritte Antwort auf die beobachtete Anomalie ist die Revision des Gesetzes „Alle P sind Q" bis es mit der Beobachtung übereinstimmt, indem man es zum Beispiel zu

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„Alle P unter der Bedingung B — oder von der Art A — sind Q" macht. (Eine Variante dieser Antwort liegt vor, wenn ein Gesetz, das mit dem ursprünglichen in einem entscheidenden Zusammenhang steht, revidiert wird, so daß die Übereinstimmung mit den Daten wiederhergestellt wird. Es mag sein, daß das fragliche P nicht als Q aufgefaßt wurde, weil es ein R war, und „Kein Q ist R" ein Gesetz der Theorie ist; in diesem Fall wird die Revision des letzteren Gesetzes dieselbe Wirkung haben wie die Revision des ursprünglichen). (4) Wenn schließlich keine der anderen drei Reaktionen in der Lage ist, eine stabile Beziehung mit der Umgebung wiederherzustellen, dann kann eine der Grundvoraussetzungen, in deren Rahmen die Theorie konzipiert wurde — etwas so Tiefgehendes wie die physikalistischen Vorurteile der Naturwissenschaft, oder die Postulate der Theorie des rationalen Menschen — in Frage gestellt werden: diese letzte Vorgangsweise kann einen Paradigmenwechsel mit sich bringen, wie er von Wissenschaftshistorikern beschrieben wird 11 . Die Frage, die wir in Bezug auf die Theorie des rationalen Menschen aufwerfen müssen, lautet nun: können wir uns vorstellen, daß sie auf die hier beschriebenen Weise ausgewählt wurde? Sieht es danach aus, daß sie das Produkt einer Berichtigung ist, die zu guter letzt ein stabiles Gleichgewicht zwischen der Theorie und ihrer Umgebung hergestellt hat? Um es ganz kurz zu machen — die Antwort darauf ist verneinend. Die Theorie des rationalen Menschen ist „weichrandig" in dem Sinn, daß auf jede scheinbar abweichende Beobachtung Reaktion (1) erfolgen kann. Ein Minimum an Überlegung wird das bestätigen. Wenn wir jemanden vorfinden, dem wir aufgrund der in Postulat (5) erwähnten Faktoren bestimmte Glaubensvorstellungen und Wünsche zuschreiben, und wenn wir dann feststellen, daß er auf eine Art handelt, die mit diesen psychologischen Dispositionen rational nicht zusammenstimmt, dann ziehen wir keinen Augenblick lang in Betracht, daß der Fall eine ernsthafte Herausforderung an unsere Auffassung vom normalen Verhalten rationaler Menschen ist; ohne zu zögern folgern wir, daß wir uns von Anfang an hinsichtlich dieser Dispositionen geirrt haben, oder daß sie sich zwischen dem Zeitpunkt unserer Zurechnung und der Handlung des Akteurs geändert haben. Und das heißt, daß wir, was uns zunächst als abweichende Beobachtung erschien, als einen bloßen Fehler klassifizieren: wir sehen über sie hinweg,

11

Siehe Thomas Kuhn, Die Struktur (Frankfurt 1976).

wissenschaftlicher

Revolutionen,

2. Auflage

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und haken weiterhin an unserer Theorie fest. Diese Vorgangsweise steht uns immer zur Verfügung, und darüber hinaus sind wir auch immer dazu gezwungen. Denn wir können nicht damit beginnen, dem Rückgriff auf eine der tiefergreifenden Reaktionen bei der Angleichung der Theorie des rationalen Menschen an beobachtetes Verhalten einen Sinn abzugewinnen. Wer in Bezug auf diese Bemerkung skeptisch ist, mag versuchen, eine plausible Berichtigung im Sinne der Reaktionen (2), (3) oder (4) zu konstruieren, auf die man zurückgreifen kann, wenn man mit dem Anschein der Irrationalität konfrontiert ist. Man muß wohl annehmen, daß die Theorie des rationalen Menschen gut auf das menschliche Verhalten paßt, sonst würde sie im Alltagsleben kaum aufrechterhalten werden. Es mag sogar der Fall sein, daß Akteure sie zu einer brauchbaren Beschreibung machen, indem sie ihr Verhalten den von ihr erzeugten Erwartungen anpassen. Nachdem aber die Theorie weichrandig ist, kann ihr nie nachgewiesen werden, daß sie die Triebkräfte von Handlungen nicht genau herausarbeitet, und diese Tatsache läßt ein Propagieren des Modells als dogmatisch und unkritisch erscheinen. So werden wir dazu gebracht, nach der Funktion zu fragen, die die Theorie im Leben von Leuten erfüllen kann. Vorerst ist es jedoch notwendig, einen Einwand zu betrachten, den man gegen die eben vorgelegte Argumentation vorbringen könnte. Es könnte behauptet werden, daß sich die Theorie des rationalen Menschen bloß deshalb als weichrandig herausstellt, weil wir sie in bestimmter Weise aufgeteilt haben, indem wir die Theorie mit allgemeinen Postulaten und Gesetzen identifiziert und von Anwendungen auf bestimmte Personen oder Personengruppen unterschieden haben. Wenn wir die Theorie der Natur mit unseren allgemeinsten Annahmen über Körper gleichsetzten — daß, wenn etwa A und B und C starre Körper sind, und A länger ist als B, und B länger als C, A länger als C ist — vielleicht würde sie sich dann ebenfalls als weichrandig herausstellen, denn wir würden kaum in Betracht ziehen, solche allgemeine Glaubensvorstellungen im Lichte empirischer Entdeckungen zu revidieren. Es wird uns hier nahegelegt, daß die Theorie des rationalen Menschen, insofern wir sie ohne weiteres auf andere Leute anwenden, eine Menge von Grundannahmen umfaßt, unter deren Anleitung wir für jede einzelne Person oder Gruppe eine eigentliche Theorie konstruieren, wobei diese eigentliche Theorie hinsichtlich der Methode ihrer Auswahl in keiner Weise ausgezeichnet ist. Wir sind aufgefordert, von der Vorstellung einer Theorie, die aus logischen Wahrheiten, Postulaten über den rationalen

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Menschen und Gesetzen über den rationalen Menschen besteht, abzugehen, und statt dessen anzunehmen, daß es für jede Person oder Gruppe, die wir zu verstehen versuchen, eine Theorie gibt. Zusätzlich zum gemeinsamen Bestand an allgemeinen Aussagen enthält diese Theorie eine Menge von Zuschreibungen von spezifischen Glaubensvorstellungen, Wünschen und Entscheidungsmaximen. Wenn wir uns unsere Theorie so vorstellen, dann können wir erwarten, daß wir nichts Ungewöhnliches an der Art ihrer Auswahl finden werden. Gegen diesen Vorschlag ist nichts weiter einzuwenden, als daß er unorthodox ist, indem Aussagen über Individuen als Bestandteil einer Theorie zugelassen werden, aber trotzdem liefert er uns nicht die verheißene Berichtigung. Fragen wir uns nämlich, was mit unserer Theorie über John Smith geschieht, wenn wir bei einer bestimmten Gelegenheit feststellen, daß er, in Anbetracht der ihm zugeschriebenen Annahmen und Wünsche, ziemlich irrational handelt. Was bleibt uns dann anderes übrig, als die allgemeinen Postulate und Gesetze unberührt zu lassen, und die eine oder andere der unpassenden Zuschreibungen zu revidieren? Und während eine solche Revision, oberflächlich betrachtet, tiefergreifend ist als die Reaktion (1), stellt sie sich nach ein wenig Überlegung bloß als eine triviale Spielart dieser Reaktion dar. Es kann jetzt vorkommen, daß wir bereit sind, unsere Theorie zu verändern, wenn sie mit unerfüllten Vorhersagen konfrontiert wird; aber die einzige Veränderung, die wir zulassen werden, ist auf jenen Teil der Theorie beschränkt, der aus spezifischen Zuschreibungen besteht, und das kostet uns sehr wenig. Der weiche Rand der Theorie des rationalen Menschen taucht nach unserer Entscheidung über die Beschreibung dieser Theorie im Gefolge der neuen Regelung als weiches Zentrum wieder auf.

II Wir haben uns eine Vorstellung von der Beschaffenheit der Theorie des rationalen Menschen verschafft: von ihrer Struktur, ihrem Status, und der Methode ihrer Auswahl. Wir wenden uns nun der Frage ihrer Funktion zu. Mit der Funktion einer Theorie meine ich die Rolle, die sie bei der Organisation unserer Angelegenheiten spielt, soweit diese Rolle invariant über Personen ist. In diesem Sinn kann man von der Funktion einer Theorie erwarten, daß sie das auf sie aufgewendete Interesse rechtfertigt und bestimmte Aspekte ihrer Beschaffenheit erklärt.

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Die Funktion, die man, zumindest in den Naturwissenschaften, einer Theorie traditionellerweise zuschreibt, ist die prognostische. Vorhersage als allgemeines Ziel erklärt, warum die Theorie dem Modell der Lernmaschine entspricht: die Bewährung der Gesetze, aber auch ihr Zweck, liegt darin, daß sie den Prognostiker befähigen, erfolgreich vorherzusagen, was unter bestimmten angegebenen Umständen geschehen wird. Und Vorhersage als allgemeines Ziel rechtfertigt das Interesse, das wir auf die Theorie verwenden, denn Vorhersage ist eine attraktive Errungenschaft, da sie eine notwendige Bedingung der Steuerung darstellt. Ist Vorhersage die primäre Funktion der Theorie des rationalen Menschen? Ein Grund, das zu leugnen, liegt darin, daß sich die Theorie, wie wir gesehen haben, nicht für ein? Art von Berichtigung eignet, vermittels derer sie zu einer wirklich effizienten Vorhersagemaschine werden könnte. Die Antezedensbedingungen ihrer Gesetze werden unter Verweis auf die in Postulat (5) erwähnten Arten von Faktpren vor der Handlung für erfüllt angesehen, aber das Nichteintreten der Folgebedingungen ist stets ein hinreichender Grund für das Zurückziehen der Behauptung, daß die Antezedensbedingungen erfüllt waren. Das bedeutet, daß die in Postulat (5) genannten Faktoren nicht so stabil sind, und sein könnten, wie es die Faktoren sind, aufgrund derer man die Gesetze der gewöhnlichen wissenschaftlichen Theorie für anwendbar hält. Auch wenn die Vorhersagen, zu denen sie uns führen, häufig erfolgreich sind, sind diese Faktoren doch nicht stabil genug, um uns die Erstellung von Vorhersagen zu gestatten, die wir mit derselben Zuversicht betrachten können wie die Theorie selbst. Aber wenn auch die Theorie des rationalen Menschen nicht so konstruiert ist, wie wir es bei einer gut geölten Vorhersagemaschine erwarten würden, dient sie doch einem prognostischen Zweck. Wenn ich eine rationale Erklärung eines bestimmten Verhaltens vorschlage, indem ich dem Akteur bestimmte Glaubensvorstellungen, Wünsche und Entscheidungsmaximen zuspreche, dann sage ich vorher, daß in darauffolgenden und ähnlichen Situationen wahrscheinlich verwandte Verhaltensmuster auftreten werden. Das hat seinen Grund darin, daß wir die herangezogenen Erklärungsfaktoren allesamt als Dispositionen verstehen, bestimmte Dinge unter bestimmten Umständen zu tun: zu glauben, daß die Katze auf der Matte ist, bedeutet somit, daß man die Disposition hat, nicht dorthin zu gehen, zumindest unter der Voraussetzung, daß man nicht stolpern will, und die Katze nicht stören möchte. Die sekundäre prognostische Leistungsfähigkeit der Theorie des rationalen Meeschen könnte sehr wohl nahelegen, daß die Funktion der Theo-

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rie noch immer in der Vorhersage liegt, und daß es beim Umgang mit Menschen zufälligerweise der Fall ist, daß diese Funktion am besten durch eine weichrandige Theorie erfüllt wird. So könnte etwa die Komplexität menschlichen Verhaltens herangezogen werden, um unseren Rückgriff auf eine solche Theorie zu erklären. Man könnte sagen, daß sich das Verhalten einer Vorhersage auf der Grundlage beobachtbarer Antezedensbedingungen entzieht, und daß wir als Alternativstrategie mit der Annahme arbeiten sollten, daß es in jedem Fall unbeobachtbare Antezedensbedingungen erfüllt — eben jene, die wir bei einem rationalen Menschen erwarten würden. Die Einführung dieser Annahme ist insofern nützlich, als wir, wenn wir in einem gegebenen Fall das Vorliegen der Antezedensbedingungen feststellen, Faktoren isoliert haben, von denen wir erwarten können, daß sie auch sonst bei der Erzeugung korrespondierender Handlungen wirksam sein werden. So gesehen stattet sie uns mit einer gewissen prognostischen Kompetenz aus 12 . Diese Darstellung der Funktion der Theorie des rationalen Menschen hat den Vorzug, daß sie eine derartige Theorie nicht von anderen absondert. Zusätzlich verleiht sie der nicht unbedeutenden prognostischen Brauchbarkeit von rationalen Erklärungen gebührenden Nachdruck. Aber sie ist insoweit unbefriedigend, als sie nahelegt, daß wir die Theorie des rationalen Menschen aufgeben würden, wenn wir in der Lage wären, eine hartrandige Theorie zu finden, mit deren Hilfe wir erfolgreiche Prognosen über unser Verhalten erstellen können. Diese Anregung überzeugt nicht, da man argumentieren kann, daß der Verzicht darauf, Leute als rational zu behandeln, darauf hinausliefe, sie als natürliche Kausalsysteme zu betrachten, und daß es unvorstellbar ist, daß wir eine solche Einstellung zueinander einnehmen können — und wenn nicht zueinander, dann zumindest zu uns selbst. Und sollte das nicht zugestanden werden, dann muß zumindest eingeräumt werden, daß wir von einer hartrandigen Theorie nicht erwarten können, daß sie ein überaus erfolgreiches Prognoseinstrument darstellen wird, solange die Theorie Allgemeingut ist: wenn er die Vorhersage kennt, die jemand voraussichtlich über ihn machen wird, könnte der Akteur sich stets daran machen, die Vorhersage absichtlich scheitern zu lassen. Diese Überlegungen lassen vermuten, daß mehr über die Theorie des rationalen Menschen gesagt werden kann, als daß sie das beste Instrument für die Vorhersage des Verhaltens darstellt, das wir im 12

Siehe D. C. Dennett, „Mechanism and Responsibility", in Ted Honderich (Hrsg.), Essays ort Freedom of Action (London, 1973).

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Verlauf der Geschichte der menschlichen Rasse uns auszudenken imstande waren. Bevor wir diesen Gedankengang weiterverfolgen, mag es vielleicht nützlich sein, eine Behauptung abzuwehren, die jemand an dieser Stelle einbringen könnte, nämlich daß wir eben wissen, daß die Theorie des rationalen Menschen die einzige Möglichkeit zur Erklärung und Vorhersage des Verhaltens anderer Leute ist, weil wir an uns selbst sehen, daß es äußerlich unbeobachtbare Faktoren wie Glaubensvorstellungen und Wünsche sind, die ein Verhalten hervorrufen. Geht man die Frage auf diese Art an, dann entwirft man die Theorie des rationalen Menschen als ein Prognoseinstrument, über das wir von uns selbst her wissen, daß es das beste zur Verfügung stehende ist. In der Tat liefe die Anwendung der Theorie vermutlich darauf hinaus, einfach zu ermitteln, was man selbst in der Situation eines anderen Akteurs tun würde, und warum man es tun würde. Eine Berufung auf das, was man über sich selbst weiß, ist nicht zur Abstützung der Auffassung geeignet, daß die Theorie des rationalen Menschen lediglich die beste zur Verfügung stehende Prognosemaschine ist, da ein solcher Appell sich auf eine unkritische Vorstellung vom Zugang stützt, den wir zu den Quellen des eigenen Verhaltens haben. Glaubenshaltungen, Wünsche, und Entscheidungsmaximen sind Dispositionen, und es ist unklar, wie bloße Reflexion jemandem enthüllen könnte, zu welchem Handeln er disponiert ist, außer unter Rückgriff auf ein Verhalten, an das er sich erinnert oder das er erwartet. Hat er Einsicht in den Grund dieser Dispositionen — jene Züge seiner geistigen oder körperlichen Konstitution, von denen man annehmen kann, daß sie seinen Glaubensvorstellungen, Wünschen und Prinzipien zugrundeliegen, wobei sie in derselben Beziehung zu ihnen stehen, wie die molekulare Struktur von Glas zu seiner Zerbrechlichkeit? Wohl kaum, da noch nie jemand gedacht hat, daß er eine intrinsische Beschreibung dieser Züge auf introspektiver Grundlage geben könnte. Es muß zugestanden werden, daß ein Mensch sich nicht auf die Beobachtung eigenen Verhaltens stützen muß, wie andere das tun müssen, um herauszufinden, was er glaubt oder wünscht. Aber das kann erklärt werden, ohne irgendeinen direkten Zugang zu diesen psychologischen Dispositionen zu postulieren. Ich behaupte (1) daß jeder Akteur sich unter irgendeiner Beschreibung unmittelbar dessen bewußt ist, was er getan hat, tut, oder zu tun beabsichtigt; (2) daß er, nachdem er sich in der Theorie des rationalen Menschen auskennt, weiß, wie das, was getan wurde, beschrie-

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ben und erklärt werden muß; und (3), daß die Kombination dieses Bewußtseins und dieses Wissens ihn in die Lage versetzt, sich Annahmen und Wünsche zuzuschreiben, ohne sein Verhalten so zu beobachten, wie das ein anderer könnte — angesichts seines Bewußtseins seiner zukünftigen Handlungen kann er sie sich in der Tat vor dem Handeln zuschreiben. Der Verweis auf zukünftiges Handeln ist wichtig, denn er bedeutet, daß ein Akteur, wenn er sagt, was er glaubt oder will, weniger eine Vermutung äußert, als eine Garantie abgibt. Er legt sich auf jene Handlungsstrategie fest, die unter den Kriterien der Theorie des rationalen Menschen die Zuschreibung dieser psychologischen Dispositionen als gerechtfertigt erscheinen lassen wird. U m zu der Idee zurückzukommen, der wir vor dieser Erörterung der Selbsterkenntnis begegnet sind, möchte ich behaupten, daß mehr über die Theorie des rationalen Menschen gesagt werden kann, als daß sie das beste zur Verfügung stehende Instrument der Vorhersage von Verhalten ist. Ein in dieser Darstellung vernachlässigter wichtiger Zug dieser Theorie kann uns das Stichwort für weitere Überlegungen liefern: durch die Annahme einer weichrandigen Theorie der fraglichen Art gestatten wir dem Akteur, Kontrolle über die Erwartungen, die über ihn gebildet werden, auszuüben. Die Gründe, auf denen Erwartungen basieren, sind nicht, wie das bei einer hartrandigen Theorie der Fall wäre, objektive Indizien, die unabhängig vom Willen des Akteurs bestehen. Sie sind vielmehr die Handlungen, deren Setzung vom Akteur gewählt wird, denn wie wir wissen, sind es letztlich seine Handlungen, die darüber entscheiden welche Glaubensvorstellungen und Wünsche wir ihm zuschreiben. Die Kontrolle des Akteurs über die über ihn gebildeten Erwartungen wird in der kommunikativen Handlung explizit ausgeübt; dort ist es sein primäres Ziel, eine bestimmte Zuschreibung von Glaubensvorstellungen und Wünschen nahezulegen, und das Mittel, worauf er sich dabei stützt, ist die Offenlegung — gewöhnlich durch Konformität gegenüber einer Konvention — des Zieles selbst 1 3 . Aber es kann angenommen werden, daß der Akteur, sogar wenn er nichtkommunikativ handelt, in einem gewissen Maß um die Sicherstellung der Zuschreibung bestimmter psychologischer Dispositionen bemüht ist. Das wird ganz bestimmt dann der Fall sein, wenn die Handlung in der wahrgenommenen Gegenwart anderer Leute

13

Siehe H . P. Grice, „Meaning", Philosophical Review 66 (1957); und P. F. Strawson, „Intention and Convention in Speech A c t s " , Philosophical Re-

view 73 (1964).

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vollzogen wird, denn der Akteur muß an den Erwartungen, die sie über ihn bilden werden, interessiert sein. Und insoweit jeder Akteur sich selbst ein Publikum ist, wobei er statt auf einer privaten und unzugänglichen Basis auf der Grundlage seiner Handlungen Erwartungen bildet, wird das immer so sein. Kein Akteur kann es sich gestatten, die Erwartungen, die seine Handlungen verdienen, zu ignorieren, denn er muß immer zumindest mit seinem eigenen Urteil über sich selbst zurecht kommen. Die Kontrolle des Akteurs über die über ihn gebildeten Erwartungen ist nicht total, denn wäre sie es, könnte sich nicht der Fall der Täuschung ergeben. Tatsächlich können wir nicht nur entscheiden, daß ein Mensch nicht beabsichtigt, die Erwartungen zu erfüllen, von denen er offensichtlich will, daß wir sie über ihn bilden; wir können auch manchmal urteilen, daß er sie zwar zu erfüllen beabsichtigt, nachdem er selbst die Zuschreibung von Glauben und Wollen akzeptiert, die er uns anzunehmen vorschlägt, daß er es aber nicht tun wird; er täuscht nicht so sehr uns, sondern sich selbst. Ein solches Urteil können wir dem Akteur selbst vorlegen, und es mag sein, daß er es akzeptiert, besonders wenn sein Verhalten es bestätigt. Wir haben gesagt, daß die Theorie des rationalen Menschen eine sonderbare Theorie ist, nicht nur, indem sie die bestbegründeten Erwartungen anbietet, die wir über das Verhalten von jemand anderem vermutlich erlangen können, sondern im besonderen, indem sie Erwartungen anbietet, von denen man im allgemeinen annehmen kann, daß sie vom Akteur selbst zugelassen werden, da sie jene sind, von denen er selbst glaubt, daß sie über ihn gebildet werden. Aber weshalb ist es wichtig, daß die Theorie derart zugelassene Erwartungen erzeugt: warum vermittelt uns das irgendeine weitere Einsicht in die Funktion der Theorie? Die Antwort darauf ist, daß wir nur dann, wenn wir zugelassene Erwartungen über jemandes Verhalten haben — obwohl wir auch Erwartungen haben, von denen wir meinen, daß der Akteur sie zulassen sollte — daran denken können, mit ihm in Interaktion zu treten. In der Interaktion bilden wir Erwartungen darüber, was die andere Person unter bestimmten Bedingungen tun wird, besonders unter Bedingungen, die mit bestimmten Kommunikationsversuchen unsererseits verknüpft sind. Aber diese Erwartungen müssen im allgemeinen so beschaffen sein, daß wir von unserem Interaktionspartner annehmen können, daß er sie erkennt und ratifiziert, wenn auch nur spielerisch; denn sonst gibt es nichts, das unsere Einstellung von jener unterscheiden könnte, die wir gegenüber einem natürlichen System einnehmen, an dem wir neugierig

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herumfingern. Für die zugelassenen Erwartungen, die die Theorie des rationalen Menschen beistellt, ist bedeutsam, daß sie auf Interaktion zugeschneidert sind, da wir gerade aufgrund dieser Zulassung durch den Akteur von ihm annehmen können, daß er sich ihrer bewußt ist, und daß er nichts dagegen hat, daß sie über ihn gebildet werden. Das könnten wir bei Vorhersagen, die eine hartrandige Theorie über sein Verhalten liefern könnte, nicht voraussetzen. Die Indizien an der Wurzel solcher Vorhersagen wären stabil und objektiv, und selbst wenn wir Grund zur Annahme hätten, daß sich der Akteur dieser Vorhersagen bewußt ist, hätten wir dennoch keinen Grund zu glauben, daß er sie zu erfüllen beabsichtigte. Das Fazit dieser Bemerkungen ist, daß es ernstlich irreführend wäre, die Theorie des rationalen Menschen als ein zweitklassiges Prognoseinstrument für menschliches Verhalten aufzufassen. Wir müssen auch hinzufügen, daß es ein Prognoseinstrument darstellt, das besonders geeignet ist, die für zwischenmenschliche Interaktion erforderlichen Erwartungen beizustellen. Das soll heißen, daß es sinnvoll ist, die Funktion der Theorie des rationalen Menschen von der Funktion zu unterscheiden, die von Theorien der herkömmlicheren Art erfüllt wird. Während die übliche Theorie für Steuerungszwecke geeignete Vorhersagen beistellt, liefert unsere Theorie Erwartungen, wie sie von der Interaktion verlangt werden. Die übliche Theorie ist derart konzipiert, daß sie ihren Gegenstandsbereich als ein Anwendungsfeld des technologischen Eingriffs betrachtet; die Theorie des rationalen Menschen ist so konstruiert, daß sie Leute als potentielle Interaktionspartner darstellt 14 . Es gibt weitere Fragen, die im Zusammenhang mit der Funktion der Theorie des rationalen Menschen aufgeworfen werden sollten. Es wäre zum Beispiel vielleicht lohnend, zu fragen, warum die Theorie gerade mit Glaubensvorstellungen und Wünschen hantiert, und ob ihr Zusammenhang mit der Interaktion unseren häufig beobachteten Zwang erklärt, menschliches Verhalten als rational aufzufassen 15 . Aber wir können diese 14

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Für eine ähnliche Auffassung siehe Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (Frankfurt, 1968). Siehe Quine, Wort und Gegenstand; und vgl. auch Donald Davidson, „Radical Interpretation", Dialectica 27 (1973); Davidson, „Belief and the Basis of Meaning", Synthèse 27 (1974); Davidson, „Psychology as Philosophy", in S. C. Brown (Hrsg.), Philosophy of Psychology (London 1974); Richard Grandy, „Reference, Meaning and Belief", Journal of Philosophy 70 (1973); David Lewis, „Radical Interpretation", Synthèse 27 (1974); Martin Hollis, „The Limits of Irrationality", in Bryan Wilson (Hrsg.), Rationality (Oxford, 1970).

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Fragen hier nicht weiterverfolgen. Stattdessen müssen wir uns dem dritten angekündigten Diskussionsthema zuwenden, der Stellung der Theorie des rationalen Menschen innerhalb der Sozialwissenschaft. III Wir haben die Beschaffenheit und Funktion der Theorie des rationalen Menschen erörtert, und wir kommen abschließend zur Frage, wie sie wissenschaftlich angewendet werden kann. Es stellt sich hier das Problem, ob wir vielleicht die Aussicht auf signifikante Sozialforschung untergraben, wenn wir verlangen, daß diese Forschung eine Theorie implementiert, die bereits im Alltagsverstand vorhanden ist. Nun, es gibt drei traditionelle Disziplinen, die von beträchtlichem Interesse bleiben, auch wenn zugestanden wird, daß die von ihnen im allgemeinen vorausgesetzte Theorie das Modell des rationalen Menschen ist: die Geschichte, Anthropologie und Ökonomie. Geschichte und Anthropologie sind von besonderem Charakter, da sie das Modell aus einer chronologischen oder kulturellen Distanz anwenden. Die Eigenheit der Ökonomie liegt darin, das Modell für einen speziellen prognostischen Zweck zu verwenden: im besonderen postuliert sie für ökonomische Akteure Annahmen, Wünsche und Entscheidungsmaximen derart, daß sie imstande ist, die Handlungen und die (vielleicht unvorhergesehenen) Konsequenzen, die die ökonomische Welt charakterisieren, zu erklären, womit sie sich eines Mittels versichert, die ökonomischen Resultate, die unter verschiedenen angenommenen Umständen erwartet werden können, innerhalb bestimmter Grenzen der Genauigkeit und Zuversicht vorherzusagen. Wenn auch Geschichte, Anthropologie und Ökonomie stets zur Anwendung des Modells des rationalen menschlichen Akteurs geneigt haben, so wurde es andererseits von der traditionellen Soziologie, die den Menschen als kulturellen Trottel, als ideologischen Tölpel oder als in seine Rollen verstrickten Schwachkopf zeichnete, häufig abgelehnt. Mit dem Auftauchen eines neuen soziologischen Individualismus bei einander oft sehr fern stehenden Richtungen, hat sich das jedoch zu ändern begonnen 16 . Die Frage, die wir in Bezug auf eine Soziologie des rationalen 16

Siehe z. B. James Coleman, „Social Structure and a Theory of Action", in P. M. Blau (Hrsg.), Social Structure (London, 1976), und Anthony Giddens,

New Rules of Sociological

Method (London, 1976).

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Menschen aufwerfen müssen, ist die, ob wir ihr eine Rolle zubilligen können, die sich von jener des Alltagsverstandes unterscheidet. Sofern sie individualistisch vorgeht, kann die Makrosoziologie so ziemlich dieselbe Rechtfertigung für sich in Anspruch nehmen, wie die Ökonomie, denn sie versucht, bestimmte institutionelle Merkmale als die (vielleicht unbeabsichtigten) Ergebnisse rationaler menschlicher Handlung zu erklären, wodurch sie in einigen eingeschränkten Fällen Prognosen ermöglicht. Aber die Mikrosoziologie oder Sozialpsychologie — die Untersuchung von Menschen in ihrem sozialen Milieu — ist eine andere Sache. Einiges davon kann als quasi-anthropologische Beschreibung von unexplizierten Codes und Konventionen gelten, aber der ehrgeizigste Teil, die Sozialpsychologie des Verhaltens, widersetzt sich jeder derartigen Charakterisierung. Sie präsentiert sich als ein Versuch, etwas zu leisten, was — so könnte man meine - bereits der Alltagsverstand vollkommen zufriedenstellend leistet: Verhaltensmuster zu erklären, die unserer Gesellschaft entstammen, und die jedermann in ihr vertraut sind. Problematisch ist hier die Erklärung, wie eine derartige rationalistische Sozialpsychologie hoffen kann, etwas beizutragen, was nicht schon jedem mit Hausverstand ausgestatteten Menschen zur Verfügung steht. Wir werden den Rest dieses Aufsatzes der Erörterung dieser Frage widmen, da sie zu Komplikationen für die Beziehung zwischen Sozialwissenschaft und Alltagsverstand führt, die zugleich allgegenwärtig und schwer greifbar sind. Als Beispiel einer sozialpsychologischen Darstellung können wir Stanley Milgrams Erklärung der Reaktion der Versuchspersonen in seinem berühmten Experiment heranziehen; die Darstellung rührt übrigens von Erving Goffman her, einem der bekanntesten Vertreter des rationalistischen Zuganges zum Handeln 17 . In Milgrams Experiment wurden unbefangene Freiwillige für einen angeblichen Versuch engagiert, den Effekt von Bestrafung auf Lernen zu messen. Jeder Freiwillige erschien mit jemandem, der sich als ein anderer Freiwilliger darstellte, der aber tatsächlich ein bezahlter Schauspieler war. Der Schauspieler wurde vom Versuchsleiter der experimentellen Rolle des Lerners zugeteilt, wobei der Anschein erweckt wurde, daß dies durch Los bestimmt wurde, und der Freiwillige erhielt die Rolle des Lehrers. Unter der Anleitung des Versuchsleiters legte der Freiwillige dem Schauspieler nun Lernprobleme vor und bestrafte jeden Fehler. Die Bestrafung bestand darin, mittels einer komplizierten Fernsteuerung immer schwerere „Elektroschocks" zu ver17

E. Goffman, Wir alle spielen

Theater

(München, 1969).

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abreichen; der Schauspieler war auf einem Stuhl festgeschnallt, und — so schien es — mußte diese ganz einfach ertragen. Die Lehre aus dem Experiment war, daß die meisten Freiwilligen bereit waren, dem Versuchsleiter bis zur Nichtbeachtung der simulierten Protestschreie zu gehorchen, und schließlich bis zur Nichtbeachtung des ominösen Schweigens des Schauspielers, wobei sie glaubten, ihm Schocks bis zu 450 Volt zu verabreichen. Milgrams Darstellung des gehorsamen Verhaltens der Freiwilligen ist in der folgenden Passage geschickt zusammengefaßt: Goffman ( . . . ) verweist darauf, daß jede soziale Situation auf einem vorläufigen Konsens der Teilnehmer beruht. Es ist eine seiner Hauptprämissen, daß, wenn einmal eine Situationsdefinition von den Teilnehmern projiziert und angenommen wurde, diese nicht gefährdet werden soll. In der Tat hat die Zerbrechung der akzeptierten Definition durch einen Teilnehmer den Charakter eines moralischen Übergriffs. Offener Konflikt über die Situationsdefinition ist unter keinen Umständen mit höflichem sozialen Austausch kompatibel. (. . .) Da die Weigerung, dem Versuchsleiter zu gehorchen, darauf hinausläuft, seinen Anspruch auf Kompetenz und Autorität in dieser Situation zurückzuweisen, ergibt sich notwendigerweise eine gravierende soziale Ungehörigkeit. Die experimentelle Situation ist derart angelegt, daß der Versuchsperson keine Möglichkeit offenbleibt, die Schocks abzubrechen, ohne die Selbstdefinition des Versuchsleiters zu verletzen. Die Versuchsperson kann nicht abbrechen, und gleichzeitig die Kompetenzansprüche der Autorität schützen. Daher befürchtet die Versuchsperson, daß sie, wenn sie abbricht, als arrogant, ungehörig und unhöflich erscheinen wird 1 8 .

Die von Milgram herangezogene Art von rationalistischer Sozialpsychologie ist von intuitivem Interesse und intuitiver Gültigkeit. Das Problem, das sich uns stellt, ist jedoch, zu erklären, wie sie beanspruchen kann, irgendetwas mehr zu sein als Common sense, da sie weder das prognostische Potential der Ökonomie, noch den exotischen Reiz der Geschichte oder Anthropologie aufweist. Bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage können uns zwei Aussagen behilflich sein, die wir aus der vorangegangenen Diskussion herausfiltern können. Die erste besagt, daß die beste Erklärung einer bestimmten Handlung nicht endgültig durch die in Postulat (5) erwähnten Bedingungen und/oder die körperliche Natur des Verhaltens selbst festgelegt wird; und die zweite, daß unter den Erklärungen, die uns diese Faktoren zur Erwägung freistellen, eine vorzuziehen ist, die das Interaktionspotential maximiert. Die erste Aussage leitet sich

18

S. Milgram, Obedience and Authority (London, 1974), S. 150; Milgram schreibt im vorletzten Satz „Versuchsperson" anstelle von „ L e r n e r " — ein offensichtlicher Ausrutscher. Siehe auch Goffman, a. a. O .

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aus unserer Darstellung der Beschaffenheit der Theorie des rationalen Menschen her: die Handlung selbst muß es uns in jedem Fall offenlassen, daß wir in Erwägung ziehen, sie durch die eine oder die andere GlaubensWillens-Matrix zu erklären, und die in Postulat (5) erwähnten Bedingungen, die notwendigerweise lose sind, werden unsere weitere Wahl wohl kaum auf eine Möglichkeit einschränken; das ist in der Tat der Grund, warum wir die vom Akteur angebotene Erklärung zugunsten eines eigenen Kandidaten zurückweisen können. Die zweite Aussage entspringt unseren Betrachtungen zur Funktion der Theorie des rationalen Menschen: wenn es das leitende Interesse dieser Theorie ist, Leute auf eine Weise darzustellen, die uns verständlich macht, wie wir mit ihnen in Interaktion treten können, dann müssen wir in der Lage sein, aus der Menge der plausiblen Erklärungen einer Handlung jene auszuwählen — wenn es eine solche gibt — die uns am besten erkennen läßt, wie wir mit dem Akteur interagieren können. Was aus der ersten Aussage für unsere Zwecke folgt, ist, daß die Anwendung der Theorie des rationalen Menschen, die Suche nach Erklärungen über den rationalen Menschen, nicht so sehr eine Wissenschaft ist, als eine Kunst. Es ist innerhalb der herkömmlichen Wissenschaften charakteristisch für Theorien, daß sie Gesetze mit solchen Anwendungsbedingungen zur Verfügung stellen, daß es in einem gegebenen Fall keinen Zweifel darüber gibt, welches der Gesetze anwendbar ist. Im Gegensatz dazu ist es für die Theorie des rationalen Menschen kennzeichnend, daß sie dem einzelnen Theoretiker bei der Auswahl des Gesetzes zur Erklärung eines Einzelereignisses — wenn wir noch immer von Gesetzen sprechen können — Raum für Phantasie und Initiative läßt. Eine Handlungserklärung hat etwas von einer Kunstfertigkeit an sich; sie kann nicht in genaue Anleitungen gezwungen werden. Man beachte, daß die Theorie des rationalen Menschen hierin nicht allein dasteht. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, daß eine narrative — oder, allgemeiner, eine ästhetische Theorie, wie sie etwa der Strukturalismus anbietet, keine Wissenschaft der narrativen Analyse, sondern nur eine Kunst derartiger Analyse hervorbringt (siehe Pettit, The Concept of Structuralism). Die strukturalistische Theorie besteht aus etwas ähnlichem wie es die Postulate sind, die wir im Fall des rationalen Menschen isoliert haben, und liefert einen neuen Rahmen für narrative Darstellungen, indem sie bestimmte Eigenschaften und Elemente als Gegenstände des theoretischen Interesses herausstellt. Zwei verschiedene Personen können jedoch den Rahmen auf denselben Text anwenden, ohne daß er sie auf dieselben

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analytischen Schlußfolgerungen festlegt. Die Theorie gestattet ihnen Spielraum bei der Anwendung, und macht so aus der narrativen Analyse ein künstlerisches Unterfangen, im Gegensatz etwa zur Befolgung eines Algorithmus. Weil die Anwendung der Theorie des rationalen Menschen eine Kunstfertigkeit ist, beginnen wir zu verstehen, warum an der Seite des Alltagsverstandes noch Platz für eine Sozialpsychologie ist. Gerade weil wir über Hausverstand verfügen, sind wir dazu ausgestattet, die Kunst der rationalen Erklärung auszuüben. Aber der Hausverstand ist von sprichwörtlicher Enge. Die Rechtfertigung einer rationalistischen Sozialpsychologie kann nur darin liegen, daß sie ein weitreichenderes Bild von den Antriebskräften von Handlungen liefert, als es gewöhnlich erreicht wird. Die Behauptung ist, daß jemand wie Goffman, genau wie eine Jane Austen, eine George Eliot oder ein Henry James, unseren gewöhnlichen Horizont erweitert, und uns am Ursprung menschlichen Verhaltens Anliegen erkennen läßt, auf die die Gewohnheit des Alltagsverstandes uns normalerweise die Sicht verstellt. Aber einfach zu sagen, daß die von der Sozialpsychologie beigestellten Erklärungen weitreichender sind als jene des Hausverstandes, genügt nicht; ein spezifischeres Zeichen ihrer angeblichen Überlegenheit muß genannt werden können. Und hier können wir die oben erwähnte zweite Aussage heranziehen. Wenn die sozialpsychologischen Erklärungen wirklich überlegen sind, dann ist es naheliegend, zu behaupten, daß ihr besonderer Vorzug in der Tatsache liegt, daß sie ein größeres Potential für die Interaktion schaffen. Es ist ein Charakteristikum der Common-sense-Darstellungen von Handlungen, daß sie, wenn die gewöhnlichen Muster akzeptierten Verhaltens zerbrechen, sehr schnell auf quasi-rationalistische Erklärungen — wie man das nennen kann — zurückgreifen. Bei solchen Erklärungen wird eine Handlung in der vertrauten Weise auf eine Glaubens-Willens-Matrix zurückgeführt, aber irgendein Aspekt dieser Konfiguration ist nur unter der Annahme explizierbar, daß der Akteur unter einem Einfluß steht, der ihn an die Grenzen der Normalität schiebt. Beispielsweise nimmt man von ihm gewöhnlich an, daß er von Leidenschaft überwältigt wird, von einem physiologischen Zustand beeinträchtigt ist, daß er das Opfer irgendwelcher Gewohnheiten oder Illusionen oder das Produkt einer deprivierten oder brutalisierenden Umgebung ist. Durch die Berufung auf solche Faktoren haben solche quasi-rationalistischen Erklärungen den Effekt, die Distanz zwischen uns und den Akteuren, deren Verhalten erklärt wird, zu

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vergrößern: wenn wir mit ihnen in eine offene Austauschbeziehung treten, dann müssen wir eine Annahme der Ungleichheit deklarieren, die eher zu unseren Gunsten wirkt, als zu ihren, nachdem ihnen die Rolle des relativ Devianten zugewiesen wird. Das kann als eine weniger gravierende Parallele dazu gesehen werden, was geschieht, wenn wir die Annahme der Rationalität überhaupt aufgeben und manche Leute als verrückt behandeln. Ich schlage vor, die rationalistische Sozialpsychologie als eine signifikante Disziplin aufzufassen, da es ihr häufig gelingt, volle rationale Erklärungen menschlichen Verhaltens zu liefern, wo der Hausverstand auf quasi-rationalistische zurückgeworfen ist. So versucht sie zum Beispiel, die Handlungen von Fußballrowdies oder mutwilligen Demolierern auf eine Art zu erklären, die mehr Möglichkeiten offenläßt, als das traditionelle „Das sind eben jugendliche Kriminelle". Diese letztere Geschichte gibt uns keinen Aufschluß darüber, wie wir mit den fraglichen Leuten in eine Austauschsituation treten können, und unterstellt, daß die einzig mögliche Reaktion das unpersönliche „Denen gebührt eine ordentliche Lektion" ist: es geht nicht mehr darum, mit den Tätern zu kommunizieren, sondern sie zu ändern. Eine rationalistische Sozialpsychologie würde vermutlich einen davon verschiedenen Weg einschlagen, da sie sich darum bemühen würde, das Verhalten auf Glaubensvorstellungen und Wünsche zurückzuführen, die wir unter Zugrundelegung der Situation der Akteure für leicht erklärbar finden. Diese Darstellung könnte uns vielleicht etwas ungelegener kommen, da sie uns die Einsicht aufzwingt, daß zwischen den Akteuren und uns kein Unterschied besteht; und sie könnte vielleicht auch für die Täter weniger schmeichelhaft sein, indem sie zum Beispiel ihr Verhalten als kalkuliert statt als spontan darstellt. Ihr Vorzug wäre es, daß sie uns die Akteure als potentielle, wenn auch nicht sehr ansprechende, Interaktionspartner zu erkennen geben würde; diese Tatsache, wie unverdaulich sie auch immer sei, würde uns gestatten, sie als gewöhnliche Menschen anzuerkennen. Mit diesem moralischen Wohlklang könnten wir unsere Betrachtungen abschließen; als eine Art Coda möchte ich jedoch hinzufügen, daß in der von der Sozialpsychologie üblicherweise zu Tage geförderten Art von Rationalität ein Muster vorliegt, das wir mit „Reflexivität" bezeichnen können. Jüngere Arbeiten auf diesem Gebiet wurden von der Einsicht beherrscht, daß der Hausverstand bei seinen rationalen Erklärungen des Verhaltens den reflexiven Gewohnheiten von Akteuren nicht den gebührenden Stellenwert zuweist. Das ist die Gewohnheit, sich nicht nur um

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etwas Einfaches wie Geld oder Macht zu bemühen, sondern auch um den Effekt — für das Selbstbild, oder für das Bild, das sich andere von einem machen — als jemand wahrgenommen zu werden, der dieses simple Begehren hat. Innerhalb der von Goffman repräsentierten Tradition wird angenommen, daß Menschen eingefleischte und unverbesserliche Teilnehmer an Spielen sind; wenn sie auf einer Ebene das Verhalten des anderen erklären, stehen sie stets selbst eine Ebene höher. Wenn sie sich bei der Handlungserklärung auf die Anliegen A, B und C beziehen, dann öffnen sie sich dadurch dem Einfluß weiterer uneingestandener Anliegen — Wünschen, als jemand wahrgenommen zu werden, der A oder B oder C hat oder nicht hat. Es gehört zum Wesen des Alltags Verstandes, diese Reflexivität zu übersehen; gerade sie schafft der rationalistischen Sozialpsychologie aber Raum. Diese Behauptung kann unter Verweis auf unser ursprüngliches Beispiel eingelöst werden. Wenn Milgram das gehorsame Verhalten seiner Versuchspersonen mit ihrem Bemühen um die Erhaltung des Rahmens — d. h. der Situatonsdefinition — erklärt, dann sehen wir Kunst in Aktion, Kunst, die uns vom Alltagsverstand befreit. Ohne diese Erklärung wären wir vielleicht gezwungen gewesen, die Versuchspersonen als sadistisch zu beschreiben, wodurch wir die Menschlichkeit ihrer Wünsche minimieren würden und es schwer verständlich machen würden, wie wir mit ihnen kommunizieren können. Aber die Inspiration dieser Kunst ist keine kapriziöse Muse; es ist die Idee der Reflexivität. Wie Milgram bemerkt, ist es das Problem der Versuchspersonen, daß sie, wenn sie abbrechen, arrogant, ungehörig und unhöflich erscheinen werden. Gegenüber dem Anschein, daß sie aus solchen Dispositionen heraus handeln, ziehen sie es vor, überhaupt nicht zu handeln, und so machen sie weiterhin beim Experiment mit. Das Bemühen um die Erhaltung des Rahmens ist nur ein Beispiel eines reflexiven Anliegens. Ein anderes ist das von Ethnomethodologen herangezogene Anliegen, „darstellungsfähige" Dinge zu tun. Und weitere Beispiele aus einem umfangreichen Schrifttum sind das Bemühen um Rollenkonformität, die Stellung innerhalb der Peers, die Zustimmung der Bezugsgruppe, und so weiter. Goffman mag der Messias der rationalistischen Sozialpsychologie sein; aber es hat auch andere Propheten gegeben. Uber den Anspruch der Sozialpsychologie, einen eigenständigen Beitrag zu unserem Wissensstand zu leisten, sogar wenn sie rationale Erklärungen in Umlauf bringt, ist genug gesagt worden, um ihn als gerechtfer-

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tigt erscheinen zu lassen. Und wie sieht, zum Abschluß, die Zukunft einer solchen Sozialpsychologie aus? Ihre Bestimmung kann nur sein, vom Common sense aufgesaugt zuwerden, wenn nach und nach die Lehren der Disziplin von der Allgemeinheit aufgenommen werden. Es ist schwer zu sagen, was sich in jenen aufgeklärten Tagen abspielen wird, denn die Menschen werden sich in die Lage versetzt haben, um eine Reflexionsstufe weiterzugehen, indem sie aus einem Begehren handeln, dabei wahrgenommen zu werden (oder nicht wahrgenommen zu werden), wie sie aus einem Begehren handeln, dabei wahrgenommen zu werden (oder nicht wahrgenommen zu werden), wie sie aus einem Begehren handeln . . . Vielleicht wird das die Zeit sein, wenn in einem neuen Bethlehem die Stunde eines anderen Goffman geschlagen hat.

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Maximieren, Moralisieren und Dramatisieren 1 Gegen E n d e seines Buches Wir alle spielen Theater schreibt Erving G o f f man: „ D i e Behauptung, alle Welt sei eine Bühne, ist den Lesern geläufig genug, um mit ihren Grenzen vertraut z u sein, da sie ja wissen, daß sie jederzeit sich selbst vor Augen führen können, daß diese Behauptung nicht allzu ernst genommen werden d a r f " 2 . In diesem Aufsatz soll die Frage gestellt werden, wie ernst allzu ernst eigentlich ist. D a eine vollkommen plausible Antwort auf diese Frage sowohl in Wir alle spielen Theater als auch in Rahmen-Analysen angeboten wird — eine Antwort, die uns in 1

2

Für das Folgende muß ich mich aus zwei nicht unzusammenhängenden Gründen entschuldigen. Dies ist zunächst ein sehr unfertiger Aufsatz, in dem sehr viel mehr Hasen aufgescheucht werden, als eingefangen, wo sich mehrere Schwäne als häßliche kleine Entlein entpuppen, und wo — kurz gesagt — ein Bereich der Philosophie der Sozialwissenschaften, der dringend der Säuberung bedarf, so unordentlich belassen wird, wie zuvor. Zweitens habe ich mich nicht besonders darum bemüht, die Diskussion, die sich an das Referat bei der Tagung der Thyssen Philosophy Group zu Ostern 1976 anschloß, in diese revidierte Version einzuarbeiten. Die Erklärung dieser beklagenswerten Unterlassung ist diese: Der Absicht nach sollte der Großteil dieses Artikels sowohl Professor Goffman — der an der Tagung teilnahm — als auch Philosophen, deren primäres Interesse nicht der Philosophie der Sozialwissenschaften gilt, etwas bringen, das sie vielleicht relevant finden könnten. Es stellte sich jedoch heraus, daß Professor Goffman, wie auch andere Sozialwissenschaftler, philosophische Diskussionen als Quelle empirischer Hypothesen (vgl. E. Goffman, Rahmen-Analysen, Frankfurt 1979) nützlich fand, oder als Skizzen von Mechanismen, die man im sozialen Leben finden kann, daß er aber — wiederum wie die meisten Sozialwissenschaftler — nicht besonders an Problemen der Logik der Erklärung interessiert war, noch daran, eine Art von Erklärung von anderen zu unterscheiden. Insoweit wurde daher die Hoffnung, daß man eine Erstfassung an Professor Goffman ausprobierenn könnte, und sich dabei selbst mehr Klarheit verschaffen könnte, nicht erfüllt. Ich habe daher eine kurze abschließende Fußnote angefügt, um einige der durch die Diskussion anscheinend aufgeworfenen Fragen zusammenzufassen. Ansonsten habe ich einfach versucht, diesen Aufsatz so klar zu machen, wie es mir möglich ist. Goffman, Wir alle spielen Theater (München, 1969).

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Erinnerung ruft, daß das, was auf der Bühne vor sich geht, nicht wirklich ist — scheint eine Begründung dafür notwendig, etwas mehr Aufhebens von der sogenannten dramaturgischen Erklärung zu machen. Wenn wir wissen, w a r u m wir die dramaturgische Analogie nicht zu ernst nehmen sollen, müssen wir sie dann aber überhaupt noch ernst nehmen? Die Rechtfertigung dafür sieht ungefähr so aus. Ein großer Teil der Sozialwissenschaft verlangt von uns Erklärungen, warum Akteure in Situationen, in denen sie sich vorfinden, so handeln, wie sie es tun. Ihr Verhalten zu erklären, bedeutet die Rekonstruktion der „Situationslog i k " , wie Popper es nennt. D a s kann wiederum plausiblerweise als eine Erklärung ihres Verhaltens aufgefaßt werden, die darauf B e z u g nimmt, daß sie in einem noch zu erläuternden Sinn das tun, „ w a s zu tun i s t " 3 . E s ist eine Binsenwahrheit der neueren Soziologie, daß das Schwergewicht, das traditionelle Soziologen auf die soziale Struktur, mit invarianten B e ziehungen statt mit wechselndem Personal, legten, oft zu der Annahme führte, daß „ w a s zu tun i s t " und der Glaube des Akteurs, daß es tatsächlich das war, „ w a s zu tun w a r " , von irgendeiner allgemein akzeptierten Beschreibung der vom Akteur eingenommenen Rolle abgelesen werden könne. Daher wäre ein M o d u s der Erklärung durch die Situationslogik einfach der, die Rolle eines Akteurs zu entdecken, und zu erschließen, welches Verhalten sie bei einem gegebenen Anlaß von ihm forderte. Z u verstehen, was ein Akteur getan hat, würde schlicht auf das Verständnis hinauslaufen, welche Rolle er ausfüllte. O h n e Zweifel werden durch eine solche Behauptung mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Sie sagt nichts darüber aus, warum eine gegebene Gesellschaft bestimmte Rollen anerkennt; und sie gibt keinen Hinweis darauf, wie man die Teile der Aktivität, die eine Rolle erfüllen, von jenen unterscheiden kann, die das nicht tun. All das ist wohlbekannt . D i e Berufung auf Rollen umgeht Fragen der Motivation im einzelnen. D a s soll heißen, daß wir auf einer Ebene annehmen können, daß die Frage „ W a r u m hat Smith sich erschossen, nachdem er v o m Metzger geohrfeigt worden w a r ? " beantwortet ist, wenn uns mitgeteilt wird, daß Smith O f f i zier einer Eliteeinheit war. V o n einem gesellschaftlich Tieferstehenden, demgegenüber man die Angelegenheit nicht im Duell bereinigen konnte, geohrfeigt zu werden, würde einer Entehrung gleichkommen; nur Selbstm o r d konnte seine Ehre, und die des Regiments, wiederherstellen. Aber was wir nicht wissen, ist, w a r u m er sich dem Sittenkodex so verpflichtet 3

I. Jarvie, Concepts and Society (London, 1972), Kap. 1.

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fühlte, daß er bereit war, eher den Tod als die Entehrung hinzunehmen. Das legt nahe, daß wir, wenn wir wissen wollen, warum jemand tut, was er tut, die von ihm verfolgten Ziele und seine Glaubensvorstellungen darüber, wie lohnend diese für ihn sind, aufsuchen müssen. Die dieser Forderung zugrunde liegende Annahme ist der Glaube, daß Menschen das tun, was sie am lohnendsten finden — sogar wenn sie, um Homans zu paraphrasieren, die verflixtesten Dinge lohnend finden 4 . Diese Annahme liefert die allgemeine Struktur einer Antwort auf die Frage danach, warum ein Akteur dazu motiviert war, das zu tun, was „die Rolle von ihm erforderte". Die Frage, warum sich Smith erschossen hat, findet ihre Antwort darin, daß er den Tod lohnender fand als die Entehrung, oder daß von allen ihm zur Verfügung stehenden Handlungen der Tod durch die eigene Hand die lohnendste war. Das läßt noch immer die Frage unbeantwortet, warum er den Tod für die lohnendste unter den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hält; nichtsdestoweniger sollten wir zumindest im Prinzip keine Schwierigkeiten haben, genetisch darzustellen, wie er zu der Auffassung kam, daß er eher sterben würde, als entehrt zu leben. Die Erklärungsstruktur wäre die Annahme, daß das, was getan wurde, das lohnendste war, und eine Antwort auf die Frage, wie es unter Bezug auf die Sozialisation des Individuums diesen Status erlangt haben kann. Bei manchen Maximierungserklärungen des Verhaltens einer Person geraten wir nicht einmal in Versuchung, die von ihnen eingenommene Rolle heranzuziehen. Dem Mann, der an einer schmerzhaften Krankheit stirbt und daher den Prozeß durch Einnahme einer Uberdosis Schlaftabletten abkürzt, kann ohne viel Umschweife die Kalkulation zugeschrieben werden, daß der Gewinn des Totseins null ist, jener des langsamen und schmerzhaften Sterbens aber negativ ist, so daß es rational ist, einen früheren anstelle eines späteren Todes zu wählen. Manche Autoren neigen in gewissem Ausmaß dazu, gewinnmaximierende und Rollenmodelle einander entgegenzusetzen, als ob die Tatsache, daß die eine Darstellung über „Offiziere", und die andere über Smith, Jones und Wilkinson spricht, sie zu Konkurrenten machte. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Darüber, sich allzusehr auf den Rollenbegriff — oder, damit verwandt, auf den Normbegriff — zu verlassen, ließe sich einiges sagen, wie sich auch mehr über die Gefährlichkeit der Annahme, daß Menschen bloß tun werden, was ihre Rolle von ihnen verlangt, oder wovon sie glauben, daß sie es tun sollen, sagen ließe; und es ließe sich auch 4

G . C. Homans, Was ist Sozialwissenschaftf

(Köln, 1968).

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viel über die Gefahr der Tautologie im Modell der Gewinnmaximierung sagen, wie auch Feinsinniges darüber, welche Elemente einer Theorie der Motivation wir unbesorgt für tautologisch befinden können, und welche Elemente wir um jeden Preis als empirisch anfechtbar erhalten müssen. Trotzdem geht es unmittelbar nur darum, daß es sowohl Akteure als auch Rollen gibt, und daß Smith ein Offizier ist, und daß ein Offizier das ist, was Smith ist. Gerade dieses Beharren darauf, sowohl dem gewinnmaximierenden, als auch dem Rollenmodell gerecht zu werden, gestattet die dritte Auffassung darüber, wie man feststellt, worin das, „was zu tun ist", besteht. Wir akzeptieren beide Prämissen der vorhergehenden Modelle; es gibt Rollen mit damit verknüpften Rechten und Pflichten, und Rechte und Pflichten liefern Handlungsgründe, und können daher in der Erklärung, warum ein Akteur getan hat, was er getan hat, eine Rolle spielen. Es gibt aber auch Akteure, und die sind nicht Bündel von Rechten und Pflichten, sondern Geschöpfe aus Fleisch und Blut, mit eigenen Zielen, Wünschen und Zwecken. Die Erklärung sozialen Verhaltens muß Person wie Part Rechnung tragen, wie auch eine Erklärung einer Schachpartie nicht nur den Regeln, die die Züge der einzelnen Figuren festlegen, und was als Sieg oder Niederlage zählt, Platz bieten muß, sondern auch den Zielen der Spieler, ihrem Spielniveau, ihrem Temperament, und so weiter. Der Soziologe kann sich vielleicht mit einer strukturellen Beschreibung der Rollenstruktur einer Gesellschaft begnügen — und niemand, der Siegfried Nadel liest, könnte irgendeinen Zweifel über die Wichtigkeit und Schwierigkeit dieser Aufgabe hegen5. Aber wenn wir erklären wollen, was während irgendeines Abschnittes sozialer Interaktion geschieht, dann brauchen wir sowohl Rollen als auch Akteure, sowohl die anerkannten Rechte und Pflichten, als auch die Hoffnungen, Ängste, Fähigkeiten und Schwächen, die der Akteur in seine Rollen einbringt6. Darauf zu bestehen, scheint den „dramatistischen", „dramatischen", oder „dramaturgischen" Ansatz der Interaktionsforschsung auszuzeichnen7. (Ich bin nicht sicher, ob irgendetwas davon abhängt, für welchen dieser Ausdrücke man sich entscheidet.) Ich schneide nun die Frage an, die uns im folgenden nicht mehr loslassen wird, obwohl wenig von dem, was wir zu sagen haben werden, sich 5 6 7

S. F. Nadel, The Theory of Social Structure (London, 1957), S. 20ff. Goffman, Rahmen-Analysen, Kap. 13. Vgl. S. M. Lyman und M. B. Scott, The Drama of Social Reality (New York, 1975), und R. Harre und P. F. Secord, The Explanation of Social Behaviour (Oxford, 1972).

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explizit mit ihr auseinandersetzt. Das ist die Frage, ob das dramaturgische Modell die Theaterhaftigkeit des gesellschaftlichen Lebens bloß derart hervorhebt, daß sie darauf besteht, daß Leute Rollen ausfüllen, genau wie Personen im Theaterstück einen Part spielen; daß sie daher aufhören können, sie auszufüllen, und sie zu jeder Zeit mit mehr oder weniger Engagement für die etablierten Ziele und Zwecke, die die Rollen vorauszusetzen scheinen, ausfüllen können; daß sie sich zumindest manchmal von der eigenen Darstellung der Rolle distanzieren können, und sich fragen können, warum sie sich auf sie festgelegt fühlen, wenn sie doch etwas Interessanteres oder Angenehmeres tun könnten; und daß sie sich die Rolle zunutze machen können, um anderen anzuzeigen, daß sie nicht gänzlich so sind, wie es aufgrund ihrer Darstellung der Rolle scheinen könnte 8 . Das ist also die Frage, ob das entscheidende Element im dramaturgischen Bild jenes Bündel von Einsichten ist, das unter dem allgemeinen Titel „Rollendistanz" aufscheint. Oder ist das entscheidende Element die Behauptung, daß der Mensch sein Stil ist; daß wir, wenn wir die ästhetische Dimension des gesellschaftlichen Lebens aussparen, das Risiko eingehen, vieles mißzuverstehen; daß die gekonnte Darstellung irgendeines Parts nicht bloß eine Technik ist, anderen Leuten einzuprägen, daß man besonders schätzens- und bewundernswert ist, noch notwendigerweise dazu dient, in anderen Leuten falsche Vorstellungen darüber zu erwecken, zu welchen Bedingungen man bereit ist, an den Projekten anderer teilzunehmen, um Vorteile auszutauschen, oder sonst irgendetwas? Vielleicht ist es die Behauptung, daß die einzige Methode, sich dem Doppeldruck des gesellschaftlichen Lebens einerseits, unseres privaten Selbst andererseits, anzupassen, darin liegt, diesen Anpassungsprozeß in ein Kunstschaffen zu verwandeln, in ein Projekt, das von Lyrikern, Dramatikern und Romanciers besser verstanden wird als von Kosten-NutzenAnalytikern, oder den Vertretern der funktionalistischen Rollenanalyse? Antoine de Saint-Exupéry äußerte sich ziemlich schroff über einen jungen Mann, der ein Paar weißer Handschuhe überstreifte, bevor er sich eine Kugel durch den Schädel jagte9. Bemängelte er das „Theatralische" an der Geste? Wenn ja, sollen wir dann folgern, daß es eine Unterscheidung zwischen ernsthaften Angelegenheiten und solchen, die man dramatisch ausgestalten kann, gibt; oder sollen wir folgern, daß ernsthafte Angelegen-

8 9

E. Goffman, Encounters (New York, 1961), Kap. 3. A. Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne (Dessau, 1941).

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heiten gerade deshalb dramatisch ausgestaltet werden können, weil Theatralik ein Laster ist, das gutes Drama zerstört, und nur gutes Drama? So viel zur Einleitung. Obwohl ich nicht weiß, wie man dazu genug sagen könnte, möchte ich nur einiges über die Besonderheiten der rationalen Erklärung sagen, und über die Rolle von Rekonstruktionen dessen, „was zu tun ist", die diese neben der Erklärung einer Handlung oder einer Reihe von Handlungen spielen können. Hiezu werfe ich einen kurzen Blick auf das vielleicht überstrapazierte Problem, Wahlverhalten in dem von Anthony Downs' Werk ökonomische Theorie der Demokratie inspirierten Rahmen verständlich zu machen 10 . All dies wird uns zur Vermutung anregen, daß, wenn es der Fall ist und auch der Fall sein muß, daß es auf der Welt eher wenig Leute gibt, die Werte rational maximieren — entweder Gewinne für sich selbst erzielen, oder irgendeinen anderen Wert 1 1 — es nicht verwunderlich ist, daß Sozialwissenschaftler ihre Aufmerksamkeit auf einige der nicht-maximierenden Aktivitäten von Leuten richten sollten, etwa das Inszenieren sozialer Dramen oder die Planung ihres Lebens als Kunstwerk. Das bleibt aus Gründen, die hinreichend klar werden, wenn wir uns einigen neueren Darstellungen des Phänomens Selbstmord (und jener von Dürkheims Der Selbstmord) zuwenden, nicht mehr als eine Vermutung. Es wäre sinnlos, zur Erklärung einer Handlung die guten Gründe dafür anzugeben, wenn wir nicht irgendetwas wie „das Rationalitätsprinzip" 12 akzeptierten, das Popper „falsch, aber unerläßlich" für die Sozialwissenschaften nennt. Es ist jedoch, wie Poppers Charakterisierung nahelegt, ein merkwürdiges Prinzip; es kann wohl kaum eine Verallgemeinerung von Einzelfällen darstellen, aus all den vertrauten Gründen, die der Unmöglichkeit, das Explanandum in Einzelfällen ohne vorherige Zugrundelegung des Prinzips zu identifizieren, entspringen. So scheint uns nichts anderes übrig zu bleiben, als das Prinzip als eine begriffliche Wahrheit oder als ein heuristisches Prinzip zu interpretieren. Das heißt, daß wir das Prinzip der Rationalität derart konstruieren könnten, daß es nicht besagt, daß im großen und ganzen Leute tun, was zu tun ist, sondern als die konzeptuelle Behauptung, daß eine (rationale) Handlung das ist, was ein Akteur tut, weil es (in irgendeinem Sinn) das ist, was zu tun ist; es so auszulegen, liefe 10 11

12

A. Downs, ökonomische Theorie der Demokratie (Tübingen, 1968), S. 260ff. Vgl. A. Heath, „The Rational Model of Man", European Journal of Sociology 15 (1974), S. 200ff. J. W. N . Watkins, „Imperfect Rationality", in R. Borger und F. Cioffi (Hrsg.), Explanation in the Behavioural Sciences (Cambridge, 1970), S. 172—9.

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darauf hinaus, es ungefähr so aufzufassen, wie Kant das Prinzip der universellen Kausalität auffaßt. Oder wir könnten es als ein heuristisches Prinzip behandeln, das uns dazu auffordert, den Versuch, Gründe für ein Stück menschlichen Verhaltens zu finden, nicht zu früh aufzugeben, und uns mit keiner Erklärung zufriedenzugeben, die nicht sichtbar macht, wie das, was geschehen ist, zumindest subjektiv das war, was zu tun war. Leute, die in bezug auf heuristische Interpretationen solcher Prinzipien skeptisch sind, könnten an die Arbeit von R. D. Laing denken, wo das Prinzip unter wenig verheißungsvollen Umständen angewendet wird, um das Verhalten von Schizophrenen verständlich zu machen 13 . Das Anziehende daran ist, daß es Ereignisse in den Bereich menschlichen Handelns wiedereinbringt, die man sonst als Dinge auffassen müßte, die dem schizophrenen Patienten einfach zustoßen. Wenn das Rationalitätsprinzip keine begriffliche Wahrheit und kein heuristisches Prinzip ist, dann ist schwer einzusehen, was es sonst sein könnte. Als eine empirische Generalisierung darüber, daß Menschen im allgemeinen das Richtige tun, ist es angesichts des unglückseligen menschlichen Hanges zum Irrtum jämmerlich falsch. Wenn es enger ausgelegt werden sollte, wie das viele Soziologen tun würden, wenn sie behaupten, daß rationales Verhalten in ökonomischen Angelegenheiten die Regel ist, aber nicht im gesellschaftlichen Leben im allgemeinen, dann wird „rational" offensichtlich viel enger gefaßt, als das hier der Fall ist — entweder so, daß es auf Webers Darstellung der „Zweckrationalität" paßt, oder in irgendeinem Sinn in Entsprechung zu Paretos Darstellung der logischen Handlungen 1 4 . Der einen Auffassung zufolge bedeutet also der Nachweis, daß eine Handlung in irgendeinem Sinn das war, „was zu tun war", eben, daß man zeigt, daß es das war, was man rationalerweise zu tun hatte; denn zu zeigen, daß es das war, was zu tun war, bedeutet, es rational zu erklären. Nach der anderen Auffassung bedeutet der Nachweis, daß es das war, was zu tun war, es verstehbar zu machen; zu zeigen, daß es das war, was man rationalerweise zu tun hatte, heißt, einen Schritt weiter zu gehen. Es läßt sich nicht leicht angeben, was von der Wahl einer mehr oder weniger restriktiven Version abhängt; wenn wir auf den signifikanten Unterschieden zwischen Erklärungen unter Bezug auf Ziele und Wissen von Leuten 13 14

R. D. Laing, Das geteilte Selbst (Köln, 1972), S. 1 8 - 3 8 . I. Jarvie und J. Agassi, „The Problem of the Rationality of Magic", in B. R. Wilson (Hrsg.) Rationality (Oxford, 1970), S. 173.

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einerseits, und einfacher kausaler Erklärung andererseits, beharren, dann werden wir vermutlich nichts gegen den weiteren Gebrauch haben; wenn wir betonen wollen, wie verschieden vom Unternehmer und Ingenieur der Künstler, Dichter oder Priester seine Mittel seinen Zwecken anpaßt, dann werden wir den Begriff vermutlich einengen wollen. Downs' Buch ökonomische Theorie der Demokratie illustriert einige der Probleme, denen wir uns hier gegenübersehen. Es greift eine in Schumpeters Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie implizit enthaltene Anregung auf, nach der politische Parteien und Wähler so aufgefaßt werden können, als wären sie auf der einen Seite Firmen, auf der anderen Konsumenten15. Wähler wenden ihre Stimmen dazu auf, den größtmöglichen Nutzen aus den Maßnahmen zu erzielen, die die politischen Parteien, sollten sie gewählt werden, durchführen werden. Von den politischen Parteien wird angenommen, daß sie nur ein Ziel haben, nämlich an die Macht zu gelangen, indem sie ihre Politik an so viele Wähler wie möglich verkaufen. Anfangs stattet Downs alle Parteien mit ungefähr derselben Allwissenheit aus, die die Theorie der vollkommenen Konkurrenz in der orthodoxen Ökonomie annimmt, aber die Analyse wird erst dann interessant, wenn Phänomene des wirklichen Lebens in Analogie zu Markenloyalität und Informationskosten zugelassen werden. Das bekannteste Problem taucht jedoch auf, wenn wir lediglich annehmen, daß Wählen eine mit Kosten behaftete Aktivität darstellt; denn wenn erst einmal dem Wählen Kosten zugeschrieben werden, dann sieht Downs, daß sehr schwer zu erklären ist, warum Leute überhaupt wählen. Der rationale Wähler operiert mit einer Schätzung, welchen Unterschied der Sieg einer bestimmten Partei für seinen Gesamtnutzen machen wird; daraufhin muß er berechnen, ob die Chance, daß seine Stimme den Wahlausgang entscheiden wird, multipliziert mit dem Unterschied, den es macht, wenn die „richtige" Partei gewinnt, eine größere Summe ergibt als die Kosten, die es verursacht, zu wählen, statt irgendetwas anderes zu tun, was er lieber tun würde. Es ist nun offensichtlich, daß bei einer großen Wählerzahl die Chancen, daß die Stimme irgendeines gegebenen Einzelnen die Wahl entscheiden wird, winzig sind; daher ist der Wert des Wählens ebenfalls winzig, da es unwahrscheinlich ist, daß der Unterschied zwischen den Parteien so enorm ist, daß er von ernsthafter Bedeutung für das Ergebnis sein könnte. Wenn daher das Wählen überhaupt irgendetwas kostet, wird

15

Downs, ökonomische

Theorie

der Demokratie,

S. 28 f.

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der Stimmberechtigte nicht wählen — vorausgesetzt natürlich, daß er rational ist. Am Anfang seines Buches meint Downs,'daß der einzige Sinn einer Theorie in der Vorhersage dessen liegt, was geschehen wird, und er legt sich daher auf die Auffassung fest, daß die einzig angemessene Reaktion auf einen Konflikt zwischen dem, was die Theorie verlangt, daß Wähler tun, und zwischen dem, was Wähler tatsächlich tun, das Überbordwerfen der Theorie ist. Man würde daher annehmen, daß sich Downs einfach der Hypothese entledigen würde, daß Wähler ihre Gütermenge zu maximieren suchen. Das tut er allerdings nicht. Die Theorie hält ihn so fest in ihrem Griff, daß er sich nach etwas anderem als dem Unterschied zwischen den Parteien umsieht, das die Gewinne des Wählers liefern soll. So regt er z. B. an, daß der Wähler nicht bloß für die Partei stimmt, die ihm das bessere Angebot macht, sondern daß er auch wählt, um die demokratische Regierungsform zu stützen. Wird eine bestimmte Anzahl von Wählern unterschritten, dann bricht die Demokratie zusammen; der Wähler muß daher die ihm entstehenden Kosten in Betracht ziehen, sollte das ganze System zusammenbrechen. Das ist im wesentlichen ein Weg, v (den Nutzen eines Ergebnisses) zu vergrößern, um die Geringfügigkeit von p (der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens unter spezifizierten Bedingungen) zu kompensieren. Und wie andere Argumente auch, die an Personen mit egoistischen Interessen appellieren, um sie vom Schwarzfahren abzuhalten, muß es fehlschlagen, wenn es sehr unwahrscheinlich ist, daß ihr individueller Beitrag in der einen oder anderen Weise den Ausschlag geben wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Stimmabgabe oder Stimmenthaltung irgendeines einzelnen Wählers den Ausschlag gibt, ist so winzig, daß die selbst auferlegten Kosten der Enthaltung sehr niedrig ausfallen müssen, unabhängig davon, wie widerwärtig dem Einzelnen die Aussicht auf den Zusammenbruch der Demokratie ist 1 6 . Hier tun sich nun zwei Wege auf, die wir auseinanderhalten sollten. Der erste führt uns zur Untersuchung, welche Entscheidungsregeln Leute verwenden, um herauszufinden, warum sie Entscheidungen treffen, die reine Nutzenmaximierer nicht treffen würden — vorausgesetzt, sie wären bei der Schätzung der mit den verschiedenen Ergebnissen verknüpften Wahrscheinlichkeiten unfehlbar. Im wesentlichen sollten wir die Auffassung beibehalten, daß Leute aus Eigeninteresse gehandelt haben, aber näher in Augenschein nehmen, wie sie das getan haben, um zu sehen, ob 16

B. M. Barry, Sociologists, Economists and Democracy

(London, 1970), S. 45f.

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sie vielleicht eher ein Sättigungsniveau anstreben, als Nutzen maximieren, oder ob sie der Absicht nach Maximierer waren, aber merkwürdige Ansichten über die Wahrscheinlichkeit hatten. In dieser Richtung gibt es nun viele interessante Resultate, die wir vielleicht untersuchen möchten. Zum Beispiel legen die Phänomene des Fußballtotos und der Versicherungsgesellschaften zwei Dinge nahe: daß wir, wenn wir mit der Aussicht auf wirklich große Verluste konfrontiert sind, die Gefahr ihres Eintretens überschätzen, und daher Gewinnchancen akzeptieren, die ein echter Nutzenmaximierer zurückweisen würde, und daß wir, wenn wir einem wirklich großen Gewinn gegenüberstehen, bereit sind, einen kleinen Einsatz zu Gewinnchancen zu riskieren, die der Nutzenmaximierer strenggenommen zurückweisen müßte. Downs hätte nun etwa argumentieren können, daß Wähler die Wahrscheinlichkeit eines Systemzusammenbruchs überschätzen werden, oder etwa daß es einen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen sie überhaupt keine Kosten berechnen und ohne viel Bedenken wählen — aus derselben Einstellung heraus, aus der sie einen Groschen für ein Lotterielos ausgeben. Aber Downs schlägt den zweiten Weg ein, der darauf hinausläuft, die Annahme, daß Menschen Nutzenmaximierer sind, als unantastbar aufzufassen, und sich dann erst danach umzusehen, was ihnen Nutzen einbringt. Downs bastelt an den Gewinnen des Wählers herum, indem er anheimstellt, daß die Freuden eines guten Gewissens es für den Wähler lohnend machen, seiner Pflicht nachzukommen und zu wählen. Selbstverständlich ist es eine empirisch gut bestätigte Auffassung, daß die Disposition der Leute, überhaupt zu wählen, viel stärker mit der Intensität ihrer Vorstellungen von „Bürgerpflicht" korreliert, als mit ihrer Perzeption der Unterschiede zwischen den Parteien. Das legt sicherlich nahe, daß die erste Version von Downs* Theorie eine geringere Wahrscheinlichkeit hat, sich als hieb- und stichfest zu erweisen, als die zweite Version 17 . Wenn wir jedoch einmal „seiner Pflicht nachzukommen" als einen der Wünsche des Akteurs zulassen, dann verheddern wir uns selbstverständlich genau in jenen Schwierigkeiten, die Macaulay so genießerisch James Mill entgegengehalten hat 18 . Die Theorie, daß Menschen ihren Nutzen maximieren, verliert an Erklärungskraft. Wir beginnen mit dem Glauben, daß, wenn man sich rationales Verhalten als nutzenmaximierendes Verhal17 18

Ebda., S. 17f.

T. B. Macaulay, „Mill on Government", in Works, Vol. 7 (Edinburgh, 1902), S. 354.

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ten vorstellt, wir die Art von Dingen, die für Menschen einen Nutzen stiften, irgenddwie einfach umschreiben können — wie etwa Geldeinkommen. Wir stehen im weiteren Verlauf vor einem Rätsel, denn wenn Menschen z. B. Gelderträge maximierten, dann würden sie überhaupt nicht wählen. Wenn wir nun an der Vorstellung festhalten, daß sie irgendetwas maximieren müssen, dann landen wir schließlich bei einer anderen Theorie, und einer anderen empirischen Aufgabenstellung. Wir haben keine Theorie von prognostischer Leistungsfähigkeit, keine falsifizierbare und in der Tat falsifizierte Theorie; was wir haben, ist ein analytischer Rahmen, in den wir eine ziemlich verschiedene Theorie von prognostischer Leistungsfähigkeit einpassen, vorausgesetzt, wir können eine solche finden. Ist man mit dem Versagen der nutzenmaximierenden Modelle konfrontiert, bei der Bereinigung der Erklärung von Wahlhandlungen das Versprochene zu leisten, dann leuchtet ein, warum sich Leute zu alternativen Modellen, wie etwa dem dramaturgischen, hingezogen fühlten. Aber es kann kaum behauptet werden, daß das Modell eine Fassung erhalten hat, die man für definitiv erachten könnte, oder daß es in einer Form deutlich gemacht worden wäre, die einen Konsens über seine Reichweite und seine Beschränkung ermöglichte. Es ist auch nicht sehr hilfreich, daß der Autor, mit dem das Modell am häufigsten assoziiert wird, Erving Goffman, sich mehr als einmal sehr darum bemüht hat, sich davon abzusetzen. Das heißt, ein guter Teil von Rahmen-Analysen wird darauf verwendet, zu leugnen, daß alles ein Stück Theater ist; Goffman verweist nachdrücklich darauf, daß Ereignisse im Alltagsleben in einer Weise reale Konsequenzen haben, wie es auf der Bühne abgebildete Ereignisse nicht haben, und er verwendet den Großteil eines besonders ansprechenden Kapitels darauf, die Techniken darzustellen, die wir einsetzen, um uns zu versichern, daß das, was auf der Bühne geschieht, nicht für einen Teil des wirklichen Lebens gehalten wird19. Es ist nicht leicht, sich über diese Angelegenheit im klaren zu bleiben; aber ein bescheidener Anfang könnte gemacht werden, indem wir dafür Sorge tragen, zwischen Vorgeben und Abbilden zu unterscheiden. Es ist wichtig, daß der Schauspieler, der Othello spielt, nicht vorgibt, Othello zu sein, jedenfalls in keinem Sinn, der dem ähneln könnte, in dem der Betrüger vorgibt, der Gasmann zu sein; sein Spiel als Othello ist überhaupt nicht darauf angelegt, irgendjemand zur Annahme zu verleiten, daß er Othello ist, während es zum Wesen der Tätigkeit des Betrügers 19

Goffman, Rahmen-Analysen, Kap. 5.

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gehört, daß er uns zum Glauben verleitet, daß er wirklich der Gasmann ist, genau wie es ein wesentlicher Bestandteil der Aktivitäten jemandes, der betrügerisch Anspruch auf ein Erbe erhebt, ist, daß er für genau dieselbe Person gehalten werden will, die der wirklich Erbberechtigte ist. Goffmans Analyse zum Beispiel jener Episode, als ein Zuschauer auf die Bühne sprang und begann, den „Helden" von Blick zurück im Zorn zu attackieren, hat die wichtige Konsequenz, daß welche Art von Glaubensvorschuß das Theater auch immer erfordert, es von uns zumindest nicht verlangen kann, zu glauben, daß wir wirklich dabei zusehen, wie Othello Desdemona würgt 20 . Die richtige Reaktion darauf, daß Othello Desdemona würgt, wäre es, ihn daran zu hindern. Nun ist es sicherlich wahr, daß in der Welt, die Goffman uns zeigt, häufig und oft etwas vorgegeben wird. Leute geben beständig vor, in gutem Glauben zu handeln, wenn sie das nicht tun, beanspruchen Fähigkeiten, die sie nicht besitzen, und täuschen ein Engagement vor, das sie nicht empfinden. Es ist jedenfalls ein Aspekt der Idee der Rollendistanz — wenn auch vielleicht nicht der wichtigste — daß sie uns daran erinnert, wie oft wir vorgeben, uns bei einer bestimmte Aufgabe wohler zu fühlen, als wir das tatsächlich tun, wie wir andere über unsere Fähigkeiten irreführen, eine gegebene Aufgabe problemlos zu erledigen. Soweit könnte man der Auffassung sein, daß das Täuschungselement zentral ist, und daß „eine Show abziehen" die Kernidee der dramaturgischen Analyse ist. Ich glaube, daß das auf eine allzu einseitige Betrachtungsweise hinausläuft. Denn die Idee der Abbildung, deren dramatische Konnotationen offensichtlicher sind, spielt ebenfalls eine Rolle. Wir brauchen nicht zu unterstellen, daß jemand, der die Rolle des Chirurgen spielt, lediglich vorgibt, ein Chirurg zu sein; er ist klarerweise wirklich ein Chirurg. Aber wir könnten wohl sagen wollen, daß, was er als Chirurg tut, zusätzlich abbildet, was ein Chirurg tut, trotz der Unbeholfenheit einer derartigen Formulierung. Das Unbeholfene daran ist natürlich, daß uns die Behauptung befremdet, daß ein Ding gleichzeitig es selbst und ein Bild von sich selbst sein könnte; aber es ist nicht besonders unbeholfen, wenn man sagt, daß ein gegebenes Stück Verhalten sowohl dieses Stück Verhalten als auch ein Bild von Verhaltensstücken dieser Art sein könnte. Ein Fußballer, der mit Leichtigkeit einen Elfmeter verwandelt, tritt sowohl den Ball auf eine bestimmte Art, als er auch ein Bild davon abgibt, wie man leicht Elfmeter verwandelt. Nach dieser Auffassung sollten wir uns durch die Unterstellung, daß eine 20

Ebda., Kap. 9.

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gegebene Aktivität sowohl die reale Aktivität des Lebensrettens durch Operationen, als auch ein exemplarisches Bild davon ist, wie man so etwas gewissenhaft, effizient, geschickt, etc., erledigt, nicht in ungebührliche Aufregung versetzen lassen. Und das ist noch nicht das Ende des Arguments; wir könnten weiter behaupten, daß eben deshalb, weil die Tätigkeit als ein Bild dieser Art von Tätigkeit gesehen werden kann, Raum für stilistische Betrachtungen geschaffen wird, für eine ästhetische Dimension. Daß ein Mensch überhaupt eine Rolle ausfüllt, ist im allgemeinen keine Stilfrage; überhaupt ein Chirurg zu sein, ist hauptsächlich eine Frage der Fähigkeiten, oder der Qualifikation, oder dessen, was er üblicherweise mit den ihm anvertrauten Patienten tut. Den Job zu verrichten, ist eine technische Angelegenheit; aber die Umgebung, in der der Job ausgeübt wird, bietet die Gelegenheit, das mit Stil zu tun, statt nur einfach so. In Bereichen wie jenem der Chirurgie macht der Stil so ziemlich den Menschen aus — verbunden damit, wie der Einzelne die an ihn gestellten Anforderungen bewältigt; aber er ist auch ein Rollenelement in dem Sinn, daß eine Darstellung des Stils, mit dem eine Rolle ausgefüllt werden kann, eines der Dinge ist, die wir über jede Rolle wissen möchten, bevor wir das Gefühl haben, daß wir sie verstanden haben. Es wäre ein dünnes Fußballwissen, das nicht die Einsicht einschließt, daß Pele ein stilvoller Spieler war, und daß Lofthouse das nicht war. Das ist bei weitem nicht alles, was an Goffmans Darstellung von „Ausschnitten" der sozialen Interaktion dran ist, und ein beunruhigender Aspekt von Goffmans gewohnter Lässigkeit in bezug auf sein theoretisches Engagement muß kurz erörtert werden, bevor wir daran gehen, den dramaturgischen Ansatz einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Das ist die Zweideutigkeit, ob wir es mit einer Disposition zu tun haben, das, „was vorgeht", als etwas Dramatisiertes zu sehen, oder mit einer Disposition, es als ein Spiel im spieltheoretischen Sinn zu sehen, ein Spiel, in dem wir stets mit Problemen von der Art des „Gefangenendilemmas" konfrontiert sind, und wo wir ständig versuchen, so viel wie möglich für uns selbst aus einer im Grunde zerbrechlichen Kooperaton mit anderen herauszuholen. Nach dieser zweiten Interpretation hat die Bedeutung, die Goffman der Informationskontrolle über uns selbst beimißt, eine viel offensichtlichere Erklärung, als sie es gemäß einer Auffassung hätte, die in stärkerem Maß auf eine dramaturgische Sichtweise festgelegt ist. Es ist das Ziel jedes Einzelnen von uns, einen Eindruck von sich selbst zu erzeugen, der ihm die günstigeren Kooperationsbedingungen verschafft. Nach dieser Auffas-

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sung bemüht sich der Chirurg, der seine Arbeit mit Stil macht, nicht darum, die Schrecken des Sterbens und der Verursachung des Todes erträglicher zu machen, indem er sie ästhetisch überhöht, sondern darum, seine Dominanz über den Rest des Operationsteams zu etablieren, und in ihnen die Vorstellung zu erwecken, daß er für das Gelingen der Operation von entscheidender Bedeutung ist, und daß sie, wenn sie sich seiner Kooperation versichern wollen, sich ihm unterordnen müssen. Oder, allgemeiner ausgedrückt, der Akteur versucht, die sozialen Geschäftsbedingungen zu manipulieren, indem er bei allen anderen die passenden Vorstellungen erweckt. Und das verlangt selbstverständlich, worauf Goffman immer bestanden hat, die wesentliche Kluft zwischen Akteur und Rolle. Jeder Teilnehmer an der Alltagsinteraktion weiß, daß gesellschaftliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn jeder so weit bei Laune gehalten wird, daß er bereit ist, das Seine in die sozialen Unternehmungen einzubringen, von denen wir alle abhängen; daher hält jedermann nach Anzeichen dafür Ausschau, daß andere Leute verläßlich oder unverläßlich, kompetent oder inkompetent sind. Ein Aspekt von Goffmans Werk, der geeignet ist, Anstoß zu erregen, ist die scheinbare Implikation, daß wir derart viel Zeit darauf verwenden, entweder einen Blick auf die Mängel von anderen zu erhaschen, oder auf den Versuch, unser eigenes Image aufzuputzen. Viele seiner Leser beteuern, daß sie sich selten, wenn überhaupt je, darüber Gedanken machen, wie sie bei anderen ankommen, und daß sie nie, oder zumindest sehr selten, Zweifel bezüglich der geistigen Gesundheit, sexuellen Normalität, Gutmütigkeit oder sonst irgendwas der Leute, mit denen sie verkehren, hegen. Wenn sie empört sind, und sich auch zu einer der zeitgenössischen Versionen von Marx hingezogen fühlen, dann können sie darauf bestehen, daß diese angstgequälten Phänomene für eine Gesellschaft typisch sind, deren Werte durch die Warenproduktion korrumpiert sind, und wo wir uns daher unablässig darüber den Kopf zerbrechen, zu welchem Preis wir unsere Tugenden vermarkten können, und ob uns andere vielleicht übers Ohr hauen werden. Ich bin mir nicht ganz sicher, daß man etwas derart Sinistres in das Ganze hineininterpretiert werden sollte; obwohl es den Anschein hat, als bestünde ein echtes Rätsel darüber, inwieweit Goffmans Arbeit generalisierbar ist, ob das, was er sagt, auf die Amerikaner zutrifft, aber nicht auf die Briten, wie Banton vermutet21, oder ob es auf entwickelte Industriegesellschaften zutrifft, nicht aber auf einfachere vorindustrielle Gesellschaften. Die einzige Frage, 21

M . Banton, Roles (London, 1965).

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die hier zur Debatte steht, ist, ob wir seine Darstellung der sozialen Interaktion als eine Geschichte darüber auffassen sollen, wie wir den Markt manipulieren, oder darüber, wie wir es anstellen, eine gute Show zu liefern. In The Drama of Social Reality22 deuten Lyman und Scott an, daß sie so ziemlich dieselben Probleme mit der Frage haben, worauf sich Goffman theoretisch festlegt. Aber sie betrachten sich selbst als der Auffassung verpflichtet, daß das Leben wirklich Theater ist. Es stellt sich dann die Frage, worauf sie sich damit festgelegt haben, anbetrachts der Tatsache, daß G. H . Mead und Freud zusammen mit Goffman herangezogen werden, um zu erklären, was der dramaturgische Standpunkt ist, obwohl dann Goffman als nicht voll entwickelter dramaturgischer Theoretiker abgetan wird. Die offensichtlichen Erwägungen, von denen sie ausgehen, sind solche Dinge wie unsere Fähigkeit, inforo interno zu proben, was wir tun werden, bevor wir es tun — aber das allein scheint kaum genug zu sein, da die bloße Tatsache, daß ich eine Rechenaufgabe im Kopf lösen kann bevor ich sie niederschreibe, dies als einen Fall von Proben ausweist, ohne sehr viele von uns in Versuchung zu führen, es als das Proben eines Theaterstücks aufzufassen. Sie scheinen weiter zu unterstellen, daß wir in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens einem Drehbuch folgen; aber aus den oben nahegelegten Gründen ist nicht klar, ob wir es hier mit einem Drehbuch oder einem strategischen Szenario zu tun haben, ob das Drehbuch technische Anweisungen oder die Zeilen einer Tragödie enthält. Ich folge einem Text, wenn ich die Anweisungen im Handbuch für mein Auto befolge und ein Rad wechsle; aber Goffmans Beharren darauf, daß zwischen dem Wechseln eines Rades auf der Straße und dem Wechseln eines Rades in einem Stück ein Unterschied besteht, läßt uns immer noch an der Behauptung festhalten, daß, wenn auch die beiden Tätigkeiten gleich aussehen, wir vom Nachweis, daß alles Leben Theater ist, meilenweit entfernt sind. Es könnte hier gesagt werden, daß ein Rad zu wechseln keine soziale Interaktion ist, sondern bloß eine Episode, wo Fahrer und unbelebte Materie miteinander im Kampf liegen; aber die bloße Einführung einer weiteren Person, um einem beim Befolgen der Anweisungen behilflich zu sein, scheint an der Analyse nicht viel zu ändern. Plausibler könnten wir sagen, daß nur dort, wo wir, was wir tun, vor einem Auditorium — ob wirklich oder vorgestellt — tun, für die Theateranalogie Platz ist. Wenn es 22

Lyman und Scott, The Drama of Social Reality,

S. 168 f.

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also nicht nur darum geht, daß ich, oder ich und ein Kumpel, mit dem störrischen Rad kämpfen, sondern darum, daß ich mich irgendeinem Auditorium in der Maske jemandes, „der ganz und gar inkompetent, wenn auch nicht durch eigenes Verschulden" ist, präsentiere, dann könnten wir sagen, daß ich ein kleines Theaterstück aufführe. Aber gerade an dieser Stelle kehrt die oben bemerkte Zweideutigkeit wieder: können wir nicht ebenso gut sagen, daß mein Tun darauf gerichtet ist, anderen mitzuteilen, daß die Tatsache, daß ich ihnen die Last, mir beizustehen, aufbürde, nicht einem Charaktermangel meinerseits oder der schieren Trägheit entspringt? Wenn wir das können, dann sind wir auf die Frage zurückgeworfen, wie wir zwischen einem Bestehen auf dem gesellschaftlichen Leben als einem Theaterstück, und einem anderen Blickwinkel unterscheiden können, nämlich jenem, wo das Augenmerk den Methoden gilt, mit denen Leute sich einer Situationsdefinition versichern, entweder kooperativ, oder in Konkurrenz miteinander. Es gibt einen Hinweis dafür, daß das Anziehende an dem auf die ästhestische Erklärung gelegten Nachdruck in etwas anderem wurzeln könnte, als in der falschen Behauptung, daß die ganze Welt wirklich eine Bühne ist. Der Hinweis stammt aus Freuds Auseinandersetzung mit der Kunst, und taucht bestenfalls kurz in der von Lyman und Scott angebotenen Analyse auf. Wir werden darauf hingewiesen, daß das Vergnügen, das uns die Kunst bereitet, und das jeder ästhetischen Aktivität zugrundeliegt, durch die Rolle erklärt werden muß, die die künstlerische Umgestaltung bei der Bewältigung der Schmerzen und Ängste des Lebens spielt. In Lymans und Scotts Darstellung sieht es manchmal so aus, als ob Freuds Theorie das Theaterstück ist, wo Es, Ich und Uberich in einer Tragikomödie ihren Part spielen23; die interessantere Idee ist, daß innerhalb der Theorie das Ich eine neue Rolle übernimmt, nicht die des ökonomischen Kalkulierers, der in einer gefahrvollen Welt psychische Gewinne maximiert, sondern jene des Lyrikers oder Dramatikers, der das Leben erträglich macht, indem er ihm eine Einheit verleiht, die selbst nicht im ökonomischen Rahmen erklärt werden kann. Auch wenn wir die Behauptung beibehalten, daß es in irgendeinem Sinn die Aufgabe des Ich ist, den Umgang zwischen Organismus und Umgebung zu steuern, heißt das, daß behauptet wird, daß die Art dieser Steuerung essentiell, statt bloß zufällig, durch der Bewertung eines Kunstwerkes angemessene Betrachtungen verstanden werden muß. Das ist eine bemerkenswerte Behauptung, und geht 23

Ebda., S. 102.

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weit über das hinaus, was man zum Beispiel aus Meads Beobachtung herausfiltern kann, daß hinter dem sozialen Mich das personale Ich liegt; denn es ist eine Behauptung — wie unexplizit sie auch sein mag — darüber, wie das Ich formt, was dem Mich geschieht, und warum das Ich bereit ist, alle möglichen Mißgeschicke, die dem Mich widerfahren, zu verkraften, solange sie nur in der richtigen Weise organisiert sind. Das ist jedoch nicht mehr als ein spekulatives Beiseite. Wenn wir zu unseren früheren Befürchtungen zurückkehren, dann muß ein weiteres Problem erledigt weden, bevor wir mit einem Eingeständnis der Verblüffung schließen. Man hört manchmal, daß die dramaturgische Erklärung gegenüber anderen Arten von Erklärung zweitrangig ist, in dem Sinn, daß das, was im Theater vor sich geht, bereits von den Ereignissen im NichtTheater abhängig ist. Hier ist zweierlei zu bemerken. Zunächst sind einige Versionen des Alltagsverhaltens in bezug auf ihre Wirkung davon abhängig, daß sie Kopien davon sind, was sich in einem Film, einem Stück, oder sonstwo abspielt. Der Chirurg, der für eine besonders schwierige Operation die Haltung von Gary Cooper annimmt, macht offensichtlich Anleihen im Bereich des Theatralischen im engsten Sinn. Aber das soll nicht heißen, daß die dramatischen Qualitäten des Verhaltens im wirklichen Leben davon abhängen, daß man Teile eines Stücks kopiert — was in Stücken, Filmen usw. passiert, ist eine Überhöhung und Verdichtung dessen, was sich anderswo abspielt. Zweitens gibt es jedoch sicherlich einen Sinn, in dem dramaturgische Erklärungen gegenüber anderen Erklärungen zweitrangig sind. In jedem Fall, in dem eine dramatische Erklärung angebracht ist, ist auch irgendeine andere Erklärung angebracht. Die Frau, die Selbstmord begeht und sich als jemand darstellt, der an wahrhaftig gebrochenem Herzen gelitten hat, kann daher als jemand aufgefaßt werden, der die letzten Zeilen einer Tragödie der unerwiderten Liebe darstellt 24 . Aber wir haben hier zwei Erklärungen, die mit einer Handlung verknüpft sind. Der Grund für den Selbstmord mag im Wunsch liegen, einer sonst unerträglich komplizierten Existenz ein schlüssiges Ende zu bereiten; aber das Elend, das bewältigt werden muß, ist ein echtes und eigenständiges Elend. Es mag stimmen, daß die Frau eine dramatische Gestaltung von „Ich leide wirklich an gebrochenem Herzen" gibt, und daß es eine halb-beabsichtigte Auswirkung ihres Todes ist, daß die Schuld daran dem Mann, der ihr den Laufpaß gegeben hat, zugeschrieben wird; aber nichts davon würde irgendeinen Sinn ergeben, würde ein gebrochenes 24

J. D. Douglas, The Social Meanings

of Suicide

(Princeton, 1967), S. 315ff.

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Herz nicht bereits als adäquater Grund dafür gelten, daß man sich umbringt. Wenn wir die dramatische Analogie nur deshalb heranziehen, um zu unterstellen, daß ihr Selbstmord nicht bloß ein Tun, sondern auch ein Sagen war, sowohl die Aussendung einer Botschaft, als auch ein Akt der Selbstzerstörung, dann wird die Last der Erklärung ebensosehr den Motiven aufgebürdet, auf die sie aufmerksam macht, wie deren dramatischer Präsentation. Um etwas mehr aus der dramatischen Analogie herausholen zu können, müssen wir auf eine Erklärung dafür verweisen, warum nur ein Drama die Botschaft vermitteln kann; andernfalls ist das Drama nicht nur derivativ gegenüber der anderen Darstellung der Motivation, und das notwendigerweise, sondern eigentlich auch nichtssagend. Das ist von großer und allgemeiner Bedeutung. Wenn Lyman und Scott ihre Talente für die Analyse Shakespeares berühmtester Stücke verwenden, ist das Ergebnis merkwürdig unbeeindruckend. Wenn sie anheimstellen, daß Antonius und Kleopatra zum Teil mit dem Aufstieg der bürokratisch-rationalen Verwaltung befaßt ist, mögen sie recht haben: aber was wir wissen wollen, ist, warum Shakespeare ein Stück über ein Phänomen schrieb, das etwa in The Social System so ganz anders behandelt wird 2 5 . Die hier grundlegende Unterscheidung zwischen der Botschaft und ihrem Träger, ist zentral für die Befürchtungen, denen ich Ausdruck verliehen habe, Befürchtungen dahingehend, wie man die Darstellung des Verhaltens als Informationsweitergabe von einer eigentlich dramaturgischen Darstellung trennen könnte. Wenn sich Dürkheim auf Augenblicke sozialen Aufbrausens bezieht und eine Erklärung für die symbolische Verstärkung der moralischen Beziehung zwischen Individuen und der Gesellschaft durch religiöse Rituale liefert, fühlt man sich geneigt, zu fragen, weshalb gerade diese Art, dem Individuum diese Dinge klarzumachen, die richtige Art sein soll. Sogar bei Webers Darstellung wertrationalen Verhaltens finden wir eine Variante dieser Schwierigkeiten; eine gegebene Handlung wird als einzig mögliches Mittel aufgefaßt, einen bestimmten Wert auszudrücken, oder den Sinn einer bestimmten Lebensform zu vermitteln. Und wir bleiben im Unklaren darüber, wie die Werte und deren Ausdruck verknüpft sind, und müssen uns selbst nach einer Darstellung umsehen, wie eine Ausdrucksform dem, was sie ausdrücken muß, entspricht oder nicht entspricht 26 .

25 26

Lyman und Scott, a. a. O . , S. 66ff. Ebda., Kap. 2.

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Maximieren, Moralisieren und Dramatisieren

Ein letzter Blick auf drei Arten des Selbstmordes, im Licht der vorgebrachten Befürchtungen, soll die hier angemeldeten Zweifel zusammenfassen, auch wenn er keine endgültigen Schlußfolgerungen zuläßt. Die drei Fälle, die wir einander gegenüberstellen können, sind ein Mann, der sich umbringt, um ein langes, schmerzhaftes Dahinsiechen zu vermeiden, ein Kapitän, der mit seinem Schiff untergeht, und die verlassene Frau, die sich ertränkt. Es scheint überhaupt nicht schwierig zu sein, dem ersten in einem wertmaximierenden Rahmen Rechnung zu tragen; die einzige Komplikation wird durch die Werte der Gesellschaft dieses Mannes eingebracht, und durch das Ausmaß, in dem diese die Verfolgung egoistischer Ziele dieser Art einschränken. Unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses hat der Mann sicherlich gute Gründe, sich das Leben zu nehmen, aber in bezug auf die lokalen Normen kann er gute Gründe haben, das nicht zu tun. Uber die Frage, wann ein Mensch anstelle einer Menge von Gründen eine andere als seine Handlungsgründe nimmt, habe ich nichts zu sagen; es ist jedoch offensichtlich ein Thema von zentraler Bedeutung für die Theorie der rationalen Erklärung27. Der zweite Fall läßt sich derart einfach analysieren, daß verständlich wird, warum die Rollentheorie oft lächerlich gemacht wurde; das heißt, wir könnten zur Erklärung schlicht die Konvention oder Norm anführen, daß blamierte Kapitäne untergehen, wenn ihre Schiffe untergehen. Wenn wir wissen wollen, warum Jones den Untergang gewählt hat, dann weisen wir einfach darauf hin, daß er ein Kapitän war, der gezwungen war, sein Schiff zu versenken. Wie am Anfang dieses Artikels angedeutet, haben wir hier ein Problem, das das Gegenstück zu dem durch den ersten Fall aufgeworfenen ist. Der erste Fall konfrontiert uns nämlich mit der Frage, wie Normen die Annahme von egoistischen Gründen einschränken; hier stellt sich die Frage, wie das Eigeninteresse die Annahme von altruistischen Normen einschränkt. Der Kapitän hat einen guten, selbstsüchtigen Grund dafür, nicht mit seinem Schiff unterzugehen, aber er nimmt ihn nicht als Grund für seine Handlung. Obwohl es der dritte Fall ist, der, wie wir weiter oben angeregt haben, die Frage nach der Anwendung dramaturgischer Konzepte aufwirft, könnte man sagen, daß sie auch hier auftaucht. Denn was ist das Untergehen mit dem Schiff denn sonst, als ein stilvolles Beenden der Karriere, der Abgang von der Bühne in großem Stil? Das soll selbstverständlich nicht heißen, daß hier Platz für einen Begriff wie jenen der Rollendistanz ist; 27

D. Richards,

A Theory of Reasons for^Action

(Oxford, 1971), S. 3 - 7 1 .

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denn was am Kapitän auffällt, ist, daß er sich nicht von der Rolle distanziert — er identifiziert sich mit ihr so vollständig, daß er zu keinem Zeitpunkt daran denkt, etwas anderes zu tun, als mit dem Schiff unterzugehen. Aber diese Idee wirft die Frage auf, ob die Rolle des Kapitäns von den durch sie eröffneten Möglichkeiten der Zurschaustellung von Heldentum etc. getragen wird 2 8 . Und man muß dann entscheiden, wie der Heroismus einer Handlung zu ihren „Wünschbarkeitscharakteristiken" steht: soll man den Heroismus einfach unter Bezug auf Altruismus, das

28

Viel kann hier nicht getan werden, um die an das Referat anschließende Diskussion nutzbar zu machen. Als Hauptpunkt könnte man vielleicht anführen, daß sich nicht nur Professor Goffmans Arbeit, sondern auch Professor Goffman selbst dem Versuch widersetzt, auf der Grundlage seiner Beobachtungen eine allgemeine Theorie zu errichten, und dem zusätzlichen Versuch, aus ihnen eine anstrengende Moral abzuleiten. Es hat den Anschein, als ob die einzige allgemeine Moral, der Professor Goffman unter Umständen zustimmen würde, die ist, daß das gesellschaftliche Leben sehr viel komplizierter ist, als man mit bloßem Auge gewöhnlich wahrnimmt, und daß wir ein bemerkenswertes Sortiment von kommunikativen Geschicklichkeiten verwenden, und uns auf alle möglichen verbogenen kommunikativen Konventionen stützen, um sogar die alltäglichsten Aktivitäten zu erleichtern. Es gibt Gesten, die vom Mann an der Gehsteigkante verwendet werden, um Autofahrern seine Absichten zu signalisieren; es gibt eine Unzahl von Gesten, die Fußgänger in einer belebten Straße verwenden, um nicht zusammenzustoßen, um einander in unsichtbaren Bahnen zu halten — unsichtbar für den Fußgänger, aber durch sorgfältige Aufzeichnungen entdeckbar. Die Andeutung, von der einige von uns glaubten, sie in Encounters und andernorts entdeckt zu haben, daß nämlich das gesellschaftliche Leben harte und emotional anstrengende Arbeit ist, gehört nicht zu dem, was Professor Goffman sagen will. Es gibt sehr viel geschäftige Arbeit, aber nicht harte Arbeit in irgendeinem plausiblen Sinn. Das legt nahe, daß der informationsvermittelnde Aspekt des Verhaltens tatsächlich der zentrale Aspekt des Arguments ist. Dann wird auch die Idee untermauert, daß „dramatische" Erklärungen gegenüber anderen Arten von Erklärungen zweitrangig sind, denn ein Drama erweist sich dann als eine bestimmte Weise, eine Geschichte zu erzählen. Vermutlich muß die Geschichte bereits eine ihr eigene Stimmigkeit haben, die zumindest im Prinzip bereits zur Herausarbeitung vorliegen muß, bevor die Dramatisierung vorgenommen wird. Aber die Frage, mit der der Artikel endete, bleibt noch immer offen — eine Frage, mit der Literaturtheoretiker immer schon gerungen haben — nämlich, was eine bestimmte Form der Präsentation einzig oder besonders geeignet macht, eine bestimmte Art von Information zu übermitteln, und warum es Leute mit Befriedigung erfüllen sollte, Wahrheiten über sich selbst zu lernen, oder sich ihrer zu erinnern, indem sie sie in dieser Form ausdrücken. Ob das eine Frage für soziologische Theoretiker ist, weiß ich nicht.

Maximieren, Moralisieren und Dramatisieren

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Ertragen von Schmerzen, etc. erklären, oder unter Bezug auf die Show, die ein Held vor einem dankbaren Publikum abziehen kann? Im dritten Fall besteht keine Versuchung, zu sagen, daß die Frau eine Rolle spielte, solange wir Rollen als Bündel von Rechten und Pflichten auffassen, obwohl wir, wenn wir auch das Letzte aus dem dramaturgischen Modell herausquetschen wollen, vielleicht sagen könnten, daß „Sheila, die verstoßene Frau" ein Part ist, eine Person der Handlung. Aber ebenso wie wir uns früher über die Tendenz dramaturgischer Bilder Sorgen gemacht haben, sich auf Geschichten über die Informationsvermittlung durch Verhalten zu reduzieren, über die Herstellung einer bestimmten Situationsdefinition, so haben wir hier vielleicht am Ende das Gefühl, daß die Frau nichts getan hat, das mit Gewinn als Drama analysiert werden könnte; daß sie hingegen etwas getan hat, dessen partieller Zweck darin lag, zu dokumentieren, warum sie es getan hat. Es ging ihr teilweise darum, uns mitzuteilen, warum das Leben ihr so unerträglich schien. All dies wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet, und das trotz der Tatsache, daß zahllose Probleme überhaupt nicht angeschnitten wurden, obwohl eine volle Analyse deren Lösung erfordern würde. So etwa wurde nichts über die zwischen Ritualen, Dramen, verschiedenen Arten von Spielen, inneren Monodramen, und so weiter gesagt; und nichts wurde getan, um die Zweifel jener zu beseitigen, die glauben, all das würde unterstellen, daß die einzige jemals konzipierte Art von Theater das naturalistische Drama der neueren westeuropäischen Kultur sei. Es wurde auch kein Beitrag dazu geleistet, die Unterschiede zwischen jenen Theoretikern deutlich zu machen, die unser Bedürfnis nach einem dankbaren Publikum für unsere Aktivitäten hervorheben, und jenen, die unser Bedürfnis nach Rückzug auf die „Hinterbühne" und tröstlichen Privatspektakeln unterstreichen. Vielleicht ist das Resultat dieser Ausführungen wirklich bloß dieses: erstens, die Frage aufgeworfen zu haben, ob wir beim Rückgriff auf die dramatische oder stilistische Komponente des sozialen Verhaltens einen eigenständigen Erklärungsansatz für sonst mißverstandene Aktivitäten herangezogen haben, oder ob wir bloß bemerkt haben, was schon zu Urzeiten bemerkt wurde — die Wichtigkeit der Eindrucksmanipulation;und zweitens, die Frage nach der Unerläßlichkeit bestimmter Symbole aufgeworfen zu haben, bestimmter Verfahren der Informationsweitergabe, und so fort — die Frage, vielleicht, ob in diesem Bereich des Medium und die Botschaft unterscheidbar sind.

J O H N SKORUPSKI

Die Bedeutung des Glaubens anderer Kulturen

Das Thema, mit dem ich mich beschäftige, ist, allgemein gesagt, die Beziehung zwischen der Bedeutungstheorie und der Soziologie (Geschichte usw.) des Denkens. Innerhalb dieses sehr weiten Gebietes werde ich mich auf eine exemplarische und viel diskutierte Problemgruppe konzentrieren, die auf einige der Abhängigkeiten beider Bereiche ein besonders klares Licht wirft. Diese Probleme beziehen sich auf die Ubersetzung oder Interpretation von Glaubensauffassungen einer Kultur, die sich von der unseren stark unterscheidet; insbesondere in der religiösen Weltanschauung dieser Kultur. Obwohl durch eine ethnographische Interpretation dieser Art zweifellos spezifisch methodologische Streitfragen entstehen, sind die philosophischen Fragen, die ich im Zusammenhang mit Religionstheorien diskutieren werde, hauptsächlich von der Art, daß sie gleichfalls in weitgehend paralleler Form in Verbindung beispielsweise mit der Ideengeschichte auftreten können. Ich werde im allgemeinen mehr am Gegensatz zwischen mehr oder weniger geläufigen, aber idealisierten, philosophischen Positionen interessiert sein, als an den Nuancen der Sichtweisen einzelner Autoren. Eine brauchbare Verfahrensweise wird der Abriß einer spezifischen Interpretationsweise religiöser Glaubensauffassungen in einer primitiven Kultur sein, und es werden die verschiedenen philosophischen Schwierigkeiten herauszuarbeiten sein, die dieser im Weg zu stehen scheinen. Zu diesem Zweck brauchen wir nicht zu sehr in einzelne Details der Glaubensauffassungen zu gehen, die Gegenstand unserer Untersuchung sind: wir nehmen an, es seien die Auffassungen einer isolierten, präliterarischen Stammeskultur auf Sippenbasis irgendwo in der Sub-Sahara Region Afrikas. Die religiöse Praxis dieser Kultur beruht, so nehmen wir an, auf einem Obergott und einem ausgedehnten Pantheon von Götzen, Stammesgeistern, Helden, Privatwächtern usw. Es gibt Weissagung und die Anerkennung von und Vorkehrung gegen Hexerei und Zauberei; es gibt magische Praktiken im Ackerbau, Handwerk, Heilwesen und so weiter.

Die Bedeutung des Glaubens anderer Kulturen

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Eine Interpretationsmethode dieser Praktiken und Anschauungen verläuft wie folgt. (1) Sie deutet die magischen und im großen und ganzen die religiösen Praktiken „instrumental": als einen Versuch, den Lauf der Ereignisse so zu kontrollieren, daß diesweltliche Folgen mit den Zielen des Handelnden übereinstimmen. (2) Sie behandelt diese Praktiken als weitgehend rationale Anwendungen der magisch-religiösen Auffassungen, die in der Kultur überliefert sind, und versteht daher diese Auffassungen als auf eine (zumindest potentiell) systematische Vorstellung von der Welt, ihren Grundbestandteilen und dynamischen Prinzipien bezogen. Nach dieser Methode werden primitive religiöse Auffassungen1 typischerweise entwickelt, um Erklärungen und Rechtfertigungen für den Versuch der Beherrschung von Aspekten in der natürlichen Umgebung zu liefern; und (3) dienen diese Auffassungen tatsächlich nicht nur diesen Funktionen: sie wachsen ursprünglich aus dem Bedürfnis, die Naturphänomene zu verstehen und zu beherrschen, und ihre anderen möglichen Funktionen leiten sich daraus ab oder verändern dieses ursprüngliche Ziel. Die Götter und Geister sind, kurzgefaßt, die theoretischen Entitäten der „transzendentalen Hypothese" der Kultur. Ich werde diese Position „Intellektualismus" nennen2. Eine Position, die die Punkte (1) und (2) akzeptiert, werde ich (aus Gründen, die später in Abschnitt I klar werden) „Literalismus" nennen. Die synchrone Analyse der Literalisten baut augenscheinlich eine Tendenz in Richtung der diachronen These des Intellektualisten auf, enthält diese aber nicht. Man kann annehmen, daß, während primitive Religionen üblicherweise mit aktivierenden, diesweltlichen Zielen der Erklärung und Steuerung befaßt sind, anderen Bedürfnissen und Überlegungen von Beginn an eine wichtigere Rolle in der Festlegung ihres Inhalts und ihrer Form zukommt. In den folgenden Abschnitten werden wir drei Arten philosophischer Schwierigkeiten behandeln, von denen geglaubt wurde, daß sie den intellektualistischen Ansatz entweder vollständig untergraben, oder a priori einschränken. Beeinträchtigen diese Schwierigkeiten ihn tatsächlich, dann 1

2

Ich benutze eher den Ausdruck „primitiv" als „traditionell", um „primitive" Religionen (kleine Ausdehnung, kultur-spezifisch, typischerweise präliterarisch) von „Weltsystemen" zu unterscheiden (Islam, Christentum usw.), die in einer gegebenen Kultur in einem unverkennbaren Sinn auch einen „traditionellen" Charakter haben können. Im Anschluß an E . E . Evans-Pritchard, Theories of Primitive Religion (Oxford,

1965).

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treffen sie ihn unabhängig und an verschiedenen Punkten — im Prinzip sind sie nur soweit verknüpft, als sie auf Überlegungen zur Bedeutung und Ubersetzung zurückgehen, die zur Sprachphilosophie gehören. Sie können auch durch einen Slogan verknüpft werden — man kann einen Glauben oder eine Behauptung nur im relevanten kulturellen Zusammenhang verstehen — und vielleicht sind sie in den Vorstellungen mancher so verbunden worden. Im Abschnitt I schildere ich zwei Verfahren der Interpretation von Ritualen, die sich radikal vom Literalismus unterscheiden, der eine Basis für den intellektualistischen Ansatz liefert — die, falls sie korrekt sind, diesen Ansatz vollständig untergraben. Im nächsten Abschnitt werden wir zu Fragen kommen, die den begrifflichen Relativismus betreffen, der das intellektualistische Modell der Begriffsentwicklung und -Veränderung einzuschränken droht. In Abschnitt III werde ich schließlich weit weniger allgemeine Fragen behandeln. Eine geradewegs buchstäbliche Interpretation primitiver religiöser Gedankensysteme ergibt oft eine Darstellung, die bestimmte Anschauungen in diesen Systemen widersprüchlich machen oder zumindest bizarr erscheinen lassen. (Diese Anomalien haben charakteristische Formen, wie Levy-Bruhl feststellte.) Es stellt sich die Frage, ob eine Interpretation mit diesen Konsequenzen akzeptierbar ist, und ob der Begriff eines widersprüchlichen Glaubens überhaupt verständlich ist.

I. Lebensformen In dem, was man als „klassische" moderne Anthropologie bezeichnen könnte, ist dem Intellektualisten die weitgehend abwertende Rolle als ein zum seichten Rationalismus des neunzehnten Jahrhundert neigender Charakter zugespielt worden (obwohl der Intellektualismus kürzlich seine Verteidiger gehabt hat) 3 . Ist der interpretative Schlüsselbegriff des Intellektualisten in Bezug auf primitiven religiösen Glauben die „Theorie", so ist der Schlüsselbegriff in dem, was ungefähr als orthodox-moderne, anthropologische Theorie des „Rituals" beschrieben werden kann, der „symbolische Ausdruck". Diese Theorie leugnet (1), daß magische oder religiöse Handlungen (in erster Linie) instrumental sind; sie geht (2) von 3

Robin Horton, „African Traditional Thought and Western Science", Africa 37 (1967), ist eine ideenreiche und einflußvolle, ausgedehnte Untersuchung der interpretativen Möglichkeiten des Intellektualismus.

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keiner einfachen Erklärungspriorität von magisch-religiösem Glauben vor Handlungen aus; sie lehrt (3), daß solche Annahmen und Handlungen gleichermaßen hermeneutisch verstanden werden sollen, d. h. als zu einem System des symbolischen Ausdrucks gehörend, wobei (4) das, was symbolisch ausgedrückt wird (so wird es typischerweise behauptet) eine Repräsentation der sozialen Ordnung ist. Es soll festgehalten werden, daß der „Symbolist" nicht bestreitet, daß primitiver religiöser Glauben, wörtlich genommen, die Erscheinung eines kosmologischen Systems hat — also ein begrifflicher Rahmen ist, innerhalb dessen die natürliche Ordnung verstanden wird. Trotzdem ist diese Position unverträglich nicht nur mit einem vollständig intellektualistischen Modell, sondern auch mit einem literalistischen Modell: denn sie bestreitet, daß die Glaubensauffassungen letztlich auf dieser Ebene verstanden und erklärt werden können. Variationen einer solchen Position, die alle mehr oder weniger den Einfluß Dürkheims eingestehen, sind der Anthropologie vertraut (obwohl sie selten ausführlich und klar ausgearbeitet sind). Ich werde nicht die darin enthaltenen methodologischen Schwierigkeiten untersuchen. Statt dessen möchte ich auf den Gegensatz zu einer anderen Sichtweite des gleichen Themenbereichs eingehen, die in der Philosophie bekannter ist und unter dem Einfluß Wittgensteins steht. Peter Winchs „Understanding a Primitive Society" ist dafür ein Beispiel 4 . Die Beschreibung der Bedeutung der Zande-Magie durch Winch ist letztlich nicht sehr verschieden von der einiger symbolistischer Autoren; er aber erreicht sein Ziel auf einem wesentlich anderen semantischen Weg. Ein metaphorisch oder symbolisch ausgedrückter Gedanke ist ein Gedanke, der in einer Aussage formuliert wird, die (zumindest in den meisten Fällen) eine wörtliche Bedeutung hat: Was die Aussage zu einer symbolischen oder metaphorischen macht, ist gerade, daß (i) die wörtliche Bedeutung (falls sie existiert) nicht diejenige ist, die verstanden werden soll, und (ii) daß die wörtliche Bedeutung, die den Aussagen von den vorkommenden Wörtern gegeben wird, erfaßt werden muß, wenn man die Bedeutung „dekodiert", die verstanden werden soll. Im strengen Sinn stimmen dann die Literalisten und Symbolisten darüber überein, was die Übersetzung ritueller Aussagen ist. Sie unterscheiden sich darin, daß der Symbolist auf der Notwendigkeit einer weiteren hermeneutischen Interpretation dieses übersetzten Ausagenkörpers besteht, während der Literalist sie als gegeben auffaßt: das heißt, er akzeptiert, daß sie tatsächlich Glaubensauffas4

In Ethics and Action (London, 1972).

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sungen so, wie sie wörtlich verstanden werden, ausdrücken, und es dann seine Aufgabe ist, sie zu erklären zu versuchen. Nimmt man Wittgensteins Position an, würde dies andererseits zur Frage führen, ob rituelle Aussagen überhaupt die Bedeutung haben, über die sich sowohl der Literalist wie auch der Symbolist einig zu sein scheinen, und sie legt nahe, daß die Übersetzung, die den Aussagen diese Bedeutung gibt, die Sprachspiele — die Lebensformen 5 — in denen magische und rituelle Aussagen gemacht werden, mißversteht. (Eine Person, die diese Position vertritt, könnte selbstverständlich den Literalisten nach der Berechtigung seines Namens fragen.) Man muß hier jedoch vorsichtig sein, von Übersetzung zu reden. Die Notwendigkeit einer Ubersetzung, oder besser eines richtigen Verständnisses, entsteht für den Wittgensteinianer genauso bei der religiösen Sprache eines Deutschsprechenden der heutigen Zeit wie bei unserer traditionellen afrikanischen Kultur. Er braucht deshalb nicht - obwohl er es könnte — zur deutschen Ubersetzung von Sätzen aus der letztgenannten Sprache, über die Symbolisten und Literalisten gleichermaßen übereinstimmen, Fragen zu stellen. Er kann stattdessen bestreiten, daß diese Ubersetzungen den (wörtlichen) Sinn haben, den die beiden ihm geben. Natürlich sind es aus der Sicht der Wittgensteinianer nicht einzelne Ubersetzungsfehler, die diesen Unterschied ausmachen (was in dem Fall klar wird, wo alle mit einer deutschen Ubersetzung übereinstimmen); es ist eher die Unzulänglichkeit der allgemeinen Bedeutungs- und Sprachkonzeption, mit der die beiden anderen Theorien implizit arbeiten. Ein klassisches Programm der Bedeutungstheorie faßt die Möglichkeit ins Auge, eine einheitliche Darstellung exakter Bedeutung und Wahrheit für die Sätze einer natürlichen Sprache zu geben, die unabhängig von ihrem Gegenstandsbereich ist. Der Wittgensteinianer weist diese Möglichkeit 5

Ich verstehe hier „Sprachspiel" als das linguistische Korrelat der „Lebensform". In Wittgensteins Schriften verweist „Sprachspiel" und in geringerem Maße, „Lebensform" o f t auf sorgfältig abgehobene Handlungsmuster, die einen spezifischen Sprachgebrauch einschließen: In diesem Sinn würde man nicht von einem „religiösen" Sprachspiel oder der Religion als einer Lebensform reden. Die Religion würde eher eine ganze Gruppe von Sprachspielen und vielleicht Lebensformen einschließen. Auf der anderen Seite scheint es kein bestimmtes Prinzip für den Gebrauch dieser Wörter in seinen späten Schriften zu geben; sie werden auf verschiedenen Unterscheidungsebenen verwendet, obwohl „Lebensform" in seiner Anwendung weiter gefaßt scheint als „Sprachspiel". Diese Unterschiede berühren meiner Meinung nach aber nicht die hier diskutierten Punkte.

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sicherlich zurück — er verneint, daß ein und dieselbe allgemeine Beschreibung, wie die Bedeutung und Wahrheit festgelegt ist, gegeben werden kann — zum Beispiel für Sätze, die Beobachtungsaussagen berichten, Sätze einer wissenschaftlichen Theorie, Sätze einer mathematischen Abhandlung, und insbesondere Sätze im religiösen Diskurs. Jedes dieser Sprachspiele (oder Kategorien von Sprachspielen) enthält eigene Formen des Verstehens. Aber es wäre falsch, daraus zu schließen, daß der Wittgensteinsche Begriff eines Sprachspiels korrekt als die Idee einer Menge von Sätzen dargestellt werden kann, deren Bedeutung durch einen einheitlichen Typ semantischer Beschreibung angebbar ist. Ein solcher Begriff würde rein semantisch bleiben, einmal in dem Sinn, der auf der Unterscheidung zwischen der „semantischen" Ebene dessen, was ein Satz „streng genommen bedeutet", und der „pragmatischen" Ebene dessen beruht, was ihre Verwendung in typischen Kontexten ausdrückt, nahelegt, dem Hörer klar machen könnte, und so weiter. Der Wittgensteinianer ist aber nicht an einer Berichtigung des klassischen Programms interessiert, das eine Ablehnung der Idee einer einheitlichen semantischen Behandlung einer Sprache, unabhängig von ihrem Gegenstandsbereich zur Folge hat — zugunsten getrennter Arten einer semantischen Beschreibung für verschiedene Diskursbereiche der Sprache. Er verwirft völlig das klassische Programm, indem er jede grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was mit einem Satz „strenggenommen gemeint ist" und dem, was der Sprecher mit ihm nahelegt oder in einem Situationstyp vollzieht, ablehnt. (Ein Beispiel dieser Theorie könnte sein: Nichts wird in der Äußerung „Dies ist mein K o p f " oder „Ich habe einen K o p f " nahegelegt oder vollzogen, es sei denn, wir nehmen an, daß in dieser Situation die Äußerung zu einer Art linguistischer Erläuterung dient. Diese Sätze haben darum an sich außerhalb dieser Situationen keinen Sinn, und innerhalb dieser ist der Sinn eine linguistische Erklärung, z. B. des Wortes „ K o p f " . ) Das ist gerade ein Hauptbestandteil des Gebotes, auf den Gebrauch eines Ausdrucks zu achten, um dessen Bedeutung zu erfassen: was in einem Sprachspiel gesagt wird, hat die Bedeutung genau in jenem Kontext; um seine Bedeutung zu verstehen, muß man den Gebrauch einer Äußerung in dem Sprachspiel, an dem es teilnimmt, erfassen. Es wirkt offensichtlich gekünstelt, philosophische Auffassungen von Bedeutung in Ansätze der Sozialanthropologie einzuführen. Trotzdem kann es erhellend sein, sowohl dem Symbolisten wie auch dem Literalisten eine implizite semantische Annahme zuzuordnen, nämlich jene, die ich als

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die „klassische" Theorie bezeichnet habe, und derzufolge eine einheitliche semantische Beschreibung aller Sätze in einer traditionellen religiösen Sprache der Gläubigen gegeben werden kann. Die Theorie wird die Form eines Entwurfs annehmen, wie die Bedeutung eines Satzes durch die Bedeutung der enthaltenen Ausdrücke festgelegt ist, und (ein wichtiger Punkt, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden) wie die Bedeutung solcher Bestandteile bestimmt wird. So kann die Bedeutung von gesprochenen Sätzen im religiösen Diskurs ermittelt werden, wenn die Bedeutung ihrer Grundbestandteile bekannt ist; Einheitlichkeit vorausgesetzt, kann diese Kenntnis einem anderen, leichter übersetzbaren Gebiet des Diskurses entnommen werden oder durch direktes Fragen im Fall von für den religiösen Kontext spezifischen Ausdrücken erzielt werden, was eine Antwort in bereits verstandenen Ausdrücken ergibt. In diesem Ansatz stimmt der Symbolist und der Literalist mit der offenkundigen Bedeutung religiöser und magischer Aussagen in unserer erdachten Kultur überein. Sein nächster Schritt besteht darin, auf einem symbolischen Verständnis dessen, was im Gebrauch verdeckt ausgedrückt wird, zu bestehen. Die Kritik der Wittgensteinianer an dieser Auffassung sollte nun klar sein. Sie erkennen den Nachdruck des Symbolisten an, auf den sozialen Kontext der Lebensform zu achten, in dem rituelle Äußerungen gemacht werden und rituelle Handlungen stattfinden, um zu begreifen, was in ihnen verborgen ist; in ihrer Sicht sollte diese Auffassung erweitert werden, um die besondere Bedeutung dessen, was in solchen Kontexten gesagt wird, einzuschließen: der Symbolist macht den Fehler, die „wörtliche" Bedeutung einer rituellen Aussage mit Hilfe einer Abbildung der Bedeutung ihrer Grundbestandteile aus ihrer Funktion in anderen Gebieten des Diskurses zu interpretieren. Weil ihre Rolle in Sätzen innerhalb des Sprachspiels eines Rituals nicht indirekt aus der Rolle in anderen Kontexten erschlossen werden kann (z. B . einer Tatsachenreportage), muß sie direkt, im rituellen Kontext, nachgewiesen werden. Die Idee, daß diese Sätze überhaupt eine kosmologische Bedeutungsebene haben, ist darum eine Illusion, die durch eine schlechte Bedeutungstheorie vorgetäuscht wird. Würde der Symbolist seinen Ansatz direkt umsetzen, käme er von der falschen Dialektik von „Literalismus" und „ S y m b o l i s m u s " frei. II. Relativismus Sowohl der Symbolist wie auch der Wittgensteinianer greifen den Intellektualismus auf seiner literalistischen Grundlage an, in seiner Bedeutungs-

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analyse — oder, für den Symbolisten, in den zugrundeliegenden soziologisch bevorzugten Bedeutungen — von magischen oder religiösen Aussagen in der Kultur unseres Gedankenexperiments. Beide greifen charakteristischerweise vom Gebiet des Internalisten oder Kontextualisten an: wir müssen primitiven Glauben aus sich selbst heraus verstehen, in seinem eigenen Kontext, und wir müssen den (angeblich von den Intellektualisten begangenen) Fehler vermeiden, primitiven Glauben in die Kategorien unserer eigenen Kultur zu zwängen, in die er nicht richtig hineinpaßt. So formuliert, ist der Slogan nicht zu beanstanden. Wie aber mit den meisten Slogans dieser Art, fällt eine Reihe von Behauptungen der Mitstreiter, sicherlich nicht auf banale Weise, unter diese Binsenwahrheit. Zwei von ihnen haben wir bereits beschrieben. Auf einer anderen Ebenen kann der Slogan eine relativistische Wendung bekommen. Hier wird die literalistische Behauptung, daß magisch-religiöser Glaube in unserer erdachten Kultur auf ein Gedankensystem hinausläuft, in dem die wichtigste Funktion die Erklärung und Kontrolle von Naturphänomenen ist, nicht bezweifelt. Man glaubt, daß die Schwierigkeit für den Intellektualisten nicht auf der synchronen Ebene liegt, in seiner Analyse der Bedeutung und Funktion dieser Glaubensauffassungen,sondern in seiner Beschreibung ihrer Entwicklung und Veränderung, auf der diachronen Ebene. Eine Diskussion dieser Punkte ist auf der einen Seite durch eine modisch idealisierte Rhetorik in der Soziologie des Denkens erschwert worden, und andererseits durch die weihevollen Widerlegungen der absurd wuchernden Formen eines empirischen Idealismus, den diese Rhetorik, wörtlich genommen, unterstellen würde 6 . Ein stärkerer und ernsthafterer Relativismus, der solchen empirischen Idealismus vermeidet, droht den intellektualistischen Ansatz zu begrenzen. Ich schlage vor, in diesem Abschnitt eine (sehr grobe) Ubersicht seiner Grundlagen und Formen zu geben. 6

„Zum allermindesten sah Lavoisier als Ergebnis der Entdeckung des Sauerstoffs die Natur anders. Und da er keinen Zugang zu dieser hypothetischen, feststehenden Natur hatte, die er jetzt .anders sah', zwingt uns das Prinzip der Ökonomie, zu sagen, daß Lavoisier, nachdem er den Sauerstoff entdeckt hatte, in einer anderen Welt arbeitete." T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. (Frankfurt, 1976), S. 130. „Die hier präsentierte Auswahl stellt eine soziologische Theorie des Wissens bestimmter Prägung heraus. Das Thema geht zurück auf Hegel und Marx; daß Realität soziologisch aufgebaut ist. Jeder denkende Soziologe würde heute im Prinzip damit übereinstimmen. Wie weit getrauen sie sich jedoch, ihm zu folgen?" Mary Douglas (Hg.), Rules and Meanings (Harmondsworth, 1973), S. 9—10.

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Der Relativismus, den ich im Auge habe, gründet sich auf die These, daß eine Theorie durch die Erfahrung unterbestimmt ist. Diese Form des Relativismus hat seinen Ursprung im Programm des Intellektualisten, nämlich in der intellektualistischen Darstellung der Beständigkeit magischen (oder primitiven religiösen) Glaubens, sowie im Unvermögen des Praktikers (in den Worten Evans-Pritchards), „die Nichtigkeit ihrer Magik zu begreifen" 7 . Dementsprechend kann man beobachten, wie Tylors Diskussion der „intellektuellen Bedingungen, die die Beständigkeit der Magik erklären" 8 mit ihrer kurzen Erläuterung der Blockierung von Widerlegungen — was das fortwährende Festhalten an solchen Anschauungen erklärt — von Evans-Pritchard weiterentwickelt wurde zu einer ernstzunehmenden und ausgedehnten Analyse des „Zirkels" magischer oder „mystischer" Anschauungen9; wie diese Auffassung sich gewandelt hat, die ursprünglich als Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken entworfen wurde und sich seit einiger Zeit in dem Sinn verändert hat, daß alle verallgemeinernden Gedankensysteme solche „Zirkel" einschließen; und wie letztlich dieses zum relativistischen Zweifel an der Möglichkeit geführt hat, Veränderungen des Glaubens schlechthin in rationalen Begriffen zu erklären. Dieses Ergebnis ist für den Intellektualisten unannehmbar, da es eben das gesamte Glaubenssystem ist (die auf Tätigkeit gegründete Kosmologie primitiven religiösen Glaubens), das der Intellektualist zu erklären sucht — und er erklärt es als eine intellektuelle Reaktion: eine Anwendung der Vernunft auf die Erfahrung, die auf einem gegebenen Niveau des ererbten Wissens stattfindet. Hinzu kommt als natürliche Erweiterung dieser Methode, daß beispielsweise der Übergang von traditionellen magisch-religiösen Heilverfahren auf die moderne westliche Medizin wenigstens teilweise als das Ergebnis einer mehr oder weniger vernünftigen Abwägung ihrer jeweiligen Wirksamkeit erklärt werden kann. Wird nun der Schluß gezogen, daß Verschiebungen zwischen allgemeinen Erkenntnissystemen im wesentlichen nicht-rational sind, dann scheint das ganze Programm untergraben zu sein. Untersuchen wir nun den Schritt von der Unterbestimmtheit einer Theorie zum Relativismus. Die grundlegende Prämisse ist hier, daß jede 7

8 9

E. E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (Oxford, 19937), S. 475. E. B. Tylor, Primitive Culture, 2 Bde. (London, 1891), Bd. 1, S. 134ff. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic, S. 475 ff.

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Annahme in einem Glaubenssystem dadurch gegen mögliche Erfahrung verteidigt werden kann, daß passende Berichtigungen im restlichen System vorgenommen werden. Mit der Wahl, verschiedene Annahmen zu verteidigen, gleich was geschieht, können dann verschiedene Systeme auftreten, die alle so dargelegt werden, als seien sie falsifizierbar, zwischen denen jedoch keine Erfahrung unterscheiden kann; diese falsifiziert nämlich ein System nur dann, wenn sie auch alle anderen Systeme falsifizieren könnte. Wie wird dann aber eine einzelne Annahme falsifiziert? Damit einer Erfahrung eine direkte Falsifikationsleistung zugestanden werden kann, muß es ein Bezugssystem geben, das selbst nicht in Frage gestellt wird und das Ziel der Falsifikation bestimmt. Von hier aus führt uns ein weiterer Schritt zur relativistischen Position: Der Wahrheitswert der Annahme selbst ist auf das Bezugssystem relativiert, innerhalb dessen sie bewertet wird. Die Tatsache aber, daß die Methode, mit der wir den Wahrheitswert einer Annahme innerhalb des Bezugsrahmens bewerten, die Wahrheit der Auffassungen, die den Bezugsrahmen bilden, voraussetzt, besagt noch nicht auf den ersten Blick, daß der Wahrheitswert der Auffassung selbst relativ zur Wahrheit jener Annahmen ist — auch wenn die Strukturierung des Glaubenssystems in festen Bezugsrahmen und eine Menge von Annahmen innerhalb dieses Rahmens gegeben ist. Der konditionale Charakter unseres Wissens bringt offensichtlich nicht die Relativität seiner Gegenstände mit sich. Das eine ist ein epistemologischer Einwand, der die Folgerungsbeziehung betrifft, welche zwischen verschiedenen Teilen unseres Wissens angenommen werden muß; der andere ist ontologischer Natur und betrifft den Charakter dessen, was gewußt wird. Wie überbrückt der Relativist diese offensichtliche Kluft? Sprechen wir sehr abstrakt von „Weltanschauungen" (W). Sie erscheinen in verschiedenen Versionen, wobei jede Version eine Menge von Sätzen ist, die mit jeder anderen Version derselben Weltanschauung eine echte Teilmenge von Sätzen bildet, die nicht in Frage gestellt oder geprüft werden; diese seien ,,Kernsätze" genannt. Angenommen, die Bedeutung bleibt überall erhalten, dann haben wir es mit verschiedenen Wehanschauungen dann und nur dann zu tun, wenn sich die Kernsätze verändern. (Wenn wir unter Berücksichtigung der Neigung zur Revision zwischen Kernsätzen und anderen Sätzen die Idee einer scharfen Klassenunterteilung fallen lassen, und sie durch eine vollständig klassenlose Gesellschaft oder ein hierarchisches Kontinuum des Besitzanspruches ersetzen, dann erschweren wir das Leben des Relativisten. Denn in diesem Fall wird es

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wesentlich schwieriger, zwischen einem Meinungsumschwung zu unterscheiden, in dem die Bedingungen, zu denen Wahrheit relativiert ist, konstant bleiben, und einer Veränderung genau dieser Bedingungen. Im Falle des klassenlosen Extrems kann es keinen Unterschied zwischen kognitiven Verschiebungen innerhalb einer Weltanschauung und Veränderungen von Weltanschauungen geben, und es wird darum schwierig, einzusehen, wie in der relativistischen Konzeption irgendein Meinungspaar je inkonsistent würde. Ich möchte jedoch den relativistischen Fall auf dem erfolgversprechendsten Boden betrachten.) Die relativistische Position kann nun wie folgt beschrieben werden: (i) Wenn S; und Sj Sätze in W; und Wj sind (S; mag Sj sein), so daß Si synonym mit Sj ist, dann kann Si wahr/falsch-in-Wi und Sj falsch/ wahr-in-Wj sein. (ii) Die Kernsätze von Wi, . . ., Wn können überhaupt nicht wahr (ausgenommen im auszeichnenden Sinn) oder falsch genannt werden. Es ist klar, daß der Relativist eine Bedeutungstheorie benötigt, die eine Anzahl von Aufgaben übernimmt. Sie muß die Kluft zwischen der Bedingtheit des Wissens und Relativität der Wahrheit überbrücken. Sie muß ebenso zeigen, wie die Bedeutung von Sätzen zwischen verschiedenen Weltanschauungen verglichen werden kann. Unterscheiden sich zum Beispiel W; und Wj, wenn sich ihre Kernsätze, strukturell betrachtet, unterscheiden? Nicht notwendigerweise. Denn wenn diese verschiedenen Sätze die gleiche Bedeutung haben, ist W; gleich Wj. Die Bedeutungstheorie, die das vom Relativisten erwünschte Resultat liefern kann, werde ich ,,anti-realistisch" nennen („Verifikationismus" und „Konstruktivismus" sind gleich geläufige Kennzeichnungen, jede von ihnen hat jedoch weitere unterscheidende Nebenbedeutungen.) Die Bedeutung eines Satzes ist in diesem Ansatz durch die möglichen Erfahrungen (und, falls nötig, Folgerungsverfahren) definiert, die seine Wahrheit festlegen würden (d. h. jemanden berechtigen würden, seine Wahrheit zu behaupten). Nennen wir diese Menge möglicher Erfahrungen (etc.) die „Behauptungsbedingungen" des Satzes. Da nun aber verschiedene solcher Bedingungen mit einem Satz in Verbindung gebracht werden können wenn eine Veränderung der Kernsätze vorliegt, sieht es so aus, als ob die Bedeutung eines Satzes von der Weltanschauung abhängt, in deren Zusammenhang er vorkommt. Auf alle Fälle setzt dieser Schluß voraus, daß die Weltanschauungen, und darum die Bedeutungen ihrer Kernsätze, unterschieden werden kön-

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nen. Die Kernsätze verschiedener Weltanschauungen werden aber gleichermaßen akzeptiert, was auch immer kommen mag. Es gibt daher einschränkende Fälle: entweder kann man es unterlassen, zu sagen, daß jede Erfahrung ihre Wahrheit festlegen würde, oder man kann sagen, daß es jede Erfahrung tut. In beiden Fällen gibt es in der gegenwärtigen Fassung keine Möglichkeit, zwischen Kernsätzen in Bezug auf die Bedeutung zu unterscheiden, und darum keine Möglichkeit, zwischen unter denselben Bedingungen falsifizierbaren Weltanschauungen zu unterscheiden. Es gibt, in dieser Fassung, weder Unbestimmtheit noch Relativismus. Wir können dieses Ergebnis vermeiden — und zur gleichen Zeit der antirealistischen Position eine größere Wahrheitsnähe geben — wenn wir sie in zwei Ebenen zerlegen: (1) Die Bedeutung eines Satzes ist eine Funktion der Bedeutungen der in ihm enthaltenen Ausdrücke. (2) Die Bedeutung eines im Satz enthaltenen Ausdrucks ist sein Beitrag, die Behauptungsbedingungen aller Sätze, in denen er vorkommt, zu bestimmen. Wir können nun sagen, daß sich Kernsätze und allgemein alle Sätze mit den gleichen Behauptungsbedingungen, dank des Unterschiedes in ihrer semantischen Struktur und ihren Grundbestandteilen trotzdem in ihrer Bedeutung unterscheiden dürfen. Gleichwohl muß diese verbesserte Theorie die Unterbestimmtheit einer Theorie ernst nehmen: ein einzelner Satz hat keine bestimmten Behauptungsbedingungen — diese hat er nur im Zusammenhang mit einer Theorie oder Weltanschauung. Folglich kann ein Bestandteil eines Ausdrucks zu den Behauptungsbedingungen eines Satzes, in dem er vork o m m t , nur innerhalb einer Weltanschauung einen bestimmten Beitrag liefern. Daraus kann die mögliche Konsequenz gezogen werden, daß die Bedeutung zwischen verschiedenen Weltanschauungen inkommensurabel sei (vergl. Feyerabends Inkommensurabilitätsthese). Dieser Relativismus der Bedeutungen ist jedoch unverträglich mit dem Relativismus der Wahrheit: es gibt nichts Identifizierbares, von dem in nicht-trivialer Weise gesagt werden kann, daß es hinsichtlich W wahr und hinsichtlich einer anderen Weltanschauung falsch sei. Es kann daraus eine andere Lehre gezogen werden, die dann mit Quine behauptet, daß, während Frege richtigerweise darauf hinwies, daß die Bedeutungseinheit nicht das Wort ist, er darüber hätte hinausgehen sollen und als grundlegende Bedeutungseinheit nicht den Satz, sondern die Theorie (Weltanschauung) nehmen

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sollen. Für den Antirealismus ist die Bedeutungseinheit das, was Behauptungsbedingungen hat. Freges Doktrin, die Bedeutung eines Wortes nur im Zusammenhang eines Satzes zu erfragen, ist in (2) ausgedrückt. N u n aber, wo die Bedeutungseinheit von Sätzen zu Weltanschauungen verschoben ist, müssen wir diesen Ansatz auf Weltanschauungen, oder Versionen von ihnen, anwenden. So erreichen wir schließlich eine holistische Form des Antirealismus. (1 a) Die Bedeutung einer gegebenen Version einer W ist eine Funktion der Bedeutung der in ihr enthaltenen Sätze. (2 a) Die Bedeutung der grundlegenden Sätze ist deren Beitrag, die Behauptungsbedingungen aller Versionen von Ws, in denen sie vorkommen, festzulegen; und dieser Beitrag ist in einer weiteren Folge eine Funktion der Bedeutungen seiner zugrundeliegenden Ausdrükke. (3 a) Die Bedeutung eines zugrundeliegenden Ausdrucks ist der systematische Beitrag, den er für jeden Satz, in dem er vorkommt, liefert, um den Beitrag dieses Satzes zu den Behauptungsbedingungen der Version von Ws, in der dieser vorkommt, festzulegen. Diese recht verwirrende Position ist, so weit ich sehe, diejenige, die notwendig ist, um den Relativismus, wie er vorher in (i) und (ii) formuliert wurde, entstehen zu lassen. Denn jetzt erhält ein Satz eine feste Bedeutung in allen Weltanschauungen, in denen er vorkommt, so wie ein (eindeutiges) Wort eine feste Bedeutung in allen Sätzen hat, in denen es vorkommt. Zur gleichen Zeit jedoch, während die Bedeutung unverändert bleibt, kann ein Satz in einer Weltanschauung wahr, in einer anderen falsch, und in einer dritten kern-wahr sein. Um klarer zu sehen, daß der Antirealismus als zusätzliche Voraussetzung im Schritt von der Unterbestimmtheit zum Relativismus notwendig ist, überlegen wir, was passiert, wenn er durch einen Realismus ersetzt wird. Die grundlegenden Begriffe sind jetzt nicht mehr die Behauptungsbedingungen, sondern die Wahrheitsbedingungen — es sind Mengen von Sachverhalten gegeben, bezüglich derer ein Satz wahr oder falsch ist. Die Konzeption der Satzbedeutungen des Realisten ist durch (1) festgelegt, zusammen mit: (2 b) Die Bedeutung eines grundlegenden Ausdrucks trägt zur Festlegung der Wahrheitsbedingungen aller Sätze bei, in denen er vörkommt. Die Unterbestimmtheit einer Theorie führt uns jet2t nicht länger in die Richtung des Holismus. Denn für den Realisten ist die Frage, ob ein Satz

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wahr oder falsch ist, dadurch bestimmt, ob ein Sachverhalt dieses Ergebnis liefert, und ist ziemlich unabhängig davon, ob wir in der Lage sind, festzustellen, ob das der Fall ist. Die Tatsache, daß wir widerspruchsfrei einen Satz gegenüber jeder möglichen Erfahrung aufrechterhalten können, berührt in keiner Weise die Tatsache, daß dieser Satz für sich genommen wahr oder falsch ist — abhängig davon, wie die Welt beschaffen ist. Insbesondere ist die Falschheit eines Satzes für den Realisten recht verträglich damit, daß wir uns entscheiden, ihn als wahr anzusehen, komme was da wolle. Der Realist gesteht dem Antirealisten nicht zu, daß ein Satz, für den eine solche Entscheidung getroffen wurde, durch diese bloße Tatsache per Konvention wahr wird. Wenn dieser schon eine Bedeutung hat, dann ist sein Wahrheitswert schon durch die Art bestimmt, wie die Welt beschaffen ist, und es gibt keinen Raum für eine stipulative Konvention. Für ihn ist immer die Bedeutung und nie direkt die Wahrheit durch Konvention festgelegt. Die Unterbestimmtheit zeigt allenfalls, daß es eine Wahl geben muß; sie zeigt nicht, daß die Frage einer richtigen Wahl sinnlos ist — im spezifischen Sinn, ob ein gewähltes Bezugssystem wahr ist 10 . Für den Antirealisten fungieren die Kernsätze einer Weltanschauung — „Sätze", in Wittgensteins Formulierung, „die die Form von Erfahrungssätzen haben" 1 1 — im wesentlichen als „Rationalitätskriterien" innerhalb dieser Weltanschauung. Sie spielen eine wesentliche Rolle in den Verfahren, durch welche innerhalb einer Weltanschauung Hypothesen rational bewertet werden — und man kann nicht sinnvoll die Frage stellen, ob sie nicht falsch sein können, während man innerhalb derselben Weltanschauung bleibt. Der Relativismus, der hier beschrieben wurde, bringt dann einen Relativismus hinsichtlich der Rationalitätskriterien mit sich. Für den Realisten sind Kernsätze andererseits nicht mehr Kriterien für, anstatt Gegenstände von, rationalen Bewertungen, als dies für jeden anderen Satz einer Weltanschauung gilt. Der Schritt von der Unterbestimmtheit zum Relativismus erfordert dann eine spezielle Bedeutungskonzeption als zusätzliche Voraussetzung.

10

Ich sehe, daß die hier verwendete Terminologie von Sätzen, die wahr oder falsch sind und als solche akzeptiert werden, möglicherweise irreführend ist. Die in diesem Abschnitt erzielten Ergebnisse können jedoch auf einem weiter ausholenden Weg erhalten werden, ohne diese Terminologie zu verwenden. In Abschnitt III werden wir Grund haben, zwischen glauben, daß S und glauben, daß der

Satz ,S' wahr ist zu unterscheiden. 11

L. Wittgenstein, Über Gewißheit

(Frankfurt, 1970).

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Bisher habe ich zu zeigen versucht, daß wir in der Beschreibung, welche Form dieser Entwurf annehmen muß, ein Stück vorankommen können: er muß holistisch und anti-realistisch sein. Er wurde dadurch entwickelt, daß die Maxime, die Bedeutungseinheit sei die Theorie, ernstgenommen wurde, und dann die Analogie zwischen der Bedeutung eines Wortes als seinem Beitrag zur Satzbedeutung, und der Bedeutung eines Satzes als seinem Beitrag zur Theorienbedeutung, ausgenutzt wurde. Ich möchte nun nicht nahelegen, daß diese Idee widerspruchsfrei ausgearbeitet werden könnte — ich vermute im Gegenteil, daß dies nicht möglich ist. Eine große Schwierigkeit stammt dabei wahrscheinlich aus ihrem holistischen Charakter — aus der Tatsache nämlich, daß sie eher die „Theorie" oder „Weltanschauung" als die Sätze als die primären Träger der Behauptungsbedingungen ansieht. Schwierig ist, wie es in dieser Auffassung für eine Sprache möglich ist, gelernt zu werden. Das normale (realistische) Bild sagt, daß wir die Wahrheitsbedingungen eines Musters von Sätzen lernen, sie in dieser Phase als syntaktisch nicht analysierten Block behandeln, und sie dann aufbrechen und die enthaltenen Bedeutungen und syntaktischen Strukturen voraussetzen und auf diese Weise ein kompositionales Verständnis alter Sätze erreichen, wie auch von neuen Sätzen, deren Wahrheitsbedingungen wir nicht direkt gelernt haben. Wird die Ansicht ernst genommen, daß die primäre Bedeutungseinheit die Weltanschauung ist, dann scheint zu folgen, daß das, was wir en bloc als auslösenden Schritt beim Lernen einer Sprache lernen, die Behauptungsbedingungen der Muster- Weltanschauungen sind: das scheint jedoch kein einsichtiges Projekt zu sein. Ich werde diese Schwierigkeiten nicht weiter verfolgen. Ich möchte an Stelle dessen sehen, wieviel vom Intellektualismus überleben kann, wenn ein relativistisches Bezugssystem angenommen wird. Wie bereits gesagt, ist der Relativismus, wenn er in der hier beschriebenen Art auf primitives religiöses Denken angewendet wird, nicht nur mit dem literalistischen Standpunkt verträglich sondern setzt ihn voraus: denn der Literalismus behauptet lediglich, daß solche Gedanken ein Glaubenssystem ergeben, innerhalb dessen die Menschen versuchen, natürliche Ereignisse zu verstehen und zu kontrollieren. Er sagt nichts darüber aus, wie sich das System entwickelte oder wie es rational mit anderen Systemen vergleichbar ist. Wenn wir uns dem Bild des Intellektualisten zuwenden, ist die Situation komplexer. Rationalität im „Entdeckungszusammenhang" unterscheidet sich von der Rationalität im „Rechtfertigungszusammenhang". Dies wird in der gegenwärtigen Version des Intellektualismus, wie jener von Hör-

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ton 12 , befriedigend berücksichtigt. Der grundlegende Begriff, daß primitive religiöse Kosmologien Produkte rationaler „Theoriebildung" sind, bleibt in dieser Theorie erhalten, aber die Arten der Faktoren, die zur Rationalität eines Prozesses der Theorienentwicklung gezählt werden — ein Interesse, die Erfahrung in einer ökonomischen, einfachen und widerspruchsfreien Weise, oder in den Worten einer einfachen Analogie, die bekannt und gut verständlich ist, zu rechtfertigen — können offensichtlich als Faktoren akzeptiert werden, die eine Rolle in der Entwicklung einer Theorie spielen und mit einer realistischen Auffassung der Theorie selbst verträglich sind. Auf der anderen Seite bemerkte ich schon vorher, daß es für den Intellektualismus natürlich ist, anzunehmen, daß ein etwa in unserer erdachten afrikanischen Kultur auftretende Wechsel von den traditionellen magisch-religiösen Heilverfahren zur westlichen Medizin als das Ergebnis einer rationalen Einschätzung ihrer verhältnismäßigen Wirksamkeit betrachtet werden kann. Rationalität ist hier mit einbezogen in den Zusammenhang einer vergleichenden Bewertung von Gedankensystemen, welche auf grundlegender Ebene miteinander konkurrieren und vermutlich einen „Zusammenstoß von Paradigmen" bewirken; es ist daher unklar, ob der Relativismus sich solch einer Erklärung des Wechsels von einem Gedankensystem zum anderen, insbesondere auch als Möglichkeit a priori, fügt. Als Gesamtbild ergibt sich dann, daß der philosophische Relativismus, gegründet auf einer antirealistischen Bedeutungskonzeption, zusammen mit der These, daß Annahmen durch Erfahrung unterbestimmt sind, Einschnitte im vollständigen Projekt des Intellektualisten bewirkt, daß aber ein ziemlich wesentlicher Teil überleben könnte. Es ist tatsächlich mein Eindruck, daß die Auseinandersetzung zwischen „symbolistischen" und intellektualistischen Interpretationen primitiven Denkens zu einem beträchtlichen Ausmaß (wenigstens unter Sozialwissenschaftlern, die an der Soziologie des Denkens interessiert sind und von den Schriften Kuhns beeinflußt wurden) durch eine in Wirklichkeit unentbehrliche philosophische Kontroverse zwischen Realisten und relativistischen Formen des Intellektualismus ersetzt wird. Zum Beispiel scheint Barry Barnes, ein Wissenschaftssoziologe, der an vergleichenden Studien wissenschaftlicher und primitiver Glaubenssysteme interessiert ist, die Position einer solchen „relativistisch/intellektualistischen" Art anzunehmen13. Ich unterstelle 12 13

Horton, „African Traditional Thought and Western Science". 2 . B. in Barry Barnes, „The Comparison of Belief-Systems: Anomaly versus

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natürlich auch hier den Sozialwissenschaftlern keine explizite Stellungnahme zur Bedeutungstheorie. Die Idee ist, daß der Versuch, die philosophische Grundlage für die Art von Position auszuarbeiten, die sie einzunehmen scheinen, in eine Richtung führen würde, wie sie in diesem Abschnitt beschrieben wurde — obwohl, wie ich sagte, es einen guten Grund zum Zweifel zu geben scheint, ob es letztlich überhaupt zu einer widerspruchsfreien und einsichtigen Darstellung kommen kann 14 . Die Verbindung, die der Antirealist zwischen der Bedeutung eines Satzes und dem herstellt, was zu seiner Rechtfertigung dient, führt ihn, wenn er die offensichtliche Unterbestimmtheit von Annahmen und dementsprechend auch des Sinnes durch das Datenmaterial vermeiden will, zu der Ansicht, daß bestimmte „Sätze, die die Form empirischer Sätze haben", überhaupt nicht empirisch begründet sind. „Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch" 15 — wir können jedenfalls nur im Zusammenhang von Sätzen, die keiner Gründe bedürfen, jedoch Teil der Grundlage für andere Sätze sind, die Wahrheitswerte jener anderen bestimmen; und wenn sich das System der unbegründeten Sätze verändert, so tun es auch die Gründe und Wahrheitswerte des Rests. Obwohl ich hier nicht darauf eingehen kann, glaube ich, daß Wittgenstein in Über Gewißheit mit Gedanken dieser Art über Bedeutung, Begründung und Wahrheit rang, und daß die eigentliche Bedeutung der antirealistischen Position, die er dort entwickelte, in dem Sinn relativistisch ist, wie es in diesem Abschnitt beschrieben wurde 16 . Auf der

14

Falsehood", in R. Finnegan und R. Horton (Hg.), Mod.es ofThought (London, 1973). Die tatsächliche Quelle dieses Relativismus muß nicht viel mit einer expliziten philosophischen Konzeption der Begriffe der Bedeutung und Wahrheit zu tun haben — im Gegensatz zur Untermauerung, derer sie bedarf. Die Idee, die eine größere Rolle in der gegenwärtigen Soziologie des Denkens spielt, ist, daß Annahmen durch Beweismaterialien unterbestimmt sind. Ihre Forderung einer liberalen Toleranz von Weltanschauungen anderer Kulturen ist offensichtlich — und wenn letzten Endes Annahmen durch Begründungen immer unterbestimmt sind, so wird ihrer Festlegung durch soziologische Variablen ein Platz eingeräumt. Verfasser, die von dieser Idee ergriffen sind, werden von einer realistischen Stimmung zu einer des radikalen Zweifels geführt, und von antirealistischen Stimmungen zu einer relativistischen. Realistischer Skeptizismus jedoch neigt zum antirealistischen Relativismus, der einen angenehmen Ruhepunkt bietet.

15

Wittgenstein, Über Gewißheit,

16

Zum Antirealismus in Über Gewißheit siehe z. B.: „Wenn nun alles für eine Hypothese, nichts gegen sie spricht — ist sie dann gewiß wahr? Man kann sie so

§ 205.

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anderen Seite behaupte ich nicht, daß die Wittgensteinsche Position so, wie sie zum Beispiel in Winchs „Understanding a Primitive Society" entwickelt ist, in diesem Sinn relativistisch ist. Es ist eine Sache, zu behaupten, daß Lebensformen, deren Ziele sich deutlich von denen der Erklärung und Kontrolle unterscheiden, Rationalitätskriterien nach sich ziehen, die sich von denen der Wissenschaft abheben — und auf Grund von Überlegungen zur Bedeutung, die in Abschnitt I beschrieben wurden, zu folgern, daß die Religion oder Magik unter den Azande, richtig verstanden, eine solche Lebensform bildet; sie nicht so sehr damit beschäftigt, die Zufälligkeiten menschlicher Erfahrung zu beeinflussen, als zu erreichen, daß diese akzeptiert werden können. Es ist eine wesentlich andere Sache, anzuerkennen, daß die Zande-Magik das gleiche auf Erklärung und Kontrolle beruhende Unternehmen sei wie die Wissenschaft, aber auf relativistischem Boden zu folgern, daß sie ihre eigenen, im Kontext festgelegten Rationalitätskriterien enthält (z. B. „Das Giftorakel hat immer Recht"). Beide Behauptungen sind in der Tat unvereinbar. Es muß zugestanden werden, daß vieles in der Diskussion über die „Ubereinstimmung mit der Realität" und die „Verständlichkeitskriterien" in Winchs Aufsatz, sowie seine Kritik von Evans-Pritchards „metaphysischen Behauptungen", selbst die Übernahme einer radikalen metaphysischen Position der antirealistischen Art nahelegt. („Realität ist nicht das, was der Sprache Sinn gibt. Was real und was irreal ist, zeigt sich im Sinn, den die Sprache hat.") 1 7 Auf den letzten Seiten eines Aufsatzes, in dem Winch einige positive Beschreibungen der magischen Handlungen der Zande zu geben versucht, ist es allerdings die erste Behauptung, die die Uberhand gewinnt18.

17 18

bezeichnen. — Aber stimmt sie gewiß mit der Wirklichkeit, den Tatsachen, überein? — Mit dieser Frage bewegst du dich schon im Kreise" (§ 191). „Worin besteht denn diese Ubereinstimmung, wenn nicht darin, daß, was in diesen Sprachspielen Evidenz ist, für unseren Satz spricht?" (§ 203). Für die Diskussion des Antirealismus in diesem Abschnitt bin ich Michael Dummetts Schriften verpflichtet, insbesondere Frege: Philosophy of Language (London, 1973), Kap. 17. Zum Antirealismus des späten Wittgenstein siehe P. M. A. Hacker, Einsicht und Täuschung (Frankfurt, 1978), oder G. Baker, „Kriterien: Eine neue Grundlegung der Semantik", Ratio 16 (1974). Winch, „Understanding a Primitive Society", S. 12. Eine ähnliche Mehrdeutigkeit berührt einen jüngeren Aufsatz von Winch („Language, Belief and Relativism", unveröffentlicht). Dort sagt er: „Ich habe versucht, die verführerische Idee zu unterminieren, daß die Grammatik unserer Sprache selbst der Ausdruck einer Menge von Auffassungen oder Theorien darüber sei, wie die Welt ist — was prinzipiell gerechtfertigt oder widerlegt

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III. Unvereinbare Glaubensauffassungen Für viele in westlichen Gesellschaften aufgewachsene Menschen sind die sich ihnen am stärksten aufdrängenden mysteriösen Eigenschaften primitiver Denkformen — zumindest so, wie sie ihnen dargeboten werden — ihr offensichtlich bizarrer, oft geradewegs paradoxer Inhalt. Levy-Bruhl baute diese Eigenschaft in ein Kontrastschema zwischen der modernen und der primitiven — „prälogischen" — Mentalität ein. Nachfolgende Reaktionen auf die in seinem frühen Werk enthaltenen wesentlichen Ideen — insbesondere die Idee, daß prälogisches Denken ausgeprägte Typen von Anomalien enthält, die sich auf die Logik der Identität und Veränderung konzentrieren — sind von Interesse als Maßstäbe einer wachsenden Beachtung des methodischen Problems, welches die Interpretation primitiven Denkens mit sich bringt. Für viele moderne Anthropologen stellt LevyBruhl, so vermute ich, einen Fall der merkwürdigen und wunderbaren Mißverständnisse von primitivem Denken dar, auf die eine unverdrossen literalistische Methode hereinfällt. Die Abweichungen von einem solchen Literalismus treten in Abstufungen auf. Angenommen zum Beispiel, daß unsere afrikanische Kultur (wie die Nuer in Evans-Pritchards Beschreibung) 1 9 glaubt, daß der Regen ein Geist ist. Jemand, der diese scheinbare Levy-Bruhlsche „mystische Teilnahme" als rein symbolische Identifikation interpretiert, ist dadurch natürlich noch nicht der Methode des Symbolisten im Abschnitt I verpflichtet. Angenommen jedoch, unsere Kultur glaubt ebenfalls, daß die niedrigeren Götzen, während sie in keiner Weise miteinander identisch sind, trotzdem alle mit dem Obergott identisch

19

werden könnte durch eine Untersuchung, wie die Welt tatsächlich beschaffen ist." (Er bemerkt weiterhin, und zitiert hier aus Über Gewißheit, daß die Grenzlinie zwischen „Grammatik" und „Theorie" weder scharf gezogen noch stabil ist.) Trotzdem ist es die Position von Winch, daß „Glauben" an Hexen oder Orakel Teil der Grammatik der Zande-Sprache ist und deshalb f ü r Widerlegungen nicht offen ist, obwohl er unhaltbar werden kann (aus Gründen, die allerdings mysteriös bleiben). Das ist genau die Position des Antirealisten, wenn die „Grammatik" einer „Sprache" als das verstanden wird, was ich die „Kernsätze" einer „Weltanschauung" genannt habe; und es ist eine relativistische Positon. W e n n andererseits „Grammatik" im nichtphilosophischen Sinn als „Menge von Regeln, die syntaktische Wohlgeformtheit charakterisieren" verstanden wird, ist natürlich die Idee, daß der Glauben an Orakel zur „Grammatik" der Zande gehört, unverständlich. Tatsächlich verkürzen sich die Schwierigkeiten, die Position von Winch zu verstehen, zur Obskurität des Wortes „Grammatik", so wie er es gebraucht. E. E. Pritchard, Nuer Religion (Oxford, 1956).

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sind. Eine symbolistische Darstellung der Doktrin könnte dies zum Beispiel als eine symbolische Bekräftigung oder Verkörperung der Einheit oder Einbettung aller Sippen in die Gesamtgesellschaft ansehen. Auf jeden Fall scheint auf den ersten Blick eine radikale Abkehr vom Literalismus notwendig zu sein, um alle Erscheinungen der Unvereinbarkeiten eines solchen Glaubens auszumerzen. Der Symbolist würde entweder verneinen, daß Menschen in unserer Gesellschaft strikt und wortwörtlich glauben, daß Regen ein Geist ist, oder daß die Götzen mit dem Obergott identisch sind, oder irgendwie

anders die Auffassungen als Ergebnis einer Art von Verdinglichung erklären. Für den Wittgensteinschen Ansatz würde die offensichtliche Paradoxie einer solchen Anschauung, wie sie der Literalismus gibt, wahrscheinlich als ein weiteres Indiz der Unzulänglichkeit der Prinzipien zählen, auf die der Literalismus sein Verständnis von ihnen gründet. Mit Quine könnte er sehr gut sagen, daß es „das prälogische Merkmal ist, das durch eine schlechte Übersetzung hinzugefügt wird" 20 . Natürlich würden aber die Gründe für diese Behauptung so, wie sie auf seiner „dezentralisierten" Konzeption von Sprache beruhen (ein Sprachspiel sorgt für sich selbst), in keiner Weise die von Quine sein. Quine verschachert einfach die Wahrscheinlichkeit unvereinbarer Auffassungen gegen die Wahrscheinlichkeit einer schlechten Übersetzung; seine interpretative Nachsichtigkeit setzt den Preis unvereinbarer Auffassungen unerreichbar hoch. Gerade weil eine solche interpretative Nachsichtigkeit nicht an nicht-literalistische Prinzipien der Ubersetzung symbolistischer oder Wittgensteinscher Art gekoppelt ist, ist sie von einiger Bedeutung für die Bewertung des Intellektualismus. Lassen Sie mich erklären, warum. Wenn eine literalistische Beschreibung die religiösen Auffassungen, sagen wir in unserer gedachten afrikanischen Kultur, darstellt, als enthalten sie in ihren Ideen über die Natur geistiger Wesen und deren Beziehung zur Welt charakteristische paradoxe Elemente, dann müssen diese der Reihe nach vom Intellektualisten erklärt werden, da der Intellektualismus sich selbst auf eine literalistische Beschreibung gründet. In Anbetracht dessen erzeugen sie einige Schwierigkeiten für die Ansicht, daß sich primitive religiöse Auffassungen während des Versuchs entwickeln und verstärken, Naturphänomene zu verstehen und zu meistern. Denn wenn sich 20

W . V. O. Quine, „Carnap and Logical Truth", in The Ways of Paradox (New York, 1966), S. 102.

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primitives religiöses Denken hingebungsvoll anschickt, Erfahrung einsichtig und kontrollierbar zu machen, warum sollte es streng anomale Doktrinen über den Charakter und die Beziehung seiner theoretischen Entitäten entwickeln und erhalten? Wenn natürlich auf der anderen Seite gezeigt werden könnte, daß diese Doktrinen unvermeidlich durch den Versuch erzeugt werden, Erfahrung in Begriffen einer Theorie jenseits der Erfahrung zu erklären, dann würde hingegen deren Auftreten ein starker Pluspunkt für die intellektualistische Position sein. Genau das ist die Strategie Hortons: die Wissenschaften sind voll von Levy-Bruhlschen Behauptungen der Einheitin-der-Dualität und der Identität des Erkennbaren. Diese Behauptungen erscheinen immer dann, wenn beobachtbare mit theoretischen Entitäten identifiziert werden . . . . Ich werde nicht nur behaupten, daß sie unreduzierbar paradox sind, sondern auch, daß ihre Paradoxie wesentlich für ihre Rolle im Erklärungsprozeß ist . . .. Ich werde zu zeigen versuchen, daß in ihrer Natur und Platzierung die Paradoxien eines afrikanischen religiösen Diskurses sehr ähnlich sind mit denen eines wissenschaftlichen Diskurses. Ich werde ebenfalls zu zeigen versuchen, daß im letzteren das Auftreten einer Paradoxie nur im Verhältnis zur Suche nach Erklärungen verstanden werden kann 2 1 .

Wenn aber nun scheinbare Paradoxien, Unvereinbarkeiten usw., im Glaubenssystem einer Kultur in Wirklichkeit Merkmale sind, die durch eine schlechte Übersetzung hervorgerufen werden, dann können sie keine Herausforderung für den Intellektualismus sein: sie sind für ihn weder Hindernisse, an denen er scheitert, noch Pluspunkte, die er verbucht. Quines Prinzip der Nachsichtigkeit werden wir weiter unten erörtern. Zunächst sollten jedoch weitere Gedanken festgehalten werden, die die Neigung zu verstärken scheinen, die Unvereinbarkeiten vor die Tür des Übersetzers zu legen. Das Sprechen vom „Verstehen" oder ,,Sinnvollmachen" anderer Kulturen und ihrer Auffassungen hat gegenwärtig sowohl in der Philosophie wie auch der Anthropologie eine bedeutende Zweideutigkeit. Es muß eine sorgfältige Unterscheidung getroffen werden zwischen dem „Verstehen" eines Gedankensystems (i) in dem Sinn, eine genaue beschreibende Darstellung von ihm so zu geben, wie es von denen gemeint wird, die daran

21

Robin H o r t o n , „Paradox and Explanation: A Reply to M r Skorupski", Philosophy of the Social Sciences 3 (1973), S. 232.

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glauben — eine Phänomenologie jenes Gedankensystems — zusammen mit einer Aufzählung, warum auf diese Weise daran festgehalten werden soll; und (ii) in dem Sinn, es vollkommen einsichtig zu machen, und jede scheinbare Obskurität des Inhalts wegzuinterpretieren. Diese Projekte einfach gleichzeitig laufen zu lassen, bedeutet, die gegenwärtig diskutierte Frage vorauszusetzen, ob die Widersprüchlichkeit notwendigerweise ein Ergebnis einer schlechten Ubersetzung ist. Hier taucht wahrscheinlich wieder die Maxime auf, man solle eine andere Kultur oder Lebensform in ihren eigenen Grenzen „sinnvoll machen" 22 ; um das Erreichen von (ii) als notwendige Bedingung für ein erfolgreiches Erlangen von (i) gelten zu lassen, müssen jedoch Gründe angegeben werden. Solche Gründe mögen sich auf den Gedanken konzentrieren, daß ein Versuch, eine Glaubensauffassung mit Mitteln eines unvereinbaren oder uneinsichtigen Satzes mitzuteilen, nicht die Schilderung einer unvereinbaren Glaubensauffassung ergeben kann, sondern generell fehlschlägt, eine Auffassung mitzuteilen. Wie Bernard Wiliams in „Tertullian's Paradox" bemerkte 23 , scheint die Schwierigkeit für einen religiösen Menschen, der aufgefordert wird, eine uneinsichtige Doktrin zu glauben, darin zu liegen, daß er weiß, was es ist, das er glauben soll. Wenn analog dazu die Auffassung eines anderen Menschen durch einen unverständlichen und unvereinbaren Satz mitgeteilt wird, scheint es ein Problem der Identifikation zu sein — zu wissen, was es ist, wenn überhaupt, von dem gesagt wird, er glaube es. Eine Anzahl unterschiedlicher Stellungnahmen sind implizit in dieser Behauptung enthalten. Eine beruht auf einer semantischen Überlegung: Ein Mensch kann keine Annahmen treffen, die im strikten Sinne uneinsichtig sind und die nur durch Sätze mitteilbar sind, denen Sinn fehlt. Wir teilen N's Annahme dadurch mit, daß wir einen Satz in den Kontext ,,N glaubt, daß . . . " einbetten. Wenn jedoch das, was eingebettet wird, keinen Sinn hat, wurde auch nichts mitgeteilt: dem ganzen Satz fehlen Wahrheitsbedingungen. Der gleiche Punkt wird in anderer Weise benutzt, wenn man sagt, daß ein Satz dann und nur dann Sinn hat, wenn er einen Gedanken ausdrückt, und daß Glauben in einer Beziehung zu einem Gedanken besteht. Dann drückt ein Satz mit fehlendem Sinn keinen Ge-

22

23

Wie beschrieben in Ernest Gellner, „Concepts and Society", wiederabgedruckt in B. Wilson (Hg.), Rationality (Oxford, 1970).

In A. Flew und A. Maclntyre (Hg.), New Essays in Philosophical Theology

(London, 1955).

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danken aus und kann deshalb nicht benutzt werden, eine Glaubensauffassung mitzuteilen. Innerhalb des allgemeinen Entwurfs, den Satzsinn in Ausdrücken der Wahrheitsbedingungen für erklärbar zu machen, gibt es ein strengeres Modell (z. B. das von Wittgenstein im Tractatus), welches annimmt, daß der Sinn eines Satzes durch die Grenzlinie gegeben ist, deren Aussage sich durch die Totalität der möglichen Welten zieht. Die Grenzlinie muß sowohl ein- wie auch ausschließen: eine Linie, die nichts oder alles ausschließt, ist überhaupt keine Grenzlinie. In diesem Modell sind Sätze, von denen gesagt werden könnte, sie drücken notwendige Falsch- und Wahrheiten aus, tatsächlich absolut sinnlos. Dementsprechend folgt, daß sie nicht zur Beschreibung der Auffassungen eines Menschen benutzt werden können. Unvereinbare Sätze, die jedem Kriterium zufolge unvereinbar sind, würden in diesem Modell sinnlos sein: es könnte also keine unvereinbaren Glaubensauffassungen geben. Während es nun in der Tat nach diesem Ansatz für jemanden unmöglich sein sollte, zu glauben, daß Regen (wortwörtlich) Geist ist, so ist es gleichfalls unmöglich für jemanden, zu glauben, daß Regen nicht ein Geist ist, oder daß eine Füchsin ein weiblicher Fuchs ist, oder daß es ein Verfahren für die Dreiteilung eines Winkels gibt, daß Hesperus Phosphorus ist, und so weiter. Auf der anderen Seite entspringt unser Problem dem Gefühl, eine spezifisch philosophische Schwierigkeit liege in der Annahme, daß eine andere Kultur (ein anderer Mensch) unvereinbare Glaubensauffassungen hat: das Gefühl einer speziellen Unmöglichkeit der Idee einer unvereinbaren Glaubensauffassung, und folglich einer „prälogischen Mentalität". (Natürlich ruft der Begriff „prälogische Mentalität" mit der Vorstellung eines Systems widersprüchlicher und nichtlogischer Erscheinungsformen des Denkens weitere Schwierigkeiten hinsichtlich der Schranken dessen hervor, was noch als „Gedankensystem" oder Erscheinungsform des „Denkens" beschrieben werden kann; diese Schwierigkeiten entstehen nicht bei der Annahme lokalisierter und nicht-verzweigter unvereinbarer Auffassungen.) Die gerade beschriebene, sehr strikte Bedeutungskonzeption stellt diese spezielle Schwierigkeit nicht heraus, die der Idee einer unvereinbaren Annahme innewohnt. Auf jeden Fall ist eine liberalere Bedeutungskonzeption viel natürlicher, wenn sie zwischen bedeutungsvollen Sätzen, deren Wahrheitsbedingungen so beschaffen sind, daß sie in allen oder keiner der möglichen Welten wahr sind, und Sätzen, denen keine Wahrheitsbedingungen zugeschrieben werden, unterscheidet. In dieser liberaleren Konzeption wird jedoch die Schwierigkeit mit unvereinbaren Glaubensauffas-

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sungen keine semantische Schwierigkeit sein; jede verbleibende Schwierigkeit wird entstehen, weil die Grenzen dessen, was geglaubt werden kann, undurchlässiger sind als die Grenzen dessen, was Sinn hat. Tatsächlich meine ich nicht, daß dann, wenn der semantische Aspekt beseitegelassen wird, eine scharfgezogene Begrenzung der Möglichkeit von Glauben bestehen bleibt, die sich auf begriffliche Überlegungen gründet. Die Behauptung, daß Auffassungen anderer Kulturen in gewisser Hinsicht unvereinbar sind, ist nicht selbst unvereinbar; sie erzeugt in gegebenen Fällen eher Probleme des phantasievollen Verstehens — des Verstehens, wie es aussehen könnte, dieses oder jenes zu glauben: Probleme, die Undurchsichtigkeit aufzulösen, die eine Kultur oder Gesinnung, die solchen Glauben hat, für einen Beobachter darstellt, der die Auffassungen für unvereinbar hält. Am Ende könnte diese Undurchsichtigkeit einen Punkt erreichen, an dem das Problem des Beobachters beschrieben werden könnte als das in einem gewissen Sinn mit seiner Fähigkeit, eine absolut vollständige und genaue Darstellung dessen zu geben, was geglaubt wurde, vereinbare Problem, nicht zu wissen, was geglaubt wurde. Natürlich könnte die Undurchsichtigkeit einer Gesinnung oder Kultur, die diesen Glauben hat, durch die bloße Information über den Kontext der Institutionen und Aktivitäten beseitigt werden, in denen der Glauben vertreten wurde. Diesen Prozeß könnte man bis zu einem gewissen Grad der Obskurität dem Glauben selbst überlassen, indem er für den Beobachter sozusagen denkbarer gemacht wird. Es gibt Abstufungen der Denkbarkeit und Unterschiede der Resonanz unter unvereinbaren — oder geradezu obskur merkwürdigen — Annahmen: daß diese Heftzwecke Schmerzen spürt, wenn sie in die Wand geschlagen wird, daß diese Heftzwecke ein böser Dämon ist, daß diese Heftzwecke das Empire State Building ist. (Unter „Annahme" verstehe ich eine im Geiste vorgestellte kontrafaktische Situation, in der zum Beispiel diese Heftzwecke das Empire State Building ist; und nicht eine tatsächliche Darstellung des Gebäudes zum Zwecke einer nachahmenden Präsentation — obwohl Annahmen in diesem Sinn für das Verständnis magischer Denkformen von Bedeutung sind.) Parallel mit diesen Abstufungen der Denkbarkeit verlaufen die Abstufungen der Verständlichkeit bezüglich korrespondierender Glaubensauffassungen. Uns ist der Verstand eines Kindes zugänglich, das glaubt, Heftzwecken seien in einem stillen Schmerzzustand, wenn sie in die Wand gehämmert werden — beispielsweise die Gefühle und Reaktionen, die diesen Glauben begleiten; hingegen ist der Verstand eines Irren (der er wahrscheinlich sein muß) völlig unklar, der glaubt, daß die Heft-

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zwecke in seiner Streichholzschachtel das Empire State Building sei. (Obwohl noch nicht einmal dieser Glauben als Beweis dafür genommen werden kann, daß es eine verrückte Ansicht war, d. h. unabhängig vom sozialen Hintergrund, gegen die sie vertreten wurde. Nur ein unbeirrter Mensch würde sagen, daß sich kein legitimierender institutioneller Kontext herstellen ließe, in dem ein vergleichbarer Glauben von einem völlig normalen Menschen vertreten wird. Solche Umstände vorausgesetzt, mag es für einen außenstehenden Beobachter leicht sein, zu erklären, warum rationale Menschen diesen Glauben hatten; was es jedoch war, was geglaubt wurde, bliebe wie immer unklar.) In der Praxis ist das Material primitiven religiös-kosmologischen Denkens, welches das Beispiel einer „Levy-Bruhlschen" Anomalität ist, und die der Intellektualist erklären oder wegerklären muß — sie besteht hauptsächlich aus paradoxen Ideen über die Identität und Allgegenwart verschiedener geistiger Wesen24 — nirgendwo in der Nähe einer vorstellbaren äußeren Schranke eines unverständlichen oder unklaren Glaubens. Das sollte zum Beispiel für jemanden, der innerhalb der orthodoxen katholischen Doktrin aufgewachsen ist, in Charakter und Grad nicht ungewöhnlich sein. Letzteres stellt in der Tat ein eigenes, zusätzliches Problem dar. Ein unklarer Glauben ist für den Gläubigen ebenso schwer zu verstehen wie für den Beobachter; der Gläubige kann diese Schwierigkeit jedoch einfach in seinem eigenen Glauben übersehen, besonders dann, wenn der Glauben in einem sozialen Milieu legitim ist und akzeptiert wird. Im Fall der katholischen Kirche werden hingegen bestimmte Doktrinen explizit als uneinsichtig angesehen. Sie werden ausdrücklich als „Mysterien im strengen Sinn" kategorisiert. (Natürlich bedeutet „uneinsichtig" dort oder in meiner Diskussion nicht „sinnlos".) Während ein gewöhnliches Mysterium eine Doktrin ist, deren Wahrheit auf puren Glauben hin angenommen werden muß, dessen Inhalt jedoch völlig einsichtig ist, wird im Fall des „Mysteriums im strengen Sinn" vom Gläubigen gefordert, nicht nur zu vertrauen, daß es wahr ist, sondern daß es, wörtlich verstanden, überhaupt einen Inhalt hat. Das Problem liegt daher darin, zu verstehen, was der Katholik glaubt, wenn er glaubt, daß die geweihte Hostie der gesamte lebende Körper von Christus ist, und zusätzlich glaubt, daß diese Behauptung für den menschlichen 24

Ich diskutiere einiges ethnographisches Material dieser Art in „Science and Traditional Religious Thought", Philosophy of the Social Sciences 3 (1973), Teil III.

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Verstand nicht voll einsichtig ist. Ein solcher Mensch scheint gleichzeitig in der Position eines naiven Gläubigen und eines verwirrten Beobachters zu sein — kann er das aber? Eine linguistische Beschreibung des enthaltenen Glaubens ist verlockend — sicher, der Katholik glaubt, daß die Doktrin des heiligen Abendmahls einen wörtlichen Sinn hat, und daß dieser Sinn eine Wahrheit ausdrückt. Doch macht es einen enormen Unterschied, zu glauben, ein Satz drücke eine Wahrheit aus, und einen Gedanken zu glauben, der durch einen Satz ausgedrückt ist. Sollte man nun sagen, der Christ habe nicht geglaubt, daß die geweihte Hostie Christus ist, sondern daß der Satz „Diese geweihte Hostie ist Christus" wahr ist? Das läßt offensichtlich die Tatsache außer acht, daß der Katholik die Ausdrücke, aus denen ein Satz besteht und ihre syntaktische Struktur versteht, und daß er den Gedanken, den der Satz so, wie er es zu seinem Verständnis erlaubt, ausdrückt, erfaßt. Die Beziehung aber zwischen seinem Glauben an das heilige Abendmahl und dem eines naiven Gläubigen ist schwierig darzustellen — es ist nicht klar, daß die Situation glücklich erfaßt wurde, obwohl wir es so voraussetzen, indem wir einfach sagen, daß, während beide einen gewissen Glauben t e i l e n , man einen Glauben über jenen Glauben habe, den der andere genau nicht hat. Wenden wir uns von der Frage ab, ob es ein unvereinbarer Glaube s e i n kann (vorausgesetzt, es gibt ihn) und den Problemen, ihn zu verstehen, und gehen zur Frage über, ob etwas als sicherer Beweis für die Behauptung zählen kann, daß ein Mensch oder eine Kultur einen unvereinbaren Glauben hat. Wenn jemandem ein unvereinbarer Glauben zugesprochen wird, dann ist es unbestreitbar, daß die Unmöglichkeit, einen solchen Glauben zu haben, nicht gegenüber der Wahrscheinlichkeit überwiegen darf, daß das Ubersetzungsschema, das seine Äußerungen als Beweis eines solchen Glaubens interpretiert, gut ist. Darum kann ein Prinzip der interpretativen Nachsichtigkeit, welches dazu verleitet, die Unvereinbarkeit in jedem auftretenden Fall durch eine Verbesserung des Übersetzungsschemas auszuschließen, nur auf die Auffassung gegründet werden, daß die Unmöglichkeit solcher Unvereinbarkeit immer von entscheidender Größe sein muß. (Unter Unvereinbarkeit verstehe ich hier tatsächlich geglaubte Auffassungen, die in und an sich unvereinbar sind — nicht potentielle Unvereinbarkeit auf Grund deduktiver Schlußfolgerungen aus Glaubensauffassungen. Niemand würde letztere als unmöglich genug ansehen, eine Rückübersetzung in jedem Fall zu rechtfertigen.) Die Wahrscheinlichkeit, daß die Mitteilung eines Wunders korrekt ist, wird im Falle eines ähnlichen Arguments (Hume) über Wunder geschmälert gegenüber der Unwahr-

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scheinlichkeit eines Wunders auf Grund unseres Wissens über die Ungenauigkeiten einer Informationsvermittlung der Wahrscheinlichkeit des „Kanalrauschens", wenn eine Meldung von Person zu Person weitergegeben wird, und der relativ niedrigen Bestimmtheit der am Ende abgegebenen Meldung gegenüber der ursprünglichen Eingabe. Analog dazu wird in Quines Überlegungen zur Unklarheit, mit der Ubersetzungsschemata durch die Eingabemuster linguistischen Verhaltens (wie stark auch immer) beschränkt sind, die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Ubersetzung gegenüber der Unwahrscheinlichkeit unvereinbarer Annahmen verringert. Diese Überlegungen können jedoch keine vollständige interpretative Nachsichtigkeit rechtfertigen. (Ich möchte nicht sagen, daß Quine glaubt, sie könnten es.) Menschen können erstens einmal Ansichten über die Einsichtigkeit ihrer eigenen Glaubensauffassungen haben. Wir haben zum Beispiel gesehen, daß der orthodoxe Christ die Doktrin vom Heiligen Abendmahl glauben kann und ebenso überzeugt ist, daß es ein „Mysterium im strengen Sinn i s t " . Eine Rückübersetzung, die jede Erscheinung einer Paradoxie aus der Doktrin entfernt, würde die Tatsache, daß sie vom Gläubigen selbst als strenges Mysterium angesehen wurde, selbst mysteriös machen 2 5 . Der wesentliche Punkt jedoch ist allgemeiner. Quine bemerkt: „ j e absurder oder exotischer die Uberzeugungen, die man einem V o l k unterstellt, desto eher sind wir berechtigt, der Ubersetzung mit Argwohn zu begegnen; der Mythos von den prälogischen Völkern markiert nur den Extremfall. Das Lebenselement der Übersetzungstheorien sind banale Mitteilungen." 2 6 Das ist zu einfach. Richtiger ist es, zu sagen, „ j e unerklärlicher absurd oder exotisch die Uberzeugungen sind, die einem Volk unterstellt werden, desto argwöhnischer dürfen wir hinsichtlich der Übersetzung sein." 2 7 Der Wahrscheinlichkeitsgrad der Aussage, damit verknüpft, daß bestimmte unvereinbare Auffassungen in einer Kultur 25

26 27

Eine damit in Beziehung stehende Feststellung wurde von Susan Haack (Déviant Logic (Cambridge, 1974)) in Zusammenhang mit der Idee Quines getroffen, daß es dem angeblich abweichenden Logiker lediglich glücke, das Thema zu ändern (vgl. W . v. O . Quine, Philosophie der Logik (Stuttgart, 1973), S. 92ff.). Das Urteil, das durch das Prinzip der Nachsichtigkeit gesprochen wird, ist, so sagt sie, „ziemlich mehrdeutig, während der deviante Logiker, neben seinen (scheinbaren) idiosynkratischen logischen Überzeugungen, die zusätzliche Überzeugung vertritt, daß er mit dem klassischen Logiker nicht einer Meinung ist" (Haack, a. a. O . , S. 200). W . v. O . Quine, Wort und Gegenstand (Stuttgart, 1980), S. 131. Man einigte sich über diesen Punkt in der Diskussion von Donald Davidson, David Lewis und Quine in Synthèse 27 (1974), z. B. S. 328, 3 4 6 .

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geglaubt werden, kann wie der Wahrscheinlichkeitsgrad eines Ubersetzungsprogramms, welches eine Aussage unterstützt, nicht unabhängig von der psychologischen und soziologischen Deutung bewertet werden, die wir zur Erklärung anbieten können, warum Menschen in dieser Kultur jene Glaubensauffassungen haben — die verhältnismäßige Vertrautheit, die wir mit der in Frage stehenden Art von Auffassungen, vom Punkt unseres Wissens aus, von anderen Kulturen haben mögen, und so weiter. Die Plausibilität des Ubersetzungsverfahrens ist im Zusammenhang unseres allgemeinen soziologischen und psychologischen Wissens festgelegt und in Verbindung mit der einzelnen psychologischen Beschreibung, die wir von der betreffenden Kultur geben können. Das gilt ebenso für die Bedeutungskonzeption, die die Prinzipien bestimmt, die den Übersetzungsverfahren zugrunde liegen. Die Ubersetzungsprinzipien des Symbolisten waren bis zur wortwörtlichen Ubersetzung jene des Literalisten; im Fall des „rituellen" Diskurses ging der Symbolist jedoch weiter und versuchte eine symbolische Bedeutungsebene auf kontextualistischem Boden zu verankern — daher war sein unterschiedliches semantisches Konzept das einer symbolischen Darstellung. Die Treniiung eines Wittgensteinianers vom Literalisten ist radikaler: er wendet Kontextprinzipien auf die Klärung des „wortwörtlichen" Sinns ritueller Auffassungen selbst an. Jede der beiden Positionen kann sich von den eigenen internen Schwierigkeiten erholen: es ist fraglich, ob beide ausreichende Kontrollen zur Bewertung einer gegebenen Darstellung der Bedeutung eines rituellen Diskurses geben können. Der Wittgensteinianer sagt in der Darstellung seiner eigenen Position, daß seine Interpretation des Rituals einer gegebenen Kultur ohne begriffliche Voraussetzungen vom gleichen Material wie das des Literalisten (z. B. Evans-Pritchard über die Azande) ausgeht. Der Unterschied zwischen seinem endgültigen Verständnis der Bedeutung eines Rituals und jenem des Literalisten ist das Ergebnis ihrer verschiedenen Bedeutungskonzeption und „Ubersetzung". Führen jedoch die Prinzipien eines Wittgensteinianers überhaupt notwendigerweise vom Material zu einer bestimmten Interpretation? Wenigstens werden in dieser Sicht weniger Hindernisse für die Übersetzung aufgestellt, wenn man erlaubt, daß der gleiche Ausdruck verschieden arbeiten kann, und demzufolge verschiedene Bedeutungen in verschiedenen „Sprachspielen" hat, als wenn man darüberhinaus eine einheitliche Darstellung fordert, wie ein gegebener Ausdruck zur Bedeutung eines Satzes beiträgt. Was die Bedeutung eines Ausdrucks im Sprachspiel bestimmt — z. B. im Wunsch, einen Stammesgeist zu schützen im Verhältnis

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zum Wunsch, einen Führer zu schützen — soll sich natürlich in seiner Verwendung im Kontext zeigen. Ein detailliertes und funktionsfähiges Beispiel dieser Methode muß noch gegeben werden. Sieht man einmal davon ab, kann man wohl annehmen, daß es nicht so sehr der Fall ausgeprägter semantischer Begriffe und Prinzipien ist, der den Wittgensteinianer zu einer spezifischen Theorie der Bedeutung führt, als eine vertraute moderne Idee der Bedeutung, in der ihn primitive Rituale dazu geführt haben müssen, solche Begriffe wie „Sprachspiel" anzuwenden, und eine Interpretation zu unterschreiben, die ihnen diese Bedeutung geben wird. Schieben wir die Schwierigkeiten beiseite, die Zweifel aufwerfen, ob eine symbolistische oder eine Wittgensteinsche Theorie der Bedeutung eines Rituals überhaupt funktionsfähig ist, und nehmen wir an, daß beide dazu gebracht werden, eine Ubersetzung oder Interpretation religiöser und magischer Handlungen und Äußerungen unserer gedachten afrikanischen Kultur zu liefern. Jedes dieser Universalmodelle, auch das literalistische, beinhaltet spezifische semantische Prinzipien der Ubersetzung und des Verstehens. Wie in den Naturwissenschaften die Wahl der Geometrie jedoch nicht unabhängig von der Wahl der Physik ist, so ist in den Wissenschaften vom Menschen die Wahl der Bedeutungstheorie, der semantischen Ubersetzungsprinzipien, nicht unabhängig von der Wahl der Physik ist, so ist in den Wissenschaften vom Menschen die Wahl der Bedeutungstheorie, der semantischen Ubersetzungsprinzipien, nicht unabhängig von der Psychologie und Soziologie des Denkens. Entsprechend kann das Urteil über die Universalmodelle nicht in Begriffen grober und fertiger Faustregeln wie ein die Unvereinbarkeit vermeidendes Prinzip der Nachsichtigkeit gefällt werden. Sicherlich, ,,es ist zunächst das Problem dieser allumfassenden logischen Nachsichtigkeit, daß es unwissentlich zum großen Teil a priori ist. Es kann die Anthropologen zum Gedanken verführen, sie hätten gefunden, daß keine Gesellschaft absurde oder sich selbst widersprechende Auffassungen aufrecht erhält" 2 8 . Direkter formuliert: der Haken an diesem Modell ist, daß sie, als Prinzipien genommen, einfach falsch sind. Die endgültige Entscheidung muß sich auf eine andere, komplexere Frage richten: kann das, was die Menschen in einer gegebenen Kultur mit dem, was sie sagen, meinen, aufgrund einer gegebenen Bedeutungstheorie bzw. gegebener Übersetzungsprinzipien mit einer plausiblen psycho-soziologischen Theorie verknüpft werden, die uns sagt, warum sie verpflichtet sein sollen, gennau das zu sagen, was sie auch sagen? Wenn 28

Gellner, „Concepts and Society", S. 3 6 .

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diese Frage angemessen gestellt wird, erscheint der Anspruch des hier vorgestellten Modells einer primitiven Kosmologie — klassisch und realistisch in seinen semantischen Interpretationsprinzipien, intellektualistisch in seiner Soziologie des Denkens — stärker, als es einige Orthodoxien der modernen Sozialwissenschaft und Philosophie zugelassen haben.

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„Realistischer" Realismus und der Fortschritt der Wissenschaft I Realist zu sein, bedeutet, sich an eine Korrespondenztheorie der Wahrheit zu halten, also zu behaupten, daß ein wahrer Ausdruck „von dem, was ist, sagt, daß es ist". Relativist zu sein, bedeutet, die Korrespondenztheorie der Wahrheit abzulehnen und somit die Berechtigung abzulehnen, angesichts verschiedener Interessen, Ideologien, Kulturen und Glaubenssysteme von Sprechern eine einzige externe Wirklichkeit als den Maßstab der Wahrheit anzurufen. In letzter Zeit wurde die Geschichtsschreibung der Wissenschaft weithin als Munitionsquelle im ewigen Streit zwischen Realisten und Relativisten verwendet. Jede Partei versuchte der anderen eine verzerrte Interpretation des Theorienwandels nachzuweisen. Realisten werfen Relativisten vor, einer Auffassung verpflichtet zu sein, die in der Erklärung des Theorienwandels die menschliche Vernunft unnötigerweise externen soziologischen und ideologischen Faktoren unterordnet und durch ihre Ablehnung des kumulativen Modells des Wachstums wahrer wissenschaftlicher Annahmen die Tatsache des menschlichen technologischen Fortschritts unerklärlich erscheinen läßt. Relativisten werfen Realisten einen „zeitbezogenen Chauvinismus" vor, eine Auffassung vom Inhalt früherer Theorien und ihrer Abfolge, die durch die Anwendung unseres heutigen Begriffsrahmens und unserer heutigen Kriterien der Theorienbewertung verzerrt ist. Diese Debatte leidet allerdings unter einem bedrückenden Mangel an Klarheit sowohl in der Darlegung der eingenommenen historiographischen Standpunkte als auch in der Erklärung der Art und Weise, wie in ihnen die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten über die Natur der Wahrheit zum Ausdruck kommen. Es ist das große Verdienst von Hilary Putnams Aufsatz „What Is ,Realism'?", einen Versuch zu einer genauen Beschreibung der Strategie für die Interpretation der Wissenschaftsgeschichte zu unternehmen, der der Realität gerecht werden will, und zu klären, wie diese Verpflichtung entsteht. Hier ist die Schlüsselstelle in Putnams Argumentation:

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Was sollen wir sagen, wenn alle von einer Generation angenommenen theoretischen Entitäten (Moleküle, Gene usw., ebenso wie Elektronen) vom Standpunkt einer späteren Wissenschaft ausnahmslos „nicht existieren"? Natürlich handelt es sich hier um eine Form des alten skeptischen „Arguments des Irrtums": wie weißt du, daß du dich nicht jetzt im Irrtum befindest? Aber es ist eine Form, die das Irrtumsargument für viele Leute als echtes Problem — und nicht nur als einen philosophischen Zweifel — erscheinen läßt. Ein Grund dafür liegt darin, daß der folgende metainduktive Schluß stark an Uberzeugungskraft gewinnt: ebenso wie vor 50 Jahren kein wissenschaftlicher Begriff einen Gegenstandsbezug aufwies, wird es sich herausstellen, daß keiner der heute verwendeten Begriffe (abgesehen vielleicht von den Beobachtungsbegriffen, so es solche gibt) einen Gegenstandsbezug aufweist. Für eine Theorie des Gegenstandsbezugs muß es natürlich von Bedeutung sein, daß diese Metainduktion blockiert wird; darin liegt eine Begründung des Prinzips des Zweifelsfalles. 1 Putnam zufolge erlaubt uns das Prinzip des Zweifelsfalles (im folgenden „PZ"), den Bezugsgegenstand eines Begriffs ,i[)' unserer Wissenschaft mit jenem eines Begriffs ,cp' einer vergangenen Wissenschaft unter der Bedingung gleichzusetzen, daß die Ausdrücke, welcher sich die Vertreter der früheren Wissenschaft bedienten, um q)s zu beschreiben, (in „angemessener Umschreibung") auch IJJS beschreiben. Es gestattet uns z u bemerken, daß trotz der Tatsache, daß Bohrs Annahmen über Elektronen durch keine der bekannten Arten v o n Entitäten in unserem Universum erfüllt werden, sein Begriff „Elektron" doch den gleichen Bezugsgegenstand wie der unsrige aufweist. Dasselbe gilt für Daltons wie für unser „ A t o m " , für Mendels „bildungsfähiges Element" und unser „ G e n " usw. N u r w e n n keine „angemessene Umschreibung" ihre Beschreibungen in eine Kennzeichnung einer von uns anerkannten Art von Entitäten verwandeln würde, müssen wir annehmen, daß ein Begriff einer früheren Wissenschaft keinen Bezugsgegenstand besitzt. Bei „Phlogiston" handelt es sich u m einen solchen Begriff. Gelingt es dem PZ, genügend Begriffen vergangener Wissenschaften Bezugsgegenstände zuzuweisen, ist die vernichtende Metainduktion blok1

Putnam, „What Is .Realism'?", Proceedings of the Aristotelian Society, n. s. 76 (1975 — 76), 183f. Die logische Form dieses, einen Skeptizismus begünstigenden Arguments, ist nicht leicht erkennbar. Ich nehme an, daß es folgende Struktur aufweist: „wenn T, dann wahrscheinlich nicht T; also wahrscheinlich nicht T", wobei T „unsere" wissenschaftliche Theorie ist. Um zu erkennen, daß es sich hier nicht um eine direkte Induktion auf der Basis bisheriger falscher Theorien handelt, genügt es, zu bemerken, daß die Falschheit einer bisherigen Theorie, die sich aus dem leeren Gegenstandsbezug ihrer Begriffe ergibt, einer Theorie des Gegenstandsbezugs zusammen mit „unserer" wissenschaftlichen Theorie vorausgeschickt wird.

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kiert. Die Funktionsweise des Prinzips liegt darin, daß es unter der Bedingung seines Erfolgs in der Wissenschaftsgeschichte ein kumulatives Wachstum unseres Tatsachenwissens aufzeigt, eine Annäherung unserer Annahmen darüber, welche Arten von Dingen wir anerkennen, an unsere Annahmen über diese Arten. Sollte das PZ nicht für genügend Begriffe früherer Wissenschaften Bezugsgegenstände angeben können, hat die vernichtende Metainduktion Erfolg. Der Realist wird dann begründeterweise alle unsere wissenschaftlichen Annahmen in Zweifel ziehen, und das nicht aufgrund der vernünftigen Annahme, daß die Dinge nicht unbedingt so sein müssen, wie wir sie beschreiben, sondern wegen der „unrealistischen" Behauptung, daß unsere grundlegenden Begriffe möglicherweise überhaupt keine Bezugsgegenstände besitzen, so daß wir also gar nichts beschreiben. Der „realistische" Mensch sollte bereit sein, eher den Realismus aufzugeben als einen derartig weithergeholten Zweifel in Kauf zu nehmen. Dem Realisten kommt allerdings glücklicherweise entgegen, daß unser gesunder Menschenverstand uns besagt, daß das PZ Erfolg haben und damit den Realismus rechtfertigen wird. Von nun an werde ich Putnams Terminologie fallenlassen und seine Aussagen über die Bezugsgegenstände von Begriffen durch Aussagen über die Extensionen von Prädikaten ersetzen. Wenn Putnam von den Bezugsgegenständen von Begriffen spricht, so versteht er darunter Arten (wie Gold, Atom usw.) und Eigenschaften (wie Masse, Länge usw.). Ich möchte in diesem Aufsatz nicht Putnams Ontologie angreifen oder mich mit den Gründen für das Prinzip des Zweifelsfalles auseinandersetzen, die er anderswo angeführt hat und die auf dieser Ontologie beruhen. Unter der zwingenden Annahme, daß bei Gleichheit der Bezugsgegenstände der Begriffe ,cp' und ,i|>' auch die entsprechenden Prädikate (,— ist qp' und ,— ist i|>') dieselbe Extension haben, sind meine Ersetzungen harmlos. Ich finde in Putnams Argument viel Anerkennenswertes. Die transzendentale Strategie ist einnehmend. Wir verfügen wirklich über wissenschaftliche Erkenntnis, und wenn unsere philosophischen Meinungen dies in Zweifel ziehen wollen, dann ist es wohl sehr schlecht um sie bestellt. Und Putnams Schlußfolgerung entspricht gut einer naturalistischen Tendenz. Wo andere versucht haben, die Auseinandersetzung zwischen Realismus und Relativismus auf apriorische Weise beizulegen — indem sie z. B. behaupteten, der Relativist könne nicht einmal seinen Standpunkt klarmachen, ohne Begriffe zu verwenden, die nur dann klar sind, wenn der Realismus wahr ist, oder indem sie behaupteten, daß die realistische Annahme eines einzigen Quantifikatisonsbereichs für alle Sprachen unsin-

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nig sei — versucht Putnam aufzuzeigen, daß die Lösung von einer Eventualität anhängt, dem möglichen Erfolg oder Mißerfolg eines Interpretationsprinzips für die Wissenschaft der Vergangenheit. Sicherlich muß der Realist, der hinsichtlich unserer Wissenschaft eine „realistische" Position vertreten möchte, irgendwie der Putnamschen Metainduktion entgegentreten. Und Putnams Behauptung, die Anwendung des PZ gestatte ihm eben dies, ist sicherlich korrekt 2 . Wenn Putnam auch berechtigt ist, anzunehmen, daß das für den Realisten die einzige sinnvolle Art ist, der zum Skeptizismus führenden Induktion zu entgehen, sind wir mit einem Dilemma konfrontiert: entweder unterliegen wir dem Relativismus, oder aber wir nehmen ein Prinzip für die Zuweisung von Extensionen für die Prädikate vergangener Wissenschaften an, das in der Wissenschaftsgeschichte die Putnamsche „Konvergenz" der Erkenntnis nachweisen würde. Das Dilemma ist für jene hart, die sowohl den Relativismus hinsichtlich der Wahrheit wie auch den Begriffschauvinismus für unannehmbar halten. Ich habe in diesem Aufsatz zwei Absichten: (1) aufzuzeigen, daß es sich hier um ein falsches Dilemma handelt, und daß es ein Tertium quid gibt; (2) Gründe für die Annahme dieses Tertium quid zu liefern. Die erste dieser zwei Absichten wird durch die Formulierung zweier Prinzipien verfolgt, die den Prädikaten vergangener Wissenschaft Extensionen zuweisen — Prinzipien, deren Anwendung es zwar den Realisten ermöglicht, Putnams Metainduktion zu entgehen, in der Wissenschaftsgeschichte jedoch ein Wachstum aufzeigen würde, das weit von seiner „Konvergenz" der Erkenntnis abweicht. Die zweite und anspruchsvollere dieser Absichten ist die folgende. In den Abschnitten III und IV skizziere ich eine Auffassung des Gegenstandsbezugs und behaupte, daß meine zwei Prinzipien für die Extensionszuweisung angenommen werden müssen, wollen wir den Gegenstandsbezug nicht als unerklärbar erscheinen lassen. Im Abschnitt V versuche ich das Bild des Wachstums menschlicher Erkenntnis darzulegen, das sich aufgrund meiner Prinzipien ergibt. 2

Wie Hartry Field in „Theory Change and Indeterminacy of Reference", Journal of Philosophy 70 (1973), 4 6 2 - 8 1 , zeigt, gibt es allerdings Fälle, in denen das Prinzip uns anscheinend vor eine willkürliche Entscheidung stellt. Kommt Newtons Begriff „Masse" derselbe Bezugsgegenstand zu wie dem Begriff der „relativistischen Masse" der speziellen Relativitätstheorie (d. h. gesamte Energie/c2) oder wie jenem der „eigentlichen Masse" (d. h. gesamte nicht-kinetische Energie/c2)?

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II Als Einleitung in die hauptsächlich konstruktiven Argumente dieses Aufsatzes seien einige anscheinend seltsame Folgen der Anwendung des PZ erwähnt. Denken wir an die Chemie im England von 1800 und betrachten wir die Prädikate ,— ist ein Oxid',,— ist eine Säure',,— ist ein Muriat' und , — ist Phlogiston'. Wenden wir das PZ an, können wir wohl sagen, daß die Prädikate , — ist ein Oxid' und, — ist eine Säure' dieselben Extensionen wie unsere heutigen Prädikate ,— ist ein Oxid' und ,— ist eine Säure' haben, daß das Prädikat, — ist ein Muriat' dieselbe Extension wie das heutige , — ist ein Chlorid' besitzt, und das ,— Phlogiston' eine leere Denotation besitzt. Betrachten wir nun die Berichte eines Chemikers der georginischen Epoche über zwei alltägliche Beobachtungen im Labor: BB1 „Bei der Lösung von Bleichpulver in Wasser wurde nach Erhitzen die Bildung von Salzsäureoxid beobachtet". B B 2 „Bei der Mischung von konzentrierter Vitriolsäure mit Zinkkristallen wurde die Bildung von Phlogiston beobachtet". In beiden Fällen ist klar, was beobachtet wurde, worum es sich im Bericht also handelt. Im ersten Fall ist es die Bildung von Chlorgas beim Erhitzen einer Lösung von Bleichpulver; im zweiten ist es die Bildung von Wasserstoff bei der Mischung von Schwefelsäure mit Zinkkristallen 3 . Aber in beiden Fällen müssen wir offensichtlich bestreiten, daß die angebotene Beschreibung auf das beobachtete Ereignis paßt. Aufgrund des PZ sind , — ist ein Salzsäureoxid' und , — ist chloride Säure' nämlich extensionsgleich, und ,— ist Phlogiston' besitzt überhaupt keine Extension. Die erste Beschreibung bezieht sich also auf Ereignisse, die sich in ihrer Art ziemlich vom beobachteten Ereignis unterscheiden, und die zweite Beschreibung bezieht sich auf überhaupt keine Ereignisse. Chemische Beispiele wurden hier nur der Einfachheit der Darstellung wegen herangezogen. Ähnliche Folgen ergeben sich zum Beispiel, wenn wir die Extension unseres Prädikats , — ist ein Gen' mit jener des Prädikats , — ist ein Gen' wie es etwa von der klassischen Genetik um 1920 verstanden wurde, gleichsetzen, oder wenn wir die Extension unseres Prädikats ,— ist ein Magnet' mit jener Gilberts gleichsetzen. Beide Fälle weisen 3

Vgl. M. B. Hesse, „Truth and the Growth of Scientific Knowledge" (im Erscheinen). Weitere chemische Beispiele sind M. P. Croslands faszinierendem Werk Historical Studies in the Language of Chemistry (London, 1962) zu entnehmen.

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dasselbe Muster auf. Das PZ verpflichtet uns, die Extension eines Prädikats , — ist