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German Pages 435 [436] Year 1999
Jürgen Straub Handlung, Interpretation, Kritik
1749
I
1999
?
Perspektiven der Humanwissenschaften Phänomenologisch-psychologische Forschungen Herausgegeben von
C. F. Graumann M. Herzog A. Metraux Band 18
w DE
_G 1999
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Jürgen Straub
Handlung, Interpretation, Kritik Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie
W DE
_G 1999
Walter de Gruyter • Berlin • New York
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Straub, Jürgen: Handlung, Interpretation, Kritik : Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie / Jürgen Straub. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Perspektiven der Humanwissenschaften ; Bd. 18) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Habil.-Schr., 1994 ISBN 3-11-016320-9
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: WB-Druck GmbH, Rieden Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer-GmbH, 10963 Berlin
Fiir Barbara Henry
Vorwort
Das vorliegende Buch beruht auf einer im Juli 1994 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Habilitationsschrift. Nach Abschluß des Habilitationsverfahrens ruhte die Arbeit an diesem Text eine ganze Weile. Eine unerwartete Einladung, ab Oktober 1994 ein Jahr lang als „Fellow" am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld tätig sein zu können, änderte die bis dahin gefaßten Pläne tiefgreifend. Das Vorhaben, die Habilitationsschrift zügig in eine publikationsreife Fassung zu bringen, geriet im Dickicht der neu entstehenden Interessen und Verpflichtungen schnell in den Hintergrund. Der Versuch, die Grundlagen einer textwissenschaftlichen, interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie zu klären, wurde erst nach einer gehörigen Abschweifung, die mich in das Brachland einer theoretischen und empirischen Psychologie des Geschichtsbewußtseins und anderer Modi historischer Sinnbildung führte, wieder aufgenommen. Der dem Buch zugrundeliegende Text wurde gekürzt und stilistisch überarbeitet. Die Linie der Darstellung und der Gang der Argumentation blieben im wesentlichen erhalten. Nur selten wurden kleinere Änderungen in der Sache vorgenommen. Ein langes Kapitel, in dem ich mich mit Norbert Groebens verstehend-erklärender Psychologie, speziell mit seiner Handlungstheorie und dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien auseinandersetze, wurde gestrichen. Es soll 1999 als eigenständiges Buch erscheinen. Literatur, die seit dem Spätsommer 1994 erschienen ist, habe ich allenfalls sporadisch berücksichtigt. Überhaupt erhebe ich keineswegs den Anspruch, die für mein Thema bedeutenden Arbeiten alle berücksichtigt zu haben. Dieses Ansinnen wäre ohnehin vermessen. Es ging mir nicht um ein handlungsund interpretationstheoretisches Panoptikum mit enzyklopädischem Anspruch, sondern darum, bestimmte Positionen und Argumente vorzutragen und stark zu machen. Damit verband und verbinde ich nach wie vor die Hoffnung, der interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie einen gangbaren Weg zu ebnen. Dieser Weg ist reich an Seitenpfaden, die keineswegs immer als Abwege angesehen werden müssen. Häufig fuhren sie vom Hauptweg ab und zu ihm zurück, wie es sich für Seitenpfade ja gehört. Weder der Hauptweg noch die Seitenpfade werden im folgenden vollständig erkundet. Der Versuch, Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie vorzustellen, ist als Grundlegung einer bestimmten Form wissenschaftlicher Psychologie ein erster Anfang und nicht ein letztes Wort.
VIII
Vorwort
Dieser Anfang hat natürlich seine Vorgeschichte. Er ist keine creatio ex nihilo, sondern eher ein Neubeginn, ein Anfang also, dem zahlreiche Bemühungen um die gleiche Sache vorangingen. Einige dieser Anstrengungen wurden in meiner unmittelbaren Nähe unternommen. Am Lehrstuhl meines ehemaligen Lehrers, heutigen Kollegen und Freundes Hans Werbik haben Debatten über die Handlungstheorie und Kulturpsychologie eine bereits jahrzehntelange Tradition. Methodologische und methodische Fragen, auf die jede Konzeption interpretativer Forschung Antworten geben muß, standen dabei stets mit im Zentrum der ebenso freundschaftlichen wie ertragreichen Auseinandersetzungen, die ich vor und während der Arbeit an meiner Habilitationsschrift vor allem mit Elfriede Billmann-Mahecha und Ulrike Popp-Baier führte. Herzlich danken möchte ich erneut Gisela Schulz und Heidemarie Sörgel-Reichmann, die mir im Sekretariat sehr häufig mit Rat und Tat zur Seite standen. Die letztgenannte hat auch das Manuskript in Form gebracht. Ohne diese unschätzbare Hilfe wäre manches zäher verlaufen. Dasselbe gilt für die Unterstützung bei Literaturrecherchen und anderen Tätigkeiten, die mir Monika Wallert, zuverlässig und liebenswürdig wie immer, gewährt hat. Carlos Kölbl, Hartmut Seitz und Arne Weidemann bin ich sehr dafür verbunden, daß sie das Manuskript sorgfaltig gelesen und von zahlreichen Druckfehlern befreit haben. Für die kritische Lektüre der umfangreichen Arbeit danke ich neben Hans Werbik auch Andrea Abele-Brehm, Lutz Eckensberger, Hans Joas und Alexandre Metraux. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß scharfsinnige Leserinnen und Leser wie die genannten nach wie vor allzu viele Unzulänglichkeiten entdecken werden. Wenigstens ein paar habe ich durch ihre Anregungen und Hinweise, so ist zu wünschen, vermeiden können. Carl Friedrich Graumann, Max Herzog und noch einmal Alexandre Metraux danke ich für die Aufnahme des Buches in die von ihnen herausgegebene Reihe „Perspektiven der Humanwissenschaften". Ich tue dies in der Hoffnung, die Leserschaft möge im vorliegenden Band tatsächlich solche Perspektiven ausmachen und aussichtsreich finden. Alexander Kochinka begleitet meine wissenschaftlichen Bemühungen seit langem mit kritischem Geist, und er hat nicht zuletzt dann, wenn wir die Wissenschaft Wissenschaft sein ließen, das Seine zu einer für mich erfüllten Zeit beigetragen. Letzteres gilt für viele andere Freundinnen und Freunde, an die ich denke, ohne ihre Namen zu schreiben. Und es gilt für Alessio, der bislang noch gar nicht anders kann, als die Wissenschaft Wissenschaft sein zu lassen, und der dennoch Einsichten vermittelt, die man bei Gebildeten, erst recht bei Gelehrten, meistens vergeblich sucht. Denn wo fände man in den frühen Morgenstunden, gar unmittelbar nach dem Aufwachen, an Universitäten beispielsweise ein Lachen, das einem blitzartig aufgehen läßt, was ein Moment versprechen, ein Tag sein kann? Barbara Henry ist das Buch gewidmet. Sie hat die Arbeit an diesem Text gefördert und leichter gemacht. Thomas Bernhard würde wohl sagen, ich hätte das Buch einem „Lebensmenschen" zugeeignet. Erlangen, im Winter 1997 und Frühjahr 1998
J.S
Inhaltsverzeichnis
Einleitung und Programm
1
I.
7
Handlung
1. Handlungspsychologie: Historische Reminiszenzen, Ausblick 2. Fundamentale Unterscheidungen 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Verhalten und Handeln Handlung, Autonomie, Verantwortung Handlungen als Deutungs-oder Interpretationskonstrukte Gibt es eine biochemische Handlungssprache? Handlung und Körperbewegung Internale und externale Handlungen sowie weitere Unterscheidungen 2.7 Sprechhandlungen
3. Praktische und pathische Aspekte der Existenz 3.1 Widerfahrnisse 3.2 Gefühle 3.3 Zusammenfassung wichtiger Grundbegriffe, Ausblick 4. Handlungstypologie 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2
Ausgangspunkt und Zielsetzung Ausgewählte klassische und neuere Ansätze Ein Blick in die Soziologie: Max Webers Typologie Handlungstypologien in der Psychologie Traditionelle Grenzen und Befangenheiten Vielfalt und Ordnung des Handelns: von Cranachs Typologie Handeln und Argumentieren: Aschenbachs Typologie 4.3 Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung: eine integrative Typologie 4.3.1 Leitlinien der Typenbildung 4.3.2 Wissenschaftliche Erklärung oder Erklärungsformen?
7 10 10 16 19 25 28 30 34 41 41 43 54 56 56 63 63 75
96 96 98
Inhaltsverzeichnis 4.3.3 Zielorientiertes Handeln und das teleologische Modell der Handlungserklärung 4.3.4 Regelgeleitetes Handeln und das regelbezogene Modell der Handlungserklärung Zur Diagnose eines Forschungsdesiderats Die Wissenschaften vom Sozialen in der Sicht Peter Winchs Differenzierungen Normen und normenregulierte Handlungen 4.3.5 Das narrative Modell Handeln als Geschichte, Handeln in Geschichten Die Kreativität des Handelns 5. Handlung und Kultur 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
II.
Von der Handlungstheorie zur Kulturpsychologie Zur Renaissance der Kulturpsychologie und des Kulturbegriffs Kulturpsychologie und transkulturelle kulturvergleichende Psychologie Kulturpsychologie als Perspektive interpretativer Forschung Kultur als diskursiver Tatbestand
Interpretation
1. Interpretation: allgemeine Basisoperationen 1.1 1.2 1.3
Einleitende Hinweise Interpretation: erste Bestimmungen einer unerläßlichen Aktivität Interpretieren im Zeichen bestimmender und reflektierender Vernunft
2. Sprache, Text, Interpretation 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Erste Bestimmungen und Unterscheidungen Zur Kritik radikal dekonstruktivistischer Ansätze Intentio auctoris, intentio operis, intentio lectoris Interpretation und die intentio auctoris: Hirschs Theorie Interpretation und die intentio operis: Gadamers Hermeneutik 2.5.1 Erste Standortbestimmung, zweierlei Begriffe des Verstehens 2.5.2 Verstehen und Methode
102 113
141
162 162 167 170 181 186
201 201 201 205 211
226 226 228 236 239 250 250 254
Inhaltsverzeichnis 2.5.3 Verstehen und Vorverständnis 2.5.4 Verstehen als Geschehen und die sprachontologische Begründung 2.5.5 Einrücken in Tradition und Sprache - aber in welche? Horizontverschmelzung und Wahrheitssynthesis 2.5.6 Die intentio operis und das wahrheitsorientierte Verstehen: weiterfuhrende Überlegungen 2.5.7 Das vergessene Subjekt: Übergang zur Tiefenhermeneutik 2.6 Interpretation und die intentio lectoris: Psychoanalyse als Tiefenhermeneutik von Text-Leser-Interaktionen 2.6.1 Elementare Bedingungen und Merkmale 2.6.2 Psychoanalytische Literaturinterpretation: Ausgangspunkt und Abweg 2.6.3 Vom therapeutischen Setting zum Text 2.6.4 Text-Leser-Interaktion und tiefenhermeneutische Interpretation: Ansatzpunkt und Zielsetzung 2.6.5 Sozialisationstheoretische Grundlagen 2.6.6 Kunst, Alltag und der ubiquitäre Charakter präsentativer Symbolik 2.6.7 Szenisches Verstehen 2.6.8 Subjektivität und Interpretationsgruppe 2.6.9 Kritische Schlußnotiz
III.
Kritik
XI 257 267 270 277 279 280 280 282 286 288 300 308 311 322 323
327
1. Interpretation und Stellungnahme
327
2. Die Operation des Vergleichens: Angleichen oder Fremdverstehen
331
3. Interpretation und Verstehen als Kritik von Geltungsansprüchen
342
4. Verstehen und Anerkennung
350
Literaturverzeichnis
361
Personenverzeichnis
403
Sachwortverzeichnis
409
Einleitung und Programm
„Human conduct is a text and the interrelationships among its parts are semantic rather than causal. " (Rom Harre)
Handlungstheoretische Diskurse und interpretative Forschungen gehören in der zeitgenössischen Psychologie keineswegs zwangsläufig zusammen. Nach wie vor tut sich diese Disziplin schwer damit, den Sinn- oder Bedeutungsbegriff als einen Grundbegriff anzuerkennen. Es ist zwar mehr oder weniger üblich geworden, von der Sinn- oder Bedeutungsstruktur des Handelns und seiner vielfaltigen Objektivationen zu sprechen. Theoretische und methodologische Überlegungen, die auf genauere Klärungen dieser Redeweise abzielen, sind in der Psychologie aber nur selten zu finden. Auch wenn die Psychologie immer häufiger als eine Wissenschaft konzeptualisiert wird, die sich mit der sinn- und bedeutungsstrukturierten Praxis zu befassen hat, werden die naheliegenden Konsequenzen dieser theoriestrategisch höchst wichtigen Entscheidung selten in der gebührenden Radikalität gezogen. Wer von sinn- und bedeutungsstrukturierten Handlungen spricht, kommt nach der hier vertretenen Auffassung nicht darum herum, Deutungen und Interpretationen als den Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung anzuerkennen. Wird die Psychologie konsequent handlungstheoretisch angelegt, ist der Weg zu einer Methodologie, Methodik und schließlich zur Praxis interpretativer Forschung nicht mehr weit. Dies wurde in jüngerer Zeit etwa von Bruner (1990) eindrucksvoll dargelegt. Bruner versteht seine aktuellen Arbeiten als späte Korrekturen der bald schon von ihren ursprünglichen Zielsetzungen abgedrifteten ,.kognitiven Wende" in der Psychologie. Bruner, der selbst zu den Initiatoren der cognitive revolution gehörte, knüpft an verschüttete Anliegen und verpaßte Chancen an, die zumindest manche Wegbereiter einst mit dieser Wende verbanden. Diese wollten, wie der Autor in seinem Rückblick auf die späten fünfziger Jahre berichtet, nicht bloß eine mentalistische Anreicherung des Behaviorismus, wie sie einst bereits Tolman versucht hatte - „to little avail" (ebd., 2). Angestrebt wurden vielmehr tiefergehende Umwälzungen des psychologischen Denkens, die den Weg freimachen sollten für eine gründliche Untersuchung der „meanings that human beings created out of their encounters with the world, and then to propose hypotheses about what meaning-making processes were implicated. It [die kognitive Wende, J.S.] focused upon the symbolic activities that human beings employed in constructing and in making sense not only of the world, but of themselves" (ebd., 2). Diese Zielsetzungen verschwanden bald schon unter der
2
Einleitung und Programm
szientistischen Oberfläche des kognitivistischen computationalism.' Die von Bruner herausgestellte Tendenz vieler Vertreter der kognitiven Psychologie, die zentralen theoretischen Konzepte der „mentalen Repräsentation" und der „Regel" eng an das technologische Vorbild des Computers anzubinden, bietet seit längerem Anlaß zu Kritik. Durch diese Anbindung werden Fragen der Sinnund Bedeutungskonstitution systematisch verkürzt. So formulieren etwa Costall und Still (1991, 2) in ihrer Aufzählung wesentlicher Schwierigkeiten der kognitivistischen Psychologie: „Most generally, there is the problem of meaning-, how do symbolic representations attain their semantic status?"2 Es ist offenkundig, daß viele Befürworter der handlungstheoretischen Umorientierung in der Psychologie von Anfang an jene Ziele verfolgten, von denen Bruner im Rückblick auf die kognitive Wende spricht. Damit sind die Beziehungen zwischen kognitiver Psychologie und Handlungspsychologie längst nicht erschöpft. Nicht zuletzt liegt der Verdacht nahe, daß den acts of meaning im Rahmen psychologischer Handlungstheorien vielfach ein ähnliches Schicksal beschert wurde wie in der kognitiven Psychologie. Dem versucht die vorliegende Arbeit entgegenzutreten. Im folgenden soll gezeigt werden, wie eng der Begriff der Handlung mit demjenigen der Interpretation verschwistert ist. Im gleichen Atemzug wird erörtert, welche Folgerungen die Handlungspsychologie aus der Einsicht in diese Verwandtschaft ziehen könnte. Die vorzutragenden Überlegungen führen insgesamt zur Konzeption einer Handlungs- und Kulturpsychologie, die mit der interpretativen Analyse von Texten befaßt ist. Die Texte, an die dabei vornehmlich gedacht ist, sind solche, in denen Personen ihr jeweiliges Selbst- und Weltverhältnis zur Sprache bringen und reflektieren. Beispielsweise können Transkriptionen von elektroakustisch aufgezeichneten Interviews oder Gruppendiskussionen genannt werden. In solchen Transkripten ist von Handlungen und selbstverständlich von anderen Aspekten lebenspraktischer Erfahrungen und Erwartungen die Rede. Die textwissenschaftliche Ausrichtung der vorliegenden Arbeit schließt andere Orientierungen nicht aus. So könnten textwissenschaftliche Analysen, wie Soeffner vorschlägt, von Milieudeskriptionen unterschieden werden. Während erstere die schriftliche Fixierung von Lebensäußerungen zur unabdingba-
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Ähnlich sieht dies Shweder, wenn er auf die historischen und systematischen Hintergründe der von ihm vertretenen interpretativen (Handlungs- und) Kulturpsychologie zu sprechen kommt. Auch ihm geht es um „one of the pitfalls of the 'cognitive revolution' of the 1960s, the failure of the cognitive revolution to develop an adequate theory of the 'person', because of the prevailing Platonism implicit in its scientific agenda" (Shweder, 1990, 1).
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Der soeben zitierte, seinerseits umstrittene Sammelband gibt insgesamt einen informativen Überblick über die einschlägigen Argumente (vgl. auch Costall & Still, 1987). Im Zentrum der Debatte stehen neben dem genannten Einwand drei weitere Probleme: der Solipsismus kognitivistischer Ansätze, die nicht befriedigend gelösten Fragen nach der Möglichkeit der Entwicklung formaler kognitiver Strukturen und Regeln sowie nach deren Relevanz in bestimmten Situationen.
Einleitung und Programm
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ren Voraussetzung der methodischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung machen, verzichten Milieudeskriptionen auf diese Bedingung. Sie richten ihr Augenmerk gerade darauf, „wie soziale Milieus in einem weitgehend nichtsprachlichen Modus produziert und reproduziert sind. Die Textanalyse begrenzt demgegenüber den zu untersuchenden 'Fall' ganz bewußt auf einen vorliegenden Text. Hier ist ausschließlich der Text der Fall, während ein Fall in seinem Interaktions- und Milieunetz nicht ausschließlich Text ist" (Soeffner, 1989b, 78; vgl. auch 1989a, 1989c). Soeffner macht darauf aufmerksam, daß die akzentuierende Unterscheidung dieser Ansätze zahlreiche Berührungs- und Überschneidungspunkte nicht ausschließt. Gleichwohl ist es so, daß sich in der Theorie, Methodologie und Methodik von Textanalysen einerseits, Milieuanalysen andererseits doch so viel ändert, daß es nicht geraten scheint, unterschiedslos von interpretativer Forschung zu reden. Am Anfang der vorliegenden Untersuchungen steht eine ausfuhrliche Klärung des Handlungsbegriffs und der handlungstheoretischen Grundlagen psychologischen Denkens und Forschens. Wesentliche Stationen dieses ersten Teils sind die folgenden: Zunächst werden einige deflatorische Bestimmungen angeführt, wie sie in handlungspsychologischen Diskursen üblich sind. Die Auseinandersetzung mit Lenks konstituenten- und beschreibungstheoretischer Analyse des Handlungsbegriffs fuhrt sodann zu einer revidierten Fassung der einflußreichen Formel, nach der Handlungen als Deutungs- oder Interpretationskonstrukte aufzufassen sind. Im Anschluß an Boesch werden einige weitere Bestimmungen des Handlungsbegriffs vorgenommen. In den nächsten Kapiteln wird das handlungstheoretische Vokabular so erweitert, daß auch Widerfahrnisse und Gefühle ihren Platz in der Handlungspsychologie erhalten. Was die Analyse von Gefühlen betrifft, liefert Lauckens innovativer Ansatz wesentliche Anregungen. Dessen Überlegungen zu verschiedenen Denkformen der Psychologie dienen nicht zuletzt dazu, die Handlungspsychologie im Rahmen verweisungsanalytischen Denkens zu plazieren. Insgesamt liegt ein Schwerpunkt des ersten Teils („Handlung") nicht nur darauf, die handlungstheoretisch orientierte Psychologie von Anfang an als eine interpretative Wissenschaft zu konzeptualisieren, sondern ihr auch begriffliche Unterscheidungen zur Verfügung zu stellen, die die Enge des dominierenden, oftmals rationalistischen Modells ziel- oder zweckgerichteten Handelns zu überwinden gestatten. Ein Hauptziel des ersten Teils besteht in der Entwicklung einer Typologie, in der Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung voneinander unterschieden werden. Diese Überlegungen knüpfen kritisch an klassische Vorläufer an, namentlich an Webers berühmten Versuch. Aus der zeitgenössischen Psychologie werden von Cranachs und Aschenbachs Bemühungen um die Konstruktion einer Handlungstypologie diskutiert. Die systematische Bestimmung von Handlungstypen und von Typen der interpretativen Handlungserklärung stützt sich sodann auf verschiedene richtungsweisende Beiträge. Was das intentionalistische oder teleologische Modell betrifft, sind die bekannten Überlegungen von Wrights maßgeblich. Der Blick auf das regelgeleitete Handeln setzt zunächst an Winchs Analysen an, deren Reichweite jedoch in verschiedenen Hinsichten überschritten wird. Korthals-Beyerleins Untersuchungen
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Einleitung und Programm
des Konzepts der sozialen Norm wird dabei eine wesentliche Funktion zukommen. Von ebenso großer Bedeutung wie das intentionalistische sowie das regelorientierte Handlungsmodell ist das narrative Modell der Handlungsbeschreibung und Handlungserklärung. Dieses wird in der Auseinandersetzung mit Überlegungen Schwemmers und vor allem mit Dantos klassischen Beiträgen entfaltet. Die Entwicklung der Handlungstypologie wird nicht zuletzt eine Relativierung des rationalistischen Konstruktionsprinzips mit sich bringen, wie es vielen psychologischen Handlungstheorien zugrunde liegt. Zu dieser Relativierung zwingen Reflexionen auf die geschichtlich-temporale Struktur des Handelns und, wie im Anschluß an neuere Arbeiten von Joas und Waidenfels gezeigt wird, auf die Kreativität des Handelns. Am Ende des ersten Teils wird der Übergang von handlungstheoretischen zu kulturpsychologischen Überlegungen vollzogen. Die Ausführungen zur Kulturpsychologie sondieren zunächst einmal einen Forschungsbereich, der gerade in jüngerer Zeit einen unerwarteten Aufschwung erfahren hat. Die enge Verknüpfung handlungs- und kulturpsychologischen Denkens ist für verschiedene Ansätze bezeichnend. Boesch, Eckensberger oder Werbik stimmen in ihren Plädoyers für die besagte Verbindung seit längerem überein. Bruner läßt sich in diesem Kontext erneut nennen. Auch dessen Überlegungen zeigen, daß der theoretischen Akzentuierung des sinn- und bedeutungsstrukturierten Handelns die Betonung der konstitutiven Rolle der Kultur auf dem Fuß folgt. Im zweiten Teil („Interpretation") werden theoretische und methodologische Überlegungen zur Interpretation von Texten der besagten Art vorgetragen. Zunächst wird ein allgemeines Modell der formulierenden und vergleichenden Interpretation präsentiert, in dem die auf Kant zurückgehende Unterscheidung zwischen bestimmenden und reflektierenden Formen der Urteilskraft eine zentrale Rolle einnimmt. Diese Überlegungen können insgesamt als eine theoretisch-methodologische Rekonstruktion komparativer Analysen aufgefaßt werden, die beispielsweise in den einschlägigen Arbeiten von Glaser und Strauss im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Interpretieren ist, wie ausgeführt wird, im wesentlichen Vergleichen, und die Durchführung von Vergleichen ist an den Gebrauch bestimmender und reflektierender Formen der Vernunft gekoppelt. Im Anschluß an die Entwicklung dieses Modells werden speziellere bedeutungs- und texttheoretische Überlegungen angestellt. Mit Eco wird zwischen drei möglichen Ansatzpunkten unterschieden, die den Rahmen für interpretative Analysen bilden können. Neben der intentio auctoris und der intentio operis kann die intentio lectoris den maßgeblichen Bezugspunkt interpretativer Textanalysen abgeben. Diese Wahlmöglichkeit eröffnet ein vielfältiges Spektrum theoretischer Perspektiven für die interpretative Analyse textuell repräsentierter Handlungen und Widerfahrnisse, Erfahrungen und Erwartungen. Diese theoretisch fundierten Sichtweisen müssen zwar als Konkurrenten aufgefaßt werden, die sich kritisch zueinander verhalten. Als Positionen, die einander strikt ausschließen, brauchen alternative Theorien der Interpretation aber nicht unbedingt angesehen werden. Entsprechend kann auch die Psychologie ver-
Einleitung und Programm
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schiedene, einander ergänzende Wege interpretativer Erkenntnisbildung beschreiten. Die Vielfalt jener Praxis der Deutung und Interpretation, in der Erfahrungen und Erkenntnisse gebildet und revidiert werden, findet ihren angemessenen theoretischen Ausdruck nicht in einem Dogma. Die Entwicklung einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie ist vielmehr auf einen theoretischen und methodologischen Diskurs angewiesen, der mit der Festlegung einer einzig und allein zulässigen Methode nichts im Sinn hat. Im Vorwort zu einer Apologie der literarischen Hermeneutik (und anderen Abhandlungen) schreibt Jauß einen Satz, von dem man sich wünscht, er möge die Grenzen der Literaturwissenschaft überschreiten und nicht zuletzt in der Psychologie Gehör finden: Verstehen, so heißt es dort, müsse „nicht auf einem einzigen, für alle verbindlichen Weg gesucht werden", sondern könne „auf verschiedenen Wegen erreicht werden" (Jauß, 1994, 8). Mit diesem Wort ad dogmáticos wendet sich der Autor nicht zuletzt gegen jede Konzeption eines vorgegebenen, als unveränderliche Substanz gedachten Sinnes, und er distanziert sich von allen Bestrebungen, interpretative Erkenntnisbildung zu vereinheitlichen, in ihren Ergebnissen zu vereindeutigen und definitiv abschließen zu wollen. Auch in der vorliegenden Arbeit werden solche Ansinnen zurückgewiesen. Die Pluralisierung theoretisch explizierbarer Wege und die Offenheit interpretativer Erkenntnisbildung dürfen freilich weder mit mangelnder methodischer Strenge noch mit einem Votum für Beliebigkeit verwechselt werden, als sei im Feld einer interpretativen Psychologie alles möglich und gutzuheißen. Das Gegenteil ist der Fall. Allen hier interessierenden Interpretationstheorien ist gemeinsam, daß sie - im Gegensatz zu manchen „postmodernen" oder „dekonstruktivistischen" Text- und Bedeutungstheorien - Grenzen der Interpretation akzeptieren. Interpretieren ist eine methodisch limitierte Aktivität. Auch wenn die Offenheit und prinzipielle Unabschließbarkeit interpretativer Konstruktionen anerkannt werden, ist nicht schon alles und jedes gestattet und sinnvoll. Im einzelnen werden drei mögliche und in ihrer Art exemplarische Interpretationstheorien vorgestellt, von denen die Handlungs- und Kulturpsychologie gleichermaßen profitieren kann. Hirschs Formulierung bestimmter Prinzipien der Interpretation liefert den Bezugspunkt für die Diskussion von Ansätzen, die auf die Identifikation der intentio auctoris abzielen und die Sinn- und Bedeutungsgehalte eines Textes an dieser Intention festmachen. Groebens Handlungspsychologie etwa läßt sich unschwer in diesem bedeutungs- und interpretationstheoretischen Rahmen verorten. Die Auseinandersetzung mit Gadamers philosophischer Hermeneutik führt Möglichkeiten und Grenzen eines Ansatzes vor Augen, der letztlich die intentio operis ins Zentrum der hermeneutischen Bemühungen stellt. Schließlich wird Lorenzers Konzeption der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse als Konkretisierung eines rezeptionstheoretischen Ansatzes erörtert, der Interpretationen an die intentio lectoris beziehungsweise an die Analyse von Text-Leser-Interaktionen knüpft. Der dritte Teil der Arbeit („Kritik") nimmt ein Problem auf, das an verschiedenen Stellen bereits gestreift wurde. Etwas ausführlicher wird nun die
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Einleitung und Programm
Frage behandelt, ob und in welcher Weise Interpretationen mit der Kritik des Interpretandums einhergehen können (oder gar müssen). Kritik erweist sich am Ende als ein heikles und gleichwohl unerläßliches Unternehmen. Dies wird in der Auseinandersetzung mit Matthes' Überlegungen zur Operation des Vergleichens einerseits, mit Habermas' Analyse der Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften andererseits dargelegt. Kritik läßt sich in der spannungsreichen Mitte zwischen zwei Polen ansiedeln. Auf der einen Seite steht die überhebliche Angleichung des Interpretandums an die Selbst- und Weltauffassung des Interpreten, jener bedenkliche Akt also, der bisweilen als machtorientierte Nostrifizierung des Fremden begriffen wird. Bezeichnenderweise geht diese nostrifizierende Angleichung des Fremden häufig mit dessen Abwertung einher. Das dem Eigenen ähnlich oder gleich scheinende andere erweist sich, im „Vergleich" mit diesem, schnell als defizitär oder rückständig. Nicht zuletzt die moderne Psychologie argumentiert bisweilen noch heute ganz in diesem Sinne, sobald sie sich unreflektiert den Werten, Normen und Maßstäben der Kultur, in der sie entwickelt wurde, verschrieben hat. Eine derartig nostrifizierende „Kritik" paßt gewiß nicht recht zu einer Wissenschaft, für die Unvoreingenommenheit das vielleicht wichtigste Prinzip der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung darstellt. Zu begreifen, was alles möglich und wirklich ist, ist die erste Aufgabe auch dieser Disziplin. Dagegen sollte sie sich davor hüten, im Namen einer vermeintlich rationalen Aufklärung und Kritik eigene Voreinstellungen und Vorurteile durchzusetzen. Wissenschaftliches Fremdverstehen steht, recht besehen, nicht im Dienste der Selbstbehauptung. Eher schon erweitert es die Möglichkeiten einer Selbstbestimmung, die unweigerlich an Selbstkritik gebunden ist. Auf der anderen Seite lauert das Risiko der Selbstverleugnung des Interpreten und vor allem die Illusion, es sei möglich, das Interpretandum auch nur zu identifizieren und zu beschreiben, ohne an seiner Konstitution beteiligt zu sein. Letztendlich ist es wohl doch so, daß kaum eine Interpretation ohne Stellungnahme auskommt, ohne zumindest implizite Beurteilung dessen, was der Interpret durch den anderen oder Fremden in Erfahrung bringt. Es gibt auch in der Wissenschaft keine völlige Neutralität. Es gibt keine absolute Zurückhaltung, als sei es den Forschenden möglich, bloße Spiegel der soziokulturellen Welt zu sein. Jede Erfahrungs- und Erkenntnisbildung setzt beim Erkenntnissubjekt kognitive und normative Strukturen voraus, die sich zwar verleugnen, aber nicht zum Verschwinden bringen lassen. Auch jede empirische Erkenntnis ist nicht zuletzt eine Antwort auf das in Erfahrung Gebrachte. Jede Antwort beinhaltet Zustimmung oder Widerspruch, Affirmation oder Kritik. Was dies für die Handlungs- und Kulturpsychologie bedeutet, erörtere ich ganz am Ende meiner Ausführungen. Dabei wird das Problem der Anerkennung, das in jüngerer Zeit beispielsweise von Taylor untersucht wurde, eine entscheidende Rolle spielen. Die Problematik der Interpretation in der Handlungs- und Kulturpsychologie ist mit der Frage der Anerkennung von anderen unauflöslich verquickt.
I. Handlung 1. Handlungspsychologie: Historische Reminiszenzen, Ausblick Auf die Begriffe „Handeln" oder „Handlung" stößt man in der zeitgenössischen Psychologie sehr häufig. Handlungspsychologische Termini, Theorieskizzen und Forschungsprogramme sind in allen Teilgebieten der wissenschaftlichen Psychologie anzutreffen (von Cranach & Tschan, 1997). Dies war bekanntlich nicht immer so. Im Unterschied zu anderen Disziplinen hat die Handlungstheorie in der modernen Psychologie des 19. und 20. Jahrhunderts keine ausgeprägte Tradition. Es gibt in der Psychologie keine „klassischen" Handlungstheorien, wie sie in der Soziologie in schulebildender Weise zum Beispiel von Max Weber oder Alfred Schütz, George Herbert Mead oder Talcott Parsons ausgearbeitet wurden. In der modernen Psychologie gerieten Spezifika des handlungsfähigen Menschen allenfalls in die Peripherie des Blickfeldes, solange das „Bewußtsein" oder auch das „Unbewußte", das „Erleben" oder „Verhalten" die Aufmerksamkeit der wissenschaftlich Tätigen auf sich zogen. Zweifellos hat die „kognitive Wende" der späten fünfziger und der sechziger Jahre entscheidend zu einer auch für das handlungstheoretische Denken notwendigen Rehabilitierung mentaler Termini beigetragen. Und dennoch brachte diese Umkehr nicht direkt jene Handlungstheorien hervor, wie sie in größerem Ausmaß erst seit den siebziger Jahren entwickelt werden. Im Gegenteil, die kognitive Psychologie marginalisierte durch ihre informationstheoretische und „computationale" Konzeptualisierung des Psychischen, worauf es jeder Handlungstheorie ankommen muß, nämlich auf die von Bruner (1990) zu Recht ins Zentrum gerückten bedeutungsvollen Handlungen. Die schon bald laut gewordene Kritik am „Kognitivismus" bildete einen durchaus wichtigen Nährboden für das neue Interesse an der „Praxis" - einer Praxis, die allerdings auch von Handlungstheoretikern (in ungebrochener kognitivistischer Tradition) zunächst sehr „rationalistisch" aufgefaßt und überdies nur sehr partiell untersucht wurde, nämlich in der Form von zielgerichteten individuellen Handlungen (sozial isolierter Akteure). Dessenungeachtet läßt sich festhalten, daß das handlungstheoretische Denken mittlerweile auch in der Psychologie den ihm gebührenden Rang erobert hat. Anknüpfungspunkte für eine handlungstheoretische Psychologie hat es natürlich stets gegeben. Auch die psychologische Handlungstheorie hat ihre Wurzeln im amerikanischen Pragmatismus. Boesch (1983) verweist in einem Rückblick auf die Entwicklung seines eigenen Ansatzes auf diesen Ursprung. Er erinnert daran, daß die Arbeiten insbesondere von John Dewey und William James erheblichen Einfluß auf das Denken von Pierre Janet sowie Eduard Claparede und damit - indirekt - auch von Jean Piaget ausübten, dessen Psycholo-
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I. Handlung
gie (zumindest teilweise) als Handlungstheorie rekonstruiert werden kann. Boeschs seit Anfang der fünfziger Jahre angestellte Überlegungen zur psychologischen Handlungstheorie stehen, nun durch Piaget vermittelt, ebenfalls noch locker in dieser Traditionslinie. Systematisch ausgearbeitete Bezugnahmen auf die Werke der Pragmatisten finden sich in seiner symbolischen Handlungstheorie und Kulturpsychologie jedoch nicht (Boesch, 1991). Offenkundig sind auch in diesem Fall andere Einflüsse direkter wirksam und prägender gewesen als das spezifisch pragmatistische Denken. Im Unterschied zur Philosophie und Soziologie, wo nach Jahrzehnten der Vernachlässigung pragmatistisches Gedankengut auch im europäischen Raum wieder stärkere Beachtung findet, ist diese Tradition in der Psychologie kaum präsent.1 Dies gilt selbst für jene neueren empirischen Forschungen und Theorieentwicklungen, für die die Handlungsfähigkeit des Menschen fundamental ist. Wie Boesch (1983, 4) feststellt, stützen sich psychologische Handlungstheorien entweder auf kybernetische Modelle oder auf die in marxistischer Tradition stehende Tätigkeitstheorie (einen breiteren Überblick bieten von Cranach & Tschan, 1997). Das Musterbeispiel für eine Theorie des ersten Typs stellt der einflußreiche Entwurf von Miller, Galanter und Pribram (1973) dar. Handlungstheorien des zweiten Typs formulierten Leontjew (1977), Hacker (1986), Volpert (1983) oder Holzkamp (1983). Auch in manchen dieser Theorien finden sich kybernetische Grundgedanken, so daß die getroffene Unterscheidung nicht als völlig trennscharfe Disjunktion aufgefaßt werden darf. Obwohl auf eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Schriften verzichtet wird, ist der Pragmatismus für die folgenden Ausführungen wichtig. Dies betrifft vor allem zwei Aspekte. Im Pragmatismus findet sich nicht bloß ein pointierter Begriff des zielgerichteten Handelns, der die Grenzen der älteren, ganz auf das „Bewußtsein" konzentrierten, introspektiven Psychologie überwinden half, ohne dabei die Irrwege des späteren, auf beobachtbares Verhalten beschränkten Behaviorismus einzuschlagen. Wie vor allem Joas (1992a, 1992b) gezeigt hat, verdanken wir den Pragmatisten nämlich auch ein Denken, das die Kreativität des Handelns in einzigartiger und bis heute unübertroffener Weise in den Vordergrund rückt - und damit den Rahmen aller an den Zielbegriff fixierten Handlungstheorien sprengt. Ich komme auf diesen für die zeitgenössische
Eine knappe, gleichwohl informative Skizze zur soziologischen Rezeption des Denkens von Peirce, James, Dewey und Mead bietet Joas (1992a, 6ff.; vgl. auch Hahn, 1996). Joas spricht von einer „unerhörten Modernität des amerikanischen Pragmatismus", wenn er auf dessen Einfluß nicht zuletzt auf die amerikanische Gegenwartsphilosophie hinweist. Robinson (1992) dagegen kann in der nordamerikanischen Psychologie kaum Arbeiten ausfindig machen, die es rechtfertigten, diese Disziplin in irgendeiner Weise in eine durch das Werk von James mitbegründete Tradition zu stellen. Noch viel mehr als James, dessen Religionspsychologie, Bewußtseins- und Selbsttheorie durchaus einflußreich waren und noch heute Beachtung finden (z. B. Habermas, 1996, 19ff.), oder auch Mead, dessen Arbeiten vor allem in der Sozialpsychologie häufiger erwähnt werden, sind die Beiträge der anderen Pragmatisten in der Tat in Vergessenheit geraten - im angelsächsischen Sprachraum und vor allem in Europa.
1. Handlungspsychologie: Historische Reminiszensen, Ausblick
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Handlungstheorie so wichtigen, gerade in der Psychologie jedoch stark vernachlässigten Aspekt ausfuhrlich zu sprechen (Kap. 4.3.5). Der zweite Gesichtspunkt hat mit epistemologischen und methodologischen Fragen zu tun, an denen keine Handlungstheorie vorbeikommt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Handlungspsychologie eine interpretative Wissenschaft, deren „Logik" der Erkenntnisbildung an den entscheidenden Stellen dem von Peirce explizierten Schema des „abduktiven Schlusses" gleicht (zum Überblick Reichertz, 1993; Kelle, 1996, 143ff.). Wenn im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausführlich vom Interpretieren die Rede sein wird, steht dieses Konzept im Hintergrund - auch wenn es nicht mehr erwähnt wird, da ich der Ansicht bin, daß sich die Praxis der Interpretation noch besser im Rekurs auf Kants (1977) dritte Kritik, die „Kritik der Urteilskraft", als auf Peirce' Bemühungen um einen dritten Weg im Feld der logischen Schlußverfahren klären und auf den Begriff bringen läßt. Die Verwandtschaften zwischen „abduktivem Schluß" und „reflektierendem Urteil" sind jedoch unübersehbar. Wirft man noch einmal einen Blick auf die kurze Geschichte der theoretischen und empirischen Handlungspsychologie, fallt auf, daß Grundfragen einer interpretativen Wissenschaft bislang kaum behandelt wurden. Dies ist, von Ausnahmen wie etwa Bruner oder Werbik abgesehen, nach wie vor so. Deutung und Interpretation gelten gemeinhin als Akte, durch die die erwünschte Eindeutigkeit, Objektivierbarkeit und methodische Kontrollierbarkeit der empirischen Forschung, der Begriffs- und Erkenntnisbildung gefährdet werden. Diese Sorge ist durchaus berechtigt. Nach der hier vertretenen Ansicht kann ihr jedoch nicht dadurch begegnet werden, daß die konstitutive Funktion von Deutungs- und Interpretationsleistungen ignoriert oder marginalisiert wird. Zwar sind gerade die interpretativen Akte, durch die wir aus Geschehnissen, die niemandem etwas sagen und bedeuten, eine sinnstrukturierte Wirklichkeit machen, niemals vollständig methodisch regelbar. Da wir ohne Deutung oder Interpretation aber zu keinerlei Wissen gelangen können, wäre es verfehlt und aussichtslos, die wissenschaftliche Praxis von solchen Akten freihalten zu wollen. Die Aufgabe, vor der die Handlungs- und Kulturpsychologie steht, lautet vielmehr, in den Grenzen des Möglichen methodische Vernunft walten zu lassen. Der vorliegende Entwurf einer typologisch differenzierten Handlungstheorie ist also eng mit der Konzeption einer empirischen Forschung verschwistert, in der via interpretatione Erfahrungen anderer reflektiert und bestimmt werden sollen. Dabei wird ein in den Grundzügen auf Aristoteles zurückgehender Begriff der Erfahrung in Anspruch genommen (Hahn, 1994, 7 8 f f ; Straub, 1989, 199ff.). Damit wird eine neuzeitliche Weichenstellung korrigiert. An die Stelle der in der modernen Psychologie dominierenden Auffassung empirischer Forschung, die die technische Machbarkeit und Kontrollierbarkeit wissenschaftlich verwertbarer „Erfahrungen" hervorhebt, tritt ein Begriff kommunikativer Erfahrungsbildung. Für diese Form der Erfahrungsbildung ist „Offenheit" ein zentrales methodologisches Prinzip. Weder methodische Vorurteile noch Voreingenommenheiten anderer Art helfen, in Erfahrung zu bringen, was den wissenschaftlich Tätigen an der Handlungs- und Lebenswirklichkeit anderer Menschen interessiert.
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Zu den eher hinderlichen Voreinstellungen gehören nicht zuletzt gewisse Vorstellungen vom Handeln, deren Enge und Einseitigkeit die handlungstheoretisch orientierte Psychologie noch heute beherrscht. Wer sich für Handlungen interessiert, verfolgt dieses Interesse auf der Grundlage des Begriffs, den er sich vorher vom Handeln gemacht hat. In der Handlungstheorie nehmen die Diskussionen darüber, was eine Handlung ausmacht, breiten Raum ein. Den Blick auf diese Debatten gerichtet, wird im folgenden ein begrifflicher Rahmen bereitgestellt, der es der Handlungstheorie gestattet, die phänomenale Welt unseres Handelns theoretisch so zu strukturieren und zu differenzieren, daß die psychologische Forschung weder „strukturlos auseinanderläuft" noch allzu einseitig auf einen speziellen Handlungstypus eingeengt wird, der falschlich für das Ganze gehalten wird. Darüber hinaus wird dafür argumentiert, daß auch in der Handlungspsychologie von anderem als bloß vom Handeln die Rede sein muß.2
2. Fundamentale Unterscheidungen 2.1 Verhalten und Handeln Das „ H a n d e l n " w i r ( j j n a n e r Regel als Spezialfall oder als Unterkategorie des Verhaltens aufgefaßt. Diese terminologische Regelung stimmt, insoweit in der alltagsweltlichen Praxis überhaupt von „Handlungen" und „Handeln" die Rede ist, mit der Umgangssprache überein (Kamiah, 1973, 27ff, 49ff.).3 Im Alltag
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Ich nehme Graumanns (1984) Warnung, von einer handlungstheoretischen Grundlegung der Psychologie nicht zu viel zu erwarten, ernst, insofern diese Warnung darauf abzielt, die „psychologische Fragestellung" unter dem neuen Leitbegriff nicht gleich wieder „fatal zu verkürzen". Dies ist in der Tat überall dort geschehen, wo sich die Psychologie in reduktionistischer Weise beispielsweise als „Bewußtseinspsychologie", „Erlebnispsychologie", „Verhaltenspsychologie" oder als „Kognitionspsychologie" verstanden hat - und natürlich auch dort, wo sie zur „Handlungspsychologie" geworden ist. Graumanns Skepsis gegen die geläufige Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten halte ich jedoch für unbegründet, muß sie doch keineswegs zwangsläufig zu „fatalen Verkürzungen der psychologischen Fragestellung" fuhren, sondern kann den Anfang einer (auch methodologisch höchst bedeutsamen) Strukturierung und Differenzierung dieser Fragestellung darstellen (vgl. hierzu die jüngste Debatte, insbesondere etwa Greves [1998] treffenden Kommentar zu einem m.E. ganz in die verkehrte Richtung weisenden Aufsatzes von Rausch [1998]). Der wichtige Punkt scheint mir zu sein, wie diese Unterscheidung gezogen und wie das Unterschiedene jeweils bestimmt wird. Diesbezüglich kann der Handlungspsychologie in der Tat ein „Reduktionismusvorwurf' gemacht werden. Im übrigen wird die Unterscheidung zwischen Verhalten und Handeln auch von einigen phänomenologisch orientierten Wissenschaftlern für produktiv, ja unverzichtbar gehalten (Luckmann, 1992).
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Unter „alltagsweltlicher Praxis" oder „Alltagswelt" verstehe ich fortan, in lockerer Anlehnung an den in der phänomenologischen Soziologie gebräuchlichen Begriff, einen spezifi-
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fragen wir allerdings kaum einmal nach dem „Handeln", sondern üblicherweise danach, was gemacht wurde oder zu tun ist. Eine klare Unterscheidung zwischen Verhalten, Tun und Handeln sowie verwandten Ausdrücken wird in der Umgangssprache jedenfalls nicht befolgt. Die in handlungstheoretischen Diskursen explizierten Unterscheidungen können jedoch als Differenzierungs/wöglichkeiten begriffen werden, die zumindest in Ansätzen schon unsere Umgangssprache bereithält. Die Tatsache, daß Ausdrücke wie „Handeln" und „Handlung" im Alltag keine große Rolle spielen, legt es im übrigen nahe, daß eine theoretische Klärung dieser Begriffe nicht allein durch eine Analyse des alltagsweltlichen Gebrauchs dieser Ausdrücke bewerkstelligt werden kann. Vielmehr muß zu diesem Zweck auch auf das Handlungssw£/efo und dessen (kognitive, moralische, narrative etc.) Kompetenzen Bezug genommen werden (Harras, 1983,11 ff.). In einem begrifflichen, terminologisch anspruchsvollen Sinn ist vom „Handeln" oder von „Handlungen" nur in speziellen Diskursen die Rede, seit langem etwa in der Philosophie und Psychologie oder in juristischen Kontexten. Paradigmatisch und von kaum zu überschätzender Bedeutung für diese Diskurse sind Aristoteles' Ausführungen in der „Nikomachischen Ethik". Eine nach wie vor wichtige Bestimmung des Aristoteles ist die folgende: „Der Ursprung des Handelns - die bewegende, nicht die Zweckursache - ist die Entscheidung (zwischen mehreren Möglichkeiten). Der Ursprung der Entscheidung ist das Streben und eine Reflexion, die den Zweck aufzeigt" (Aristoteles, 1983, [1139a 22-b 5], 155). Aristoteles' handlungstheoretische Begriffsbestimmungen stehen im Kontext von Überlegungen zur philosophischen Anthropologie und Ethik. Sie sind an einen Kontext und ein Ziel gebunden. Dies ist generell so. Der Handlungsbegriff wird stets zu bestimmten Zwecken analysiert und definiert, ist aber zugleich ein sehr abstrakter Begriff - auch wenn er, wie in der zeitgenössischen Psychologie, das wissenschaftliche Interesse an alltags- oder lebensweltlichen Phänomenen anzeigen soll. So dient er ja auch in der vorliegenden Arbeit dem
sehen Sinnbereich der menschlichen Lebenspraxis, der sich unter anderem durch bestimmte Wissensformen und Stile der Wissensbildung auszeichnet. Allerdings soll dieser Sinnbezirk hier nicht so eng bestimmt werden wie bei Schütz (1971a), der Phantasievorstellungen und Einbildungen als einen eigenständigen „Erkenntnisstil" aus dem Bereich des Alltags auslagert. Zudem verweist der hier verwendete Begriff der Alltagswelt nicht bloß auf spezifische Wissensstrukturen und Formen der Wissensbildung, sondern auch auf ein inhaltlich bestimmtes, von Individuum zu Individuum, von Gruppe zu Gruppe variierendes, handlungsrelevantes Wissen und schließlich auf die Praxis selbst. In der vorliegenden Arbeit interessiert dabei lediglich das Verhältnis zwischen Alltagswelt und der Welt der Wissenschaft. Schütz' Ausführungen über die Mannigfaltigkeit der sozialen Wirklichkeit sind differenzierter. Er unterscheidet die Alltagswelt von anderen „sub-universa" (William James) wie etwa verschiedenen Welten der Phantasievorstellungen (Wachträume, Spiele, Fabeln, Dichtung, Märchen, Mythen), der Traumwelt oder eben auch der Welt der wissenschaftlichen Theorie. Wenn ich hin und wieder den Ausdruck „Lebenswelt" verwende, steht dieser als Synonym für „Alltagswelt". Terminologische Präzision, wie sie der Gebrauch des vieldeutigen „Lebenswelt"-Konzeptes in anderen Zusammenhängen verlangen mag (Welter, 1986), wird damit nicht beansprucht.
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systematischen Aufbau einer psychologischen Begrifflichkeit und der Vorbereitung methodologischer Reflexionen, die auf die empirische Erforschung alltagsweltlicher Selbst- und Weltverhältnisse handlungsfähiger Personen zugeschnitten sind. Den Prädikator „Verhalten" bzw. „Sich-Verhalten" benutze ich als allgemeinen Oberbegriff für Aktivitäten aller Art: Personen können sich, wie bisweilen mit einer doppelten Verneinung gesagt wird, nicht nicht verhalten. Die Ausdrücke „Sich-Verhalten" und „Aktivität" besitzen die Funktion eines, wie es in der sprachanalytischen Philosophie gelegentlich heißt, nicht-interpretierten Dummy-Begriffs. Wie in der Umgangssprache kommen unter diesen Rubriken die unterschiedlichsten Phänomene in Betracht, von den sogenannten Hirnaktivitäten über einfachere Verhaltensweisen bis hin zu den komplexesten Handlungen. Personen verhalten sich bereits dann, wenn sie atmen, und sie zeigen ein bestimmtes Verhalten, wenn sie husten, niesen oder, um einige schon kompliziertere Fälle anzuführen, wenn sie erschrecken, sich ängstigen, wenn sie neidisch, mißtrauisch oder eifersüchtig sind. Verhaltensweisen sind dies allemal. Während wir uns also unablässig verhalten müssen, steht es uns durchaus frei, nicht zu handeln. Niemand handelt unentwegt. Das Atmen, ein unwillkürlicher Husten- oder Nießanfall sind zwar allesamt Verhaltensweisen, nicht jedoch Handlungen. Ich werde solche Verhaltensweisen fortan als rein reaktive, reflektorische oder unwillkürliche bezeichnen. Abkürzend spreche ich auch von „bloßem Verhalten", auch wenn die damit eingeführte Unterscheidung zwischen Sich-Verhalten und bloßem Verhalten etwas schwerfällig erscheinen mag. Rein reaktives Verhalten wird also ebenso wie das Handeln als eine besondere Klasse aus dem weiten Feld menschlichen Sich-Verhaltens begriffen. Es gilt die Prädikatorenregel: Jedes Handeln ist ein Sich-Verhalten, keineswegs aber kann jedes Sich-Verhalten als Handeln bezeichnet werden. Entsprechendes trifft für das bloße Verhalten zu. Als unumstrittene Beispiele für Handlungen seien angeführt: das Zimmer lüften, jemanden grüßen, einen Eheschließungsantrag einreichen. Reflexe sind die Paradebeispiele für bloße Verhaltensweisen. Sich zu ängstigen, Neid oder Mißtrauen zu empfinden sind dagegen Verhaltensweisen, welche nicht als Exempel für bloßes Verhalten, aber auch nicht umstandslos als Handlungen bezeichnet werden können. Ob sie als Handlungen angesehen werden, hängt nicht nur von genaueren Charakterisierungen dieser Verhaltensweisen ab, sondern von den für den verwendeten Handlungsbegriff jeweils maßgeblichen Kriterien. In die Reihe der zweifelhaften Fälle gehört auch Dantos (1973, 116f., 152) berühmte Erörterung der Frage, ob denn die Erektion als eine Handlung oder als ein reflektorisches Verhalten aufzufassen sei. Ich werde im Fortgang meiner Darlegungen allmählich einen Handlungsbegriff entfalten, der es ermöglicht, alle angeführten und ähnlich „uneindeutige" Verhaltensweisen als Handlungen aufzufassen und zu analysieren. Diese Möglichkeit eröffnet sich, sobald man nicht mehr davon ausgeht, Handlungen müßten sich notwendigerweise auf (bewußte) Absichten des Akteurs zurückführen lassen. Ich komme darauf ausführlich zu sprechen. Zunächst werde ich einige sehr geläufige Kriterien für die getroffene Unterscheidung rekapitulieren.
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Das bloße Verhalten bildet eine Art Gegenpol zum Handeln (Groeben, 1986, 59). Bei manchen Autoren dient dieser Gegenpol nur noch als negativer Kontrasthorizont für die Bestimmung und Charakterisierung des primär interessierenden Gegenstandsbereiches der Handlungs- und Kulturpsychologie: „A cultural psychology, almost by definition, will not be preoccupied with 'behavior' but with 'action', its intentionally based counterpart, and more specifically, with situated action - action situated in a cultural setting, and in the mutually interacting intentional states of the participants" (Bruner, 1990, 19). Im Gegensatz zur Verhaltenstheorie befassen sich die hier interessierenden Ansätze mit temporal und sozial komplexen, eben situierten Handlungen sprach- und reflexionsfahiger Subjekte, durch die Individuen (oder auch Kollektive) „ihre Welt" aktiv zu gestalten versuchen. Dabei können sie durch produktive Handlungen verändernd auf diese Welt Einfluß nehmen oder durch präventive Handlungen erwarteten Veränderungen vorzubeugen beziehungsweise diese zu verhindern versuchen (von Wright, 1974, 10). Schließlich ist es auch möglich, durch Unterlassungen, die als Spezialfall des Handelns betrachtet werden können, auf die Welt einzuwirken. Wie für andere Handlungen sind Personen auch für ihre Unterlassungen moralisch (und bisweilen juristisch) verantwortlich. Wie für andere Handlungen, deren Folgen und Nebenfolgen, sind Menschen verantwortlich (oder zumindest mitverantwortlich), wenn sie hätten handeln können und sollen, dies jedoch, wider alle (berechtigte) Erwartung, unterlassen haben (Kohler, 1988, 17; Riedel, 1978a, 148f.; Werbik, 1978, 18; eine soziologische Theorie des Unterlassens entwirft Geser, 1986).4 Was über die Unterlassung gesagt wurde, gilt auch für die Duldung. Die enge Verwandtschaft beider Begriffe liegt auf der Hand. So ist etwa die unterlassene Hilfeleistung notwendigerweise mit der Duldung eines Ereignisses verknüpft, dessen negative Folgen durch die gewährte Hilfe hätten abgemildert werden können; vielleicht wäre das unerwünschte Ereignis auch ganz ausgeblieben, wenn dem Betroffenen nur jemand beigestanden und somit nicht geduldet hätte, was für jenen schließlich Schaden oder Leid bedeutete. Im Anschluß an Schütz kann von „Handlungen" gesprochen werden, wenn es um einen abgeschlossenen Vorgang beziehungsweise um Handlungsergebnisse geht. Dagegen bezeichnet der Begriff des „Handelns" etwas zeitlich Andauerndes (Schütz, 1974, 50; Schütz & Luckmann, 1984, 8 4 f f , 90ff.). Wissenschaftliche Analysen menschlichen Handelns sind also, folgt man diesem
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Geser kritisiert zu Recht, daß der Begriff der Unterlassung in einigen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien allenfalls marginale Bedeutung besitzt. Er macht darauf aufmerksam, daß die Soziologie - und dies gilt ebenso für die Psychologie - ihr Untersuchungsfeld „auf befremdlich-willkürliche Weise halbieren und sich sowohl zum subjektiven Selbstverständnis der Individuen wie zu institutionell verfestigten Handlungskonzepten in argen Widerspruch setzen (würde), wenn ... (sie) Unterlassungen allein aus dem Grund ausklammern wollte, weil ihnen eine Fundierang in objektivistisch beschreibbaren Verhaltensabläufen fehlt" (Geser, 1986, 643).
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terminologischen Vorschlag, Handlungsanalysen. Das Handeln ist bereits vollzogen, wenn wissenschaftliche Bemühungen sich den in den Daten objektivierten Handlungen zuwenden. Wenn im folgenden von „Handeln" oder „Handlungen" die Rede ist, geschieht dies häufiger ohne Rücksicht auf die soeben getroffene Unterscheidung. So steht der Begriff des Handelns also häufiger auch für dessen Ergebnis. Das Ergebnis einer Handlung kann dabei mit von Wright (1974, 69) von ihren Folgen unterschieden werden: „Das, was getan wurde, ist das Ergebnis einer Handlung; das, was herbeigeführt wurde, ist die Folge einer Handlung." Die Folgen einer Handlung können bekanntlich unmittelbar sein oder als sogenannte Nebenfolgen in Erscheinung treten. Die Nebenfolgen können darüber hinaus nicht nur durch ihren zeitlichen Abstand vom Handeln einer Person getrennt sein, sondern auch dadurch, daß sie sich erst durch das Zusammenwirken der Handlungen verschiedener (individueller oder kollektiver) Akteure entfalten. Vor allem aus diesem Umstand ergibt sich das Problem der partiellen Mitverantwortung, die einzelne Akteure für bestimmte Handlungen anteilig zu tragen haben (je nach Zuständigkeit, Kompetenz, Wissen, Macht etc.; Ströker, 1984; Straub, 1997). Schließlich sei darauf hingewiesen, daß Handlungsfolgen in manchen Fällen im Sinne der durch Popper und vor allem durch Hempel (1942) sowie Hempel und Oppenheim (1948) formalisierten Subsumtionstheorie erklärt werden können. Dies gilt etwa dann, wenn eine Person einen Stein auf eine Fensterscheibe geworfen hat, mit der Folge, daß diese zu Bruch ging. In anderen Fällen aber ist eine solche Verknüpfung zwischen einer Handlung und deren Folgen nach dem Muster der deduktiv-nomologischen Erklärung fragwürdig. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Handlung andere Handlungen (des Akteurs oder sonstiger Personen) oder auch Gefühle nach sich zieht. Diese sind keineswegs als Folgen oder Nebenfolgen im Sinne des kausalistischen Bedingungsmodells aufzufassen. Diesbezüglich stehen vielmehr hermeneutischinterpretative Analysen an, die Sinn- oder Verweisungszusammenhänge zu klären haben. Eine Handlung mag etwa den Grund dafür darstellen beziehungsweise die Folge nach sich ziehen, daß der Akteur selbst oder andere Personen traurig werden, sich beschämt, beglückt oder beleidigt fühlen, womöglich auch, daß sich jemand am Akteur rächt oder ihm sonstwie „antwortet". Analysen des Handlungsbegriffs klären, was zum Zwecke einer Handlungsbeschreibung getan und unterstellt werden muß. Sie zeigen zunächst einmal, wie und unter welchen Umständen wir ein Sich-Verhalten als ein Handeln identifizieren und beschreiben (können) und welche Zuschreibungen wir vornehmen - implizit oder explizit -, wenn wir eine Person als handelnde (oder als zumindest handlungsfähige) auffassen und damit notwendigerweise mit bestimmten Kompetenzen ausstatten. Es ist evident, daß für die Differenzierung und Konzeptualisierung der fundamentalen „Einheiten" einer Handlungs- und Kulturpsychologie auf den Begriff des bloßen Verhaltens nicht verzichtet werden kann, wenngleich dem Begriff des Handelns die entscheidende Stellung zukommt. Manche Autoren bringen zu diesem Zweck auch noch weitere Termini ins Spiel, so etwa Groeben (1986) die Kategorie des „Tuns" (vgl. auch
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Straub, 1999c). Auf einer weniger fundamentalen Ebene der Begriffsbildung könnten auch noch andere praktische Elementarbegriffe berücksichtigt werden, egal, ob diese eher auf somatische oder psychische, auf technische, soziale oder ethische Gegebenheiten bezogen sind. Dies kann hier vernachlässigt werden, ohne die Relevanz solcher Elementarbegriffe auch für die Handlungs- und Kulturpsychologie zu bestreiten (vgl. Riedel, 1978a, 143). Ich bleibe zunächst bei der bereits eingeführten Grundunterscheidung und führe noch Groebens Definition des Handlungsbegriffs an, die wesentliche Aspekte zusammenfaßt, zugleich aber den Weg zu einem detaillierteren Verständnis des in der Psychologie dominierenden Handlungsbegriffs weist. Groeben macht zunächst darauf aufmerksam, daß die Debatten über den Handlungsbegriff „natürlich eine Fülle von möglichen definierenden Merkmalen für das, was unter 'Handlung' oder 'Handeln' verstanden werden soll" (Groeben, 1986, 71), erbracht haben. Seine Durchsicht der einschlägigen Beiträge in der Psychologie führt ihn dann zu einer quasi allgemein anerkannten Liste von besonders wichtigen, qualifizierenden Merkmalen. Im einzelnen werde das Handeln in der Psychologie üblicherweise „als ein unter Aspekten wie Intentionalität, Willkürlichkeit, Planung, Sinnhaftigkeit, Ziel-, Normen- (etc.) Orientiertheit interpretativ beschriebenes Verhalten" aufgefaßt (ebd.). Als zentral könne dabei das Merkmal der Intentionalität gelten. Diesen Begriff versteht Groeben als ein Synonym für Absichtlichkeit. Er bestimmt den Intentionalitätsbegriff ganz im Sinne von Brennenstuhl, die er am angegebenen Ort mit folgender Definition zitiert: „Unter 'Intention' verstehe ich eine Absicht, etwas zu tun oder zu unterlassen. ... Bei der Absicht, etwas zu tun oder zu unterlassen, hat der Agent ein Ziel vor Augen, das durch das Tun bzw. durch die Unterlassung verwirklicht werden soll, das sogenannte 'Objekt der Intention' (Brennenstuhl, 1975, 215f.). Die Gleichsetzung der Begriffe Intention und Absicht sowie die Hervorhebung der Intentionalität als wichtigstes Merkmal von Handlungen (bzw. von Handlungsbeschreibungen) ist, abgesehen vor allem von der phänomenologischen Tradition, nicht nur in der Psychologie sehr häufig anzutreffen (von Düffel, 1991). Groeben begründet diesen für die Definition des Handlungsbegriffs entscheidenden Schritt ausführlich. Nach seiner Auffassung manifestieren sich im Begriff der Intentionalität „zum größten Teil die anderen im HandlungsBegriff mitgemeinten Merkmale bzw. sie werden durch das Charakteristikum der Intentionalität unterstellt oder sind Voraussetzungen respektive Wirkungen dieses Aspekts. So unterstellt die Intentionalität des Handelns, daß es sich um ein zielgerichtetes Verhalten handeln muß; dies wiederum setzt voraus, daß die Handlung als Mittel zur Erreichung des Zieles eingesetzt und d.h. (zumindest teilweise) willkürlich gewählt wird. Mit der (grundsätzlich, d.h. potentiell) bewußten Entscheidung für oder gegen bestimmte Handlungsmöglichkeiten als Mittel zur Erreichung eines gewollten Zieles sind (ebenfalls als prinzipielle Möglichkeit) die von Lenk angesprochenen Situations-, Institutions-, Regel-, Normen-(etc.)Bezüge impliziert; ein solches kontextvernetztes, willkürliches, zwischen mehreren Mitteln auswählendes Entscheiden vor der Ausfuhrung der entsprechenden Verhaltensweise wird üblicher- (und sinnvoller-)weise 'Pia-
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nung' genannt. Als Konsequenz der vorausgesetzten Planungs- und Entscheidungsfähigkeit ist dann dem Handelnden Verantwortlichkeit (für seine Handlungen) zuzuschreiben. Diese Aspekte sind mitzudenken, wenn man als zentrales Charakteristikum des Handelnden die 'Intention' definiert ..." (Groeben, 1986,71). Der als Synonym von Absichtlichkeit geltende Intentionalitätsbegriff übernimmt in Groebens Definition eine integrative Funktion. Er steht pars pro toto. Groebens Definition vermittelt zweifellos eine konzise und treffende Vorstellung von dem in der Psychologie vorherrschenden Handlungskonzept. Im folgenden werde ich verschiedene Elemente dieser Definition genauer betrachten und kommentieren. Nicht zuletzt sollen im Laufe meiner Ausfuhrungen einige problematische, nicht akzeptable Implikationen von Groebens Begriffsbestimmung aufgezeigt werden. Die Kritik an der zitierten Definition mündet nämlich in den Vorschlag eines alternativen Ansatzes für das begriffliche Verständnis menschlichen Handelns und die damit verbundene Vorstrukturierung des handlungspsychologischen Gegenstandsbereiches.
2.2 Handlung, Autonomie, Verantwortung Bloßes Verhalten wird üblicherweise als heteronom determinierter Effekt konzeptualisiert, als Wirkung einer Ursache oder als Folge von Bedingungen, welche der Kontrolle des Subjektes entzogen sind. Werbik (1978, 11) faßt zusammen, daß als derartige Bedingungen sowohl „externe Reize" als auch „physiologisch bedingte Triebreize" in Betracht kommen. Zu letzteren kann hier, die gängige Unterscheidung zwischen Instinkten und Trieben vernachlässigend, auch die instinktive Steuerung des Verhaltens gezählt werden. Handlungen werden dagegen als Phänomene verstanden, die theoretisch die Annahme der partiellen Autonomie von Subjekten voraussetzen. Handlungssubjekte besitzen Selbstbewußtsein und die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Diese Möglichkeit mag praktisch stets nur in eingeschränkter Form gegeben, bisweilen in hohem Maß vereitelt werden. Als Möglichkeit gehört sie jedoch zur conditio humana. Als handlungsfähige Subjekte müssen sich Menschen zu ihr verhalten. Das aus der Perspektive des Akteurs verstandene Handeln ist die konkrete Form der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen. Das Unterlassen und das tätige Handeln sind die Weisen, in denen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung Gestalt annehmen. Vor allem durch ihre Handlungen führt eine Person ihr Leben, vor allem durch sie erlebt sie es als eigenes. Kohler spricht unter Bezugnahme auf Heideggers Analyse,5 nach der das Dasein, die menschliche Existenz, durch die „Geworfenheit zum Entwurf' aus-
Der Autor bezieht sich auf Heideggers Hermeneutik der Faktizität, wie sie insbesondere in den Paragraphen 29, 31, 41, 61, 68a, 68b des 1927 erstmals publizierten Buches „Sein und Zeit" (Heidegger, 1976) entfaltet wird.
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zuzeichnen ist, von der Notwendigkeit oder Unumgänglichkeit einer eigenen Lebensführung: „Sich zu sich, d.h. zu seiner Zukunft, zu verhalten ist ebenso ein Können wie ein Müssen" (Kohler, 1988, 18). Die partielle Freiheit menschlichen Verhaltens ist ein Resultat der Entwicklung des Menschen (auf phylogenetischer Ebene ebenso wie auf ontogenetischer). Die Freiheit zu handeln gehört zur Natur des Menschen: Sein Dasein ist durch „natürliche Künstlichkeit" (Plessner) charakterisiert. Handlungstheorien berücksichtigen dies beim Aufbau ihrer Begriffe und Forschungsperspektiven. Der Mensch als das „nicht festgestellte Tier" (Nietzsche) hat nicht allein, wie auch in zahlreichen psychologischen Handlungstheorien hervorgehoben wird, die für alles Handeln konstitutive Freiheit, zumindest in bestimmten Situationen zwischen Handlungsalternativen wählen zu können (Werbik, 1978, 22, 30). Er sieht sich vielmehr unentwegt vor solche Wahlen gestellt: er muß wählen, er muß sich für die Ausführung oder Unterlassung dieser oder jener Handlung entscheiden, er ist, wie es die Existentialisten bisweilen ausdrückten, geradezu zur Freiheit verurteilt, ja verdammt. Unter den zuletzt genannten Gesichtspunkten kann das Handeln als eine Komponente der anthropologischen Struktur betrachtet werden. Handeln ist eine für das menschliche Leben charakteristische Notwendigkeit, aber auch eine Fähigkeit „aller Menschen zu allen Zeiten", wie es in unserem Kulturkreis bisweilen heißt. Die soeben wiedergegebene, uneingeschränkt universalistische Formulierung entstammt Luckmanns (1992) Theorie des Handelns. Ähnliche Äußerungen finden sich in vielen psychologischen Handlungstheorien. Luckmanns Behauptung wurde zitiert, weil sie so offenkundig überzogen ist. So schließt sie beispielsweise die gerade zur Welt gekommenen und auch die an bestimmten Krankheiten leidenden Personen kurzerhand aus dem Kreis der Menschen aus. „Alle Menschen zu allen Zeiten" sind bei Luckmann (und anderen) die sogenannten „normalen" und bereits (mehr oder minder) „entwickelten" Personen. Ich brauche diesen Gesichtspunkt hier nicht vertiefen, zumal auch in der vorliegenden Arbeit der Akteur als ein mehr oder minder entwikkeltes animal rationale als Bezugspunkt fungiert. Damit soll jedoch niemandem, der - in einem von Handlungstheoretikern vorab definierten Sinn - handlungsunfähig ist, sein „Menschsein" abgesprochen werden. Festzuhalten ist, daß Handlungskompetenz ein Ergebnis der (phylogenetischen und ontogenetischen) Entwicklung ist. Diese Entwicklung kompensiert die Defizite an instinktgesteuerten Verhaltensweisen, die für den Menschen als „Mängelwesen" charakteristisch sind. Um eine bloße Kompensation handelt es sich dabei allerdings nicht. Handlungsfähigkeit ist weit mehr als ein funktionales Äquivalent der instinktiven Verhaltenssteuerung. Sie befreit den Menschen in außerordentlichem Maße von diesem Steuerungsmechanismus und ebnet den Weg zu einem zumindest partiell autonomen, selbständig geführten Leben. Die skizzierte Auffassung des Handelns ist für die praktische Philosophie, insbesondere für die philosophische Ethik, seit jeher charakteristisch. Sie bestimmt in dieser Disziplin bis heute die handlungstheoretischen Diskurse „im Kontext der ethischen Grundfragen" (Riedel, 1978a, 139). Wie beispielsweise Kohler erörtert, gilt das Handeln dort als „praktische Antwort" auf die Frage, was Personen in Situationen, die zumindest ein Minimum an Entscheidungs-
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und Handlungsspielräumen aufweisen, tun sollen. Die praktische Frage „was tun?" wird dabei letztlich als Frage nach dem vernünftigerweise Gebotenen begriffen, nach jenen Handlungen und Unterlassungen also, die sich unter Umständen auch rechtfertigen ließen. Dabei müssen Rechtfertigungen nicht darauf beschränkt sein, Handlungen als vermeintlich (d.h. subjektiv) oder aber objektiv angemessene, rationale Mittel für die Erreichung bestimmter Zwecke auszuweisen. Im eigentlichen Sinne rechtfertigbare Handlungen sind solche, die sich im Hinblick auf eine unabweisbare Verantwortung, der das Handeln Rechnung trägt, bewähren. Zu verantworten hat der Akteur sein Handeln freilich in jedem Fall, also auch dann, wenn er einer Verantwortung nicht gerecht geworden sein mag. Dieses Verantwortlichkeitskriterium wird nun nicht nur in den handlungstheoretischen Propädeutiken zur philosophischen Ethik, sondern auch in anderen Disziplinen als wichtiges definitorisches Merkmal des Handlungsbegriffs angeführt, aus offensichtlichen Gründen etwa in den Rechtswissenschaften, nicht zuletzt in der Psychologie. Dies bedeutet, daß sich Wertbezüge oder moralisch-normative Implikationen aus den Beschreibungen und Analysen konkreter Handlungen niemals vollständig ausblenden lassen. Auch die psychologische Interpretation von Handlungen und Handlungsanaloga hat zu berücksichtigen, wie wir im Alltag immer schon von Handlungen sprechen. Riedel (1978a, 141) betont zu Recht, daß menschliche Handlungen mehr sind „als bloße 'Akte des Stellungnehmens' nach außen; sie sind zugleich ... sprachliche Akte, mit denen der Mensch gegenüber sich selbst und anderen Stellung nimmt. Sprache und Handeln sind nicht dasselbe, aber in jedem Akt des Sprechens und Handelns aufeinander bezogen." Darauf verweist das Verantwortlichkeitskriterium, das das Handeln unter Umständen Rechtfertigungsansprüchen aussetzt und es dadurch in ein Gespräch einbindet, in dem es um die Billigung oder Mißbilligung, die Anerkennung oder Kritik von Handlungen geht. Dieses Gespräch ist eine Angelegenheit allein von und für Personen, deren Verhalten nicht durchweg heteronom bestimmt und damit erzwungen, sondern partiell auch frei ist. Ein Sich-Verhalten als Handeln beschreiben heißt, dem Akteur bestimmte Fähigkeiten und mit diesen zugleich Verantwortung zuzuschreiben. Der Handlungsbegriff besitzt deskriptive und askriptive Funktionen. Wer von Handlungen spricht, unterstellt logisch zwingend, der Mensch sei im Besitz der begrenzten Freiheit, nach eigenem Willen dieses zu tun und jenes zu lassen. Die Vorstellung der Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und der partiellen Autonomie besagt nicht, daß Personen in ihren Handlungsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt wären. Die Handlungsspielräume jedes einzelnen sind durch Naturgesetze begrenzt, sie werden durch die Bedürftigkeit des Menschen bestimmt, schließlich durch die historischen und soziokulturellen, praktisch-kommunikativen Regeln und gesellschaftlichen Institutionen strukturiert, das heißt: sowohl eröffnet als auch eingegrenzt. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, daß die soziologische Handlungstheorie traditionell an die Institutionenlehre gebunden war. Handlung und Struktur sind gleichermaßen unabdingbare Bausteine soziologischen Denkens und Forschens. Wenn in der zeitgenössischen, handlungstheoretisch orientierten Psychologie auf den Begriff der
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,.Kultur" zurückgegriffen wird, situiert sich auch diese Disziplin im Spannungsfeld von individuellen (und durchaus auch kollektiven) Handlungen einerseits, transsubjektiven Strukturen, Institutionen und Vorgängen, die Handlungsspielräume eröffnen, begrenzen und organisieren, andererseits. Der intrinsische Bezug des Handelns zu Geschichte, Kultur und Gesellschaft verweist nicht zuletzt auf die symbolische und insbesondere sprachliche Vermitteltheit allen Handelns. Geschichtliche und sozio-kulturelle Voraussetzungen stecken den Rahmen und damit die Grenzen ab für die autonome Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung individueller Handlungssubjekte; sie sind aber, wie gesagt, auch konstitutiv für die in Grenzen mögliche Verwirklichung eines reflektierten Selbstverhältnisses und einer partiell autonomen Lebensgestaltung. All dies gilt es in besonderer Weise im Hinblick auf die Sprache hervorzuheben: Die Konzepte der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung haben, recht besehen, nur Platz in einem Handlungsmodell, in dem berücksichtigt wird, daß, wie Riedel (1978a, 140ff.) sagt, unser Handeln auf eine hermeneutisch vermittelte Weise motiviert und bestimmt ist.
2.3 Handlungen als Deutungs- oder Interpretationskonstrukte Der Handlungsbegriff verweist in mehrfacher Hinsicht auf Akte des Deutens und Interpretierens, der Verständigung und des Verstehens. Er ist enger als andere Leitbegriffe der modernen Psychologie (Bewußtsein, Erleben, Organismus, Verhalten, Kognition) mit den Begriffen Deutung und Interpretation verschwistert. Die Selbst- und Situationsauffassung des Akteurs ist konstitutiv für dessen Handeln. Alles Handeln ist hermeneutisch vermitteltes Sich-Verhalten. Dies hatten Heidegger und, im Anschluß an dessen Hermeneutik der Faktizität, Gadamer im Blick, als sie das Verstehen als Vollzugsform des Daseins auswiesen und gegen die Reduktion auf eine bloß epistemisch-wissenschaftliche Operation als etwas Ursprünglicheres verteidigten (vgl. Teil II., Kap. 6.5). Die Deutungsund Verstehensleistungen des Handelnden erscheinen in dieser Perspektive als empirische Voraussetzungen und Implikationen jeder Praxis. Solche „Leistungen" sind nicht unbedingt bewußte Akte. Sie beruhen auf der Vertrautheit mit einer Praxis, auf dem tagtäglichen Umgang mit Dingen, Menschen und anderen Lebewesen, auf der erworbenen Fähigkeit, an Sprachspielen und einer diese integrierenden Lebensform teilhaben zu können. Stets kann das Handeln als subjektiv sinnhaftes Sich-Verhalten betrachtet werden und als ein Sich-Verhalten, das transsubjektive Sinn- und Bedeutungsgehalte besitzt. Die hier interessierenden Wissenschaften haben es mit Handlungen zu tun, die in der Form von Daten repräsentiert sind. Insofern sich solche Daten im wesentlichen den Selbstauskünften der Akteure verdanken, können sie als Konstruktionen erster Ordnung bezeichnet werden, an die der wissenschaftliche Interpret bei der Entwicklung von Konstrukten zweiter Ordnung anschließt (Schütz, 1971b). Als Handlungswissenschaftler hat man es mit Handlungen in der Form von Deutungskonstrukten beziehungsweise Repräsentationen zu tun,
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die ihrerseits interpretiert werden. Dem Deuten und Verstehen als einer Vollzugsform menschlichen Daseins korrespondieren die ex post festum vorgenommenen Deutungs-, Interpretations- und Verstehensbemühungen, die ein SichVerhalten als Handlung identifizieren und beschreiben, gegebenenfalls analysieren und erklären. Handlungen sind der Psychologie nur als Repräsentationen zugänglich. Sie existieren als Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen ausschließlich unter einer Beschreibung. Die folgenden Explikationen des Handlungsbegriffs beziehen sich auf das Problem der Identifikation und Beschreibung von Handlungen, wie sie retrospektiv - vom Akteur, von einem beliebigen Beobachter oder von mehreren Personen, die sich über das in Frage stehende Sich-Verhalten beraten - formuliert werden können. Es geht fortan also um die reflexiven Deutungs- oder Interpretationsleistungen, welche ein Sich-Verhalten durch ausdrückliche und spezifische Benennungen erst als eine bestimmte Handlung qualifizieren. Wie dargelegt erfordert der Vollzug einer - prospektiv oder retrospektiv - als Handlung bestimmbaren Verhaltensweise ausdrückliche oder unausdrückliche Deutungs- und Verstehensleistungen des Akteurs. Der Akt der nachträglichen Bestimmung selbst ist sodann nichts anderes als explizites Deuten, Interpretieren und Verstehen im Medium der Sprache. In den nächsten Abschnitten bewege ich mich ausschließlich auf der Ebene der Handlungsbeschreibung. Auf dieser Ebene werden Handlungen als Deutungs- oder Interpretationskonstrukte ausgewiesen. Ich knüpfe dabei an Überlegungen von Lenk (1978, 1993) an.6 Dessen Handlungs- und Interpretationsphilosophie eröffnet theoretische Perspektiven, die der anvisierten Verknüpfung der Handlungs- und Kulturpsychologie mit einer Theorie, Methodologie und Methodik der Interpretation von Handlungen und Texten überaus förderlich sind. Darüber hinaus lassen sich in Lenks Ansatz aber auch manche Probleme ausfindig machen, deren Analyse zur Konturierung und Präzisierung eigener Anliegen fuhrt. Der von Lenk geprägte Begriff des Interpretationskonstruktes hat längst Eingang in das Vokabular der Psychologie gefunden (z.B. Brandtstädter, 1984; Charlton, 1987; Herrmann, 1981). Zunächst auf den Handlungsbegriff gemünzt, wurde die Reichweite der Rede von „Interpretationskonstrukten" bald schon ausgeweitet. Als Interpretationskonstrukte begreift Lenk beispielsweise auch Motive oder Werte, das Subjekt, das Ich sowie die Vernunft, und schließlich ist von der Selbst- und Welterfassung schlechthin als einem Interpretationskon-
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In der Publikation von 1993 werden die vor nahezu zwei Jahrzehnten entwickelten Grundgedanken in quasi unveränderter Form wiederholt. Eine erhebliche Erweiterung bilden jedoch die Auseinandersetzungen mit der Tradition der Hermeneutik und der für Lenks Interpretationstheorie relevanten Linie der sprachanalytischen Philosophie. Für die Differenzierung und Weiterentwicklung von Lenks Ansatz ist darüber hinaus dessen Auseinandersetzung mit den Arbeiten Abels von besonderer Bedeutung (vgl. hierzu Lenk, 1988). Abel selbst hat, von Nietzsches metaphysikkritischem und radikalhermeneutischem Interpretationismus herkommend, eine subtile Interpretationsphilosophie vorgelegt und in ihren Beziehungen zur philosophischen Tradition sowie zu neueren Entwicklungen in der sprachanalytischen Philosophie (Davidson, Goodman, Nagel, Putnam, Rorty) geklärt (Abel, 1988a, 1988b, 1989, 1993).
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strukt die Rede (Lenk, 1983, 1987a, 1987b, 1993). Diese Ausweitung kann mit dem allmählichen Übergang von Lenks handlungstheoretischen Überlegungen (und dessen Auseinandersetzung insbesondere mit der Kantischen Philosophie) zum Entwurf einer allgemeinen „interpretationistischen" Philosophie in Zusammenhang gebracht werden, mit deren (hermeneutischen) Grundzügen der vorliegende Entwurf einer textwissenschaftlichen Psychologie übereinstimmt. Im folgenden werden Deutungs- von Interpretationskonstrukten unterschieden. Der Ausdruck „Deutung" wird primär für alltagsweltliche Kontexte der Verständigung und des Verstehens reserviert. Als „Interpretation" bezeichne ich dagegen die vor allem zu wissenschaftlichen Zwecken vorgenommene, explizit an Rationalitätsstandards orientierte, das heißt möglichst weitgehend theoretisch begründete, bewußt vollzogene, regelgeleitete und intersubjektiv nachvollziehbare Deutung. Interpretationskonstrukte sind, im Unterschied zu Deutungskonstrukten, Resultate methodisch kontrollierten Handelns. Von Handlungen als Deutungs- oder Interpretationskonstrukten zu reden, impliziert gleichermaßen, Handlungen bzw. den Handlungsbegriff unter hermeneutischen Gesichtspunkten zu analysieren. Mit Lenk gehe ich von der Notwendigkeit aus, bestimmte Komponenten oder Konstituenten von Handlungen, auf die zum Zweck der sprachlichen Identifizierung und Beschreibung einer Handlung zurückgegriffen werden kann oder muß, „terminologisch und theoretisch sauber" voneinander zu unterscheiden (Lenk, 1978, 304). Zu Recht wendet Lenk (1978, 285) gegen Thalbergs Komponentenansatz ein, daß dieser „mentale Entitäten ... mit physiologisch zu beschreibenden materialen Prozessen einfach zu der großen Klasse der Konstituenten" zusammenfaßt. Demgegenüber ist nicht allein auf der kategorialen Differenz der soeben angeführten und anderer Typen von Konstituenten zu beharren. Diese haben nämlich auch unterschiedliches Gewicht für die Klärung des Handlungsbegriffs: „Handlungen bestehen nicht nur aus materiellen und mentalen Komponenten, sondern wesentlich eben auch aus interpretatorisehen Konstituenten, aus Beschreibungen, die eine Handlung erst als solche 'ausmachen' ..." (Lenk, 1978, 302). Wer ein Sich-Verhalten als (bestimmte) Handlung identifizieren und beschreiben möchte, muß dieses Verhalten im Zuge eines Deutungs- oder Interpretationsaktes in einer ganz spezifischen Art und Weise auffassen. Erst durch diese näher qualifizierbare Art und Weise der Identifikation und Beschreibung wird ein Sich-Verhalten so begriffen und beschrieben, daß es uno actu als Handlung ausgewiesen wird. Ganz in diesem Sinne greift Lenk auf Anscombes (1957, 23) berühmte Formulierung zurück, nach der es Handlungen nur unter einer Beschreibung (under a description) gibt. Dies ist freilich nicht so zu verstehen, als handelten Menschen nicht, wenn sie (oder irgendwelche Beobachter) ihr Handeln nicht auch ausdrücklich beschrieben. Dies wäre in einem offenkundig abwegigen Sinne „idealistisch" oder „nominalistisch" gedacht. Daß Personen in dieser oder jener Weise handelten, gerade handeln oder handeln werden, dies können wir jedoch nur zur Sprache bringen, wenn wir zur retrospektiven, synchronen oder prospektiven Beschreibung des betreffenden Sich-Verhaltens ein spezifisches Vokabular benutzen.
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Lenk macht im Sinne der Kritik der sprachanalytischen Philosophie an essentialistischen Reifizierungen von Worten oder Begriffen mit Nachdruck darauf aufmerksam, daß (1) generell jedes Sich-Verhalten, das wir als Handlung auffassen und erfassen (wollen), in deutungs- und interpretationsabhängigen sprachlichen Akten als ein in bestimmter Weise qualifiziertes Verhalten beschrieben werden können muß, und daß (2) nur unter der Voraussetzung, daß wir im konkreten Fall eine Verhaltensweise als diese oder jene Handlung qualifizieren und beschreiben, die betreffende Handlung inhaltlich bestimmt und als solche erfaßt oder verstanden ist und weiteren Analysen oder Beurteilungen unterzogen oder auch mit stellungnehmenden Handlungen „beantwortet" werden kann.7 Erst die an Deutungs- oder Interpretationsleistungen gebundene „Kategorisierung" oder Beschreibung macht ein Sich-Verhalten zu dem, was es für diejenigen, die diese Beschreibung akzeptieren, eben ist: eine Liebeserklärung oder ein gemeiner Gewaltakt, ein Gruß, ein Kuß, eine Beleidigung. Lenks vielzitierte Definition betont, daß „Handlungen nicht absolute, an sich existierende Phänomene sind, sondern wesentlich auf Interpretationen, Zuschreibungen und Beschreibungen beruhen, ja, durch derartige Deutungen erst konstituiert und erfaßbar werden: Handlungen sind Interpretationskonstrukte. Handeln kann aufgefaßt werden als situations-, kontext- und institutionsabhängiges, regelbezogenes, normen-, wert- oder zielorientiertes, systemhaft eingebettetes, wenigstens partiell ablaufkontrolliertes oder teilbewußtes motiviertes Verhalten eines personalen oder kollektiven Akteurs, das diesem als von ihm durchgeführt zugeschrieben wird. Bewegungen sind nicht schon Handlungen, sondern werden vom Handelnden selbst oder von Beobachtern als solche interpretiert" (Lenk, 1978,345). Das handlungstheoretische Vokabular kommt offenkundig nicht mit den Mitteln einer reinen Beobachtungssprache aus. Eine Beobachtungssprache, die vermeintliche Objektivität verbürgt, kann für die Handlungspsychologie kein Ideal sein, ja, sie ist für die Handlungswissenschaften prinzipiell untauglich. Dies macht beispielsweise jede Handlungstheorie, die mit dem Begriff der Intentionalität (im Sinne von Absichtlichkeit) operiert, immittelbar klar (Lenk, 1978, 281 ff.). Absichten sind keine beobachtbaren Attribute eines SichVerhaltens, sondern mögliche Aspekte der Deutung oder Interpretation desselben. Durch die interpretative Zuschreibung einer Intention wird ein Verhalten für den Interpreten zur Handlung, es wird in besonderer Weise vergegenwärtigt und dadurch erst als diese bestimmte Handlung konstituiert. Dies heißt nicht zuletzt, daß ein und dieselbe Aktivität auf verschiedene Weise interpretiert werden kann. Interpretationen einer Aktivität können zu verschiedenen, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsergebnissen gelangen (Keller, 1977).
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Die metaphorische Redeweise, daß Handlungen mit Handlungen beantwortet werden, legt es nahe, Handlungen bzw. Interaktionen und Handlungsgeschichten nach dem Modell eines Dialoges zu konzeptualisieren (Schwemmer, 1987, 42ff., 268ff.).
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Der Ausdruck „Aktivität" fungiert dabei wiederum als ein DummyBegriff, als Statthalter für etwas noch Unbestimmtes. Als ein solches Unbestimmtes bleibt Verhalten prinzipiell außerhalb der Reichweite wissenschaftlicher Bemühungen. In einer für alle Handlungswissenschaften verbindlichen epistemologischen und methodologischen Perspektive läßt sich sagen, daß erst der sprachliche Zugriff auf menschliches Sich-Verhalten eine bestimmte Handlung konstituiert und weiteren Analysen zugänglich macht. Harras erinnert zu Recht daran, daß die Grammatik der Ausdrücke Deutung oder Interpretation - „ich interpretiere etwas als dieses oder jenes" - die soeben skizzierte Einsicht zu verwischen droht. Sie läßt uns vergessen, daß wir dieses „etwas", das wir, wie wir sagen, als dieses oder jenes deuten oder interpretieren, niemals unabhängig von Deutungen, Interpretationen und den damit verwobenen sprachlichen Benennungen erfassen können. Dieses „etwas" erscheint als etwas Bestimmtes immer schon in sprachlichem, symbolischem Gewand, zumal im Kontext wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Harras (1983, 21 f.) faßt trefflich zusammen: „Aktivitäten lassen sich nicht uninterpretiert benennen; man muß sie, um sie überhaupt benennen zu können, schon als das Benannte interpretiert haben.... Die Redeweise von einer Aktivität, die als Handlung interpretiert werden soll, kann also nicht besagen, daß Aktivität irgendein Ereignis (? - auch hier muß ich ja wieder was benennen!) außerhalb unserer Interpretation benennt, sondern lediglich, daß mit dieser Redeweise keine Festlegung auf eine ganz bestimmte Interpretation oder auf eine Menge ganz bestimmter Interpretationen erfolgen soll." Die bisherigen Darlegungen illustrieren den irreduzibel hermeneutischinterpretativen Charakter jeder an Benennungsvorgänge gebundenen Identifizierung und Beschreibung von Handlungen, aber, wie nun zu betonen ist, nicht nur von Handlungen. Die angestellten Überlegungen heben vielmehr in einer sehr allgemeinen Perspektive die konstitutive Funktion der Sprache beziehungsweise konkreter Deutungen oder Interpretationen für die Erfassung und Bestimmung jedes beliebigen Sich-Verhaltens, Ereignisses oder Sachverhaltes hervor.8 8
Es ist ein grobes Mißverständnis von Lenks interpretationistischer Handlungsphilosophie und überhaupt des hier in Frage stehenden Sachverhaltes, wenn behauptet wird: „Der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln beruht nach Lenk auf der kategorialen Unterscheidung zwischen Ding und Bezeichnung, körperlicher Bewegung und sprachlicher Bedeutung" (Charlton, 1987, 3). Zutreffend an dieser Feststellung ist allein, daß die Beschreibung einer bloßen Körperbewegung noch keine Handlungsbeschreibung ist. Unvereinbar mit Lenks Texten ist auch Charltons am angegebenen Ort formulierte Auffassung, Handeln sensu Lenk sei „weder identisch mit Verhalten noch ist es eine qualifizierte Unterklasse davon". Lenks Analyse der Deutungs-, Interpretations- oder Sprachabhängigkeit von Handlungen, die ihn schließlich vom „semantischen Charakter" aller Handlungen sprechen läßt, erbringt keinerlei Argument gegen die begriffliche Unterscheidung zwischen bloßem Verhalten und Handeln, ganz im Gegenteil. Handeln und bloßes Verhalten erweisen sich vielmehr ganz im oben ausgeführten Sinne gleichermaßen als Unterklassen eines nicht näher spezifizierten Begriffs des Sich-Verhaltens (Lenk, 1978, 281). Die, wie Charlton sagt, in der Psychologie vorherrschende Auffassung menschlichen Handelns als einer qualifizierten Unterklasse des Sich-Verhaltens ist aus guten Gründen gebräuchlich. Ich sehe nicht, wie der Handlungsbegriff anders eingeführt werden könnte. Hält man sich den oben erörterten Sachverhalt vor Augen, daß es
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Handlungspsychologische Erkenntnisse sind besondere Deutungs- oder Interpretationskonstrukte. Dies liegt nicht zuletzt in der erwähnten hermeneutischen Doppelstruktur handlungswissenschaftlicher Forschungen begründet: Jedes Handeln ist bereits in seinem Vollzug an Deutungs- und Verstehensleistungen des Akteurs, an dessen Selbst- und Situationsauffassung gebunden, und jede Identifikation und Beschreibung dieses Sich-Verhaltens als Handlung erfordert ihrerseits hermeneutische Bemühungen. Die interpretative Handlungspsychologie hat es mit hermeneutisch vorstrukturierten Phänomenen zu tun. Die methodologischen Konsequenzen dieser Einsicht liegen auf der Hand. Die Tatsache der symbolischen und insbesondere sprachlichen Strukturiertheit des Gegenstandsbereiches der Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften legt den Anschluß an das alltagsweltliche Sprechen und Handeln, also an die Prozesse der primären Konstitution der interessierenden „Gegenstände" durch sprach- und handlungsfähige Subjekte, nahe (Habermas, 1981 I, 159). Handlungen, aber auch andere „Bestandteile" der Welt und des Selbst sprachund reflexionsfähiger Subjekte, insbesondere alle Sedimente des Handelns (Texte, Überlieferungen, Dokumente, Kunstwerke, Theorien, Gegenstände der materiellen Kultur, Güter, Techniken usw.), können nur dann in einer empirisch gehaltvollen Weise erforscht werden, wenn ein sinnverstehender Zugang zu einem bereits sinnhaft vorstrukturierten Gegenstandsbereich gewählt wird (Böhler, 1985; stärker forschungsmethodisch orientiert Bohnsack, 1991). Die wissenschaftliche Erforschung des Handelns muß sich die Konstruktionen erster Ordnung, die den interessierenden Gegenstandsbereich als einen bedeutungsoder sinnhaften vorstrukturieren, vergegenwärtigen. In diesem Sinn ist der Handlungsbegriff, wie Lenk sagt, ein im Vergleich mit dem Begriff des bloßen Verhaltens „semantisch höherstufiger" Ausdruck. Erst die doppelte hermeneutische Struktur von Handlungsbeschreibungen macht hinreichend verständlich, wieso Lenk von den interpretativen Konstituenten der Handlungsbeschreibung als „metasprachlichen" Konstituenten redet. Man kann in diesem Zusammenhang im übrigen auch an einer qualitativen Differenz zwischen dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften einerseits, der Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften andererseits, festhalten. Diese Differenz kann prinzipiell nicht eingeebnet werden, ohne sich auf methodologische und methodische Irrwege zu begeben und Erkenntnismöglichkeiten zu verlieren. Giddens hat diesim Gegensatz zu Hesses Versuch, den besagten Unterschied durch eine Analyse der hermeneutischen Struktur naturwissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zu überbrücken, überzeugend klargestellt (Giddens, 1984, 95, 179, 187; Hesse, 1976).
Lenk vornehmlich um die Klärung der Frage geht, was denn eine //ani/Zungsbeschreibung im Unterschied zur Beschreibung eines bloßen Verhaltens sei, wird die Konfusion offenkundig, die sich Charlton mit der ohnehin etwas unglücklichen „Unterscheidung" zwischen „Bezeichnung" und „Ding" einhandelt. Das bloße Verhalten ist zunächst einmal so wenig ein Ding wie das Handeln, und die Beschreibung von beliebigem Sich-Verhalten, sei dies ein bloßes Verhalten, sei es eine Handlung, bedarf selbstverständlich der Bezeichnung. Zu beachten ist allerdings, daß die jeweiligen Beschreibungen auf ein anderes Vokabular zurückgreifen.
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2.4 Gibt es eine biochemische Handlungssprache? Zum handlungstheoretischen Vokabular gehören Begriffe wie Intentionalität, Bewußtsein, Wahl- und Entscheidungsfreiheit, Verantwortung, Kontext, Situation, Ziel, Regel, Norm, Geschichte. Diese und andere Begriffe markieren spezifische Interpretations- und Beschreibungsperspektiven, die es ermöglichen, ein Sich-Verhalten als Handlung zu begreifen und unter dem jeweils hervorgehobenen Aspekt genauer zu beschreiben oder zu analysieren. Die angeführten Begriffe bezeichnen auch nach Lenks Auffassung wesentliche, entscheidende Handlungskonstituenten. Jede Handlungsbeschreibung operiert mit solchen Ausdrücken, zumindest setzt sie stillschweigend voraus, was die besagten Begriffe anzeigen (Wahlfreiheit des Akteurs, einen Handlungskontext etc.). Daneben kann die Handlungswissenschaft auch auf andere Klassen oder Typen von Komponenten oder Konstituenten einer Handlung Bezug nehmen. So kann man etwa eine Körperbewegung genau beschreiben. Bisweilen ist dies unerläßlich, um beispielsweise entscheiden zu können, ob es sich beim Zusammenprallen zweier Personen um ein beiderseitiges Mißgeschick oder aber um eine Aktion handelt, durch die einer der Beteiligten etwas bezweckt. Man kann an einer Handlung zweifellos vielerlei beachten und studieren, um schließlich eine komplexe Beschreibung und Erklärung derselben zu erhalten. Im Gegensatz zu Lenk bin ich allerdings nicht der Auffassung, daß auch die Vokabulare der Physiologie, der Biochemie oder Neurologie (Lenk, 1978, 303) zur hier interessierenden Deskription und Explanation von Handlungen beitragen können. Diese Disziplinen befassen sich nicht mit Handlungen im oben definierten Sinn, sondern eben mit,.Abläufen im Gehirn oder in den Nervenbahnen, Muskelspindeln" (ebd.). Es ist keineswegs ausgemacht, daß die Bezugnahme auf solche, von Lenk ebenfalls als Handlungskonstituenten bezeichneten Voraussetzungen, Einflußfaktoren, Ingredienzen und Begleitumstände des Handelns überhaupt etwas zu einer Handlungsbeschreibung beitragen kann. Es bleibt meines Erachtens völlig undurchsichtig, wie beispielsweise biochemische Prozesse über den beschreibungstheoretischen Konstituentenbegriff mit dem Handlungsbegriff und dem Begriff der Handlungsbeschreibung verknüpft werden sollen. Unklar beibt auch die Forderung, eine „ideale" Konstituentenanalyse des Handelns solle in einem möglichst umfassenden Sinne multi- und interdisziplinär angelegt werden. Eine derartige Analyse, die idealiter restlos alle Handlungskonstituenten berücksichtigt, schließt nach Lenk das Geschäft des Biochemikers mit ein. An derartigen Forderungen wird deutlich, daß Lenk unterschiedliche Vokabulare oder Sprachspiele zu einer einzigen, vermeintlich „handlungstheoretischen Sprache" vermengt - trotz seiner Kritik an Thalberg, dem er seinerseits mangelnde Differenziertheit bei der Ausarbeitung seines Komponentenansatzes vorhält. Genauer besehen verläßt auch Lenk durch seine Integrationsforderungen den verbindlichen Rahmen des handlungstheoretischen Sprachspiels und der Denkform, in der Handlungsbeschreibungen und Handlungsanalysen notwendigerweise angesiedelt sind. Die Beschreibun-
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gen und Erklärungen des Biochemikers beziehen sich schwerlich auf dasselbe „Objekt" wie diejenigen des Handlungs- und Kulturpsychologen. Eine wirkliche Integration der verschiedenen Vokabulare und theoretischen Zugangsweisen steht hier nicht einmal in Aussicht. Die Begriffsverwirrung, die Lenk in Kauf nimmt, läßt sich durch eine hierarchisierende Gewichtung der (besonders wichtigen) „metasprachlichen" Konstituenten und der zweitrangigen materiellen und physischen Konstituenten nicht mehr beseitigen. Man strebt nicht ein höheres ,Auflösungsniveau" an, wenn man zum Zweck von Handlungsanalysen die theoretischen, begrifflichen und methodischen Mittel der Biochemie und anderer Naturwissenschaften einsetzt, sondern wechselt unversehens die Denkform und damit den Gegenstand der Analyse. Natürlich ist der Vollzug beliebiger Verhaltensweisen an alle möglichen Bedingungen und Begleiterscheinungen gebunden, zu denen selbstverständlich auch gewisse biochemische Prozesse gehören. Doch trägt nicht jede Erkenntnis solcher Bedingungen und Begleiterscheinungen automatisch zur Erkenntnis einer Handlung bei, zu deren Beschreibung und Erklärung. Die Sprache der Biochemie schafft ihre eigenen Interpretationskonstrukte. Die für Handlungen spezifische und konstitutive Sinnhaftigkeit menschlichen SichVerhaltens vermag jedenfalls kein Rekurs auf biochemische Prozesse (und keine darauf Bezug nehmende kausale oder funktionale Analyse) zu erhellen, und sei es nur im Sinne einer vermeintlich „präzisierenden" Detailanalyse spezieller Verhaltensaspekte. Was am Beispiel der Biochemie ausgeführt wurde, gilt auch für andere Disziplinen. Einen in der zeitgenössischen Psychologie besonders beliebten, ebenfalls höchst fragwürdigen Übergang zwischen heterogenen Denkformen, Sprachspielen und methodischen Praktiken stellt der Übergang von bestimmten Spielarten der Kognitions- zur Handlungspsychologie dar. Zu Recht kritisiert Schneider (1992a, 95), wie Wessels (1984) in der Einleitung zu einem Lehrbuch der Kognitionspsychologie von alltagsweltlichen Handlungen und der Aufgabe, diese zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, ausgeht, um dann gleich zur Erörterung von sogenannten „kognitiven Prozessen" der Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung fortzuschreiten, ohne geklärt zu haben, was denn das eine mit dem anderen zu tun hat: „Selbst wenn es außer Zweifel stünde, daß die Kognitionspsychologie interessante Einsichten über einige beim sinnvollen Handeln ablaufenden Prozesse bringt, bedeutet dies allein noch nicht, daß diese Disziplin damit etwas Wesentliches am sinnvollen Handeln erfaßt hat. Auch ein minutiöses Protokoll der Stimmbänder-Bewegungen eines berühmten HamletDarstellers kann allein wegen seiner Präzision und Exaktheit noch keine Aufklärung über die besonderen Qualitäten der Darstellung bringen. Und es ist nicht von vornherein ausgemacht, daß so ein Protokoll überhaupt einen relevanten Beitrag leistet." Lenks interpretationstheoretische Explikation des Handlungsbegriffs muß meines Erachtens an die Einsicht gekoppelt werden, daß Interpretationen und die durch sie gebildeten sprachlichen Konstrukte jeweils innerhalb eines Sprachspiels und einer Denkform angesiedelt sind. Handlungs- und kulturpsychologische Interpretationen bedienen sich des grob skizzierten Vokabulars.
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Insofern sie nicht nur beschreibende Funktionen erfüllen, sondern analytischexplanative, stellen sie Verweisungsanalysen dar (Laucken, 1989). Unreflektierte Übergänge zwischen einem handlungswissenschaftlichen und einem Verhaltens- oder naturwissenschaftlichen Vokabular führen ebenso zu Begriffsverwirrung und Denkschwierigkeiten wie der unvermittelte Sprung von hermeneutisch-interpretativen Verweisungsanalysen zu kausalen Bedingungsanalysen. Mit Laucken (1989, 188f.) gehe ich davon aus, daß der „Seinsentwurf der Bedingungsanalyse ... mit dem Seinsentwurf, der Handlungstheorien ihrer logischen Voraussetzung nach möglich macht, unverträglich (ist). Eine Handlung ist nicht bestimmbar als raum-zeitliche Ereigniseinheit, sondern nur als passende Verweisungseinheit einer stimmigen Verweisungskonfiguration." Solche Bestimmungen werden im Zuge der Deutung oder Interpretation symbolisch vorstrukturierter Wirklichkeiten ausgearbeitet. Handlungstheorien explizieren in der Tat „das Setzungsfundament wohlvertrauten handlungsbezüglichen Umgangswissens" (ebd., 192) - dazu vermögen die von Lenk ins Auge gefaßten „Konstituentenanalysen" bedingungsanalytisch vorgehender Wissenschaften wie der Biochemie kaum einen Beitrag zu leisten. Handlungen als Deutungs- oder Interpretationskonstrukte sind Konstrukte, die zu bilden und zu analysieren Mittel unserer Umgangssprache oder aber der praktischen Wissenschaften erfordert (vgl. auch Laucken, 1982; 1986). Die ausgeführte Kritik besagt im übrigen nicht, man könne ein SichVerhalten nicht in unterschiedlichen Perspektiven oder unter verschiedenen Aspekten als Handlung beschreiben.9 Was die Frage betrifft, in welchen Weisen dies möglich ist, kommen engere und weitere Beschreibungen in Betracht. Unter der (zumindest in vielen Fällen berechtigten) Voraussetzung, daß eine Handlung an Körperbewegungen gebunden ist, kann mit Harras (1983, 29) wie folgt definiert werden: „- eine 'engere' Handlungsbeschreibung thematisiert das Ausführen von Körperbewegungen, ohne daß diese Information irgendeinen Schluß auf das Ergebnis oder auf eine Folge der Handlung zuließe; - eine 'weitere' Handlungsbeschreibung thematisiert eine Folge einer Handlung, ohne daß diese Information irgendeinen Schluß auf das Ergebnis der Handlung oder das Ausführen von Körperbewegungen zuließe." Die bei Harras zu exemplarischen Zwecken angeführten Beschreibungen ein und desselben Sich-
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Wobei diesbezüglich diskutiert wird, ob es unterschiedliche Beschreibungen ein und derselben Handlung geben kann, oder ob wir es unter verschiedenen Beschreibungen mit entsprechend verschiedenen Handlungen zu tun haben (Harras, 1983, 23ff.). Die Frage, ob sich unterschiedliche Handlungsbeschreibungen auf nur ein oder zwangsläufig auf mehrere Objekte „beziehen", diskutiert auch Lenk. Seine überzeugende Schlußfolgerung lautet: „Ein Nein zur strikten Identitätsthese muß nicht die Ansicht zur Folge haben, alle durch geringfügige Abänderungen erfolgten Beschreibungsdifferenzierungen würden nun verschiedene Handlungen ergeben" (Lenk, 1978, 287). Natürlich kommt hier alles darauf an, was im konkreten Fall noch als „geringfügige" Modifikation einer Handlungsbeschreibung akzeptiert werden kann und was schon als eine in die Struktur des Objektes eingreifende Rekonstitution oder Refiguration aufzufassen ist.
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Verhaltens reichen von einer sehr engen Beschreibung - „Person A bewegte ihre Hand auf eine bestimmte Weise" - über mehr oder weniger enge und weite Beschreibungen - „A betätigte den Fenstergriff, „A öffnete das Fenster", „A lüftete den Raum" - bis hin zu einer sehr weiten - „A verschaffte sich Kühlung".' 0 Die angeführten Beispiele für mögliche Beschreibungen zeigen nicht nur die Vielfalt von denkbaren Beschreibungsvarianten (die offenkundig nicht unbedingt ein und dieselbe, „identische" Handlung beschreiben müssen). Sie verdeutlichen darüber hinaus noch einmal grundsätzliche Grenzen, die der Beschreibung eines Sich-Verhaltens als Handlung gesetzt sind. So ist etwa die engste der angeführten Beschreibungen noch nicht einmal eindeutig die Beschreibung einer Handlung, da wir es unter dieser Beschreibung durchaus auch mit einem bloßen Verhalten, einer Reflexbewegung etwa, zu tun haben könnten. Wenn nun bereits verneint werden muß, daß diese Verhaltensbeschreibung ohne weiteres als eine Handlungsbeschreibung gelesen werden kann, ist evident, daß biochemische Analysen und die damit verbundenen Beschreibungs- und Erklärungskonstrukte außerhalb des Rahmens handlungspsychologischen Denkens angesiedelt sind.
2.5 Handlung und Körperbewegung In den meisten Definitionen des Handlungsbegriffs findet sich ein Merkmal, das im folgenden nicht übernommen wird. Viele Autoren verbinden in ihren Definitionen Handlungen selbst dann, wenn sie sie expressis verbis nicht mit Körperbewegungen identifizieren (oder auf diese reduzieren), unweigerlich mit ebensolchen. Handlungen implizieren demnach (beobachtbare) Körperbewegungen. Dagegen lassen sich folgenreiche Bedenken anmelden. Lenks auch in diesem Punkt problematische Auffassung steht wiederum pars pro toto. Wie Lenk zunächst ausführt, sind Handlungen generell und „zweckmäßigerweise nicht mit den sie exemplifizierenden Körperbewegungen zu identifizieren, sondern diese müssen gedeutet werden, damit sie überhaupt als Handlungen erfaßt werden und eine angemessene Reaktion hervorrufen. Der Beobachtende muß die wahrgenommene Körperbewegung erst als Handlung verstehen, er muß sie also interpretieren, muß sie auf Handlungsregeln und -gewohnheiten beziehen, einbetten in einen bestimmten Erwartungsrahmen, in eine Situation, in eine bestimmte regelmäßige Abfolge, die er kennt usw. Bei Handlungen geht es offensichtlich nicht unmittelbar um Körperbewegungen, um etwas bloß physisch Beobachtbares, sondern wahrgenommene Handlungen sind Ergebnisse von Interpretationen; sie sind Interpretationskonstrukte, Deutungen von meist beobachtbaren Körperbewegungen und entstehen durch eine kontext-
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Die schematisch geordnete Darstellung dient dabei der Erörterung der hier nicht interessierenden Frage nach der sogenannten Normalbeschreibung einer Handlung, womit die Frage nach der Möglichkeit der Identifikation von sogenannten Basishandlungen verknüpft ist.
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bezogene, situationsabhängige, rezipientenbezogene, also pragmatische Interpretation. Eine Interpretation ist notwendig, damit eine Handlung überhaupt als solche gefaßt und erfaßt werden kann" (Lenk, 1993,171). Erst auf den zweiten Blick erweist es sich als problematisch, wie Lenk den Handlungsbegriff an die anscheinend unabdingbare Vorstellung von Körperbewegungen bindet. Dabei sehe ich von der unklaren Redeweise ab, daß Handlungen durch Körperbewegungen „exemplifiziert" werden. Für unhaltbar halte ich die Ansicht, daß Handlungen, obwohl sie nicht bloße Körperbewegungen sind, dennoch generell mit solchen verbunden sein sollen. Es ist zwar zutreffend, daß zu gewissen Handlungen Körperbewegungen gehören und zu ihrer Identifizierung und Deskription demgemäß auf solche Bewegungen Bezug genommen werden muß." Höchst problematisch ist es aber, den Handlungsbegriff so zu definieren, daß wahrgenommene Handlungen generell als Deutungen oder Interpretationen von Körperbewegungen begriffen werden. Gerade dies wird von Lenk jedoch nahegelegt. So meint er auch, Unterlassungen bestünden „letztlich darin, daß eine bestimmte, erwartete Bewegung eben nicht durchgeführt wurde" (ebd., 170). Unterlassungen erscheinen damit (jedenfalls auch) als unterlassene Bewegungen. An anderem Ort stimmt Lenk Thalberg darin zu, daß man „in der Regel (außer etwa bei Unterlassungen) Bewegungsbeschreibungen, physiologische Charakterisierungen von Handlungen berücksichtigen muß". Solche Bewegungsbeschreibungen seien „auch nötig", heißt es weiter, um Handlungen als „wirkliche" Handlungen auffassen zu können. Und schließlich wird kategorisch bestimmt: „Eine Handlung ist stets ... interpretationsimprägnierte Bewegung oder deren Unterlassung" (ebd., 174). Für die hier verfolgten Interessen ist ein Widerspruch in Lenks Ausführungen sehr bedeutsam. Lenk bezeichnet nämlich nicht zuletzt das Deuten oder Interpretieren als ein Handeln. In welcher Weise aber sollten diese Handlungen an beobachtbare Körperbewegungen gekoppelt sein? Es bestehen in der Tat gute Gründe dafür, Deutungen und Interpretationen als Handlungen aufzufassen. Dies ist für die interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie sogar unumgänglich, wenn die besagten Handlungen - etwa zum hier verfolgten Zweck der Ausarbeitung einer Theorie, Methodologie und Methodik interpretativer Erkenntnisbildung in der empirischen Handlungspsychologie - genauer qualifiziert und methodisch geregelt werden sollen. Deutungen und Interpretationen nenne ich im folgenden sprachlich-kommunikative oder Denkhandlungen. Nach
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Solche Handlungen sind übrigens keine Körperbewegungen, zu denen noch etwas anderes, etwa ein „geistiges Ereignis" wie eine Absicht, hinzukommt. Gegen diese Auffassung, nach der Körper und Geist zweierlei Leben fuhren und Handlungen sich demzufolge aus zweierlei separaten Ereignissen zusammensetzen, hat Ryle (1969, 95f.) in einflußreicher Weise polemisiert. Richtungsweisend für diese Kritik waren Bemerkungen Wittgensteins (1984a, 467, Absatz 621). Bereits Wittgenstein wendet sich gegen das „philosophische Doppelleben" von Körper und Geist. Er bezieht sich dabei auf (solche) Handlungen, bei denen nichts übrig bleibt, wenn die Körperbewegungen „gestrichen" würden. Ob es richtig ist, wie Lenk (1993, 171) zu behaupten, daß für Wittgenstein „die Handlung und die Bewegung ... 'dasselbe' (sind)", erscheint gleichwohl zweifelhaft.
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I. Handlung
den bereits vorgenommenen terminologischen Klärungen ist davon auszugehen, daß Deutungen auf eine dem Akteur oftmals nicht bewußte, vollständig routinisierte oder automatisierte Weise vollzogen werden können, Interpretationen dagegen definitionsgemäß (zumindest partiell) bewußtseinskontrollierte und methodische Handlungen darstellen. Solche im Medium der Sprache vollzogenen Denkhandlungen können, wie auch Lenk vorschlägt, im Anschluß an die kognitive Psychologie als Schemabildungen und Schemaanwendungen konzeptualisiert und detaillierter beschrieben werden.12 Es ist leicht zu sehen, daß Körperbewegungen für die Identität und Charakteristik von Denkhandlungen jeder Art in der Regel völlig irrelevant sind. Wenn das Deuten und Interpretieren als ein Handeln aufgefaßt wird, ist es widersprüchlich, Handlungen so zu konzeptualisieren, wie es Lenk tut. Im Gegensatz zu dessen Ansicht ist es keineswegs so, daß es immer irgendwelche Körperbewegungen zu deuten oder zu interpretieren gibt, wenn bestimmte Verhaltensweisen als Handlungen aufgefaßt werden (sollen). Denn welche (ihrerseits „interpretationsimprägnierten") Bewegungen werden ausgeführt (oder unterlassen), wenn man handelt, indem man deutet oder interpretiert (oder dies zu tun unterläßt)?
2.6 Internale und externale Handlungen sowie weitere Unterscheidungen Die soeben aufgezeigten Schwierigkeiten lassen sich durch einige wenige, teilweise schon in Anspruch genommene Unterscheidungen vermeiden. Deutungen und Interpretationen wurden als sprachlich-kommunikative Handlungen oder als Denkhandlungen bezeichnet. In Anlehnung an die Terminologie Boeschs sollen die Denkhandlungen nun dem Typus der internalen oder symbolischen Handlungen zugeordnet und diese von den extemalen oder praxischen Handlungen abgegrenzt werden. Da wir das Denken auch als ein „inneres Sprechen" auffassen können, sind Deutungen und Interpretationen generell als spezielle sprachliche Handlungen zu begreifen. Insofern Deutungen und insbesondere
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Lenk nimmt bei der Einführung des Schemabegriffs allerdings nicht allein auf die kognitive Psychologie Bezug, sondern auch auf Kants transzendentalphilosophisch-epistemologische Verwendung dieses Begriffs „zur Verbindung zwischen Sinnesrezeption einerseits und begrifflicher Erfassung andererseits ... Er (Kant, J.S.) sieht ein 'Schema' als ein 'Produkt der Einbildungskraft', das keine Einzelbilder, sondern die 'Einheit' der Anschauungen 'in der Bestimmung der Sinnlichkeit' ... zur Absicht hat" (Lenk, 1993, 233). Was die kognitive Psychologie betrifft, sind für Lenk Arbeiten Rumelharts (1980) maßgeblich (siehe Lenk, 1993, 203ff., 234ff.). Daß Schematisierungen in einem radikalen Sinne Welten interpretativ konstituieren und nicht nur im Rahmen einer bereits konstituierten Welt Wirklichkeitsaspekte in einer sozial geregelten Weise auslegen können, betont Abel (1993, 41) in Anlehnung an Goodman (1984). Damit kommt die Frage nach der potentiellen Inkompatibilität der durch Schematisierungen erzeugten Welten ins Spiel.
2. Fundamentale Unterscheidungen
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Interpretationen in bewußter und reflexiver Einstellung vorgenommen werden, können diese internalen Handlungen auch reflexiv genannt werden. Im einzelnen: Boesch unterscheidet Handlungen, die eine Person auf eine für andere prinzipiell nicht wahrnehmbare Weise vollzieht, von solchen, die zwangsläufig eine äußere Gestalt annehmen. Zu letzteren, den externalen oder praxischen Handlungen, gehören etwa: gehen, essen, schreiben, einen Krug töpfern, ein Kleid weben, einen Schrank herstellen, Fußball spielen. Alle diese Handlungen sind sichtbare, jedenfalls im Prinzip wahrnehmbare Verhaltensweisen, für die gilt: „All these actions visibly transform material aspects of reality: either the actor moves himself in space, or he shifts, manipulates, transforms or even creates objects" (Boesch, 1991,96). Rein internale Handlungen manifestieren sich nicht in dieser Weise. Sie zeichnen sich vielmehr dadurch aus, daß sie nicht unmittelbar in externale Wirklichkeiten, zumindest nicht in aktualiter präsente, eingreifen und diese verändern. Vorstellungen, Ideen und Phantasien, Erinnerungen und Erwartungen sind der „Stoff* solcher internaler Handlungen; Sprache oder Bilder, Zeichen beziehungsweise Symbole sind das „Medium", in dem sie Wirklichkeiten vergegenwärtigen, Möglichkeitsräume eröffnen und erkunden. Wie Boesch hervorhebt, kann dieser Gebrauch des Wirklichkeits- und Möglichkeitssinnes der Antizipation und gedanklichen Vorbereitung praxischer Handlungen dienen. Internale Akte können jedoch auch ganz unabhängig von antizipierten praxischen Manifestationen vollzogen werden. Gedanken, Vorstellungen, Wünsche, Phantasien, Fiktionen und Tagträume sind der Welt praxischen Handelns im übrigen keine Rechenschaft schuldig. Sie sind, psychologisch betrachtet, „selbständig", etwas Eigenes und Eigenständiges, weder ersetzbar noch bloßer Ersatz für anderes: „Imagination gives meaning, hope and sense to our lives, but also doubt, anxiety and despair; thus, referent action is more than a Substitute: it forms an essential component of action" (ebd., 99). Während internale Handlungen selbständig sein können, implizieren externale Handlungen notwendigerweise internale. Die sprachlich vermittelten Selbst-, Situations- und Weltauffassungen gehören zwingend zum praxischen Handeln. Weitere Unterschiede zwischen praxischen und internalen Handlungen bestehen darin, daß erstere als gleichsam öffentliche, zumindest im Prinzip für andere sichtbare Handlungen stärker der sozialen Kontrolle unterstehen. Demzufolge sind sie im allgemeinen auch einer stärkeren (äußeren und inneren) Überwachung und Regulierung unterworfen. Sie unterstehen, psychoanalytisch gesprochen, der Ich-Kontrolle und den Über-Ich-Instanzen (Gewissen, IchIdeal). Das praxische Handeln muß sich den äußeren, materiellen und sozialen Verhältnissen, in denen es vollzogen wird und in die es womöglich eingreift, anpassen, es muß, um die Gegebenheiten meistern zu können, mit diesen rechnen und gegen Widerstand gewappnet sein. Demgegenüber zeichnet sich das internale Handeln durch größere Freiheitsgrade und Spielräume aus, daneben aber auch durch besondere Risiken. So kennen bloße Tagträume zwar keine Grenzen, können aber gerade deswegen in die Irre führen. Wer ihnen grenzenlos nachgeht, kann leicht Ohnmachtsgefühle und eine Entwertung des Selbst erleben - anstatt der vielleicht imaginierten praxischen Kompetenz und Macht.
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I. Handlung
Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen extemalen, offenen Handlungen einerseits, internalen, verdeckten Akten andererseits, kann eine bereits eingeführte Differenzierung präzisiert werden. Handlungen sind mit Deutungs- und Interpretationsleistungen aufs engste verknüpft; ohne den Rekurs auf derartige Leistungen wäre keinerlei externales oder internales Handeln möglich. Der Vollzug jedes beliebigen Handelns ist hermeneutisch vermittelt, er ist an explizite oder implizite Deutungen gekoppelt. Sodann können nun bestimmte Deutungen oder Interpretationen als eigenständige, spezielle internale Handlungen begriffen werden. Ich meine natürlich jene Deutungen oder Interpretationen, die sich, im Alltag und in der Wissenschaft, auf externale oder internale Handlungen beziehen, um diese erfassen, beschreiben, analysieren, verstehen, erklären oder beurteilen zu können. Von diesen könnten bei Bedarf andere internale Handlungen unterschieden werden. Erinnerungen, Erwartungen, Phantasien, Tagträume, Fiktionen, utopische Visionen und andere Gedanken, Vorstellungen oder Ideen mögen manches gemeinsam haben, was die verbindenden Titel „internal", „imaginary" oder „referent action" rechtfertigt. Ein- und dasselbe sind sie offenkundig nicht. Manche Handlungen bestehen in nichts anderem oder sind im wesentlichen nichts anderes als Deutungs- oder Interpretationsleistungen, und als solche dienen sie unmittelbar der Identifikation, Beschreibung und Analyse (beispielsweise) anderer extemaler oder internaler Handlungen. Die methodisch geregelten interpretativen Handlungen stehen im Zentrum der Methodologie und Methodik der sinnverstehenden Handlungs- und Kulturpsychologie. Grundsätzlich kann jedes Individuum „ganz für sich alleine" über Handlungen, seine eigenen und diejenigen anderer Personen, reflektieren und diese bestimmen, beschreiben und analysieren. In diesem Fall ist der internale Charakter interpretativen Handelns evident. Menschen können sich jedoch auch gemeinsam über ihre Praxis und die ihrer Mitmenschen, ihrer Zeitgenossen, Vorfahren und Nachkommen, beraten. Sie können ihre Deutungs-, Interpretations- und Verstehensbemühungen koordinieren, wechselseitig kritisieren und so gemeinsam ein möglichst differenziertes Verständnis der fraglichen Angelegenheiten aushandeln. Im Hinblick auf die Gesprächsbeiträge in solchen dialogisch strukturierten Kommunikationssituationen von „reinen" internalen Handlungen der Gesprächspartner zu reden, wäre offenkundig verfehlt. Wie dieses Beispiel zeigt, hat die Unterscheidung zwischen internalen und externalen Handlungen akzentuierenden Charakter. Externale und internale Handlungen verkörpern die Pole eines Kontinuums, auf dem mannigfaltige Mischtypen angesiedelt sind. Im Hinblick auf die (mehr oder minder) internalen Handlungen läßt sich sagen: „the imaginary action can produce no, or few, or strong praxic components" (ebd., 97). Interpretationen, wie wir sie formulieren, während wir zu anderen sprechen, sind in einem Zwischenbereich des Kontinuums zwischen reinen internalen und externalen Handlungen angesiedelt. Dem wurde bereits dadurch Rechnung getragen, daß Interpretationen als Denkhandlungen oder sprachlichkommunikative Äußerungen bezeichnet wurden. Dabei wäre allerdings zu bedenken, daß auch für die sprachlich-kommunikativen Handlungen gilt, was
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2. Fundamentale Unterscheidungen
Boesch etwa vom Erzählen einer Geschichte sagt: „its material impact is minimal, since it does not deal with objects, but with ideas and images" (ebd., 97). Nur auf der skizzierten begrifflichen Grundlage ist es widerspruchsfrei möglich, Deutungen und Interpretationen angemessen zu konzeptualisieren, nämlich als spezielle Handlungsweisen. Im übrigen ist es in der heutigen Sprachpsychologie üblich, das Sprechen und Sprachverstehen als „Bestandteile einer situationsspezifischen Kette aus Handlungen und Handlungsverstehen" (Herrmann, 1990, 285) zu begreifen. Das Deuten und Interpretieren, sei es von sprachlichen oder nicht-sprachlichen Handlungen, ist selbst ein an rezeptive und produktive Leistungen gebundenes sprachliches Handeln. Sprachliches Handeln ist dabei generell „eine besondere Art des Handelns, das in einen Handlungszusammenhang eingebunden ist. Und das Sprachverstehen ist das Verstehen einer besonderen Art fremden Handelns, wobei dieses Verstehen in das Verständnis der gesamten Situation eingebettet ist" (ebd., 285). Die zuletzt getroffenen Unterscheidungen sind im folgenden Begriffsbaum schematisch zusammengefaßt:
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Sich-Verhalten oder Verhalten
bloßes, rein reaktives Verhalten Handeln
| externales, praxisches Handeln Bewegungshandeln
1 |
1 internales, symbolisches Handeln
sprachliches Handeln
externales Sprechen sprachlich-kommunikatives Handeln und Schreiben
nonverbales Handeln internales Sprechen, Denkhandlungen
Sprechhandlungen '
Interpretieren
Abb. 1: Verortung der Interpretation im Begriffsfeld externalen und internalen Handelns
Von den internalen oder symbolischen grenze ich externale oder praxische Handlungen ab. Zu letzteren gehören alle zwar nicht auf bloße Körperbewegungen reduzierbaren, aber doch an solche Bewegungen gebundenen motorischen Handlungen oder Bewegungshandlungen. Unter den internalen Handlungen, bisweilen auch im Grenzbereich von externalen und internalen Handlungen,
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I. Handlung
finden sich neben den nicht sprachsymbolisch strukturierten, nonverbalen Handlungen die sprachsymbolischen, oder kurz: die sprachlichen Handlungen. Diese wiederum können idealtypisch in externale sprachlich-kommunikative Äußerungen (auch das Schreiben gehört hierher) und in internale sprachsymbolische Handlungen, die sogenannten Denkhandlungen, untergliedert werden. Eine besondere Gruppe der sprachlich-kommunikativen Handlungen und der Denkhandlungen bilden jene wissenschaftlich-psychologischen Interpretationen, die der wissenschaftlichen Konstruktion, Identifikation, Beschreibung, Erklärung, Begründung und Beurteilung von beliebigen anderen Handlungen, Handlungsobjektivationen und sonstigen psychologisch relevanten Aspekten soziokultureller und individueller Wirklichkeiten dienen. Schließlich sei noch auf einen Gesichtspunkt hingewiesen, der im nächsten Abschnitt bearbeitet wird. An den externalen, sprachlich-kommunikativen Handlungen lassen sich wiederum verschiedene Aspekte differenzieren. Dabei kommt jener gängigen Typisierung, die sprachliche Handlungen als Sprechhandlungen begreift, eine besondere Rolle zu.
2.7 Sprechhandlungen Sprachliche Handlungen können zahlreiche Funktionen erfüllen. Dies gilt nicht nur für mündliche Äußerungen in sozialen Kommunikations- und Interaktionssituationen, sondern auch für textuell vermittelte Äußerungen, speziell für jene Objektivationen, Protokolle oder Sedimente sprachlichen Handelns, die die Handlungs- und Kulturpsychologie als empirisches Datenmaterial heranzieht (beispielsweise Transkripte von Interviews, Gruppendiskussionen). Ein für die Psychologie wichtiges Kriterium für die Differenzierung von Analyseperspektiven liefert der Blick auf solche Funktionen sprachlich-kommunikativen Handelns bzw. seiner textförmigen Objektivationen. Die jeweilige Auffassung davon, was Menschen tun, indem sie sprechen, und welche Funktion dieses Sprechen erfüllt, bestimmt unmittelbar die offenstehenden Wege psychologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Die schlichte Tatsache, daß Personen handeln, indem sie sprechen, ist indes lange Zeit nicht angemessen berücksichtigt oder gar systematisch erkundet worden. Eingehende Untersuchungen der pragmatischen Aspekte der Sprache wurden erst im 20. Jahrhundert angestellt, insbesondere im Rahmen der Sprechakttheorie. Ich gehe wegen der offenkundigen Relevanz einer pragmatischen Sprachauffassung für die handlungs- und kulturpsychologische Textanalyse auf die hier interessierenden Grundzüge dieses Ansatzes ein. Vorab werden in Kürze und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige wichtige Funktionen sprachlich-kommunikativen Handelns benannt. Eine geläufige, in der Philosophie und den Wissenschaften traditionell besonders beachtete Funktion sprachlichen Handelns besteht in der Feststellung und näheren Qualifizierung oder Beschreibung von Sachverhalten, wie sie insbesondere durch die Verwendung deiktischer Ausdrücke von Raum und Zeit, von Artikeln und Demonstrativa sowie qualifizierenden Prädikaten ermöglicht
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werden. Diese Funktion tritt in den Sozialwissenschaften beispielsweise mit in den Vordergrund, wenn Schütze die Kommunikationsschemata des Beschreibens und Erzählens auch als „Sachverhaltsdarstellungsschemata" bezeichnet.' 3 Eng mit der besagten Funktion verknüpft ist die Informationsfunktion der Sprache, unter Umständen auch die allgemein wichtige Rolle sprachlichkommunikativer Äußerungen bei der Handlungskoordination von Interaktionspartnern. Sind Feststellungen und Qualifizierungen von Sachverhalten zutreffend, können sie als berechtigte Behauptungen gelten. Konstative Sprechakte referieren auf einen Sachverhalt, sie identifizieren diesen, qualifizieren ihn durch spezielle Prädikationen, sie bestimmen ihn und stellen ihn mehr oder weniger detailliert dar. Bezugspunkte dieser sprachlichen Handlungen sind, wie in Anlehnung an Habermas' (1991 I, 126ff.) Unterscheidung verschiedener Weltbezüge und Rationalitätsimplikationen des Handelns gesagt werden kann, entweder Sachverhalte in der objektiven oder in der sozialen Welt. Konstative Äußerungen beziehungsweise deren propositionaler Gehalt sind mit Geltungsansprüchen verbunden, die in argumentativ strukturierten Auseinandersetzungen oder Diskursen zur Diskussion gestellt, also kritisiert und begründet werden können. Die Funktionen der Information und Handlungskoordination können auch jene sprachlichen Handlungen erfüllen, durch die der Sprecher Aspekte seines eigenen Selbst thematisiert und anderen Personen präsentiert. In Äußerungen, die diesem „dramaturgischen" (Habermas) Handlungsmodell folgen, ist nicht von Sachverhalten in der objektiven und sozialen Welt (und den Geltungsansprüchen der hierauf bezogenen Aussagen) die Rede. Vielmehr verleiht der dramaturgisch handelnde Sprecher diesem oder jenem Aspekt seiner Subjektivität Ausdruck. Die Sprache dient damit der Selbstexpression von Personen, die, wahrhaftig oder sich selbst und andere „täuschend", ihre subjektive Welt oder Identität artikulieren. Es liegt auf der Hand, daß nicht zuletzt solche sprachlichen Handlungen, durch die ein Sprecher eigene Gedanken, Vorstellungen, Befindlichkeiten, Gefühle und dergleichen „bildet" und zum Ausdruck bringt, für die Psychologie von großem Interesse sind. Solche Selbstthematisierungen von Subjekten sind in aller Regel auch Thematisierungen der sozialen Welt des Sprechers, einer Welt (konkreter) sozialer Beziehungen, in der das betreffende Individuum eben lebt und die es in der jeweils artikulierten Weise erlebt. Hervorzuheben ist, daß die sprachlichen Selbst- und Weltthematisierungen von Subjekten nicht bloß zum Ausdruck bringen können, was schon oft gesagt wurde und dem Sprecher entsprechend vertraut ist. Selbstexpressive
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Dieser Ausdruck fällt in vielen Texten, in denen Schütze seine narrationstheoretisch fundierte Konzeption soziologischer Forschung vorstellt (siehe etwa Kallmeyer & Schütze, 1977; Schütze, 1987)). Selbstverständlich reduziert Schütze die Funktion der genannten Kommunikationsschemata nicht auf die Aufgabe der Sachverhaltsdarstellung. Das Argumentieren als das dritte von Schütze genannte Kommunikationsschema dient ohnehin ganz anderen Zwecken, so daß diesbezüglich der Ausdruck „Sachverhaltsdarstellung" eigentlich nicht recht paßt.
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I. Handlung
Akte können Aspekte des Selbst in kreativer Weise schaffen, gestalten und umbilden. Das Medium der Sprache ermöglicht es dabei in einzigartiger Weise, den Selbstausdruck zu reflektieren und schließlich in das Selbstbewußtsein und Selbstverständnis des Sprechers zu integrieren. Die kreativen Aspekte der Selbstexpression von Subjekten verweisen auf eine allgemeine Funktion aller sprachlich-kommunikativen Handlungen, insofern diese die Wirklichkeiten, von denen gesprochen wird, als sprachsymbolisch bestimmte und strukturierte Welten erst konstituieren. Sprechend bewegt man sich innerhalb eines sprachlich strukturierten Rahmens. Dieser gewährt Freiheiten, die das nicht-sprachliche Handeln nicht besitzt. Sprechend können sich Menschen in unterschiedlichen Zeiten bewegen, sie können Vergangenes repräsentieren und die erwartete Zukunft antizipieren. Sie können sich vorstellen, phantasieren und bedenken, was sie vielleicht nie tun werden. Wo die Sprache der „Neigung, die Wirklichkeit symbolisch zu sehen" (Langer, 1965),14 Platz verschafft, eröffnen sich weite Räume und Zeithorizonte. Die damit verbundene Flexibilisierung der menschlichen Handlungsfähigkeit ist in ihrer praktischen Bedeutung bekanntlich kaum zu überschätzen. Blickt man auf die angeführten Funktionen zurück, so läßt sich im großen und ganzen feststellen, daß Sprecher entweder über etwas oder von sich reden. Sie beziehen sich auf Aspekte der objektiven oder sozialen Welt und sie artikulieren Bestandteile ihres Selbst und ihrer subjektiven Welt. Mit alledem vollziehen sie sprachliche Handlungen. Bezieht man sich auf Karl Bühlers (1934) einflußreiches Organon-Modell der Sprache, in der die Sprache beziehungsweise das Zeichen als ein für unterschiedliche Funktionen zweckdienliches Mittel aufgefaßt wird, läßt sich sagen, daß die bisher genannten Aspekte im wesentlichen der Darstellungsfunktion und der Ausdrucksfunktion zugeordnet werden könnten. (Eine Ausnahme bildet die erwähnte, weiter gefaßte Funktion der Handlungskoordination, durch die die sprachliche Gestaltung sozialer Beziehungen angesprochen ist.) Ein Zeichen begreift Bühler als ein Symbol, wenn es um dessen Beziehung zu den Gegenständen und Sachverhalten geht, die zur Darstellung gelangen. Ein Symptom nennt er das Zeichen, insofern es den inneren Zustand des Senders ausdrückt (ebd., 28). Die konstitutiven Funktionen der Sprache als ein Medium der Welterzeugung berücksichtigt Bühler nicht eigens. Seine Sprachtheorie ist, was die Darstellungsfunktion betrifft, noch ganz einer epistemologisch fragwürdigen Abbildtheorie verhaftet, die Sprache und Welt als zwei völlig voneinander unabhängige Bezugsgrößen konzeptualisiert. Bühlers Sprache spricht von der „Wirklichkeit da draußen", wie mit einer heute gängigen Formel, die den kritischen Abstand zu naiv-realisti-
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Langer untersucht am angegebenen Ort die Entstehung von sprachlichen (diskursiven) und nicht-sprachlichen (präsentativen) Symbolen. Entwicklungsgeschichtlich älter sind selbstverständlich die präsentativen Formen des Symbolgebrauchs; die Herausbildung konnotativer Bedeutungssysteme geht derjenigen von denotativen Bedeutungen voran, und zwar sowohl in der Evolution der Lebewesen allgemein, als auch in der Gattungsgeschichte des Menschen und schließlich in der Ontogenese beziehungsweise Lebensgeschichte von Individuen.
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sehen Sprach- und Erkenntniskonzeptionen anzeigt, gesagt werden mag (Rorty, 1981). Ungeachtet dieser Schwäche von Bühlers Ansatz ist ein weiterer, nämlich der dritte Aspekt des Organon-Modells hervorzuheben. Bühler spricht nicht zuletzt von einer Funktion der Sprache, die zumindest in die Nähe derjenigen rückt, um die es im folgenden geht. Er betrachtet das Zeichen nämlich auch als ein Signal, insofern es als ein Appell fungiert, der an einen Empfanger gerichtet ist, um auf diesen (sein Denken, Fühlen, Wollen und Handeln) Einfluß zu nehmen. Ein Zeichen muß nicht bloß eine einzige der genannten Funktionen erfüllen. Unser Sprechen ist multifunktional. Unser Sprachverstehen kann sich demgemäß in alle drei funktional differenzierten Richtungen bewegen. Bühlers Analyse der Appellfunktion der Sprache berührt einen Aspekt, der in der Sprachphilosophie (und sodann in verschiedenen empirischen Disziplinen) präzisiert und als wichtiges allgemeines Merkmal sprachlichen Handelns untersucht wurde. In diesem Zusammenhang ist es üblich geworden, in einem spezielleren Sinne von Sprechakten oder Sprechhandlungen zu reden. Austin (1962) schreibt gleich im ersten Satz seines bahnbrechenden Buches:15 „Ich habe nichts Schwieriges und schon gar nichts Anspruchsvolles zu sagen; ... Die Erscheinung, um die es geht, ist sehr verbreitet und liegt ganz offen zutage; hier und da müssen andere sie bemerkt haben. Aber ich habe noch niemanden gefunden, der sich richtig darum gekümmert hätte. Die Philosophen haben jetzt lange genug angenommen, das Geschäft von 'Feststellungen' oder 'Aussagen' [statements] sei einzig und allein, einen Sachverhalt zu 'beschreiben' oder eine 'Tatsache zu behaupten', und zwar entweder zutreffend oder unzutreffend. Die Grammatiker haben allerdings daraufhingewiesen, daß nicht alle 'Sätze' Aussagen sind (d.h. benutzt werden, um eine Aussage zu machen): neben den Aussagesätzen der Grammatiker gibt es von alters her auch Fragesätze, Ausrufesätze, Befehls-, Wunsch- und Konzessivsätze. Zweifellos hat auch kein Philosoph das bestreiten wollen, obgleich 'Satz' bisweilen leichtfertig für 'Aussage' oder 'Feststellung' benutzt worden ist" (Austin, 1979, 25).'6
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Bei der Originalausgabe von Austins berühmtem Buch handelt es sich um posthum bearbeitete und publizierte Vorlesungsnotizen. Eine deutsche, von Eike von Savigny besorgte „Übersetzung", die sich allerdings nicht strikt an der Vorlage orientiert, wurde unter dem Titel „Zur Theorie der Sprechakte" veröffentlicht. Danach wird hier zitiert.
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Es wird häufig auf eine gewisse Verwandtschaft zwischen diesem Gedanken und dem Denken des „späten" Wittgenstein hingewiesen. So hebt dieser im Absatz 23 der Philosophischen Untersuchungen, in dem er den Begriff des Sprachspiels erstmals verwendet, ebenfalls hervor, daß Sätze nicht nur Aussagen und Feststellungen seien. Er schließt dort mit einem Hinweis auf „die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen" und fordert dazu auf, „die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der LogischPhilosophischen Abhandlung.)" (Wittgenstein, 1984a, 250). Zwei Seiten später steht im Absatz 27: „Als ob es nur eines gäbe, das heißt: 'Von Dingen reden'. Während wir doch das Verschiedenartigste mit unseren Sätzen tun. Denken wir allein an die Ausrufe mit ihren ganz verschiedenen Funktionen: Wasser! Fort! Au! Hilfe! Schön! Nicht! Bist du nun noch geneigt, diese Wörter Benennungen von Gegenständen zu nennen?" Direkte Verbindungen zwischen den Arbeiten Wittgensteins und Austins sind nicht nachzuweisen (Harras, 1983, 95). Witt-
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Wie Wittgenstein geht Austin von einer Kritik an traditionellen Bedeutungstheorien aus. Beide unterscheiden verschiedene Funktionen und Typen sprachlichen Handelns, um schließlich einen Typ von Äußerungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Austins wesentlicher Punkt ist, sprachliche Äußerungen nicht bloß als sogenannte lokutionäre Akte aufzufassen. Sie gelten ihm vielmehr als Sprechakte, durch die nicht nur etwas gesagt wird, sondern mit denen weitere, bisweilen nicht einmal ohne weiteres identifizierbare Handlungen - sogenannte illokutionäre Akte - vollzogen werden. Von der auf semantischer Ebene angesiedelten Bedeutung einer Äußerung unterscheidet Austin ihre illokutionäre Rolle. Die Äußerung „Das würde ich lieber nicht tun!" mag beispielsweise als Ratschlag, als Warnung oder als Drohung gemeint sein und verstanden werden. Jede der angegebenen Deutungen weist diese Äußerung als einen spezifischen illokutionären Akt aus. Durch illokutionäre Akte wird unmittelbar etwas getan; diese Akte sollen etwas bewirken. Beispiele für illokutionäre Akte sind: sich entschuldigen, etwas versprechen, einen Befehl geben, schwören, jemanden demütigen, beleidigen, beschimpfen, warnen oder einschüchtern, jemandem drohen oder seine Liebe oder Verehrung oder Verachtung bezeugen, aber auch einfach etwas berichten oder eine Geschichte erzählen. Äußerungen mit derartigen Funktionen können, was den hervorgehobenen funktionalen Aspekt angeht, weder wahr noch falsch sein; sie können jedoch glücken oder mißlingen und vom Hörer aufgenommen und „beantwortet" oder mißachtet werden. Austin untersucht verschiedene Bedingungen, unter denen Sprechakte fehlschlagen, sei es, daß ein intendierter Sprechakt gar nicht zustande kommt, sei es, daß ein Sprecher eine illokutionäre Äußerung „mißbraucht" (zum Beispiel ein Versprechen gibt, von dem er von Anfang an weiß, daß er es nicht halten wird, oder das er aus irgendwelchen Gründen nicht einzuhalten vermag). Von perlokutionären Akten spricht er im Hinblick auf jene illokutionären Akte, die der Sprecher erfolgreich beendet und mit denen er den von ihm verfolgten
gensteins Beiträge zu einer, wie es heute heißt, „Gebrauchstheorie der Bedeutung" führen ohnehin nicht schnurgerade zu einer Theorie sprachlichen Handelns im Sinne von Austin oder gar von Searle. Es lag Wittgenstein fem, eine systematische Theorie zu formulieren. Philosophische Gründe für diese Abstinenz klärt Schneider (1992b). Er kritisiert die mit dem Programm einer Theorie sprachlichen Handelns verwobene Auffassung, die Sprache sei eine Art System konventioneller Regeln, deren Kenntnis Sprachkompetenz und Sprachbeherrschung ausmache, „im 'Jargon' gesprochen: das Wissen davon, welche Bedingungen jeweils erfüllt sein müssen, damit Äußerungen bestimmter Typen glücken" (Schneider, 1992b, 762). Dies setzt voraus, die Sprache als ein vollständig durch Regeln bestimmtes System, als Kalkül, aufzufassen. Damit werden alle innovativen und kreativen sprachlichen Handlungen - die sich eben nicht vollständig auf Regeln, schon gar nicht auf Regelwissen, zurückführen lassen - ausgeblendet. Schneider konzeptualisiert demgegenüber sprachliche Akte als regelbestimmtes und kreatives Handeln und damit als ein komplementär-kontrastiv strukturiertes Handeln (Schneider, 1992c). Angemerkt sei, daß Wittgenstein eine Theorie sprachlichen Handelns in seinen späten Schriften als Abweg gebrandmarkt hat, in seinen früheren Arbeiten aber selbst nahelegte. So vertrat Wittgenstein in den frühen dreißiger Jahren genau jene Kalkülauffassung, welche er später verwirft (und durch die „Sprachspielkonzeption" ersetzt).
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Zweck erreicht hat.11 Die zuletzt angeführte Unterscheidung und überhaupt die Frage nach dem Gelingen oder Mißlingen von illokutionären Akten ist im vorliegenden Zusammenhang keineswegs unwichtig, aber dennoch von untergeordneter Bedeutung. Sieht man von begrifflichen Problemen der Differenzierung zwischen illokutionären und perlokutionären Handlungen ab, so kommt deren Anwendung im hier interessierenden Forschungsbereich ja nur in Frage, wo es um die Analyse protokollierter performativer Äußerungen geht, mit denen sich ein Gesprächspartner direkt an sein Gegenüber wendet. Unmittelbar Erfolg haben können illokutionäre Akte nämlich nur dann, wenn sie sich an anwesende Interaktionspartner richten. Diese Bedingung ist in Interviews oder Gruppendiskussionen in einem gewissen Ausmaß erfüllt. Ich schlage jedoch vor, Austins Grundgedanken gerade auch für die Analyse von Texten fruchtbar zu machen, in denen sich der Sprecher nicht nur direkt an seinen Zuhörer wendet, sondern auch abwesende Adressaten anspricht. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Mensch im Rahmen eines lebensgeschichtlichen Interviews seinen längst verstorbenen Vater um Verzeihung für gewisse Handlungen bittet; oder wenn der Interviewte seinen einstigen Ehepartner noch Jahre nach der Scheidung anklagt. In keinem dieser Fälle kann der Angesprochene reagieren. Obwohl solche Äußerungen beim eigentlichen Adressaten keine (unmittelbaren) Auswirkungen zeitigen können, lassen sie sich als Handlungen verstehen, durch die Subjekte etwas tun, was psychologisch höchst bedeutsam sein kann. Ein illokutionärer Akt wird häufig implizit vollzogen. So ist es eben nicht gesagt, was es in pragmatischer Hinsicht bedeutet, wenn jemand den Satz „Das würde ich lieber nicht tun!" ausspricht. Illokutionäre Akte müssen aber nicht zwangsläufig implizit sein. Sie können auch ausdrücklich gemacht werden. Der Sprecher kann zu verstehen geben, was er mit dem Vollzug einer sprachlichen Äußerung zu tun gedenkt. Er kann beispielsweise sagen, daß er sich hiermit für sein mißliches Verhalten entschuldigen möchte, er kann ausdrücklich ein Versprechen abgeben, sein Beileid bekunden oder jemanden warnen. Explizit gemacht werden illokutionäre Akte durch den Gebrauch sogenannter performativer Verben oder Ausdrücke: „ich entschuldige mich dafür!", „ich verspreche es dir!", „mein Beileid!", „ich warne dich: tue das nicht!", „Dankeschön!". Performative Ausdrücke zeigen an, welche Handlungen, die nicht mit Referenz- und Expressionsfunktionen der Sprache einhergehen, der Sprecher mit seiner Äußerung vollzieht beziehungsweise zu vollziehen beabsichtigt. In , .reinen" performativen Äußerungen, auf die sich Austins Analysen zunächst konzentrierten, wird nichts anderes getan, als was der illokutionäre Akt jeweils „darstellt", beispielsweise eine Entschuldigung: „Wenn ich jemandem in der Straßenbahn auf die Zehen trete und sage: 'Entschuldigen Sie bitte', so beschreibe ich nicht etwas und vollziehe außerdem eine Handlung. Vielmehr vollziehe ich nur eine Handlung, nämlich die Handlung des Entschuldigens,
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Zu Einzelheiten und einigen Problemen dieser Unterscheidung siehe die knappe Darstellung von Stegmüller (1979).
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indem ich sage: 'Entschuldigen Sie bitte'. ... In diesen 'reinen' Formen performativer Äußerungen übernehmen die performativen Ausdrücke eine Doppelfunktion: Sie werden dazu benützt, eben denjenigen Akt zu vollziehen, den sie signalisieren sollen. Sagt jemand: 'Verzeihung!', so signalisiert er, indem er diesen lokutionären Akt vollzieht, durch die Verwendung eines bestimmten Wortes, daß er den illokutionären Akt der Entschuldigung vollziehen will. Diesen Akt vollzieht er aber durch Aussprechen eben dieses Wortes" (Stegmüller, 1979, 66ff.). Der illokutionäre Sinn sprachlicher Handlungen kann im übrigen nicht immer eindeutig festgestellt werden. Illokutionäre Akte können, wie Handlungen überhaupt, polyvalent sein. Sie sind dann performativ mehrdeutig. Man sieht das sehr schön an den psychologisch besonders interessanten, impliziten illokutionären Aspekten einer sprachlichen Handlung. Implizite illokutionäre Akte werden, wie dargelegt, vom Sprecher nicht als solche thematisiert oder sprachlich charakterisiert. In solchen Fällen kann es für den Rezipienten fraglich sein, worauf der Sprecher mit seinen Worten denn eigentlich hinaus will oder was die fragliche Äußerung denn eigentlich, auch unabhängig von den Intentionen des Sprechers, bedeutet (was sie also praktisch bezweckt). War dieser Satz ein Lob oder eine Beleidigung, bezeugt er die Anerkennung fremden Leids oder verkörpert er eine erneute Degradierung und Demütigung anderer Menschen, bedeutet er mehreres zugleich? Es gehört zu unser aller Erfahrung, daß derartige Fragen nicht immer leicht zu beantworten sind. Der Sprecher (und natürlich auch sonst niemand) hat nicht das exklusive Recht, die performative Bedeutung illokutionärer Akte festzulegen. Unbestritten ist wohl, daß jeder Sprecher mit Worten schon einmal etwas getan hat, was er nicht tun wollte und worüber er sich überhaupt erst nach einiger Zeit hat bewußt werden können. Die Psychologie fragt auch danach, was der Sprecher, während und indem er sprach, getan hat - egal, ob er sich dessen bewußt war oder nicht. Darüber vermag sich auch der Akteur selbst bisweilen erst in nachträglichen Deutungen der illokutionären Anteile seiner Rede Klarheit zu verschaffen (so er dies möchte; insofern es hierzu einen Anlaß gibt). Zu unserer Erfahrung gehört es ebenfalls, daß auch diese Klarheit stets vorläufig ist. Auch der pragmatische, illokutionäre Sinn ist kein definitiv faßbarer Gehalt, sondern Ergebnis einer Deutung oder Interpretation, die alternative Auslegungen nicht ausschließen kann. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Der Blick auf die illokutionären Akte, auf das also, was nicht unbedingt expressis verbis gesagt, sondern mit Worten getan wird, bildet einen wichtigen Gegenstandsaspekt psychologischer Forschung und eine unerläßliche Komponente der methodischen Einstellung psychologischer Textinterpreten. Diese haben in ihren Analysen nicht zuletzt darauf zu achten, wie Sprecher leiblich präsente und absente Adressaten behandeln, indem sie sprachlich handeln, was sie also mit sich und anderen tun, während sie nichts anderes tun, als Worte zu gebrauchen.
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3. Praktische und pathische Aspekte der Existenz Zweierlei Aspekte der menschlichen Praxis, nämlich Widerfahrnisse und Gefühle, werden in vielen psychologischen Handlungstheorien nicht hinreichend berücksichtigt. Dadurch erhalten diese Theorien eine aktivistische und rationalistische Schlagseite. Wer dies vermeiden möchte, muß den pathischen Momenten unseres Lebens Aufmerksamkeit entgegenbringen. Den Ausdruck „pathisch" verwende ich in einem weiten, keineswegs auf das von Menschen erlebte Leid eingeschränkten Sinn. Erlebnisse, die wir ohne unser willentliches Dazutun haben können, mögen willkommen oder gefürchtet sein. Im folgenden geht es um positive und negative Widerfahmisse und Gefühle. Diese gehören ebenso zum Dasein wie die gelungenen und gescheiterten Versuche aktiver Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Häufig sind letztere sinnhaft auf solche Widerfahmisse und Gefühle bezogen. Nicht zuletzt die erinnerten und erwarteten Erlebnisse, die uns mit den pathischen Aspekten unserer Existenz konfrontieren, setzen unser Handeln in Gang, motivieren uns und verleihen dem Tun Gestalt und Richtung.
3.1 Widerfahmisse Der Begriff des Widerfahrnisses verhält sich kontrastiv und komplementär zum Handlungsbegriff. Die hier wichtigen Gesichtspunkte sind schnell aufgezeigt (Kamiah, 1973, 34ff.). Die Rede von Widerfahrnissen bringt die allgemeine Erfahrung auf den Begriff, daß vieles von dem, was unser Leben prägt, nicht das Ergebnis und die Folge des eigenen Sich-Verhaltens ist, zumal nicht des Handelns, sondern etwas, was einem zustößt, eben widerfahrt. Widerfahrnisse werden von den Betroffenen erlitten. Diese mögen das Erlittene zwar post eventum reflektieren, psychisch gestalten und in den Rahmen eigener Handlungsmöglichkeiten integrieren. Zunächst aber geschieht, was einem widerfahrt, unabhängig vom eigenen Wünschen und Wollen. Die Erfahrung, daß wir Widerfahrnissen ausgesetzt sind und manches erleiden, das wir nicht durch eigenes Dazutun hervorgebracht haben, heißt nicht notwendigerweise, daß Widerfahrnisse Leid mit sich bringen. Wie angedeutet lassen sich negative von positiven Widerfahmissen unterscheiden, wobei allein die Perspektive des Betroffenen über Richtung und Intensität der Valenz entscheidet. Erstere sind emotional bedrückend, sie schränken die Handlungsmöglichkeiten ein und bedrohen eventuell auch die Handlungsfähigkeit eines Subjektes. Positive Widerfahmisse sind die glücklichen Zufälle, die die betroffene Person freudig begrüßt, die sie als willkommene Erweiterung ihrer Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten erlebt, vielleicht auch als eine Chance, aus der man etwas machen kann. Widerfahmisse können eher punktuelle Momente in der Lebensgeschichte sein. Neben solchen kurzweiligen Vorkommnissen mit Widerfahrnischarakter mag es der Fall sein, daß das Leben über eine länger anhaltende Zeit
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(eher) als etwas zu Erleidendes denn als selbstbewußt und eigenständig gestaltete Praxis erlebt wird. Schütze (1981) hat dem in der Ausarbeitung spezieller „Prozeßstrukturen" des Lebensverlaufs Rechnung getragen. Auch er knüpft an die aristotelische Grundunterscheidung zwischen Handlung und Widerfahrnis an. Eine von Widerfahrnissen geprägte Lebensphase besitzt die typisierbare Struktur einer „Verlaufskurve". Das biographietheoretische Konzept der negativen Verlaufskurve, das auf den Begriff bringt, wie Menschen in folgenreicher Weise von Widerfahrnissen betroffen und vielleicht überwältigt werden können, wurde auf der Grundlage zahlreicher empirischer Untersuchungen besonders gut ausgearbeitet (Riemann, 1987, 380ff.). Erst wenn Handlungen und Widerfahrnisse gleichermaßen in die Grundbegrifflichkeit der Psychologie eingehen, werden Konturen einer unverkürzten Vorstellung anthropologischer Erfahrungs- und Erwartungsstrukturen sichtbar. Der Begriff des Widerfahmisses steht letztlich für das Unverfügbare. Er verweist auf Ereignisse und Tatsachen, die sich durch keinerlei Gegenmaßnahmen beseitigen, bezwingen oder vermindern lassen, ganz davon zu schweigen, daß sie durch Voraussicht und vorbeugendes Handeln von vorneherein hätten abgewehrt und verhindert werden können. Der Blick auf Widerfahmisse führt zur Einsicht in pathische Aspekte unserer Existenz, an denen alles Wollen und Handeln seine unüberschreitbare Grenze findet. Wie Kamiah (1973, 35) schreibt, ist unser aller Leben „eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln." Man kann Widerfahrnisse ganz ohne pathetische Verklärung als Zeichen nicht bloß der Grenzen des Wollens und Handelns auffassen, sondern des individuellen Lebens überhaupt. Der Tod steht als eine Aussicht jedes Lebenden für das Unverfügbare schlechthin. Widerfahrnisse sind Zeichen der Endlichkeit des menschlichen Lebens. Gadamer spricht von dieser Aussicht auf das Ende her, wenn er in jeder „eigentlichen" Erfahrung zumindest eine Spur von einem Widerfahrnis ausfindig macht. Er nennt dies die Negativität der Erfahrung (Gadamer, 1986a, 359). Die eigentliche Erfahrung führt den Menschen zum Bewußtsein seiner Endlichkeit. Ich werde, sobald es um die Kreativität des Handelns geht, darlegen, daß selbst der Handlungsbegriff nicht strikt als bloßes Gegenteil des Widerfahmisses bestimmt werden kann. Die Handlung steht im Kontrast zum Widerfahrnis und ist in diesem Sinn ihr Komplement, gewiß. Und dennoch muß, sobald das Handeln in seiner komplexen Struktur auf den Begriff gebracht werden soll, den widerfahrnisartigen Momenten im Handeln selbst Raum gewährt werden. In Kamlahs (1973, 35) treffenden Worten: Auch dann, „wenn wir handeln, widerfahrt uns stets etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln." Vorerst genügt es, Widerfahrnisse als (begrifflich komplementäre) Gegenpole von Handlungen eingeführt und darauf hingewiesen zu haben, daß Widerfahrnisse als etwas Unverfügbares betrachtet werden müssen. Wir können Widerfahrnisse nicht generell verhindern. Widerfahrnisse post eventum im psychoanalytischen Sinne ungeschehen zu machen, ist eine Abwehrreaktion, die den Betroffenen bekanntlich nicht von den psychischen Folgen des Widerfah-
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renen befreit. Wir alle müssen, in der einen oder anderen Weise, mit Widerfahrnissen leben. Für den vernunftorientierten Umgang mit dem schechterdings Unverfügbaren hat die abendländische Tradition einen passenden Ausdruck: Gelassenheit (Kambartel, 1989).
3.2 Gefühle Manches spricht für die Auffassung, Menschen seien für ihre Stimmungen und Gefühle selbst zuständig, wenigstens bis zu einem gewissen Grad. So können wir durchaus Einfluß darauf nehmen, wie wir uns fühlen. Wir richten Situationen ein, um in bestimmte Stimmungen zu kommen, und schlechten Gefühlen begegnen wir mit tröstlichen Autosuggestionen und anderen Maßnahmen. Unseren Gefühlen nicht stets freien Lauf zu lassen, sondern sie situationsangemessen zu kontrollieren, erscheint uns als vernünftige Norm, die gewöhnlich eingehalten werden kann. Dennoch ist es so, daß wir nur begrenzte Macht über unsere Stimmungen und Gefühle besitzen. Niemand hat sich immer ganz in der Hand. Es gehört zu den Binsenweisheiten, daß sich Gefühle nicht geradewegs herstellen und vollständig manipulieren lassen. Sie werden vielmehr als etwas erlebt, was über einen kommt, was einen ergreift und gefangennimmt, nicht aber als etwas, was der Betroffene ganz und gar selbst hervorgebracht hat. Gefühlen wird üblicherweise eher Widerfahrnischarakter zugeschrieben, als daß sie als Resultat oder Folge herstellenden Handelns aufgefaßt werden. Die Einflußmöglichkeiten, an die soeben erinnert wurde, sind beschränkt und ändern nichts an dieser Eigenart unseres Gefühlslebens. Handlungstheorien gewähren Gefühlen in der Regel nicht allzu viel Raum. Dies wird häufig bemängelt. Werbik (1984, 643) etwa betrachtet es als ein Defizit seines eigenen Modells zielorientierten Handelns, daß die „Frage, wie Emotionen die Handlungsprozesse begleiten, nicht beantwortet" wird. Handlungstheorien gelten als kognitivistische, nicht selten als rationalistische Spielarten psychologischen Denkens. Demzufolge wird die Integration von Gefühlen beziehungsweise Emotionen in handlungspsychologische Theorien gefordert. Dörner (1985) sprach bereits vor einem Jahrzehnt von einer „emotionalen Wende", die der kognitiven Revolution der sechziger Jahre und der späteren Karriere der Handlungstheorie zu folgen habe. Mittlerweile liegen verschiedene Versuche vor, dieser Forderung nachzukommen. Diese Bemühungen sind nach der hier vertretenen Auffassung jedoch fast ausnahmslos problematisch, weil sie die Erforschung von Gefühlen, speziell auch des Zusammenhangs von Gefühlen und Handlungen, im Sinne des bedingungsanalytischen Modells konzeptualisieren. Laucken (1989) hat diesen Ansatz brillant kritisiert. An manche seiner Vorschläge, die auf eine empirisch-psychologische Semantik der Gefühle hinauslaufen (vgl. auch Mees, 1998), werde ich anknüpfen. Im ganzen wird Lauckens Konzeption, namentlich die theoretisch und empirisch besonders elaborierte Logographie der Gefühle, jedoch nicht übernommen. Ich werde die psychologi-
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sehe Beschreibung und (explanative) Analyse von Gefühlen vielmehr in den hermeneutischen Bezugsrahmen der interpretativen Handlungspsychologie stellen. Gefühle begreife ich unter theoretischen und methodologischen Aspekten nicht anders als Handlungen und Widerfahmisse generell. Auch Gefiihle sind Deutungs- oder Interpretationskonstrukte. Wer die Sache so sieht, muß die Mehrzahl der aktuellen Bemühungen um eine theoretische Integration von Handlung, Kognition, Volition, Motivation und Emotion bereits im Ansatz höchst fragwürdig finden. Interpretativ zu klärende Sinnstrukturen oder Verweisungszusammenhänge unterscheiden sich strikt von deterministisch oder probabilistisch formulierbaren Beziehungen im Sinne des nomologischen Modells. Gefühle sind keine psychologischen Einheiten, die wie bedeutungslose Entitäten isoliert, beobachtet und auf ihre kausalen Beziehungen zu anderen Entitäten hin erforscht werden können. Gefühle werden beispielsweise nicht durch Kognitionen oder Handlungen bedingt, zumindest nicht im strikten Sinn einer kausalen Verursachung. Und sie stellen ihrerseits auch keine kausalen Wirkgrößen dar, die Gedanken oder Handlungen bedingen. Die hier vertretene Handlungstheorie wendet sich gegen die „Naturalisierung" von Gefühlen und die „Kausalisierung" von Sinnund Bedeutungszusammenhängen. Laucken bietet eine ganze Reihe von Beispielen aus der Emotionspsychologie, die die fragwürdige Naturalisierung und Kausalisierung psychischer Phänomene, speziell von Gefühlen, illustrieren. Kaum eine der gängigen Theorien ist frei davon: attributionstheoretische Beiträge, psychoevolutionäre Ansätze, Theorien der Interaktion zwischen Emotion und Sprache, kognitions- und speziell bewertungstheoretische Sichtweisen (etwa die durch die Arbeiten von Lazarus berühmt gewordene) sowie einige andere Richtungen fassen Emotionen bereits in den ersten Schritten der Begriffsbildung als Naturereignisse auf, die Wirkungen oder Ursachen verkörpern (Laucken, 1989, 25f., 109ff.). Die emotionspsychologische Forschungspraxzs nimmt auf diese Auffassung allerdings häufig keine besondere Rücksicht. Laucken verdeutlicht dies exemplarisch an Untersuchungen Weiners. Er hält diesem zu Recht vor, eine „seltsame Methode" zur Erforschung von Naturgesetzen zu verwenden (ebd., 26f.). Wie viele andere Emotionspsychologen liest Weiner die Äußerungen (!) seiner Versuchspersonen über bestimmte Gefühle, die nach Auskunft der Probanden in bestimmten (zu Forschungszwecken fingierten) Situationen auftreten, als empirische Belege für naturgesetzliche Zusammenhänge zwischen bestimmten Emotionen und Kognitionen (Situationsdefinitionen). Auf diese Weise werden Aussagen über Gefühle (und Kognitionen) mit den interessierenden psychischen Phänomenen kurzerhand gleichgesetzt, semantische Beziehungen umstandslos als kausale begriffen.18 So gesellt
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Man kann Weiners Untersuchungen auch als Beleg dafür nehmen, daß nicht zuletzt in der Emotionspsychologie meistens ohnehin nichts anderes als empirische Semantik oder Hermeneutik betrieben wird: „Das Gros psychologischer Erkenntnisse", so Laucken (1989, 17), entstammt Verweisungsanalysen, „auch wenn ihre Schöpfer sich oft als bedingungsanalytisch
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sich eine methodische Unzulänglichkeit zur theoretisch zweifelhaften Konzeptualisierung von Gefühlen als bedingungsanalytisch erforschbare Ursachen oder Wirkungen anderer psychologischer „Tatsachen". Als zusätzliches Problem kommt, nebenbei bemerkt, häufig hinzu, daß auch in der Emotionspsychologie ungerichtete korrelationsstatistische Zusammenhänge als gerichtete Kausalzusammenhänge mißverstanden werden. Laucken wählt in seiner Psychologie der Gefühle einen anderen, sehr viel überzeugenderen Ausgangspunkt. Gefühle begreift er als Elemente von sprachlich artikulierbaren Verweisungsstrukturen oder, wie er mit Schapp (1953, 1981) sagt, von Geschichten." Die psychologische Erforschung von Gefühlen hat sich an jene Geschichten und sonstigen Explikate alltagsweltlicher Erfahrungen und Erwartungen zu halten, zu denen die interessierenden Gefühle jeweils gehören und passen. Solche Zugehörigkeiten sind durch interpretative Verweisungsanalysen aufklärbar, die an den Sinn- und Bedeutungsstrukturen unserer Sprache ansetzen. Elemente von Verweisungsstrukturen „sind nicht mit den Sinnen erfahrbar (und z. B. geometrisch darstellbar), sondern 'nur' geistig auffaßbar, verstehbar, einsichtig und ähnliches; die Einheiten der Verstandeswelt lassen sich nicht 'beleuchten', sondern nur denken" (Laucken, 1989, 16). Gefühle gehören, wie Handlungen, nicht zur „skopischen" Welt kausal bedingter, physischer Ereignisse. Eine mit der Handlungstheorie verträgliche Emotionspsychologie geht verweisungsanalytisch vor. Verweisungsbeziehungen zwischen Sinn- und Bedeutungseinheiten können unterschiedlich beschaffen sein. Die Spannweite verschiedener Verweisungsmodi reicht von streng logischen Folgebeziehungen bis hin zu recht losen
forschende Naturwissenschaftler sehen" (vgl. auch Laucken, 1986; Harre, 1987). Diese Diagnose trifft sich in manchen Aspekten mit dem Urteil Smedslunds, wie er es im Kontext der Debatte um die sogenannte Analytizität vermeintlich empirischer Erkenntnisse formuliert (Smedslund, 1979, 1980; weitere einschlägige Arbeiten dieses Autors sind angeführt in Smedslund, 1987; zur Diskussion siehe außerdem Brandstädter, 1987; Holzkamp, 1986). 19
Anzumerken ist, daß Schapps Begriff der Geschichte(n) zumindest dann viel zu unpräzise ist, wenn sprachlich verfaßte Erfahrungsgestalten in formaltheoretischer Hinsicht differenziert werden sollen. Nicht jede Explikation von Erfahrungen besitzt jene temporale Tiefenstruktur, wie sie allein geschichtlich-narrative Sprachformen eröffnen können. Erfahrungen werden bekanntlich nicht nur in und durch (erzählte) Geschichten konfiguriert und artikuliert. Das Erzählen von Geschichten ist vielmehr eine spezifische Form der Konstitution und Strukturierung von Erfahrungen und Erwartungen. Schapp und Laucken vernachlässigen dies zu sehr, so daß ihr „Geschichten"-Begriff jede genauere Bedeutung verliert und vom Begriff sprachlicher Verständigung (und im Grunde sogar unserer Handlungs- und Lebenspraxis selbst) kaum mehr zu unterscheiden ist. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß Geschichten /ormgebundene „kategoriale Gespinste" (Laucken) sind, die unser Leben in einer exakt angebbaren Weise als einen strukturierten Zusammenhang konfigurieren und präsentieren. An anderer Stelle habe ich mich über die Temporalisierungsleistungen des Geschichtenerzählens und die narrative Form historischer, biographischer und episodischer Darstellungen ausführlicher geäußert (Straub, 1989, 129ff., 1993b, 1996a, 1998b, 1999b; vgl auch das Kapitel 4.3.5 der vorliegenden Arbeit). Relevant sind in diesem Zusammenhang zahlreiche Arbeiten aus dem Umfeld der narrativen Psychologie (Britton & Pellegrini, 1990; Sarbin, 1985; Straub, 1998a).
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Relationen, durch die das eine auf ein anderes hinweist, dieses durch jenes nahegelegt wird, ein Sachverhalt bestimmte Assoziationen oder Konnotationen (Boesch, 1976) hervorruft, das eine in Analogie zum anderen gedacht wird. Ein Beispiel für keineswegs notwendige Folgebeziehungen zwischen Handlungen und Gefühlen stellt folgende Äußerung dar: „Person P legt, nachdem sie die letzte Abschlußprüfung und damit ihr Universitätsstudium erfolgreich absolviert hat, die Nervosität und Angespanntheit der vergangenen Monate ab und lädt noch am selben Tag ihre näheren Bekannten in bester Laune zum Fest." Verweisungsanalysen bestimmen und erforschen ihre „Gegenstandseinheiten", indem sie diese als Elemente eines Strukturzusammenhanges ausweisen und in ihren Relationen zu anderen Elementen untersuchen. Elemente sind in ihrer qualitativen Identität und Charakteristik sowie in ihrer Genese durch ihre Position in einem strukturierten Gefüge bestimmt. Verweisungsanalysen explizieren Positionen und Relationen einzelner Elemente einer Struktur.20 Solche Strukturen sind stets relativ komplexe (symbolische) Gestalten. In elementaristischer Perspektive sind Gefühle prinzipiell nicht erforschbar. Geschichten und andere „thematische Artikulationseinheiten" gelebten und erwarteten Lebens sind demnach die „kleinsten isolierbaren Einheiten", auf die sich Verweisungsanalysen beziehen können (Laucken, 1989, 33, 46ff.). Jede Identifikation, Prädikation, Beschreibung und insbesondere auch die Erklärung von Gefühlen erfordert ihre verweisungsanalytische „Relationierung" mit anderen Momenten einer mehr oder weniger komplexen (sprachlichen) Verweisungsstruktur. Das „Erklären von menschlich Gestaltetem" wird, wie Laucken (ebd., 18) schreibt, „durch das Explizieren des gestaltgebenden Denkens" bewerkstelligt.21 20
Dieser Grundgedanke des verweisungsanalytischen Programms berechtigt Laucken, seinen Ansatz als strukturalistisch zu bezeichnen (Laucken, 1989, 9). Der für die klassischen Varianten des Strukturalismus typische Versuch, Strukturen formal exakt, vielleicht mathematisch, zu erfassen, interessiert Laucken allerdings nicht. Ihm geht es vielmehr um die (in einer Sprachgemeinschaft) invarianten, thematisch-materialen Grundstrukturen der sprachlichen Ausdrucks- oder Artikulationsformen praktischer Lebensvollzüge. Wenigstens in dieser Hinsicht ist Lauckens Ansatz der Hermeneutik mindestens so nah wie dem Strukturalismus. Ich lege diese „Nähe" im folgenden vollends als innige Verbindung aus und plädiere für eine hermeneutische Handlungs- und Emotionspsychologie.
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Die Rede vom „menschlich Gestalteten" spielt auf das Denken des frühen Antipoden Descartes' an. Giambattista Vico (1774) hat mit seinem verum factum-Kriterium nicht allein die für die Epistemologie und Methodologie der Handlungs- und Kulturwissenschaften folgenreiche Eigenständigkeit der, wie wir heute sagen, geschichtlich-gesellschaftlichen und psychosozialen Welt gegenüber der natürlichen Welt hervorgehoben. Daß nämlich das Faktische als das vom Menschen „Gemachte" in einem „Kriterium" mit dem Wahren verknüpft wird, bedeutet für Vico auch, daß die geschichtlich-gesellschaftliche Welt, und zwar nur diese, nicht aber die Natur, als Gegenstand wahrer Erkenntnis in Frage kommt. Vicos „neue Wissenschaft" ist gegenwärtig vor allem innerhalb des Diskurses über den (radikalen) Konstruktivismus zu Ehren gekommen. Er gilt manchen als früher Vorläufer konstruktivistischen Denkens. Die Bezugnahme auf Vico sollte allerdings nicht verdecken, daß dessen Überlegungen in ein Weltbild eingebunden sind, das uns Heutigen eher fremd ist. So wird die Behauptung, daß das von Menschen Geschaffene als solches „genauer" oder „vollständiger" erkannt werden könne als die dem göttlichen Schöpfertum zugeschriebene Natur, heute wohl kaum mehr als akzeptabler Einwand gegen Descartes gelesen werden können.
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Die letzten Ausfuhrungen können als eine Rekonstruktion von - allenfalls leicht modifizierten - Grundgedanken Lauckens und zugleich als eine Darstellung der Leitlinien einer interpretativen Emotionspsychologie gelesen werden, die meines Erachtens bestens mit der hier vertretenen Handlungstheorie harmoniert. Dies gilt auch noch für die von Laucken skizzierte Phänographie der Gefühle. Die Phänographie im allgemeinen ist die Analyse der Lebenswelt, und diese begreift Laucken als jene Welt, welche uns „unmittelbar bewußt" gegeben ist.22 In phänographischer Perspektive ist von Gefühlen und Handlungen die Rede wie in der Lebenswelt auch, mit einem Unterschied: diese werden nun in methodischer Einstellung beschrieben. Den Phänographen interessieren das „(positional) sprechbare Leben und seine Strukturen" (Laucken, 1989, 40). Phänographische Beschreibungen, die Gefühle in umfassenderen, sprachlich vermittelten praktischen Strukturen situieren, bilden die Grundlage für alle weiterfuhrenden psychologischen Untersuchungen. Diese leiten bereits ihre Fragestellungen aus phänographischen Einsichten ab. Diese Vorgehensweise ist in der interpretativen oder qualitativen Forschung heute in vielen Bereichen gängig. Man denke beispielsweise an den durch Glaser und Strauss (1967; Glaser, 1978; Strauss, 1991; Kelle, 1996) propagierten Ansatz der „Grounded Theory", der betont, daß die Begriffs- und Theoriebildung in den Handlungs- und Kulturwissenschaften sorgfaltig „empirisch zu fundieren" sei, was zuerst einmal heißt: Wissenschaftliche Begriffe und Theorien sollten in nachvollziehbarer Weise in lebensweltlichen Strukturen verwurzelt sein, sie müssen an das lebensweltliche Bewußtsein oder „Alltagswissen" der betreffenden Menschen anknüpfen. Genau dies gewährleistet die phänographische Explikation und Beschreibung, die Lebensäußerungen unterschiedlichster Art sammelt oder erhebt und erschließt. An Gefühle gelangt die Phänographie dabei vornehmlich in und durch Geschichten. Dabei gilt, daß Ge-
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Den Begriff „Phänographie" übernimmt Laucken von Gurwitsch (1975). Damit grenzt er sich nicht zuletzt vom Vorhaben ab, eine Lehre der Lebenswelt, zumal eine Phänomeno/ogie im Husserlschen Sinne, formulieren zu wollen. Die phänographische Analyse nimmt mundan-naiv hin, was Husserl hinter sich lassen wollte. Schütz bescheinigt Laucken zwar die begrüßenswerte Hinwendung zu einem empiriographischen Lebensweltbegriff. Dessen phänographische Analysen seien gleichwohl dünn und wenig informativ, da konkret-lebensweltliche Bestandsaufnahmen fehlten. Diese Behauptung erweist sich meines Erachtens als völlig unbegründet, sobald man die materialen phänomenologischen Studien von Schütz in Betracht zieht. Beispiele finden sich unter dem Titel der ,Angewandten Theorie" in Schütz (1972a). Eine Abhandlung, in die offenkundig eigene biographische Erfahrungen (als Emigrant) Eingang fanden, ist gleich die an erster Stelle abgedruckte (Schütz, 1972b). Sehr zutreffend ist Lauckens Kritik an Schütz' Anspruch, historisch und kulturell invariante Universalien „der" Lebenswelt zu untersuchen. Dieser Einwand mag allerdings auch noch auf einige Bestimmungen des lebensweltlichen Bewußtseins durch Laucken selbst zutreffen, wenn man dessen Formulierungen nicht einen historisch und soziokulturell kontingenten Gehalt unterstellt. Ein Beispiel: Auf Seite 69 weist Laucken ein Charakteristikum des lebensweltlichen Bewußtseins folgendermaßen aus: „Selbsterfahrung lehrt uns ..., wir leben in einer ununterbrochenen und in einer in sich zusammenhängenden Welt." Die Frage liegt nahe: Wer ist „wir"?
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schichten und andere Artikulationsformen unserer Praxis „zur Lebenswelt nicht in einer designativen Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem [stehen], Geschichten sind die kategorialen Strukturen der Lebenswelt. ... Dem steht auch nicht unser Zugeständnis entgegen, daß wir mit Geschichten nur das strukturale Gerippe, nicht aber 'das (erlebte) Leben selbst' (was auch immer das 'selbst' sein mag) haben ..." (Laucken, 1989, 53). Die psychologische Phänographie vollzieht also in methodischer Einstellung, was allgemeine und tagtägliche Praxis ist. Insgesamt leistet die Phänographie der Gefühle eine systematische Rekonstruktion der lebensweltlich gelebten beziehungsweise sprachlich artikulierten Gefühle, genauer: der Strukturen oder Geschichten, deren Bestandteile die interessierenden Gefühle sind. Wer Geschichten erzählt, redet von Gefühlen und Handlungen häufig in einem Atemzug. Die interpretative Psychologie wird sich diesen, jedenfalls in einem ersten Schritt, stets in phänographischer Einstellung nähern. Auf diese Weise übernimmt sie die Perspektive der handelnden und fühlenden Subjekte. Sie artikuliert deren Gefühlswelt, wie sie von diesen selbst erfahren und verstanden wird. Nun, damit muß keineswegs das letzte Wort gesprochen sein. Die psychologische Forschung wird sich häufig nicht damit bescheiden, lebensweltliche Gefühlswelten zu erschließen und systematisch-methodisch zu rekonstruieren. Wie die Erforschung lebensweltlicher Handlungsverständnisse, so kann auch die psychologische Analyse von Gefühlsexplikaten zu einer anderen Auffassung gelangen, als sie die fühlenden Subjekte selbst haben. Solche alternativen Auffassungen können sich, wie ich in Teil II der vorliegenden Arbeit ausführlich diskutieren werde, nicht zuletzt theoretischer Heuristiken und Interpretationshorizonte bedienen. Dieser Weg, den die Handlungspsychologie beschreiten kann, führt nun allerdings von Lauckens Programm weg. Laucken betrachtet neben der hier nicht interessierenden Physikographie und der Phänographie lediglich die Logographie als gangbaren Weg rationaler Erkenntnisbildung. Psychologische Theorien beziehen sich nach seinem Verständnis prinzipiell nicht unmittelbar auf lebensweltliche Phänomene, sondern auf Sachverhalte und Vorgänge in der sogenannten „Geisteswelt", die zuvor durch spezifische Auffassungen oder geistige Transformationen des lebensweltlich Gegebenen beziehungsweise phänographisch Erfaßten gebildet wird. Entscheidend ist dabei, daß Lauckens Weltbegriffe hermetisch gegeneinander abgeriegelt sind. Er argumentiert - mit Luhmann - systemtheoretisch, wenn er alle drei Welten - Lebenswelt, Geisteswelt, Körperwelt - als geschlossene Systeme bezeichnet und die jeweils zugehörigen Denkformen als kategorial radikal heterogen auffaßt (ebd., 70f.). Die unterschiedenen Welten und Denkformen sind demnach völlig voneinander unabhängig und „gegeneinander dicht". Sie lassen sich allein in der Form einer sogenannten Ermöglichungsbeziehung aufeinander beziehen. Lebenswelt, Geisteswelt, Körperwelt und die sie konstituierenden Erfassungsmethoden Phänographie, Logographie und Physikographie bilden dreierlei eigenständige kategoriale Sphären oder „Diskursgattungen". Jeder Übergang von einer Welt in eine andere stellt nach Laucken einen kategorialen Bruch dar, eine Form des „hybriden Denkens". Wer solche Übergänge vollzieht, wird bestenfalls sein eigenes
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wissenschaftliches Handeln mißverstehen. Laucken erinnert in diesem Zusammenhang an das warnende Wort Wittgensteins, nach dem die Psychologie allzu oft das Erlebte mit etwas Physischem verbinde, wogegen es darauf ankäme, Physisches mit Physischem und das Erlebte mit Erlebtem zu verbinden (ebd., 89). Analoges gilt für das Geistige. Obwohl ich das ontologische Drei-Welten-Modell und die methodologischen Implikationen letztlich nicht für restlos überzeugend halte, kann kaum in Zweifel gezogen werden, daß gerade auch in der Emotionspsychologie fatale Kategorienfehler begangen werden. So ist es in der Tat nur schwer nachvollziehbar, wie beispielsweise ein körperweltlich gefaßter Reiz, der seinerseits seine Ursachen hat, über das sensorische System in den menschlichen Organismus gelangt und dort nicht nur weitere körperweltlich gefaßte Ereignisse und Prozesse bewirkt, sondern auch eine geistesweltlich gefaßte „Information". Die begrifflichen und theoretischen Probleme nehmen zu, wenn auch die Informationsverarbeitungsanalyse alsbald wieder abgebrochen wird, weil man längst bei einem lebensweltlichen Perceptum, einem Gefühl wie der Schulangst etwa, angelangt ist. Vertraut ist dieser „Weg" auch in umgekehrter Richtung. Im Programm einer Reduktion des Psychischen auf eine biologische und vor allem physiologische „Grundlage" sind kategoriale Brüche und fragwürdige Übergänge zwischen heterogenen Denkformen systematisch eingebaut (Laucken, 1989, 87ff.). Wer vom Gefühl der Freude als einem Gegenstand emotionspsychologischer Forschung ausgeht und kurzerhand bei der Analyse von Informationsverarbeitungsvorgängen oder physiologischen Prozessen landet, wechselt die kategoriale Ebene und uno actu den Gegenstand seiner wissenschaftlichen Bemühungen (ebd., z.B. 78, 96ff., 104ff.; zur Systematisierung von Kategorienfehlern 135). Hybrides Denken und Begriffsverwirrung sind zweifellos keine erfolgversprechenden Rezepte. Um sie zu vermeiden, müssen Lauckens methodologische und methodische Imperative jedoch nicht strikt befolgt werden. Auch das ontologische Drei-Welten-Modell, mit dem diese verwoben sind, braucht nicht übernommen werden. Die Gründe dafür und die aus dieser Ablehnung sich ergebenden Differenzen gebe ich im folgenden an. Dazu ist es erforderlich, Laukkens Logographie der Gefühle zumindest mit wenigen Strichen zu skizzieren. Nur so kann dafür argumentiert werden, die Logographie zwar als einen möglichen Weg zu betrachten, das phänographisch Beschriebene zu „hinterfragen" und zu erklären, nicht aber als den einzig vernünftigen, den die interpretative Psychologie beschreiten kann. Die je für sich erforschbaren Welten lassen sich nach Laucken nur aufeinander beziehen, indem die sogenannten Ermöglichungsbeziehungen expliziert werden, die sie zueinander unterhalten. Diese sind weder Kausalbeziehungen noch Verweisungsrelationen (vgl. hierzu ebd., z.B. 92). Lauckens Emotionspsychologie ist als Logographie von Gefühlen besonders gut ausgearbeitet. Diese soll angeben, was gedacht werden muß, damit bestimmte, phänographisch bereits beschriebene Gefühle möglich sind. Sieht man von bloßen Korrelationen einmal ab, so sind - nach Laucken - andere Beziehungen zwischen Phänographie und Logographie sowie den dadurch gebildeten Welten nicht
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denkbar, jedenfalls nicht für den rational vorgehenden Wissenschaftler. Wer sich Lauckens Logographie der Gefühle verschrieben hat, spricht über die Geisteswelt, und von dort gibt es keinen theoretisch zulässigen Übergang zur Lebenswelt. Der Logograph betreibt eine Art empirischer Semantik. Den Gegenstand seiner Analysen bilden jedoch nicht mehr lebensweltliche Gefühle (sogenannte L-Gefuhle), sondern die Aussagenstrukturen von Gefühlsgeschichten (etwas Geistesweltliches also, sogenannte G-Gefühle). Während die Phänographie die Gefühle aus der Perspektive der Betroffenen und in deren Sprache thematisiert, nimmt der Logograph die Sicht eines Beobachters ein und bemüht sich um Erkenntnisse, deren Akzeptabilität nun in keiner Weise mehr von der Zustimmung der Betroffenen abhängt. Nicht um diese geht es, sondern um Texte, nicht lebensweltliche Gefühle stehen zur Debatte, sondern Aussagenstrukturen und speziell jene „Ordnungen, die die Ausgangsstrakturen bestimmter Geschichten ... konstituieren (d.h. deren Setzungsgrund sind)" (ebd., 9). Der Logograph fragt danach, wie eine Geschichte aufgebaut, gegliedert und gefügt sein muß, damit sie uns als in sich stimmig erscheint. Er expliziert die Grundstrukturen von Geschichten, eben deren logographe Ordnungen. In unverkennbarer Anlehnung an gewisse strukturalistische Theorietraditionen begreift Laucken Aussagenstrukturen als generative Strukturen. Diese „tieferen" Strukturen begründen die „höheren"; Tiefenstrukturen generieren Oberflächenstrukturen. Erstere lassen sich aus letzteren erschließen. Als Leitfrage logographischer Analysen dient dabei: „Was muß als fraglos gültiges Fundament gesetzt werden, damit die 'Oberfläche' denkbar bleibt?" (ebd., 21). Die Logographie begreift die sprachlichen Artikulationsgestalten des lebensweltlichen, praktischen Selbst- und Weltverhältnisses als ermöglichungstheoretisch problematisches Explanandum. Logographen erklären, indem sie der Lebenswelt „etwas", was sie geistesweltlich fassen, unterlegen. Sie legen der Lebenswelt etwas zugrunde, „was diese ermöglichen soll" (ebd., 76). Sie klären, was an generativen Grundstrukturen vorausgesetzt und gedacht werden muß, damit bestimmte, als Aussagenstrukturen aufgefaßte Gefühlsgeschichten denkbar und sinnvoll sind. Dabei können unterschiedliche Voraussetzungen in den Blick geraten, je nachdem, ob Verarbeitungslogographie oder - wie im Falle der Lauckenschen Analysen der Aussagenstrukturen von Gefühlsgeschichten - Wissenslogographie betrieben wird (ebd., 81 ff.). Während also die phänographische Analyse nichts anderem Ausdruck verleiht als dem lebensweltlichen Bewußtsein selbst, nimmt die Logographie auf dieses keine Rücksicht mehr. Sie deutet, was Menschen von sich und ihrer Welt sagen, in einem ersten und fundamentalen Akt in Aussagenstrukturen um. Was nun zur Diskussion steht, ist dem lebensweltlichen Bewußtsein womöglich völlig fremd. Aus vertrauten L-Gefühlen werden wissenschaftlich transformierte G-Gefühle mit neuem kategorialen Status. Um diese und nur um diese geht es der Logographie als einer von strukturalistischen Grundgedanken geprägten, generativen Grammatik von Gefühlen. Diese gibt im Zuge ihrer (im ontischen Sinne verstandenen) Konstitutions- oder Setzungsanalyse Voraussetzungen an, die bestimmte Aussagengefiige möglich machen. So setzen beispielsweise die logographisch analysierten Beschwerdebriefe über Lärmbelästi-
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gung eine spezifische „Logik der Gegenwehr" voraus, die sie erst denkbar und sinnvoll macht (ebd., 176ff., Laucken & Mees, 1987; Laucken, Mees & Chassein, 1988). Ohne die Fruchtbarkeit von Lauckens empirischer Semantik der Textur von Gefühls- und Handlungsgeschichten bestreiten zu wollen, soll hier ein anderer Weg ins Auge gefaßt werden. Die psychologisch-interpretative Analyse von Texten kann sich demnach um mehr kümmern als nur um jene regelhaftgenerativen Sprachstrukturen, die bestimmte Äußerungen ermöglichen. Logographie ist nicht das einzige, was logisch denkende und methodisch sorgfältige Forscher unternehmen können, nachdem sie phänographische Analysen lebensweltlichen Bewußtseins durchgeführt haben. Dazu ist es nötig, zunächst einmal Lauckens ontologisches Drei-Welten-Modell einschließlich seiner methodologischen Konsequenzen aufzugeben. 23 Im einzelnen heißt das: (1) Die Differenzierung zwischen Lebenswelt und Geisteswelt ist eher eine akzentuierende als eine kategorial disjunkte Unterscheidung. Unklar ist nämlich, wieso sich mit dem Übergang von der Lebenswelt zur Geisteswelt die ontologischen Voraussetzungen ändern sollen (was Laucken unterstellt). Dies ist jedenfalls dann fraglich, wenn an der Einsicht festgehalten wird, daß beide diese Welten sinn- und bedeutungsstrukturierte Wirklichkeiten sind. Sie sind gleichermaßen in Deutungs-, Interpretations- oder Verstehensleistungen konstituiert. (2) Was die Analyse lebensweltlicher oder geistesweltlich verfaßter „Gegenstände" angeht, gibt es fundamentale methodologische Verwandtschaften zwischen (a) den lebensweltlichen Bemühungen um genaueres Wissen, (b) den phänographischen Analysen der Lebenswelt und (c) den logographischen Analysen thematischer Aussagenstrukturen. Bei allen Unterschieden im einzelnen denkt man hier wie dort verweisungsanalytisch, im weitesten Sinne des Wortes: hermeneutisch. (3) Laucken unterscheidet, sobald er an wissenschaftliche (geistesweltliche) Theorien und deren Beziehung zur Lebenswelt denkt, zu wenig zwischen verschiedenen Theorietypen. Dasselbe gilt für Typen der Bildung wissenschaftlicher Theorien. Laucken hat zwar so gut wie immer recht, wenn er an Beispielen vorführt, wie die theoretische Behandlung lebensweltlicher Phänomene zu Kategorienfehlern, zur Naturalisierung und Kausalisierung des Bewußtseins und dergleichen führt. Wo „Angst" kurzerhand zur „Informationseinheit" wird, ändert sich der Gegenstand. In solchen Fällen wird in der Tat ein „kategorialer
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Ich stimme Christmann und Groeben (1993) darin zu, daß Lauckens rigide Trennung zwischen Lebenswelt und Geisteswelt und die ausschließlich ermöglichungstheoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses dieser Welten unhaltbar ist. Deren Plädoyer, letztlich doch nach den Ursachen und Wirkungen lebensweltlicher Phänomene zu forschen, halte ich allerdings für grundsätzlich verfehlt. Ganz in Lauckens Sinne sehe ich in dieser Aufforderung den Anfang einer untragbaren Vermischung bedingungsanalytischer und verweisungsanalytischer Denkformen.
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Bruch" in Kauf genommen, der es verhindert, daß wissenschaftliche Erkenntnisse unmittelbar Einsichten in lebensweltliche Gefühlswelten eröffnen. Nun gibt es in den Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften jedoch auch Ansätze, die gegenüber dem skizzierten Risiko ein hohes Maß an Sensibilität aufweisen. Dies zeigen nicht allein die neueren Plädoyers für eine eingehende phänographische Beschreibung lebensweltlicher Phänomene. Hierher gehört insbesondere auch die Forderung, wissenschaftliche Begriffe und Theorien auf der Grundlage empirischer Forschungen so zu bilden, daß sie die empirischen Phänomene wirklich begreifen und analytisch durchdringen. Vorbildlich eingelöst wurde diese Forderung nach meinem Dafürhalten beispielsweise von Erikson, als er (z.B. 1973) von einem „psychosozialen Moratorium" oder einer „Identitätskrise" sprach. Unter den zahlreichen Beispielen aus unseren Tagen sei auf das bereits erwähnte, biographietheoretische Konzept der „Verlaufskurve" verwiesen (Riemann, 1987). Solche Begriffe machen aus lebensweltlichen Phänomenen nichts grundsätzlich anderes. Sie begreifen sie, durchdringen sie analytisch. Die Gefühle, die Erikson analysiert, wenn er von der Identitätskrise eines radikal verunsicherten Menschen spricht, oder die Gefühle, die uns Riemann verständlich macht, wenn er über die negativen Verlaufskurven psychiatrischer Patienten redet, bleiben die „L-Gefühle", die sie auch für die Betroffenen waren und sind. (4) Die Tatsache, daß Wissenschaftler lebensweltliche Phänomene normalerweise in textuell objektivierten Gestalten erforschen, ist, wie Laucken hervorhebt, keineswegs harmlos. Einen direkten Zugriff auf das lebensweltliche Erleben gibt es nicht. Außerdem gilt: Texte oder andere Sedimente symbolischen Handelns zu interpretieren, ist gewiß etwas anderes, als Äußerungen und Handlungen im lebensweltlichen Kontext unserer Praxis zu deuten und zu verstehen. Der Textcharakter des Gegenstandes wissenschaftlicher Analysen mag manches ändern, wovon das lebensweltliche Bewußtsein keine Ahnung hat. Eine ontologische Unterscheidung zwischen zwei kategorial völlig verschiedenen, hermetisch geschlossenen Welten läßt sich daran jedoch nicht festmachen. Die Unterscheidung zwischen Text und lebensweltlichem Phänomen darf nicht mit jener vermengt werden, welche „L-Gefuhle" und „G-Gefühle", also beispielsweise die Angst einer Person und einen informationstheoretisch begriffenen Zustand eines kognitiven Apparats, voneinander abgrenzt. Mit Explikaten des lebensweltlichen Bewußtseins kann die Psychologie Verschiedenes anstellen, ohne zu einem hybriden Unternehmen zu werden. Laucken hat zu sehr vor Augen, was das Beispiel der informationstheoretischen Transformation von „L-Gefühlen" in „G-Gefuhle" (Informationseinheiten) so mustergültig zeigt. Andere Theorien belassen es jedoch bei der alltagssprachlichen Fassung ihrer „Gegenstände", auch wenn diese in textuell objektivierter Form analysiert werden. Die Angst interessiert dann als Angst ganz in den Worten, in denen sie lebensweltlich artikuliert wird. Gesteht man dies zu, öffnen sich Welten füreinander, die ansonsten hermetisch gegeneinander abgeriegelt bleiben. Alltagssprache und wissenschaftliches Vokabular können gemeinsame Ausdrücke enthalten, die schon dort, wo es um die Prädikation des „Gegenstandes" geht, Verbindungslinien signalisieren.
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Nimmt man die erörterten Punkte (1) - (4) zusammen, läßt sich sagen: Lauckens Kritik an Kategorienfehlern, wie sie mit bestimmten Übergängen zwischen verschiedenen Welten und Denkformen verbunden sind, ist prinzipiell einleuchtend, wo es um den Übergang von bedingungsanalytischen Untersuchungen der „Körperwelt" zu jenen Welten geht, deren Erforschung allein im Rahmen der verweisungsanalytischen Denkform möglich ist. Dagegen ist die totale kategoriale Abschottung der Lebenswelt von der Geisteswelt nicht überzeugend.24 Wer als Wissenschaftler Objektivationen des lebensweltlichen Bewußtseins untersucht und dabei an die Sprache der Lebenswelt anknüpft, muß keineswegs bloß Phänographie betreiben. Wissenschaftler können ihr „Material" schließlich anders auffassen und begreifen, als es das lebensweltliche Bewußtsein tut. Solche Transformationen sind das Resultat der interpretativen Auseinandersetzung mit den untersuchten Phänomenen. Es sind Ergebnisse interpretativer Bemühungen, die auf neue Bestimmungen, Beschreibungen und Erklärungen abzielen, auf Erweiterungen alltagsweltlicher Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse (vgl. hierzu Teil II und III der vorliegenden Arbeit). Interpretationen liefern dabei nicht bloß Auffassungen und Erklärungen im logographischen Sinn. Sie können Redefinitionen, alternative Bestimmungen und Beschreibungen just der lebensweltlichen Explikate liefern, um die es weiterhin geht. Was auf der wörtlich-denotativen Ebene beispielsweise als Äußerung einer „Angst vor beruflichem Versagen" gelesen werden mag, kann zusätzlich vieles andere bedeuten. An dieser Polyvalenz so gut wie jeder Äußerung kann die psychologische Textinterpretation ansetzen. Dieser einfache und doch so folgenreiche Sachverhalt läßt sich weder in Lauckens phänographischer noch in dessen logographischer Perspektive angemessen begreifen. Laucken verkürzt die hermeneutisch-interpretative Problematik des Sinnverstehens, wie dargelegt, in spezifischer Weise. Er schränkt deswegen auch die Möglichkeiten einer handlungstheoretisch orientierten Emotionspsychologie drastisch ein. Die hier vertretene Konzeption wendet sich gegen die Verengungen einer strukturalistisch fundierten Logographie, um sich den vielfaltigen Möglichkeiten hermeneutischen Denkens öffnen zu können." Im Grunde genommen möchte die Logographie der Gefühle vom hermeneutischen Geschäft der Interpretation nicht allzu viel wissen. Diese empirische Semantik interpretiert Texte lediglich in einem sehr spezifischen Sinn. Die Phänographie scheint von Schwierigkeiten des Verstehens ohnehin unbelastet. Sinn und Be-
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Keineswegs einfache Fragen stellen sich im übrigen, sobald man in die Fußstapfen der psychosomatischen Medizin tritt. Dann nämlich tritt an die Stelle des menschlichen Körpers ein Leib, der sich keineswegs dem bedingungsanalytischen Modell fügt und auch zu keiner „Körperwelt" gehört, die von der Lebenswelt und Geisteswelt vollkommen abgeschottet ist.
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Letztendlich haftet die Logographie der Gefühle an den Fersen eines Claude Lévi-Strauss und, wenn ich recht sehe, auch eines Noam Chomsky - obwohl Laucken (1989) Gadamer sehr viel häufiger (und durchweg zustimmend) zitiert als etwa Lévi-Strauss; Chomsky bleibt sogar gänzlich ungenannt.
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deutung von lebensweltlichen, textuell objektivierten Äußerungen scheinen hier immer schon klar, jedenfalls leicht zu klären. Gerade im Hinblick auf Gefühle beziehungsweise deren Explikate ist dies erstaunlich. Das Potential hermeneutischen Denkens wird von der Phänographie und Logographie bei weitem nicht ausgeschöpft. In einem Punkt stimmen alle denkbaren Wege einer interpretativen Emotionspsychologie mit Lauckens Konzeption überein: Sieht man Gefühle als Momente einer sinn- und bedeutungsstrukturierten Praxis, die als textuell vermittelter Verweisungszuammenhang interpretativen Analysen zugänglich ist, läuft die handlungspsychologische Forschung keine Gefahr, Gefühle außen vor zu lassen. Als Verweisungsmoment von Geschichten und anderen Artikulationsformen lebensweltlichen Bewußtseins läßt sich das Handeln bestens „mit Gefühlen verflechten: Eifersuchtsgeschichten, Liebesgeschichten, Stolzgeschichten, Haßgeschichten ... sie alle sind immer auch Handlungsgeschichten" (Laucken, 1989, 146). Dies ist in der Tat ein Ansatz, eine handlungstheoretisch fundierte Psychologie stets auch als Emotionspsychologie zu betreiben, vice versa. Wer so ansetzt, braucht sich um die Integration von Handlung und Gefühl fürwahr keine Sorgen mehr zu machen.
3.3 Zusammenfassung wichtiger Grundbegriffe, Ausblick Die Grundbegriffe einer handlungstheoretischen Psychologie sind im untenstehenden Schema zusammengestellt (Abbildung 2). Diese Wissenschaft interessiert sich, ganz allgemein gesprochen, für das Selbst- und Weltverhältnis von Personen. Mit diesem Begriff wird vage angezeigt, daß sich Personen zu sich selbst und zur materiellen sowie sozio-kulturellen Welt verhalten können. Dabei bilden sie qualitativ bestimmbare Selbst- und Weltverhältnisse aus, die im Zuge neuer Erlebnisse und Entwicklungen umgebildet werden. Der angeführte Begriffbezieht sich ebensosehr auf dynamische wie strukturelle Aspekte des SichVerhaltens und der Identität von Personen. Teilweise ist das jeweilige Selbstund Weltverhältnis als diskursivierbares Selbst-, Fremd- und Welt Verständnis aufzufassen. Die soeben genannten Begriffe lassen sich spezifizieren, wenn man sie auf einen Begriff der Praxis bezieht, der seinerseits die pathischen von den aktiven Momenten menschlicher Existenz unterscheidet. In der Lebenspraxis erleben wir uns und andere als Akteure, die handeln und manches bewußt unterlassen, aber auch als Personen, die Widerfahrnissen ausgesetzt sind und in diesem Sinn erleiden, was geschieht. In den Szenen und Geschichten, in die Personen aktiv und passiv verstrickt sind, spielen Gefühle eine wichtige Rolle. Widerfahrnisse, Handlungen und Unterlassungen, Gefühle, Intentionen und Imaginationen liefern den Stoff, aus dem sich sinnhafte und bedeutungsvolle, verweisungsstrukturierte Erfahrungen, Erwartungen und Orientierungen bilden und umbilden lassen. Die damit geschaffenen Wissensbestände, die als empraktische Wissensstrukturen eher ein Können als ein vollständig diskursivierbares
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Wissen verkörpern, gehen in das Selbst- und Weltverhältnis einer Person ein. Sie bilden die immer nur vorläufigen psychischen Voraussetzungen für all das, was ein Subjekt fortan erleben wird und erfahren kann. Insgesamt ist, wie im Schema angezeigt, der Kreislauf, in dem neue Erlebnisse auf bereits ausgebildete Erfahrungs-, Erwartungs- und Orientierungsstrukturen - empraktische und diskursivierbare Wissensstrukturen - treffen und diese modifizieren, geschlossen (Matthes & Schütze, 1981).
Praktisch und pathisch konstituierte Selbst- und Weltverhältnisse, Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse Lebenspraxis als Dualität Pathische, passiv-rezeptive Dimension ^
Praktische, aktive Dimension
Erlebnis
^
Psychische Verarbeitung, symbolische Figuration und Artikulation als Widerfahrnisse, Gefühle Erfahrungen,
Handlungen, Unterlassungen
Erwartungen,
Orientierungen
Empraktische und diskursivierbare Wissensstrukturen Abb. 2: Handlungstheoretische Grundbegriffe
Der oben in Grundzügen explizierte Handlungsbegriff ist noch allzu undifferenziert. Er vermag die Vielfalt unseres Handelns nicht angemessen zu repräsentieren und genaueren Analysen zugänglich zu machen. Im folgenden wird der Handlungsbegriff in Form einer Handlungstypologie ausdifferenziert. Dabei wird jedem Handlungstypus ein eigenständiges Modell der Handlungserklärung zur Seite gestellt. Mein Plädoyer für die Überwindung eines einheitlichen und einseitigen Handlungsbegriffs wird also mit einem Votum für die Pluralisierung der psychologischen Handlungserklärung verknüpft. Dieses Votum richtet sich insbesondere gegen die Vorstellung, Handlungserklärungen müßten ausschließlich als subsumtionstheoretische Erklärungen im Sinne des deduktiv-nomologischen und induktiv-statistischen Modells aufgefaßt werden.
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4. Handlungstypologie 4.1 Ausgangspunkt und Zielsetzung In der Psychologie gilt eine Handlung in aller Regel als ziel- oder zweckgerichtetes, absichtsvolles Sich-Verhalten. Wie die auf Seite 15 zitierte Definition Groebens zeigt, kann dies durch das zentrale Kriterium der als Absichtlichkeit verstandenen Intentionalität zum Ausdruck gebracht werden. In fast allen Definitionen wird dieses Kriterium als notwendig betrachtet. Ohne Intention oder Absicht, Zweck oder Ziel gibt es nach dieser Auffassung kein Handeln. Psychologische Handlungstheorien beziehen sich dementsprechend auf instrumenteile oder strategische Akte, die zweckrational strukturiert sind: Handlungen werden generell als Mittel eines Akteurs dargestellt, der weiß, glaubt oder meint, handelnd seinem Ziel näher zu kommen. Handlungspsychologische Analysen fügen sich demgemäß dem intentionalistisch angereicherten ZweckMittel-Schema (z.B. Werbik, 1978, 51; vgl. auch Werbik & Kempf, 1972; Werbik, 1976; Rehbein, 1977, dessen Modell nicht zuletzt in der Psychologie Beachtung fand). Dies gilt für die empirische Forschung sowie die Theorie- und Modellbildung. Selbst jüngere handlungs- und kulturpsychologische Ansätze, die sich ansonsten gewiß nicht durch einen Hang zu möglichst engen Definitionen der leitenden Grundbegriffe auszeichnen - ich denke etwa an die neuesten Arbeiten von Boesch, Cole, Shweder oder Valsiner -, halten an der teleologischen Grundstruktur allen Handelns fest (Krewer, 1993a, 86f.). Die seit längerem etablierten Ansätze liefern ohnehin zahllose Beispiele für Definitionen im angegebenen Sinn. Ganz willkürlich herausgegriffen: Nach Groeben (1986, 71) ist Handeln „zielgerichtetes, planvolles Verhalten." Hacker (1986, 73) schreibt: „Handlungen bilden die kleinste psychologische Einheit der willensmäßig gesteuerten Tätigkeiten. Die Abgrenzung dieser Handlungen erfolgt durch das bewußte Ziel, das die mit einer Vornahme verbundene Vorwegnahme des Ergebnisses der Handlung darstellt. Nur Kraft ihres Zieles sind Handlungen selbständige, abgrenzbare Grundbestandteile oder Einheiten der Tätigkeit." Im neuen Vorwort seines 1974 in der ersten Auflage erschienenen Buches distanziert sich Volpert (1983, 18) zwar von manchen Aspekten der dort entwickelten Handlungstheorie. Die zentralen definitorischen Bestimmungsstücke haben die vergangenen Jahrzehnte aber gut überstanden, und so erscheint auch hier das „Handeln als bewußt, zielgerichtet und rückgemeldet." Nach Schlee (1988, 12), der sich auf eine Definition von Eckensberger und Meacham (1984, 167) bezieht, lassen sich Handlungen „als absichtsvolle und sinnhafte Verhaltensweisen beschreiben; sie werden konstruktiv geplant und als Mittel zur Erreichung von (selbstgewählten) Zielen eingesetzt." Auch in Boeschs (1980, 107) ansonsten so flexiblen Überlegungen zur Handlungstheorie gilt „die Zielantizipation als das wichtigste Kriterium der Handlung." Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Boesch formuliert am soeben angegebenen Ort treffend: „Die Betonung
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der Zielgerichtetheit von Handlungen entspricht einer weitverbreiteten Auffassung." Hält man sich an die von Kühl und Waldmann (1985, 161 ff.) vorgenommene Gruppierung der nomologisch-experimentellen Handlungspsychologie, läßt sich die aufgestellte Behauptung für jede der vier unterschiedenen Theoriegruppen bestätigen: die Analysen des molaren Handlungsstromes befassen sich mit dem fortwährenden Wechsel und Ineinanderübergehen von Handlungen, die ausnahmslos als zielorientierte Akte begriffen werden; für die sehr verbreiteten Analysen spezifischer Handlungsregulationsprozesse gilt ohnehin, daß solche Vorgänge, die in der Regel als interne, weitgehend automatisierte und nicht-bewußte Teilaspekte des Handelns aufgefaßt werden, nur im Hinblick auf Handlungsziele sinnvoll sind; dasselbe gilt für die dritte Gruppe von Analysen, die sich mit jenen Selbstkontrollprozessen befaßt, welche eine für die Ausführung ausgewählte Handlungstendenz gegen konkurrierende Alternativtendenzen „abschirmen"; schließlich sind die entscheidungstheoretischen Analysen der motivationalen Determinanten der Zielbildung wiederum ganz offenkundig in den theoretisch-konzeptionellen Rahmen zielorientierten Handelns eingebunden. Die Fixierung an das Zweck-Mittel-Schema ist das einigende Band, unabhängig von Unterschieden, die sich neben den bereits erwähnten thematischen Akzentuierungen und Analyseebenen, wie Kühl und Waldmann (ebd., 160) formulieren, beispielsweise auf den „theoretische(n) Status der verwendeten Konstrukte (z.B. deskriptiv vs. erklärend), die formale Kohärenz der Annahmen, die Art der nahegelegten empirischen Überprüfung (z.B. Experiment, Protokollanalysen) und die (Art und Enge der) Beziehung zwischen den theoretischen Annahmen und den empirischen Überprüfungsmethoden" beziehen. Auch von Cranach (1994) bescheinigt der Theorie der Handlungsregulation (Hacker, Volpert), den ökologisch orientierten Ansätzen des Mehrfachund Parallelhandelns (Kaminski, Fuhrer) und der dort angesiedelten Auffassung von Umweltelementen als „Handlungspartnern", den neueren motivations- und volitionspsychologischen Arbeiten (Heckhausen, Kühl), nicht zuletzt seiner eigenen Theorie der sozialen Handlungskontrolle bzw. der Theorie des mehrstufigen Handelns und Wissens völlig zu Recht, daß sie allesamt an den Begriff zielorientierten Handelns fixiert sind. Allerdings erscheint auch ihm dieser Begriff mittlerweile zu eng. Ich komme auf seinen Vorschlag, den Handlungsbegriff typologisch zu differenzieren, noch ausführlicher zu sprechen. Es ist bereits angeklungen, daß die für alles Handeln konstitutiven Ziele, folgt man den gängigsten Definitionen, bewußt verfolgt werden. Zu dieser Gruppe gehören etwa Groebens und Lauckens Definitionsvorschläge. Was den Bewußtheitsgrad zielorientierten Handelns angeht, schwanken die Theorieentwürfe allerdings erheblich. Aus naheliegenden Gründen kritisieren insbesondere psychoanalytisch orientierte Autoren die Verabsolutierung des ,3ewußtheitskriteriums", ja, sie lehnen jede allzu strikte Unterscheidung zwischen bewußt intendierten Handlungen einerseits, ohne eigenes Wollen und Dazutun sich einstellenden Ereignissen andererseits, ab: „The distinction between acts one intends and things which happen to one passively is too simple", heißt es bei Harris kategorisch (1984, 198). Aber auch Theoretiker anderer Herkunft, wie
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beispielsweise von Cranach, nehmen unter Umständen unbewußte und unterbewußte Handlungsmotive und Handlungsvollzüge in ihre Bestimmungen mit auf. Eine weitere Gruppe von Autoren, beispielsweise Hacker, spricht zumindest von nicht-bewußten „Teilhandlungen" oder Operationen, die der eigentlichen und bewußten Handlung gleichsam implizit sind oder diese ermöglichen. Unabhängig von solchen Unterschieden läßt sich festhalten: Nach dem in der Psychologie dominierenden Begriffsverständnis ist Handlungssinn primär oder ausschließlich subjektiv gemeinter, an bewußte oder potentiell „bewußtseinsfähige" Absichten, Ziel- oder Zwecksetzungen gebundener Sinn. Dies gilt, wie auch immer andere Gesichtspunkte, die zur Konstitution, Regulation und zur qualitativen Identität konkreter Handlungen beitragen, als ergänzende Kriterien in Erwägung gezogen werden mögen. Dadurch wird die Grundstruktur des intentionalistischen Zweck-Mittel-Schemas nämlich allenfalls garniert, nicht aber überschritten. In wünschenswerter Klarheit heißt es beispielsweise bei Werbik (1984, 635): „Subsumtionen unter Wertbegriffe sind nur insoweit erheblich, als diese die Auswahl von Mitteln für das Ziel beeinflussen." Auch wo die Einsicht, daß beispielsweise handlungsorientierende Werte und Normen oder schlicht Regeln die Konstruktion eigenständiger Handlungstypen nahelegen, beinahe mit Händen greifbar ist, werden normalerweise keine Konsequenzen gezogen. Dies läßt sich, wiederum exemplarisch, an der soeben zitierten Arbeit Werbiks aufzeigen. Der Autor operiert dort eigentlich bereits mit verschiedenen begrifflichen Typisierungen des Handelns, ohne diese Differenzierungen fruchtbar machen zu können. In Werbiks Problematisierung des (damals noch eigenen) Versuchs, Handlungstheorien nomologisch auszulegen, lautet der entscheidende Einwand, daß ein derartiger Versuch „den schöpferischen Fähigkeiten der Menschen nicht Rechnung trägt. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich zu erklären, wie der Mensch die Regeln, nach denen er sich richtet, findet und wonach er sich orientiert, wenn er seine Regeln selbst ändert. Der Prozeß der Konkretisierung und schöpferischen Abwandlung von Lebensorientierungen ist im Rahmen eines deduktiv-nomologischen Erklärungsansatzes nicht darstellbar. ... Eine deduktiv-nomologische Erklärung von Handlungen erscheint nur unter der Voraussetzung möglich, daß die Ziele und Handlungsregeln des Akteurs bereits feststehen" (ebd., 648). Wer genauer hinsieht, kann in dieser Textstelle Fingerzeige ausmachen, die auf die später zu explizierenden Typen des regelgeleiteten und des kreativen Handelns zumindest hindeuten. Auch die Frage nach angemessenen Formen der Handlungserklärung wird in der zitierten Abhandlung in einer Weise offengelassen, die Anschlußüberlegungen wie die von mir angestellten geradezu nahelegt. In Werbiks späteren Arbeiten ist allerdings weder das eine noch das andere zu finden. Einen nennenswerten Gewinn stellen Modifikationen des Handlungsbegriffs erst in Aussicht, wenn zum Kriterium der Intentionalität (Absichtlichkeit, Ziel- oder Zweckgerichtetheit) nicht bloß dieser oder jener Aspekt hinzugefugt wird. Vielmehr muß es darum gehen, daß solche „Aspekte" soviel Gewicht erhalten, daß sie den Ausgangspunkt für die Konstruktion eigenständiger Handlungstypen und für methodologische Überlegungen zur Frage angemessener
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Handlungserklärungen abgeben können. Ersteres ist nicht nur in Werbiks Ansatz ein Desiderat, sondern in der Psychologie überhaupt selten zu finden, zweiteres ist nicht nur in dieser Disziplin eine fast vollständig vernachlässigte, allenfalls unzulänglich gelöste Aufgabe. Erst wenn diese beiden Aufgaben in Angriff genommen werden, läßt sich der fragwürdigen Unterstellung, daß jede Handlung angemessen identifiziert, beschrieben, verstanden oder erklärt werden kann, indem nach den vom Akteur verfolgten Zielen und seinem Wissen darüber, wie diese Ziele zu erreichen seien, gefragt wird, möglicherweise eine konkrete Alternative gegenüberstellen. Erst eine solche Alternative zum teleologischen oder intentionalistischen Rationalmodell wird auch das Ausmaß offenlegen, in dem der Sinn und die Bedeutung, die Identität oder Charakteristik und schließlich die erklärungskräftigen Bestimmungsgründe einer Handlung verkannt werden können, sobald das Zweck-Mittel-Schema als Maß aller Dinge herhalten muß. Schließlich könnte eine Handlungspsychologie, die sich von den Fixierungen an das Zweck-Mittel-Schema gelöst hat, einen weiteren begrüßenswerten Effekt haben. Zielgerichtete Handlungen gelten nicht selten als wichtigste Form des menschlichen Sich-Verhaltens schlechthin. „Goal directed action" ist, wie von Cranach und Harre (1982, IX) sagen, „perhaps the most pervasive and important aspect of human behaviours." Der erste der beiden Autoren (von Cranach, 1982, 36) grenzt zielgerichtete Handlungen am angegebenen Ort lediglich grob von allen anderen Verhaltensweisen ab und unterstellt dann eine auch quantitative Vorrangstellung von goal directed actions (GDA): „Although GDA, from the conceptual point of view, seems to constitute the more specific case, I am convinced that it constitutes the more common form of human conduct; and that mere behaviour can be found only in rare cases." Ob dieser Fall empirisch tatsächlich so üblich ist oder ob es sich dabei nicht doch um einen eher „speziellen Fall" handelt, ist keineswegs leicht entscheidbar. Der bei von Cranach geforderte Blick auf die eigene Handlungs- und Lebenspraxis zeigt zwar, daß wir in der Tat häufig zielgerichtet handeln, besser: daß wir unsere Handlungen in vielen Fällen zu Recht als zielgerichtete Akte darstellen. Unsere (kulturspezifische) alltagsweltliche Praxis ist zweifellos einer erheblichen Durchdringung durch eine dem Zweck-Mittel-Schema verpflichteten „Logik" ausgesetzt. Und doch ist diese Durchdringung, wie die allgemeine alltagsweltliche Erfahrung ebenfalls zeigt, klar beschränkt. Im übrigen können sich Menschen gegen instrumentalisierendes Denken und Handeln zur Wehr setzen und ihre lebensweltliche Praxis vor einer ungehemmten Kolonialisierung durch die Zweck-Mittel-Logik schützen. Bei näherem Hinsehen erscheint die Behauptung, zielorientiertes Handeln bilde den (auch quantitativ) wesentlichen Teil menschlichen Sich-Verhaltens, als ein kulturelles und theoretisches Artefakt. Diese Behauptung ist keineswegs ein bloßes Produkt einer empirischdeskriptiven Bestandsaufnahme, sondern ebenso der Ausdruck einer normativen Haltung und Orientierung. Die freilich nicht von der Hand zu weisende, am Zweck-Mittel-Schema orientierte Rationalisierung immer weiterer Bereiche der alltagsweltlichen Praxis verführt allzu leicht zu einer einseitigen theoretischen Konzeptualisierung,
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die der empirisch-phänomenalen Vielgestaltigkeit von Handlungen kaum gerecht wird. Alle Aspekte unseres Handelns, die sich gerade nicht durch die Bezugnahme auf den Zielbegriff und das Zweck-Mittel-Schema erfassen und erkunden lassen, bleiben damit außerhalb des Gesichtsfeldes psychologischer Handlungsbeschreibungen und Handlungsanalysen. Sie werden durch die einseitige theoretische Modellierung des Handelns außerdem unter einen Begründungs- und Rechtfertigungsdruck gesetzt, der ihre Marginalisierung - nolens volens - weiter fordert. Bubner (1982, 146ff.) zeigt in seiner einschlägigen Kritik, daß eine einseitige Orientierung am intentionalistischen oder teleologischen Rationalmodell des Handelns die gesamte Praxis einer bedenklichen „Tribunalisierung" aussetzt. Er widersetzt sich mit guten Gründen, auch praktisch-moralischen, der verbreiteten Auszeichnung eines, wie er sagt, Sonderfalls des Handelns als Handeln schlechthin. Absichtlichkeit, Ziel- oder Zweckgerichtetheit sind keine allgemeinen Attribute aller Handlungen. Bei dieser „Trias" handelt es sich vielmehr um ein spezifisches theoretisch-methodisches Prinzip der Darstellung, Beschreibung und explanativen Analyse von Handlungen. Dies wird manchmal auch in der Handlungspsychologie so gesehen. Entsprechend werden die Grenzen theoretischer und empirischer Ansätze, die sich diesem und nur diesem Prinzip verpflichtet wissen, angegeben. Man befaßt sich dann eben ausschließlich mit dem Typus oder der „Kategorie des zielgerichteten Handelns" (Werbik, 1984, 635; Werbik, 1978, 19; ähnlich von Cranach & Harre, 1982, IX).26 Derartige Spezifikationen schließen die Vorstellung, daß es möglicherweise alternative Handlungstypen „gibt", wenigstens nicht von vornherein aus. Es ist also, wie von Cranach (1994) einem Kritiker zu Recht entgegnet, keineswegs eine Tautologie, von zielgerichtetem Handeln zu sprechen. Wie kommt man zu dieser Einsicht und sodann zu weiterführenden typisierenden Differenzierungen des Handlungsbegriffs? Bedarf es hierzu empirischer Forschung, vielleicht sogar experimenteller Untersuchungen? Ist jede andere Vorgehensweise bloß spekulativ, so daß Kühl und Waldmann (1985, 160) zumindest diesbezüglich recht behielten, wenn sie einen „Übergang von dem empiriefernen Hantieren mit Metapostulaten zur Entwicklung handlungspsychologischer Perspektiven für die zukünftige experimentelle Arbeit" fordern? Ohne dieses Postulat im einzelnen zu erörtern, sei festgestellt, daß eine Kritik der konzeptuellen Einseitigkeit handlungspsychologischer Ansätze wohl keiner
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Siehe hierzu auch Schwemmer (1976), der Zweckrationalität nicht als eine empirische Disposition von Akteuren begreift, sondern als ein methodisches Prinzip, das auf einen entsprechenden Beschluß des Wissenschaftlers zurückgeht und bestimmte Perspektiven für die Darstellung und Erklärung des Handelns eröffnet. In vergleichbarer Weise dient diese Form der Rationalität bereits in Max Webers (1965, 3) Handlungstheorie als methodisches Mittel, das aus einem „Zweckmäßigkeitsgrunde" eingesetzt wird: „Denn darüber, inwieweit in der Realität rationale Zweckerwägungen das tatsächliche Handeln bestimmen und inwieweit nicht, soll es ja nicht das Mindeste aussagen."
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Fundierang in einer wie auch immer gearteten empirisch-experimentellen Forschung bedarf. Die theoretisch-begrifflichen Strategien, die hier interessieren, legen vorab zumindest im groben fest, worum es in der empirischen Forschung überhaupt gehen kann. Kühl und Waldmann ist zwar zuzustimmen, wenn sie es als verfehlt bezeichnen, empirische Forschung durch vorgängige theoretischterminologische Überlegungen ersetzen zu wollen. Ebenso unhaltbar ist aber die von ihnen nahegelegte Ansicht, es könne durch empirisch-experimentelle Untersuchungen bestimmt werden, was eine Handlung „ist". Mein Plädoyer für eine différentielle Typologie des Handelns läßt sich ohne jeden Rekurs auf Ergebnisse der Handlungsforschung begründen, zumal der experimentellen Forschung. Dies hat mit einer Flucht zu metatheoretischen, von Kühl und Waldmann pauschal diskreditierten „Spekulationen" nichts zu tun. Als Ausgangspunkt bzw. Begründungsfundament für die hier anvisierte Typenbildung genügt die an intersubjektiver Zustimmungsfahigkeit orientierte Reflexion und Explikation des alltagsweltlichen Handlungswissens eines jeden Menschen (innerhalb unseres Kulturkreises). Auf der Grundlage dieses systematisch explizierbaren und präzisierbaren Wissens erscheinen zahlreiche handlungstheoretische Ansätze bereits in ihren begrifflichen Grundlagen unnötig reduktiv. Der Beschreibung, Analyse und Erklärung menschlichen Handelns ist damit a priori ein allzu enger Rahmen gesetzt. Natürlich kann die präzise Ausdifferenzierung einer Handlungstypologie von empirischer Forschung profitieren. Allerdings scheint mir zu diesem Zweck eine Art von Forschung angezeigt, die „Empirie" als eine Art von Erfahrungsbildimg begreift, die viel stärker an den aristotelischen Begriff der empeiria als an das galileische Konzept einer reproduktiven, im weitesten Sinne apparativ vermittelten Herstellung von Erfahrungen anknüpft (vgl. hierzu Hahn, 1994, 78ff.; Straub, 1989, 199ff.). Eine weitere Bemerkung mag meinem Vorhaben die richtigen Konturen verleihen. Auch Kühl und Waldmann argumentieren gegen eine Verabsolutierung des intentionalistischen Modells. Dies geschieht jedoch nicht zum Zweck einer Erweiterung des begrifflichen Rahmens handlungspsychologischen Denkens und Forschens. Vielmehr kritisieren diese Autoren das Modell eines intentional handelnden Subjekts in einer Weise, die es nahelegt, das handlungstheoretische Sprachspiel zugunsten eines verhaltenstheoretischen aufzugeben. Die Autoren wenden sich nämlich im Namen einer an Verhaltensgesetzen interessierten, nomologischen Psychologie gegen das intentionalistische Handlungsmodell. Dabei wird zunehmend fraglich, wie eine dem nomologischen Wissenschaftsverständnis verpflichtete, laborexperimentelle Erforschung menschlichen Handelns mit einigen für den Handlungsbegriff zweifellos konstitutiven Bedeutungselementen überhaupt noch vereinbar ist. Zumindest unter der Voraussetzung, daß das Handlungskonzept in irgendeiner gehaltvollen Form die Tatsache der Bedeutungs- oder Sinnhaftigkeit bestimmter Verhaltensweisen, insbesondere aber die Möglichkeit (partiell) selbstbewußten und selbstbestimmten Sich-Verhaltens auf den Begriff bringen soll, ist es theoretisch widersprüchlich, „ H a n d l u n g e n " i n der psychologischen Forschung als eventuell vollständig heteronom determinierte Verhaltensweisen zu untersuchen. Wer die Sinn- und Bedeutungsstruktur sowie die Möglichkeit einer reflexiv vermittelten Gestal-
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tung des Selbst und der Welt von Handelnden völlig aus den Augen verliert, betreibt eben keine //anrf/Mwgsspychologie mehr. Es mag richtig sein, daß „die Reaktionszeiten in einem Worterkennungsversuch ... möglicherweise mehr Aufschluß über die dabei beteiligten kognitiven Prozesse als die naiven Theorien der Versuchsteilnehmer (geben), auch wenn diese aufrichtig wiedergegeben werden" (Kühl & Waldmann, 1985, 155). Auf einem ganz anderen Blatt steht, wie aufschlußreich derartige „kognitive Prozesse" für das sind, was wir mit guten Gründen sinnhaftes Handeln nennen. Noch mehr stellt sich diese Frage an anderer Stelle: Wie auch immer die Neurophysiologie und Neuropsychologie bestimmte EEG-Aktivitäten als „Korrelate handlungsveranlassender Absichten" (ebd., 158) zu interpretieren nahelegen, so beseitigt die unterstellte „Korrelation" nicht die kategoriale Differenz zwischen solchen EEG-„Aktivitäten" und den Absichten bzw. Handlungen eines Akteurs. Wer diese Differenz verwischt, begeht, wie im Anschluß an Laucken dargelegt wurde, einen Kategorienfehler. Herrmann (1987) trägt überzeugende Gründe vor, wenn er die Unverträglichkeit jeder intentionalistischen Psychologie mit der nomologischen Wissenschaftsauffassung aufzeigt. (Zur Kritik der bei Herrmann mehr oder minder subtil vorgenommenen, letztlich dogmatischen Disqualifizierung intentionalistischer Ansätze siehe Straub, 1989, 26ff.) Zu einem ähnlichen Schluß wie Herrmann gelangt, ohne dieselben Konsequenzen daraus zu ziehen, Werbik (1984), der Widersprüche und Aporien einer nomologischen Auslegung von Handlungstheorien offenlegt. Wer diesen Schluß teilt, kann mit Kühl und Waldmann ohne weiteres darin übereinstimmen, daß es (auch) in der handlungspsychologischen Forschung und Theoriebildung nicht nur um die Reproduktion von sogenannten „naiven" oder subjektiven Theorien gehen darf. Insbesondere ist den Autoren Recht zu geben, wenn sie sagen, daß auch vom Akteur aufrichtig geäußerte Gründe noch nicht unbedingt als wissenschaftliche Handlungserklärungen gelten können. Akteure können sich in der Tat über die Gründe und Hintergründe ihrer jeweils fraglichen Handlung, ja sogar schon über deren deskriptiv zu charakterisierende Identität, nicht hinreichend im klaren sein oder sich darüber täuschen. Die sinnhafte Charakteristik von Handlungen und ebenso deren Konstitution und Genese können und müssen bisweilen auch gegen das Selbst- und Weltverständnis des Handelnden expliziert werden. Handlungsbeschreibungen und Handlungsanalysen bleiben jedoch allemal an die theoretische Prämisse der Sinn- und Bedeutungsstrukturiertheit und der reflexiv vermittelten Gestaltbarkeit menschlicher Praxis gebunden. Die Folgerung, die aus der von Kühl und Waldmann geäußerten Kritik am intentionalistischen Modell nach der hier vertretenen Auffassung zu ziehen wäre, besteht in der Überwindung einer Handlungskonzeption, die Sinn auf subjektiv gemeinten Sinn reduziert. Werden Verhaltensweisen jedoch mit subjektiv und/oder sozial nicht mehr sinnhaften „automatischen Prozessen" in Zusammenhang gebracht, welche die in Frage stehenden Verhaltensweisen „verursachen", wird der Boden der Handlungspsychologie nolens volens verlassen. Die Überlegungen von Kühl und Waldmann eröffnen keinen Weg, das intentionalistische Modell zu transzendieren, ohne damit zugleich auch das
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handlungstheoretische Sprachspiel zu verlassen. Es bleibt somit bei der diagnostizierten Anbindung /¡awd/ungipsychologischen Denkens und Forschens an das Zweck-Mittel-Schema. Diese die zeitgenössische Psychologie beherrschende Auffassung wird im folgenden abgelehnt. Ich werde die unhaltbare Verallgemeinerung des teleologischen oder intentionalistischen Handlungsmodells zurücknehmen und durch eine Typologie ersetzen, in der verschiedene, nicht aufeinander reduzierbare Handlungstypen nebeneinander stehen. Damit geht eine Differenzierung der Erklärung von Handlungen einher. Spezielle Handlungsbegriffe verlangen nach besonderen Modellen der Handlungserklärung. Ebenso, wie es nicht ratsam ist, von einem einzigen Begriff des Handelns auszugehen, erscheint es verfehlt, dem szientistischen Dogma des einheitswissenschaftlichen Modells zu folgen und als handlungswissenschaftliche Erklärung nur eine einzige Form der Erklärung, allenfalls noch gewisse Varianten oder „liberalisierte" Unterarten derselben, zu akzeptieren. Handlungsbegriffe und Modelle der Handlungserklärung sind interkonzeptuell definierbar. Differenzierungen auf der einen Seite ziehen notwendigerweise Unterscheidungen auf der anderen nach sich. Die Kritik an der Dominanz des intentionalistischen Modells relativiert dessen Stellenwert, läßt es aber keineswegs als überflüssig erscheinen. Selbstverständlich kommt die Handlungspsychologie nicht ohne dieses Modell aus. Dies zeigen die Typologien, mit denen ich mich zunächst befasse, und schließlich wird auch das von mir vorgeschlagene Modell einer mehrfach gegliederten Typologie, in dem Handlungsbegriffe und Modelle der Handlungserklärung interkonzeptuell bestimmt werden, das zielgerichtete Handeln gebührend berücksichtigen.
4.2 Ausgewählte klassische und neuere Ansätze 4.2.1 Ein Blick in die Soziologie: Max Webers Typologie Die Unterscheidung von Handlungstypen ist alles andere als neu. Verschiedene Versuche, die Vielfalt menschlichen Handelns in eine typologische Ordnung zu bringen, genießen längst den Status klassischer Ansätze. Stets lag solchen Bemühungen ein Ordnung stiftendes Prinzip zugrunde, an dem sich die Autoren orientierten, wenn sie eine bereits in ihren Grundbegriffen differenzierte Handlungstheorie entwarfen. Speziell in der soziologischen Handlungstheorie wurde traditionell mit unterschiedlichen Typen des Handelns operiert. Blickt man nicht nur auf die theoretische Begrifflichkeit, sondern auch auf die Handlungsanalysen in den materialen Studien zahlreicher soziologischer Klassiker, so kann vom „Handeln schlechthin" überhaupt keine Rede mehr sein. So sind etwa Emil Dürkheims Studien zum Heiligen und Max Webers Untersuchungen zum Charisma, wie Joas (1992b, 69ff, 76ff.) darlegt, mit einer reduktiven Verpflichtung des handlungstheoretischen Denkens auf einen eindimensionalen
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Handlungsbegriff unverträglich.27 Von einer vereinheitlichenden und entsprechend simplifizierenden Betrachtung des Handelns waren die ambitionierten Unternehmen in der Soziologie jedenfalls sehr viel weiter entfernt als die späteren und sogar noch die heutigen Bemühungen in der benachbarten Psychologie. Die berühmteste theoretische Handlungstypologie stammt von Max Weber.28 Webers „Soziologische Grundbegriffe" gelten nicht nur als einflußreichster Text in der soziologischen Handlungstheorie. Die dort ausgearbeitete Begrifflichkeit wurde weit über die Fachgrenzen hinaus rezipiert, auch in der Psychologie. So nahm beispielsweise Werbik (1976a; 1976b; 1978, 19ff.) auf Weber Bezug, um die Grundlagen einer psychologischen Theorie sozialen Handelns zu klären und das Potential handlungstheoretischen Denkens für die Psychologie auszuloten.25
27
Wie Joas ausfuhrt, lassen die Typisierungen dieser und anderer Autoren allerdings zu wünschen übrig. Die von ihm behandelten Defizite haben insbesondere mit der Abhängigkeit handlungstheoretischer Ansätze „vom Vorbild der ökonomischen Theorie des rationalen Handelns" (Joas, 1992, 4) zu tun - ein Vorbild, das bekanntlich auch in vielen psychologischen Handlungstheorien deutliche Spuren hinterlassen hat Eine gute Diskussion allgemeiner Probleme von rational cAoi'ce-Modellen findet sich bei Diekmann (1999); während dieser Autor grundsätzlich am Modell der rationalen Wahl festhält, sprengt beispielsweise die Kritik von Burkhart (1994) diesen Rahmen.
28
Der wichtigste Bezugstext ist das berühmte Kapitel I „Soziologische Grundbegriffe" von Teil I aus „Wirtschaft und Gesellschaft", den Marianne Weber mit dem Titel „Soziologische Kategorienlehre" überschrieb. Max Weber verstand diesen in seinen letzten Lebensjahren (1918-1920) ausgearbeiteten, also nach der Abfassung von Teil II in Angriff genommenen Teil I von „Wirtschaft und Gesellschaft" als einen Beitrag zur „Allgemeinen Soziologie". Die Ausführungen zur soziologischen Begriffslehre und Methodologie schlössen freilich an frühere Arbeiten an. Zur Problematik der vereinheitlichenden Rede von „der" Wissenschaftslehre wie überhaupt zur Diskussion über Webers methodologische Schriften siehe Wagner und Zipprian (1994b). In ihrem Beitrag verdeutlichen die Autoren die teilweise prekäre Quellenlage, die es erschwert, die für die „Wissenschaftslehre" bzw. Methodologie Webers relevanten Schriften zu identifizieren. Trotz der von Wagner und Zipprian beanstandeten Mängel werden - neben dem genannten Teil aus „Wirtschaft und Gesellschaft" - als primäre Quelle häufig die „methodologischen Schriften" (Weber, 1968a) herangezogen; außerdem stützen sich viele auf die (mehrfach geänderte) Sammlung mit Aufsätzen zur Wissenschaftslehre (deren Titel wiederum von Marianne Weber stammt; Weber, 1988). Eine überblicksartige Darstellung der Weberschen Grundbegriffe, methodologischen Prinzipien und methodischen Verfahren bietet Käsler (1978). Aus der Vielzahl von einschlägigen Publikationen seien zunächst die Arbeiten von Döbert (1989) und Prewo (1979; 1987) herausgegriffen. Im zuletzt genannten Aufsatz unterscheidet Prewo strikt zwischen Handlungsbegrifflichkeit und Handlungstheorie. Eine Handlungstheorie habe Weber - so Prewo schon in der früheren Publikation - nicht formuliert. Für die hier verfolgten Darstellungs- und Argumentationszwecke erscheint mir Prewos Unterscheidung vernachlässigbar, so daß ich weiterhin in einem terminologisch nicht geschiedenen Sinne von Handlungstheorie und (eben theoretischen) Handlungsbegriffen spreche.
25
Werbik kritisiert dabei unter anderem die Vagheit von Webers Handlungsbegriff. Dies führt schließlich dazu, daß er dessen Bestimmung gänzlich ablehnt, da diese „nicht eindeutig genug ist, um Handlungen aus dem 'Strom des Verhaltens' auszugrenzen" (Werbik, 1978, 30). Um diesem Problem zu entgehen, bindet Werbik den Handlungsbegriff strikt an „ein prinzipiell objektivierbares Merkmal einer Handlung", nämlich die Wahlsituation, in der eine Per-
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Webers Soziologie ist bekanntlich jene Disziplin, welche speziell „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will" (Weber, 1965, 1). Soziologie ist, mit einem Wort, Wissenschaft vom sozialen Handeln. Die berühmte Passage, in der dieser Grundbegriff geklärt wird, lautet: „'Handeln' soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. 'Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen ist und daran in seinem Ablauf orientiert ist" (ebd.). Problematisch an Webers Begriff ist nach der hier vertretenen Auffassung zweifellos dessen individualistischer Kern, der nicht zuletzt mit Webers methodologischem Individualismus eng verwoben ist. Diese strikt individualistische Position ist Ausdruck der Tatsache, daß Weber, wie etwa Habermas (1981 I, 377) formuliert, bei der Konstruktion seines Handlungsbegriffs „keine Bedeutungstheorie, sondern eine intentionalistische Bewußtseinstheorie im Rücken (hatte). Er erläutert 'Sinn' nicht anhand des Modells sprachlicher Bedeutungen und bezieht 'Sinn' nicht auf das sprachliche Medium möglicher Verständigung, sondern auf Meinungen und Absichten eines zunächst isoliert vorgestellten Handlungssubjekts." George Herbert Meads Handlungs- und Kommunikationsbegriff etwa bietet meines Erachtens eine überlegene Alternative zu Webers Begriff des sozialen Handelns und einer Methodologie, nach der soziale Wirklichkeiten aus Handlungen von einzelnen Individuen gleichsam additiv zusammengesetzt werden müssen.30 Offenkundig zu eng erscheint für die hier interessierende, ja nicht nur iozj'a/psychologisch orientierte Handlungstheorie auch Webers soziologische Perspektive, in der Handeln im definierten Sinne ausschließlich als soziales Handeln thematisiert wird. Demgegenüber hat es die Psychologie, ohne deswegen die sozialen Konstitutionsgrundlagen des Handelns ignorieren zu müssen, ersichtlich auch mit Handlungen zu tun, deren subjektiver Sinn nicht sensu We-
son sich für eine der gegebenen Möglichkeiten, sich zu verhalten, entscheidet. Damit entfernt sich Werbiks Definition jedoch kaum von Webers Begriff. Auch dieser bindet den Handlungsbegriff letztlich an Wahlchancen in objektiven Situationen oder Sachzusammenhängen. Werbiks definitorische Bestimmung läuft zudem leider darauf hinaus, daß Webers „relative" Offenheit gegenüber unterschiedlichen Typisieiungen menschlichen Handelns beseitigt wird. Werbiks Präzisierungen und Modifikationen von Webers Handlungsbegriff verengen diesen auf den unter das Zweck-Mittel-Schema rubrizierbaren Typus. 30
Auf eine Diskussion dieser Problematik und auf die Darstellung von Meads Ansatz kann hier ganz verzichtet werden. Ich verweise lediglich auf Arbeiten, in denen eine auch den Handlungsbegriff in hinreichender Weise klärende Rekonstruktion von Meads Denken vorgenommen wird. Wegweisend für das hier geteilte Verständnis von Mead ist Joas (1980; als Überblick ders., 1978); daneben seien genannt: Habermas (1981 II, llff.; 1988); Straub (1989, 34ff.).
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ber „auf das Verhalten anderer b e z o g e n ist und daran in s e i n e m A b l a u f orientiert ist." 3 ' W i e aber steht es nun mit Webers T y p o l o g i e ? D e r T y p u s d e s z w e c k r a tionalen H a n d e l n s ist dort, zumindest oberflächlich betrachtet, v o n alternativen Typisierungsmöglichkeiten flankiert. Bereits die Tatsache j e d o c h , daß der T y pus des zweckrationalen Handelns eine klar dominierende Stellung e i n n i m m t , verbietet es, d i e s e T y p o l o g i e und deren Konstruktionsprinzip unverändert z u übernehmen. Webers T y p o l o g i e ordnet soziales Handeln n a c h seinen t y p i s c h e n B e stimmungsgründen oder den ihm zugrundeliegenden Orientierungen. W i e W e ber ausfuhrt, kann j e d e s Handeln „bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen d e s Verhaltens v o n G e g e n s t ä n d e n der A u ß e n w e l t und v o n anderen M e n s c h e n und unter B e n u t z u n g dieser Erwartung e n als ' B e d i n g u n g e n ' oder als 'Mittel' für rational, als Erfolg, erstrebte und a b g e w o g e n e e i g n e Zwecke; 2. wertrational: durch b e w u ß t e n Glauben an den - ethischen, ästhetischen, relig i ö s e n oder w i e i m m e r zu deutenden - unbedingten Eigen-wert e i n e s b e s t i m m t e n Sich-Verhaltens, rein als solchen und unabhängig v o m Erfolg; -
31
Bekanntlich ging es Weber seinerseits um eine möglichst strikte Abgrenzung gegenüber der Psychologie. Weber lag nichts an der, wie Rehberg (1994, 631) formuliert, Konzeptualisierung einer disziplinenüberschreitenden Handlungswissenschaft, alles aber an der Entwicklung eines disziplinenbegründenden Handlungsbegriffs. Webers Abgrenzungsbemühen verliert übrigens nicht schon dadurch an Gewicht, daß Webers Kontakte und seine teilweise eingehenderen Beschäftigungen mit der experimentellen Psychologie, Psychiatrie und Psychopathologie seiner Zeit genauer nachgewiesen werden, als dies in der bisherigen Forschung geschah (Frommer, 1994). Frommer zeigt zwar (auf Seite 255), daß sich bei Weber sehr wohl ein „Begriff eines affektiv motivierten Handelns" ausmachen läßt, „das psychologisch verständlich ist, dessen zugrundeliegendes Motiv in einem deutenden Verfahren zugänglich ist, in dem beobachtbare Verhaltensäußerung und motivational wirksame bewußtseinsfähige Stimmungslage in einen Zusammenhang gebracht werden, der in manchen Fällen - zum Beispiel dem der Hysterie - vom Handelnden so nicht erlebt wurde." Sie stützt sich dabei auf einige „versteckte Textstellen in den frühen methodologischen Schriften" sowie insbesondere auf die 1908/09 erstmals erschienene, später gesammelt abgedruckte Arbeit (Weber, 1924). Die von Frommer vorgetragenen Befunde mögen Webers Ruf, generell psychologiefeindlich zu sein, korrigieren. Sie verweisen auch auf durchaus ausgiebigere Kontakte persönlicher und/oder wissenschaftlicher Art zu Vertretern der genannten Gebiete (Gruhle, Jaspers, Kraeplin, Hellpach). Schließlich zeigen sie auch Stellen in Webers Werk auf, wo dieser einen Begriff psychologischen Verstehens formulierte. Die Abneigung Webers gegen die Psychoanalyse bestätigt Frommer allerdings. Zudem liefern deren Ausführungen m.E. keinen Anlaß dafür, die Interpretation zu korrigieren, nach der Weber in den bislang in der Forschung beachteten und für Webers Position letztlich doch maßgeblichen Schriften das traditionale, das affektuelle und schon das wertorientierte Handeln theoretisch und methodologisch als mehr oder minder defizitäre Formen zweckrationalen Handelns faßt. Die von Frommer eingangs erwähnte Diagnose, nach der Webers Typologie und Methodologie im Grunde doch an einem „rationalistischen bias" leide, ist im wesentlichen also nach wie vor triftig. Im übrigen braucht man mit Webers Abgrenzung gegenüber der Psychologie natürlich nicht einverstanden sein. Die neuere psychologische Handlungstheorie weist sachliche Überschneidungsbereiche zwischen „soziologischer" und „psychologischer" Handlungsanalyse auf.
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3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefiihlslagen; 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit" (Weber, 1965, 12). Im Anschluß an die Analysen Schluchters (1979), die im Kontext von hier nicht interessierenden rechts- und herrschaftstheoretischen Fragestellungen stehen, läßt sich als Konstruktionsprinzip dieser Typologie der differentielle Rationalitätsgehalt der Handlungstypen identifizieren. Schluchter zeigt, wie Joas schreibt, „daß Weber seine Handlungstypen entlang einer Rationalitätsskala angeordnet habe, wobei sich die rationale Kontrolle auf die Handlungselemente Mittel, Zweck, Wert und Folge richten könne" (Joas, 1989, 63). Weber unterscheidet Rationalisierungsgrade des Handelns. Schematisch präsentiert Schluchter diesen Sachverhalt so:
Tab. 1: Webers Handlungstypologie in der Rekonstruktion von Schluchter (1979, 192)
Gegenstand rationaler Kontrolle
Mittel
Zweck
Wert
zweckrational
+
+
+
wertrational
+
+
+
affektuell
+
+
-
traditional
+
-
-
Folge
Handlungstyp +
Der Handlungscharakter eines Sich-Verhaltens nimmt demnach zu (tritt in immer reinerer Form in Erscheinung), je höher das betreffende Handeln in der Hierarchie der Weberschen Typologie anzusiedeln ist. An der Spitze steht das zweckrationale Handeln eines Akteurs, der alle genannten Elemente auf ihre Rationalität hin bedenkt und ins Verhältnis zueinander setzt. „Das zweckrationale Handeln, das dadurch gewissermaßen verantwortungsethisch aufgeladen wird, erfüllt dann den Anspruch, Handlung zu sein, am meisten. Im wertrationalen Handeln werde dagegen die Reflexion auf die Handlungsfolgen, im affektuellen Handeln auch die Reflexion auf die Werte und im traditionalen Handeln sogar die Reflexion auf die Zwecke unterlassen" (Joas, 1989, 63). Die Tatsache, daß im traditionalen Handeln auch die Zwecke dem kontrollierenden Bewußtsein des Subjekts entzogen sind, versetzt diesen Handlungstyp in eine merkwürdige Randstellung. Traditionales Handeln als gleichsam dumpfer Ausdruck bloß faktisch eingelebter Gewohnheiten ist in Webers Typologie eine unterbestimmte Restkategorie. Es ist nicht einmal mehr recht einzusehen, warum Weber diesen Handlungstyp überhaupt noch innerhalb seiner Typologie ansiedelt, ja, warum diese Art des Sich-Verhaltens auf der Grundlage von Webers allgemeinen Überlegungen zur Bestimmung des Handlungsbegriffs noch
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I. Handlung
ein Handeln genannt werden soll. Die fließende Grenze zwischen Handeln und bloßem Verhalten scheint hier deutlich überschritten, da im traditionalen Handeln nicht nur die Folgen (wie im wertrationalen Handeln) oder die Folgen und die Werte (wie im affektuellen Handeln), sondern darüber hinaus auch noch der Zweck selbst „aus dem subjektiven Sinn ausgeblendet und damit rationaler Kontrolle entzogen" werden (Habermas, 1981 1, 380).32 Bedenkt man, daß Weber die variablen Bestimmungsgründe des Handelns als unterschiedliche Zielsetzungen zwecktätiger Subjekte expliziert nämlich als utilitaristische, werthafte oder affektuelle Ziele (ebd., 379) -, fragt sich, wieso ein gänzlich von subjektiv verfolgten Zielen oder Zwecken losgelöstes Sich-Verhalten noch ein subjektiv sinnhaftes Handeln heißen soll. Unter Bezugnahme auf Habermas' Modell dreier Welten und seine dreigliedrige Vernunft- und Handlungstheorie, in der die kognitive von der normativen und der expressiven Sphäre unterschieden werden, bezeichnet es auch Schluchter als eines der Hauptprobleme von Webers Typologie, daß hier „traditional und rational nicht in eine Folge, sondern in eine Alternative" gebracht werden. Dies lege eine Reduktion der vier auf drei Handlungstypen nahe. Im übrigen ist Schluchters Vorschlag plausibel, anstelle von zweck- oder wertraii'ona/em Handeln besser von zweck- bzw. weTtorientiertem Handeln zu sprechen. Die Rationalität, gleich welchen Handelns, ist ja, was natürlich auch Weber sieht, im konkreten Fall immer fraglich; sie ist ein mögliches Attribut des bereits hochentwickelten Handelns. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das affektuelle Handeln in Webers Sicht nur in sehr eingeschränktem Maße rationalisierungsfahig ist; in ihm verkörpern sich vielmehr immer auch die irrationalen und vielfach die antirationalen Züge der menschlichen Praxis." Stimmt man der skizzierten Auffassung zu und stellt die besagte Außenseiterposition des traditionalen Handelns in Rechnung, so ist schließlich auch bemerkenswert, daß das zweckorientierte Handeln wegen des in diesem Typus erreichten Höchstmaßes an möglicher rationaler Kontrolle durch den Akteur nicht nur die Spitzenstellung in Webers Typologie innehat, sondern daß dieser Handlungstypus zugleich auch einen die anderen Typen überwölbenden Charakter besitzt. Dies ist dahingehend zu verstehen, daß Weber Handlungstypen voneinander unterscheidet, weil und insofern Handeln durch unterschiedliche Bestimmungsgründe bzw. Ziel- oder Zwecksetzungen bestimmt sein kann, weil und insofern es also, wie Weber auch sagt, unterschiedlich motiviert ist. Als „Motiv" bezeichnet Weber (1965, 5) den „tatsächlichen" subjektiven Sinn, den
32
Am Rande sei erwähnt: Habermas macht (mit Schluchter, 1979, 191) darauf aufmerksam, daß Weber auch den Typus des wertrationalen Handelns nur in einer restringierten Form, nämlich lediglich als gesinnungsethisches, nicht aber als verantwortungsethisches Handeln bruchlos in seiner Typologie unterbringen kann; verantwortungsethisch aufgeladen ist jedoch, wie gesagt, das zweckrationale Handeln.
33
Genauer spricht Schluchter (1979, 193) von den drei strukturell möglichen Grundorientierungen des Handelns und entsprechend von erfolgsorientiertem, eigenwertorientiertem und affektuellem Handeln.
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der Akteur mit einer Handlung verbindet, und dieser ist eben an die genannten, variierenden Zielsetzungen gekoppelt: Ein Motiv ist jener „Sirmzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter 'Grund' eines Verhaltens erscheint." Im Falle des traditionalen Handelns schwindet der subjektive Sinn, er geht aus den genannten Gründen „gegen Null". Es zeichnet also - vom traditionalen Handeln abgesehen - alle Handlungen in Webers theoretischer Typologie aus, daß sie auf ein Ziel oder einen Zweck bezogen sind (bzw. darauf bezogen werden können); diese Beziehung erst schafft subjektiv sinnhafte Handlungen. Das teleologische Rationalmodell ist damit nicht nur dominierend in Webers Typologie, weil absolute Zweckrationalität als „idealisierter" und, wie Weber sagt, konstruktiver Grenzfall aufgefaßt wird. Rein zweckrationales Handeln gibt es freilich kaum. Weber sagt nicht, das Rationale besitze die „Vorherrschaft" im Leben der Menschen, er wendet sich vielmehr explizit gegen ein derartiges „rationalistisches Vorurteil" (Weber). Was Webers Typologie betrifft, gibt die Allianz von Rationaliät und Zweckgerichtetheit allerdings das theoretisch-methodische Prinzip und den Leitfaden für die Begriffsbildung an die Hand. Diese Allianz bestimmt sodann die Methodologie und Methodik empirischer Handlungsanalysen. Webers Typologie läßt letztlich keinen wirklich andersartigen Modellen Raum, da die Ziel- oder Zweckorientierung im Grunde die anderen Handlungsbegriffe überwölbt und auch in diesen fortlebt. Das teleologische Rationalmodell bildet, wie gesagt werden kann, den Idealtypus des Handelns schlechthin. Es ist nicht zuletzt der Maßstab für die für Weber so wichtige, unter Rationalitätsgesichtspunkten vorzunehmende Beurteilung des Handelns. Für die Vorrangstellung und Dominanz des Typus zweckrationalen Handelns in Webers Typologie mag es verschiedene, unter bestimmten Gesichtspunkten auch gute Gründe geben die Übernahme des Weberschen Modells in eine allgemeine Handlungspsychologie rechtfertigen diese Gründe allerdings nicht. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit läßt sich über diese Gründe sagen: (1) Zu ihnen gehört zuallererst das spezifische Forschungsinteresse an der historischen Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, welche eben nicht zuletzt durch eine zunehmende Bedeutung zweckrationalen Handelns charakterisiert werden kann. Die kritisch erörterte Akzentsetzung in Webers Handlungstheorie unterhält eine spezifische Beziehung zu Webers materialen Forschungen (die zum Zeitpunkt der Arbeit an den Grundbegriffen und den methodologischen Prinzipien bereits abgeschlossen waren). Die Handlungstheorie Webers war auf die Analyse gesellschaftlicher Modernisierungs- bzw. Rationalisierungsprozesse zugeschnitten. Auf der Basis eines bestimmten Konzeptes gesellschaftlicher Modernisierung liegt die zentrale Stellung des Begriffs und der Praxis zweckratioalen Handelns auf der Hand.34
34
Der Zusammenhang zwischen den beiden Problemkreisen - Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung - liegt auf der Hand. Habermas kritisiert auch im Hinblick auf Webers handlungstheoretisch fundierte Analyse gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse dessen allzu enges Konzept der Handlungsrationalität. Die Beurteilung von Handlungen ist
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I. Handlung
(2) Auf die anthropologischen Hintergrandannahmen von Webers handlungsbegrifflichen Konstruktionen verweist Rehberg (1994). Webers Anthropologie distanziert sich unmißverständlich von der in der romantischen Tradition betonten Vorstellung eines freien Schöpfertums von Akteuren, deren Handlungen, wie es in dieser Tradition heißt, nicht in das Korsett rationaler Kalküle gezwängt werden könnten. Ganz im Gegensatz hierzu zielt Webers Anthropologie klar auf eine durch mehr oder minder rationales Handeln zu bewerkstelligende Weltbewältigung und Weltbeherrschung ab. In anthropologischer Perspektive sieht Weber den handelnden Menschen als einen instrumentellrationalen Akteur, dem es darum geht, das unsichere und bedrohte Dasein in den Griff zu bekommen. Die bewußte Lebensführung in der Form des methodischen, technisch-instrumentellen Zugriffs auf die Welt wird, wie Rehberg zeigt, zum anthropologischen Fundament von Webers Handlungsperspektive. Damit weist jedes Handeln sensu Weber „ein Moment von 'Instramentalität' auf; ein vom Verhaltensbegriff abgehobener Handlungsbegriff ist prinzipiell kalkulierend und rationalitätsbezogen - insofern 'teleologisch' (Habermas)" (ebd., 637). Nach Rehberg ist das gegen den romantisch-irrationalistischen Entwurf des Menschen gerichtete Menschenbild Webers in dem Sinne rationalistisch, daß der handelnde Mensch immer schon als ein Wesen erscheint, welches Selbst- und Außenbezüge reflexiv kontrolliert und kanalisiert, das eigene SichVerhalten in berechnender Einstellung plant, kontrolliert, reguliert und im Bedarfsfall korrigiert. All dies zielt klar auf Bemächtigung, Verfugung, Beherrschung - der objektiven und sozialen Welt so gut wie des eigenen Selbst.
bei Weber als rational verfaßtes, objektives Urteil nämlich strikt eingeengt auf „die Wirksamkeit eines kausalen Eingriffs in eine bestehende Situation und die Wahrheit der empirischen Aussagen, die der Maxime oder dem Handlungsplan, d.h. der subjektiven Meinung über eine zweckrationale Mittelorganisation zugrundeliegen" (Habermas, 1981 I, 381). Um Webers „offizielle" Typologie, an deren Leitfaden Rationalisierungszuwachs allein als gesteigerte Zweckrationalität begriffen werden kann, zu überwinden, rekonstruiert Habermas Grundzüge einer inoffiziellen Lesart von Webers Handlungstheorie, um diese schließlich mittels des Begriffspaares erfolgsorientiertes (instrumentelles und strategisches) versus verständigungsorientiertes (kommunikatives) Handeln in die Richtung einer Theorie kommunikativen Handelns weiterzuführen. Was die am Typus zweckrationalen Handelns orientierte gesellschaftliche Rationalisierung betrifft, für deren Schattenseiten die Schlagworte der Entzauberung und Bürokratisierung stehen mögen, ist Habermas letztlich kritischer als Weber - obwohl auch Weber den Preis solcher Rationalisierungsvorgänge nur allzu gut kennt, und obwohl Habermas die unabwendbaren und begrüßenswerten Aspekte dieses Prozesses keineswegs verkennt. Habermas nimmt jedoch eindeutiger Stellung zu einer gesellschaftlichen Modernisierung, deren Entfaltung an die zunehmende Ausbreitung instrumenteller und strategischer Denk- und Handlungsformen gebunden ist. Die Theorie des kommunikativen Handelns soll ja gerade die begrifflichen Mittel zur Verfügung stellen, um die Bedrohung der kommunikativen Rationalität lebensweltlicher Praxis durch die instrumentelle Vernunft systemischer Imperative identifizieren und kritisch analysieren zu können. Zur Kritik an der von Habermas nur inkonsequent eingenommenen theoretischen Perspektive vgl. Joas (1986; 1992b, 306ff.). Dieser plädiert für eine strikt handlungstheoretische Sichtweise (ohne jegliches Anlehnen an strukturfunktionalistische Traditionen) auch bei der Bearbeitung makrosoziologischer Fragestellungen.
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Handlungen in anthropologischer Sicht sind nach Weber rationalisierte Stellungnahmen zur Welt und zum eigenen Selbst, es sind „disziplinierte und durch die sachlichen Bedingungszusammenhänge beeinflußte Verhaltensabläufe. Genau das meint Webers Begriff von 'Rationalität': eine 'Durchrechnung' der Bedingungen, eine Relationierung von Ziel- und Zwecksetzungen, von Situationswerten auf der einen und von einzusetzenden Mitteln sowie von im Handlungsablauf produzierten Wirkungen und Nebenfolgen auf der anderen Seite" (ebd.). Rehberg macht darauf aufmerksam, daß man diese in der Anthropologie verwurzelten, grundlegenden Bestimmungen klar von der „idealtypischen Fassung des Zweckrationalitätsmodells" unterscheiden könne und müsse. Er zeigt schließlich, wie eng Webers Anthropologie mit einem spezifischen Persönlichkeitsentwurf verflochten ist, der wiederum die Vorrangstellung des zweckrationalen Handlungstypus plausibilisiert. Rehberg spricht von einer - in Webers Ablösung von Röscher und Knies entfalteten - Versachlichung oder „Entzauberung des Persönlichkeitsbezuges der Kulturwissenschaften" (ebd., 623). Wie gesagt bezieht Weber eine radikale Gegenposition „zum verallgemeinerten Geniemodell romantischer Persönlichkeitsentwürfe" (ebd., 624.) Ebenso wie die anthropologischen Hintergrundannahmen ist auch Webers Persönlichkeitsentwurf klar normativ getönt. Weber favorisiert, bestimmte anthropologische Formen möglicher Daseinsbewältigung vor Augen, ein „Bild gesteigerter Subjektivität, welche die Verantwortlichkeit Handelnder einschließt" (ebd., 640). In Rehbergs Formulierung klingt - aus guten Gründen - Nietzsches Einfluß an, nicht jedoch, ohne sogleich die spezifisch Webersche Vorstellung gesteigerter Subjektivität zur Geltung zu bringen. Verantwortung sensu Weber setzt freilich „Sachhingabe und Selbstrelativierung", „Methodenvorschriften und Haltungsforderungen" mit ein. Rehberg nennt dies pointiert „eine protestantisch eingefärbte Dramatisierung der Bescheidenheit" (ebd., 641). Stärke durch Zurücknahme des eigenen Selbst, durch Sachlichkeit, Disziplinierung, methodische Lebensführung, Bescheidenheit, Askese: Es ist kaum zu übersehen, daß Webers entschiedene und zum ethischen Programm erhobene Ersetzung der überschäumenden, romantisch-verklärenden Persönlichkeitsmetaphysik durch eine vermeintlich radikale „Versachlichung" der Persönlichkeit eine „Stilisierung und Dramatisierung des eigenen Lebensentwurfes" darstellt (ebd., 642). Anthropologie und Persönlichkeitsentwurf, beide gleichermaßen normativ grundiert, machen den hervorgehobenen und letztlich alles andere dominierenden Status des zweckrationalen Handelns auch ein Stück weit verständlich. Im Kapitel über die Kreativität des Handelns wird jedoch deutlich werden, daß Webers Angriff gegen das romantisch inspirierte Modell auch fragwürdige Folgen hatte. Im Zuge von Webers „rationalistischer" Kritik wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Handeln wurde im dargelegten Sinn reduktiv gefaßt und als solches auch noch gleichsam verherrlicht. (3) Mit dem skizzierten anthropologischen Handlungsbegriff sind methodologische und methodische Überlegungen verbunden, die gleichfalls den besonderen Status des Modells zweckrationalen Handelns in Webers Denken plausibilisieren. Hier dreht sich nun alles tun das Verstehbare, und dieses ergibt
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I. Handlung
sich für Weber nun einmal „einzig aus Versachlichungszusammenhängen" (ebd., 624). Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich in Webers Werk Stellen finden lassen, die zeigen, daß Weber auch Ansätze für ein Modell des psychologischen Verstehens formulierte, welches nicht-rational bzw. irrational motivierte Handlungen als solche zu deuten und zu verstehen erlaubt (Frommer, 1994). Nach meiner Auffassung ändert dies allerdings nichts daran, daß Weber über weite Strecken die Ansicht einer „Primärverständlichkeit des Rationalen" unterstellt werden kann (so etwa Hahn, 1989, 123). Arationales oder irrationales Sich-Verhalten erscheint in dieser Perspektive von vornherein negativ definiert, grundsätzlich defizitär verfaßt - es ist, wie Weber bezeichnenderweise sagt, beeinflußt und getrübt (Weber, 1988, 227). Rational bzw. methodisch zu deuten und zu verstehen ist es allenfalls als eine Abweichung vom Idealtypus zweckrationalen Handelns. Wo Verstehen methodisch und nicht als wertende Stellungnahme oder intuitiver Akt der Einfühlung vollzogen werden soll, ist, so Weber, die Bezugnahme auf den Idealtypus zweckrationalen Handelns unabdingbar. Dem methodisch kontrollierten Deuten und (erklärenden) Verstehen zugänglich ist Handeln, weil es berechenbar ist. Wie gesagt meint Weber keineswegs, alles Handeln sei im Sinne des dominierenden Idealtypus rational strukturiert, also berechnet und kalkulierbar. Alles Handeln sensu Weber ist jedoch grundsätzlich auf ein berechnendes Überlegen beziehbar. „Spezifische Unberechenbarkeit" dagegen sei, so Webers berühmter Ausspruch, „das Privileg des Verrückten" (Weber, 1988, 64, 226, zit. nach Rehberg, 1994, 622). Derartig unberechenbare Verhaltensweisen gelten Weber gemeinhin auch als undurchschaubar, jedenfalls der methodisch-rationalen Deutung und Verstehensbemühung unzugänglich. Wo die besagte Relationierungsmöglichkeit gänzlich verbaut ist, hat man es mit unweigerlich Unverständlichem zu tun. (In solchen Fällen hilft dann nur noch das Gesetzeswissen der Psychopathologie oder dergleichen.) Weber hält sich nicht lange mit Spekulationen über die Irrationalität schöpferischen Handelns auf, er lenkt vielmehr, wie Rehberg formuliert, „den Blick auf die Deutbarkeit individuellen Handelns, welches immer sinnbezogen und deshalb prinzipiell weniger 'irrational' sei als jeder sinn-ferne Naturvorgang" (Rehberg, 1994, 622). Rationale, methodisch kontrollierte und intersubjektiv nachvollziehbare Deutungs- und Verstehensleistungen bedienen sich der Kategorien „Zweck" und „Mittel" (Weber, zit. nach Rehberg, 1994, 623). Daran fuhrt bei Weber kein Weg vorbei. Die Bezugnahme bzw. der Vergleich mit dem „ungetrübten" zweckrationalen Handeln bleibt eine conditio sine qua non rationalen Deutens und Verstehens - auch des nicht dem Idealtypus entsprechenden Handelns, wie es uns realiter zumeist begegnet. (4) Generell kann wohl behauptet werden, daß sich das teleologische Modell, sobald Handlungstheorien als Theorien (potentiell) rationalen Handelns angelegt werden sollen, auch deshalb besonders anbietet, weil die in diesem Modellrahmen zentralen Aspekte der Wirksamkeit und Wahrheit am ehesten einer unstrittigen Beurteilung unter Rationalitätsgesichtspunkten zugänglich sind. Weber hielt diese Aspekte, wie angedeutet, für die einzigen, die rational und damit wissenschaftlich beurteilt werden können. Diese Ansicht wird nach wie vor von vielen geteilt. Dagegen sind beispielsweise Habermas' Bemühun-
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gen um den Nachweis, daß auch anders gelagerte Geltungsansprüche - etwa der Anspruch auf die Richtigkeit einer Norm oder der Anspruch auf die Wahrhaftigkeit subjektiver Selbstthematisierungen im Rahmen expressiven Handelns prinzipiell durch rationale Argumentation eingelöst bzw. kritisiert werden können, weitaus strittiger. Von einem Konsens über diese Fragen ist die scientific Community jedenfalls weit entfernt. Das teleologische Modell, so läßt sich wohl sagen, ohne in der genannten Streitfrage Position beziehen zu müssen, scheint jedenfalls dann gewisse Vorzüge zu bieten, wenn Handeln in theoretischer und empirischer Perspektive unter Rationalitäts- oder Rationalisierungsgesichtspunkten in Betracht gezogen und allgemein konsensfahig beurteilt werden soll. Recht besehen stellt dieser Aspekt jedoch, wie ich meine, zumindest für die Psychologie (aber wohl auch für die Soziologie) keinen akzeptablen Grund für die generelle Vorrangstellung des teleologischen Modells dar. Ganz abgesehen von der Frage, ob andere als die angeführten Ansprüche auf Wirksamkeit und Wahrheit nicht doch auch einer rationalen Beurteilung unterzogen werden können, erscheint es unannehmbar, (Zweck-) Rationalität auf eine Weise als Prinzip für die Konstruktion einer Handlungstypologie einzusetzen, daß alles nicht zieloder zweckorientierte Handeln „immer schon" unter dem Gesichtspunkt mangelnder Rationalität in den Blick gerät. Dieses Konstruktionsprinzip versperrt nicht nur die Sicht auf andere Rationalitätsaspekte des Handelns als die besagten, sondern greift bereits störend in die phänomengerechte, theoretisch-deskriptive Erfassung verschiedener Handlungstypen ein. (5) Ein weiterer möglicher Grund für die Bevorzugung des teleologischen Modells mag wiederum methodologischer Art sein. (Ich weiche im folgenden teilweise von Webers Auffassung ab und nenne noch einige allgemeinere Aspekte, die die Bevorzugung des teleologischen Modells in den interpretativen Handlungswissenschaften plausibilisieren, wenngleich meines Erachtens nicht schon legitimieren.) Im Rahmen dieses Modells sind - eben teleologische oder intentionalistische - Handlungserklärungen möglich, und nur diese sind nach einer verbreiteten Auffassung „echte" und „vollständige" Handlungserklärungen. Diese Ansicht wird von manchen Autorinnen und Autoren noch dahingehend spezifiziert, daß das teleologische mit dem kausalen Erklärungsmodell in Übereinstimmung gebracht werden könne, in dieses überführbar ist und deswegen als wissenschaftliches Erklärungsmodell angesehen werden könne. Der Ansatz Groebens kann als ein Musterbeispiel hierfür gelten. Fehlt dagegen der Rekurs auf Ziele oder Zwecke, die als Motive oder als, wie es häufig heißt, „wirkliche Gründe" des Handelns fungieren, schwindet demnach die Möglichkeit einer „echten" Handlungserklärung. Es könne dann nicht mehr angegeben werden, warum eine Handlung (notwendigerweise) ausgeführt wurde. Der Hinweis auf die bloße Existenz von Werten oder Regeln etwa biete hierfür keinen Ersatz; solche Hinweise erklärten zumindest nichts im Sinne einer wissenschaftlichen Erklärung. Da später ausführlicher auf verschiedene Erklärungsmodelle eingegangen wird, soll die skizzierte Begründung für eine Bevorzugung des teleologischen Modells hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist, daß auch Weber das Deuten und Verstehen am Leitfaden des Modells zweckrationalen Handelns mit - freilich hypothetisch strukturierten - Kausalerklärungen
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I. Handlung
verknüpfte. Die Rekonstruktion des subjektiven Sinns zweckgerichteten Handelns zielte bei Weber bekanntlich unmittelbar auf die Entflechtung von Kausalzusammenhängen. (6) Noch ein möglicher Grund für die nicht nur bei Weber deutliche Vorrangstellung des teleologischen Modells hängt mit Erfordernissen der methodischen Kontrolle speziell der empirischen Forschung zusammen. Gerade in der Psychologie ist diesbezüglich wohl insbesondere die Tatsache bedeutsam, daß (mehr oder weniger) bewußt handelnde Akteure im Kontext empirischer Forschung nach ihren subjektiven Handlungszielen (nach den Gründen, Intentionen, Zwecken ihres Handelns) und nach dem jeweiligen Wissens- oder Überzeugungssystem, das sie glauben macht oder annehmen läßt, die betreffende Handlung sei ein probates Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles, gefragt werden können. Die rational erörterbaren Aspekte des Handelns sind damit - die Wahrhaftigkeit der Befragten vorausgesetzt - direkt zugänglich und als Daten erhebbar. Dies ist im Falle anderer Handlungstypen, bei denen sich die Bestimmungsgründe des Handelns - grosso modo - schrittweise dem kontrollierenden Bewußtsein reflexiver Subjekte entziehen, nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Es liegt auf der Hand, daß auch dieses Argument letztlich nicht überzeugen kann, wenn nicht fragwürdige methodische Ideale aktualempirischer Forschung das zunächst wichtige Ziel eines möglichst differenzierten theoretischen Zugriffs auf Wirklichkeiten menschlichen Handelns verbauen sollen. Insgesamt betrachtet sollte deutlich geworden sein, warum es nicht ratsam erscheint, in der hier interessierenden Handlungspsychologie allzu weitgehende Anleihen bei Webers Handlungstheorie und speziell seiner Typologie zu machen.
4.2.2 Handlungstypologien in der Psychologie Traditionelle Grenzen und Befangenheiten In der Psychologie zeigt sich, wenn wir nach handlungstypologischen Modellen suchen, ein ganz anderes Bild als in der Soziologie. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, daß in dieser Disziplin wirklich einflußreiche Klassiker und Traditionen handlungstheoretischen Denkens, wie sie die Soziologie zu bieten hat, schlicht fehlen. Die Tradition der geisteswissenschaftlichen Psychologie war zu sehr den Leitbegriffen des Bewußtseins und des Erlebens und der damit verwobenen introspektionistischen Methodologie und Methodik verpflichtet, als daß hieraus unmittelbar eine am Handeln des Menschen ansetzende Psychologie hätte hervorgehen können. Die Entwicklung der psychologischen Handlungstheorien ist, wenn diese grob vereinfachende Darstellung erlaubt ist, kein Kind der geisteswissenschaftlichen Psychologie. Wie Aebli (1973, 10) zu Recht betont, verband man auch mit dem gestaltpsychologischen Denken in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts kaum mehr allzu große Hoffnungen auf eine Erneuerung der von behavioristischen Strömungen mehr oder minder dominierten akademi-
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sehen Psychologie. Dies gilt keineswegs nur für den angelsächsischen Sprachraum, wenngleich in Europa und insbesondere im deutschsprachigen Raum die Tradition der Gestaltpsychologie stärker präsent blieb als in den Vereinigten Staaten. Offenkundig ist der handlungstheoretische Ansatz in der Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts auch nicht aus der in dieser Disziplin ohnehin eher marginalen phänomenologischen Bewegung hervorgegangen." Auch wenn die phänomenologische Psychologie längst nicht mehr an die ursprüngliche Konzeption einer Bewußtseinswissenschaft gekoppelt ist, so ist sie doch auch nie zur Handlungswissenschaft geworden. Graumann (1984) etwa, einer der prominenten Vertreter der phänomenologischen Psychologie, hat es dann auch in jüngerer Zeit nicht versäumt, sich dezidiert von der modischen Aufnahme des Handlungsbegriffs abzugrenzen. Die Psychoanalyse schließlich hat selbst erst in den letzten Jahren Versuche einer handlungstheoretischen Umorientierung hinter sich, die über die Debatten, in denen der Standort der Psychoanalyse zwischen Naturwissenschaft und Hermeneutik ausgemacht werden sollte, deutlich hinaus weisen (vor allem Schafer, 1976; in Auszügen wurde das ins Deutsche übertragene Buch 1982 publiziert). Auf die Tatsache, daß der amerikanische Pragmatismus, obwohl dort die Wurzeln des zeitgenössischen handlungstheoretischen Denkens liegen, kaum einen systematisch relevanten Bezugspunkt der rezenten Handlungspsychologie bildet, wurde bereits hingewiesen. Und die sowjetische Tätigkeitspsychologie spielte international lange Zeit lediglich eine Nebenrolle, wenngleich sie, einmal zur Kenntnis genommen, handlungstheoretisches Denken in der Psychologie gewiß gefordert und mit auf den Weg gebracht hat. Die neuere psychologische Handlungstheorie ist, grob gesagt, zunächst einmal als eine aus Negativ-Abgrenzungen erwachsene Reaktion gegen die allzu engen Gehäuse zu verstehen, in die der Behaviorismus einen Großteil psychologischen Denkens und Forschens über Jahrzehnte hinweg verbannte. Die seit den fünfziger Jahren vorbereitete, in den frühen sechziger Jahren zum Durchbruch gelangende kognitive Wende trug zweifellos zur handlungstheoretischen Umorientierung in der Psychologie bei. Handhmgsiypo/ogwcAe Grundunterscheidungen im hier interessierenden Sinne finden sich bei Autoren aus dem Umfeld der kognitiven Wende und der handlungstheoretischen Neuorientierung allerdings kaum. Wo Bezugnahmen auf Klassiker (auch der Nachbardisziplinen) auszumachen sind, werden gerade deren Ansätze zur Typenbildung
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Man kann freilich auch dort phänomenologische Untersuchungen von Sinn- bzw. Strukturzusammenhängen der Erfahrung ausfindig machen, wo nicht explizit von Phänomenologie die Rede ist (so etwa bei William James). Auch dies ändert aber nicht viel an dem klar begrenzten Einfluß der Phänomenologie in der Psychologie. Deren Verhältnis zur akademischen Psychologie blieb alles in allem von Berührungsscheu und nicht zuletzt von eklatanten Mißverständnissen geprägt (vgl. hierzu Graumann, 1991; Herzog, 1992). Auch dies schaut in der (handlungstheoretischen) Soziologie anders aus, was, wie Herzog und Graumann (1991, IX-XVI) hervorheben, in entscheidender Weise mit der integrativen Kraft von Alfred Schütz' Bemühungen zu tun hat.
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I. Handlung
ignoriert oder marginalisiert. Der erörterte Umgang Werbiks mit Webers Typologie kann dafür als ein Exempel dienen. Auch die Rezeption der analytischen Handlungsphilosophie, die ebenfalls seit den späten fünfziger, frühen sechziger Jahren ihre steile Karriere antrat, tat der diagnostizierten Einseitigkeit der psychologischen Handlungstheorie kaum Abbruch - selbst zu einem Zeitpunkt, als zumindest im Rückblick eine disziplinenübergreifende Überschreitung der besagten Grenzen sehr nahe lag. Es ist zwar so, daß in der angelsächsischen analytischen Philosophie das Handeln ebenfalls allzu lange beinahe nur als zielgerichtetes Handeln in Betracht kam. Die nicht selten etwas klaustrophobische Beispielwelt von Handlungsphilosophen, die geraume Zeit vor allem mit dem „Öffnen von Fenstern", „Schließen von Türen" und dergleichen befaßt waren, lud zunächst kaum zu einer Überwindung der Grenzen auch des handlungspsychologischen Denkens ein. Als in der analytischen Philosophie dann allerdings Anlässe und klare Hinführungen zu solchen Grenzüberschreitungen vorlagen, wurden diese in der Psychologie beharrlich ignoriert. Ein sehr aussagekräftiges Beispiel hierfür bietet die Diskussion über das teleologische oder intentionalistische Modell des Erklärens (oder Verstehens) von Handlungen, wie es von Georg H. von Wright (1974a) vorgestellt wurde. Wie von Wright (1978, 300) anläßlich der gegen seine Arbeit vorgetragenen Einwände später einräumte, ist eben „nicht alles, was wir im echten Sinne als Handeln auffassen können, mit einer Absicht verbunden und somit zielgerichtet." Dies war ein klarer Fingerzeig auf Alternativen im hier interessierenden Sinne - Alternativen, die es natürlich bereits vor von Wrights bemerkenswerter Selbstkritik gab. In der Psychologie wurden vergleichbare Überlegungen vergleichsweise spät angestellt und nur in Ausnahmefallen systematisch entwickelt. Wo dies der Fall war, blieb eine breitere Rezeption aus. Aschenbachs (1984) vor gut einem Jahrzehnt publizierte Vorschläge zur typologischen Differenzierung handlungstheoretischer Grundbegriffe wurden kaum zur Kenntnis genommen. So schreibt beispielsweise von Cranach (1994, 72) allzu pauschal, daß „eine eingehende vergleichende Beschreibung und die theoretische Erforschung der einzelnen Handlungsformen" eine Arbeit darstelle, „die bisher noch nicht geleistet wurde." Aschenbachs Votum, bei der methodisch-rationalen Rekonstruktion von Handlungsgründen nicht .jedenfalls eine Begründungskette bis zur zweckrationalen Ebene zu konstruieren" (Aschenbach, 1984, 161), blieb ebenso unerhört wie dessen Versuch, alternative Handlungstypen in die theoretische Sprache der Psychologie aufzunehmen. Sein damaliger Ausgangspunkt unterschied sich im übrigen in nichts von der heutigen Diagnose von Cranachs und meiner eigenen: „Wir handeln eben", so Aschenbach am soeben angegebenen Ort,,.nicht immer um bestimmter Zwecke willen." Richtig ist es freilich, die von Cranach geforderte Arbeit als nur unvollkommen erledigt zu bezeichnen. Zutreffend ist nach der hier vertretenen Auffassung auch dessen Behauptung, daß die in der handlungstheoretischen Psychologie dominierenden Ansätze die gestellte Aufgabe noch immer nicht einmal recht als solche erkannt hätten. Folgerichtig und begrüßenswert erscheinen demnach die Bemühungen dieses Autors, die psychologische Handlungstheorie
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in der angezeigten Richtung zu erweitern. In welcher Weise er dies unternimmt, wird im folgenden dargestellt. Nach einer kritischen Diskussion dieses Vorschlags soll Aschenbachs Typologie erörtert und schließlich eine weiterfuhrende Konzeption der theoretischen Differenzierung von Handlungstypen entwikkelt und im Hinblick auf methodologische Implikationen und Konsequenzen reflektiert werden. Letzteres scheint eine dringliche Angelegenheit, da alle mir bekannten Autoren gerade die explanativen Aufgaben einer Handlungspsychologie, die mit verschiedenen begrifflichen Handlungstypen operiert, nicht hinreichend bedenken, häufig sogar ganz vernachlässigen. Vielfalt und Ordnung des Handelns: von Cranachs
Typologie
Im programmatischen Titel des ersten Absatzes einer Abhandlung, in der Grundzüge einer Handlungstypologie formuliert werden, heißt es kurz und bündig: „Unser Handlungsbegriff ist zu eng" (von Cranach 1994, 69). Die anschließend diagnostizierte Enge besteht exakt in der auch in der vorliegenden Arbeit kritisierten Fixierung an das Konzept zielorientierten Handelns. An einer ganzen Reihe von Beispielen versucht von Cranach darzulegen, daß dieser Handlungsbegriff der Vielfalt und Differenziertheit alltagsweltlichen Handelns nicht gerecht wird. Unsere tagtägliche Handlungspraxis läßt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen. Das alltagsweltliche Bewußtsein weiß dies allemal. Auch die wissenschaftliche Psychologie sollte, wie von Cranach fordert, diesen Sachverhalt künftig stärker berücksichtigen, und zwar bereits bei der Bildung ihrer Grundbegriffe. Der Vielfalt des Handelns versucht von Cranach konsequenterweise durch eine Differenzierung des Handlungsbegriffs in Form einer Typologie Rechnung zu tragen. Dabei gelangt der Autor meines Erachtens jedoch nicht zu zustimmungsfähigen Ergebnissen. Dies hat nicht zuletzt mit der Vorgehensweise von Cranachs zu tun. Die Konstruktion einer Handlungstypologie bedarf nach der hier vertretenen Auffassung eines Prinzips, das die Methode festlegt und begründet, die man bei der Bildung der Typologie anwendet. Anstatt eines solchen Prinzips und methodischen Vorgehens stützt von Cranach die Konstruktion seiner Typologie auf eine ganze Reihe von Kriterien oder Merkmalen von Handlungen, deren Zusammenstellung und innerer Bezug zueinander in theoretisch-systematischer Hinsicht meines Erachtens nicht vollständig zu überzeugen vermag. Wie mir scheint, markieren die im folgenden aufzuzeigenden Kritikpunkte beträchtliche Hindernisse bei der Erreichung des gesetzten Ziels. Sie stehen nicht zuletzt auch von Cranachs Absicht im Weg, die vorgestellte Handlungstypologie durch (weitere) empirische Forschungen zu fundieren, auszubauen und zu verfeinern. Wenn die ersten Schritte der Begriffsbildung nicht einsichtig sind, weil sie bereits aus „logischen" Gründen nicht hinreichend transparent und nachvollziehbar sind, bleiben die darauf aufbauenden zwangsläufig mit einer gewissen Hypothek belastet. Wenn die ersten und grundlegenden Bemühungen, der Vielfalt unseres Handeln eine intelligible und in sich stimmige Ordnung zu verlei-
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I. Handlung
hen, nicht zu überzeugen vermögen, sind die Erfolgsaussichten jeder daran anschließenden Unternehmung möglicherweise geschmälert. Ich beginne meine Darstellung und Kritik, indem ich zunächst einmal dem Pfad folge, den von Cranach in seinen Ausfuhrungen selbst beschreitet. Der Autor stellt seinem Plädoyer für eine typologische Differenzierung des Handlungsbegriffs einige allgemein nachvollziehbare Beispiele voran, die die oben zitierte Diagnose und die geforderten Maßnahmen zur Überwindung begrifflicher Mängel in der psychologischen Handlungstheorie begründen sollen. Auf den zweiten Blick zeigen allerdings bereits diese Beispiele einige theoretisch-begriffliche Probleme in von Cranachs Konstruktion einer Handlungstypologie an. Die ihnen zugewiesene Funktion können sie teilweise nicht erfüllen. Wie von Cranach (ebd., 71) schreibt, zeigt unsere Alltagserfahrung häufig genug, „daß wir vieles tun, das dem Konzept des zielgerichteten Handelns nicht oder nur schlecht entspricht." So leicht dem zuzustimmen ist, so schwer ist es einzusehen, warum denn alle der sodann angeführten Beispielfälle „ganz offensichtlich" (von Cranach) keine zielgerichteten Handlungen sein sollen. Ich denke etwa an die am soeben angegebenen Ort genannten Beispiele: 1. „Wir denken über Probleme nach, die wir lösen wollen, und behalten die Lösung für uns." 2. „Bisweilen entschließen wir uns in einer kritischen Situation bewußt, nichts zu tun." 3. „Wir erledigen unsere Morgentoilette, ohne viel dabei zu denken." Handlungen des zuletzt genannten Typs hat von Cranach bislang ohne weiteres selbst als zielgerichtet aufgefaßt. Das bewußte handlungsleitende oder handlungsbegleitende Denken war bei diesem Autor - meines Erachtens aus gutem Grund - jedenfalls kein Kriterium, das hätte erfüllt sein müssen, um von Handlungen sprechen zu dürfen. Auch in von Cranachs neuer Typologie ist Bewußtheit noch keine conditio sine qua non zielorientierten Handelns. Dasselbe gilt für den in diesem Beispiel zumindest angedeuteten Aspekt der Routinisierung von Handlungsabläufen. Die routinisierte Ausführung von Handlungen nimmt diesen ja noch nicht unbedingt den Charakter der Ziel- oder Zweckbezogenheit. Demgemäß erscheint dann auch die „Routine-Handlung" in von Cranachs neuer Typologie als Unterform zielorientierten Handelns, wodurch allerdings das Beispiel seiner eigentlichen Funktion beraubt ist. Ebenso fragwürdig sind die anderen beiden Fälle. Im zweiten Beispiel denkt von Cranach an Unterlassungen, die ja, wie alle gängigen Definitionen dieses Begriffs und nicht zuletzt von Cranachs eigene Bestimmungen zeigen, zweifellos als eine spezielle Art zielorientierten Handelns aufgefaßt werden können. Bewußt nicht zu handeln, indem man etwas Bestimmtes zu tun unterläßt - etwas, was ohne unüberwindliche Schwierigkeiten getan werden könnte und eventuell getan werden sollte -, kann selbstverständlich einen zielorientierten Akt darstellen. Der Begriff der Unterlassung steht in der Handlungstheorie für die Möglichkeit intentionaler Passivität. Schließlich bleibt auch am ersten Beispiel unklar, warum denn die Tatsache, daß wir Handlungsergebnisse, wie sie gedankliche Problembearbeitungen erbringen können, nicht mitteilen, dem
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betreffenden Handeln schon seine Zielorientiertheit oder Zweckgerichtetheit nehmen soll. Wie nun schauen von Cranachs theoretische Bestimmungen und Unterscheidungen im einzelnen aus, woraus besteht die Typologie, wie ist sie gebildet und gebaut? Zu beachten ist zunächst, daß von Cranach vor der Konstruktion der eigentlichen Handlungstypologie eine akzentuierende Unterscheidung zwischen „langfristigen Vorhaben" und Handlungen trifft. Handlungen gelten dabei als mehr oder minder abgeschlossene Einheiten mit überschaubarem Anfang und Ende und einem eindeutig lokalisierbaren Schauplatz des Handlungsvollzuges. Langfristige Vorhaben setzen sich in der Regel aus einer Vielzahl unterschiedlicher Einzelhandlungen zusammen. Dazu in aller Kürze: Von Cranach unterscheidet zwei Varianten langfristiger Vorhaben. Zum einen spricht er mit Pulver (1991) von durchgängigen „Themen", welche die „zyklische Struktur des Alltags" bestimmen.36 Gemeint sind damit Handlungen, die immer wieder ausgeführt werden und demgemäß eher Gewohnheiten oder Routinen als langfristige Vorhaben im landläufigen Sinne des Wortes verkörpern. Von Cranach definiert ein Thema als „langfristiges Vorhaben mit immer wiederkehrender Thematik". Zu exemplarischen Zwecken werden das Kochen, Essen und Schlafen oder das Durchführen von akademischen Prüfungen genannt - Beispiele, die nicht in jedem Fall glücklich gewählt sind. Denn in welchem Sinne ist etwa das Kochen ein Thema, also ein langfristiges Vorhaben mit immer wiederkehrender Thematik? Wenn jemand täglich kocht, um etwas Warmes zu essen zu haben, mag dies eine Gewohnheit oder Routine, ein fester Bestandteil des Alltags dieses Menschen sein. Das Kochen selbst ist allerdings eine Handlung ganz in von Cranachs Sinne: es findet in einem bestimmten Zeitraum zumeist in der Küche statt und stellt, wie immer es sich in zahlreiche Teilhandlungen zerlegen lassen mag, doch eine einigermaßen überschaubare Einheit dar. Wenn dies zutrifft, verschwimmen die Konturen der Unterscheidung zwischen langfristigen Vorhaben und Handlungen. Langfristige Vorhaben wären, wenn das Kochen als ein „Thema" ein solches Vorhaben darstellte, nicht nur strukturell und temporal komplexe Entwürfe, die sich nur durch eine Vielzahl von aufeinander aufbauenden und ineinandergreifenden Handlungen verwirklichen lassen, sondern auch bloße Wiederholungen und routinierte Ausfuhrungen immer gleicher oder zumindest ähnlicher Handlungen. Dasselbe gilt im übrigen im Hinblick auf andere Beispiele von Cranachs, namentlich für das Durchführen von Prüfungen im universitären Alltag oder auch das Essen. Gänzlich unklar ist schließlich, in welcher Weise das Schlafen mit dem genannten Begriff und überhaupt mit spezifisch /ia«i//M«gspsychologischem Denken in Zusammenhang zu bringen ist. Wie eine Analyse des Einschlafens zeigen könnte, ist zwar der Übergang vom wachen Dasein in den Schlaf durch-
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Vgl. hierzu auch Thomaes (1988, 52ff.) Überlegungen zu „Daseinsthemen" und zu „Themen alltäglichen Lebens", die im Kontext der Biographie- und Persönlichkeitsforschungen Thomaes einen wichtigen Stellenwert besitzen.
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I. Handlung
aus interessant für den Handlungstheoretiker - das Schlafen selbst zu erwähnen, wo es um „Themen" sensu von Cranach geht, wirft aber doch Fragen auf. Ist denn alles, was tagtäglich, jedenfalls relativ regelmäßig getan werden muß (und uns vielleicht sogar mehr widerfährt als daß wir es selbst vollbringen), gleich aus welchen Gründen oder Zwängen heraus und unabhängig davon, ob dies wachend oder schlafend geschieht, ein „langfristiges Vorhaben" im Sinne eines „Themas"? Was nun den zweiten Typ langfristiger Vorhaben betrifft, spricht von Cranach in Anlehnung an Little (1983) von „Projekten". Damit sind Vorhaben ganz im geläufigen Sinne dieses Wortes gemeint, beispielsweise eine Reise machen, ein Fest organisieren, ein Studium absolvieren oder einen Beruf anstreben, ein Haus bauen. Solche Projekte sind - jedes für sich betrachtet - mehr oder minder einmalig und mehr oder minder zeitaufwendig. Sie stellen strukturell und temporal komplexe Arrangements einer Vielzahl ineinandergreifender Handlungen dar. Als solche sind sie von Einzelhandlungen im Sinne raumzeitlich begrenzter Einheiten gut zu unterscheiden. Letztere differenziert von Cranach sodann in der eigentlichen Handlungstypologie. Der Autor bildet seine Handlungstypen unter Bezugnahme auf sein alltagsweltliches Handlungswissen einerseits, auf theoretische und empirische Erkenntnisbestände der wissenschaftlichen Literatur andererseits. Die erwähnten „klassischen Vorbilder" werden nicht namentlich genannt. Die (theoretischen) Typisierungen, die auf dieser Grundlage entwickelt wurden, prüfte von Cranach auf ihre Tauglichkeit hin, indem er Zuordnungen unterschiedlicher konkreter Handlungen zu den gebildeten Typen vornahm und gedanklich durchspielte. Dies ist zweifellos ein sehr fruchtbarer Weg, um unangemessenen, letztlich erkenntnishemmenden Abstraktionen in der wissenschaftlichen Begriffsbildung auf die Spur zu kommen. Die schließlich als brauchbar akzeptierten Typen sind durch die Angabe ihrer jeweils konstitutiven oder charakteristischen Merkmale spezifiziert. Damit ist die Grundlage für die Explikation der Kriterien oder Dimensionen gegeben, nach denen sich einzelne Typen im Detail kennzeichnen und voneinander abgrenzen lassen. Zukünftige empirische Untersuchungen sollen die Brauchbarkeit der innovativen Typologie bestätigen, zu Revisionen oder Differenzierungen Anlaß geben. Zur Übersicht gebe ich zunächst die Tabelle wieder, in der von Cranach „sieben Klassen mehr oder weniger typischer Handlungsmerkmale" und sieben Handlungstypen voneinander unterscheidet (Abbildung 3). Anschließend werde ich noch auf ausgewählte Probleme dieses anregenden Versuchs aufmerksam machen - auf begrifflichtheoretische Probleme, von denen ich glaube, daß sie das Potential der Typologie einschränken und dadurch der äußerst wichtigen Zielsetzung von Cranachs den „uniformen" Handlungsbegriff der Psychologie in konsensfahiger Weise zu differenzieren - zuwiderlaufen.
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Hierarchisch-sequentiell Heterarchisch Ballistisch Probieren Emotional-intuitiv
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Äußerer Anreiz Rekursive Selbstregulation Emotionale Energetisierung Affektive Energetisierung Wert x Erwartungsmotivation Willensprozesse
6. Soz. Einbettung
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Ergebnis orientiert Prozeß orientiert Bedeutungs-stiftend
7. Funktion d. Umwelt
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Konkret Mental Interaktiv
1. Gegenstand
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2. Produkt od. Zweck
2. Bedeutungsorientiertes Handeln
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1. Zielgerichtete Handlungen Originär zielgerichtete Handlungen Routine-Handlungen Ideomotorisches Handeln Handeln unter Druck / Überbelastung willensbetontes Handeln
3. Prozeßorientiertes Handeln
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Handlungstypen
3. Energetisierung
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4. Emotional-Intuitives Handeln
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S. Affekt-Handeln
6. Mentales Handeln Problem -Lösen
Tab. 2: Prototypische Handlungsformen und ihre Merkmale oder Kriterien, nach von Cranach (1994, 75)
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I. Handlung
Im einzelnen unterscheidet von Cranach das zielgerichtete vom bedeutungsorientierten, vom prozeßorientierten, vom emotional-intuitiven, vom affektiven und schließlich vom mentalen Handeln. Zielgerichtetes und mentales Handeln werden jeweils noch intern differenziert. Maßgeblich für diese Grundunterscheidungen sind sieben Kriterien, nämlich Gegenstand, Produkt oder Zweck, Energetisierung, Steuerung, Offenheit und soziale Einbettung der betreffenden Handlung sowie die Funktion der Umwelt beim Handeln. Für die eindeutige Beschreibung der einzelnen Handlungstypen müsse außerdem, so der Autor, noch das jeweilige Verlaufsmuster angegeben werden, das den zeitlichen Ablauf des Handelns auf je spezifische Weise reguliere. Generell versteht von Cranach Handlungstypen als Prototypen (Rosch, 1978), also als besonders typische Fälle einer Klasse von Handlungen. Prototypen werden dabei von Idealtypen unterschieden. Während letztere lediglich theoretische Konstrukte darstellen, die in ihrer idealtypischen Reinheit empirisch nicht existieren (aber die Feststellung empirischer Abweichungen vom jeweiligen Idealtyp ermöglichen und auf diesem Weg erkenntnisbildende Funktionen erfüllen), kommen Prototypen empirisch durchaus vor. Häufig sind konkrete Handlungen freilich als Mischformen zu begreifen, die sich nur unter Bezugnahme auf verschiedene Prototypen begreifen und analysieren lassen. Wie dem auch sei: Prototypen sind, so von Cranach (1994, 85), „Schemata real existierender Sachverhalte. Ob sie existieren, ist in erster Linie eine empirische Frage. Wenn ja, helfen sie uns die wahrgenommene Welt zu ordnen - genau was ich mir von den Handlungstypen erhoffe." Wenn Handlungstypen gedankliche Ordnung stiften wollen, müssen sie freilich einigermaßen klar expliziert und voneinander abgegrenzt werden. Jede schematisch-typologische Ordnung lebt von Unterscheidungen. Dies ist auch dann der Fall, wenn diese nicht streng disjunkt, sondern akzentuierend angelegt sind. Unterscheidungen müssen auch dort nachvollziehbar sein, wo das Unterschiedene in mannigfacher Weise Bezüge zueinander unterhält oder im Sinne einer Familienähnlichkeit miteinander verwandt ist. Das Grundproblem der Typologie, die von Cranach vorstellt, liegt meines Erachtens nun darin, daß nicht hinreichend klar wird, welchem Prinzip (oder gegebenenfalls welchen Prinzipien) die Konstruktion dieser Typologie verpflichtet ist. Eine genauere Analyse zeigt, daß ein solches durchgängiges Prinzip nicht auszumachen ist. Von Cranachs Vorschlag läuft dadurch Gefahr, zu einem teilweise ziemlich willkürlich angelegten „Sammelsurium" von Handlungstypen zu geraten, in dem durchaus fragwürdige Unterscheidungen eine nur scheinbare Ordnung der alltagsweltlichen Wirklichkeit menschlichen Handelns bilden.37 Was als gedankliche Ordnung der vielfaltigen Welt alltagsweltlicher Handlungserfahrungen ausgegeben wird, zumindest als erster Versuch einer solchen Ordnung, erweist sich bei näherem Hinsehen nicht ohne weiteres als
37
Gegen derartige Sammelsurien wendet sich Joas (1994a) in seiner Replik auf Münchs Kritik an der von Joas vorgelegten Theorie der Kreativität menschlichen Handelns.
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geeignet, zuvor Ungeschiedenes in zustimmungsfahiger Weise auseinanderzuhalten. Von Cranachs Unterscheidungen bewegen sich teilweise auf theoretisch unterschiedlichen Ebenen. Sie heben, wie mir scheint, bisweilen einigermaßen beliebig herausgegriffene Aspekte menschlichen Handelns gegeneinander ab. Dieses Vorgehen verhindert, die begrifflich-typisierenden Differenzierungen menschlichen Handelns theoretisch stringent entwickeln zu können. Es reicht zur Unterscheidung von Handlungstypen keineswegs aus, sich auf verschiedene Merkmalskonfigurationen zu beziehen, solange nicht auf der Basis eines durchgängig angewandten Vergleichsmaßstabes eine fundamentale Differenzierungsmöglichkeit expliziert wird, die die vorgenommenen Typisierungen und Typenbildungen begründet. Dies geschieht bei von Cranach nicht. So kommt es, daß die vorgestellten Handlungstypen teilweise keine prototypischen Alternativen darstellen. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn man von Cranachs „Unterscheidung" zwischen dem Typus des zielgerichteten und demjenigen des mentalen Handelns betrachtet. Ein von mir bereits angesprochenes Problem kehrt hier wieder. Es ist unklar, warum denn, wie von Cranach unterstellt, eine mentale Handlung keine zielgerichtete Handlung sein können soll.38 Wer sich hinsetzt, um eine Rechenaufgabe zu lösen, verfolgt mit der vorgenommenen und schließlich vollzogenen mentalen Handlung ein klares Ziel. Eine Rechenaufgabe lösen oder die Stellung eines Schachspiels durchdenken sind, wie viele andere mentale Akte auch, Handlungen mit einem geradezu auf der Hand liegenden Ziel oder Zweck. Dies gilt wohl nicht zuletzt für alle mentalen Handlungen, die ausgeführt werden, um lebenspraktische Entscheidungen begründet treffen und in rationaler Weise praxische Handlungen an die vollzogenen mentalen Akte anschließen zu können. Quod erat demonstrandum: Das criterium comparationis für von Cranachs Typenbildungen ist in diesem Fall offenkundig nicht trennscharf, ja, es ist eigentlich gar nicht identifizierbar. Analoges ließe sich im Hinblick auf die Unterscheidimg zwischen dem Typus des mentalen Handelns und anderen Handlungstypen zeigen, beispielsweise dem bedeutungs- oder prozeßorientierten Handeln. Auch diese Unterscheidungen greifen nicht. Auch sie trennen nicht, was anhand eines klaren Prinzips oder Kriteriums auseinandergehalten werden könnte. Der Typus des mentalen Handelns hat den Status, den ihm von Cranach in seiner Typologie zuschreibt, nicht verdient. Dieser Begriff liegt quer zu den anderen Unterscheidungen. Er stellt wohl eher eine Merk-
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Dabei macht von Cranach eine Ausnahme: Das willensbetonte Handeln als ein spezieller Typus zielorientierten Handelns kann sich im Gegensatz zu allen anderen Subtypen auch auf „mentale Gegenstände" beziehen. Abgesehen davon, daß im vorliegenden Zusammenhang die Redeweise von „Gegenstandsbezügen" höchst problematisch ist, ist zu bestreiten, daß eine begrifflich-theoretische Verbindung zwischen zielorientiertem Handeln und mentalem Handeln nur in der skizzierten Weise möglich ist.
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malsdimension des Handelns dar als einen eigenständigen, im Rahmen der Typologie von Cranachs überzeugend explizierten Handlungstypus. Auch gegen von Cranachs durchaus eigenwillige Bestimmung des Begriffs der Unterlassung lassen sich schwerwiegende Einwände vorbringen. Ich habe dies oben bereits erwähnt und darauf hingewiesen, daß Akteure mit Unterlassungen selbstverständlich bestimmte Zwecke oder Ziele verfolgen können. Die typologische Unterscheidung zwischen Unterlassungen und zielgerichteten Handlungen stiftet also eher gedankliche Unordnung, als daß sie die Welt unserer Wahrnehmungen und Erfahrungen zu ordnen vermag. Dieser Eindruck nimmt im übrigen zu, wenn von Cranach (1994, 83) selbst anmerkt, daß es bei Unterlassungen durchaus „Ziele, Pläne, Entscheidungen, u.U. auch volitive Prozesse etc." gibt, oder daß „Nichthandeln ... verschiedenen Zwecken dienen" kann. Der hieran sich anschließende Hinweis, diese für den Typus zielgerichteten Handelns konstitutiven Handlungselemente bezögen sich im Falle einer Unterlassung jedoch „auf das Unterlassen der Ausfuhrung (einer Handlung, J.S.), was ich für einen mentalen Gegenstand halte" (und nicht auf ein Ziel oder einen Zweck), vernebelt die Sache allenfalls. Selbst wenn man sich an diese Formulierung halten würde, änderte dies ja nichts am Zielcharakter einer Unterlassung. Die zitierte Formulierung ist allerdings ohnehin etwas irreführend, da sich willkürliche, bewußte Unterlassungen meines Erachtens keineswegs als mentale Handlungen auffassen lassen, die sich auf einen „mentalen Gegenstand beziehen". Unterlassungen sind vielmehr mit gewissen Absichten, Erwartungen, Pflichten, Geboten, Vorhaben und dergleichen praktisch und „logisch" verwoben, kurz: sie beziehen sich auf bestimmte Fremd- oder Selbstaufforderungen und bestehen sodann darin, daß die betreffende Person diesen Aufforderungen nicht nachkommt. Dies kann im übrigen geschehen, indem eine geforderte externale (praxische) oder internale (mentale) oder kommunikative Handlung nicht vollzogen wird. So mag es jemand beispielsweise unterlassen, das Fahrrad aufzuräumen oder über ein gegebenes Problem nachzudenken oder eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten - mit alledem kann er ein Ziel verfolgen, etwa .jemanden ärgern". Mit ähnlichen Problemen sind auch andere der Unterscheidungen in von Cranachs Typologie belastet. Manche dieser Unterscheidungen erscheinen wegen der unklaren und wechselnden Gründe, die sie ermöglichen und rechtfertigen sollen, eher vage und unplausibel. Stichwortartig ließe sich etwa fragen: Warum sollen bedeutungsorientierte Handlungen, Handlungen also, die nach von Cranach „soziale Bedeutungen" schaffen oder verändern, gegenüber dem zielorientierten Handeln einen eigenen Typus bilden, zumal sie sich, wie der Autor formuliert, auf das Schaffen und Verändern sozialer Bedeutung „richten"? Ein Akteur kann zweifellos soziale Bedeutung schaffen oder verändern wollen und dabei zielgerichtet vorgehen. Bedeutungsorientierte Handlungen in von Cranachs Sinne scheinen auch aus anderen Gründen keinen eigenen Typus zu bilden. Die Attribute „soziale Bedeutungen schaffen oder verändern", „primär keine materiellen Folgen nach sich ziehen", „sich auf mentale Gegenstände
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richten können" oder „u.U. auch emotional-intuitiv gesteuert und energetisiert" zu werden sind nämlich, wie auch die anderen in der Tabelle noch angeführten Merkmale des bedeutungsorientierten Handelns, weder für sich noch alle zusammen genommen Charakteristika, die die Bildung eines solchen Typus rechtfertigen könnten. Auch hier ist wieder nicht ersichtlich, nach welchem Prinzip von Cranach bei seiner Typenbildung verfahrt. Ein weiteres Beispiel: Von Cranachs Ausführungen über ,Affekt-Handeln" verwischen die für die Begriffsexplikation doch eigentlich konstitutive Grenzziehung gegenüber dem zielorientierten Handeln, wenn es heißt, Affekt-Handlungen seien „ergebnisorientiert. Das Ergebnis-Ziel kann deutlich handlungssteuemd sein ..." (ebd., 82). Ein letztes Exempel: Zu Routinehandlungen werden keineswegs nur ehemals zielorientierte Handlungen; auch das, was von Cranach etwa als bedeutungsorientiertes oder prozeßorientiertes Handeln faßt, läßt sich unter Umständen routinemäßig erledigen. Kritik ließe sich nicht nur gegen die Bestimmung der einzelnen Handlungstypen geltend machen, sondern auch gegen von Cranachs Grenzziehungen zwischen Handlungstypen und Merkmalsdimensionen und schließlich gegen manche Ausführungen zu den sieben Merkmalsdimensionen, welche dem Autor als „Klassifikationskriterien" bei der Typenkonstruktion dienen. Ich unterlasse es, darauf näher einzugehen. Die dargelegten Einwände gegen von Cranachs Handlungstypologie sollten hinreichend gezeigt haben, daß dieser Versuch vorläufig keinen vorbehaltlos gangbaren Weg aufzeigt, wie man auf systematische Weise zu Handlungstypen gelangt, die der Vielfalt unserer Handlungspraxis eher gerecht werden als die traditionelle Handlungspsychologie, ohne daß dabei Begriffsverwirrung und theoretische Probleme entstehen, die keinem auf die Ordnung unseres Tuns abzielenden Denken gut anstehen.
Handeln und Argumentieren: Aschenbachs Typologie Aschenbach (1984) geht bei der Entwicklung seiner Typologie davon aus, daß eine Handlung als argumentationszugängliches Verhalten begriffen werden kann. Mit dieser Definition knüpft Aschenbach insbesondere an Überlegungen Schwemmers an, der Handeln als „das rede- und insbesondere argumentationszugängliche, d.h. durch Rede, und insbesondere argumentierende Rede, herbeiführbare, verhinderbare oder beseitigbare Verhalten" auffaßt (Schwemmer, 1976, 150; vgl. auch 1978a, 1978b). Der bei Schwemmer durch die Akzentuierung der argumentierenden Rede bereits angelegte rationalistische Grundzug dieses Handlungsbegriffs tritt bei Aschenbach bisweilen noch stärker hervor. Rationalität fungiert nicht zuletzt als methodisches Prinzip der Handlungsdarstellung und Handlungserklärung. Die grundlegende Begriffsbestimmung und methodische Festlegung, der die daran anschließende Konstruktion der Handlungstypologie verpflichtet ist, ist eng mit einem praktischen Interesse verwoben. Aschenbach geht es mit seinen handlungstheoretischen Überlegungen um
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die Entwicklung psychologischer Begriffe und Verfahren, die letztlich der rationalen, eben argumentativen Bearbeitung alltagsweltlicher Schwierigkeiten zugute kommen sollen. Die handlungstheoretisch orientierte Psychologie soll einen Beitrag zum vernunftorientierten Umgang mit Handlungs- und Lebensproblemen leisten. Aschenbachs Handlungsbegriff umfaßt nicht-sprachliche Verhaltensweisen ebenso wie sprachliche und, insofern das Denken als ein „inneres Sprechen" aufgefaßt werden kann, die stillen Überlegungen und Imaginationen reflexiver Subjekte. Mit dem Begriff der Argumentationszugänglichkeit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß Handlungen - im Unterschied zu den strikt naturgesetzlich determinierten Verhaltensweisen - durch Orientierungen geleitet und deswegen durch „Reden" veranlaßt, verhindert oder modifiziert werden können. Orientierungen können theoretisch und empirisch als argumentationszugängliche Selbst- oder Fremdaufforderungen rekonstruiert werden. Es ist evident, daß Rationalität und die mit diesem Konzept verwobene Idee der argumentativen Begründung von Geltungsansprüchen den entscheidenden Bezugspunkt für Aschenbachs theoretische Konstruktion seines typologisch differenzierten Handlungsbegriffs bilden. Handlungen sind, was immer sie sonst noch sein mögen, orientierte Verhaltensweisen. Solchen Orientierungen folgen Handelnde häufig ganz bewußt. Oft haben sie jedoch keine (klare) Vorstellung von den Orientierungen, die ihrem Handeln gleichsam stillschweigend zugrunde liegen und es leiten. Die Explikation solcher verborgener Bestimmungsgründe des Handelns mag aufwendig und psychologisch mühsam sein. Im Prinzip lassen sich handlungsleitende Orientierungen jedoch klären, artikulieren und reflektieren. Dadurch werden die dem Handeln impliziten Sinngehalte rekonstruiert. Da Orientierungen nach Aschenbach - zumindest in ihrem Kern - argumentativ strukturiert sind, lassen sie sich auch kritisieren. Handlungen und die damit verwobenen Sinngehalte sind argumentativ rechtfertigbar und angreifbar, sie sind rationaler Kritik zugänglich. Aschenbach bildet seine Handlungstypologie am Leitfaden eines intern differenzierten Rationalitätskonzepts. Die Binnendifferenzierung des Rationalitätskonzepts wird über die Explikation unterschiedlicher Orientierungs- und Argumentationstypen (oder, wie man auch sagen könnte, unterschiedlicher Typen von Selbst- oder Fremdaufforderungen) geleistet. Wesentliche Anregungen liefern dabei wiederum bestimmte Arbeiten aus der konstruktivistischen Philosophie der siebziger und frühen achtziger Jahre, vor allem Gethmanns (1979) Überlegungen zu einer formalen Pragmatik argumentativer Rede. An diesen Schritt schließen sich dann die Vorschläge eigenständiger Handlungstypen nahtlos an. Ein Handlungstyp kann nun nämlich von anderen abgegrenzt werden, indem eine jeweils spezifische Orientierungs- oder Argumentationsfigur und der damit verbundene Maßstab zur rationalen Beurteilung der betreffenden Handlung angegeben wird. Handeln steht bei Aschenbach also generell unter typologisch spezifizierbaren Rationalitäts- oder Geltungsansprüchen.
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Dies wird beispielsweise offenkundig, wenn - und so fuhrt Aschenbach den ersten Handlungstypus ein - Handeln als Imitation eines Vorbilds aufgefaßt wird. Handlungen können mehr oder weniger gelungene Nachahmungen einer beispielhaften, paradigmatischen Handlung oder, wie es auch heißt, einer Musterhandlung darstellen. Sinn und Identität derartiger imitationsmustergebundener Handlungen, kurz: derartiger Imitationshandlungen werden über die Feststellung der Übereinstimmung der vorbildhaften mit der nachahmenden Handlung bestimmt. Als einfache Beispiele für diesen Handlungstypus fuhrt Aschenbach an: das Nachbilden einer vorgezeichneten Linie oder sonstigen Figur, die Imitation einer Körperbewegung, einer Stimme oder des Tonfalls einer anderen Person, die Wiedergabe einer bekannten Melodie oder sonstigen Lautgestalt. Aktiv nachgeahmt werden insbesondere visuell, akustisch oder taktil vermittelte Eindrücke oder Erlebnisgehalte, auf einer komplexeren Ebene auch stilistische bzw. ästhetische Aspekte wahrgenommener Gegebenheiten, Ereignisse oder Personen. Imitationshandlungen können sich auf aktuell präsente oder imaginativ repräsentierte Vorbilder beziehen. Imitationshandlungen setzen nicht unbedingt die Sprach- und Reflexionskompetenzen erwachsener Personen voraus. Der imitierende Akteur folgt nicht einem sprachlich verfaßten bzw. explizierbaren Schema oder einer Regel, sondern „lediglich" einem durch die sinnliche Wahrnehmung vermittelten, mehr oder weniger deutlich erinnerbaren Vorstellungsbild oder Eindruck: „so etwa wurde diese Linie gezeichnet", „so etwa bewegte sich mein Vater", „so etwa klang der Anschlag des Pianisten", mögen Personen ihre jeweiligen Imitationshandlungen kommentieren. Solche Kommentare sind freilich nicht nötig für die Ausfuhrung oder den Nachweis von Imitationshandlungen. Das nachahmende Sich-Verhalten von Kindern etwa läßt sich unter Bezugnahme auf den eingeführten Begriff bereits in der vorsprachlichen Phase kindlicher Entwicklung ansiedeln und gleichwohl als ein rede- und argumentationszugängliches Handeln betrachten. Daran ändert die Tatsache, daß korrigierende Einflußnahmen durch Erwachsene in solchen Fällen selbstverständlich durch den Einsatz präverbaler Maßnahmen erfolgen müssen, nichts (man denke etwa an deiktische Gesten, ein nochmaliges Vorführen der betreffenden Handlung oder an Hilfestellungen bei der Ausfuhrung dieser Handlung). Entwicklungspsychologisch gesehen kann das Imitationshandeln als genetisch primärer Handlungstyp betrachtet werden. Im Laufe der ontogenetischen, biographischen Entwicklung eines Menschen kann das aktive Nachahmen zumindest teilweise im Lichte der anderen Handlungstypen reinterpretiert werden.39 39
Imitationshandlungen gehören selbstverständlich in jedem Alter zum Verhaltensrepertoire eines Menschen. Auch lernen Personen ihr Leben lang nicht zuletzt auf dem Weg der Nachahmung von Vorbildern. Die erworbene Fähigkeit, eine Musterhandlung beliebig oft zu reproduzieren, kann mit Aschenbach als spezielle Handlungs/ert/gfert bezeichnet werden. Sich Fertigkeiten anzueignen, erfordert bisweilen ausdauernde Nachahmungsversuche. Wir erlangen Fertigkeiten durch Übung, häufig ohne viel dabei zu denken und zu reden. Manchmal merkt man es noch nicht einmal, daß man dabei ist, eine Fertigkeit auszubilden. Kinder 1er-
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Die handlungsleitende Orientierung, welche den Sinn und die qualitative Identität einer Imitationshandlung bestimmt, ist die Selbst- oder Fremdaufforderung, eine (von einer beliebigen Person) zu einem früheren Zeitpunkt bereits vollzogene und nun als Vorbild fungierende Musterhandlung zu reproduzieren. Wie gesagt müssen solche Aufforderungen dem Handeln nicht expressis verbis vorausgehen. Sie müssen allerdings in methodischer Einstellung als plausible Unterstellungen vorausgesetzt werden können, wenn ein beliebiges SichVerhalten als eine imitationsmustergebundene Handlung identifiziert und im Detail analysiert werden soll. Imitationshandlungen sind reproduktive Wiederholungen bekannter Handlungen. Die Kenntnis des im konkreten Fall nachgeahmten Vorbildes ist die Voraussetzung dafür, ein Sich-Verhalten als eine bestimmte Imitationshandlung erkennen zu können. Ohne diese Kenntnis muß das in Frage stehende Sich-Verhalten dem Außenstehenden (und dem Akteur selbst) fremdartig, mehr oder minder nichtssagend erscheinen. Er wird es unter dieser Voraussetzung mißverstehen. Schon die einfachsten Fälle machen klar, wie sehr das Handlungsverstehen darauf angewiesen ist, daß die um Verständnis bemühte Person an einer Praxis oder Lebensform teilhat. Ob eine Imitationshandlung geglückt ist (also faktisch als eine bestimmte Handlung vollzogen wurde), entscheidet das Urteil, das festlegt, ob die angestrebte Übereinstimmung zwischen dem Vorbild und der nachahmenden Handlung gegeben ist. Der Rückgriff auf das vorbildhafte Muster erlaubt die Identifizierung der Charakteristik und des Sinnes der in Frage stehenden Imitationshandlung. Dabei ist es so, daß sich die Beurteilung, ob das Vorbild durch die nachahmende Handlung getroffen ist oder nicht, auf keine exakten Kriterien - wie sie etwa mit einem sprachlich erläuterbaren Schema oder einer Regel gegeben sind - stützen kann. Es ist nun bereits erkennbar, in welcher Weise Rationalität als ein methodisches Prinzip der begrifflich-theoretischen Konstruktion sowie der interpretativen Rekonstruktion und Identifikation verschiedener Handlungstypen fungieren kann. Imitationshandlungen können glücken oder scheitern. Die Frage, ob ein Sich-Verhalten als Imitationshandlung aufzufassen ist, also einem bestimmten Vorbild gleicht, soll rationaliter in einem zwanglosen, unvoreingenommenen und nonpersuasiven Gespräch geklärt werden, wie Aschenbach in Anlehnung an Kambartels (1976a, 56ff.) Explikation pragmatischer Aspekte vernunftorientierter Verständigung sagt (vgl. auch Habermas, 1976). Generalisieren läßt sich nun, daß Handlungen in Aschenbachs Ansatz immer mit speziellen Rationalitäts- oder Geltungsansprüchen verknüpft sind. Imitationshandlungen geraten stets unter der leitenden Frage in den Blick, ob sie tatsächlich eine gelungene Nachahmung darstellen. Im negativen Fall mögen entsprechen-
nen bekanntlich vieles im Spiel. Und wer kennt nicht Personen, die ohne zu wissen, wie sie dazu gekommen sind, irgendwann genau so stehen und gehen, schauen und die Mundwinkel verziehen wie das väterliche oder mütterliche (oder sonstige) Vorbild.
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de Korrekturen, die, am verbindlichen Vorbild oder Maßstab gemessen, angezeigt und gerechtfertigt erscheinen, das betreffende Sich-Verhalten verbessern. Ein bestimmtes Vorbild als gültigen Maßstab vorausgesetzt, läßt sich für eine Verhaltensänderung argumentieren, wenn das fragliche Sich-Verhalten allzu sehr vom maßgeblichen Muster abweicht. Wer sich im Falle einer offenkundigen Diskrepanz zwischen Vorbild und Imitationshandlung unter den skizzierten Voraussetzungen nicht ändern wollte, verhielte sich irrational. Er verweigerte sich dem, was er doch selbst nachzuahmen versuchte. Zweierlei ist offensichtlich: Zum einen erklären interpretative Rekonstruktionen und Analysen nach dem Modell des imitationsmustergebundenen Handelns nicht ohne weiteres, warum jemand eine bestimmte Imitationshandlung ausgeführt hat. Zum anderen rechtfertigen Hinweise auf die Existenz oder „Wirksamkeit" eines Vorbilds nicht die Ausfuhrung einer Imitationshandlung. Insbesondere zweiteres ist im Auge zu behalten, wenn davon die Rede ist, Imitationshandlungen seien Formen des argumentationszugänglichen Sich-Verhaltens und unter Umständen auch rational. Das Argumentieren für oder wider eine Handlung bezieht sich hier nur auf gewisse „technische" Aspekte des Handlungsvollzuges bzw. der Handlungsbeschreibung, nicht aber auf die Frage, ob eine bestimmte Imitationshandlung rationaliter überhaupt hätte ausgeführt werden sollen. Eine Antwort auf diese Frage setzt offenkundig einen umfassenderen Rationalitätsbegriff voraus, als er von Aschenbach bei der Konzeptualisierung des ersten Handlungstypus in Anspruch genommen wird. Insbesondere moralische Dimensionen der menschlichen Praxis werden nicht berücksichtigt, wenn es darum geht, Argumente für oder gegen eine Imitationshandlung vorzubringen. Auch für die anderen Handlungstypen gelten je spezifische Grenzen, die markieren, in welcher Weise für oder gegen Handlungen eines bestimmten Typs argumentiert werden kann. Handlungskritik sensu Aschenbach bewegt sich also in jedem Fall innerhalb eines Feldes möglicher Argumente. Dieses Feld wird durch den in das Handeln eines bestimmten Typs eingelassenen Maßstab abgesteckt. Im Anschluß an Schwemmer spricht Aschenbach von einem zweiten Handlungstyp, insofern Handlungen schematisch vollzogen werden. Das Handeln ist nun durch ein sprachlich explizierbares Schema geleitet. Im gelungenen Fall aktualisiert es jenes Schema, welches Orientierungsfunktion besitzt und „die korrekte Ausführung einer Handlung" (Aschenbach, 1984, 150) reguliert. Beispiele für schemagebundene Handlungen sind „das Aussprechen eines Wortes oder die Ausführung einer Bewegung. Die Argumentation für eine Handlung in diesem Sinne besteht dann in dem Hinweis auf das zu aktualisierende Schema, soweit es bestimmt ist. Es gilt dann, ein Wort richtig auszusprechen, eine Bewegung richtig auszuführen" (Schwemmer, 1978b, 93). Ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem ersten Typus liegt darin, daß ein Schema (zumindest teilweise) sprachlich bestimmt werden kann, was eine kognitive Distanzierung gegenüber der für das Imitationshandeln unmittelbar maßgeblichen „Vorbildsituation" ermöglicht. Dies gestattet eine genauere Antizipation
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und Planung eines Handlungsablaufs. Die rationale Beurteilung einer schematisch regulierten Handlung bedarf entsprechend keines Rekurses auf ein situationsgebundenes Vorbild mehr. Es genügt die Bezugnahme auf eine handlungsleitende sprachliche Anweisung. Wird ein Schema korrekt aktualisiert, gilt die entsprechende Handlung als richtig ausgeführt. Natürlich gibt es Handlungen, die im Zwischenbereich zwischen rein imitationsmustergebundenem und rein schemagebundenem Handeln angesiedelt sind. Aschenbach nennt als exemplarische Fälle für solche Mischtypen unter anderem das mimische Ausdrucksverhalten oder das Tanzen. Wer tanzt, aktualisiert teilweise sprachlich fixierte Schemata, teilweise muß er aber auch nicht schematisch regulierte Spielräume ausfüllen. Das Handeln in solchen Spielräumen kann sich dabei an bestimmte Vorbilder anlehnen und diese nachzuahmen versuchen, es kann aber auch zum leiblichen Ausdruck der Individualität und erfinderischen Kreativität einer Person geraten. Das letzte Beispiel verweist im übrigen auf eine Gemeinsamkeit imitationsmuster- und schemagebundener Handlungen. Diese können nämlich als (häufig) selbstzweckhafte Handlungen von all jenen abgegrenzt werden, die gerade nicht um ihrer selbst willen ausgeführt werden. Selbstzweckhafte Handlungen bereiten „Funktionslust", sie besitzen einen „Eigenwert" und werden bisweilen allein deswegen ausgeführt. Sie sind an sich sinnvoll, besitzen ihren Grund in sich selbst. Zu Recht hebt Aschenbach hervor, daß solche selbstgenügsamen Handlungen eine wichtige psychologische Funktion für die Orientierungs- und Identitätsbildung von Individuen und Kollektiven besitzen können. Deswegen können sie auch „Orientierungshandlungen" genannt und als solche von finalen Handlungen unterschieden werden. Der dritte Handlungstyp findet traditionell in der soziologischen Handlungstheorie und Sozialpsychologie besonderes Interesse. Es geht nun um solche Handlungen, für die soziale Interaktions- und Kommunikationsregeln bestimmend sind. Jemanden um etwas bitten, Fragen stellen und Antworten geben, eine Busfahrkarte lösen, als Autofahrer vor einem Stoppschild halten, auf den Wink eines anderen zu diesem hingehen, eine Prüfung absolvieren, heiraten - all dies sind Beispiele für solche Handlungen, welche (gültige) soziale Regeln voraussetzen, unterstellen bzw. befolgen. Für oder gegen bestimmte Handlungen läßt sich in diesem Fall argumentieren, indem gezeigt wird, daß die fragliche Handlung zu einer Regel paßt oder nicht. Im positiven Fall, in dem eine Handlung als passende (situationsspezifische) Anwendung oder Befolgung einer Regel angesehen wird, gilt die betreffende Handlung als regelrational. Neben sozialen Regeln erwähnt Aschenbach auch individuell-psychische (Interaktions-) Regeln, die beispielsweise einen regelgemäßen Umgang eines Menschen mit sich selbst ermöglichen. Normen oder Konventionen sind Orientierungen bzw. Regeln, die für Mitglieder von Gruppen, Gemeinschaften oder Gesellschaften allgemein verbindlich sind und deren Verletzung Sanktionen nach sich zieht.
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Der vierte Typus in Aschenbachs Modell ist das bekannte ziel- oder zweckgebundene Handeln. In Übereinstimmung mit Schwemmer (1978b, 94) gelten Zwecke dabei als „Sachverhalte, für deren Eintreten die Ausführung der jeweiligen Handlung eine empirische Bedingung ist und zu deren Herbeiführung zugleich mit der (Ausführung oder Aufforderung zu der) Handlung aufgefordert ist. ... Die Argumentation für eine Handlung in diesem Sinne besteht in der Angabe des Zweckes, zu dem die jeweilige Handlung ein Mittel, d.h. zu dessen Erreichung diese Handlung eine Bedingung ist. Es gilt dann, eine geeignete Handlung auszuführen." Handlungsverstehen setzt hier die Kenntnis der Handlungszwecke und der vom Akteur unterstellten empirischen Zusammenhänge zwischen Handlungsergebnis und Handlungsfolgen voraus.40 Für die Verfolgung eines Zweckes geeignete Handlungen sind zweckrational.41 Einen fünften Handlungstyp sieht Aschenbach damit gegeben, daß manche Handlungen nur dann angemessen identifiziert und verstanden werden können, wenn sie als kohärente oder stimmige Bestandteile einer umfassenderen Struktur von Handlungs- und Lebensorientierungen begriffen werden. Die Entwicklung von Sprach- und Handlungskompetenzen von Menschen geht, so Aschenbach, mit einer Strukturierung unserer Erfahrungs-, Orientierungs- und Wissensbestände einher. Diese werden geordnet „in über- und untergeordnete, in wichtigere und unwichtigere." Im Zuge dieser Entwicklung „können wir dann lernen, daß bestimmte Orientierungen auch Mittel für andere Orientierungen sein können" (Aschenbach, 1984, 165). So lernen wir etwa, daß die Ausführung einer Imitationshandlung (unter Umständen auch) als Aktualisierung eines Handlungsschemas aufgefaßt werden kann, oder daß „ein bestimmtes Handlungsschema wiederum eine Regel oder einen Zweck oder eine Regel einen bestimmten Zweck (erfüllt)" (ebd., 165f.). Als „Konstruktionsprinzip solcher Über- und Unterordnungsrelationen" betrachtet Aschenbach die ZweckMittel-Relation, so daß bestimmte Orientierungen sich als zweckmäßig für die Verfolgung anderer Orientierungen ausweisen lassen. Ein Handeln nun, welches durch ein Denken geleitet ist, das ganze Strukturen von Orientierungen in Rechnung stellt, nennt Aschenbach sinnrational: „Die Argumentation für eine Handlung in diesem Sinne besteht dann im Hinweis auf die (direkt) mit ihr zu verfolgende Orientierung, im Aufzeigen der Zweckmäßigkeit für andere verfolgte Orientierungen und im Nachweis der Verträglichkeit der so verfolgten Orientierungen mit sonstigen wichtigen Orientierungen" (ebd., 167). Sinnratio40
Zur Differenzierung verschiedener Arten solcher empirischer Zusammenhänge Aschenbach (1984, 155ff.).
41
Erwähnt sei, daß Schemata, die (in bestimmten Situationen) immer wieder aktualisiert werden, Regeln, die (in bestimmten Situationen) immer wieder befolgt werden, oder Zwecke, die (in bestimmten Situationen) immer wieder verfolgt werden, Interessen des Akteurs anzeigen. Interessengeleitetes Handeln ist in der situationsübergreifenden Präsenz und relativen zeitlichen Konstanz handlungsleitender Orientierungen fundiert, stellt aber keinen eigenständigen Handlungstypus dar.
vgl.
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nal begründete Handlungen bewahren und stabilisieren die Kontinuität, Kohärenz und Konsistenz der situationsübergreifend verbindlichen Relevanzsysteme und damit die Identität eines Akteurs (zum Identitätsbegriff vgl. Straub, 1991a, 1996b). Als oberster Bezugspunkt sinnrationaler Argumentation dienen jene Lebensorientierungen und Lebensformen, die das Fundament eines personalen Selbst- und Weltverhältnisses bilden. Als hierarchisch übergeordnete, „allgemeinste und umfassendste oder abstrakteste" Orientierungen sind sie selbst nicht mehr durch den Hinweis auf andere Orientierungen begründungsfahig. Als „Summe" der bisherigen Erfahrungen, Orientierungsleistungen und Handlungen bilden sie vielmehr den Rahmen, in dem sich Handelnde bewegen und den sie nicht (ohne weiteres) überschreiten können. Ein vollständiges Verlassen dieses Rahmens erforderte eine totale Selbsttranszendierung und Selbsttransformation. All dies ist schon deswegen unmöglich, weil dieser Rahmen weder vollständig bewußt gemacht noch als Ganzes in Frage gestellt, bezweifelt und außer Kraft gesetzt werden kann. Einzelne Lebensorientierungen können dagegen sehr wohl ins Wanken geraten, und ebenso können Menschen bekanntlich zu spüren bekommen, daß Teile des Rahmens, der dem Leben bislang seine Struktur und seinen Sinn verliehen hat, nicht mehr recht tragen und zu zerbrechen drohen. Ist dies der Fall, sind Identitätskrisen unausweichlich. Zusammenfassend ist festzuhalten: Aschenbach gelangt zur Unterscheidung verschiedener Handlungstypen, indem er auf unterschiedliche handlungsleitende Orientierungen und, damit verbunden, auf unterschiedliche Rationalitätsgesichtspunkte menschlichen Handelns aufmerksam macht. Diese Gesichtspunkte spielen auch eine Rolle, wenn Aschenbach angibt, worin denn eigentlich das Verstehen und Erklären typologisch differenzierbarer Handlungen besteht. Während es die Angabe von „finalen", zweckgerichteten Handlungsorientierungen bzw. Handlungsgründen ermöglicht, Handlungen durch Antworten auf eine warum-Frage zu verstehen oder zu erklären, ist dies im Falle der rationalen Rekonstruktion imitationsmustergebundener, schemageleiteter und regelgemäßer Handlungen nicht der Fall. Solche Rekonstruktionen machen zwar deutlich, welche Handlung jemand in einer bestimmten Situation ausgeführt hat (und daß überhaupt gehandelt wurde). Sie erklären aber nicht, warum jemand diese Handlung vollzog. Allenfalls wird geklärt, warum bestimmte Teilhandlungen ausgeführt wurden. Ich werde bei der Darstellung der Leitlinien meiner eigenen Typenbildung erläutern, daß derartige Rekonstruktionen zwar nicht als „warumnotwendig-Erklärungen", sehr wohl aber als gleichsam „schwächere" (und deswegen nicht schon weniger brauchbare) Erklärungen aufgefaßt werden können. Am Leitfaden eines intern differenzierten Rationalitäts- und Argumentationskonzeptes entwickelt Aschenbach insgesamt fünf nicht aufeinander reduzierbare Handlungstypen. Zwar macht der Autor darauf aufmerksam, daß zwischen diesen Typen auch ein hierarchisches Begründungsverhältnis hergestellt werden könne. Hierzu müsse die rationale Rekonstruktion handlungsleitender Orientierungen oder Gründe nach und nach auf das Prinzip der Zweckrationalität zurückgreifen. Man kann also versuchen, etwa ein Handlungsschema durch
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eine Interaktionsregel und diese durch einen „letztlich handlungsleitenden" Zweck zu begründen. Von einer Notwendigkeit, so vorzugehen, redet Aschenbach aber nicht. Im Gegenteil warnt er sogar davor, in jedem Fall „eine Begründungskette bis zur zweckrationalen Ebene zu konstruieren" (Aschenbach, 1984, 161). Die in der Typologie angelegte Möglichkeit, Handlungen in ihrer je spezifischen Charakteristik und Sinnstruktur zu erfassen, würde dadurch womöglich allzu schnell verspielt. Man landete damit unversehens wieder bei jener einseitigen Betrachtungsweise, die in der Handlungspsychologie bis heute vorherrscht. Aschenbach hebt dagegen zu Recht hervor, daß Menschen eben nicht immer um bestimmter Zwecke willen handeln, und daß die Psychologie dieser Tatsache Rechnung zu tragen hat. Handlungen können häufig nur dann angemessen beschrieben, verstanden und erklärt werden, wenn sie entweder als imitationsmustergebunden, als schemageleitet, als regelgemäß, als zweckorientiert oder aber als Handlungen aufgefaßt werden, die an die fundamentalen Lebensorientierungen und den Identitätsentwurf eines Menschen gekoppelt sind. Das untenstehende Schema liefert einen Überblick über Aschenbachs Typologie (Tabelle 3). Neben den Bezeichnungen für die einzelnen Handlungstypen findet sich eine Kurzcharakteristik und ein Hinweis auf die jeweils impliziten, mit einem spezifischen Rationalitäts- oder Argumentationstyp verknüpften Geltungsansprüche menschlichen Handelns.
Tab. 3: Aschenbachs Handlungstypologie
Handlungstyp
Kurzcharakteristik
Geltungsanspruch, Rationalitätstyp
Imitationsmustergebundenes Handeln
Handeln als Nachahmung eines bekannten, imaginierten Vorbildes oder Musters
Identität, Übereinstimmungsrationalität
Schemagebundenes Handeln
Handeln als Aktualisierung eines sprachlich explizierbaren Schemas
Richtigkeit, Schemarationalität
Regelgebundenes Handeln
Handeln als Befolgung einer (Interaktions-) Regel
Passendheit, Regelrationalität
Zweckgebundenes Handeln
Handeln als Mittel für das Erreichen eines Zweckes
Geeignetheit, Zweckrationalität
Sinnrationales Handeln
Handeln als stimmiges Element von Orientierungsstrukturen und Identitätsentwürfen
Sinnrationalität
Obwohl die in den nächsten Kapiteln vorgestellte Typologie in mancherlei Hinsicht mit Aschenbachs Vorschlag verwandt ist, beruht sie keineswegs auf einer
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bloßen Übernahme und Erweiterung desselben. Differenzen betreffen nicht nur zahlreiche Details, die hier nicht angekündigt werden müssen. Aschenbachs Ansatz besitzt nach meiner Auffassung ein paar grundsätzliche Schwächen, die es erforderlich machen, noch einmal und teilweise unter erheblich veränderten Vorzeichen anzusetzen. Die wichtigsten Abweichungen beziehen sich auf drei Punkte: Erstens wird in der im folgenden präsentierten Typologie der Rationalismus, der Aschenbachs Handlungsbegriff kennzeichnet, geschwächt. Dies soll nicht zu einer völligen Abkehr von einer am Rationalitätsprinzip orientierten Konstruktion von Handlungstypen fuhren, wohl aber zur Relativierung dieses Prinzips. Als Wegweiser für die Infragestellung rationalistischer Grundannahmen der Handlungspsychologie dienen in erster Linie Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Handelns sowie die Theorie der Kreativität des Handelns, wie sie insbesondere Joas ausgearbeitet hat. Zweitens soll ein Problemkomplex bearbeitet werden, der in Aschenbachs Ausfuhrungen allenfalls unzulänglich behandelt wird. Die methodologischen Konsequenzen einer differentiellen Handlungstypologie, speziell die Folgen für die Handlungserklärung, werden auch von diesem Autor nicht hinreichend bedacht. Die handlungstypologischen Unterscheidungen werden nämlich weitgehend ohne Rücksicht auf die Frage nach jeweils angemessenen Formen der Handlungserklärung gezogen und diskutiert. Dies ist umso auffalliger, als Aschenbachs Handlungstypologie keineswegs nur den Rahmen des deduktivnomologischen covering /aw-Modells (und der liberalisierten Variante der induktiv-statistischen Erklärung) sprengt, sondern auch denjenigen der teleologischen oder intentionalistischen Handlungserklärung. Aschenbach favorisiert dieses Modell pauschal, wenn er gegen die nomologische Auslegung von Handlungstheorien argumentiert - allerdings ohne anzugeben, wie denn Erklärungen von imitationsmustergebundenen, schemageleiteten, regelorientierten oder sinnrationalen Handlungen in die Form eines umgekehrten praktischen Schlusses gezwängt werden sollen, ohne daß dabei die spezifische Charakteristik der Explananda verlorengeht. Diese besonderen Charakteristika verschiedener Handlungstypen im Auge zu behalten, war doch gerade das vorrangige Ziel, das die Entwicklung der Typologie leitete. Die Frage nach einer differentiellen Theorie der Handlungserklärung, die auf handlungstypologische Unterscheidungen Rücksicht nimmt, ja, auf solche Unterscheidungen zugeschnitten ist, stellt sich übrigens in voller Schärfe, sobald sich die Handlungspsychologie auch auf die von Aschenbach vernachlässigte Kreativität des Handelns besinnt. Drittens möchte ich Aschenbachs Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Praxis und Rationalität, Handeln und Begründen weiterfuhren. Dies geschieht in einem eigenen, dem dritten Teil der vorliegenden Arbeit, der sich dem heiklen Verhältnis zwischen dem Verstehen und der Kritik von Handlungen widmet. Heikel ist dieses Verhältnis vor allem dann, wenn sich Kritik auf handlungsleitende Orientierungen bezieht, die die Identität und Lebensform von Akteuren in einer nicht bloß oberflächlichen Weise berühren. Rationalitätsfra-
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gen, die sich im Kontext handlungspsychologischer Analysen möglicherweise stellen, beziehen sich zwar zunächst einmal auf die dem Handeln impliziten Maßstäbe, an denen der Akteur selbst sein Tun und Lassen ausrichtet. Dies macht Aschenbachs Typologie in mustergültiger Weise klar. In einem erheblich erweiterten Sinn kann man sodann mit Habermas fragen, ob das wissenschaftliche, rational motivierte Verstehen von Handlungen nicht auch auf die Kritik von handlungsleitenden Orientierungen sowie der damit verwobenen Praktiken, Lebens- und Identitätsformen abzielen muß. Gehört die Kritik daran, daß bestimmte Vorbilder handelnd nachgeahmt, daß bestimmte Schemata oder Regeln anerkannt und befolgt, daß bestimmte Werte geteilt und praktisch konkretisiert oder daß schließlich bestimmte Identitätsentwürfe und Lebensformen stabilisiert werden, zum Geschäft einer interpretativen Wissenschaft? Sind Verstehen und Kritik in diesem weitreichenden Sinne zwei völlig voneinander unabhängige und in der wissenschaftlichen Praxis tunlichst auseinanderzuhaltende kognitive Operationen, können sie ineinander übergehen oder müssen sie dies gar, da das eine vom anderen nicht zu trennen ist? Egal, welche Antwort auf diese außerordentlich schwierigen Fragen gegeben werden mögen: links liegen lassen kann man sie nicht. Im Gegenteil, sie gehören mit ins Zentrum der Theorie und Methodologie einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie.
4.3 Handlungstypen und Typen der Handlungserklärung: eine integrative Typologie 4.3.1 Leitlinien der Typenbildung Handeln begreife ich als sinnhaft strukturiertes Sich-Verhalten, das explizit oder implizit durch symbolisch, vornehmlich sprachlich vermittelte Orientierungen geleitet ist. Entsprechend kann es durch Einflußnahmen auf symbolischer Ebene, insbesondere durch die (persuasive oder argumentative) Rede, gestaltet und modifiziert werden. Orientierungen bezeichne ich auch als Bestimmungsgründe des Handelns. Mit dem handlungsleitenden Orientierungswissen - dem Alltagswissen - ändert sich, was eine Person tut oder läßt.42 Dieses Wissen muß dem Handelnden nicht unbedingt bewußt, ja von diesem nicht einmal (ohne
42
Die Betonung der Wissensgrundlage allen Handelns steht heute im Zentrum vieler Handlungstheorien: „Jedes Verständnis der Welt und des Menschen, jeder bedeutungsvolle Gedanke und jedes Handeln beruhen auf Wissen", heißt es etwa bei von Cranach (1995, 22). Der Autor bezieht seine Ausfuhrungen speziell auf das Wissen sozialer Systeme. Die damit verknüpfte Frage, in welchem Sinne vom Wissen, vom Gedächtnis und Handeln sozialer Systeme wie „Dyaden, Gruppen, Organisationen etc." (von Cranach) gesprochen werden kann, scheint mir nach wie vor klärungsbedürftig. Auf gedächtnistheoretische Fragen bezogen vgl. hierzu Straub (1992a, 1993c).
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weiteres) sprachlich artikulierbar sein, und schon gar nicht müssen handlungsleitende Wissensbestände dem Handeln in der Form sprachlicher Explikate vorangehen. Nicht jede Handlung beruht auf Überlegungen und einem Plan. Die Tatsache, daß handlungsrelevantes Orientierungswissen den Akteuren nicht bewußt und ohne weiteres zugänglich sein muß, weist es als praktisches Wissen oder Bewußtsein aus: „Die Handelnden ... besitzen als integralen Aspekt dessen, was sie tun, die Fähigkeit, zu verstehen, was sie tun, während sie es tun. ... Dieses praktische Bewußtsein (practical consciousness) umfaßt all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne daß sie in der Lage sein müßten, all dem einen direkten diskursiven Ausdruck zu verleihen" (Giddens, 1988, 36). Der praktische Charakter handlungsleitenden Wissens verweist nicht zuletzt darauf, daß Bestimmungsgründe des Handelns „Gründe" im engeren Sinne des Wortes sein können, aber auch geschichtlich-biographische oder soziokulturelle Hintergründe des fraglichen Handelns. Letztere sind häufig nicht ohne besondere Anstrengungen (des Handlungssubjekts oder eines Interpreten) faßbar. Heranwachsende Personen gelangen zu ihrem praktischen Bewußtsein in der aktiven Auseinandersetzung mit der materiellen Welt und durch sich beständig ausweitende Interaktionen und Kommunikationen mit anderen, kurz: es wird empraktisch erworben. Selbstverständlich verändert sich dieses Wissen im tagtäglichen Umgang mit Dingen und Menschen unentwegt. Der damit verbundene Bildungsprozeß ist prinzipiell offen.43 Vom praktischen Bewußtsein unterscheidet Giddens das diskursive Bewußtsein. Zu diesem gehört all das, was die Handelnden selbst oder irgendwelche Betrachter ohne besonderen Aufwand artikulieren und reflektieren können. Handlungen, Interaktionen und Kommunikationen verkörpern praktisches Wissen. Davon kann nur ein geringer Teil von den Akteuren zur Sprache gebracht und damit als Bestandteil des diskursiven Bewußtseins ausgewiesen werden. Praktisches Orientierungswissen kann als jenes Wissen verstanden werden, das für die Ausführung sinnhafter Handlungen vorausgesetzt bzw. unterstellt werden muß. Explikationen solchen Wissens bestehen darin, praktisches Bewußtsein auf die Ebene des diskursiven zu heben. Diesen Übergang zu vollziehen sind prinzipiell alle in der Lage, die Handelnden ebenso wie distanzierte Beobachter und Interpreten. Über das Gelingen dieses Übergangs im konkreten Fall besagt diese grundsätzliche Möglichkeit freilich nichts aus. Praktisches Bewußtsein in wissenschaftlich-methodischer Einstellung zu diskursivieren heißt, Bestimmungsgründe von Handlungen via interpretatione in Worte zu fassen. Bestimmungsgründe verleihen einer konkreten Verhaltens-
43
Dies wird seit einigen Jahren von der sogenannten Entwicklungspsychologie der Lebensspanne hervorgehoben. Zur Auffassung von „Entwicklung" als einem prinzipiell unabschließbaren, multidimensionalen Prozeß vgl. Baltes, Reese und Lipsitt (1980), Baltes und Reese (1984), Filipp und Olbrich (1986).
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weise ihre formale Struktur, ihren spezifischen Sinn, ihre qualitative Identität womöglich ihre Charakteristik als Handlung dieses oder jenes Typs. Handlungen sind wissensbasierte, orientierte Verhaltensweisen. Orientierungen können subjektiv „verfügbare", vom Handelnden artikulierbare Wissensbestände sein, müssen es aber nicht. Demgemäß kann Handlungssinn als subjektiv gemeinter Sinn sensu Max Weber aufgefaßt werden, muß es aber nicht. Wenn das Denken und Forschen einer interpretativen Psychologie nicht den subjektivistischen und mentalistischen Engpässen des intentionalistischen Handlungsmodells verhaftet bleiben will, ist dieser Spielraum unerläßlich. Er bildet die Voraussetzung für die Konstruktion einer typologischen Handlungstheorie und Methodologie, die die Grenzen der klassischen Bewußtseinsphilosophie hinter sich läßt und sinnhafte Handlungen nicht allein als Realisationen subjektiv bewußter Intentionen zu begreifen vermag. Popp-Baier (1991, 35) stellt die hier zentrale Frage, wie „ein Konzept von nicht-bewußten Handlungsbedingungen und nicht bewußten Handlungsfolgen mit einem Begriff sinnhaften Handelns vermittelt werden kann, und zwar so, daß es gelingt, gegenüber dem Dualismus von Objektivismus und Subjektivismus einen dritten Weg zu gehen?"44 Auf diese Frage soll
44
Die Rede von den nicht-bewußten Handlungsfterfmgt/ngen ist allerdings mit Bedacht zu lesen. Sie verleitet nämlich dazu, solche Bedingungen ganz im Sinne des nomologischen Modells einer objektiven Tatsachenforschung als empirisch faßbare Explanantien zu begreifen. Wie Popp-Baier selbst klarstellt, sind die der hermeneutisch-interpretativen Forschung methodisch zugänglichen „Bedingungen" aber gerade nicht als empirisch feststellbare Explanantien im Sinne des deduktiv-nomologischen Modells, sondern als Interpretamente aufzufassen. Bestimmungsgründe (Gründe und Hintergründe) des Handelns sind von kausal wirksamen Verhaltensbedingungen, Sinnzusammenhänge von Kausalzusammenhängen zu unterscheiden. Popp-Baier stützt sich zunächst auf ausgewählte Konzepte aus Giddens' „Theorie der Strukturierung" und unternimmt sodann den kühnen Versuch, Auszüge aus Dürkheims Soziologiekonzeption „als Grundlinien eines hermeneutischen Konzeptes sozialwissenschaftlicher Forschung" zu begreifen (1991, 138). Nach meiner Auffassung läßt sich Dürkheims Ansatz allerdings weder mit einer ontologischen Bestimmung des Verstehens (Heidegger, Gadamer) noch mit irgendeiner der gängigen methodologisch-methodischen Varianten verstehender Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in ein einigermaßen stimmiges Verhältnis bringen. Dürkheims Soziologie sucht nach Ursachen, an die die methodischen Mittel einer hermeneutisch-interpretativen Wissenschaft kaum heranreichen - ganz gleich, ob diese Ursachen auf der Ebene der Begriffe deijenigen, die am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, verortet werden sollen (was Dürkheims Sache nicht ist), oder ob diese Ursachen als dem Bewußtsein der Handelnden entgehende Tatsachen und damit „tiefer" angesetzt werden sollen (wie Dürkheims Votum lautet). Für die Psychologie höchst instruktiv bleibt Popp-Baiers Bezugnahme auf das Regelkonzept und die gerade auch von Dürkheim stark gemachte Einsicht, daß die in Regeln begründeten „sozialen Tatsachen" eine Wirklichkeit sui generis bilden und nicht bloße „Vergegenständlichungen individueller geistiger Akte" darstellen. Demzufolge sind solche „Tatsachen" auch nicht im Rahmen einer bewußtseinspsychologischen Erforschung von Subjektivität faßbar. Interessant ist schließlich Popp-Baiers Hinweis darauf, daß Dürkheim sich in einer frühen Abhandlung auf das psychologische Konzept des Unbewußten bezieht, um sein Konzept der Kollektivvorstellungen zu explizieren. Das psychologische Konzept, das im Kern ja besagt, das nicht einmal alles Psychische bewußt sein müsse, verleiht dem Argument, daß dies erst recht für das Soziale gelte, Nachdruck (und dies stützt natürlich Dürkheims Anliegen, die Soziologie als eigenständige Disziplin auszuweisen).
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die zu entwickelnde Handlungstypologie und Interpretationstheorie eine Antwort liefern. Orientierungswissensbestände oder Bestimmungsgründe des Handelns lassen sich in formaltheoretischer Perspektive unterscheiden und typisieren. Orientierungen oder Bestimmungsgründe sind formgebundene oder, wie ich auch sagen möchte, formal strukturierte Wissensbestände. Was das theoretischsystematische Ziel betrifft, eine allgemeine Handlungstypologie zu konstruieren, werden formale oder strukturelle Aspekte des handlungsleitenden Orientierungswissens den entscheidenden Bezugspunkt bilden. Es sind die unterschiedlichen Formen möglicher Bestimmungsgründe des Handelns, die die Grundlage einer differentiellen Handlungstypologie abgeben. Diese Formen weisen zugleich den Weg, der beschritten werden muß, um methodologische Konsequenzen aus differentiellen Handlungstypisierungen zu ziehen, was schließlich bedeutet, daß sich die Handlungserklärungen strukturell den formaltheoretisch definierten Handlungstypen anzupassen haben. All dies erfordert zunächst eine Korrektur des (in der Psychologie) gängigen Verständnisses einer wissenschaftlichen Handlungserklärung.
4.3.2 Wissenschaftliche Erklärung oder Erklärungsformen? Wer von eigenständigen Formen der wissenschaftlichen Handlungserklärung spricht, erteilt jeder monistischen Erklärungstheorie eine Absage. Die hier anvisierte Pluralisierung wissenschaftlichen Erklärens beinhaltet insbesondere eine Relativierung des covering-law-Mo&zWs. Auch in der Handlungspsychologie stimmen Erklärungen meistens mit dem Modell der deduktiv-nomologischen bzw., da Handlungen allenfalls probabilistisch formulierten Regelmäßigkeiten, nicht aber streng deterministisch formulierten Gesetzmäßigkeiten folgen, mit dem Modell der induktiv-statistischen Erklärung überein. Die Subsumtion eines Explanandums unter ein allgemeines empirisches Gesetz ist das entscheidende Merkmal dieser Erklärungsform. Dabei unterliegt, wie Groeben formuliert, „die Subsumtion unter Gesetzmäßigkeiten wiederum der regulativen Zielidee, den zu erklärenden Sachverhalt auf die in dem Gesetz als Antezedensbedingung genannten Ursachen zurückfuhren zu können ...; die verschiedenen Liberalisierungen des Erklärungs-Konzeptes können also in diesem Sinn als mehr oder weniger weit entfernte Approximationen in Richtung auf diese Zielidee der Rückfuhrbarkeit auf eine Kausal-Ursache angesehen werden" (Groeben, 1986, 206). Dies gilt nach Groeben ebenso für die in der Psychologie wichtigen Varianten der dispositionellen und der genetischen Erklärung (systematischgenetische, kausal-genetische, statistisch-genetische, historisch-genetische Erklärung). Auch in der Auseinandersetzung mit Drays Konzept der rationalen Erklärung, die dieser ja als eine echte Alternative zum covering-law-lAoAs\\ begriff, da rationale Erklärungen ohne Bezugnahme auf empirische Gesetze auskommen, hält Groeben an der Subsumtionstheorie fest und verteidigt diese
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als einzig und allein legitimes Modell einer (auch) psychologischen Handlungserklärung (ebd., 261 ff.). In Groebens Ausfuhrungen zur wissenschaftlich-psychologischen Erklärung ist in exemplarischer Form jener dogmatisch-apodiktische Ton unüberhörbar, den Angehm zu Recht mit einer unzureichenden Reflexion auf „externe" oder pragmatische Gesichtspunkte in Verbindung bringt, „sei es auf das intuitive Verständnis dessen, was eine Erklärung leisten soll, sei es auf die faktische Wissenschaftspraxis einer Disziplin, sei es auf die Beschaffenheit des Gegenstandsbereichs" (Angehrn, 1985, 112; vgl. hierzu und zum folgenden auch Straub, 1999a). Angehrn stellt überzeugend dar, wie solche Gesichtspunkte (häufig stillschweigend) in den Erklärungsbegriff und damit in den Maßstab für die einschlägigen Debatten über wissenschaftliche Erklärungen eingehen. Nicht zuletzt die Überzeugung, daß wir im Bereich menschlichen Handelns aus prinzipiellen Gründen keine sicheren Prognosen aufstellen können (und solche Prognosen ohnehin keinen Wert an sich darstellen; vgl. Toulmin, 1968), trägt zu einer Entthronung und Relativierung des covering-law-Modells bei. Die hier interessierenden Modelle dienen der interpretativen, retrospektiven Erklärung von Handlungen. Im folgenden wird auch dann von Erklärungsformen gesprochen, wenn diese nicht dem covering-law-Modell entsprechen. Einem diffusen Erklärungspluralismus wird jedoch nicht das Wort geredet. Es gibt durchaus Möglichkeiten, sich im konkreten Fall rational zwischen unterschiedlichen Erklärungsformen zu entscheiden. Die von Angehrn angesprochenen „externen" Gesichtspunkte liefern Kriterien für solche Entscheidungen. Nicht zuletzt sind es die gegenstandskonstitutiven Bestimmungen von Handlungstypen, die jeweils besondere Erklärungsformen angemessen erscheinen lassen. Unbestritten ist und bleibt, daß das covering-law-Modell das unter logischen Gesichtspunkten „stärkste" Modell ist, da allein dieses Modell Antworten auf die sogenannte „warum-notwendig"-Frage liefern kann. Dies rechtfertigt allerdings keine einseitigen Festlegungen. Es gibt gerade auch in der Handlungspsychologie zahlreiche Antworten auf Fragen, mit denen Erklärungsansprüche gestellt sind, ohne daß die Erfüllung dieser Ansprüche im Sinn des covering-law-Modells ausfallen müßte, ganz im Gegenteil. Solche Fragen, die andersartige Erklärungen geradezu verlangen, sind etwa die sogenannten „wiemöglich"-Fragen, die Dray zu Recht von den „warum-notwendig"-Fragen abgrenzt. Triftige Antworten auf „wie-möglich"-Fragen zeigen, wie es denn (überhaupt) zu diesem Ereignis oder jener Handlung kommen konnte und wie es faktisch dazu kam. Sie klären nicht, warum es mit Notwendigkeit so kommen mußte. Nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer logischen Form, sondern unter dem Aspekt ihrer intentionalen Ausrichtung betrachtet, läßt sich die „wie-möglich"Erklärung auch als eine „was"-Erklärung explizieren: In diesem Sinne klärt eine gegebene Erklärung, „ was es ist, das uns zunächst unverständlich war, worum es sich bei der unverständlichen Erscheinung in Wahrheit handelt" (Angehrn, 1985, 135). Speziell in dieser Leistung sehen manche Autoren eine explikative Verstehens\e\sX\xn%, die terminologisch von einer Erklärungsleistung, die eine „warum"- oder „wie-möglich"-Frage beantwortet, unterschieden werden kann.
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Da diese Unterscheidung zwar im Falle des teleologischen Handlungsmodells aufrechtzuerhalten ist (von Wright, 1974, 123), in anderen Fällen die „was"Erklärung aber nicht strikt von der Beantwortung einer „wie-möglich"- oder „warum"-Frage zu trennen ist, wird sie im folgenden nicht stringent angewandt werden können. Angehrn behauptet mit gutem Grund: „Erklärungen nach dem 'wiemöglich'-Modell scheren grundsätzlich aus dem Deduktionsmodell aus" (Angehrn, 1985, 120).45 Und auf der nächsten Seite schreibt er: „Es gibt zahlreiche Situationen, in denen die Beantwortung einer wie-möglich-Frage als zureichende, keiner Ergänzung bedürftige Erklärung empfunden wird." Es gibt keinen Grund, die spezifische Intelligibilität einer Erklärung, die nicht dem covering/aw-Modell folgt, „an ihr selber als mangelhaft aufzufassen, auch wenn sie logisch gesehen durch eine 'stärkere' Erklärung ergänzt werden kann" (ebd., 121). Man abstrahiert in fragwürdiger Weise von allen pragmatischen oder externen, eben nicht logischen Gesichtspunkten des Erklärens, wenn man sämtliche Erklärungen, die das Explanandum nicht deduzieren, als mehr oder minder wertlose, zumindest unvollständige Erklärungen betrachtet, nur weil sie das subsumtionstheoretische Ideal verfehlen. Ich belasse es bei diesen wenigen Bemerkungen, die mögliche Begründungen für die Pluralisierung von Erklärungsformen wenigstens andeuten sollten.46 Die im folgenden erörterten Typen der Erklärung sind speziell auf die jeweils vorangestellten begrifflichen Explikationen unterschiedlicher Handlungstypen zugeschnitten.47 Erklärungsformen, die als eigenständige Alternativen zum covering-law-Modell aufgefaßt werden können, implizieren keineswegs Kritik an diesem Modell. Solche Alternativen ergänzen die Subsumtionstheorie.
45
Zur Unterscheidung der genannten Typen erklärungsbedürftiger Fragen vgl. ebenfalls die Darstellung bei Angehrn am angegebenen Ort.
46
In der bereits mehrfach zitierten Arbeit entfaltet Angehrn solche Begründungen und liefert detaillierte wissenschaftstheoretisch-logische Explikationen von Grundtypen wissenschaftlichen Erklärens. Ich selbst komme in einer jüngeren Arbeit etwas ausführlicher auf diese Aufgabe zu sprechen (Straub, 1999a).
41
Diese Erklärungsmodelle ließen sich ohne weiteres auf die von Angehrn diskutierten Varianten beziehen. Dabei käme vor allem in Betracht: die integrative Erklärung, in der ein Explanandum dadurch theoretisch erklärt wird, daß es als Teil eines Ganzen ausgewiesen wird, wobei sich Teile und Ganzes im Zuge ihrer Relationierung - z.B. nach dem Modell des hermeneutischen Zirkels - wechselseitig erhellen; Vorhandenheit, Bedeutung und Sinn eines Teiles oder, strukturalistisch gesprochen, eines Elementes werden durch den Aufweis der Verbindungen erklärt, die dieses Element zu anderen Elementen unterhält und dadurch „mit ihnen zusammen umfassendere, per se intelligiblere Zusammenhänge bildet" (Angehrn 1985, 124). Angehrn unterscheidet verschiedene Subtypen der integrativen Erklärung. Nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern auch für die Handlungspsychologie ist die temporalisierte Form der integrativen Erklärung - die narrative Erklärung - von größtem Interesse. Diese Erklärungsform werde ich eingehend besprechen. Dasselbe gilt für die rationale Erklärung, namentlich in der von von Wright reformulierten Variante der teleologischen oder intentionalistischen Erklärung. Schließlich sind auch einige Aspekte der von Angehrn so genannten hermeneutischen Erklärung von Interesse.
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Kritisch verhalten sie sich allerdings gegenüber jedweder Art der dogmatischen Monopolisierung eines spezifischen Begriffs der wissenschaftlichen Erklärung. In bestimmten Forschungsbereichen und Situationen und zu bestimmten Zwekken liefern diese Alternativen die angemesseneren und überlegenen Erklärungen. Die vorzustellende Typologie von Handlungs- und Erklärungsformen geht davon aus, daß Handlungen durch Vorbilder, durch Ziele oder Zwecke, Regeln unterschiedlicher Art und Werte, durch Geschichten und die Kreativität der Akteure, kurz: durch individuelle Lebensorientierungen und Handlungspotentiale sowie kollektive, kulturspezifische Lebensformen bestimmt sein können. Auf den ersten Typus des an Vorbildern orientierten, imitationsmustergebundenen Handelns werde ich nicht mehr eingehen. Ich übernehme diesbezüglich Aschenbachs Vorschlag. Imitationshandlungen lassen sich ganz offenkundig von allen im folgenden erörterten Handlungstypen klar unterscheiden. Dies gilt für die anderen Typen aus Aschenbachs Typologie nicht. Insofern sich diese nicht ohnehin unter derselben Bezeichnung in meiner Typologie wiederfinden, sind sie unter einen (oder mehrere) der präsentierten Typen subsumierbar. So begreife ich sinnrationale Handlungen, die nach Aschenbach als stimmige Elemente von Orientierungsstrukturen und Identitätsentwürfen gelten können, nicht als einen eigenständigen Typus. Um solche Handlungen geht es in meiner Typologie an mehreren Stellen, vor allem dort, wo ich über das Modell regelgeleiteten Handelns - speziell über Regeln konstituierende Werte - und über das narrative Modell - speziell über geschichtliche Bestimmungsgründe von Handlungen - spreche. Was das von Aschenbach so genannte schemagebundene Handeln angeht, bin ich der Auffassung, daß dieses und das regelgeleitete Handeln so große Ähnlichkeiten aufweisen, daß sich eine strikte terminologische Unterscheidung erübrigt. 4.3.3 Zielorientiertes Handeln und das teleologische Modell der Handlungserklärung Der hohe Bekanntheitsgrad dieses Handlungsbegriffs und die bereits erfolgten Hinweise (insbesondere in Kapitel 4.1) legen es nahe, definitorische Bestimmungen hier auf wenige ergänzende Aspekte zu beschränken. In Anlehnung an Habermas soll intentionales, ziel- oder zweckgerichtetes Handeln allgemein als teleologisches, in spezieller Hinsicht als strategisches Handeln begriffen werden.48 Als teleologisches Handeln soll jenes gelten, mit dem der Akteur „einen 48
Habermas erörtert neben dem teleologischen bzw. strategischen das Modell normenregulierten Handelns, das dramaturgische Handlungsmodell und schließlich das integrative Modell kommunikativen Handelns. Er fuhrt diese Unterscheidungen unter Bezugnahme auf dreierlei Weltkonzepte ein, die er im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Poppers DreiWelten-Theorie entwickelt. Ich setze mich mit bestimmten Aspekten von Habermas' Ansatz in Teil III (Kap. 3) ausfuhrlicher auseinander. Seine Typologie und das ihr zugrundeliegende Konstruktionsprinzip übernehme ich nicht.
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Zweck (verwirklicht) bzw. ... das Eintreten eines erwünschten Zustandes (bewirkt), indem er die in der gegebenen Situation erfolgversprechenden Mittel wählt und in geeigneter Weise anwendet. Der zentrale Begriff ist die auf die Realisierung eines Zwecks gerichtete, von Maximen geleitete und auf eine Situationsdeutung gestützte Entscheidung zwischen Handlungsalternativen" (Habermas, 1981 I, 126f.). So oder ähnlich wird zielgerichtetes Handeln in psychologischen Ansätzen definiert. Als ein spezieller Fall des teleologischen Handelns kann das strategische betrachtet werden: „Das teleologische wird zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann" (ebd., 127). Wie Habermas fortfahrt, ist dieses häufig utilitaristisch gedeutete Handlungsmodell für entscheidungsund spieltheoretische Ansätze verbindlich, nicht zuletzt in der Sozialpsychologie. Ich spreche zusammenfassend vom teleologischen Modell des Handelns und der Handlungserklärung, solange kein Anlaß besteht, speziell auf den erwähnten Subtypus Bezug zu nehmen. Das teleologische Modell bezeichne ich auch als „intentionalistisches". Die formaltheoretischen Grundzüge des teleologischen oder intentionalistischen Modells der Handlungserklärung hat von Wright (1974, 82ff.) klar expliziert. Das von ihm entwickelte Schema kann als angemessenes Modell der Erklärung zielgerichteten Handelns angesehen werden. Insofern sich die Psychologie mit zielgerichteten Handlungen vor allem von Individuen befaßt, kann sie sich unmittelbar auf dieses Modell stützen.49 Von Wrights Darlegungen wenden sich insgesamt gegen die kausale Erklärung von Handlungen.50 Er entfaltet dabei unter anderem die drei wichtigsten Argumente gegen die Übernahme des kausalistischen Modells ins Feld der Handlungserklärung. Diese Übernahme wird abgelehnt, weil Handlungen erstens nicht durch ereignishafte Sachverhalte hervorgebracht werden, sondern durch Gründe, weil zweitens diese Gründe einer Handlung von dieser selbst nicht logisch unabhängig sind und weil drittens die Erklärung einzelner Handlungen - wiederum im Unterschied zu den Annahmen des nomologischen Modells - sich nicht auf allgemeine Gesetze (im Sinne von Naturgesetzen) stützt. Ich führe eine simple Variante des intentionalistischen Modells an, das, wie von Wright sagt, einen „auf den Kopf gestellten" praktischen Schluß oder Syllogismus darstellt. In der ersten Hälfte des Schemas sind die Prämissen (P)
45
Intentionalistische Erklärungen kollektiven Handelns sind dagegen nicht unproblematisch, insofern in diesem Fall ein Kollektiv als ein quasi-individuelles, einheitliches Handlungssubjekt hypostasiert werden muß, das ein gemeinsames Ziel verfolgt (aus vielleicht denselben Gründen und auf der Basis einer konsensuell geteilten Situationsdefinition). All dies sind im konkreten Fall durchaus fragliche, häufig ungeklärte Voraussetzungen, von denen nichtsdestotrotz die Anwendbarkeit des teleologischen Erklärungsmodells abhängt.
50
Auf seine Auseinandersetzungen mit dem Kausalitätsbegriff und dem kausalistischen Erklärungsmodell sowie seine Ausführungen über quasi-teleologische (und quasi-kausale) Erklärungen werde ich nicht eingehen.
4. Handlungstypologie
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dieses Schlusses bzw. das Explanans, in der zweiten ist die Konklusion (K) bzw. das Explanandum angegeben:
P, P2
A beabsichtigt, p herbeizuführen. A glaubt, daß er p nur herbeiführen kann, wenn er a tut.
K
Folglich macht sich A daran, a zu tun.
Abb. 3: Die teleologische bzw. intentionalistische Handlungserklärung nach von Wright
Dieses Erklärungsmodell setzt an den vom Akteur beabsichtigten oder intendierten Zukunftsaspekten an: Handlungen werden demnach ausgeführt, damit dies oder jenes eintrete. Demgegenüber ist die allgemeine Form der Kausalerklärung an Aspekten der Vergangenheit orientiert: „Das geschah, weil jenes sich ereignet hat" (ebd., 83). Eine intentionalistische Handlungserklärung besteht im Kern darin, „auf ein Intentions-Objekt" des betreffenden Sich-Verhaltens hinzuweisen. Verschiedene Worte in dem obigen Schema sind durch andere austauschbar, ohne daß dies für die Erklärungsform als solche von Bedeutung wäre. Anstelle von „beabsichtigt" könnte stehen: „ist bestrebt", „intendiert", „zielt darauf ab", „möchte", „will" und dergleichen. Anstelle von „glaubt" kann man sich auch „ist überzeugt", „meint", „ist der Auffassung" oder auch „weiß" und ähnliches denken. Schließlich ist „macht sich daran" ersetzbar durch „beginnt", „fängt damit an", „geht dazu über" oder manchmal einfach durch „tut". Daß A a tut, bildet den Ausgangspunkt einer intentionalistischen Erklärung, die zu klären hat, warum, und das heißt hier: aus welchem Grund A a tut oder sich daran macht, a zu tun. „Die Antwort ist oft einfach: 'Um p herbeizuführen'. Dabei gilt es als erwiesen, daß vom Handelnden das Verhalten, das wir zu erklären versuchen, als für die Herbeiführung von p kausal relevant angesehen wird und daß das Herbeiführen von p das ist, worauf er mit seinem Verhalten abzielt bzw. was er intendiert. Es kann sein, daß sich der Handelnde irrt, wenn er die Handlung als kausal relevant für den von ihm anvisierten Zweck ansieht. Sein Irrtum läßt jedoch die vorgeschlagene Erklärung nicht ungültig werden. Was der Handelnde glaubt ist hier die einzig relevante Frage" (ebd., 94). Die intentionalistische Erklärung weist eine Handlung als ein SichVerhalten aus, das zumindest aus der Sicht des Akteurs als rationales Mittel für die Verfolgung bestimmter Zwecke erscheint. In diesem Gedanken liegt die Brücke zum bekannten Konzept der rationalen Erklärung, wie es von Dray (1957) entwickelt wurde." Just diese Sichtweise findet sich auch in manchen
51
Die Abschnitte 1-5 aus Kapitel V des berühmten Buches von Dray wurden in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Sinn von Handlungen" in Beckermann (1985) publiziert. Dort heißt es auf Seite 291 : „Wenn jemand in einer Situation der Art C ist, dann ist es für ihn
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psychologischen Ansätzen. So ist das „Verstehen" subjektiver Intentionen oder sogenannter subjektiver Theorien bzw. der von diesen geleiteten Handlungen etwa nach Groebens (1986) Auffassung nichts anderes als eine „hermeneutische" Rekonstruktion der Prämissen eines praktischen Syllogismus.52 Wesentlich ist von Wrights Behauptung, daß „eine 'echte' teleologische Erklärung ... nicht von der Gültigkeit der in ihr involvierten angenommenen gesetzmäßigen Beziehung ab(hängt)" (von Wright, 1974, 83). Akteure können sich, was ihre Annahmen über derartige Beziehungen betrifft, irren, ohne daß dies den Wert einer intentionalistischen Erklärung, für die diese Annahmen partiell konstitutiv sind, in irgendeiner Weise schmälern würde. Das abgebildete Schema läßt sich in verschiedenen Hinsichten verkomplizieren. Es ist ersichtlich, daß häufig mehrere Handlungen als Mittel für das Erreichen von p möglich und angemessen sind. In solchen Fällen hat der Akteur die Wahl, a oder b (oder c etc.) zu tun, um p herbeizufuhren. Von Wright weist daraufhin, daß auch eine solche Wahl, insofern der Akteur sie begründet trifft, intentionalistisch erklärt werden kann.53 Eine leicht integrierbare Abweichung
rational, X zu tun." Es ist offenkundig, daß das von von Wright ins Spiel gebrachte Schema des praktischen Schlusses nichts anderes darstellt als eine Präzisierung bzw. detaillierte Explikation der Redeweise „einer Situation der Art C". 52
Allerdings übernimmt Groeben keineswegs von Wrights erklärungstheoretische Position insgesamt. Im Gegensatz zu diesem trennt er das intentionalistische „Verstehen" ganz traditionell vom wissenschaftlichen Erklären, wobei letzteres formal dem subsumtionstheoretischen Modell folgt. Von Wright unterscheidet dagegen kausale von teleologischen oder intentionalistischen Erklärungen, wobei er noch dahingehend differenziert, daß er alle Erklärungen, die prinzipiell nicht in ein kausales Erklärungsschema überführt werden können, „intentionalistisch" nennt, und jene, die in das nomologische Schema überführt werden können, als „teleologische" bezeichnet. Im folgenden werden diese Begriffe jedoch weiterhin synonym gebraucht, da die von Wright vorgeschlagene Unterscheidung hier irrelevant ist. Wenn es um die Frage der logischen Äquivalenz bzw. der Übersetzbarkeit teleologischintentionalistischer Erklärungen in nicht teleologisch strukturierte Formen geht, übernimmt die dispositionelle Erklärung eine Art Schamierftmktion. Von Wright nimmt in dieser Frage eine „mittlere" Position ein. Extrempositionen vertreten auf der einen Seite beispielsweise Ryle (1969), der in seinem berühmten Buch gegen die Überfuhrbarkeit von dispositionellen in kausale Erklärungen argumentiert, auf der anderen Seite beispielsweise Hempel (1959) oder Nagel (1961), die die „Wissenschaftlichkeit" jeder nicht von vorneherein nomologischen Erklärung geradezu an die besagte Überfuhrbarkeit koppeln. Letzteres ist auch in der Psychologie üblich (vgl. neben Groebens Arbeiten etwa Werbik, 1978, 32ff.). Eine ausfuhrliche Diskussion von Groebens verstehend-erklärender Psychologie, vor allem seiner Handlungstheorie und des damit verwobenen Forschungsprogramms Subjektive Theorien findet sich bei Straub (1999c).
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Dies ist ganz im Sinne des in der vorliegenden Arbeit vertretenen Handlungsbegriffs: Wahlen, zumal begründete Wahlen, sind Handlungen. Von Wright muß solche Wahlen ebenfalls als zumindest „Handlungs-ähnlich" auffassen, obwohl sie doch keinen „äußeren Aspekt" besitzen - er muß also, da und insofern er begründete Wahlen als Handlungen (oder etwas diesen Ähnliches) auffassen und intentionalistisch erklären will, von seiner allgemeinen Bestimmung des Handlungsbegriffs leicht abweichen! Zumindest erwähnenswert erscheint von Wrights Bemerkung, daß im tagtäglichen Leben auch Wahlen getroffen werden (können), für die keinerlei (rationaler) Grund besteht: „Eine Wahl, obwohl notwendigerweise intentional,
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vom einfachsten Schema ergibt sich auch fiir den Fall, daß die Person A zwar meint, die Handlung a (oder eine oder mehrere andere) ausführen zu müssen, um den von ihr verfolgten Zweck p zu erreichen, zur Ausführung dieser Handlung aber (noch) nicht in der Lage ist. Person A kann sich etwa bemühen, wie von Wright (ebd., 97) ausführt, zu lernen, a tun zu können usw. Weitere, hier nicht zu erörternde Verkomplizierungen des schematischen Modells und speziell der Frage nach der Gültigkeit eines praktischen Syllogismus ergeben sich, wenn nicht verschiedene Handlungsmöglichkeiten als subjektiv zweckrationale Alternativen offenstehen, sondern (nach der Auffassung von A) mehrere Handlungen ausgeführt werden müssen, um p zu erreichen (beispielsweise sukzessive); a mag eine notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung für das Herbeiführen von p zu sein. Wichtig ist schließlich noch die Berücksichtigung zweier weiterer Faktoren. Die Gültigkeit praktischer Schlüsse hängt zum einen von zeitlichen Faktoren ab, zum anderen davon, daß der Handelnde an der tätigen Verwirklichung seiner Absichten nicht durch irgendwelche Ereignisse oder durch Handlungen anderer gehindert wird (von Wright spricht diesbezüglich von einem „Hinderungsfaktor"). 54 Ohne von Wrights Herleitungen im einzelnen wiederzugeben, sei dessen „endgültige Formulierung des Schlußschemas, dessen bindende Kraft wir hier untersuchen", angeführt (ebd., 102):
P, P2
Von jetzt an beabsichtigt A, p zum Zeitpunkt t herbeizuführen. Von jetzt an glaubt A, daß er p zum Zeitpunkt t nur dann herbeiführen kann, wenn er a nicht später als zum Zeitpunkt t' tut.
K
Folglich macht sich A nicht später als zu dem Zeitpunkt daran, a zu tun, wo er glaubt, daß der Zeitpunkt t ' gekommen ist - es sei denn, er vergißt diesen Zeitpunkt, oder er wird gehindert.
Abb. 4: Endgültige Formulierung des praktischen Schlußschemas nach von Wright
Ein entscheidendes Argument von Wrights besagt, daß die Verknüpfung zwischen den Prämissen und der Konklusion eines praktischen Syllogismus bzw.
kann möglicherweise etwas gänzlich Zufälliges sein" (von Wright 1974, 96). Wie allerdings Intentionalität und Zufälligkeit unter einen Hut zu bringen sind, scheint mir weniger klar, als von Wright suggeriert. 54
In der Psychologie trifft man auf ähnliche Überlegungen: Intentionen oder Zielsetzungen sind keine unabänderlichen Konstanten oder feststehende mental sets (Boesch, 1988, 241). Sie können zeitlich stabil und längerfristig handlungsrelevant sein, müssen es aber nicht. Sie sind jederzeit für Modifikationen verschiedenster Art anfällig. Um eine Handlung überhaupt leiten zu können, muß ein Ziel gegen Störungen abgeschirmt werden. Seit einiger Zeit ist die Frage nach der Abschirmung einer Handlungstendenz gegen andere, konkurrierende Tendenzen eine der besonders beachteten Fragen der experimentellen Handlungspsychologie.
106
I. Handlung
zwischen dem Explanans und dem Explanandum des Erklärungsschemas begrifflicher, analytischer oder logischer Art ist. Die Prämissen und die Konklusion selbst sind freilich kontingente, „d.h. empirische und nicht logisch wahre oder falsche Propositionen" (ebd., 102). Die intentionalistische Erklärung bzw. der praktische Schluß jedoch ist logisch bindend. Die handlungsbestimmenden Intentionen haben nach von Wright keine verursachende Kraft im Sinne des kausalistischen Modells, sondern im Sinne einer logischen Begründung. Der Zusammenhang zwischen Prämissen (kognitiv-voluntativer Komplex) und Konklusion (Handeln) ist ein sprachlicher, „innerer" Zusammenhang, kurz: ein Sinnzusammenhang, der nicht notwendigerweise allgemeine Gesetze involviert. Die im kausalistischen Modell zu unterstellende logische Unabhängigkeit zwischen Explanans und Explanandum besteht in diesem Fall also gerade nicht ohne daß dies hieße, hiermit sei die Erklärungskraft dahin. Sie ist im intentionalistischen Modell lediglich anderer Art als im kausalistischen. An dieser anticartesianischen (und, was das damit verbundene, notorische Leib-Seele-Problem betrifft, letztlich antimaterialistischen) Differenzierung hält von Wright fest, wenn er gegen eine kausale Theorie des Handelns argumentiert. Wie oben angemerkt bedeutet dies nicht, daß nicht in manchen für die Verhaltenswissenschaften relevanten Fällen - keinesfalls jedoch generell eine Überführung intentionalistischer in kausale Erklärungen möglich ist. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen ist, daß sich damit das Explanandum ändert.55 Ebenso ist zu beachten, daß die Argumente gegen die Auffassung von GrundFolge-Beziehungen als gesetzesartig strukturierte Kausalbeziehungen nicht implizieren, Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten hätten für das Verstehen und Erklären von Handlungen keinerlei Bedeutung. Dies ändert jedoch nichts daran, daß Intentionen und dergleichen im teleologischen Erklärungsschema, wie von Wright (ebd., 102ff.) in erster Linie durch eine Prüfung des Problems der Verifikation einer Intention und der „zugehörigen" Handlung zeigt, nicht als Humesche Ursachen mit bestimmten Wirkungen, sondern als bestimmende Kraft eigener Art fungieren (vgl. auch Ryle, 1969, 149ff.). Üblicherweise ist diesbezüglich eben von Gründen die Rede (die in einem kognitiv-voluntativen Komplex verortet werden können).56
55
Von Wright diskutiert die wichtige Frage, ob sich unterschiedliche Erklärungsformen in concreto wirklich auf dasselbe Explanandum beziehen (können), ausfuhrlicher (ebd., 111 ff.). Er vermittelt dort eine sehr klare Vorstellung davon, daß man das Sprachspiel wechselt, wenn man von intentionalistischen Handlungserklärungen zu kausalen Erklärungen bloßer Verhaltensweisen, d.h. neuronal stimulierter Körperbewegungen, übergeht. Es ist eben nicht möglich, teleologisch bzw. intentionalistisch erklärte „Körperbewegungen" in nicht-intentionalistischen Ausdrücken zu beschreiben. Man beschreibt in der nicht-intentionalistischen Sprache - sobald man sich nicht mehr der Handlungssprache bedient - etwas anderes, als intentionalistisch erklärt wurde. „Um teleologisch erklärbar zu werden, muß, so könnte man sagen, das Verhalten zuerst intentionalistisch verstanden sein" (ebd., 113).
56
Die Diskussion über den soeben skizzierten Aspekt, der für die These der Eigenständigkeit und Irreduzibilität bestimmter, nicht-nomologischer Handlungserklärungen entscheidend ist, ist mittlerweile weit verzweigt. Die Argumentationslage ist durch große Differenziertheit ge-
4. Handlungstypologie
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Wenn Handlungen und Folgen bereits vorliegen, kann eine logisch schlüssige Argumentation konstruiert werden, die diese Handlung erklärt (oder auch rechtfertigt). Dies bedeutet allerdings nicht, daß von bestimmten Prämissen darauf geschlossen werden kann, daß ein Akteur, der diese Prämissen teilt, mit gleichsam logischer Notwendigkeit eine bestimmte Handlung (eben jene, die A als adäquates Mittel begreift, um den von ihm intendierten Zweck zu erreichen) auch tatsächlich ausfuhren wird. Von Wrights Modell erklärt, mit anderen Worten, nicht die Erwartbarkeit einer Handlung:57 „Der Syllogismus ist, wenn er zum Handeln fuhrt, 'praktisch' und kein logischer Beweis. Nur wenn eine Handlung bereits vorliegt und eine praktische Argumentation zu ihrer Erklärung oder Rechtfertigung konstruiert wird, nur dann haben wir eine logisch schlüssige Argumentation. Die Notwendigkeit des praktischen Schlußschemas ist, so könnte man sagen, eine ex post actu verstandene Notwendigkeit" (von Wright, 1974, 110). Wenngleich sich von Wright nicht um Erklärungsformen jenseits der Alternative von kausaler und intentionalistischer Erklärung kümmert, so ist dennoch erkennbar, daß er das teleologische Modell nicht für das einzig denkbare (nicht-nomologische) Erklärungsmodell der Handlungswissenschaften hält. So hebt er etwa hervor, daß fiir solche Handlungen, die einen Zweck an sich darstellen und ganz um ihrer selbst willen ausgeführt werden, keine intentionalistische Erklärung im skizzierten Sinne formuliert werden kann. Die Stelle der zweiten Prämisse im Schema eines praktischen Schlusses bleibt in diesen Fällen, in denen „die Handlung selbst mit dem Objekt der Intention identisch ist und nicht ein Mittel zur Erreichung dieses Objekts" (ebd., 114), unbesetzt.
kennzeichnet - was allerdings keineswegs zu einem allgemeinen Konsens gefuhrt hätte. Intentionalisten und Kausalisten stehen sich nach wie vor gegenüber. Von Wright selbst stützt sich auf die Analysen von Stoutland (1970) sowie eine klassische Explikation des „LogischeBeziehung-Arguments" durch Melden (1961). Dort heißt es auf Seite 53: „Nichts kann ein Willensakt sein, was nicht mit dem Gewollten logisch verknüpft ist - der Akt des Wollens ist nur als der Akt des Wollens dessen, was (auch immer) gewollt wird, verständlich." Im deutschsprachigen Raum dokumentieren die Diskussion unter anderen folgende Sammelbände (bzw. einschlägige Beiträge in diesen Bänden): Apel, Manninen und Tuomela (1978), Beckermann (1977), Lenk (1978a; 1979, 1981, 1984). Eine philosophisch bzw. wissenschaftstheoretisch angelegte Publikation, die sich ausdrücklich auf die handlungstheoretische Umorientierung in der Psychologie bezieht und im Hinblick auf das Problem der Handlungserklärung die Gegenposition zur hier vertretenen verteidigt, stammt von Brunner (1983). Brunner formuliert dort eine Kritik der intentionalistischen bzw. „mentalkontextualistischen" Argumente (Tätigkeits-Bewegungs-Argument, Dispositions-Argument, Logische-Beziehungs-Argument, Gesetzes-Argument) und uno actu eine Verteidigung der kausalistischen Position. "
Vgl. hierzu auch Mischel (1968). Die Unmöglichkeit, die Erwartbarkeit von Handlungen erklären zu können, fällt mit der grundsätzlichen Skepsis gegenüber prognostischen Leistungen im Bereich der Handlungswissenschaften zusammen. Vertreter der kausalistischen Position müssen dagegen auch ein Modell der Handlungsprognose vorlegen. Im strikten Sinn eines auf nomologischem Wissen basierenden Denkens hat dies beispielsweise Churchland (1970) versucht. Eine überzeugende Kritik der von Churchland (Beckermann und anderen) entfalteten Argumente bietet Harras (1983, 80ff.).
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I. Handlung
Vollständige intentionalistische Erklärungen erfordern eine Bezugnahme auf ein außerhalb der Handlung als Zweck intendiertes Objekt. Dennoch bedürfen, so von Wright, auch selbstzweckhafte Handlungen (und, wie ergänzt werden kann, auch noch andere Handlungstypen) womöglich einer Erklärung. Für die imitationsmustergebundenen und schemagebundenen Handlungen, die oft bloß im Zeichen der „Funktionslust" des Handelns vollzogen werden, kann, bevor von Wrights Vorschlag betrachtet wird, auf die im Anschluß an Aschenbach angestellten Überlegungen verwiesen werden. Was weitere Handlungstypen angeht, komme ich auf jeweils angemessene Erklärungsformen noch zu sprechen. Was speziell die selbstzweckhaften Handlungen betrifft, spricht von Wright davon, diese würden in gewisser Weise allein durch die Konstruktion der ersten Prämisse des praktischen Schlußschemas erklärt. Zu sagen, A habe a getan, weil er a zu tun beabsichtigte (und nichts weiter sonst), stellt demnach in einem gewissen Sinn bereits eine Erklärung dar. Von Wright zögert allerdings, den Erklärungsbegriff hier zu verwenden (obwohl er dies dann doch hin und wieder tut),58 da er diesen für die kausale Erklärung einerseits, die Erklärung nach dem Modell des vollständig besetzten Schemas eines praktischen Syllogismus anderseits reservieren möchte. Die Rede ist dann von einer „rudimentäre^) Form einer teleologischen Erklärung. Es ist der Schritt, wodurch wir die Beschreibung des Verhaltens sozusagen auf die teleologische Ebene heben" (ebd., 115). Der terminologische Vorschlag läuft dann darauf hinaus, die bloß partielle Inanspruchnahme des praktischen Schlußschemas beim Versuch, Handlungen zu erklären, als Verstehen zu bezeichnen. Menschliches SichVerhalten wird verstanden (und noch nicht im engeren Sinne des intentionalistischen Modells erklärt), wenn es als eine bestimmte intentionale Handlung gedeutet oder interpretiert und als solche beschrieben wird. Intentionalistisch erklärt wird ein bereits als intentionales Handeln verstandenes und beschriebenes Sich-Verhalten. Das Verstehen stellt nach diesem Vorschlag eine Art rudimentäre Erklärungsleistung dar, da das allgemeine Erklärungsschema für zielgerichtete Handlungen - der praktische Schluß - hier nur in verstümmelter Form zur Anwendung gelangt, wobei, wie im Falle einer selbstzweckhaften Handlung, angesichts der Eigenart der betreffenden Handlung vielleicht auch prinzipiell nichts anderes möglich ist. Von Wrights Hinweis, daß Erklärungen nach dem Schema des praktischen Schlusses nicht für alle Handlungen möglich sind, kann uneingeschränkt akzeptiert werden. Die Auffassung, daß Abweichungen von diesem Schema lediglich als unvollständige intentionalistische Erklärungen aufgefaßt werden müssen, ist dagegen zurückzuweisen. Die Gründe hierfür werden in den folgenden Erläuterungen alternativer Erklärungsformen ersichtlich. Wenn es Handlungserklärungen gibt, die weder als intentionalistische Erklärungen noch als unvollständige Derivate dieses Typs begriffen werden können, muß auch von
58
Zum Beispiel: „Bereits das bloße Verstehen eines Verhaltens als Handlung ... ist selbst eine Möglichkeit, Verhalten zu erklären" (von Wright, 1974, 115).
4. Handlungstypologie
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Wrights terminologische Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären korrigiert werden. Dies kann in der Form einer Ausweitung oder Liberalisierung des Erklärungsbegriffs erfolgen. Ein entsprechendes Plädoyer wurde bereits vorgetragen. Wenn nun gezeigt werden kann, daß wir Handlungen nicht generell als ziel- oder zweckgerichtete Handlungen auffassen müssen (ob die fragliche Handlung nun ihren Zweck in sich selbst oder außerhalb ihrer selbst besitzt), sondern möglicherweise als Akte, die wir unabhängig von den subjektiven Intentionen und Überzeugungssystemen des Akteurs beschreiben können, ist klar, daß ein Sich-Verhalten zu verstehen nicht nur heißen kann, dieses als intentionale Handlung im Sinne von Wrights aufzufassen. Unter Bezugnahme auf die bereits eingeführte Bestimmung des Handlungsbegriffs läßt sich vielmehr allgemeiner formulieren: Das Verstehen eines Sich-Verhaltens meint, dieses als Handlung im Sinne eines sinnhaft strukturierten, sprachlich zugänglichen und gestaltbaren Sich-Verhaltens zu begreifen. Diese interpretative Tätigkeit mag, einem Vorschlag von Wright gemäß, explikativ genannt werden. Diese Explikation zielt darauf ab, zu sagen, was ist oder als was etwas aufzufassen ist. Dabei wird allerdings zu prüfen sein, ob das Verstehen in allen Fällen als eine Art unvollständige Erklärung betrachtet werden muß oder ob in diesem Verstehen in manchen Fällen nicht schon alles aufgehoben ist, was eine komplette Handlungserklärung erfordert. Letzteres würde bedeuten, daß die in deskriptiver Absicht vorgenommenen Explikationen mit den ebenfalls angestrebten Erklärungsleistungen zusammenfallen. Es würde heißen, daß Explikation und Explanation zwar analytisch getrennt werden können, praktisch aber bisweilen uno actu vollzogen werden. Damit ginge zwar „einer teleologischen Handlungserklärung normalerweise ein Akt intentionalistischen Verstehens gewisser Verhaltensdaten voraus" (ebd., 122), nicht aber jeder Handlungserklärung schlechthin, insofern das Erklären mit dem Verstehen durchaus auch in eins fallen kann. Die Frage, was etwas ist, läßt sich im Kontext der Erforschung sinnhaft strukturierter Wirklichkeiten, im Gegensatz zu von Wrights Ansicht, nicht immer säuberlich von der Frage trennen, was etwas bedeutet oder anzeigt. Ganz in diese Richtung wies auch Angehrns Hinweis auf die sogenannten „was"-Erklärungen. Bevor nun dem teleologischen Modell des Handelns und der Handlungserklärung alternative Typen zur Seite gestellt werden, ist noch anzumerken, daß das teleologische Schema auch dort am Platz ist, wo es um psychologische Erklärungen geht, die - im weitesten Sinn des Wortes - mit unbewußten Motiven operieren. Eine bestimmte Variante solcher Motive steht im Zentrum psychoanalytischen Denkens. Auch andere Theorien arbeiten mit der Kategorie einer durch nicht bewußte Motive konstituierten, latenten Sinnbildung. Boeschs Konzepte des individuellen Fantasmas und des kollektiven Mythos mögen hier als Beispiele dienen (Boesch, 1991). Diese überwölben, differenzieren und ergänzen die durch manifeste Ziele geformte Bedeutungsstruktur zielgerichteten Handelns. Fantasmen und Mythen bilden den übergeordneten Rahmen, in den zahlreiche Handlungsziele eingebettet sind. Diesen Rahmen nehmen Akteure in der Regel nicht wahr. Es mag mehr oder weniger schwierig sein, sich der handlungsleitenden Fantasmen und Mythen bewußt zu werden. Handlungen
110
I. Handlung
finden immer schon in einem normalerweise unhinterfragten Rahmen statt. Natürlich sind die genannten Konzepte latenter Sinnbildung höchst unterschiedlich, und entsprechend verschieden sind die jeweiligen Methoden zur Analyse nicht bewußt intendierter Handlungsziele.59 Die Struktur der Erklärung jedoch bleibt sich gleich, und allein das ist hier von Interesse. Stets geht es um die paradoxe Denkfigur des nicht-intentional Intendierten, des ungewollt Gewollten, des ohne Absicht Anvisierten. Immer geht es darum, „hinter" den „offenen" Zielen „verdeckte" auszumachen, neben dem manifesten Sinn eine latente Bedeutung. Das intentionalistische Schema ließe sich, um für ein ,.Denken unbewußter Motive" geeignet zu sein, in folgender Weise geringfügig modifizieren (wobei klar ist, daß an die Stelle der Perspektive des Akteurs diejenige eines Beobachters bzw. Interpreten tritt, die Erklärung also nicht mehr aus der Binnenperspektive des Handelnden, sondern „von außen" erfolgt):60
P, P2
A beabsichtigt, p herbeizufuhren, ohne sich dieser Absicht bewußt zu sein. A glaubt, daß er p nur herbeiführen kann, wenn er a tut.
K
Folglich macht sich A daran, a zu tun.
Abb. 5: Modell der teleologischen Handlungserklärung durch Bezugnahme auf unbewußte Motive
Die Bezugnahme auf unbewußte Motive verleiht den fraglichen Verhaltensweisen einen anderen, neuen Sinn- und Bedeutungsgehalt. Handlungserklärungen, die auf unbewußte Motive Bezug nehmen, implizieren neue Handlungsbeschreibungen. Diese treten an die Stelle der vom Akteur oder einem Beobachter bereits gegebenen Beschreibungen. Die biographische Entwicklung unbewußter Motive selbst wird durch das teleologische Schema natürlich nicht erklärt. Diese vor allem für die Psychoanalyse charakteristische Erklärungsleistung läßt sich im Rahmen des teleologischen Schemas nicht mehr rekonstruieren. Hierzu
59
Boeschs (1976) Methodik der Konnotationsanalyse kann allerdings als entfernter Verwandter psychoanalytischer Verfahren angesehen werden. In der einen oder anderen Weise sind ja überhaupt alle Interpretationstheorien, die mit dem Konzept des latenten Sinns arbeiten, entweder der durch Nietzsche oder Marx oder aber durch Freud geprägten „Hermeneutik des Verdachts" verpflichtet (egal, ob sie sich dieser gegenüber zustimmend oder ablehnend verhalten).
60
Berät sich der Interpret im Dialog mit dem Akteur über solche externen Interpretationsvorschläge, lassen sich Interpretationen freilich konsensuell absichern oder „kommunikativ validieren" (vgl. zu diesem Verfahren etwa Groeben, 1986, 181, 190ff.; Lechler, 1982). Doch bleibt ein systematischer Unterschied zwischen Deutungen aus der Perspektive der ersten und Interpretationen aus der Perspektive der dritten Person, da letztere stets ein Wissen in Anspruch nimmt, das dem Akteur zunächst unbekannt oder unzugänglich war.
4. Handlungstypologie
111
bedürfte es eines Modells der narrativen Erklärung, wie es in Kapitel 4.3.5 vorgestellt wird, sowie theoretischer Überlegungen, die einen Begriff der Sozialisation und Enkulturation bereitstellen." Das vorgestellte intentionalistische Modell der Handlungserklärung mag sich in mancherlei Hinsicht verfeinern lassen. Im Grunde genommen hat es sich jedoch längst bewährt. Zielgerichtete Handlungen lassen sich erklären, wie es von Wrights Schema vorgibt. Nicht selten wird es jedoch nicht eine einzige intentionalistische Erklärung geben, die rundum zufriedenstellt, sondern mehrere, sich ergänzende Erklärungen. Dies kann eine Verlegenheit darstellen, die Anlaß zu weiteren Forschungen bietet. Eine solche Vielfalt von Erklärungsvorschlägen muß aber nicht unbedingt ein Mangel sein. Sie mag nämlich auch als Ausdruck der Polyvalenz allen Handelns verstanden und begrüßt werden. Wenn man davon ausgeht, daß (so gut wie) jede Handlung überdeterminiert, polyinstrumental, polyfunktional oder eben polyvalent ist,62 ist es nur folgerichtig, die „Leerstellen" des teleologischen Schemas mehrfach zu besetzen. Zielgerichtetes Handeln kann zugleich mehreren Zielen dienen. Es ist in mehrfacher Weise sinn- und bedeutungsvoll, erfordert eventuell mehrgliedrige intentionalistische Interpretationen und Erklärungen. Dies ist nicht nur ein Dreh- und Angelpunkt psychoanalytischen Denkens, sondern, wie dargelegt, auch von Boeschs Ansatz. Solange sich die Bestimmungsgründe von Handlungen als Ziele, Zwecke oder dergleichen fassen lassen, bietet sich das intentionalistische Modell für die Erklärung dieser Handlungen an. Es gibt jedoch Fälle, in denen das nicht mehr angezeigt ist. In diesem Punkt muß man meines Erachtens weiter gehen, als es die elaborierteste und flexibelste psychologische Handlungstheorie unserer Tage bereits tut. In einem Aufsatz, in dem Boesch (1988, 236ff.) an einem Beispiel die Komplexität seines Handlungsbegriffs verdeutlicht, heißt es im Rückblick auf die Entwicklung seines eigenen theoretischen Ansatzes:" „Ich habe 1951 damit
61
Psychoanalytische Erklärungen, die eine Rekonstruktion der individuellen Motiventwicklung voraussetzen, können in der textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie aus methodischen Gründen übrigens kaum bereitgestellt werden. Solche Erklärungen sind auf die freien Assoziationen und die dabei allmählich ins Blickfeld des Analytikers rückende Erlebnis- und Lebensgeschichte des Analysanden angewiesen, letzten Endes sogar darauf, daß der Analysand den Deutungen des Analytikers zustimmt. All dies setzt eine reale dialogische Kooperationsbeziehung in einem therapeutischen Setting voraus. Diese pragmatischen und methodischen Voraussetzungen sind in der Empirie der interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie in der Regel nicht gegeben. In welcher Weise die Psychoanalyse dennoch einen legitimen Platz in diesem Feld beanspruchen kann, wird in Kapitel 2.6 (Teil II) erörtert.
62
Der Ausdruck stammt von Boesch, der den Begriff der „Valenz" von Kurt Lewin übernimmt. Mit den mathematischen Formalisierungs- und Präzisierungsidealen Lewins verbindet Boesch allerdings nichts.
63
Bei dem Beispiel handelt es sich um den in Boeschs Schriften mehrfach auftretenden thailändischen Samlor in Bangkok. (Ein „Samlor" ist der Fahrer eines dreirädrigen FahrradTaxis, auch das Gefährt selbst). Dieser Taxifahrer verursachte wegen seiner - aus Boeschs kulturspezifischer Sicht - unbekümmert-riskanten Fahrweise beinahe einen Zusammenstoß mit dem Auto, in dem sich Boesch auf einer Fahrt einmal befand. Boesch macht an diesem
112
I. Handlung
begonnen, die menschliche Handlung als einen Zielverfolgungsprozeß relativ isolierter Art zu analysieren. In den frühen sechziger Jahren ergänzte ich dies durch die Einbettung der Handlung in das kulturelle Feld. Anschließend kamen die Konzepte der Polyvalenz (und damit verbunden der Handlungssymbolik) dazu, und erst Anfang der siebziger Jahre begann ich, mit Konzepten der übergreifenden Zielkomplexe und dem Mythos-Fantasma-Problem zu arbeiten. Dadurch wird Handlung zu einem zeitlich fortlaufend gegliederten, in Zielkomplexen organisierten, von hierarchisierten Steuerungssystemen geleiteten Prozeß innerhalb eines Feldes, mit dem sie so eng verflochten interagiert, wie ich es hier zu zeigen versuchte" (ebd., 246). Wie auch sein systematisches opus magnum (1991) zeigt, ist Boeschs Denkweg eng mit einer erheblichen Steigerung der Komplexität des Handlungsbegriffs verwoben - so sehr, daß er einmal sogar schreibt, im Lichte seiner aktuellen Theorie würde „die Handlung als konkretes Phänomen beinahe undefinierbar" (Boesch, 1988, 246). Damit will er unter anderem sagen, daß sein theoretisches Verständnis des Handelns die Anwendung einfacher Kausalschemata verbietet; daß die allseits beliebten Rückkoppelungsschleifen im Lichte seines Handlungsbegriffs zu unüberschaubaren Verwicklungen führen; und daß „das Basis-Paradigma der unabhängigen und abhängigen Variablen" und handliche Operationalisierungen in der symbolischen Handlungstheorie und Kulturpsychologie ausgedient haben. Die Bedeutungsstruktur von Handlungen ist nach Boesch im Hinblick sowohl auf die zeitlich-sequentielle Gliederung von Handlungen als auch auf ihre hierarchische Verschachtelung, weiterhin hinsichtlich der Handlungssphären, in die Akte systemisch integriert sind, und nicht zuletzt im Hinblick auf das durch Handlungserfahrungen permanent transformierte subjektive Handlungspotential sowie die in Handlungen symbolisierten Fantasmen und Mythen äußerst komplex. Handlungen können Bedeutungsgehalte besitzen, die keineswegs nur mit den vordergründigen, kurzfristigen und offenkundigen Zielsetzungen zu tun haben. Handlungen sind „überdeterminierte", vielschichtige symbolische Konstrukte. Allerdings hält Boesch bei aller diagnostizierten synchronen und diachronen, horizontalen und vertikalen Vernetzung von Handlungen stets am Zielcharakter allen Handelns fest. Genau diese theoretische Fixierung wird in den folgenden Kapiteln aufgegeben.64
Beispiel klar, wie die Handlung des Samlors - nämlich ohne jede Vorsicht aus einer Nebenstraße in eine stark befahrene Hauptstraße einzumünden - gegen den für uns naheliegenden Eindruck der blanken Irrationalität sehr viel angemessener aufgefaßt, d.h. aus der kulturellen und subjektiven Binnenperspektive des Samlors analysiert werden kann. 64
Nach meiner Lesart überschreitet Boesch selbst den Rahmen des teleologischen Modells nicht selten, vor allem dann, wenn er konkrete Handlungen (wie diejenige des Samlors) beschreibt und explanativen Analysen unterzieht. Das Telos des Handelns ist bisweilen allenfalls noch in einer Schwundform präsent, es wird nebensächlich. Häufiger bestimmen in Boeschs Analysen nicht so sehr irgendwelche Ziele das Handeln, verleihen ihm seine Identität und Charakteristik, sondern vielmehr die kulturspezifischen symbolischen Wirklichkeiten, zu denen das betreffende Handeln gehört. Diese Wirklichkeiten lassen sich jedoch nicht vollständig auf Ziele reduzieren.
4. Handlungstypologie
113
4.3.4 Regelgeleitetes Handeln und das regelbezogene Modell der Handlungserklärung Zur Diagnose eines
Forschungsdesiderats
Der Begriff des regelgeleiteten Handelns sprengt den Rahmen einer subjektivistischen Psychologie. Er ist speziell mit der Vorstellung, Handlungen seien allein bzw. maßgeblich durch subjektive Absichten bestimmt, unverträglich. In der handlungstheoretischen Psychologie besitzt der Regelbegriff bis heute jedoch keine herausragende Stellung. Dieses Faktum ist flankiert von einer bemerkenswerten Karriere des Regelbegriffs in anderen psychologischen Forschungsgebieten. Die Sprach- und Kognitionspsychologie bilden dafür die besten Beispiele. Bemerkenswert ist, daß Attacken gegen die Bewußtseinspsychologie des 19. Jahrhunderts, wie sie von Vertretern der Denk- und Sprachpsychologie geführt wurden, nicht zuletzt mit dem Regelbegriff operierten. Hildebrandt resümiert, daß Bühlers Begriff des Regelbewußtseins - ebenso wie dessen Begriffe des Relationsbewußtseins und des Bedeutungsbewußtseins, womit nach Bühler die drei „Grundbestandteile des Denkens" benannt sind - auf Phänomene verweist, welche „unanschaulicher Natur" und „trotzdem bewußt" sind. Gerade diese Merkmale nun widerlegen „das grundlegende Axiom der Bewußtseinspsychologie, daß alle geistigen Vorgänge an Empfindungen und Vorstellungen ablaufen" (Hildebrandt, 1991, 38f.). Wie Hildebrandt noch vor diesen historischen Reminiszenzen in seinen instruktiven Anmerkungen zum Status des Regelbegriffs feststellt, ist nicht nur die Abkehr von der Bewußtseinspsychologie ohne eine Vergegenwärtigung der Bedeutung des Regelbegriffs nicht recht zu verstehen. Die kognitive Wende in der Psychologie ist ebenfalls kaum zu begreifen ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß Newell „den Begriff der Regel in ein semantisches Umfeld eingeordnet" hat, in dem die Zeichen ganz auf eine theoretische Abwendung vom bis dato dominierenden Behaviorismus wiesen. Zu Recht kann behauptet werden: „Der Regelbegriff ist - neben anderen - ... konstitutiv für die Definition einer gesamten Wissenschaftsgruppe - der Kognitionswissenschaft ... - gewesen und hätte damit einen paradigmatischen Stellenwert..." (ebd., 34).65
65
Von „Paradigmen" und „Revolutionen" spricht Hildebrandt im Sinne der Terminologie von Kuhn (1967). Der Regelbegriff stellt in Hildebrandts Sicht ein Integrationskonzept dar, das die paradigmatische Einheit empirischer Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Kognitionswissenschaften und der Theorien der künstlichen Intelligenz sowie linguistischer Ansätze zumindest zeitweise suggerieren konnte. Die konstitutive Funktion, die Hildebrandt „dem" Regelbegriff für „die" kognitive Psychologie zuschreibt, soll, wie der Autor ausführt, nicht dazu verleiten, diesen Wissenschaftszweig auf ein und dieselbe historische Quelle zurückzufuhren. Als Quellen sind auseinanderzuhalten: erstens „die Theorie des Problemlösens und ihre Assimilation an das Paradigma der Künstlichen Intelligenz", wobei die Bezugnahme auf die Theorie physikalischer Symbolsysteme entscheidend ist (z.B. Newell und Simon, Fodor und Pylyshyn), zweitens Ansätze, die mentale Regeln in lern- und insbesondere entwicklungspsychologischer Sicht thematisieren (z.B. Bruner, Goodnow und Austin, Gagné), wobei der Regelbegriff hier vornehmlich als deskriptives, nicht aber als Konzept für die Erklärung
114
I. Handlung
Auf der Hand liegt der Hinweis auf die Sprachpsychologie im engeren Sinne, in der der Regelbegriff insbesondere seit dem Einfluß von Chomskys (1957) „generativer Transformationsgrammatik" mit im Zentrum der Forschung und Theoriebildung stand.66 Bekannt ist schließlich die systematisch wichtige Funktion des Regelbegriffs in den psychologischen Theorien der kognitiven Entwicklung eines Piaget (1976, 1973) oder Kohlberg (1974). Deren theoretische Rekonstruktion der ontogenetisch sich entfaltenden Kompetenz, kognitive Operationen durchzuführen, ist auf den Regelbegriff angewiesen. So läßt sich etwa die Kompetenz, moralische Urteile vernünftig zu begründen, als - je nach Entwicklungsstand - differentiell ausgeprägte Fähigkeit explizieren, bestimmten Argumentations- bzw. Begründungsregeln folgen zu können: vom präkonventionellen Niveau über die auf konventionellem Niveau angesiedelten Regeln reicht die Spanne bekanntlich bis zur postkonventionellen Orientierung an universalen ethischen Prinzipien. Man könnte sich nun darüber streiten, ob kognitive Operationen dieser Art von Handlungen strikt abgegrenzt werden sollen. Anders als es in der Piagetschen Tradition nahegelegt wird, könnte man Operationen wie etwa das argumentative Begründen moralischer Urteile nicht lediglich als handlungsrelevant, sondern selbst als Handlungen auffassen. Damit bildeten die kognitiven Entwicklungstheorien Beispiele für Modelle regelbezogenen Handelns und stellten eine Ausnahme von der diagnostizierten Lage dar. Was die exemplarisch genannten Forschungsbereiche betrifft, ist ansonsten nämlich offenkundig, daß es dort eindeutig nicht um die Erforschung regelgeleiteten Handelns geht. Im Lichte dieser Theorien erscheinen Kognitionen und das Sprechen vielmehr allein als Tegelgesteuertes Verhalten. Hildebrandt schlägt vor, von regelgesteuertem Verhalten immer dann zu sprechen, wenn es um Regeln geht, die den Status verhaltensdeterminierender Naturgesetze besitzen. Mit dieser von Karl Bühler übernommenen terminologischen Bestimmung soll „der Tatsache Ausdruck gegeben werden, daß das 'Gesteuertwerden' durch Regeln nicht die Möglichkeit zum Nichtbefolgen umfaßt, die im Begriff des 'Geleitetsein' impliziert sein kann" (Hildebrand, 1991, 41). Regelgesteuerte Systeme können damit von Personen, deren Handeln als regelgeleitet betrachtet wird, unterschieden werden. Das Konzept des regelgesteuerten Verhaltens bahnt den Weg dafür, „eine annähernd naturwissenschaftliche Perspektive auf das Problem des Psychischen zu werfen, eine fruchtbare Perspektive, die im Rahmen der Kognitionspsychologie ... und der Kognitiven Neuropsychologie ... in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat" (ebd., 42). Neben dieser quasi naturwissenschaftlichen Erforschung des Psychischen eröffnet die getroffene Unterscheidung, speziell die damit verwobene „These der offenen Regel-
kognitiver Vorgänge fungiert. Diese Differenzierung läßt nicht zuletzt changierende Bedeutungsgehalte hervortreten, die der Regelbegriff in verschiedenen Traditionen und Bereichen der kognitiven Psychologie besaß und besitzt. Vgl. hierzu das Vierfelderschema, in dem Hildebrandt (1991, 37) vier Varianten des Regelbegriffs unterscheidet. 66
Der beherrschende Einfluß dieser Theorie wurde in der Sprachpsychologie bzw. Psycholinguistik erst nach Jahrzehnten gebrochen (vgl. Engelkamp, 1974; Hörmann, 1976).
4. Handlungstypologie
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induktion und -implantation durch menschliche Intelligenz, auch die Möglichkeit zu einer Form rationaler Forschung" (ebd.), die es nicht mit regelgesteuertem Sich-Verhalten, sondern mit regelgeleitetem Handeln zu tun hat.67 Was in der Psychologie bis heute allenfalls unzulänglich ausgearbeitet ist, ist eine Psychologie regelgeleiteten Handelns.68 Auch gewichtige Anstöße „von außen" zeitigten in der Psychologie unserer Gegenwart keine nennenswerte Wirkung. Ich werde das an einem Beispiel darlegen. Dabei sollen erste Aspekte einer Psychologie regelgeleiteten Handelns geklärt werden.
Die Wissenschaften vom Sozialen in der Sicht Peter Winchs Betrachtet man sich die Karriere des Regelbegriffs im Umfeld der hier besonders interessierenden Versuche, die Grundbegriffe, die Logik und Methodologie der Sozialwissenschaften zu klären, ist Winchs (1966) berühmte Arbeit von einiger Bedeutung. Dessen philosophische „Idee der Sozialwissenschaft" ist gerade auch im deutschsprachigen Raum breit rezipiert worden. Die in dem 1958 erschienen Buch vorgenommene Konzentration auf den Regelbegriff war freilich kein Einzelfall in der Philosophie dieser Zeit. So schrieb Shwayder
67
Hildebrandt führt den soeben zitierten Satz mit einer Zuordnung fort, die hier nicht übernommen wird: Die quasi naturwissenschaftliche Erforschung regelgesteuerten Sich-Verhaltens habe es demnach mit konstitutiven Gesetzen, die interpretative Handlungspsychologie mit regulativen Gesetzen (oder Regeln) zu tun. Die Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln geht im wesentlichen auf Searle zurück, wird von diesem aber anders verwendet als von Hildebrandt. Ich werde später auf Searles Unterscheidung zurückkommen. Dann wird auch deutlich, daß Hildebrandts Rede von konstitutiven und regulativen Gesetzen unglücklich ist, und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens ist die Verwendung des Gesetzesbegriffs hier problematisch, da dadurch eine nomologische Auslegung des Regelbegriffs nahegelegt werden könnte; zweitens, und dies ist der wichtigere Einwand, ist die von Hildebrandt benutzte Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln (oder Gesetzen) problematisch, da sie sich mit der Unterscheidung zwischen einer „quasi naturwissenschaftlichen" und einer von Hildebrandt so bezeichneten „handwerklichen" Psychologie gleichsam deckt. Nun hat es die Handlungspsychologie - die nach der hier vertretenen Auffassung zu Hildebrandts „handwerklicher" Psychologie gehört - keineswegs nur mit der Erforschung regulativer, sondern auch konstitutiver Regeln des Handelns zu tun. Folgt man Searles Unterscheidung, macht dies Sinn; bei Hildebrandt dagegen werden die konstitutiven Regeln oder „Gesetze" ganz der quasi naturwissenschaftlichen Psychologie regelgesteuerten Verhaltens zugeschlagen. Dahinter verbirgt sich eine Unklarheit im Konstitutionsbegriff, der leider vorschnell an den Begriff der kausalen und heteronomen Determination menschlichen Verhaltens angeglichen wird.
65
In dem von Jüttemann (1991) herausgegebenen Sammelband finden sich vereinzelte Überlegungen zur theoretischen Grundlegung und forschungspraktischen Konkretisierung einer Psychologie regelgeleiteten Handelns. Detaillierte theoretische Begriffsklärungen und methodologische Anschlußüberlegungen fehlen allerdings ebenso wie ein systematisches Programm einer solchen Psychologie. Auch wo es in der Theorie und Empirie um „soziale Repräsentationen" geht (Moscovici, 1981; Flick, 1997), stößt man, soweit ich sehe, auf keine ausführliche Analyse des Regelbegriffs und dessen Stellenwert für die Psychologie.
116
I. Handlung
(1965, 235f.): „The idea of a rule has long been a favorite of philosophers, but specially in recent years when the express and conscientous appeal to rules has become a fashion if not something of a movement." Winchs Versuch, den Regelbegriff als zentralen Grundbegriff der sinnverstehenden Sozialwissenschaften zu etablieren, hat nicht zuletzt durch Habermas' (1982) ausfuhrliche Beachtung in seinem 1967 in der ersten Auflage erschienenen Literaturbericht „Zur Logik der Sozialwissenschaften" einige Prominenz erlangt. Winchs Konzeption einer „Zwei-Sprachen-Theorie" traf im historischen Kontext der spezifisch deutschen Verstehen-Erklären-Debatte auf offene Ohren. Dies gilt jedenfalls für eine Gemeinschaft von Soziologen, die durch den „Positivismustreit" für logische und methodologische Probleme sozialwissenschaftlicher Forschung besonders sensibilisiert wurde.69 In der Psychologie dagegen wurde Winchs Ansatz nicht gebührend beachtet. Dies ist insofern erstaunlich, als zu Winchs Adressaten nicht zuletzt die Sozialpsychologie gehörte. Speziell in der handlungstheoretisehen Psychologie blieben Bezugnahmen auf Winch fast gänzlich aus. So findet sich beispielsweise in den über dreißig Beiträgen eines bereits zitierten Sammelbands mit einschlägigem Titel (Jüttemann, 1991) nicht ein einziger Hinweis auf dessen bahnbrechende Untersuchungen. Winchs Idee der Sozialwissenschaft ist maßgeblich von Wittgensteins Spätphilosophie geprägt.70 Dessen Abkehr vom positivistischen „Maßstab einer weltabbildenden Idealsprache" (Habermas) hin zum „Pluralismus natürlicher Sprachen" und der Analyse heterogener, nicht zuletzt in funktionaler Hinsicht vielgestaltiger Sprachspiele, bereitete den Boden für Winchs Ansatz. Dieser folgt Wittgenstein bereits im Ansatz: Die Bearbeitung bedeutungstheoretischer Fragen, speziell die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, führt ihn zur Analyse der Frage, was es heißt, einer Regel zu folgen, und damit zum Konzept regelgeleiteten Handelns (Winch, 1967, 37ff.).71 Freilich muß Winch
69
Einer Bemerkung Beckermanns (1985b) zufolge war der prägende Einfluß von Winchs Buch im angelsächsischen Sprachraum vergleichsweise gering. Die Thesen Winchs seien zwar heftig diskutiert worden, hätten letztlich aber kaum Anhänger gefunden. Die ebenfalls an Wittgensteins Spätphilosophie, allerdings mehr an das Konzept des Sprachspiels als an das Konzept des Regel-Folgens anknüpfenden Überlegungen Waismanns (1961) und anderer bildeten, so Beckermann, dort eher einen der wichtigen und anhaltenden Brennpunkte der Diskussion. Im Zentrum der Debatten stand freilich Ryles (1969) bekanntes Buch. Was Beckermanns Diagnose angeht, ist zu berücksichtigen, daß sich dessen Einschätzung wohl primär auf die Rezeption in der (analytischen) Philosophie bezieht. Beckermann versucht im übrigen, ganz im Gegensatz zu Winch, die „kausalistische Position" in der „reasons-causes"Kontroverse und damit eine bestimmte, von Winchs Position abweichende Auffassung des menschlichen Handelns „stark zu machen" (Beckermann).
70
Die Bedeutung des Übergangs vom Programm des „Tractatus" zu den „Philosophischen Untersuchungen" für die konzeptionelle und methodologische Ausarbeitung einer verstehenden Sozialwissenschaft sensu Winch erörtert Habermas (1982, 242ff.).
71
In welch engem Zusammenhang Wittgensteins Analyse des Regelfolgens mit bedeutungstheoretischen Fragen steht, zeigt - neben vielen anderen - eine Stelle aus dem posthum publizierten Nachlaß (Wittgenstein, 1984b, 132). Dort ist die Rede von einer „Entsprechung zwi-
4. Handlungstypologie
117
im Laufe seiner Darlegungen begründen, daß die Übertragung der Wittgensteinschen Analyse des Regelfolgens auf andere, eben nicht bloß sprachliche „Wechselbeziehungen zwischen Menschen Licht werfen" kann (ebd., 60ff.). Als unabdingbare Basis dieser Begründung kann Winchs Auffassung der Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaften angesehen werden. Der Klärung dieser Beziehung widmet der Autor einigen Raum. Das zentrale Ergebnis, das nicht zuletzt ein spezifisches Konzept der (psychosozialen) „Wirklichkeit" beinhaltet, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Philosophie und Sozialwissenschaften gehen nicht zuletzt dadurch eine Art Verwandtschaftsbeziehung miteinander ein, weil jede einfache Unterscheidung zwischen „der Welt" - mit der es einer traditionellen Auffassung zufolge die empirischen Wirklichkeitswissenschaften zu tun haben - und „der Sprache" - welcher die philosophischen Probleme entspringen - zurückzuweisen sei: „... denn indem wir die Sprache erörtern, erörtern wir faktisch die Frage, was als zur Welt gehörig angesehen werden soll. Unsere Vorstellungen davon, was dem Bereich der Wirklichkeit angehöre, entstammen der Sprache, deren wir uns bedienen. Unsere Begriffe regeln die Form der Welterfahrung. ... wir haben keine Möglichkeit, uns jenseits der Begriffe zu begeben, in deren Rahmen wir Gedanken über die Welt fassen; ... Die Welt ist für uns das, was sich durch diese Begriffe hindurch darbietet. Das heißt nicht, daß sich unsere Begriffe nicht wandeln könnten; aber wenn sie das tun, bedeutet es, daß auch unser Begriff der Welt sich gewandelt hat" (ebd., 25). Im Lichte dieser Auffassung rücken die als Sprachanalyse verstandene Erkenntnistheorie einerseits, die Soziologie (und andere Sozialwissenschaften) andererseits viel näher aneinander, als es ihnen üblicherweise zugestanden wird. Winch legt die Bedeutung der Sprachanalyse für die Sozialwissenschaften im letzten Teil seines Buches unter dem Titel „Begriffe und Handlungen" näher dar. Er zeigt dort an Beispielen, inwiefern sich das gesellschaftliche Leben mit dem Auftreten neuer oder mit dem Verschwinden vertrauter Ideen ändert. In der Sprache angesiedelte bzw. durch diese transportierte Ideen bestimmen das „Arrangement sozialer Beziehungen" und individueller Selbst- und Weltverhältnisse. Würden etwa Eigennamen aus unserer Sprache verbannt und durch Nummern oder allgemeine beschreibende Ausdrücke ersetzt, veränderte sich nach Winch die gesamte uns vertraute Struktur der persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen (und auch das Selbstverhältnis einzelner bliebe nicht unberührt). Im Zuge seiner Ausführungen, durch die Winch die Eingebettetheit des menschlichen Lebens in einen „Rahmen symbolischer Ideen" betont, gelangt er schließlich zu einer gewissen Rehabilitierung von Collingwoods Auffassung aller Geschichte als Geistesgeschichte.
sehen den Begriffen 'Bedeutung' und 'Regel'". Zu Wittgensteins Analyse des Regelfolgens vgl. z.B. Baker und Hacker (1980, 1984); dieses Buch enthält eine kritische Auseinandersetzung mit der vieldiskutierten Arbeit von Kripke (1987; vgl. hierzu auch Schulte, 1989, 159ff. sowie - pro Kripke - Stegmüller, 1976).
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I. Handlung
Derartige Schlußfolgerungen sind es, die Habermas, bei allem Respekt vor Winchs Konzeption, den Vorwurf des Sprachidealismus haben erheben lassen. Winch neige, so heißt es, zu einer idealistischen Überzeichnung „sozialer Tatsachen". Sein linguistischer Ansatz streift „den symbolisch vermittelten Verhaltensweisen das Stück Natur ganz ab, sublimiert Gesellschaft idealistisch zu einem Zusammenhang von Symbolen" (Habermas, 1982, 241). Habermas sagt allerdings auch, daß dieser Idealismus bei Winch durchaus bewußt zum Programm einer mit den Mitteln der Begriffs- bzw. Sprachanalyse operierenden Soziologie werde. Winch antizipiert den formulierten Einwand, wenn er sich dagegen wendet, „das soziale Leben zu sehr zu intellektualisieren". Sein (sicherlich zu grobes) Argument lautet sodann, daß eben jegliches Handeln in inniger und untrennbarer Verbindung mit dem Gebrauch der Sprache stehe, so daß die Analyse des Sprachgebrauchs allemal Aufschluß gebe über das sinnhafte Handeln (Winch, 1967, 163). Mit anderen Worten: Lebensformen korrespondieren, wie Habermas (1982, 240) in seiner Diskussion des „linguistischen Ansatzes" formuliert, mit „Regeln der Grammatik von Sprachspielen"; die „grammatischen Regeln symbolgesteuerter Interaktionen" und „Kommunikationsprozesse" konstituieren und bilden jenen als Lebensform bezeichneten, intersubjektiven Rahmen des Handelns. Die Sprache und mit ihr die Regeln, denen die jeweiligen Sprachspiele folgen, schaffen die Welt als Bezugssystem nicht zuletzt für das nichtsprachliche Handeln. „Die grammatisch bestimmte Welt ist nun der Horizont, in dem die Wirklichkeit interpretiert wird. Die Wirklichkeit verschieden interpretieren, heißt nicht: innerhalb desselben Bezugssystems beschreibbaren Tatsachen verschiedene selektive Deutungen geben; es bedeutet vielmehr: verschiedene Bezugssysteme entwerfen. Diese bestimmen sich nicht mehr (wie noch im „Tractatus" Wittgensteins, J.S.) nach einem theoretischen Maßstab der Korrespondenz von Zeichen und Sachverhalten. Jedes der Bezugssysteme legt vielmehr praktisch Einstellungen fest, die eine bestimmte Beziehung der Zeichen auf Sachverhalte präjudizieren; es gibt so viele Typen von 'Sachverhalten' wie es Grammatiken gibt. Die Wirklichkeit verschieden interpretieren, heißt ... gerade nicht: sie 'nur' verschieden interpretieren, es meint: die Wirklichkeit in verschiedene Lebensformen integrieren" (ebd., 250f.). Die Verschiedenheit von Interpretationen steht nicht mehr für eine unterschiedliche Bezugnahme auf vermeintlich ein und dieselbe Sache. Diese Differenz signalisiert vielmehr die Pluralität und Heterogenität von Sprachspielen und Lebensformen. Entscheidend für Winchs Ansatz, der durch die „logische" Analyse der gewöhnlichen Sprache direkt zur Analyse der Handlungs- und Lebenspraxis selbst vorstößt, ist der bei Wittgenstein formulierte Gedanke, daß die Regeln von Sprachspielen „Grammatiken ebensowohl von Sprachen wie von Lebensformen (sind). Jeder Ethik oder Lebensform entspricht eine eigene Logik, nämlich die Grammatik eines bestimmten und nicht regulierbaren Sprachspiels" (Habermas, 1982, 251). Erst der soeben skizzierte Konnex rechtfertigt es (zumindest bis zu einem gewissen Grad), Handlungs- oder Lebensformanalysen als Sprach- bzw. Bedeutungsanalysen anzulegen. Sprach- oder Symbolzusammenhänge sind in Winchs Konzeption praktische Zusammenhänge. Grammatische Regeln sind
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Regeln des sprachlichen so gut wie des nicht-sprachlichen Handelns, des Gesprächs so gut wie des wortlosen Umgangs des Menschen mit Dingen, mit sich und den anderen. Die Begriffe des Sprachspiels und der Lebensform sind nicht unabhängig voneinander. „Die Menschen handeln wie sie sprechen; deshalb sind die gesellschaftlichen Beziehungen von derselben Art wie Beziehungen zwischen Sätzen" (ebd., 255). In Winchs Philosophie der Sozialwissenschaften besitzt das Regelkonzept bzw. der Begriff des regelgeleiteten Handelns die zentrale Stellung. Handeln besteht nach Winch darin, daß die Akteure Regeln folgen. Regeln gelten ihm als konstitutiv für das Handeln; sie definieren gesellschaftliche Institutionen, Konventionen und soziales Handeln. (Das ist die Bedeutung zumindest von Winchs favorisiertem Regelkonzept; seine Analyse leidet, wie im folgenden auch ohne ausdrückliche Kritik an Winch deutlich wird, auf weiten Strecken an einem zu allgemein und einseitig angesetzten Regelbegriff.) Höchst wichtig für Winchs Konzeption ist sodann ein methodologisches Argument, das eng mit der Bedeutung des zentralen Grundbegriffs einer verstehenden Soziologie und Sozialpsychologie verwoben ist: Die Analyse bzw. das Verstehen von Handlungen ist als rationale Rekonstruktion handlungskonstituierender oder -definierender Regeln anzulegen, nicht aber als Kausalanalyse von Verhaltensweisen. Nicht kontingente empirische Regelmäßigkeiten oder Regelhaftigkeiten im SichVerhalten, sondern Tegelgemäßes Handeln von Akteuren, die ihr Tun und Lassen eben an bestimmten Regeln orientieren und ausrichten, bilden den Gegenstand einer verstehenden Sozialwissenschaft. Winchs mit sprachanalytischen Mitteln operierende verstehende Soziologie (und Sozialpsychologie) wendet sich entschieden gegen die nomologische Auslegung sozialwissenschaftlicher Theorien. Mit guten Gründen verteidigt Winch die Eigenständigkeit und Vollständigkeit einer sozialwissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, in deren Zentrum das sprachanalytisch verfahrende Verstehen steht.72 Gegen Max Weber weist Winch den Verdacht der logischen Unvollständigkeit des Verstehens zurück und macht die Gültigkeit von Erkenntnissen der verstehenden Sozialwissenschaften unabhängig von statistischen Prüfverfahren und dem damit verwobenen Ideal nomologischen Wissens. „Statistische Anhäufungen" gelten Winch nicht als oberste Instanz, die letztlich über die rationale Annehmbarkeit von Deutungen oder Interpretationen entscheidet (Winch, 1967, 145). Deutungen oder Interpretationen menschlichen Handelns koppelt Winch dabei freilich von dem unhaltbaren Anspruch (Webers und anderer) ab, kausal gültig sein zu müssen. „ H a n d e l n d j Regel folgen" zeugt nach Winch von „inneren" Beziehungen oder eben sprachlichen Sinnzusammenhängen, nicht von Kausalbeziehungen. Was von Wright für das teleologische Modell klarstellte, zeigt Winch für das Modell regelgeleiteten Handelns. e
72
n e r
Bisweilen kann menschliches Sich-Verhalten deduktiv-nomologisch erklärt und vorausgesagt werden, ohne verstanden worden zu sein; manchmal verhält es sich umgekehrt. Die beiden Operationen sind nicht nur verschieden, sondern auch unabhängig voneinander durchführbar, eben eigenständig und in sich vollständig (vgl. Winch, 1967, 147f.).
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Akteure folgen Regeln, die in ihr Handeln bzw. in ihre Sprache gleichsam eingelassen sind. Die wissenschaftliche Analyse sozialen Handelns hat demzufolge an die Sprache der Akteure unmittelbar anzuschließen. In diesem Punkt unterscheidet sich Winchs Ansatz radikal von demjenigen Dürkheims. Dessen Begriff der „Vergesellschaftungsweise assoziierter Individuen" ergebe, so sagt Winch kurzerhand, gänzlich ohne Berücksichtigung der „Vorstellungen" dieser Individuen kaum einen Sinn (ebd., 36). 73 Für Winch ist unabdingbar, daß die sozialwissenschaftliche Handlungsanalyse an das Begriffssystem der Handelnden, an deren Sprache anschließt und sich in deren Sprache bewegt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die wissenschaftliche Analyse das den Akteuren selbst verfugbare Wissen über die Regeln, denen diese handelnd folgen, bloß reproduzieren sollte. Daß Akteure Regeln folgen (können), heißt nämlich keineswegs, daß sie diese in jedem Fall selbst anzugeben vermögen. Einer Regel folgen bedarf eines Könnens, das empraktisch erworben wird (Wittgenstein spricht davon, daß Menschen dazu „abgerichtet" werden, etwas zu tun), nicht unbedingt eines Wissens. 74 Das Regelfolgen setzt die Beherrschung einer „Technik" voraus (was nicht heißt, es ginge hier um instrumentelles Handeln), nicht aber die Verfügbarkeit expliziten Wissens und das wissensbasierte Räsonnement des Akteurs. Wie Wittgenstein (1984a, 351) formuliert: „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind." Winch fordert also nicht die bloße Reproduktion des nur teilweise diskursivierbaren Regelwissens der Akteure. Daran, daß die Explikation von handlungsleitenden Regeln durch den Sozialwissenschaftler von den Akteuren selbst zumindest verstanden werden können muß (also in deren Sprache bzw. in einem ihnen zugänglichen Sprachspiel erfolgen muß), hält Winch (z.B. 1967, 62) allerdings fest.
73
Im übrigen ist nicht einzusehen, wieso sich Winchs methodologische Folgerungen mit denen der Phänomenologie (eines Alfred Schütz) weitgehend decken sollen, wie Habermas (1967, 254) unterstellt. Schütz bleibt gerade in methodologischer Hinsicht allenfalls zweideutig, was die bei Winch so vehement erhobene Forderung betrifft, die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung vom Selbstverständnis der handelnden Subjekte abhängig zu machen. Wie Schütz auf der Grundlage seiner phänomenologischen Prämissen in ein Gespräch mit den Handelnden über deren Selbst- und Weltverständnisse eintreten will, bleibt doch etwas im Dunkeln.
74
„Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten" (Wittgenstein, 1984a, 239). Dies gilt im übrigen nicht nur für das Lehren und Erlernen einer Sprache. Wittgensteins etwas roh klingender Ausdruck der Ablichtung ist vielfach mißverstanden worden. Manche Deutungen gehen gar dahin, Wittgensteins Vorstellung von der Kindererziehung kurzerhand mit Tierdressuren gleichzustellen. Dies ist abwegig, wenngleich richtig ist, daß am Anfang von Lernprozessen häufig genug die Abrichtung steht „im Sinne des Vorzeigens, Voimachens und Vorsprechens auf der einen Seite und des Nachmachens und Nachsprechens auf der anderen. Wer etwa ein Musikinstrument spielen lernt, dem muß der Lehrer erst einmal zeigen, wohin die Finger gehören, wie man sich halten muß usw. - der Charakter des Abrichtens ist in diesem Fall ganz klar" (Schulte, 1989, 143). Auch Habermas' (1982, 258) Hinweis, Wittgenstein hebe mit diesem Ausdruck das „Stück Repression", das „Moment der Gewalt" hervor, das jeder „Verinnerlichung von Nonnen" innewohnt, trifft die Sache offenkundig nicht recht.
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Winchs Konzeption, nach der Handlungsanalysen als logische Analysen handlungskonstituierender Regeln durchzufuhren sind, hat offensichtlich mit der Einfuhlungsmethodologie psychologischer Verstehenslehren, etwa derjenigen des „frühen" Dilthey, nichts mehr zu tun. Der Begriff des Verstehens ist bei Winch ein semantischer, kein psychologischer Begriff. Dasselbe gilt für das beschreiben" und „Erklären". Handlungsanalysen werden hier zu Sprach- und Bedeutungsanalysen, die ohne psychologische Einfühlung im traditionellen Sinn auskommen. Überhaupt wird Handeln hier in hohem Maße an Sprechen und Sprache assimiliert. Gleichwohl setzt die Durchfuhrung von Sprach- und Bedeutungsanalysen mehr voraus, als eine Sprache (nach-) sprechen zu können. Sprechen und verstehen können heißt letztlich: handeln können. An einem Sprachspiel teilzunehmen, schließt die Partizipation an einer Lebensform ein. Es ist dies eine der Auffassungen, die Wittgensteins gesamte Spätphilosophie durchzieht und auf die sich Winch stützen muß, um den unmittelbaren Nutzen von Analysen der „gewöhnlichen" Sprache für die Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften ausweisen zu können. (Ich gehe im folgenden stellenweise über Winchs Darlegungen hinaus.) Die sprachliche und die nicht-sprachliche Praxis gehören im Grunde genommen zusammen; Sprechen und nichtsprachliches Handeln sind nicht aufeinander reduzierbar, aber auch nicht ohne einander denkbar. Diese Behauptung bezieht sich nicht allein auf die auch von den Sprechakttheoretikern (Austin, Searle) zur Geltung gebrachte Einsicht, daß Sprechen als Handeln aufgefaßt werden kann. Darüber hinaus und generell gilt: Sinnhafte Zusammenhänge, die in sprachlichen Äußerungen ausgemacht werden können, verweisen immer schon auf Sinnstrukturen einer nicht auf Sprechen reduzierbaren, aber in ein sprachliches bzw. symbolisches Bezugsgewebe eingelassenen Praxis. Wittgensteins Begriff des Sprachspiels beinhaltet dies bereits. Dieser Begriff soll nämlich nicht nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke (eines Wortes, einer Redewendung etc.) nur verstanden werden kann, wenn der sprachliche Kontext berücksichtigt wird, in dem sie jeweils stehen.75 Darüber hinaus geht es mit dem Begriff des Sprachspiels gerade auch darum, den nicht-sprachlichen Kontext, in dem gesprochen oder geschrieben (und sprechen gelehrt und gelernt) wird, in das Sprachverstehen mit einzubeziehen. (Unter anderem konnte der Kalkülbegriff just dies nicht leisten.) Mit seinem „holistischen" Begriff des Sprachspiels
7!
Dieser Gedanke taucht bei Wittgenstein bereits früher auf. Schon im „Tractatus" und in anderen Texten ist in Anlehnung an Frege davon die Rede, daß die Bedeutung eines Ausdrucks nur im Zusammenhang eines Satzes oder Satz-Systems beurteilt werden kann. In den „Philosophischen Untersuchungen" rekapituliert Wittgenstein (1984a, 267): „Das war es auch, was Frege damit meinte: ein Wort habe nur im Satzzusammenhang Bedeutung." Allerdings ist nun nicht mehr nur von Satzzusammenhängen die Rede, sondern vom Spiel oder Sprachspiel. Dies hat unter anderem den Vorteil, daß, wie Kenny (1973, 192) schreibt, beispielsweise Ausrufe wie „Feuer!" oder „Hilfe!" oder Aufschriften wie „Gift" keine Gegenbeispiele mehr darstellen, also nicht mehr, wie noch in Freges Bedeutungstheorie, „als verkürzte Redeweisen wegerklärt werden müssen." Vgl. zur Sprachspiel-Konzeption Wittgensteins auch Schulte (1989, 138ff.).
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hebt Wittgenstein also auch hervor, „daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform" (Wittgenstein, 1984a, 250).76 Sprachverstehen wird damit von der Einsicht in jene Tätigkeiten abhängig gemacht, in die die Sprache jeweils eingebunden, mit denen sie verwoben ist. Damit wird, wie Schulte (1989, 138ff.) sagt, „Nichtsprachliches zur notwendigen Bedingung für das Verständnis des Sprachlichen". Die Sprache und das Sprechen sind nicht unabhängig von dem Leben, in dem sie eine bestimmte Rolle spielen; sprachlich vermittelter Sinn ist lebenspraktisch gebunden. Eine Lebensform ist für Wittgenstein „die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft" (ebd., 146), das tragende Fundament und der gegebene, stillschweigend vertraute, kaum mehr als solcher wahrgenommene Rahmen, in dem sich das tagtägliche Leben einer Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur eben abspielt. Eine Lebensform ist die Gesamtheit der Praktiken einer Sprachgemeinschaft; zu ihr gehören auch die diese Praktiken ermöglichenden, für alle Mitglieder dieser Gemeinschaft normalerweise ganz fraglos geltenden Urteile, die eine gemeinsame Welt erzeugen, eröffnen, erschließen. Angemessene Beschreibungen, Verständnisse oder Erklärungen von Handlungen setzen die Fähigkeit bzw. den zumindest virtuell gelingenden Versuch des Sozialwissenschaftlers voraus, an einem Sprachspiel teilzunehmen, an der Lebensform der Handelnden zu partizipieren. Äußerungen verstehen heißt letztlich, angebbaren Regeln gemäß handeln können bzw. Handlungen der betreffenden Regel gemäß fortsetzen können. Verstehen setzt voraus zu wissen, in welches Sprachspiel bestimmte Ausdrücke gehören - und in welches nicht. Feste Grenzen zwischen verschiedenen Sprachspielen oder Lebensformen gibt es freilich nicht. Wittgenstein macht nicht dingfest, wo die prinzipiell unzulässigen Übergänge zwischen Sprachspielen oder Lebensformen liegen (Kenny, 1973, 191 ff.). Ob im konkreten Fall eine regelgemäße Handlung vorliegt, ist prinzipiell dem Urteil anderer anheimgestellt, wie Wittgensteins berühmte Widerlegung des sogenannten Privatsprachenargumentes zeigt. Einer Regel folgen ist nur innerhalb des öffentlichen Bezugsrahmens intersubjektiver Verständigung möglich. Einer Regel folgen kann nicht ein einmaliger, allein von einem Menschen ausgeführter Akt sein. Die Beurteilung, ob eine Regel angewandt worden ist, bedarf eines öffentlichen Kriteriums: „Darum ist 'der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel 'privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen" (Wittgenstein, 1984a, 345). Festzuhalten ist, daß Winch sprachliches und nichtsprachliches Handeln im dargelegten Sinn als regelgeleitet, als Anwendung einer Regel, auffaßt. Zu kritisieren ist an dieser definitorischen Festlegung in erster Linie deren Ausschließlichkeitscharakter. Dieser führt zu einer (von Winch schlecht begründe-
76
Die skizzierten Überlegungen hängen eng mit Wittgensteins sogenannter Gebrauchstheorie der Bedeutung zusammen. Zum Begriff des Kontexts in Wittgensteins Philosophie vgl. Schulte (1990).
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ten) Einseitigkeit,77 die den in der Handlungspsychologie gängigen Blickverengungen - der Fixierung auf das intentionalistische Modell - komplementär ist. So wichtig es ist, die Aufmerksamkeit auf den Regelbegriff zu lenken, so unnötig ist es, den Sinn- und Handlungsbegriff kategorisch an diesen zu koppeln. Winch sieht beinahe nur noch, daß Akteure Regeln anwenden, wenn sie handeln. Es ist nach der hier vertretenen Auffassung eine einseitige Überzeichnung zu sagen, „daß jedes sinnvolle (und darum spezifisch menschliche) Verhalten ipso facto von Regeln geleitet ist" (Winch, 1967, 70f.; siehe auch 149) oder daß wir in keinem Fall auf den Regelbegriff verzichten könnten, wenn wir Handlungen angemessen beschreiben, verstehen oder erklären wollen. Es mag zwar sein, daß man menschliches Sich-Verhalten (dasjenige des Mönchs ebenso wie dasjenige des Anarchisten, um Winchs Beispiele aufzugreifen) generell unter dem Aspekt der Regelgeleitetheit beschreiben kann - ebenso wie man es theoretisch unter dem Aspekt der Ziel- oder Zweckgerichtetheit beschreiben, verstehen und erklären kann. Ob man dadurch stets das für eine konkrete Handlung Wesentliche trifft - ihren „Witz", wie Wittgenstein vielleicht gesagt hätte -, muß aber bezweifelt werden. Wittgensteins Schriften können einen vor Winchs Einseitigkeit bewahren. Nach meiner Lesart lassen sich etwa folgende Bemerkungen nicht mehr mit dem Konzept regelgeleiteten Handelns in Einklang bringen: Wie Wittgenstein sagt, gibt es doch „auch den Fall, wo wir spielen und - 'make up the rules as we go along'? Ja auch den, in welchem wir sie abändern - as we go along" (Wittgenstein, 1984a, 287). Auch der Hinweis darauf, daß Spiele - Sprachspiele und andere Spiele - keineswegs lückenlos, sondern eben nur teilweise von Regeln bestimmt sind und also nicht eine Aktivität darstellen, deren „Regeln keinen Zweifel eindringen lassen", kann in der angezeigten Weise gelesen werden (ebd.). Gegen eine Verabsolutierung des Konzepts regelgeleiteten Handelns lassen sich analoge Einwände vorbringen wie gegen die einseitige Anwendung des Konzepts ziel- oder zweckgerichteten Handelns. Die Einsicht, daß Handlungen häufig aus guten Gründen als regelgeleitet betrachtet und deswegen nicht im strikten Sinn des intentionalistischen Modells begriffen werden können, ist freilich ein unbestreitbares Verdienst Winchs. Auch von Wright (1978) hat dies in der Diskussion seines einflußreichen Buches (Tuomela, 1975; Apel, Manninen & Tuomela, 1978) so gesehen und damit eine gravierende Korrektur an seiner früheren Auffassung vorgenommen. Er kehrt den Einwand, den er 77
Es bleibt nämlich unklar, warum denn - wie Winch (1967, 67) unterstellt - jedes Handeln den Akteur auf bestimmte andere, zukünftige Handlungen verpflichten muß; warum „mein gegenwärtiges Handeln eine Verbindlichkeit für die Zukunft herstellen" muß? Das Herstellen solcher Verbindlichkeiten ist zweifellos unerläßlich für weite Teile der sozialen Praxis, eine conditio sine qua non jeder Handlung vermag ich darin nicht zu erkennen. Wenn es denn schon so wäre, daß nur ein Sich-Verhalten, das die Anwendung einer Regel ist, „Verbindlichkeit für die Zukunft" herstellen könnte, hieße dies noch lange nicht, Handeln prinzipiell als Anwendung einer Regel und schon gar nicht nur als Anwendung einer Regel auffassen, beschreiben, verstehen und erklären zu müssen.
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einst gegen Winchs Konzeption vorgetragen hatte - dessen verstehende Soziologie sei einseitig, weil sie „auf die Bedeutung von Regeln für das Verstehen gesellschaftlichen Verhaltens zu starken Wert legt" (von Wright, 1974, 38) kurzerhand um und wendet ihn nun gegen die eigene finalistische, teleologische oder intentionalistische Konzeption. Wie man bei Winch „den Aspekt der Intentionalität und der Teleologie" vermisse (ebd.), so fehle in seiner eigenen Arbeit eine systematische und hinreichende Berücksichtigung der Funktionen von Regeln für das Handeln sowie fiir dessen Beschreibung, Verständnis und Erklärung (von Wright, 1978, 300ff.). In der Tat dreht sich in „Erklären und Verstehen" alles um Gründe oder zumindest um Hintergründe, die dem Handeln generell eine teleologische Struktur verleihen. Wo gar keine Teleologie mehr zu erkennen ist, heißt es dort (von Wright, 1974, 135), „erscheint ein Verhalten oft sinnlos, stumpfsinnig oder irrational." Alles, was sich dem Schema des intentionalistischen Erklärungsmodells nicht fuge, schrieb von Wright damals, sei für diese Disziplinen „auch nicht von großem Interesse" und könne „in diesen Gebieten gänzlich unberücksichtigt gelassen werden" (ebd., 148). Bezugnahmen auf Regeln oder Normen seien allenfalls für das Beschreiben und Verstehen, nicht aber für das in den Geschichts- und Sozialwissenschaften angestrebte teleologische Erklären von Handlungen bedeutsam. 78 Die Handlungspsychologie, in der das erwähnte Buch von Wrights durchaus Beachtung fand, hätte meines Erachtens auch von der späteren Selbstkritik des Autors profitieren können. Wie von Wright im Rückblick auf seine Überlegungen zum intentionalistischen Erklärungsmodell sagt, stimmt es „ganz sicher, daß ich in EV (Erklären und Verstehen, J.S.) und in anderen früheren Veröffentlichungen die Relevanz, die dieses spezielle Erklärungsmodell für die Humanwissenschaften hat, deutlich überschätzt habe" (von Wright, 1978, 266). Es gibt eben ,/nehrere wichtige Muster bzw. Schemata für Handlungserklärungen, die nicht als dispositionell bezeichnet werden sollten - und zwar u.a. schon aus dem Grund, daß sie sich von Erklärungstypen, die vorbehaltlos mit diesem Ausdruck belegt werden können, scharf unterscheiden" (ebd., 296.). Ein solches Schema ist das intentionalistische, ein anderes das Schema der regelbezogenen Handlungserklärung, für das sich Winch stark gemacht hat. Von Wright erörtert diese Einsicht am Beispiel eines Grußes. Er macht klar, daß diese Handlung keineswegs mit subjektiven Zielen, Absichten oder gar Plänen verbunden sein muß und auch nicht mit teleologischen Hintergründen in Beziehung gesetzt werden muß, um als Handlung angemessen identifiziert, beschrieben, verstanden oder erklärt werden zu können. Eine Handlung wie das Grüßen wird dadurch identifiziert, verstanden und auch in spezifischer Weise erklärt, daß sie
78
Von Wright unterscheidet terminologisch nicht zwischen Regel und Norm. Den Mangel an Erklärungskraft regel- oder normenbezogener Argumentationen versucht von Wright auch mit seinen Ausführungen über primäre und sekundäre Regeln (Normen) zu verdeutlichen (ebd., 137f.). Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Regel (Norm) entwikkelt er in kritischem Anschluß an Hart (1961).
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unter eine „gesellschaftliche Institution", eben eine soziale Regel subsumiert wird. Der Regelbezug ist hier nicht ein (zusätzlicher) Aspekt zielgerichteten Handelns, er ist konstitutiv. Zahlreiche Handlungen lassen sich nur beschreiben, verstehen oder erklären, „indem man sie als Handlungen einer bestimmten Gattung auffaßt, wobei man die Konventionen, Regeln und Institutionen, die diese Gattung erst konstituieren, kennen muß" (ebd., 301). Der Sinn von Handlungen wird im Falle des regelgeleiteten Handelns nicht, wie bei Max Weber, „definiert mit Hilfe von Intentionen der Akteure, sondern - wie bei Wittgenstein - unter Bezugnahme auf öffentliche Regeln" (Waldenfels, 1985b, 79). Die zuletzt zitierte Worte sind auf Winchs Ansatz bezogen. Sie gelten ebenso für den späteren von Wright, dessen Position sich dahingehend differenziert hat, daß sie mit den zentralen Einsichten Winchs verträglich ist, ohne auf diese reduzierbar zu sein. An diese Auffassung wird sich auch die im folgenden zu präzisierende Psychologie regelgeleiteten Handelns halten.
Differenzierungen Die in der Auseinandersetzung mit Winchs Analysen vorgenommenen terminologischen und theoretischen Klärungen werden im folgenden vorausgesetzt. Ich beschränke mich auf einige Differenzierungen und Ergänzungen. Wie die Begriffsgeschichte zeigt, war der Gebrauch des Ausdrucks „Regel" bald schon nicht mehr auf das ursprüngliche Anwendungsfeld der Baukunst begrenzt. Aber auch als es noch unmittelbar um Fragen der Baukunst ging, sind in den lateinischen Entsprechungen des griechischen Wortes kanon nämlich regula und norma - schon einige jener Bedeutungsaspekte identifizierbar, die die Handlungswissenschaften besonders interessieren. Auch das Handeln nämlich ist geleitet, wie es das Wort regere (lenken, leiten, richten) anzeigt, und näherhin ist es orientiert an einem (in begriffsgeschichtlicher Sicht bald schon) metaphorisch verstandenen Richtmaß im Sinne einer regula (Richtscheit) oder Norm.79 Im vorliegenden Zusammenhang interessieren allein Handlungsregeln. Für diese kann folgende allgemeine Bestimmung angegeben werden: Unter Handlungsregeln sollen solche Regeln verstanden werden, die Aufforderungen darstellen, „in Situationen einer bestimmten Art s Handlungen einer bestimmten Art h auszuführen" (Kambartel, 1984, 1030). Solche Aufforderungen können es gebieten oder verbieten oder auch bloß nahelegen, erlauben, zulassen oder freistellen, in bestimmten Situationstypen bestimmte Handlungen auszuführen. Situierte Handlungsregeln haben, wie Kambartel am soeben angegebenen Ort
75
Begriffsgeschichtliche (und systematische) Aspekte erörtern Kible bzw. Pieper und Hofmann-Riedinger bzw. Lorenz und schließlich Conte in ihren Beiträgen zum Stichwortartikel „Regel", allesamt in Ritter und Gründer (1992). Hofmann und Schräder sowie Mitglieder der Redaktion des genannten Wörterbuchs erarbeiteten die Abschnitte zum Stichwort „Norm" in Ritter & Gründer (1984).
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erläutert, die Form bedingter Vorschriften. Als Muster für eine solche Form, die in Einzelheiten freilich variieren kann, läßt sich angeben: „'wenn (die Situationsbeschreibung) s zutrifft, dann handle so, daß dein Handeln der (Handlungsbeschreibung) h genügt'. ... Bei vollständiger Notierung verlangen Handlungsregeln außerdem die Angabe des Adressaten, an den sie sich richten." Handlungsregeln haben Adressaten und freilich auch Urheber; in manchen Fällen sind diese identisch, in anderen, in denen sich dann auch Macht- oder Herrschaftsverhältnisse zwischen Personen oder Gruppen ausdrücken mögen, ist dies nicht so. Generell ist im Auge zu behalten, daß sich Regeln dem hier verbindlichen Handlungsbegriff gemäß auf externale und internale Handlungen beziehen können. Regeln bestimmen die verschiedensten Bereiche der Praxis: Technik, Ethik bzw. Moral, Recht, Ästhetik, Spiel und vieles mehr sind Bezeichnungen für Praxisbereiche, die durch je spezifische Regeln bestimmt werden. Regeln lassen sich nun nicht nur inhaltlich, also im Hinblick auf ihren jeweiligen Anwendungsbereich, sondern auch unter mehr oder minder formalen Gesichtspunkten unterscheiden. Die von Giddens (1988, 74) angeführten polarkonträren Dimensionen eröffnen diesbezüglich hilfreiche Charakterisierungsmöglichkeiten. Regeln mögen demnach in der alltagsweltlichen Praxis quasi permanent oder nur selten und in speziellen Bereichen das Handeln (mit-) bestimmen. Giddens unterscheidet entsprechend mehr oder minder generalisierte bzw. intensive von oberflächlichen Regeln. Weiterhin lassen sich stillschweigende Regeln, denen die Akteure folgen, ohne sie im Bedarfsfall angeben zu können, von diskursiven Regeln unterscheiden. Die letzteren lassen sich als formalisierte - zu denken ist beispielsweise an Gesetze - und informelle einteilen. Schließlich möchte Giddens schwach sanktionierte Handlungsregeln von stark sanktionierten abgrenzen. Was den letzten Punkt betrifft, wird im folgenden auch Regeln Beachtung geschenkt, die überhaupt nicht mit Sanktionen verknüpft sind. Handlungsleitende Regeln interessieren hier als Bestimmungsgründe des Handelns, ohne daß notwendigerweise an die soziale Sanktionierung etwa im Falle der Mißachtung oder Verletzung von Regeln gedacht werden müßte. Giddens' Dimensionen ließen sich noch dahingehend ergänzen, daß Handlungsregeln das Handeln in unterschiedlichem Ausmaß festlegen können. Schachspielen ist beispielsweise stärker von expliziten Regeln bestimmt und in den jeweils situierten Handlungsmöglichkeiten in höherem Maße festgelegt als Versteckenspielen. Dieser Aspekt kann auch als Präzisionsgrad von Regeln bezeichnet werden. Auch diese Unterscheidung ist akzentuierend: immer bleiben gewisse Aspekte des Handelns ungeregelt. Selbstverständlich müssen diskursive und explizite Regeln nicht unbedingt sprachlich ausformuliert sein, um ihre handlungsbestimmende Funktion erfüllen zu können. Sie können mit Zeichen verschiedenster Art abgekürzt oder symbolisiert sein. Ein Wegweiser etwa oder schematische Anweisungen, diese und jene Bewegungsschritte nacheinander auszuführen - Beispiele, die sich bei Wittgenstein häufig finden -, mögen eher auf Regeln hinweisen, als daß sie selbst schon solche darstellen. Solche Zeichen symbolisieren und verkörpern
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Regeln, sie sind nicht schon Regeln in diskursivierter Form. Da sie aber Regeln aktivieren können, sind sie diesen funktional äquivalent. Eine wichtige allgemeine Unterscheidung verschiedener Regeltypen stammt von Searle (1990). Es ist üblich, zwischen verschiedenen möglichen Leistungen oder Funktionen von Regeln zu differenzieren. Searle unterscheidet konstitutive von regulativen Regeln. Während erstere gleichsam die Bedingung der Möglichkeit bestimmter Handlungen sind - konstitutive Regeln fundieren und entwerfen Handlungen -, bilden die regulativen Regeln eher so etwas wie Regulative im engeren Sinne; sie regeln oder leiten Handlungen, die auch unabhängig von diesen Regeln denkbar sind. Searle erläutert das so: „Ich möchte zwischen zwei verschiedenen Arten von Regeln unterscheiden; ich nenne sie die regulativen und die konstitutiven Regeln. Ich bin mir der Richtigkeit dieser Unterscheidung ziemlich sicher; sie ist aber nicht leicht zu erklären. Die regulativen Regeln können wir zunächst als Regeln charakterisieren, die bereits bestehende oder unabhängig von ihnen existierende Verhaltensformen regeln - zum Beispiel regeln viele Anstandsregeln zwischenmenschliche Beziehungen, die unabhängig von jenen Regeln existieren. Konstitutive Regeln dagegen regeln nicht nur, sondern erzeugen oder prägen auch neue Formen des Verhaltens. Die Regeln für Fußball oder Schach zum Beispiel regeln nicht bloß das Fußballoder Schachspiel, sondern sie schaffen überhaupt erst die Möglichkeit, solche Spiele zu spielen" (Searle, 1990, 54). Solche konstitutiven Regeln hat auch Kambartel (1984, 1030) vor Augen, wenn er davon spricht, daß (nur) bestimmte Regeln die „Konstruktion von Institutionen" zu leisten vermögen. Institutionen haben dabei nicht die Funktion, den Vollzug bereits gegebener Handlungsmöglichkeiten zu beschränken oder zu kanalisieren; sie konstituieren vielmehr neue Handlungen. Kambartel rechnet zu solchen Institutionen alltagsweltliche Phänomene wie das Versprechen, rechtliche Institutionen wie gesetzliche Vertragsnormen oder auch Spielregeln mit konstitutivem oder eben institutionellem Charakter. Man tut gut daran, die Grenze zwischen konstitutiven und regulativen Regeln nicht allzu scharf zu ziehen. Manche regulative Regel mag bei näherem Hinsehen nicht nur bereits Bestehendes im Detail bestimmen, sondern doch auch etwas entwerfen und erzeugen, was ohne diese Regel zumindest so nicht existierte. In vielen Fällen trennt die Unterscheidung allerdings ganz eindeutig: ein Zug im Schachspiel ist nicht denkbar ohne Schachregeln, wogegen Abbiegungen in der Straßenftihrung mit dem Auto befahren werden können, ohne daß der Fahrer den Blinker seines Fahrzeuges in Funktion setzt; wenn er ihn einschaltet, folgt er damit einer regulativen Regel, die (sehr partiell) angibt, wie sich Fahrzeuglenker beim Abbiegen zu verhalten haben. Erst die praktische Anwendung dieser Regel macht das Abbiegen zu einer bestimmten, im Rahmen der Straßenverkehrsordnung korrekten Handlung. Eine auch fiir die Psychologie besonders wichtige Klasse handlungsrelevanter Regeln sind soziale Normen. Bevor ein allgemeines Schema für die Erklärung regelgeleiteten Handelns vorgestellt wird, widme ich mich den Begriffen „Norm" und „normenreguliertes Handeln".
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Normen und normenregulierte Handlungen Der Normenbegriff wird im Alltag, in der Philosophie und in den Wissenschaften sehr unterschiedlich gebraucht. In der vorliegenden Arbeit werden Normen als spezielle handlungsleitende Regeln aufgefaßt. Als solche sind Normen besondere Bestimmungsgründe von Handlungen.80 Diese Auffassung ist mit der auch von Korthals-Beyerlein (1979) verfolgten Zielsetzung vereinbar, den Begriff der sozialen Norm so zu explizieren, daß die Ergebnisse für das empirischpsychologische Beschreiben, Verstehen und Erklären von Handlungen unmittelbar fruchtbar gemacht werden können.81 In krassem Gegensatz hierzu steht die Ansicht, daß Bezugnahmen auf Normen grundsätzlich nicht der Beschreibung, Erklärung oder Vorhersage von Handlungen dienen könnten, sondern allein dem Vorschreiben, Fordern oder Verbieten von Handlungsweisen.82 Normen sind diskursivierbare Konstrukte, die „dazu dienen, menschliches Handeln zu regeln, zu lenken, ihm eine bestimmte Richtung zu geben, es zu koordinieren, die also darauf abzielen, eine bestimmte soziale Ordnung zu realisieren; Normen treffen Entscheidungen für eine oder mehrere Handlungen (oder Handlungsweisen) aus einem Feld möglicher Handlungen (Handlungsweisen) und legen diese Entscheidung mit einem bestimmten Grad von sozialer Verbindlichkeit fest" (Buhr & Klaus, 1969, 793). Normen sollen insbesondere jene Orientierungen bzw. Regeln heißen, „für die ein moralischer Rechtfertigungsanspruch erhoben wird. Die Aussage, daß eine Regel oder Zielsetzung eine Norm sei, macht dann etwa eine moralische Argumentation notwendig" (Kambartel, 1984, 1031). Damit wird auf einen Bedeutungsaspekt abgehoben, den bereits Simmel im Blick hatte, dessen Definition wegen ihrer irreführenden „Zweigleisigkeit" jedoch abzulehnen ist. Nonnen, schrieb Simmel (1989, 77), artikulieren das, was in der Gesellschaft „allgemein, generisch geschieht", und das, „was geschehen soll, wenngleich es vielleicht nicht geschieht." Im Unterschied zu dieser doppelten Bestimmung soll der Normenbegriff hier allein auf solche Handlungen verweisen, die unter normativen oder präskriptiven Ansprü-
80
Über begriffsgeschichtliche Aspekte, die die überlieferte Bedeutungsvielfalt des Begriffs aufzeigen, informieren Hofmann, Schräder bzw. Mitarbeiter der Redaktion in verschiedenen Abschnitten des Wörterbuchartikels „Norm" in Ritter (1984). Aus der Sicht der Psychologie unternimmt Korthals-Beyerlein (1979) eine ausführliche Explikation des Begriffs der sozialen Norm. Einen guten Einblick in das Bedeutungsspektrum des Begriffs in der Sozialwissenschaften vermitteln ihre kritischen Analysen gängiger Definitionen und Typologien (vgl. hierzu auch die Liste im Anhang des genannten Buches, 252ff.; sodann 67ff.); vgl. außerdem Korthals-Beyerlein (1981).
81
Von der hier vertretenen Auffassung wissenschaftlicher Handlungserklärungen weicht Korthals-Beyerlein allerdings erheblich ab, hält sie sich doch ganz an „das Schema der kausalen dispositionellen Erklärung. In erster Linie an den Erfordernissen dieses Erklärungsschemas (und damit insbesondere an der Forderung nach logischer Unabhängigkeit von Explanans und Explanandum) wollen wir die Explikation orientieren" (Korthals-Beyerlein, 1979, 51 f.).
82
Diese Position findet sich etwa im Stichwortartikel „Norm" in Buhr und Klaus (1979, 794).
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chen stehen, Ansprüchen also, die ein Sollen zum Ausdruck bringen. Bloße Häufigkeiten und Regelmäßigkeiten im menschlichen Handeln haben nicht unbedingt Bezug zu sozialen Normen. Handlungen, die in einer Gruppe oder Gesellschaft häufig oder immer wieder vollzogen werden, sind zunächst einmal allenfalls , f o r m a l " im alltagssprachlichen Sinne einer weitläufigen Verbreitetheit. Normen sind mit besonderen Geltungsansprüchen verbunden, nämlich mit Ansprüchen auf Richtigkeit, wie in Anlehnung an Habermas' (1981 I, 132ff.) dreigliedrige Differenzierung von Geltungsansprüchen in solche auf Wahrheit (im engeren Sinne), Richtigkeit und Wahrhaftigkeit gesagt werden kann. Normen als spezielle soziale Regeln menschlichen Sich-Verhaltens beinhalten einen wertbezogenen Sinn. Sie beziehen sich auf transindividuell relevante Fragen nach der richtigen Lebensführung. Sie regeln den praktischen Umgang von Personen mit sich selbst und den anderen. Fragen nach normativ begründungsfähigen Selbstpraktiken und sozialen Praktiken werden im Kontext ethisch-moralischer Diskurse erörtert. Ihre „öffentliche" Beantwortung liefert nicht zuletzt wesentliche Bestandteile der juristischen Kodifizierung von Normen und der darauf aufbauenden Rechtsprechung in bestehenden Gesellschaften. Häufig wird zwischen (übergeordneten) moralischen und (davon abgeleiteten) juristischen Normen unterschieden. Mit dieser Unterscheidung läßt sich jene ebenfalls gängige Differenzierung zwischen der Legitimität und Legalität von Normen in Verbindung bringen. Legitime Normen sind richtig im Sinne einer vernunftorientierten, ethisch-moralischen Argumentation, legal heißen dagegen die (unter Umständen nur) rechtmäßigen (nicht aber auch schon ohne weiteres moralischen) Normen. Moralische und juristische Normen werden bisweilen als praktische Normen verstanden und (vor allem) den technischen gegenübergestellt, so daß wir es mit Normen zu tun haben können, die im Sinne der aristotelischen Unterscheidung zwischen praxis und poiesis entweder das praktische oder poietische Handeln leiten können. 83 Zu betonen ist noch einmal: Normengemäßes Handeln ist nicht „normal" in dem Sinn, daß dieses Handeln vergleichsweise üblich bzw. durchschnittlich ist, und auch nicht „normiert" wie bestimmte Verhaltensweisen oder Dinge (so wie etwa Kleidungsstücke im Hinblick auf ihre Größe normiert sind). Wie im Falle des allgemeineren Ausdrucks „einer Regel folgen" heißt auch „einer sozialen Norm folgen" keineswegs schon
83
Stichwortartig benennt einige Unterschiede zwischen gesellschaftlich-sozialen Normen und technischen sowie strategischen Regeln Habermas (1984, 22). Die Unterschiede beziehen sich auf folgende Aspekte: sprachliche Mittel der Definition (intersubjektiv geteilte Umgangssprache versus kontextfreie Sprache), Elemente der Definition (reziprok verknüpfte, normative Vehaltenserwartungen versus bedingte Prognosen respektive bedingte Imperative), Mechanismen des Erwerbs (Internalisierung von Rollen versus Lernen von Fertigkeiten und Qualifikationen), Funktion des Handlungstyps (Aufrechterhaltung von Institutionen versus Problemlösung/Zielerreichung), Sanktionen bei Regelverletzung (Bestrafung aufgrund koventioneller Sanktionen, Scheitern an gesellschaftlicher Autorität versus Erfolglosigkeit, Scheitern an der Realität). In der Theorie des kommunikativen Handelns finden sich bekanntlich ähnliche, teilweise verfeinerte Differenzierungen.
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automatisch, daß von besonders verbreiteten Verhaltensweisen oder von so etwas wie der Uniformität oder Regelmäßigkeit des in einer Gruppe oder Gesellschaft gezeigten Sich-Verhaltens die Rede sein muß. 84 Soziale Normen haben einen präskriptiven Sinn. Sie geben nicht bloß an, wie etwas unter bestimmten Voraussetzungen und Zielsetzungen funktional und effektiv zu handhaben ist, sondern auch, daß bestimmte Handlungen (in bestimmten Situationen) vollzogen oder unterlassen werden sollen, um den Ansprüchen (bestimmter Personen) auf eine richtige Lebensführung gerecht zu werden. Selbstverständlich ist es nicht von vornherein ausgemacht, daß solche Richtigkeitsansprüche im Falle konkreter sozialer Normen mit vernünftigen Argumenten gerechtfertigt wurden oder gerechtfertigt werden könnten, falls danach verlangt wird. Nicht jede handlungsrelevante oder positiv geltende Norm ist auch schon legitim, nicht jede normverletzende Handlung illegitim. Der Geltungsanspruch, nicht die durch Vernunftgründe gestützte Geltung, ist wesentlich für den Begriff der sozialen Norm. Der Bezug zu Richtigkeitsansprüchen ist für Normen konstitutiv. Normen besagen, was die Angehörigen der Gruppe, Gesellschaft oder Kultur, in der eine Norm Geltung beansprucht, berechtigterweise voneinander erwarten dürfen und sollen. Korthals-Beyerleins nun aufzugreifende terminologische Unterscheidung zwischen Aufforderungsnormen einerseits, Bewertungsnormen andererseits, darf über diesen gemeinsamen Aspekt aller sozialer Normen bzw. allen normenregulierten Handelns nicht hinwegtäuschen. Der Bezug aller Normen zu Wertungen und Werten - und nicht nur der der sogenannten Bewertungsnormen - wird ja schon deutlich, wenn die Autorin Aufforderungsnormen als sanktionierte Verhaltensvorschriften begreift. Sanktionen, wie sie in der Billigung oder Mißbilligung eines fraglichen Sichverhaltens (und in weitergehenden Maßnahmen) Ausdruck finden, lassen sich nicht unabhängig von Werten oder Bewertungen explizieren. Aufforderungsnormen als sanktionierte Verhaltensvorschriften können ebenso Werte verkörpern wie jene Bewertungsnormen, welche definitionsgemäß sozial „geteilte Wertungen über die Akzeptierbarkeit, Richtigkeit und moralische Güte oder Notwendigkeit bestimmter Verhaltensweisen" (Korthals-Beyerlein, 1981, 329) zum Ausdruck bringen. Nonnen sind nicht unabhängig von Wertungen denkbar. „Unabhängig von Wertungen haben Normen überhaupt keinen Sinn", heißt es bei Riedel (1979, 98). In Normen erlangen Werte eine gewisse Verbindlichkeit und unmittelbare Handlungs- bzw. Interaktionsrelevanz.
84
Vgl. hierzu auch Habermas (1984, 14). Unplausibel ist allerdings, daß Habermas den Handlungsbegriff kategorisch an den Regelbegriff bindet, alles Handeln also als regelgeleitetes Handeln auffaßt. Am angegebenen Ort rücken im übrigen subjektive Intention und soziale Regel viel zu eng aneinander, wenn es heißt: „Dem Sinn der Regel entspricht die Intention eines Handelnden, der sein Verhalten an dieser orientiert. Nur dieses an Regeln orientierte Verhalten nennen wir Handeln; nur von Handlungen sagen wir, sie seien intentional." Auf der vorangegangenen Seite war bereits zu lesen: „Intentional nenne ich ein Verhalten, das durch Normen geleitet oder an Regeln orientiert ist."
4. Handlungstypologie
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Korthals-Beyerlein selbst hebt hervor, daß Werturteile auch bei Aufforderungsnormen eine Rolle spielen. Sie schreibt, nachdem sie den logischen Bezug von Sanktionen zu Werten bzw. Bewertungen hervorhob: „Insofern ist das Kriterium der Bewertung von Verhalten das Gemeinsame aller hier vorgeschlagenen Normexplikate. Diese Gemeinsamkeit zeigt die notwendige Verwandtschaft auf zwischen den beiden Begriffen (Aufforderungsnorm und Bewertungsnorm, J.S.), die als Explikate für jene Bedeutungsspielarten vorgeschlagen wurden, die alle mit dem Wort 'soziale Norm' bezeichnet werden" (KorthalsBeyerlein, 1979, 166). Umgekehrt läßt sich den Bewertungsnormen ein gewisser „Aufforderungscharakter" nicht gänzlich absprechen, wenngleich diesbezüglich die Direktheit und Verbindlichkeit fehlen, die die Aufforderungsnormen kennzeichnen. Ohne die soeben aufgezeigten Verwandtschaften in Abrede zu stellen, muß gleichwohl an zweierlei intensional verschiedenen Explikaten des Begriffs der sozialen Norm festgehalten werden. Betrachten wir uns diese Unterscheidung nun genauer. In einer knappen und zusammenfassenden Darstellung lassen sich Aufforderungsnormen und Bewertungsnormen folgendermaßen charakterisieren und voneinander abgrenzen:85 Von „Aufforderungsnormen" ist die Rede im Hinblick auf Vorschriften oder Aufforderungen zu einem bestimmten Sich-Verhalten in gewissen wiederkehrenden Situationen. Die Erfüllung oder Nichterfüllung dieser Aufforderung durch die Adressaten der Norm (Normempfanger) wird dabei mit Sanktionen belegt. Damit steht bei dieser Art von Normen der Aspekt der sozialen Verhaltenskontrolle im Vordergrund. Interne Differenzierungsmöglichkeiten liefern folgende, von Korthals-Beyerlein ausgearbeitete Unterbegriffe des Terminus „Aufforderungsnorm". Diese voneinander unabhängigen (und entsprechend frei kombinierbaren) Unterscheidungen setzen jeweils an bestimmten Aspekten des grundlegenden Explikats an. Aufforderungsnormen lassen sich also differenzieren
85
Eine subtile Entwicklung dieser Explikate findet sich in Korthals-Beyerlein (ebd., 92ff., 157ff.). Im folgenden referiere ich im wesentlichen, noch einmal etwas gekürzt, die ohnehin schon konzise Darstellung in Korthals-Beyerlein (1981, 328ff.). Angemerkt sei, daß die Autorin die gängige Definition von sozialer Norm als mehr oder minder generalisierte Verhaltenserwartung zwischen den Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft dem Explikat „Aufforderungsnorm" subsumiert, und zwar auch dann, wenn in diesen Definitionen der Gesichtspunkt der Sanktion nicht ausdrücklich berücksichtigt wird. Zu Recht liest die Autorin den Begriff der Verhaltenserwartung im angesprochenen Zusammenhang so, daß der zumindest implizite Bezug zu Sanktionen erkennbar wird. Spielt der Begriff der Erwartung dagegen auf so etwas wie „Idealnormen" an, kann Korthals-Beyerlein die entsprechenden Definitionen dem Explikat „Bewertungsnorm" zuordnen. Erwartungsbegriffe, die einen rein deskriptiven Sinn besitzen und sich etwa auf durchschnittliches oder modales Verhalten beziehen, verwirft die Autorin dagegen als ungeeignete Konzepte einer auch an Erklärungsleistungen interessierten Psychologie nonnenregulierten Verhaltens. Vgl. zu den genannten Aspekten die Ausfuhrungen auf den Seiten 143ff. Insgesamt bleibt es also dabei, daß die Explikate Aufforderungsnorm und Bewertungsnorm das Bedeutungsspektrum gängiger Definitionen des Begriffs der sozialen Norm abdecken und in eine terminologische Ordnung bringen können.
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(1) nach der Art der Sanktionierung: Korthals-Beyerlein unterscheidet Verbotsnormen von Gebotsnormen. Während die Verletzung (Nichterfüllung) einer Verbotsnorm negative Sanktionen nach sich zieht, ist für die Erfüllung einer Gebotsnorm eine positive Sanktion vorgesehen; (2) nach der Sicherheit der Sanktionierung: Im Fall von streng verbindlichen Aufforderungsnormen sind Sanktionen in jedem Fall vorgesehen, in anderen Fällen ist diese „subjektive Sicherheit der Vorhersage nicht gegeben" (Korthals-Beyerlein, 1981, 329); (3) nach dem Ausmaß der Sanktionierung: Dieses Kriterium, das ich Korthals-Beyerleins Aufzählung hinzufuge, ist freilich nicht objektiv bestimmbar. Gleichwohl scheint es mir unverzichtbar und zumindest in vielen Fällen auch ohne weiteres handhabbar. So läßt sich beispielsweise ein kurzer mißbilligender Blick von langwierigen und für den Betroffenen folgenreichen, jedenfalls also schwerwiegenderen Sanktionsformen leicht unterscheiden. Analoges gilt für positive Sanktionen; (4) nach der Bestimmung der Normempfanger: Generelle Aufforderungsnormen richten sich an alle Mitglieder jener Gruppe oder Gesellschaft oder Kultur, in der die Norm definiert ist, Rollenaufforderungsnormen nur an bestimmte Personen; (5) nach der Bestimmung der Normsender: Sogenannte Gruppen-Aufforderungsnormen werden von allen Mitgliedern der Gruppe oder Gesellschaft oder Kultur, in der die Norm Geltung beansprucht, definiert oder erlassen; dagegen übernimmt im Falle von Herrschafts-Aufforderungsnormen nur ein Teil der betroffenen Gruppe diese Aufgabe. Durch bestimmte Qualifizierungen und Kombinationen der angegebenen Aspekte lassen sich einige traditionelle Unterscheidungen rekonstruieren. Insbesondere in Abhängigkeit von der Bestimmung des Normempfängers sowie vom Grad der Normierung, d.h. je nach Sicherheit und Ausmaß der Obligation und Sanktion ist, wie Waldenfels (1985c, 136) knapp zusammenfaßt, häufig von folgenden Typen sozialer Normen die Rede:86 (1) Da ist zunächst der gewohnte Brauch oder, wie auch gesagt wird, die Konvention. Der Brauch unterscheidet Schickliches von Unschicklichem; besonders charakteristisch ist für diesen Typ sozialer Normen der vergleichsweise niedere Obligationsgrad und die Tatsache, daß die Befolgung bzw. Mißachtung
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Waidenfels unterscheidet allerdings nicht zwischen Aufforderungs- und Bewertungsnormen. Als weitere Differenzierungskriterien nennt er neben dem Grad der Normierung am angegebenen Ort auch noch Art und Grad der Verkörperung von Normen, womit unterschiedliche Habitualisierungsgrade gemeint sind, sowie verschiedene Materien der Normierung. Waidenfels' Überlegungen beziehen sich dabei primär auf die in der praktischen Philosophie der Gegenwart aktuelle, im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht interessierende Frage nach der Herkunft und Begründbarkeit von Normen. Methodisch am Programm einer genetischen Phänomenologie orientiert, formuliert er eine am Begriff des produktiven Handelns ansetzende Antwort, die er als Alternative zu den Versuchen Gadamers, Tugendhats, Lübbes und Habermas' versteht, in und aus der Spannung zwischen Subjektivität und Substantialität der praktischen Vernunft zu denken.
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von Bräuchen eher leichte Sanktionen nach sich zieht; die Sanktionssubjekte begnügen sich in diesem Fall mit bloßer Billigung oder Mißbilligung. (2) Eine gewisse Verwandtschaft mit dem soeben genannten Typ sozialer Normen unterhalten die vor allem durch stilistische Merkmale geprägten Handlungen. Solche Handlungsstile schillern, wie Waldenfels formuliert, stark ins Ästhetische hinüber. Beurteilungen, die sich auf einen Stil als sozialen Maßstab beziehen, unterscheiden das Geschmackvolle vom Geschmacklosen oder das Taktvolle vom Taktlosen im Handeln. Zu Recht weist Waldenfels (mit Bourdieu) daraufhin, daß auch die sich in unterschiedlichen Stilen artikulierenden „feinen Unterschiede" soziale Normen mit erheblichem Aufforderungscharakter darstellen können. Dabei braucht man keineswegs nur an die im engeren Sinne feinen Unterschiede zu denken, durch die sich traditionell etwa bestimmte Bevölkerungsschichten von anderen abgrenzen. Künstlerische Ausdrucksformen, aber auch die auf ästhetisch-stilistischer Ebene angesiedelten expressiven Protestformen (,Happenings", „Schweigekreise", „die-ins" etc.), wie sie durch die neuen sozialen Bewegungen hinlänglich bekannt geworden sind, illustrieren die normative Relevanz von Handlungsstilen ebenfalls schlagartig. Wo Stile soziale Normen zum Ausdruck bringen, verkörpern Anti-Stile soziale Provokationen. (3) Mit der Opposition von richtig und unrichtig im engeren Wortsinn operieren juristisch kodifizierte soziale Normen, also Rechtsnormen, sowie (4) Sittengesetze oder moralische Normen, deren Richtigkeitsansprüche diejenigen des positiven Rechts transzendieren. (Ich habe das Oppositionspaar ,gichtig-unrichtig" bislang auch allgemeiner verwandt. Dies bleibt auch im folgenden so, so daß von „richtig" und „unrichtig" immer dann die Rede sein kann, wenn es ganz allgemein um die normative oder normenbezogenen Beurteilung von Handlungen geht. Ebenfalls in allgemeinem Sinn mag von der Güte, dem Wert, der Angemessenheit oder dergleichen die Rede sein.) ,3ewertungsnormen" heißen bei Korthals-Beyerlein jene soziale Normen, die in den gemeinsamen Bewertungsstandards der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft gründen. Diese Bewertungsstandards sichern konsensuelle Urteile über die Richtigkeit (die Schicklichkeit, den Geschmack und Takt, kurz: die Akzeptabilität) eines Sich-Verhaltens. „Auch bei den 'sozialen Normen als gemeinsame Bewertungsstandards' geht es also", so Korthals-Beyerlein (1979, 157), „um Verhalten von Gruppenmitgliedern, jedoch sozusagen auf einer 'Metaebene'. Definitionskriterium ist nicht Übereinstimmung im Verhalten der Mitglieder, sondern Übereinstimmung in ihren Bewertungen bezüglich dieses Verhaltens." Konsensuelle Bewertungen eines Sich-Verhaltens in wiederkehrenden Situationen definieren eine Bewertungsnorm. Wiederum entwickelt Korthals-Beyerlein Vorschläge zur begrifflichen Binnendifferenzierung des Terminus „Bewertungsnorm". (1) Eine Bewertungsnorm kann absolut oder relativ sein. Absolute Werturteile qualifizieren ein Sich-Verhalten entweder als angemessen oder unangemessen, richtig oder falsch oder auch indifferent etc.; relative Werturteile erwägen Alternativen als mehr oder minder richtig oder falsch, sie führen zu Wertungen wie besser, schlechter oder auch gleichwertig; solche komparativen
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Wertungen (vgl. Riedel, 1979, 100) resultieren in Präferenzordnungen verschiedener Verhaltensweisen. (2) Eine Bewertungsnonn mag generell sein, sich also auf das Handeln aller Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft oder Kultur beziehen, oder sie mag eine Rollenbewertungsnorm sein, von der dann lediglich das SichVerhalten bestimmter Personen betroffen ist. (3) Falls es sich um eine absolute Bewertungsnorm handelt, kann diese positiv sein, was bedeutet, daß das übereinstimmende Urteil der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft oder Kultur ein Sich-Verhalten als richtig oder angemessen einstuft; eine negative (absolute) Bewertungsnorm dagegen verwirft ein bestimmtes Sich-Verhalten als unangebracht, schlecht oder dergleichen. Es ist wichtig zu sehen, daß Bewertungsnormen nicht mit Sanktionen verknüpft sind. Bewertungsnormen kommen beispielsweise in Aussagen zum Ausdruck wie: „es ist gut, nicht zu rauchen"; „es ist richtig, sich seinen Mitmenschen gegenüber höflich zu verhalten"; „Kirchgang am Sonntag ist eine prima Sache"; „es ist besser, einmal jährlich Spenden an Notleidende zu entrichten als gar nie"; „Tanzen gehen ist besser als ein Kinobesuch, letzteres besser als ein Aufenthalt in der Kneipe"; „es ist besser, daß sich Väter einmal die Woche mit ihren Kindern beschäftigen als gar nicht"; abschließend noch einmal ein Beispiel für eine Bewertungsnorm, die auf ein absolutes und generelles Werturteil Bezug nimmt: „es ist gut, der Aufführung eines von Schönberg komponierten Streichquartettes beizuwohnen und der Darbietung mit Aufmerksamkeit zu folgen". In aller Kürze sei wenigstens erwähnt, daß Bewertungsnormen auch auf sogenannte „starke Wertungen" bezogen sein können, wodurch Handlungsanalysen noch einmal komplizierter werden können. „Starke" Wertungen beziehen sich, wie Taylor (1988, 9-27; 1985, 65ff.) darlegt, nicht a u f w e i s e n des SichVerhaltens der angegebenen Art, sondern: auf Wertungen (oder Wünsche). Es zeichnet den Menschen aus, daß er auch noch zu Werturteilen oder Wünschen Stellung nehmen kann. Um das zuletzt angeführte Beispiel aufzugreifen: „es ist richtig, das Anhören Schönbergscher Kammermusik als wertvoll zu beurteilen". Es mag dann Personen geben, die in den Konzertsaal gehen, weil sie eine solche starke Wertung teilen - obwohl sie an der dort gebotenen Musik vielleicht gar keinen rechten Gefallen finden können, ja, sie womöglich nur schwer ertragen. Der Konzertbesuch einer solchen Person wäre dann geleitet von einer starken Wertung („Ich wäre gerne jemand, dem das Anhören Schönbergscher Musik gefallt") sowie den daraus resultierende Bewertungsnormen und „Aufforderungen", die die Person befolgt, obwohl sie weiß (oder ahnt), daß ihr das Konzert schwerlich sinnlichen Genuß bereiten wird. Läßt man der Einfachheit halber den Fall der mit starken Werten verknüpften Bewertungsnormen beiseite, kann gesagt werden: Die oben angeführten Beispielsätze bringen bestimmte Werturteile über Weisen des Sich-Verhaltens zum Ausdruck; sie stellen keine sozial sanktionierten Forderungen dar. Dies markiert den wohl zentralen Unterschied zwischen den beiden Grundtypen sozialer Normen. Im einzelnen ließen sich weitere Unterscheidungsmerkmale
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benennen. Schon die Art der Bewertung von Handlungen, um die es bei den beiden Begriffen geht, ist in der Tat grundverschieden: , 3 e i der Bewertungsnorm wird dieses Werturteil als theoretischer Terminus verstanden, der sich auf die 'wahren' Überzeugungen der Gruppenmitglieder bezieht, d.h. auf die Bewertungen, die sie abgeben würden, wenn sie sagten, was sie dächten. Die Verhaltensbewertung, um die es bei der Sanktionsexplikation geht, ist dagegen anderer, offiziellerer Art: der absichtliche Ausdruck der Billigung oder Mißbilligung eines Verhaltens braucht sich nicht mit der wahren Bewertung dieses Verhaltens zu decken, er kann sogar ausgesprochen gegen diese eigene Überzeugung gerichtet sein" (Korthals-Beyerlein, 1979, 166). Bei sanktionsgebundenen Normen tritt auch im Hinblick auf den Bewertungsaspekt der Zwangscharakter dieser Normen wiederum klar hervor. Dem entspricht die verbreitete Rede vom „Druck", den gerade sanktionierte Aufforderungsnormen auf Akteure auszuüben vermögen. Weiterhin führt Korthals-Beyerlein zur Unterscheidung zwischen (absoluten) Bewertungsnormen und Aufforderungsnormen das Merkmal „der geforderten bzw. nicht geforderten Übereinstimmung zwischen allen Gruppen- oder Gesellschaftsmitgliedern" an sowie die Tatsache, daß im Falle von Aufforderungsnormen von den Normadressaten logischerweise und praktisch zwingend eine Verhaltensaufforderung wahrgenommen wird, im Falle von Bewertungsnormen dagegen nicht: Eine Handlung positiv zu bewerten, ist nicht schon dasselbe wie zu dieser Handlung aufzufordern. Analoges gilt für negative Bewertungen und geforderte Unterlassungen. Toleranz waltet übrigens dort, wo Handlungen anderer Personen zugelassen werden, obwohl man sie selbst negativ bewertet, und wo Handlungen, die man selbst positiv bewertet, von Personen, die andere Bewertungsnonnen teilen, nicht gefordert oder erwartet werden. Natürlich können die Bewertungsnormen für diejenigen, die sie miteinander teilen, zur Richtschnur ihres Handelns werden. Bewertungsnormen bzw. - wie häufig einfach gesagt wird Werte können zumindest mittelbar einen Aufforderungscharakter annehmen. Darin besteht die Brücke zwischen Norm- und Wertbegriff (wobei „Wert" ein Synonym für ,3ewertungsnorm" ist. Wenn im folgenden von wertegeleiteten Handlungen gesprochen wird, sind „Werte" also Bewertungsnormen im explizierten Sinn.) Handlungen können nicht zuletzt als situationsspezifische, aktionale Konkretisierungen von Werturteilen bzw. von jenen Aufforderungen, die gewisse Werte aus der Sicht des Akteurs nahelegen, begriffen werden. Zwischen den Begriffen „Wert" und „Norm" besteht eine enge Verwandtschaft. Der Terminus „Bewertungsnorm" zeigt das an. Er hat meines Erachtens nicht zuletzt den Vorzug, daß er einerseits eine Beziehung zum möglichen, indirekten und flexiblen Aufforderungscharakter von Wertungen unterhält, ohne andererseits den Kern der gängigen Unterscheidung zwischen Weiten und Normen aus den Augen zu verlieren. Bewertungsnormen oder Werte besagen, „wie etwas sein soll, sein kann oder nicht sein soll" (Riedel, 1979, 97),87
87
Auf Riedels Abhandlung beziehe ich mich selektiv. Riedels philosophische Erörterungen
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ohne daß damit unmittelbare (personale) Aufforderungen verknüpft wären. Sie regeln das Handeln also nicht so direkt wie Aufforderungsnormen. Normative Aussagen (im engeren Sinn) sind entsprechend von valorativen zu unterscheiden. Riedel verdeutlicht dies, indem er nicht nur auf den personenbezogenen Aufforderungscharakter von Aufforderungsnormen, sondern auch auf deren „futurische" Bedeutung abhebt. Aufforderungsnormen beziehen sich, im Unterschied zu Werten oder Bewertungsnonnen, stets auf künftiges Handeln. Sätze wie „Wissenschaftler der Vergangenheit hätten vorurteilslos sein sollen" formulieren demgegenüber keine Aufforderungsnorm, sondern eine Bewertungsnorm, sie bringen einen Wert zum Ausdruck. Riedel, von dem das Beispiel stammt, sagt von einem Menschen, der in der angegebenen Weise spricht: „Er gibt aber damit nicht mehr eine Norm (Aufforderungsnorm, J.S.), sondern eine Wertung an, oder genauer: einen Wunsch, da es wenig Sinn hat, den erst in der Moderne aufkommenden Wertvorzug der Vorurteilslosigkeit auf die Vergangenheit zu übertragen. Ähnlich verhält es sich mit Sätzen wie: 'Autos sollen benzinsparend sein' oder 'Uhren sollen genau gehen', die Werte, aber keine Normen darstellen" (Riedel, 1979, 99). Die fundierende Funktion von Werten oder Bewertungsnormen liegt auf der Hand. Sie bilden die Basis von Aufforderungsnormen. In diesem Sinn begründen und rechtfertigen Werte, Bewertungsnormen bzw. die ihnen impliziten Wertungen bestimmte Aufforderungsnormen, auch wenn eine konkrete (Aufforderungs-) „Norm aus ihr (der Wertung, J.S.) nicht logisch ableitbar ist" (ebd., 98). Unter einer Wertung kann mit Riedel „der Inbegriff der vorsprachlich fundierten Akte verstanden werden, die Elemente kommunikativer Ordnungen entweder vorziehen oder verwerfen. Wir finden z.B. eine Institution 'nützlich' oder 'schlecht', eine Norm 'gerecht' oder 'ungerecht', eine Handlung 'gut' oder 'böse'" (ebd., 100). Als Erzeuger und Träger der Werte bezeichnet Riedel „die kommunikativen Ordnungen, die als personal und sozial wertvoll anerkannt und praktisch fortgestaltet sein wollen. Werte kommen nicht unabhängig von solchen immer schon geschichtlich bestimmten Ordnungen des Miteinanderlebens vor. Es 'gibt' keine Werte an sich, sondern Werte für uns, die wir, inmitten kommunikativer Ordnungen lebend, nach 'gut' und 'böse' urteilen" (ebd., 99).88 Bewertungsnormen bilden den gemeinsamen Urteilsrahmen einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur, einen Rahmen, der die selbstverständlichen Voraussetzungen kommunikativer Verständigung und allen Handelns absteckt.
behandeln drei Begriindungstypen der Ethik und zielen schließlich vor allem auf eine „Hermeneutik der Wertung". Dies bleibt im folgenden außen vor. Auch Riedels Begriffsbestimmungen werden nicht vollständig übernommen. 88
Daß Riedel gänzlich verneint, daß Personen oder eine Personenmehrheit, etwa eine Generation oder die Gesellschaft „als generativ wechselnder Verband" als aktive Erzeuger oder Träger von Werten in Betracht kommen, kann hier dahingestellt bleiben. Daß Werte Bestandteil von geschichtlich bestimmten Ordnungen sind, nickt diese nach der hier vertretenen Auffassung zwar in einen gewissen Abstand vom Handeln aller „konkreten" Personen oder Personenmehrheiten, nicht aber in völlig unerreichbare Ferne.
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Damit verbunden ist ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Bewertungs- und Aufforderungsnormen: die durch letztere geforderten Handlungen kann der Normempfanger zurückweisen, er befindet sich in diesem Fall stets in einer subjektiven Wahlsituation. Wer dagegen Bewertungsnormen folgt, tut dies häufig, ohne eine Alternative ernsthaft auch nur sehen zu können: Die Werturteile, die eine Person veranlassen, ein Sich-Verhalten als positiv oder negativ zu beurteilen, können ihr derartig selbstverständlich erscheinen, daß die bloße „Frage eines Forschers nach der Bewertung dieses Verhaltens Überraschung, Erheiterung oder Bestürzung hervorruft, weil durch sie etwas außerhalb jeder Überlegung Stehendes zur Diskussion gestellt wird" (Korthals-Beyerlein, 1979, 168). Werte gehören, mit anderen Worten, zu den Konstituenten einer Person, sie sind im Zentrum ihrer Identität angesiedelt (vgl. Straub, 1996b). Mit den erläuterten Explikaten des Begriffs der sozialen Norm werden die in sozialwissenschaftlichen Diskursen gängigen Bedeutungsaspekte dieses Konstrukts abgedeckt. Diese Explikate sollten ein differenziertes Verständnis davon vermittelt haben, was es heißt, daß Personen handelnd Normen folgen. Wie im allgemeineren Fall des Regelfolgens ist keineswegs davon auszugehen, daß dies immer bewußt geschieht. Akteure können häufig nicht ohne weiteres angeben, welche Normen für sie handlungsleitend sind. Dies entspricht den theoretischen und methodologischen Grundsätzen der hier vertretenen Handlungspsychologie, die ja prinzipiell davon ausgeht, daß sich handlungsleitendes „Wissen" zwar im sprachlichen und nicht-sprachlichen Handeln „dokumentiert", der Ausdruck, den es dabei annimmt, aber nicht unbedingt diskursiver Art sein muß. Handlungsleitendes Wissen ist zu einem guten Teil implizit. Nur manchmal sind die Handelnden in der Lage, die Regeln oder Normen, die sie handelnd befolgen, auf entsprechende Anfragen hin direkt und vollständig zur Sprache zu bringen.89 Insofern die empirische Psychologie am Individuum und dessen Selbstthematisierungen ansetzt, begegnen ihr Normen häufig als sprachlicher oder aktionaler Ausdruck vorgängiger psychischer Internalisierungen. Als psychische Instanzen, in der internalisierte Normen „lokalisiert" sind, gelten traditionell das Gewissen oder, in der Terminologie der Psychoanalyse gesprochen, das Über-Ich. Dieser metaphorische Aufenthaltsort von Gewissensinhalten und Ich-
89
Korthals-Beyerleins Ansatz unterscheidet sich in diesem Punkt übrigens erheblich von der hier vertretenen Auffassung. Nach ihren Vorstellungen, die in einem meines Erachtens einseitig kognitivistischen, rationalistischen Menschenbild gründen, finden wir zu handlungsleitenden Konstrukten wie sozialen Normen auf dem Weg einer gleichsam direkten Befragung der Akteure Zugang. Eine solche Methode ist gewiß nicht ganz aussichtslos, ihr sind erfahrungsgemäß jedoch deutliche Grenzen gesetzt. Ein zusätzliches Problem stellt die von Korthals-Beyerlein anvisierte Sprachgebrauchsnormierung dar. Vgl. zum Problem der empirischen Erfassung sozialer Normen Korthals-Beyerlein (1979, 173ff.). Insbesondere die Ausführungen auf den Seiten 191 ff. vermitteln einen guten Eindruck von der Umständlichkeit und Fragwürdigkeit des Ansinnens, soziale Normen mit dem (vermeintlich) von allen Unklarheiten gereinigten Vokabular psychologischer Handlungstheorien durch direktes Befragen der Interviewpartner erfassen zu wollen.
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I. Handlung
Idealen ist in Freuds topographischem Instanzenmodell der psychische Ort der Vermittlung und Repräsentation sozialer Normen (Freud, 1972b, 256ff.). Die unbewußten Allteile des Über-Ich liefern eine theoretische Begriindungsmöglichkeit für die Behauptung, daß handlungsleitende Normen für den Akteur nicht ohne weiteres diskursivierbar sind: Er folgt ihnen gleichsam blind. Nicht auf Anhieb diskursivierbare Bestimmungsgründe des Handelns können außerdem dem Vorbewußten zugeordnet werden (Freud, 1973a, 546). Das Über-Ich besteht ja nicht nur aus dynamisch-unbewußten, sondern auch aus vorbewußten (und schließlich aus bewußten) Anteilen. Vorbewußt mögen etwa solche soziale Normen sein, die Menschen empraktisch gelernt und als Leitfaden ihres Handelns übernommen haben. Sie wurden vielleicht kaum einmal explizit als soziale Handlungsregeln formuliert und bildeten bald schon einen nie hinterfragten, selbstverständlichen und stillschweigenden Bestandteil der personalen Identität. Natürlich lassen sich solche Ergebnisse der biographischen Sozialisation und Enkulturation auch außerhalb des psychoanalytischen Theorierahmens formulieren. Wenn Instanzen wie das psychoanalytische „Über-Ich" bzw. das „Me" der Subjekttheorie von George H. Mead 90 als Resultate der Internalisierung sozialer Praktiken und Strukturen und des damit vewobenen praktischen Wissens aufgefaßt werden, läßt sich sagen: Der Begriff normengeleiteten Handelns stellt den Akteur in einen sozialen Bezugsrahmen, in eine mit anderen geteilte soziale Welt. Diese Welt ist eben nicht zuletzt durch (teilweise kodifizierte und fixierte) Normen definiert. Diese legen fest, „welche Interaktionen zur Gesamtheit berechtigter interpersonaler Beziehungen gehören" (Habermas, 1981 I, 132), oder sie legen nahe, was auf der Grundlage geteilter Werturteile begrüßt und getan und was lieber gelassen werden sollte. Berücksichtigt man, daß nicht nur Interaktionen oder interpersonale Beziehungen normativ geregelt werden (können), sondern Handlungen schlechthin, ist es evident, daß soziale Normen auch den Bereich jener Handlungen festlegen oder wertend abstecken, die ein Individuum in Einsamkeit und ohne erkennbare Folgen für andere vollzieht. Auch der Umgang einer Person mit sich selbst kann valorativ und normativ geregelt werden. Bekanntlich können Kulturen, Gesellschaften oder Gruppen schon bestimmte Gedanken verpönen, auch wenn diese für soziale Interaktionen oder interpersonale Beziehungen irrelevant bleiben, zumindest nicht unmittelbar von Bedeutung sind. Nicht in jeder von Menschen behausten Welt sind die Gedanken frei. Gemeinsam mit den sozialen Normen werden auch andere Aspekte sozialer Wirklichkeit intemalisiert. Noch einmal in psychoanalytischer Terminologie: Zur Funktion des Über-Ichs gehört nicht nur die Repräsentation und Durchsetzung sozialer Normen im Kräftespiel zwischen Es, Ich und Über-Ich, sondern auch eine Überwachungs- und Bestrafungsfunktion. Die gebräuchliche
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Diese Begriffe bezeichnen allerdings Unterschiedliches, was übrigens so sein muß, da sie Bestandteile von stark divergierenden Konzeptualisierungen des Psychischen sind. Habermas' (1981 II, 152) Gleichsetzung psychoanalytischer Begriffe mit Meads subjekttheoretischen Termini (Es = I, Ich = Seif, Über-Ich = Me) ist eine problematische Vereinfachung.
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Rede von „Gewissensbissen" hat nicht nur in diese, sondern in viele psychologischen Theorien des Gewissens Eingang gefunden. So können im Falle der Befolgung oder Verletzung von Aufforderungsnormen die hierfür wesentlichen Sanktionen auch als innerpsychisch kontrollierte Maßnahmen erfolgen. Selbstbelohnungen und Gefühle des Stolzes auf der einen, Selbstbestrafüngshandlungen, Selbsterniedrigungen und Gefühle der Scham auf der anderen Seite liefern Zeugnisse hierfür. Am Ende der theoretischen Begriffsklärungen angelangt, soll wieder ein Schema der Handlungserklärung präsentiert werden. Da soziale Normen als spezielle Regeln aufgefaßt wurden, genügt ein allgemeines Schema zur Erklärung regelgeleiteten Handelns. Auf einige Spezifikationen wird anschließend hingewiesen. In der ersten Hälfte des Schemas sind wiederum die Prämissen bzw. das Explanans angegeben, in der zweiten die Konklusion bzw. das Explanandum.
P, P2 P3
Akteur A gehört zur Teilmenge Ego der Gruppe oder Gesellschaft G. Akteur A befindet sich zum Zeitpunkt t in einer Situation der Klasse s. In G besteht die Regel r, die besagt, daß Ego in Situationen der Klasse s Handlungen der Klasse a ausführen (unterlassen) kann oder soll.
K
Akteur A vollzieht (unterläßt) eine Handlung der Klasse a (in einer Situation der Klasse s zum Zeitpunkt t).
Abb. 6: Erklären durch Bezugnahme auf handlungsleitende Regeln
Indem Akteur A die Handlung a vollzieht (oder unterläßt), folgt er der Regel r. Der Verweis auf dieses Regelfolgen, d.h.: die begrifflich-interpretative Verknüpfung von a (in s) mit r erklärt die Handlung a. Diese wird damit als regelgeleitetes Handeln ausgewiesen; a wird einer bestimmten Sorte regelgeleiteten Handelns zugeordnet. Das angeführte Schema läßt sich für die Erklärung aller möglichen regelgeleiteten Handlungen verwenden. Wenn die betreffenden Regeln soziale Normen darstellen, finden sich in Handlungserklärungen an der Position von r in P3 konkrete Aufforderungs- oder Bewertungsnormen, die ein sozial verankertes Sollen (bzw. Urteil) zum Ausdruck bringen. Wichtig ist, daß auch in diesem Schema die vom Interpreten konstruierte Verbindung zwischen den Prämissen und der Konklusion begrifflicher Art ist. Ebenso wie im teleologischen Modell die erklärungsbedürftigen zielgerichteten Handlungen nicht logisch unabhängig von den Intentionen (und dem Wissen) des Akteurs beschrieben werden können, so lassen sich auch regelgeleitete Handlungen nicht unabhängig von den im konkreten Fall verbindlichen Regeln angemessen erfassen. Erklärungen bestehen hier wie dort in der interpretativen Konstruktion eines intelligiblen Verweisungszusammenhangs. Ohne daß gesagt würde, daß solche Erklärungen keinesfalls mit gesetzesartig strukturiertem Wis-
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I. Handlung
sen operieren dürften, ist der entscheidende Punkt, daß die Erklärung jedenfalls nicht in der Subsumtion des Explanandums unter ein empirisches Gesetz besteht. Im Gegensatz zur Auffassung von Korthals-Beyerlein (1979, 226ff.) soll bei der Erklärung regelgeleiteten Handelns die Verknüpfung der Prämissen (Antecedensbedingungen, Explanans) mit der Konklusion (Succedens, Explanandum) nicht als ein deduktiv-nomologischer Schluß begriffen werden, der erst durch ein empirisches Gesetz möglich wird.91 Regeln fungieren im hier vorgestellten Modell nicht als empirische Gesetze (die Gesetz- oder Regelmäßigkeiten menschlichen Sich-Verhaltens angeben), sondern als Bestimmungsgründe des Handelns, als bedingte Aufforderungen, die Situationen der Klasse s mit Handlungen des Typs a verknüpfen. Diese Verknüpfung ist im Zuge der explanativen Analyse regelgeleiteten Handelns nur durch hermeneutisch-interpretative Akte zu bewerkstelligen. Die skizzierte Erklärungsform ist offenkundig anderer Art als die teleologische. Handlungen werden im Lichte des Modells regelgeleiteten Handelns nicht ausgeführt (oder unterlassen), um etwas herbeizuführen. Es mag natürlich sein, daß in manchen Fällen eine Regel befolgt wird, damit dieser Regel Genüge getan ist (und dies mag weiterhin etwa den subjektiv intendierten Zweck haben, in den Genuß einer positiven Sanktion zu gelangen oder negative Sanktionen zu vermeiden). Falls derartige Zielsetzungen das Wesentliche an der betreffenden Handlung ausmachen, sind teleologische Erklärungen angezeigt. Durch eine voreilige Generalisierung der Möglichkeit einer derartigen „Überführung" des regelbezogenen Handlungs- und Erklärungsmodells in das teleologische Schema würde freilich der entscheidende Punkt der Sache verfehlt. Wie gesagt: Es geht nicht darum zu behaupten, daß es Fälle wie die soeben erwähnten nicht geben könne. Auch ist unbestritten, daß Erklärungen nach dem Modell regelgeleiteten Handelns unter Umständen durch teleologische Handlungserklärungen mit Gewinn ergänzt werden können. (Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall.) Regelbezogene Handlungserklärungen liefern ja noch keine Antworten auf warum-Fragen im strengen Sinn; sie (er)klären, daß ein Akteur diese spezifische Handlung ausführte und sie erklären, wie es möglich war, daß er die besagte Handlung vollzog. Ein Schachspieler, der einen korrekten Zug im
91
Am soeben angegebenen Ort paßt die Autorin ihr Erklärungsschema auch den unterschiedenen Typen von sozialen Normen an. Selbstverständlich ist, daß die empirischen Gesetzesaussagen im dispositionellen Erklärungsschema bei Korthals-Beyerlein keine Gesetzmäßigkeiten artikulieren, die „mit Notwendigkeit im naturgesetzlichen Sinne gelten sollten, sondern als faktisch auftretende Regelmäßigkeiten, die durchaus der Entscheidung der Gruppenmitglieder unterworfen sein sollen" (Korthals-Beyerlein, 1979, 230). Interessant ist außerdem, daß auch Korthals-Beyerlein die von ihr bevorzugte „(kausale) dispositionelle Erklärung" nicht als einzige Möglichkeit der Erklärung regel- bzw. normengeleiteten Sich-Verhaltens betrachtet. So prüft die Autorin Fälle, in denen das Schema der dispositionellen Erklärung in eine zweckrationale Erklärung überfuhrt werden kann oder muß - und zwar auch in eine solche nach dem teleologischen Modell von Wrights, womit dann der Weg kausaler Erklärungen verlassen wäre. Hierzu könnten, wie die Autorin sagt, forschungspraktische Umstände leicht zwingen (ebd., 232f.).
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Spiel hinter sich gebracht hat, mag damit einen bestimmen Zweck verfolgen (das Spiel zu gewinnen oder es interessant zu machen etc.). Daß die Handlung des Akteurs ein korrekter Zug in einem Schachspiel ist (und nicht etwa ein bloßes „Verrücken einer Holzfigur"), sagt allerdings keinerlei Rekurs auf Zwecke. Die Handlung erhält ihre Identität durch die sie bestimmende Regel, durch die sie bisweilen überhaupt erst möglich wird. In diesem Nachweis, wie eine Handlung der Klasse a möglich (geworden) ist und wodurch sie ihre spezifische Qualität erhält, kann eine (häufig völlig ausreichende) Erklärungsleistung gesehen werden, die die Eigenständigkeit des regelbezogenen Modells unter Beweis stellt. Alternative Erklärungsformen stellen keine direkten Konkurrenten füreinander dar. Sie tragen vielmehr komplementär zur explanativen Analyse verschiedener Aspekte, unter denen bestimmte Handlungen gesehen werden können, bei. Es gibt Fälle von Handlungen, zu deren Erklärung die Anwendung des teleologischen Schemas wenig bis nichts beiträgt (und auch gar nicht erforderlich scheint). Bestimmte Institutionen bzw. Regeln vorausgesetzt, genügt es dann völlig, sie via interpretatione in einen durch die betreffenden Regeln konstituierten oder bestimmten sozialen Sinnzusammenhang zu rücken. Mit der Tatsache, daß Sinnzusammenhänge nicht allein durch Regeln konstituiert sein können, hängt es zusammen, daß eine Typologie eigenständiger Formen der Handlungserklärung auch am nun erreichten Punkt nicht abgeschlossen ist.
4.3.5 Das narrative Modell Handeln als Geschichte, Handeln in Geschichten In der bislang ausgearbeiteten Typologie finden weder die Geschichtlichkeit noch die Kreativität des Handelns Beachtung. Die folgenden Überlegungen sollen dieses Defizit wettmachen. Die Geschichtlichkeit und Kreativität des Handelns verweisen auf Grenzen aller rationalistischen Handlungsmodelle. Diese beiden Begriffe artikulieren, wie kaum andere sonst, das (teilweise spezifisch) moderne Kontingenzbewußtsein. Erfahrung ist zu einem guten Teil Erfahrung von Kontingenz.' 2 An diesem Kontingenzbewußtsein kommt auch eine zeitgemäße Handlungstheorie nicht vorbei. Geschichtlichkeit und Kreativität gehören zur inneren Struktur oder „Logik" des Handelns. Sie kommen nicht von außen zu diesem hinzu. Beschreibungen, Analysen und Erklärungen von Handlungen haben das in Rechnung zu stellen. Wie im folgenden dargelegt wird, zeigt der Begriff der Geschichtlichkeit vornehmlich Kontingenzerfahrungen an, die mit der Kontingenz der Welt, in der Handlungen vollzogen werden, zu tun haben, der Begriff der Kreativität dagegen die interne strukturelle Kon-
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Aus der Vielzahl möglicher Zeugnisse und analytischer Beiträge sei lediglich eine einzige Studie herausgegriffen, die, am Leitfaden der Kontingenzproblematik orientiert, auf Walter Benjamins Denken gerichtet ist: siehe Makropoulos (1989).
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tingenz von Handlungen selbst. Letzteres kann als Handlungskontingenz im engeren Sinn bezeichnet werden. Unter der Geschichtlichkeit des Handelns möchte ich zweierlei verstehen. Zum einen wird mit diesem Begriff das konkrete Handeln als eine Geschichte aufgefaßt. Eine als Geschichte ausgeschriebene bzw. erzählte Handlung wird just durch diese narrative Konstitutionsleistung als diese oder jene, qualitativ bestimmte Handlung präsentiert. Bisweilen sind Handlungen nur als Geschichten angemessen faßbar. Ist dies der Fall, hat man es mit temporal komplexen Handlungen zu tun. Deren Repräsentation erfordert eine Erzählung. Zum anderen ist mit der „Geschichtlichkeit" des Handelns gemeint, daß Handlungen prinzipiell in Geschichte(n) eingebunden sind. Handlungen sind Bestandteile einer umfassenderen Geschichte. Geschichten bilden den diachronen Rahmen von Handlungen, ihren temporalen Kontext. Durch diese Betrachtungsweise wird der Blick auf die synchrone Situiertheit des Handelns ergänzt. Akteure sind in Geschichten verstrickte Personen (Schapp, 1953, 1981).93 Sie handeln immer schon im temporalen Kontext der Historie und Biographie und beinahe zahlloser Geschichten, die der tagtäglichen Praxis ihre narrative Struktur verleihen. Im folgenden wird genauer untersucht, was es heißt, Handlungen als Geschichten und in Geschichten eingebettet aufzufassen, und warum diese Auffassung zu einer Verknüpfung von Handlungstheorie und Erzähltheorie fuhrt. Akzentuierend läßt sich vorab sagen: Eine Handlung als Geschichte zur Sprache zu bringen bedeutet, eine bestimmte Form der Beschreibung des Handelns zu favorisieren. Handlungen als integrativen Bestandteil einer Geschichte zu artikulieren heißt, dieses Handeln zu erklären, indem es mit geschichtlich-temporalen Bestimmungsgründen in Zusammenhang gebracht wird. Solche Bestimmungsgründe sind weder im teleologischen noch im regelbezogenen Modell der Handlungserklärung unterzubringen. Die analytische Trennung der genannten Aspekte mag etwas künstlich erscheinen. Dies um so mehr, als erkennbar wird, daß das Anliegen, Handlungen als Geschichten darzustellen, nicht zu verwirklichen ist, ohne auch die Geschichte(n) zu erzählen, in die das fragliche Handeln eingebettet ist. Damit berühren sich die von mir nacheinander bearbeiteten Problemkreise der Beschreibung und der Erklärung von temporal strukturierten Handlungen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die angemessene Form der Beschreibung und Erklärung „temporalisierter" Handlungen generell eine Erzählung ist. Wer Geschichtlichkeit als Zeitlichkeit begreift und diese als wesentliches Attribut von Handlungen, muß Geschichten erzählen, wenn er Handlungen triftig beschreiben und erklären möchte. Auf das narrative Modell kann die Handlungspsychologie nicht verzichten.94
93
Auf Schapps Ontologie oder Anthropologie beziehen sich heute mehrere Ansätze in den empirischen Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften, so etwa Laucken (1989), Straub (1989, 134), Vonderach (1993), Vonderach, Siebers und Barr (1992).
94
Vor etwa einem Jahrzehnt plädierte ich für eine erzähltheoretisch fundierte Biographieforschung, neuerdings auch für eine narrative Psychologie des Geschichtsbewußtseins und ande-
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Resümiert man die in Philosophie und Wissenschaften gängigen theoretischen Handlungsbegriffe, so lassen sich drei Auffassungen und Forschungsstrategien unterscheiden (und auf einen maßgeblichen philosophischen Repräsentanten zurückfuhren; Waidenfels, 1990d, 88ff.): Das Handeln ist entweder in eine teleologische (Aristoteles) oder in eine normative (Kant) oder in eine faktische Ordnung (Hume) eingelassen. Entsprechend ist das Handeln entweder auf Ziele und Zwecke (oder Werte),95 Regeln und Normen oder aber auf Kausalgesetze „bezogen", von diesen abhängig und auf die eine oder andere Weise bestimmt. Handeln innerhalb der genannten Ordnungen erscheint damit als Weg zum Ziel, als Fall einer (praktischen) Regel oder als Wirkung einer Ursache. Die kausalistische Ansicht wurde in der vorliegenden Arbeit dezidiert zurückgewiesen. Die anderen beiden Betrachtungsweisen lieferten Leitlinien auch für meine Typenbildung. Mit der Lokalisierung des Handelns in einer der drei genannten Ordnungen sind zunächst einmal je spezifische Formen der Darstellung oder Beschreibung von Handlungen verknüpft. Wie Schwemmer darlegt, sind alle diese Formen reduktionistisch. Die Handlungsdarstellung besteht in allen drei Fällen lediglich in einer Art Abkürzung, die sich allenfalls als ein relativ abstrakter Hinweis auf dieses Handeln lesen läßt. Das konkrete Handeln selbst verblaßt in solchen hinweisartigen Darstellungen. Das auch in der Handlungspsychologie meistens vorrangige Ziel der (subsumtionstheoretischen) Erklärung (und Prognose) von Handlungen führt bekanntlich sehr häufig zu einer Marginalisierung der Beschreibungsaufgabe, so daß schließlich nur noch die von Schwemmer beanstandeten Schwundformen der „hinweisenden", bloß „funktionalen" Handlungsdarstellung übrigbleiben.'6
rer Modi historischer Sinnbildung (Straub, 1989, 1993b, 1998b, 1999b). Die wichtigste Begründung dieses Plädoyers bildete stets eine zeittheoretische Argumentation, wie sie insbesondere Ricceur (1988) entfaltet hat. Selbstverständlich wird dieses Votum durch eine Vielzahl weiterer Argumente gestützt, wovon sich viele dem bunten Feld der „narrativen Psychologie" entnehmen lassen (Sarbin, 1985). Setzt man beim temporalen, geschichtlichen Charakter des Handelns an, erscheint es geradezu zwingend, auch die Handlungspsychologie partiell als narrative Psychologie auszulegen. 95
Werte rücken häufig auf die Seite des teleologischen Modells; sie sind dann handlungsleitenden Zielen funktional äquivalent. Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn, wie in der vorliegenden Arbeit geschehen, Werte als Bewertungsnormen expliziert und nicht zuletzt als Grundlagen oder Kandidaten für Aufforderungsnormen betrachtet werden (was selbstverständlich nicht heißt, daß Werte nicht auch die Art und Wahl von Zielen und dergleichen bestimmen könnten).
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Der Ruf nach einer Rehabilitierung der Kunst des Beschreibens ist auch in der Psychologie nicht ausgeblieben. Insbesondere in der Ethnologie und Kulturanthropologie steht dieses Thema seit geraumer Zeit im Zentrum der theoretischen und methodologischen Diskussion. Geertz' (1987a) Formel der thick description ist das berühmt gewordene Beispiel. Eine Übersicht über die Diskussionslage in den zuletzt genannten Disziplinen bietet der von Berg und Fuchs (1993) herausgegebene Sammelband, gerade auch der Beitrag der Herausgeber selbst (Fuchs & Berg, 1993).
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Wie Schwemmer sagt, muß eine Identifikation der „Struktur" einer Handlung, d.h. die detaillierte Erschließung und Beschreibung von sogenannten „Handlungs-Tatsachen" (Schwemmer) ausbleiben, wenn Handlungen kurzerhand in einer teleologischen, normativ-geregelten oder faktisch-kausalen Ordnung untergebracht werden. Das Handeln erscheint dann vielfach nicht „als es selbst, als dieses Handlungs-Geschehen, sondern als Funktion von etwas anderem ...: so insbesondere als Mittel zu einem Zweck, als besonderer, aber im Prinzip austauschbarer Fall einer allgemeinen Regel, als Wirkung einer Ursache. In jeder dieser funktionalen Handlungsdarstellungen wird das Handeln in seinem konkreten Ablauf übersehen und durch eine auswechselbare Handlungseinheit ersetzt, die ihre Identität alleine durch ihre Beziehung zu dem Zweck, zu der Regel oder der Ursache erhält" (Schwemmer, 1987, 53). Erst wenn das Handeln in seinem konkreten Vollzug zur Darstellung gelangt, verfugt man über Beschreibungen, die der Individualität einer Handlung gerecht werden, diese Handlung also nicht bloß als austauschbares Element eines theoretisch konstituierten Zusammenhangs begreifen. Gebräuchliche Beispiele für Handlungsbeschreibungen sind: „ich hebe meinen Arm", „ich drücke einen Knopf', „ich öffne eine Tür oder ein Fenster", „ich reiche meinem Nachbar das Salzfaß", „ich bringe jemanden zum Lachen", „ich bewege einen Stein" (ebd., 43). Die Beispiele sind auffällig kurz und bündig. Mit einem einzigen Satz hat man, wie es scheint, eine vertraute Handlung vor Augen. Recht besehen liefern solche „Ein-Satz-Darstellungen" jedoch keinerlei konkrete Vorstellung vom Tun des Akteurs. Sie setzen vielmehr als bekannt voraus, was detaillierter beschrieben werden könnte und bisweilen auch müßte: „Ist es nicht auch bei den Kurz-Beschreibungen unseres Handelns so, daß sie trotz ihrer alltäglichen Verwendbarkeit weitgehend unbestimmt bleiben und nur für bestimmte und eingeschränkte Zwecke, nämlich für Zwecke des alltäglichen Umgangs miteinander, verwendbar sind?" (ebd., 45). Schwemmer führt die Frage in zwei sich ergänzende Richtungen weiter. Zum einen kann man Genaueres über den Handlungsablauf erfahren wollen, als es KurzBeschreibungen vermitteln können. Zum anderen kann die Triftigkeit einer Kurz-Beschreibung angezweifelt werden: erfaßt diese tatsächlich die interessierende Handlung? Unter ein und derselben schematischen Kurz-Beschreibung können sich die unterschiedlichsten Vorgänge oder Geschichten verbergen. Schwemmer illustriert dies im Anschluß an Wittgenstein, der erörtert, was es beispielsweise alles heißen kann, daß jemand „etwas erwartet". Es gibt eben „endlos viele Variationen dieses Vorgangs, die wir alle mit demselben Ausdruck beschreiben. Wenn jemand fragt, was die verschiedenen Vorgänge ... gemeinsam haben, dann lautet die Antwort, daß es kein einziges Merkmal gibt, das allen gemeinsam ist, obwohl es viele gemeinsame Merkmale gibt, die ineinandergreifen" (Wittgenstein, 1980, 41; zit. nach Schwemmer, 1987, 45). Der Ausdruck „etwas erwarten" täuscht eine immer gleiche, einheitliche Handlung nur vor. Er steht jedoch für eine Vielfalt möglicher Geschichten und Vorgänge, die allenfalls im Sinne von Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit miteinander verwandt sind. Eine Handlung detailliert zu beschreiben und sie erst dadurch in ihrer
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konkreten Identität und Bedeutung zu erfassen, macht es erforderlich, die Geschichte, die die Handlung bildet, auszuschreiben. Eine Handlung in ihrer konkreten Identität und Charakteristik muß, gleichgültig, ob es um einfache oder komplexe Fälle geht, als Geschichte aufgefaßt und „ausbuchstabiert" werden. Erst dies fuhrt, so Schwemmer, zu einer angemessenen Beschreibung des Handelns selbst. An die Stelle einer bloß funktionalen Handlungsdarstellung, die sich mit dem bloßen Hinweis auf ein Ziel, eine Regel oder eine Ursache begnügt, ist eine historische Handlungsdarstellung getreten, die an der Temporalstruktur des Handelns ansetzt. Handlungen werden nun nicht mehr in der Form von „Handlungsblöcken", sondern in der Gestalt von Handlungsgeschichten erfaßt. Historische Handlungsdarstellungen beschreiben die situierte Entstehung und Entfaltung einer Handlung. Sie berücksichtigen, daß das Handeln seine Identität im Verlauf seiner Ausführung erhält: „... an die Stelle eines zumindest teilweise - nachkonstruierbaren Mechanismus tritt hier die kontingente historische Entwicklung selbst, der wir jeweils nur im Nachhinein und in Abhängigkeit von unerklärten bloßen Tatsachen in den historischen Darstellungen eine mehr oder weniger große Verständlichkeit abringen" (Schwemmer, 1987, 49).
Historische Handlungsdarstellungen bedürfen einer erzählerischen Sprache. Erst als narrativ präsentierte Gestalt erscheint eine Handlung nicht mehr als bloß funktionales Anhängsel einer theoretisch konstruierten Ordnung. Das in Schwemmers Plädoyer für historische Handlungsdarstellungen unüberhörbare „phänomenologische Pathos" darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch historische Handlungsdarstellungen kein Abbild des Repräsentierten liefern. Auch sie fassen keine facta bruta am Schopf. Sie sind kein Spiegel der Praxis, sondern Artikulations/br/nen, die unerläßlich sind, sobald es um die temporale Struktur dieser Praxis gehen soll. Das Erzählen ist konstitutiv für die Repräsentation von Handlungen als Verlaufsgestalien Eine Ausweitung des Blickwinkels legt die Einsicht nahe, daß die Auffassung des Handelns als Geschichte von der Lokalisierung des Handelns in 97
Was die spezifische Rolle des Erzählens als einer besonderen, Zeitlichkeit schaffenden und entwerfenden Sprachform betrifft, verweise ich lediglich auf einige wichtige Arbeiten aus dem - neben den Literaturwissenschaften besonders ergiebigen - Bereich der Geschichtstheorie: Angehrn (1985), Baumgartner und Rüsen (1976), Kocka und Nipperdey (1979), Koselleck, Lutz und Rüsen (1976), Ricceur (1988, insb. 137ff.), Rossi (1987), Rüsen (1990). In seiner aufsehenerregenden Arbeit begreift White (1991) die Geschichtswissenschaft als eine durch und durch an literarisch-fiktionale Aktivitäten angeglichene Komposition von Fabeln. Wichtig sind auch die zunehmend narrationskritischen Überlegungen, etwa von White (1990). Zum Stellenwert von Whites Überlegungen vgl. Scholz-Williams (1989), zur Kritik an White etwa die Bemerkungen Stückraths (1995) oder Winchs (1987). Die konstitutive Funktion des Erzählens für die Repräsentation temporal strukturierter Wirklichkeiten kann, nebenbei gesagt, als Argument gegen den partiellen Objektivismus von Schützes soziologischem Narrativismus vorgebracht werden - obwohl die Vertreter dieser Konzeption häufig selbst auf das „Problem der Textualität" aufmerksam machen. Vgl. als zusammenfassende Darstellung, die bei hohem Problembewußtsein die soeben angedeutete Denkschwierigkeit reproduziert, Marotzki (1990, 163ff, 234ff.).
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Geschichten häufig nicht zu trennen ist. Eine solche historische Verortung des Handelns verdankt sich allerdings nicht mehr nur dem Bemühen um eine angemessene HandlungsBeschreibung. Das Erzählen von Geschichten, an deren Ende der Vollzug bestimmter Handlungen steht, erfüllt Erklärungsaufgaben. 98 Erzählungen können durchaus zufriedenstellende Antworten auf warum- und wiemöglich-Fragen liefern. Sie weisen damit weit über ihre darstellende oder deskriptive Funktion hinaus. Explanative Aufgaben übernimmt die handlungspsychologische Forschung, sobald Handlungen in narrative Sinnzusammenhänge eingebunden werden. Damit werden als Konstituenten oder Bestimmungsgründe des Handelns nicht mehr bloß die vom Akteur angestellten „Überlegungen zur Situationsdefinition und Handlungsgestaltung" (Schwemmer, 55) berücksichtigt, sondern auch dessen Vorgeschichte - jenes Gewebe von womöglich weit zurückliegenden Entwicklungen und beiläufig entstandenen Wahrnehmungen und Gedanken (ebd., 57), die einer Handlung vorangehen. Beides, die Vorgeschichte und die sich in seinem Vollzug entfaltende Geschichte des Handelns, bestimmt Bedeutung und Sinn, Identität und Charakteristik der schließlich vollendeten, nachträglich betrachteten Handlung. Darüber hinaus ist die vom Akteur erwartete „Nachgeschichte" für eine angemessene Handlungserklärung relevant. Hierzu zählen nicht nur die Intentionen des Akteurs, sondern auch die von ihm erhofften oder befürchteten Folgen des Handelns. Vorgeschichte, aktuelle Geschichte und Nachgeschichte können gleichermaßen in eine narrative Sinnbildung eingehen, die auf die Erklärung einer Handlung abzielt. Die Verortung von Handlungen in Geschichten expliziert deren geschichtlich-temporale Bestimmungsgründe. Eine erzählte Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, wenngleich Anfang und Ende niemals definitiv festgelegt werden können. Das Setzen von Anfang und Ende ist ein poetischer Akt, durch den der Erzähler offene, flexible Grenzen einer Geschichte markiert. So können sich beispielsweise die Grenzen einer Geschichte, durch die ein Mensch seine „Drogenkarriere" beschreiben, verständlich machen und erklären möchte, verschieben. Solche Verschiebungen können sogar im Verlauf ein und derselben Erzählung stattfinden. Was für die autobiographische Erzählung gilt, läßt sich auch von heterobiographischen Narrativen sagen. In jedem Fall setzt ein Erzähler fest, wie weit er in einer Lebensgeschichte zurückgeht, wo er zu erzählen anfängt, um von dort aus klar zu machen, wie es zu den erzählten Ereignissen und dem Ende der Geschichte hat kommen können. Die Einbettung einer Handlung in einen narrativen Zusammenhang bestimmt deren Sinn und Bedeutung. Dadurch wird „eine Handlung nicht mehr
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Schwemmer hält dagegen an einem kausalistisch-nomologischen Erklärungsbegriff fest. Er sieht zwar, daß historische Handlungsdarstellungen Verständnis schaffen können, grenzt dieses aber strikt von einer Erklärung ab. Nach meiner Auffassung werden dagegen Erklärungsleistungen vollbracht, wenn die gesuchten „historischen Elemente über die Rekonstruktion einer verständlichen, aber kontingenten Geschichte mit gegenwärtigen Verhaltensweisen verbunden werden" (Schwemmer, 1987, 51).
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nur als Aktualisierung eines Schemas oder als Teil einer geregelten Handlungsfolge bestimmt, sondern zum Teil einer Sinnstruktur, die damit auch den Zusammenhang zu den anderen Situationen und Handlungen des gesamten Kontextes herstellt, und zwar - wie wir nun sagen können - als einen Sinnzusammenhang" (ebd., 66)." Historische Handlungsdarstellungen stellen Handlungen in den Kontext einer Geschichte. Sie klären Sinn und Bedeutung einzelner Handlungen sowie die Sinnstruktur des Kontextes durch wechselseitige interpretative Relationierungen. Wer Handlungen historisch darstellt, folgt der Struktur eines hermeneutischen Zirkels. Die „dichte" Erzählung ist eine hermeneutische Bewegung, die nicht nur etwas darstellt und beschreibt, sondern auch plausibilisiert, verständlich macht und erklärt.'00 Was aber heißt hier „erklären"? Die bahnbrechenden Analysen von Danto zeigen, daß die Beschreibungs- und Erklärungsfunktion der Erzählung zwar analytisch unterschieden werden können, praktisch aber in einem einzigen narrativen Akt erfüllt werden. Geschichten erzählen heißt, temporal komplexe Phänomene zur Sprache zu bringen, sie darzustellen oder zu beschreiben und uno actu zu erklären. Die narrative Erklärung ist speziell auf temporal strukturierte Phänomene zugeschnitten. Sobald die Handlungspsychologie eine Handlung in ihrer temporal komplexen Struktur begreifen und erklären will, ist sie auf das Erzählen von Geschichten angewiesen: „narrative is our primary (though not our only) way of organizing our experience of time" (Carr, 1986,4). Wenn wir eine Handlung als Bestandteil oder Endpunkt einer Geschichte begreifen und erklären möchten, wie es dazu hat kommen können, müssen wir die betreffende Geschichte erzählen. Das narrative Modell der Handlungserklärung bezieht sich auf unerwartete, überraschende Handlungen, solche, die der Akteur bisher nicht ausführte (jedenfalls nicht in der aktuellen Art und Weise, in einer Situation wie der gegebenen etc.). Im paradigmatischen Musterfall geht es beim erzählerischen Erklären also um Handlungen, die „neu" sind. Zu erklären ist eine Handlung, die von Person P in Situation S zum Zeitpunkt t3 ausgeführt wurde, zu einem früheren Zeitpunkt t, in einer vergleichbaren Situation jedoch noch nicht. Narrative Erklärungen gehören zur Gruppe der wie-möglich-Erklärungen. Sie werden in der Retrospektive formuliert, zumindest in einer „vorausentworfenen" Retrospektive, die in der Antizipation der Zukunft gründet. Narrative Erklärungen liefern Antworten auf Fragen des Typs: warum ist „etwas" zum Zeitpunkt t3 so und so, wo es doch früher, zum Zeitpunkt t„ anders war. Eine narrative Erklärung bezieht sich nicht auf ein diskretes, isoliertes Phänomen, etwa eine aus ihrem historischen Kontext herausgelöste Handlung, sondern auf
"
Schwemmer trifft bei der Entwicklung dieser Auffassung einige Unterscheidungen - etwa zwischen Sinn und Bedeutung -, die ich nicht übernehme.
100
Von einer „dichten" Erzählung könnte man in lockerer Anlehnung an den von Ryle vorgeschlagenen, durch Geertz bekannt gemachten Ausdruck der „dichten" Beschreibung sprechen (vgl. Straub, 1989, 138ff.;) zur Unterscheidung zwischen „dünner" und „dichter" Beschreibung vgl. Geertz (1987); zur Diskussion Fuchs und Berg (1993).
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die Verbindungen zwischen bestimmten Handlungen, Ereignissen, Zuständen und dergleichen. Das Explanandum der narrativen Erklärung läßt sich mit Danto folgendermaßen wiedergeben (vgl. Danto, 1980, 375): „E: x ist F in t, und x ist G in t3 F und G sind Prädikatsvariable, die jeweils ersetzt werden müssen durch entgegengesetzte Prädikate; und x ist eine individuelle Variable, die durch einen Eigennamen zu ersetzen ist, der das Subjekt der Veränderung bezeichnet" (Danto, 1980, 156). Die narrative Erklärung läßt sich von anderen Erklärungsformen eindeutig unterscheiden. Sie ist eine eigenständige Erklärungsform. Wie die teleologische oder die regelbezogene Handlungserklärung kann auch sie formalisiert werden. Wie das untenstehende Schema zeigt, bilden die Sätze, mit denen das Explanandum formuliert wird, bereits einen Bestandteil einer Geschichte. Ganz ausgeschrieben liefert just diese Geschichte die erwünschte Erklärung. Das einfache Grundmuster einer narrativen Erklärung gibt Danto folgendermaßen an:
„Der Wandel von F-G ist die Veränderung in x, die Erklärung verlangt. Doch um den Wandel zu erklären, bedarf es der Beziehung auf etwas, das in t2 mit x geschieht, ein Ereignis (von beliebigem Komplexitätsgrad), das die Veränderung in x verursachte. Ich biete daher folgendes Modell, das die Struktur einer erzählenden Erklärung wiedergeben soll: (1) (2) (3)
x ist F int, H ereignet sich mit x in t2 x ist G in t3
(1) und (3) bilden zusammen das Explanandum, (2) ist das Explanans. Die Hinzuziehung von (2) ergibt die Erklärung für (l)-(3). Ohne mich im Augenblick mit der Frage nach allgemeinen Gesetzen belasten zu wollen, möchte ich hervorheben, daß es jetzt eigentlich vollkommen klar sein müßte, in welchem Sinne eine historische Erklärung die Form einer Erzählung annimmt. Einfach in dem Sinne nämlich, daß (1), (2) und (3) bereits die Struktur der Erzählung eigentümlich ist. Sie hat einen Anfang (1), einen Mittelteil (2) und ein Ende (3)" (Danto, 1980, 376). Abb. 7: Schema einer narrativen Erklärung nach Danto
Sobald sich das Explanandum in der angegebenen Weise als ein Interpretandum formulieren läßt, sind Erklärungen nach dem narrativen Modell am Platz. Zwei willkürlich ausgewählte Beispiele für Handlungen, die erzählende Erklärungen verlangen: Person P nimmt Drogen, wo sie doch früher abstinent lebte; Person P übt Gewalthandlungen gegen Mitmenschen aus, wo sie doch bislang ein fried-
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fertiger Mensch war. In beiden Fällen ist der Anfang und das Ende einer Geschichte markiert, und es ist eine erklärungsbedürftige Veränderung impliziert. Wer die nachgefragte Erklärung liefert, erzählt eine Geschichte. Dadurch wird plausibilisiert, wie es von einem bestimmten Ausgangspunkt im Verlauf einer Reihe von Ereignissen, Widerfahrnissen und Handlungen zum angegebenen Endpunkt hat kommen können. Die narrative Erklärung trägt den kontingenten Momenten unserer Handlungs- und Lebenserfahrung in einzigartiger Weise Rechnung. Das narrative Modell des Handelns und der Handlungserklärung ist offen für Bestimmungsgründe des Handelns, die diesem einen kontingenten Zug verleihen. Werden Handlungen als (vorläufige) Endpunkte einer erzählbaren Geschichte aufgefaßt, so gilt für diese, was für jedes mögliche Ende einer Erzählung zutrifft: Das Ende einer Geschichte wird mit deren Anfang so verknüpft, daß klar wird, daß das fragliche Handeln ein Bestandteil einer Geschichte ist, die nicht in der Verfügungsgewalt der in diese Geschichte verwickelten Personen steht. Selbst als etwas Eigenes, vom Akteur Gewolltes und Intendiertes erscheint das in den Horizont einer im ganzen unverftigbaren Geschichte gestellte Handeln auch als etwas Zufalliges, Kontingentes, was meint: als etwas, was auch anders hätte kommen können, „was nicht auf ein einziges So-Sein festgelegt ist" (Makropoulos, 1989, 26; vgl. auch Brugger & Hoering, 1976). Die Unverfügbarkeit alles geschichtlich Konstituierten kennzeichnet auch das Handeln. Dies gilt gleichermaßen für individuelle und kollektive Handlungen. Kontingenz ist ein Charakteristikum sowohl der kollektiven Geschichte als auch der Lebensgeschichte von Individuen.101 Koselleck (1985) bezeichnet den Zufall treffend als Motivationsrest der Geschichtsschreibung. Diese Einsicht kann sich die an temporal komplexen Wirklichkeiten interessierte Handlungs- und Kulturpsychologie zu eigen machen, gleichgültig, ob sie ihren Blick auf die Historie eines Kollektivs oder die Biographie von Personen richtet. Der Begriff des Zufalls bewahrt jede „Geschichte" vor dem Ansinnen ihrer totalen Plan- und Herstellbarkeit. Historie und Biographie, kollektive und personale Identitäten sind unweigerlich von Zufallen durchzogen (Sommer, 1988, 162ff.). Mit dem Zufall leben ist eine Notwendigkeit, ein Müssen, bekanntlich aber auch ein Können, zu dem manche mehr, manche weniger fähig sind. Das Vermögen, das eigene Leben im Bewußtsein unabwendbarer Kontingenzerfahrungen zu führen, ohne in Angst zu versinken oder in Illusionen zu flüchten, heißt „Gelassenheit". Handlungen, die als Bestandteil geschichtlicher Sinnzusammenhänge aufgefaßt werden, sind infiziert von Kontingenz. „Geschichte" im modernen Sinn steht für eine veränderlich gewordene, sich wandelnde und letztlich unverfugbare Welt. Das Handeln gerade in einer solchen - wie Makropoulos im Geiste Benjamins sagt - deontologisierten Welt ist niemals frei von Kontingenz.
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Historie und Biographie sind dabei keine voneinander unabhängigen Begriffe und „Tatsachenkreise". Dies zeigt beispielsweise die multidisziplinäre Biographieforschung (z.B. Bude, 1987; Rosenthal, 1987; Straub, 1993a; Welzer, 1993).
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Spuren von Kontingenz haften an Handlungen allerdings in jeder Welt, in der Menschen handeln. Handlungskontingenz im engeren Sinn ist nichts spezifisch Modernes. Sie gehört bereits zum aristotelischen Handlungsbegriff. Wenn für Aristoteles zwar die Welt, in der gehandelt wird, in hohem Maße eine beständige, im wesentlichen unveränderliche Welt war, so galt dies für das menschliche Handeln keineswegs: „Kontingenz war in der Antike reine Handlungskontingenz in einer Welt, die selbst nicht kontingent war: Man konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten in der Welt entscheiden, aber die Welt, in der so gehandelt wurde, hätte nicht anders sein können" (Makropoulos, 1989, 25). Nicht zuletzt an diese Handlungskontingenz erinnert Bubner (1982; 1984), wenn er die aristotelische Handlungsphilosophie gegen die rationalistische Vorstellung, der Akteur sei Herr über sein Handeln und, dadurch vermittelt, über die Welt, in die er eingreift, verteidigt. Handlungskontingenz ist ein universales Attribut des Handelns selbst. Unter dem Gesichtspunkt seiner Kreativität erscheint das Handeln erneut, jedoch auf andere Weise als unter dem Aspekt seiner Geschichtlichkeit, als partiell kontingent, als etwas, das sich der lückenlosen Verfügungsgewalt rationaler Akteure entzieht. Wie im Falle des geschichtlich bestimmten Handelns lassen sich auch in der Perspektive einer Theorie der Kreativität des Handelns Handlungen nur im Rahmen des narrativen Modells angemessen identifizieren, beschreiben und erklären. Nur Erzählungen bewahren Kontingenzerfahrungen als solche, indem sie davon sprechen, was Akteuren auch dann noch gleichsam zufällt und widerfährt, wenn sie handelnd zur Welt Stellung nehmen.
Die Kreativität des Handelns Wer unvoreingenommen hinsieht, wird an zahlreichen Handlungen ein weiteres Merkmal entdecken, das weder im teleologisch-intentionalistischen noch im regelbezogen-normativen Modell unterzubringen ist (und schon gar nicht im kausalistischen Handlungsverständnis). Handlungen haben nicht selten schöpferische Züge. Einer Theorie der Kreativität des Handelns (Joas, 1992b; Waidenfels, 1987, 1990d)'02 geht es nicht um vorgefertigte Handlungen und vorfabrizierten Sinn, sondern um deren Verfertigung. Diese Theorie hebt die Spontaneität und das schöpferische Potential, das Handlungen verkörpern können, hervor. Die Modelle des zielgerichteten und regelorientierten Handelns präsentieren Handlungen und Handlungssinn dagegen als bloße Abzüge eines bereits bestehenden Entwurfs oder Musters. Werbik (1984) wies auf diesen Sachverhalt hin. Allerdings brachte er die theoretische Vernachlässigung der Kreativität des Handelns allein mit der nomologischen Auslegung psychologischer Handlungs-
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Waidenfels nennt „produktives" Handeln, was bei Joas kreatives Handeln heißt. Ich ziehe den Begriff der Kreativität vor. Produktive Handlungen wurden in der vorliegenden Arbeit mit von Wright von präventiven unterschieden. Wenn ich mich auf Arbeiten von Waidenfels beziehe, bedeutet „produktiv" stets „kreativ".
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theorien in Zusammenhang: „Das größte theoretische Problem sehe ich darin, daß der deduktiv-nomologische Erklärungsansatz den schöpferischen Fähigkeiten des Menschen nicht Rechnung trägt. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, zu erklären, wie der Mensch die Regeln, nach denen er sich richtet, findet und wonach er sich orientiert, wenn er seine Regeln selbst ändert. ... Eine deduktiv-nomologische Erklärung von Handlungen erscheint nur unter der Voraussetzung möglich, daß die Ziele und Handlungsregeln des Akteurs bereits feststehen" (Werbik, 1984, 648). Das Problem sitzt indes tiefer. Nicht die methodologische Abkehr vom nomologischen Modell, sondern erst die radikalere Kritik des teleologischen und normativen Handlungsiegrij^s bereitet den Boden dafür, die Kreativität von Akteuren in theoriegeleiteten Handlungsbeschreibungen und -erklärungen angemessen berücksichtigen zu können. Anschließend mögen methodologische Überlegungen geboten sein. Priorität hat jedoch die begriffliche Kritik, wie man sie bei Joas und Waidenfels findet, eine Kritik, die die Kreativität des Handelns theoretisch „nobilitiert". Joas betrachtet kreative Handlungen nicht mehr als theoretisch unwichtige Spezialfälle.103 Der Ausdruck „Kreativität" wandelt sich in seinen Händen von einer Residualkategorie zum handlungstheoretischen Grundbegriff. Kreative Akte werden nicht mehr in Grenzbereiche der Praxis, beispielsweise in die Sphären genialischer Schöpfungen, der Kunst oder des Spiels, abgeschoben. Kreativität gilt diesem Autor vielmehr als eine nur zum Schaden der Sache vernachlässigbare „Dimension" allen menschlichen Handelns. Die individuelle und kollektive Praxis des Menschen ist ohne Kreativität nicht denkbar. Die Kreativität des Handelns als etwas Normales anzusehen, ist keineswegs selbstverständlich. Dies zeigen etwa die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Matthäus (1976). Matthäus zieht Verbindungslinien zwischen den ästhetischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen „Kreativität" unter anderem Namen - vornehmlich an die Vorstellung eines schöpferischgenialischen Geistes gebunden war, und der aufkommenden empirischen Kreativitätsforschung der Psychologie (z.B. bei Wundt). Dieser Forschungszweig trug zweifellos zu einer „Normalisierung" des Phänomens bei. Die Psychologie hat zur Verbreitung des Begriffs „Kreativität", der als Übersetzung des amerikanischen „creativity" Verbreitung fand, beigetragen. Im angelsächsischen Sprachraum wurde „creativity" nach Untersuchungen von Hutchinson, Hirsch, Murray und insbesondere nach einer 1950 publizierten Arbeit von Guilford als psychologischer Fachterminus gebräuchlich.104 Das hier verfolgte Anliegen ei-
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Im Hinblick auf Handlungen, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Kreativität betrachtet werden, spreche ich auch kurz von „kreativen Handlungen".
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Bis heute ist die psychologische Kreativitätsforschung ein höchst heterogenes Feld. Die unter diesem Titel behandelten Phänomene und die methodischen Zugänge (Auswertung von Biographien berühmter Personen, Analyse kreativer Gebilde, Prozeßbeobachtung im Labor, Introspektion kreativer Personen, differentiell-psychologische Studien) sind ebenso vielfaltig wie die begrifflichen Bestimmungen und die theoretischen Ansätze (z.B. existentialistische
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ner spezifisch handlungstheoretisehen Reflexion menschlicher Kreativität wird in dieser Tradition allerdings nicht verfolgt. Der Begriff des kreativen Handelns läßt sich am besten einführen, indem er seinem Gegenbegriff gegenübergestellt wird. Kreatives Handeln steht in begrifflicher Opposition zum reproduktiven Handeln. Dieses Oppositionspaar läßt sich wechselseitig bestimmen, indem am Problem der Ordnung und der Transformation von Ordnungen des Handelns angesetzt wird: „Überall, wo Ordnungen sich wandeln, also im Bereich von Sprache und Denken, von Forschung und Kunst und eben auch in dem des Handelns, können wir unterscheiden zwischen reproduktiven und produktiven Aspekten" (Waldenfels 1985c, 140). Reproduktives Handeln vollzieht sich innerhalb einer bestehenden Ordnung: „Was Situationen, Dinge und Partner an Neuem bieten, wird bewältigt im Medium maßnehmender oder ektypischer Erfahrungen, die sich an bestehenden Maßstäben orientieren" (ebd.). Demgegenüber unterläuft, transzendiert und transformiert das produktive oder kreative Handeln bestehende Ordnungen; es schafft eine neue Ordnung, die sodann stabilisiert und bewahrt werden kann. Kurz: Reproduktives Handeln ist repetitiv, konservativ, ektypisch, kreatives Handeln innovativ, transformativ, prototypisch. „Ordnungen" im hier interessierenden Sinne strukturieren die Selbstund Weltwahrnehmungen von Personen, sie bestimmen deren Erfahrungen und Erwartungen, deren Orientierungen und Handlungen. Ordnungen können eine klassisch-metaphysische oder aber eine spezifisch moderne Gestalt aufweisen (Waidenfels 1985b, 80ff.; 1990a).105 Ordnung im Sinne des ersten Typs ist vorgegeben, absolut und allumfassend; sie trennt Wesentliches vom Unwesentlichen, ist einzig, ewig, unabänderlich und repetitiv; sie ist das Gegenstück der als unheilsames Chaos gedachten Vielfalt und Veränderlichkeit. Die moderne Konzeption der Ordnung ist dagegen durch Kontingenz- und Möglichkeitsbewußtsein geprägt. In der Moderne wird Ordnung auf synchroner Ebene im Plural gedacht, eben als Vielfalt nebeneinander bestehender, möglicher Ordnungen. Moderne Ordnungen gelten als historisch-soziale Übereinkünfte. In der Gegenwart begegnen wir durchaus beiden Ordnungsbegriffen. Einflußreicher ist allerdings längst die zweite Konzeption. Im vorliegenden Zusammenhang ist nicht allein an Ordnungen zu denken, die das kollektive Leben strukturieren und bestimmen.106 Von kulturellen
Ansätze, tiefenpsychologisch-psychoanalytische Theorien, elementaristische Ansätze, Strukturtheorien; heute weist insbesondere die kognitionspsychologische Erforschung problemlösenden Denkens eine unübersehbare Nähe zur Kreativität menschlichen Handelns auf; vgl. Matthäus, 1976). 105
Im zuletzt zitierten Aufsatz präsentiert Waldenfels die Moderne (mit Musil) als Ort, an dem alles möglich und damit alles Wirkliche anders sein und werden könnte; sie erscheint als Zeit, in der sich der eine Sinn in viele Sinne zersprengt und verflüchtigt hat.
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Daran denkt Waldenfels in erster Linie, im genannten Aufsatz wohl ausschließlich. Demgemäß behandelt er den modernen Ordnungsbegriff, der Winchs Handlungstheorie zugrunde liegt. Dieser bezieht sich auf das Soziale, auf Ordnungen des kulturellen und gesell-
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über gesellschaftliche und soziale Ordnungen, die Ordnung einer Gruppe oder Dyade, bis hin zur psychologischen Ordnung des Selbst einer Person kommt alles in Betracht. Ordnungen betreffen die Lebensform und Lebenswelt von Kollektiven so gut wie die Lebensführung und Identität von Individuen. Ein Beispiel: Das Leben in einer Ehe kann auf sozial- und individualpsychologischer Ebene ordnungstheoretisch begriffen werden. Konstitutiv für eine konkrete eheliche Lebensordnung sind gewisse Elemente, deren Veränderung nicht nur einen Wandel der Ehe innerhalb der gegebenen Ordnung anzeigt, sondern einen Wandel der Ordnung selbst, die die Ehepraxis bislang verkörperte. Im Eheleben von A und B galt aus der Sicht beider Beteiligten eine Rollenverteilung, die mit bestimmten Privilegien des Mannes einherging, über Jahre hinweg als etwas Selbstverständliches und Unproblematisches. Im Einklang mit der für patriarchalische Kulturen charakteristischen Regelung des Geschlechterverhältnisses wurden gewisse Asymmetrien zwischen den Ehepartnern nicht hinterfragt. Dabei blieb es - aus Gründen, die hier völlig einerlei sind - allerdings nicht. Die Frau begann, die faktische Ordnung des Ehelebens in Frage zu stellen, der Mann wies die kritischen Regungen zurück oder nahm sie erst gar nicht wahr. Er verteidigte (s)eine bedrohte Ordnung. Die Ehefrau ging den eingeschlagenen Weg weiter. Die Ordnung ihrer Ehe, die, wie jede praktische Ordnung, ein bestimmtes Denken, Fühlen, Wollen und Handeln ermöglicht, selektiert und unterstützt, andere Möglichkeiten ausschließt, diese Wirklichkeit also erschien ihr zunehmend als eine unerträgliche Einschränkimg eigener Handlungs- und Lebensmöglichkeiten. Sie ließ zu wenig „Raum" für Eigenes. Der erwachte Anspruch auf diesen Raum fand beim Partner keine Anerkennung. So zerbrach in ihren Augen die Legitimität der bisherigen Ordnung, und so weiter und so fort; mögliche Ausgänge dieser exemplarischen Geschichte sind bekannt. Das Hinterfragen (mindestens) eines bislang konstitutiven Elementes einer sozialen Ordnung fuhrt nicht bloß zum Wandel innerhalb der gegebenen Ordnung; es transformiert womöglich diese Ordnung selbst. Schon dieses Hinterfragen ist kreatives Handeln. Von kreativen Handlungen bestimmt bleibt sodann auch die kommende Zeit, in der sich die Akteure im brüchigen Übergangsfeld zwischen alter und neuer Ordnung aufhalten. Von der skizzierten kreativen Transformation, Umgestaltung oder Umstrukturierung ist nun nicht nur das gemeinsame Leben der Eheleute betroffen, sondern auch deren je individuelles Selbst. Auch diesbezüglich haben wir es mit dem Wandel von Ordnungen zu tun. In theoretischer Terminologie kann dieser Wandel als Identitätstransformation aufgefaßt werden. „Identität" ist ein strukturtheoretischer Begriff, der sich auf eine Ordnung, eine Gestalt oder Form des personalen Selbst- und Weltverhältnisses bezieht (vgl. dazu Straub, 1991a; 1996b).107
schaftlichen Lebens. Diese werden bei Winch eben nicht mehr klassisch aufgefaßt, sondern modern, nämlich als konventionelle Ordnungen, die „von Kontingenz infiziert" sind (Waldenfels, 1985b, 82). 101
Es wird viel zu wenig beachtet, wie sehr der psychologische Identitätsbegriff ins Ästheti-
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„Identität" bezeichnet einen sinnhaft strukturierten Strukturzusammenhang, eine Einheit, die auf diachroner Ebene als Kontinuität und auf synchroner Ebene als Kohärenz erscheint. Identität ist das Handlungsfähigkeit verbürgende Resultat einer psychischen Syntheseleistung, durch die Différentes - synchron und diachron unterschiedliche Erfahrungen, Erwartungen, Orientierungen und Handlungen einer Person - integriert werden. Identität als eine derartige Integrationsform kann als spezifisch moderne Ordnung des Selbst von Personen betrachtet werden. Identität ist nicht vorgegeben, ein für allemal und für alle Personen substantiell bestimmt, mit klaren Grenzen zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem und ohne Raum für radikale Neuerungen oder Umstrukturierungen, die zumindest zeitweilig von „chaotischer Unruhe" begleitet sind. Identität ist ein stets vorläufiges Erzeugnis psychischer Leistungen, sie ist prinzipiell veränderbar, verrückbar, transformierbar. Dabei führen inhaltlich-qualitative Veränderungen zu den auf formaltheoretischer Ebene analysierbaren Strukturtransformationen. Als kontingente Ordnung ist und bleibt sie offen. Der modernen Identität fehlt die Festigkeit und Geschlossenheit des alten hypokeimenon. Identität im spezifisch modernen Sinne ist eine kommunikativ verflüssigte Identität (Habermas, 1976a, 1976b; Wellmer, 1985). Das oben gegebene Beispiel zeigt, wie die Ordnung eines Ehelebens transzendiert werden kann, und es deutet an, wie dieser Wandel an Identitätstransformationen der beteiligten Personen gebunden ist. Was deren „qualitative Identität" (Tugendhat, 1979, 234, 284ff.) betrifft, treten, zumindest auf Seiten der Frau, neue Orientierungen und Handlungen an die Stelle der bislang vertrauten. Formaltheoretisch betrachtet zerbricht die bisherige Kontinuität und Kohärenz der Lebenspraxis und des Selbst- und Weltverständnisses der Interaktionspartner. Der Blickwinkel, aus dem die Beteiligten sich selbst und einander betrachten, ihre Selbst- und Weltkonzepte sowie ihre Handlungspotentiale werden teilweise radikal umstrukturiert. Auch dies ist keine bloße Modifikation von Elementen innerhalb einer Ordnung, sondern eine an kreative Handlungen gebundene, innovative Transformation der fraglich gewordenen, ins Zwielicht geratenen Ordnung selbst. Bei alledem ist es so, daß die Umgestaltung der alten und die künftige Ordnung kein genaues Vorbild haben. Sie ist, wie Waldenfels in seinen phänomenologischen Annäherungen an die gestaltende Kraft kreativen Handelns zeigt, am Anfang ohnehin nicht im Blick der Akteure. Deren Handeln ist kein entschiedener Zugriff auf klar Vorstellbares, sondern gleicht eher einem von einem diffusen Begehren bewegten Tasten in einem Raum, in dem das Sichtbare lediglich umrißhaft in Erscheinung tritt. „Intendieren läßt sich nur, was sich als bereits Bestimmtes erwarten läßt" (Waidenfels, 1990d, 97). Unter dem Aspekt seiner Kreativität betrachtet, weiß der Akteur nicht genau, was er bezweckt und erreichen will. Wüßte er es, „so wäre er ein bloßer
sehe hinüberschillert. Es würde sich lohnen, nach Analogien zwischen ästhetischen Diskursen über ein gelungenes Kunstwerk und subjekttheoretischen, insbesondere sozialpsychologischen Diskursen über eine gelungene Identitätsbildung zu suchen und dabei ausschließlich auf struktur- und formaltheoretische Konzepte (z.B. Kohärenz) und Argumente zu achten.
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Exekutant; die Ausfuhrung könnte er ebensogut Gehilfen, am Ende Maschinen überlassen. Weiß er es nicht, so hilft ... nur das Tun selbst, ein versuchendes Tun, das buchstäblich kein Ziel hat" (ebd.; vgl. auch Joas, 1992b, 218ff.).' 08 Das errungene Neuartige nimmt schließlich wiederum die Form einer offenen, vorläufigen Ordnung an. Der autochthone Logos der praktischen Welt kann, so Waidenfels, „auf keine Protologie und keine Eschatologie bauen. Eine erste und letzte Tat gibt es sowenig wie ein erstes und letztes Wort" (Waldenfels, 1990d, 101). Es ist eine Binsenweisheit, daß die innovative Veränderung sozialer und psychischer Ordnungen ihre Zeit braucht. Damit ist nicht nur der rechte Zeitpunkt, der Kairos kreativen Handelns gemeint, sondern auch die Langwierigkeit der Transformation von Ordnungen. Bisweilen beginnt der Wandel eher beiläufig, mit einem ersten, „harmlosen" Verstoß gegen eine eingeschliffene Regel hier, der Unachtsamkeit gegenüber einem bislang verbindlichen Ziel dort. Das obenstehende Beispiel repräsentiert diesen Typus. Kairos und Dauer der kreativen Transformation können natürlich auch auf einen Augenblick konzentriert sein, auf einen Zeitpunkt, in dem sich neuartige Einsichten und Gefühle blitzartig einstellen und unmittelbar neuartige Möglichkeiten des Handelns eröffnen. Eines der von Waldenfels (ebd., 97) angeführten Beispiele veranschaulicht dies sehr schön:109 Das Federballspiel zwischen zwei Jungen ist ganz und gar durch die überragende Überlegenheit des einen bestimmt, was dem anderen, der kaum einen Aufschlag parieren kann, bald die Lust am Spiel nimmt. Die gemeinsame Tätigkeit droht abgebrochen zu werden. Um den (von beiden Spielern gewünschten) Fortgang des Spieles zu gewährleisten, unterbreitet der überlegene Spieler den kreativen Vorschlag, jeder solle doch fortan sein Bestes dazu beitragen, daß der Ball möglichst häufig die Seite wechsle. Mit dieser Lösung, die eine kreative Handlung darstellt, wird die alte (Spiel-) Ordnung verlassen, die vollständig durch die Orientierung am Spielgewinn bestimmt war. Der innovative Vorschlag ändert die Spielordnung, er gestaltet diese um, transformiert sie, womit das Spiel als ganzes und jede einzelne Spielhandlung der Spieler einen neuartigen Sinn erhält (und dadurch gewissermaßen andere Handlungen darstellen). Der skizzierte Perspektivenwechsel des überlegenen Spie-
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Natürlich haben Akteure bisweilen konkrete Probleme vor Augen, für die sie kreative Lösungen suchen. Dies ist der vordergründige Sinn der bekannten Formel der pragmatistischen Philosophie: Die Probleme sind gegeben, deren Lösungen nicht. Beläßt man es bei einem wortgetreuen Verständnis dieses Satzes, so leistet man einer unannehmbaren Restriktion des Begriffs der Kreativität Vorschub. Waidenfels (1990d, 90ff.) betont zu Recht, daß im pragmatisch-funktionalen Handlungsmodell - das dem teleologisch-funktionalen verwandt ist der Aspekt der Kreativität des Handelns auf eine Art Dienstleistung reduziert wird, wodurch dieses nur noch als Abhilfe, als Krisenmanagement erscheint. Bisweilen aber schafft das Handeln die Probleme, die es bearbeitet, es wirft die Fragen erst auf, für die es Antworten entwickelt. Dieses Schaffen von Problemen und Stellen von Fragen im Vollzug des Handelns gehört in den Horizont des Begriffs der Kreativität.
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Das Beispiel ist einem gestaltpsychologischen Klassiker entnommen (Wertheimer, 1957, Kap. IV).
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lers, der das Spiel nun nicht mehr aus der vorweggenommenen Sicht des Gewinners, sondern aus dem identifikatorisch übernommenen Blickwinkel „des ewigen Verlierers" betrachtet, verändert gleichsam alles (zumindest alles für die hier verfolgte Argumentation Wesentliche). Dieser Wechsel hat zur Folge, „daß am Ende das Spiel selber ins Zentrum rückt, an dem beide nach Kräften mitwirken. Entdeckt wird zugleich die Ambivalenz des Gewinnspiels, wo man mit dem anderen und zugleich gegen ihn spielt, ein Balanceakt, der ein Gewinnen um jeden Preis ausschließt, weil es das Spiel zerstört und ihm seinen Reiz nimmt. ... Wie das schlichte Beispiel zeigt, werden in Erfindungen auf dem Spielfeld Spielweisen erfunden und erprobt, denen bestimmte Handlungsweisen entsprechen" (Waldenfels, 1990d, 97f.). Dieses Beispiel vor Augen fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, daß die erwähnte kreative Handlung nicht nur die ambivalente, bisweilen prekäre sozialpsychologische Funktion von Gewinnspielen erhellt. Die Einsicht, die aus der Übernahme der Perspektive des ewigen Verlierers erwächst, könnte ja aus dem Kontext des Spiels herausgelöst und auf andere Handlungs- und Lebensbereiche übertragen werden. Dann gewänne das harmlose Beispiel auch noch einen Berührungspunkt zum Vorgang einer Identitätstransformation, die mehr ändert als nur den Sinn und Charakter der Handlungen im beschriebenen Spiel. Die Begriffe des zielorientierten und regelgeleiteten Handelns sehen von der allgemeinen Erfahrung ab, daß Handlungen nicht nur durch Gegebenheiten und Ordnungen bestimmt sind, sondern ihrerseits in radikaler und innovativer Weise in bestehende Ordnungen eingreifen, diese umgestalten oder aufheben. Kreative Handlungen sind bisweilen der Anfang der Entstehung neuer Ordnungen. Bei der theoretischen Reflexion auf die Kreativität des Handelns geht es nicht bloß um den banalen Sachverhalt, daß Handlungen in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt im Rahmen der existierenden Ordnungen dieses oder jenes bewirken oder verändern können. Im Gegensatz zu reproduktiven Handlungen können kreative Akte alte Ordnungen überschreiten, verletzen und dadurch Neuartiges, das heißt: den Anfang einer neuen Ordnung schaffen. Wer nur ziel- und regelorientierte Handlungen kennt, begreift alles Handeln im Grunde genommen als „reproduktiv, was die Ordnung selber angeht, produktiv ist es nur im Rahmen vorgegebener Ordnungen, indem es den Spielraum variabler Mittel, wechselnder Situationen und nicht vollständig kalkulierter Randbedingungen nutzt" (ebd., 90). Handeln ist in seinem konkreten Vollzug im alltäglichen Leben natürlich weder ganz das eine, noch ganz das andere. Bloße Reproduktivität wäre nur in einer total geschlossenen Ordnung möglich, die vollständig determinierte, in welcher Weise das Handeln an das bereits Gegebene anzuschließen hätte. Im Gegensatz zu dieser Negativ-Utopie einer Eliminierung der Geschichte aus unserer Praxis - und damit einer „Destruktion" der Praxis schlechthin - enthalten Ordnungen, kulturelle und soziale ebenso wie psychische, überschüssige Möglichkeiten. Ordnungen treiben in sich selbst über sich hinaus (Waldenfels). Analog zu dieser Relativierung des Konzeptes der Reproduktivität ist auch der Begriff des kreativen Handelns mit Bedacht zu bestimmen. Innovation ist keine „Invention aus heiterem Himmel. Stets handelt es sich um einen Prozeß der
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Umformung und Verformung, ausgehend von bestehenden Formationen, es handelt sich um ein Arbeiten an Traditionen, das über bloße Konformität hinausgeht" (Waldenfels, 1985c, 142)."° Kreatives Handeln ist nicht ohne die Ordnung denkbar, die es verwirft, es ist auch nicht das „ganz andere" der Ordnung. Vielmehr nutzt es die überschüssigen Möglichkeiten in einer Ordnung, es schließt an einen Riß, an eine Frage in einer Ordnimg an und „antwortet" auf diese, um schließlich über sie hinauszuführen. Eine creatio ex nihilo ist das kreative Handeln niemals. Häufig geben Menschen ihrem Leben durch spontane und kreative Akte eine neue Richtung und Gestalt, wenn in diesem „etwas nicht mehr ganz stimmt". Dies wird zunächst als vages Gefühl artikuliert: was es denn eigentlich ist, das ,glicht mehr stimmt", weiß der Akteur zunächst nicht. Erst im Rückblick, also erst dann, wenn die „unstimmige" Ordnung bereits in Bewegung gebracht oder überwunden ist, lassen sich die einstigen Unstimmigkeiten präziser identifizieren. Die Ordnung des alten Lebens war, wie der Rückblick zeigt, brüchig geworden, und an diesen Rissen setzte die aktive Erneuerung an. Kreatives Handeln richtet sich als etwas Außerordentliches gegen die zunächst nur diffus spürbaren Unstimmigkeiten. Häufig entfaltet es sich durch kaum merkliche Akzentsetzungen und Grenzverschiebungen. Neue Ordnungen sind eher selten das Ergebnis spektakulärer Umwälzungen. Ordnung und Freiheit sind keine Alternativen, zwischen denen sich Akteure dauerhaft entscheiden könnten. Wie Waidenfels schreibt, haben wir es stets „mit begrenzten Ordnungsbereichen und beweglichen Ordnungsvorgängen zu tun, die einem Gesetz des Mehr-oder-Weniger an Offenheit und Geschlossenheit, an Innovation und Repetition, an Verwandtschaft und Fremdheit unterliegen, nicht aber einem Gesetz des Alles-oder-Nichts von Ordnungsfülle und Ordnungslosigkeit" (Waldenfels, 1990a, 25). In allen Fällen mißachtet, wer kreativ handelt, die eine oder andere althergebrachte Regel, und immer erfolgt das Handeln ohne exakte Absicht und vollkommene Voraussicht der Folgen. Ein gewisses Maß an Spontaneität ist konstitutiv für Kreativität. Im kreativen Handeln, das „stets etwas von einem Aushandeln" hat (Waldenfels, 1985c, 132), werden die womöglich befolgten Regeln und verfolgten Ziele erst im Verlauf des Handelns gebildet. Kreatives Handeln folgt nicht nur einem Logos, es schafft auch „seinen eigenen Logos" (Waldenfels, 1980, 265; 1990d, 84). Waldenfels spricht diesbezüglich von einer poietischen Funktion der Praxis.
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Waldenfels argumentiert, wenn er das Verhältnis von Bestehendem und Innovativem klärt, immer wieder gestaltpsychologisch: Das Neue und Neuartige bedarf des Bestehenden und Bekannten als eines Hintergrundes, vor dem es sich als eine innovative Gestalt abheben kann. Waldenfels begreift produktives Handeln als eine nicht nur konformistische Arbeit an der Tradition. Seine Phänomenologie ließe sich Gadamers philosophischer Hermeneutik gegenüberstellen, die zu Recht als eine Philosophie der Tradition und Traditionswahrung bezeichnet wird (Auerochs, 1994).
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Eine Verabsolutierung des kreativen Potentials des Handelns ist ebenso wie die Vorstellung einer creatio continua, welche jede Verbindung und Verbindlichkeit, jeden Zusammenhang in unserer Handlungs- und Lebenspraxis negiert und alles als ein bloßes Nebeneinander und Nacheinander von Diskontinuierlichem und Plötzlichem, Fragmentarischem und Fremdem begreift, eine Übertreibung. Diese Überzeichnung mag zu speziellen Zwecken heuristisch fruchtbar sein. Genauer besehen ist die Verabsolutierung von Diskontinuität und Kreativität zunächst einmal eine begrifflich-logische Unmöglichkeit, da Diskontinuität nicht ohne Kontinuität, Kreativität nicht ohne Reproduktivität, Nicht-Identisches nicht ohne Identität zu denken ist. Sodann haben wir es bei dieser einseitigen Überzeichnung der Praxis, dieser zur Permanenz verabsolutierten Sehnsucht nach dem „ganz anderen", mit einer psychologischen Illusion zu tun, einem narzißtischen Symptom.111 Nicht jedes Lob der Routine (Joas) ist ein Zeichen unbeweglicher konservativer Geisteshaltungen und rigider Charaktere. In diesem Lob steckt auch ein gutes Stück von anthropologisch-psychologischem „Realismus". Die Phantasie der totalen Entgrenzung und Steigerung der Selbst- und Welterfahrung durch ununterbrochene Erneuerungen ist die bloße Kehrseite einer totalen Allmachtsphantasie, die vollständige Kontrolle und damit die ewige Wiederkehr des immer Gleichen voraussetzt. Reproduktivität und Kreativität, Tradition und Innovation, Diskontinuierliches und Kontinuität sind zwei komplementäre Aspekte unseres Handelns und Lebens, die verschieden ausgeprägt sein können. Eine strikte Wahl zwischen emphatisch-kreativem Akt und ordinary action gibt es, wie Waidenfels betont, nicht. Es geht einer Theorie der Kreativität des Handelns nicht um die Frage, ob Handeln regelgeleitet oder zielorientiert ist, sondern inwieweit, wie groß und bedeutsam also der „Spielraum des Verhaltens" (Waidenfels, 1980) ist. Die Theorie der Kreativität arbeitet dem geschichts- und erzähltheoretischen Handlungsmodell in die Hände. Auch unter dem Aspekt seiner Kreativität betrachtet erscheint das Handeln der bestimmenden Kontrolle des Subjekts teilweise entzogen. Die menschliche Praxis und die einzelnen Handlungen individueller Akteure besitzen einen eigentümlich anonymen Zug. Kreativität ist zwar einerseits ein wichtiger Aspekt der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen, da gerade die kreativen Handlungen nicht nur Veränderungen in der Welt, sondern Veränderungen der Welt erzeugen können. Gerade kreative Handlungen ermöglichen praktische Beziehungen des Menschen zur 111
Letzteres ist, psychologisch gesehen, wohl zumindest dann der Fall, wenn die Sehnsucht nach unaufhörlichem Wechsel und nach beständiger Vielfalt auf einen Willen von Personen verweist, die möglichst alles erleben und sein wollen. In der postmodernen Kritik moderner Identitätstheorien sind solche narzißtischen Wünsche bisweilen unübersehbar. Die Psychologie hat bislang wenig Originelles zur Diskussion um die sogenannte Postmodeme beigetragen. In der kritischen Analyse der wachsenden Sehnsucht nach dem „ganz anderen", nach radikaler Differenz auch im eigenen Leben, könnte ein solcher Beitrag bestehen. Man stößt hier schnell auf die Kehrseite der von den Apologeten der Postmodeme zu Recht scheel angesehenen Sehnsucht nach einer rigiden und geschlossenen, vielleicht gar substantiell und dogmatisch festgelegten Identität.
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Welt, die diesem das Gefühl geben, in einer Welt zu leben, die, wenigstens in gewissem Maße, auch seine Welt ist. Andererseits sind kreative Prozesse der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung keine Vorgänge, die die Subjekte vollkommen beherrschen und kontrollieren. Auch intersubjektivitätstheoretisch lassen sich diese Vorgänge nicht vollständig erfassen. Unter dem Aspekt der Kreativität analysiert, bekommt das Handeln eine unpersönliche Note. Wie die Geschichte, in die es eingebettet ist und die es fortsetzt, erscheint es als etwas, an dem der Akteur beteiligt ist, ohne es intentional hervorgebracht zu haben. Die Grenzen zwischen Subjekt und Welt sind in dieser theoretischen Sicht nicht mehr vollkommen scharf. Das Handeln erhält ein „ereignishaftes" Moment, die eingespielten Trennungslinien zwischen Innen und Außen, Aktivität und Passivität, zwischen Aktion und Passion, zwischen Agent und Patient werden fraglich, sobald es mit dem Begriff des kreativen Handelns um einen Zwischenbereich geht, in dem die soeben unterschiedenen Wirkzentren nicht mehr vollständig auseinandergehalten werden können. Die Theorie der Kreativität des Handelns verabschiedet die Vorstellung vom Subjekt als einem völlig ungestörten Zentrum einer ungebrochenen Autonomie und Autopraxis. Dieses heute so präsente, vor allem mit den Schriften Nietzsches und Heideggers in Zusammenhang gebrachte (und bei Autoren wie Derrida, Levinas oder Vattimo auf je spezifische Weise weitergeführte) Thema einer Schwächung des autonomen Vernunft- und Handlungs-Subjekts (die bei manchen Autoren bekanntlich bis zu dessen Liquidierung führt), durchzieht auch einen guten Teil der Arbeiten von Waidenfels (z.B. 1987, 46ff., 155ff.). Allerdings ist dieser Autor von einem bloßen Abgesang auf das Subjekt weit entfernt. Waldenfels geht es mit seinen Schwächungen des Subjektes um ein Verständnis der prinzipiell beschränkten Möglichkeiten des „vernünftigen Bewußtseins", die Praxis und sogar das je eigene Handeln zu kontrollieren. Im Unterschied zur rationalistischen Vision einer totalen Kontrolle des Handelns betont er, gut phänomenologisch, dessen Leiblichkeit, die Beträchtliches zur „Unberechenbarkeit" des vernunftbegabten Handlungssubjektes beiträgt, aber auch eine Art Mitspracherecht der Situation, in der gehandelt wird. Dieses Mitspracherecht ist so radikal gedacht, daß die Situation nicht bloß als etwas erscheint, das der Akteur (vernünftigerweise) in Rechnung zu stellen hat. Die Situation gerät in Waidenfels' Denken vielmehr zu einem nicht vollständig kontrollierbaren und gleichwohl in das Handeln hineinspielenden Wirkzentrum (vgl. auch Joas, 1992b, 236). Kreatives Handeln wird damit zu einem produktiven Vorgang (Waldenfels, 1987, 150), der, an provokative Schlüsselereignisse anknüpfend, auch selbst in die Anonymität eines mehr oder weniger herrenlosen Ereignisses herabsinken kann. Zusammengefaßt: seine Leibgebundenheit, die Stimmen der sozialen anderen, das „innere Ausland", kurz: „die Vielfalt der Bezüge und Zusammenhänge, in die es (das Handeln, J.S.) eingeht" (Waidenfels, 1990c, 74), rauben dem Subjekt den Status eines unangreifbaren, gänzlich autonomen Aktzentrums. Es ist eine psychologische Binsenweisheit, daß die Bezüge und Zusammenhänge, in die das Subjekt eingeht, auch überdosiert werden können, ihre Vielfalt damit subjektiv als Überforderung und Bedrohung erlebt werden kann.
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I. Handlung
Es gibt Identitätsdiffusionen, die nicht mehr als vergnügliche Zerstreuungen oder, auf dem Umweg über entwicklungsförderndes Leid, als letztlich bereichernde Schwächung des Selbst begriffen werden können. Natürlich nützt niemandem die bloße Abwehr der erwähnten Bedrohung, indem, wie Waidenfels (1990c, 74) schreibt, der Versuchung nachgegeben wird, „auf vorgängige oder übergreifende Einheitsformen zu rekurrieren, um der wuchernden Vielfalt Herr zu werden." Bleibt unter den dargelegten kreativitätstheoretischen Voraussetzungen der Handlungs- und Subjektbegriff noch sinnvoll? Die Gefahr, mit Formulierungen wie den obenstehenden das Kind mit dem Bad auszuschütten, ist unübersehbar. Diese Gefahr ist nicht aus der Welt zu schaffen. Allerdings kann ihr auf subtile, nicht bloß abwehrende Weise begegnet werden, auch und gerade wenn unmißverständlich klargestellt ist: „... von einem allem Zugrundeliegenden und einer zentralen Instanz bleibt nach dem Gesagten nichts übrig, und Handlungen und Äußerungen lassen sich auch nicht mehr einem eindeutig umgrenzten Täter und Sprecher zuschreiben, diesem schlichten Autor, den Nietzsche wohl nicht zu Unrecht zum Aberglauben der Grammatiker und der Moralisten zählt. Dem völligen Abgleiten in ein 'es spricht' oder 'es handelt' ließe sich auch anders begegnen, indem man etwa Handlungen und Äußerungen als dosierte Mischungen von Tun, Geschehen und Widerfahrnis, von Eigenem und Fremdem betrachtet. Dieser Mischung könnte man nicht mehr mit disjunktiven, wohl aber mit akzentuierenden Begriffsbildungen beikommen" (Waldenfels, 1990b, 55). Wie mit solchen akzentuierenden Begriffen gearbeitet werden kann, zeigt die bereits erwähnte Bestimmung des Verhältnisses von Situation und Handlung. Waldenfels schrieb Situationen ein Mitspracherecht und einen Aufforderungscharakter zu, die das Handeln teilweise zu etwas Abhängigem machen. Die Ansprüche einer Situation provozieren Handlungen, und diese können als Antworten der angesprochenen leiblichen Personen begriffen werden (Waldenfels, 1985c, 133). Für diese Antworten gibt es einen Spielraum. Anspruch und Antwort bleiben durch einen Unterschied voneinander getrennt, durch eine Diskrepanz, in der nicht zuletzt die unverwechselbare Individualität des Akteurs zum Ausdruck kommen kann. Die besagten Ansprüche, Anforderungen oder Aufforderungen und ihre Erwiderungen können in ihrem Verhältnis zueinander nur angemessen verstanden werden, wenn der disjunkte Gegensatz von Autonomie und Heteronomie, Autarkie und Dependenz aufgegeben wird. Wie im Dialog ein Wort das andere ergeben kann, so gilt für Handlungen aller Art, daß diese aneinander anschließen, ohne daß sich dieses Wechselspiel spiegelbildlich „aus zentrifugalen Aktionen und zentripetalen Reaktionen" (Waldenfels) aufbauen ließe. Wie die Vielstimmigkeit des Dialogs keine Äußerungen kennt, die ganz und gar einem einzigen zugeschrieben werden können, so verbietet es die vielfaltige Bestimmtheit der Praxis, Handlungen als ausschließliche Erzeugnisse eines souveränen Akteurs aufzufassen. Dominanten lassen sich hier wie dort ausfindig machen (Waldenfels, 1990c, 76). Die Theorie der Kreativität des Handelns muß klar gegen die theoretisch haltlose Position und Projektion eines „es spricht" oder „es handelt" abgegrenzt
4. Handlungstypologie
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werden. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Der von manchen begrüßte „Tod des Subjektes" geht nicht selten mit einer Ignoranz gegenüber sozialer Verantwortung einher, mit ästhetizistisch nur schlecht verkleideten regressiven Wünschen, bisweilen mit einer Bagatellisierung von Gewalt, häufig mit einer Verwechslung des aufklärerischen sapere aude mit einer lediglich illusionären und fruchtlosen Zumutung (Joas, 1990; 1992b, 358ff.). Die skizzierte Theorie der Kreativität ist kein getarnter Abschied vom Subjekt und dessen Handeln. Es ist zwar so, daß Ordnungen, die „Bestimmtes zu sagen, zu denken und zu tun erlauben und anderes nicht, ... das Subjekt in Positionen (zwingen), die es zu einem bestimmten Loquenten und Agenten machen, dem das Attribut eines zentralen oder gar totalen Rede- und Handlungs-Subjekts versagt bleibt. Die Raster und Filter, die sich seiner Rede, seinem Tun und Fühlen auferlegen, spotten einer autonomen Gesetzgebung, doch um als pure Heteronomie gelten zu können, rücken sie den betroffenen 'Subjekten' zu nah auf den Leib. Alles das, was Reden und Tun ermöglicht, indem es sie einschränkt, und sie einschränkt, indem es sie ermöglicht, entzieht sich der Alternative einer Selbst- oder Fremdgesetzgebung" (Waidenfels, 1990c, 78). Wie Waldenfels auf der nächsten Seite schreibt, könne man sich zwar darauf einigen, den Titel des „Subjekts" als ein Zitat zu gebrauchen und die Stelle des „Subjekts" deutlich herunterzustufen, sie vielleicht sogar für eine Zeit lang ganz unbesetzt zu lassen; all dies dürfe aber keine ersatzlose Streichung des Subjekts bedeuten, „wie manche Systemverwalter es gern sähen, denn dann würde es nicht lange dauern und Irgendetwas oder Irgendjemand füllte die Lükke, vielleicht ein verkommenes 'Subjekt'." Nach den vorgenommenen begrifflichen Klärungen stellt sich zum Schluß dieses Kapitels noch die Frage, wie es um die Erklärung kreativer Handlungen bestellt ist? Die Beschreibung und Erklärung kreativer Handlungen ist unweigerlich an den Rückblick gebunden - an einen Rückblick, in dem (die Genese von) kreative(n) Handlungen durch das Erzählen einer Geschichte beschrieben und erklärt (wird bzw.) werden. Das narrative Modell der Handlungserklärung ist das einer Theorie der Kreativität des Handelns angemessene Modell. Nur das Erzählen einer Geschichte, das dem Gang der Entstehung und Entfaltung kreativer Handlungen folgen kann, bewahrt deren einst innovativen Charakter, indem es ihm spachlichen Ausdruck verschafft. Nur die innere Temporalstruktur des Erzählens und der narrative Umgang mit Kontingenz wird den kreativen Aspekten unserer Praxis gerecht." 2 Natürlich ist, wo ehemals Neuartiges als solches zur Sprache gebracht wird, dieses bereits bekannt: das, was neuartig war, wird durch das Erzählen nicht nur erinnert, sondern in den Raum und Horizont vertrauter Erfahrungen und Erwartungen integriert. Die Vorstellung der Handlungstypologie ist damit abgeschlossen. Es bleibt der Hinweis, daß das narrative Modell einen besonderen Status besitzt.
1,2
Ich bin an anderer Stelle ausführlicher auf diese Eigenart des Erzählens und der narrativen Sinnbildung eingegangen (Straub, 1998b).
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I. Handlung
Da in Erzählungen nicht nur der Geschichtlichkeit und Kreativität der Praxis Rechnung getragen wird, sondern selbstverständlich auch von Zielen, die das Handlungssubjekt verfolgt, und Regeln, die der Akteur befolgt, die Rede ist, darf man das narrative Modell als das komplexeste bezeichnen. Es schließt die anderen Modelle nicht aus, sondern ein.
5. Handlung und Kultur 5.1. Von der Handlungstheorie zur Kulturpsychologie Die oben entwickelte Typologie ist auf Handlungen von einzelnen Personen gemünzt. Insofern Kollektive als einheitliche Handlungssubjekte betrachtet werden können, lassen sich die vorgestellten Handlungsbegriffe und Erklärungsmodelle auch auf kollektive Handlungen anwenden. Da diese Betrachtungsweise jedoch oft eine sträfliche Vereinfachung der Konstitution und Struktur kollektiver Aktivitäten mit sich bringt, ist auch im folgenden vom Handeln einzelner Personen die Rede. Deren Tun und Lassen wird dabei allerdings nicht als Aktivität einsamer Monaden aufgefaßt, sondern als soziokulturell konstituiertes, im konkreten Fall auf vielfache Weise sozial vermitteltes und auf kulturelle Wirklichkeiten bezogenes Handeln. Die Vorstellung einer aus ihrem praktischen, soziokulturellen Kontext herausgelösten Einzelhandlung ist gewiß eine Abstraktion, die allein zu bestimmten Zwecken gerechtfertigt erscheint. In der Praxis sind Handlungen allemal an die Orientierungen und Deutungsmuster, an das Tun und Lassen anderer gebunden und sinnhaft darauf bezogen. Alle erörterten Handlungsmodelle legen diese Einsicht nahe oder stützen sich unmittelbar auf sie. Was das imitationsmustergebundene Handeln angeht, bedarf das keiner Erläuterung. Nachahmendes Handeln setzt Vorbilder voraus, und dies sind meistens andere Personen (bisweilen auch andere Lebewesen - man denke daran, wie gerne Kinder Verhaltensweisen von Tieren, insbesondere deren Ausdrucksverhalten, imitieren). Soziokulturelle Bestimmungsgründe von Handlungen können sodann darin gesehen werden, daß zahlreiche Handlungsziele, die eine Person verfolgt, nicht ihre alleinigen Ziele sind. Handlungsziele gehören zu den Möglichkeiten, die eine Gruppe, Gesellschaft oder Kultur ihren Angehörigen eröffnet oder bereitstellt, nahelegt oder sogar aufzwingt. Sehr häufig sind Handlungsziele sozialer Natur. Sie werden kollektiv ausgehandelt, von einzelnen übernommen und verfolgt. Idiosynkrasien sind hier eher die Ausnahme. Zielbildungsprozesse und die Tatsache, daß bestimmte Ziele verfolgt werden (können, sollen), schließlich die Art und Weise, in der Menschen sie zu erreichen suchen, verweisen auf eine soziokulturelle Praxis und öffentliche Institutionen. Diese Einsicht kann auch eine intentionalistische Handlungspsychologie, die ihr Augenmerk auf die einzelne Person richtet, bewahren. Ganz unverkennbar wendet sich das Modell des regelgeleiteten Handelns gegen jede Spielart einer individualistischen Subjekt- und Handlungskon-
5. Handlung und Kultur
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zeption. Private Regeln gibt es nicht. Handelnd einer Regel folgen - beispielsweise einer Aufforderungs- oder Bewertungsnonn ist ein Akt, der andere Akteure, soziale Übereinkünfte und öffentliche Kriterien logisch voraussetzt. Schließlich wird auch im narrativen Modell hervorgehoben, daß die soziokulturelle Dimension eine unabdingbare Dimension allen Handelns ist. Die Geschichten, die erzählt werden, um individuelle Handlungen darzustellen und zu erklären, bilden gemeinhin ein komplexes Geflecht, in dem nicht nur das Tun und Lassen einer einzigen, sondern mehrerer Personen eine Rolle spielt. Zahlreiche Geschichten thematisieren, obwohl sie fur das Selbst- und Weltverständnis sowie das Handeln einzelner Personen relevant sein mögen, ohnehin nicht (bloß) deren Erlebnisse und Erwartungen, sondern Geschichte(n) im Sinne eines kollektiven Gutes. Die Historie im engeren Sinne oder Mythen bilden Beispiele hierfür. Bestimmungsgründe der angedeuteten Art werden neuerdings wieder verstärkt in kulturpsychologischer Perspektive analysiert. Ziele, Regeln, Normen und Werte sowie Geschichten, die zum Zweck der Beschreibung und Erklärung individueller (oder kollektiver) Handlungen artikuliert werden, gelten damit als kulturelle, vielleicht kulturspezifische Konstrukte. Kultur als Komplex möglicher Bestimmungsgründe menschlichen Handelns gehört zur conditio humana. In diesem Sinn ist Kultur universal. Im vorliegenden Kontext wird allerdings vorwiegend nach den historisch und lokal variablen Erscheinungsformen von Kultur und deren Bedeutung für die je konkrete Praxis gefragt: „From this point of view ... culture is conceived as being a constituent of actions, and thus an essential part of the thoughts, feelings, and activities that characterize human existence. It is assumed that there exists an intrinsic relationship between human subjects (agencies), actions and culture, and that all of these aspects are essentially interdependent, and finally, that they require each other's existence (Eckensberger, 1991b, 3).1,3 Subjekt, Handlung und Kultur stehen in wechselseitigen Konstitutionsund Bestimmungsverhältnissen zueinander. Diese Verhältnisse sind mit interpretativen Verfahren analysierbar. Während dieser interpretative Zugang nach wie vor als Besonderheit einiger weniger handlungs- und kulturpsychologischer Ansätze betrachtet werden muß, ist die Betonung des wechselseitigen Konstitutions- oder Bestimmungsverhältnisses zwischen Subjekt, Handlung und Kultur
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Eckensbergers Brückenschlag von der Handlungstheorie zur Kulturpsychologie geht nicht nur mit bestimmten subjekttheoretischen Vorstellungen einher, sondern auch mit Überlegungen zu narrativen Forschungsmethoden, einer hermeneutisch-interpretativen Methodologie und schließlich dem Konzept einer empirisch fundierten Typenbildung. All dies zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit der hier vorgestellten Konzeption an. Eckensbergers Überlegungen gehören zu einem Versuch, in differentieller, systematischer Perspektive fünf Menschenbilder oder Paradigmen psychologischen Denkens voneinander abzugrenzen und diesen sodann spezifische Modelle, Theoriefamilien, empirische Forschungsmethoden, Methoden der Datenanalyse, theoretische Konzeptualisierungen der Umwelt, der fundamentalen Analyseeinheit, der Beziehung zwischen Subjekt und Umwelt sowie schließlich der Rolle der Kultur zuzuordnen (Eckensberger, 1979; Eckensberger & Burgard, 1983).
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I. Handlung
längst ein allgemeiner T o p o s . Fast i m m e r wird hervorgehoben, daß Kultur nicht einseitig als R a h m e n , F e l d ( B o e s c h ) oder M e d i u m ( C o l e ) d e s H a n d e l n s a n g e s e hen w e r d e n darf (also auf die eine oder andere W e i s e zur Entstehung, Identität und Charakteristik v o n Handlungen beiträgt). U m g e k e h r t n ä m l i c h ist die Kultur ihrerseits v o m Handeln abhängig. Kultur ist gleichermaßen ein H a n d l u n g s / e W w i e das in beständiger U m b i l d u n g b e f i n d l i c h e Produkt m e n s c h l i c h e n Handelns. Dabei ist gleichermaßen an materielle, ideatorische und praktisch-soziale Aspekte der Kultur gedacht (vgl. z . B . B o e s c h , 1991, 2 9 f f . ; Cole, 1 9 9 0 , 282). 1 1 4 Kultur ist ein „historically accumulated m e d i u m o f h u m a n activity", w e l c h e s seinerseits, w i e C o l e ( 1 9 9 0 , 2 8 2 ) schreibt, „acts as both constraint and tool o f human action." Im Einflußfeld der Kultur stehend b e s t i m m t das Subjekt, d e s s e n Fähigkeiten und Fertigkeiten sich quasi u n e n t w e g t e n t w i c k e l n u n d verändern, sein e i g e n e s Handeln mit, und handelnd ist es an der Gestaltung s e i n e s Selbst und seiner Welt beteiligt: „actions form the basis o f the o n t o g e n y o f individual normative, c o g n i t i v e and affective schemata (they include the c h a n g i n g individual) and they lead to cultural products and cultural c h a n g e (they i n c l u d e 'the changing world')" (Eckensberger, 1991b, 3). Eine Handlung erscheint damit als eine Art Vermittlungsinstanz. In e i n e m t o p o l o g i s c h e n M o d e l l kann sie als Verbindungsglied z w i s c h e n Individuum und Kultur plaziert w e r d e n (Eckensberger, 1990b, 172). 1 , 5
" 4 Boesch und Cole stehen, ungeachtet der Verwandtschaft ihrer Ansätze, in unterschiedlichen psychologischen Traditionen: Während ersterer Janets dynamische Handlungstheorie und Piagets Konstruktivismus verarbeitet und diese Tradition - als ausgebildeter Psychoanalytiker - mit psychoanalytischem Gedankengut, nicht zuletzt mit symboltheoretischen Überlegungen und schließlich mit dem Denken Lewins verknüpft, greift Cole auf andere Wurzeln zurück. Für ihn sind Arbeiten der sowjetischen soziohistorischen Schule maßgeblich, namentlich von Vygotsky, Luria und Leontiew (siehe auch Cole, 1988). Dies gilt auch für Valsiner (1988a; 1988b; 1989; van de Veer & Valsiner, 1988), der die theoretischen Konzepte „Handlung" und „Kultur" ebenfalls in der skizzierten Weise verknüpft (1988c), wobei er auch Verbindungen zwischen Vygotsky, Janet sowie G.H. Mead zieht. 115
Eckensberger unterscheidet in seinem Modell - in lockerer Anlehnung an Habermas - zwei Handlungstypen, nämlich effektorientierte instrumenteile Handlungen, mit denen sich Akteure auf die materielle, physische Welt beziehen, und empathie- oder verständigungsorientierte Handlungen, mit denen Personen Stellung zur sozialen Welt nehmen, an dieser teilhaben usw. Ähnlich trennt Krewer (1993b, 18) zwei „Grundtypen von Handlungen", nämlich „sachlich-instrumentelle Handlungen, die auf den Umgang mit der Objektwelt ausgerichtet sind und auf das Erreichen sachlicher Ziele durch Manipulation und Kontrolle von Umweltbedingungen, und sozial-kommunikative Handlungen, die auf den Umgang mit Subjekten ausgerichtet sind und auf intersubjektive Verständigung und Selbstvergewisserung durch Kooperation und Kommunikation." Krewer setzt diese Unterscheidung noch mit Boeschs Differenzierung zwischen einem rationalen versus emphatischen Weltbezug in eins (vgl. Boesch, 1991, 351). Dies ist allerdings schon deswegen etwas irreführend, weil Habermas' Modell des kommunikativen Handelns ja an der Spitze möglicher rationaler Weltbezüge von Akteuren steht. Dieses in Habermas' Typologie komplexeste Modell vereint die in den Modellen des teleologischen, des normenregulierten und des dramaturgischen Handelns implizierten Weltbezüge, Rationalitätsaspekte und Geltungsansprüche (Habermas, 1981 I, 126ff.). Krewers Angleichung von Habermas' und Boeschs Unterscheidungen ist im übrigen problematisch, weil deren Konzepte der kommunikativen Verständigung einerseits, der Empathie an-
5. Handlung und Kultur
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Handeln impliziert die Gestaltung und Umgestaltung sowohl der Kultur als auch des Subjekts. Der erste Aspekt wird - in Anlehnung an Vygotsky - von Eckensberger und anderen Autoren als Externalisierung bezeichnet, der zweite als Intemalisierung. Die Folgen von Externalisierungen nennt Eckensberger mit einem in der Tradition der geisteswissenschaftlichem Psychologie gängigen Terminus - Objektivationen; unter dem Aspekt der Intemalisierung betrachtet bestehen Handlungsfolgen dagegen in sogenannten Objektivierungen. Handeln fuhrt so gut wie immer zu solchen Objektivierungen, meistens in der für das Handlungssubjekt unmerklichen Weise einer geringfügigen Stabilisierung oder Modifikation des eigenen Handlungspotentials."6 Festzuhalten ist: Kultur als Handlungsfeld ist einerseits ein Produkt kollektiver Tätigkeiten, eine historisch variable Ko-Konstruktion, andererseits ein struktureller Komplex möglicher Bestimmungsgründe von Handlungen. In Boeschs Definition, die die wichtigsten Gesichtspunkte zusammenfaßt, gelangt diese wechselseitige Abhängigkeit noch einmal zum Ausdruck: „Culture is a field of action, whose contents range from objects made and used by human beings to institutions, ideas and myths. Being an action field, culture offers possibilities of, but by the same token stipulates conditions for, action; it circumscribes goals which can be reached by certain means, but establishes limits, too, for correct, possible and also deviant action. The relationship between the different material as well as ideational contents of the cultural field of action is a systemic one; i.e. transformations in one part of the system can have an impact in any other part. As an action field, culture not only induces and controls ac-
dererseits, ganz anders strukturiert sind. Läßt man all dies beiseite, werfen Eckensbergers und Krewers Grundtypen des Handelns nicht zuletzt die wichtige Frage auf, wo hier eigentlich der effektorientierte instrumenteile Umgang von Menschen mit Menschen Platz findet. Habermas jedenfalls sieht teleologisch oder zweckrational strukturierte, auf Wirksamkeit bedachte, erfolgsorientierte Handlungen keineswegs nur für das Handeln in der objektiven (materiellen, physischen) Welt vor. Das strategische Modell trägt - als Variante des teleologischen - gerade der Möglichkeit bzw. dem Faktum Rechnung, daß Menschen auch mit sich und anderen einen instrumentellen, erfolgsorientierten Umgang pflegen (können). Vom strategisch handelnden Akteur werden soziale Kommunikations- oder Interaktionspartner (allein) als Mittel für die Verfolgung eigener Zwecke betrachtet. Dies wird von Eckensberger (1991a, 14) an anderer Stelle selbst betont. Ebenfalls quer zu den besagten Grundunterscheidungen liegt der interessante Hinweis Eckensbergers, daß Menschen (in psychologischer Sicht) auch mit Teilen der physikalisch-materiellen Welt verständigungsorientiert umgehen können. (Für Habermas ist die - einst auch von Adorno und Marcuse vertretene - Auffassung, der Mensch könne einen nicht-instrumentellen, verständigungsorientierten Umgang mit der Natur pflegen, kaum mehr als eine metaphorische, romantische Idealisierung des menschlichen Verhältnisses zur geschändeten äußeren Natur; vgl. Habermas, 1968, 54ff.) 116
Zur Erläuterung der soeben eingeführten Begriffe verweise ich insbesondere auf die konzisen Ausführungen bei Eckensberger (1991a, 13ff.). Die dort ebenfalls erörterten, auf Boesch und andere zurückgehende Unterscheidung zwischen Handlungsniveauj sowie die Differenzierung zwischen primärer und sekundärer Strukturierung brauche ich hier ebensowenig referieren wie die Ausführungen zur Rolle von Subjektivierungs- und Symbolisierungsprozessen (und damit vor allem von Fantasmen und Mythen).
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I. Handlung
tion, but is also continously transformed by it; therefore, culture is as much a process as a structure" (Boesch, 1991, 29). Kultur ist ein Produkt der kollektiven Praxis, materialisiert in Dingen und Plätzen (Lang, 1991),117 mehr oder minder fixiert in Institutionen; vor allem aber ist Kultur in die Praxis gleichsam eingelassen, und zwar in der Form von Ideen, Zielen, Regeln, Normen, Werten und Geschichten. Als Handlungsprodukt besitzt Kultur den Status eines transindividuellen Reservoirs von Erfahrungen und Erwartungen, kurz: eines Wissens-, Zeichen- und Symbolsystems oder, wie ich zusammenfassend sagen möchte, eines kollektiven Sinnsystems, das den Raum und die Zeit einer Mehrzahl von Menschen strukturiert. Wie etwa Boesch (1983, 22) darlegt, werden innerhalb dieser raum-zeitlichen Ordnung verschiedene Handlungsbereiche auseinandergehalten (z.B. Familie, Beruf, Sport, Religion, Kunst etc.). Eine kulturspezifische Praxis wird durch zahlreiche funktionale Differenzierungen in der Sach-, Sozial- oder Zeitdimension gegliedert. Soziale Gliederungen trennen beispielswiese Schichten oder Milieus (wobei Herrschaftstechniken in der Regel eine wichtige Rolle spielen). Kulturelle Strukturierungen der Zeit verbinden sich unter anderem mit routinisierten Tagesabläufen und Ordnungen längerer Zeiträume (etwa durch Fest- und Feiertage). Aber auch verschiedene Zeitbegriffe - man denke an zyklische und linear-chronometrische Zeitkonzepte - oder Konzeptionen sowie Praktiken der kollektiven bzw. kulturellen Erinnerung tragen zu solchen Strukturiemngen bei (vgl. Straub, 1992a; speziell zur Unterscheidung zwischen kollektivem und kulturellem Gedächtnis siehe Assmann, 1992). Selbstverständlich trennt eine Kultur verschiedene Bereiche auch durch normativ-moralische Unterscheidungen und Grenzziehungen voneinander. Die Kultur stellt bisweilen auf ganz offenkundige, oft auf kaum merkliche Weise einer Vielzahl von Personen Ordnungsformen und Deutungsmuster für die rationale und emotionale Identifikation, Evaluation und Strukturierung von Geschehnissen und Dingen in der Welt sowie Prinzipien und Paradigmen der Handlungsorientierung und Lebensführung bereit. Bevor ich speziellere begriffliche und theoretische Aspekte einer kulturpsychologisch ausgerichteten Handlungswissenschaft kläre, gehe ich kurz auf die jüngste Wiederbelebung des Kulturbegriffs in der Handlungspsychologie und ihren Nachbardisziplinen ein. Vollständigkeitsansprüche stelle ich dabei nicht. Eine auch nur annähernd er-
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Problematisch an Längs Auffassung der Kultur als einer „externen Seele" ist allerdings, daß kulturelle Wirklichkeiten in dieser Metapher tendenziell von den Deutungs-, Interpretationsund Verstehensleistungen konkreter Personen, die diese sinn- und bedeutungsstrukturierten Wirklichkeiten erst konstituieren, abgekoppelt und damit „reifiziert" bzw. „verdinglicht" werden. Dinge und Plätze verkörpern sinn- und bedeutungsstrukturierte Wirklichkeiten ausschließlich für Personen, die Sinn- und Bedeutungsgehalte aktiv „entziffern", wobei dieses Entziffern als kreativer Bildungsprozeß und nicht als neutrales Aufnehmen einer vermeintlich vorgefertigten Bedeutung konzeptualisiert werden muß. Für den Menschen gibt es eine „Kultur da draußen" so wenig wie sonst eine von seinem Handeln vollständig unabhängige und dennoch bedeutungsvolle „Wirklichkeit an sich". In zeit- und gedächtnistheoretischer Perspektive habe ich diesen Einwand an anderer Stelle entfaltet (Straub, 1992a; 1993c).
5. Handlung und Kultur
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schöpfende Analyse der vielschichtigen Bedeutungsstruktur des Kulturbegriffs kann hier nicht geleistet werden. Allerdings sollte am Ende dieses Kapitels eine Vorstellung einer mit dem Kulturbegriff operierenden Psychologie entwickelt sein, die über die üblichen Stichworte hinausweist. Solche Stichworte setzen in der Regel bei etymologischen Hinweisen an, die die lexikalische Bedeutung des lateinischen colere klären, um dann die Kultur der Natur gegenüberzustellen und mit der Proklamation einer kulturwissenschaftlichen Psychologie zu enden. Damit ist begrifflich wenig geklärt und in theoretischer, methodologischer sowie methodischer Hinsicht kaum etwas gewonnen. Wie man mit Plessner sagen kann, gehört die Kultur zur Natur des Menschen. Die Natur ist dem Menschen ihrerseits nie unabhängig von kulturellen Wahmehmungs-, Deutungs- und Orientierungsmustern gegeben (vgl. zu diesem und anderen Aspekten des Kulturbegriffs Soeffner, 1988a). Im folgenden interessiert der Kulturbegriff primär in seiner Funktion, wissenschaftliche Analysen psychosozialer Wirklichkeiten begrifflich zu fundieren. Diesem Zweck dient der Begriff seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; und diesen Zweck besitzt er noch in der zeitgenössischen Kulturpsychologie." 8
5.2 Zur Renaissance der Kulturpsychologie und des Kulturbegriffs Die Verknüpfung handlungstheoretischen und kulturpsychologischen Denkens ist eine vergleichsweise junge Erscheinung. Als handlungstheoretische Überlegungen längst etabliert waren, war von Kulturpsychologie im hier interessierenden Sinn noch kaum die Rede." 9 Die Karriere des Kulturbegriffs folgte deijenigen des Handlungsbegriffs mit erheblichem zeitlichen Abstand. Einmal in Gang gesetzt, nahm sie allerdings einen steilen Verlauf. Ganz grob läßt sich das durch die Gegenüberstellung einiger Äußerungen illustrieren. In einer 1982 gehalte-
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Zur Wort- und Begriffsgeschichte vgl. die Stichwortartikel von Perpeet (1976), Schwemmer (1984) und insbesondere Fisch (1992). Im modernen Kulturbegriff sind ergologische, soziative und temporal-historische Bedeutungselemente integriert; grundlegend für dieses Verständnis sind Herders 1784-1792 erschienene „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Speziell aus psychologischer Sicht vgl. auch Krewer (1990; 1992, 182ff.). Klärungen nicht zuletzt mit Mitteln der Faktorenanalyse versuchen Soudijn, Hutschemaekers und van de Vijver (1990). Erwähnt sei schließlich die häufig zitierte Analyse von Kroeber und Kluckhohn (1952).
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Ich konzentriere mich im folgenden auf neuere Beiträge zu einer handlungstheoretisch ausgerichteten Kulturpsychologie. Historische Wegbereiter und ältere Konzeptionen bleiben gänzlich unberücksichtigt. Eine systematische Rekonstruktion solcher Ansätze wurde bislang erst vereinzelt und ansatzweise geleistet. Freuds kulturpsychologische Arbeiten gehören bekanntlich zu den vieldiskutierten Beiträgen. Zwei weitere Beispiele seien herausgegriffen: zu Wundts Völkerpsychologie vgl. Schneider (1990), zur soziohistorischen Schule die Hinweise in Fußnote 114 sowie Kozulin (1984; 1990), Metraux (1996), Wertsch (1985).
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nen Vorlesung von Boesch, dem über Jahrzehnte hinweg zweifellos bedeutendsten Vertreter einer handlungs- und kulturtheoretisch ausgerichteten Psychologie, finden sich folgende Sätze, deren vorsichtiger, defensiver Ton kaum zu überhören ist: „Nicht jeder wird eine solche kulturpsychologische Orientierung begrüßen. Manche Fachleute der psychologischen Zunft neigen dazu, die Stirne zu runzeln, wenn man von Kulturpsychologie spricht" (Boesch, 1983, 21). Wichtige Gründe für die noch immer verbreitete Skepsis gegenüber kulturpsychologischen Ansätzen liegen auf der Hand. Wie Boesch am soeben angegebenen Ort ausfuhrt, ist Kultur, jedenfalls nach seiner Auffassung, „keine meßbare Variable" und „kaum eindeutig definierbar". Die Kulturpsychologie entzieht sich damit „unseren eigenen kultur- und fachspezifischen Ritualen der experimentellen Kontrolle und Messung". Vielsagend ist auch die von Boesch zitierte Frage, ob ein Kulturpsychologe denn „überhaupt noch ein Psychologe sei", da er doch die in der Psychologie vermeintlich unabdingbare Forderung der Operationalisierbarkeit und Meßbarkeit konkreter Phänomene untergrabe (Boesch, 1988, 246). Am Ende seiner Vorlesung ermuntert Boesch die Angehörigen der Universität, von der er gerade Abschied nimmt, Kulturpsychologie als eine Besonderheit der in der Bundesrepublik institutionalisierten Psychologie zu erhalten - wohl wissend, daß bald schon erörtert werden wird, „wie weit es sinnvoll sein wird, Kulturpsychologie weiter zu betreiben, ja möglicherweise sogar zu ihren Gunsten 'wissenschaftlichere' Zweige der Psychologie zu benachteiligen" (Boesch, 1983, 23). Diese Worte illustrieren, wie sehr die Kulturpsychologie im Jahre 1982 auch dort, wo sie theoretisch und empirisch am weitesten fortgeschritten war, als suspekte Ausnahmeerscheinung galt und unter Legitimationsdruck stand. Kulturpsychologie war ein „Orchideenfach", betrieben von wenigen Überzeugungstätern mit einem gerüttelt Maß an Frustrationstoleranz, argwöhnisch beäugt von Skeptikern und belächelt von jenen, die diese Angelegenheit ohnehin als völlig bedeutungslos betrachteten. Im Verlauf der 80er und 90er Jahre hat sich manches geändert. Unverkennbar bewegte sich die Kulturpsychologie von ihrer randständigen Position fort. Die Kulturpsychologie nahm einen unerwarteten Aufschwung. Ihre Vertreter sprechen heutzutage in einem sehr viel selbstbewußteren Ton über den Stand und Fortgang kulturpsychologischen Denkens und Forschens. Im Vorwort zu einem Sammelband, der auf zwei wichtige Symposien zurückgeht, wird der diagnostizierten kulturpsychologischen Bewegung mit folgenden Worten Ausdruck verliehen: „Cultural psychology seems to be very much in the air these days" (Stigler, Shweder & Hert, 1990, VII). Der Aufschwung der Kulturpsychologie verlief in den Vereinigten Staaten zügiger und breitenwirksamer als im deutschsprachigen bzw. europäischen Raum. Shweder konnte 1990 selbstbewußt konstatieren: „A discipline is emerging called 'cultural psychology'" (1990, 1). Kulturpsychologisches Denken und Forschen bildet heute eine keineswegs homogene, aber dennoch konsolidierte Praxis. Die an exemplarischen Äußerungen festgemachte Differenz ist also nicht darauf zurückzuführen, daß sie von Autoren stammen, die auf verschiedenen Kontinenten arbeiten. Diese Differenz markiert vielmehr den allgemeinen Aufstieg der Kulturpsychologie in
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den Vereinigten Staaten und in Europa. Diese Diagnose läßt sich vielfach bestätigen. So schreiben van de Vijver und Hutschemaekers (1990, 1): „Cultural psychology has developed rapidly during recent decades. We have witnessed a large stream of articles and books dealing with a host of topics. The time seems ripe for a reflection on the diversity." Allesch und Billmann-Mahecha (1990, 7) formulieren zur gleichen Zeit, daß sich die Plädoyers für die Konturierung und Etablierung der Kulturpsychologie beträchtlich mehren. In der Tat: Wer beispielsweise die letzten Jahrgänge des American Psychologist durchblättert, wird sich kaum des Eindrucks erwehren können, der Ausdruck „Kultur" sei bereits zu einem Modewort geworden. Bisweilen dient dieser Ausdruck als bloße Chiffre für wenig überzeugende Klagen, Diagnosen und bloß programmatische Verlautbarungen. 120 Die Rückbesinnung auf einen für lange Zeit ins Abseits gestellten Begriff teilt die Psychologie mit anderen Fachwissenschaften wie der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und vor allem der Ethnologie, in der der Kulturbegriff allerdings seit jeher entscheidendes Gewicht besitzt.121 Was Knorr-Cetina mit einem Blick auf die elaborierten theoretischen Kulturkonzepte und die kulturanalytischen Forschungen der kognitiven Anthropologie eines Sturtevant oder der symbolischen Anthropologie eines Turner oder Geertz sagt: daß nämlich die Soziologie dergleichen bislang nicht zu bieten habe (Knorr-Cetina 1988b, 27), gilt auch für andere Disziplinen. Es gilt für die Geschichtswissenschaft, in der etwa die kulturtheoretische Erneuerung der „Sozialgeschichte" heute nicht zuletzt auf die ethnologischen beziehungsweise kulturanthropologischen Diskurse Bezug nimmt (Daniel, 1993, 75ff), und es gilt für die Psychologie. Insgesamt betrachtet fällt auf, daß der Kulturbegriff in allen genannten
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Ein Beispiel hierfür bietet die von Hansen (1993) verfaßte Einleitung zu einem Sammelband, in dem ein „stiller Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften" dokumentiert werden soll. Dort werden nicht nur beinahe ohne jeden Respekt vor wissenschaftlichen Differenzierungsgeboten alle möglichen theoretischen und methodologisch-methodischen Ansätze aus verschiedenen Disziplinen unter das Dach eines sogenannten „neuen Paradigmas" gepfercht, sondern auch fragwürdige Einschätzungen des Standes einzelner Wissenschaften abgegeben. So ist Hansens „Kritik" an nativistischen Positionen und an einem „naiven, rein statistischen Empirismus" in der Psychologie merkwürdig unbeeindruckt von neueren Entwicklungen wie den hier erwähnten. Auch in Bruders (1993) interessantem Beitrag (vor allem) zu Fragen der Psychologiegeschichte ist, trotz des Titels „Psychologie und Kultur", mit keinem Wort von den Erträgen der neueren kulturvergleichenden Psychologie und Kulturpsychologie die Rede. Dadurch wird der bereits von Hansen erweckte, irreführende Eindruck verstärkt.
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Ähnliches gilt auch für interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, die sich seit längerem speziell mit Kulturproblemen befassen. Exemplarisch sei auf einige der herausragenden Publikationen zur Kulturtheorie, kulturwissenschaftlichen Hermeneutik und zur konkreten Erforschung von (Alltags- und Hoch-) Kulturen hingewiesen, die auf Initiative des seit 1978 bestehenden Arbeitskreises „Archäologie der literarischen Kommunikation" entstanden sind: Assmann, Assmann und Hardmeier (1983), Assmann und Assmann (1987), Assmann und Hölscher (1988), Assmann (1991b), Assmann und Harth (1990), Assmann und Harth (1991), Assmann (1992).
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Disziplinen eine „geradezu triumphale Rückkehr" feiert: „'Kultur' figuriert im Titel v o n Zeitschriftensonderbänden und -themenheften, v o n neuen Zeitschriften, von neugegründeten wissenschaftlichen Sektionen, ganz zu s c h w e i g e n v o n zahlreichen Veröffentlichungen" (Daniel, 1993, 70). 122
5.3 Kulturpsychologie und transkulturelle kulturvergleichende Psychologie Für die erwähnte Entwicklung gibt es mehrere Gründe. Z u ihnen gehört bekanntlich die Tatsache, daß heutzutage zahlreiche Gesellschaften in kultureller Hinsicht eine höchst k o m p l e x e Struktur aufweisen. Sie sind multikulturell verfaßt. Dieser empirische Befund kommt mittlerweile in vielen theoretischen Überlegungen zum Ausdruck. D i e Reduktion der Gesellschaft auf einen vor allem sozialökonomisch bestimmten, gesetzesmäßig strukturierten und funktional differenzierten Sachzusammenhang, der kulturelle Phänomene allenfalls als bloße Derivate sozialökonomischer Bedingungen und Prozesse erscheinen läßt, gilt heute als unzureichend. 123 In einer Zeit, in der kulturelle Differenzen inner-
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Die Autorin nennt zu jedem der soeben aufgezählten Publikations- und Aktivitätsmodi Beispiele. Diese ließen sich leicht zu einem einigermaßen umfangreichen Verzeichnis ausweiten. Ich führe - höchst selektiv - nur einige wenige Beispiele aus den Disziplinen Soziologie und Psychologie an: thematisch einschlägige Zeitschriftensonderbände wurden herausgegeben von Lipp und Tenbruck (1979), Neidhardt, Lepsius und Weiß (1986), Matthes (1992), Soeffner (1988), Lang und Fuhrer (1993). Neuere Zeitschriften sind etwa Theory, Culture & Society (seit 1984), Culture & Psychology (seit 1995), The Quarterly Newsletter of the Laboratory of Comparative Human Cognition (seit 1979), Handlung Kultur Interpretation. Bulletin für Psychologie und Nachbardisziplinen (seit 1992). Sektionen und Gruppierungen zur Koordination einschlägiger Aktivitäten sind ebenfalls entstanden: 1984 war die Gründung der Sektion für Kultursoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu verzeichnen, und in der Psychologie ist etwa hinzuweisen auf die International Association for CrossCultural Psychology oder die 1987 gegründete Gesellschaft für Kulturpsychologie e.V. An Buchpublikationen seien lediglich einige informative Arbeiten aus dem Feld der Kulturpsychologie genannt: Allesch und Billmann-Mahecha (1990), Allesch, Billmann-Mahecha und Lang (1993), Stigler, Shweder und Hert (1990), Thomas (1993, 1996), van de Vijver und Hutschemaekers (1990); knappe Ein- und Überblicke bieten Cole (1990), Krewer (1990; 1993a; 1993b). Die Literatur speziell zur kulturvergleichenden Psychologie ist äußerst umfangreich. Genannt sei das sechsbändige Überblickswerk von Triandis et al. (1980) sowie die von Lonner und Berry bei Sage herausgegebene Buchreihe Cross-Cultural Research and Methodology Series; aus diese Reihe greife ich heraus: Kagitfibasi (1987a); zahlreiche einschlägige Artikel finden sich u.a. in den Zeitschriften The Journal of Cross-Cultural Psychology und The International Journal of Psychology.
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Vgl. Knorr-Cetinas (1988, 29) Vorschlag einer Erweiterung des Sozialitätsbegriffs. Auch die erwähnte kulturtheoretische Erneuerung der geschichtswissenschaftlichen Konzeption der Sozialgeschichte (Kocka, Wehler u.a.), wie sie Daniel anstrebt, setzt an der Kritik eines verengten Sozialitäts- und Gesellschaftsbegriffs an. In der Psychologie findet sich ein Gesellschaftsbegriff, der Kultur und Psychisches lediglich als abgeleitete Phänomene erscheinen
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halb einzelner und im Verkehr zwischen Gesellschaften zu einer permanenten Quelle psychosozialer und politischer Konflikte und Debatten geworden sind, liegt eine kulturtheoretische Korrektur gesellschaftstheoretischen Denkens nahe. Auch die Psychologie hat sich auf ihre theoretischen Orientierungen zu besinnen, wenn sie einen Beitrag zur Bewältigung der genannten Schwierigkeiten leisten möchte. Es gilt heute als Gemeinplatz, daß zahlreiche psychologische Theorien und Forschungen sowie die angewandte Psychologie an einem ethnozentrisehen oder kulturzentrischen bias leiden. Viele der universalistisch formulierten Annahmen und Befunde haben sich in anderen als der nordamerikanischen oder europäischen Kultur bekanntlich nicht replizieren lassen. Sie sahen von vornherein von der Möglichkeit radikaler kultureller Divergenz und Heterogenität ab. Viele einflußreiche Stimmen wenden sich mittlerweile entschieden gegen einen Universalismus, der kultur- oder ethnozentrische Sichtweisen geradezu heraufbeschwört. Gergens Konzeption des social constructionism oder Sampsons Überlegungen zu einer indigenious psychology können als Beispiele für eine anti-universalistische Psychologie dienen (Gergen, 1985; Gergen & Davies, 1985a; Shotter & Gergen, 1989). Psychologischer Kulturund Ethnozentrismus walten überall dort, wo psychische Strukturen und Funktionen als angeblich anthropologische brüte facts erforscht werden „with little consideration of the social processes through which 'factuality' is established" (Gergen & Davis, 1985b, V). Eine Psychologie, die - nicht zuletzt durch die unreflektierte Anwendung von Methoden und Tests, die auf bestimmte kulturelle Standards zugeschnitten sind - zu Behauptungen gelangt, die ihren universalistischen Anspruch bei näherem Hinsehen nicht einlösen können, verschärft interkulturelle Probleme eher, als daß sie ihre Lösung fördern könnte. Sie stabilisiert soziale, gesellschaftliche, internationale bzw. interkulturelle Ungleichheitsverhältnisse, trägt zur Ausgrenzung von Minderheiten bei oder setzt diese unter Anpassungsdruck. Demgegenüber geht die Kulturpsychologie davon aus, daß kulturellen Besonderheiten von Handlungs- und Lebensformen größte Aufmerksamkeit entgegenzubringen ist. Eine ihrer fundamentalen Annahmen ist, daß „unter den derzeitigen globalen Rahmenbedingungen existentielle Probleme von Menschen immer auf Kulturprobleme hinweisen und umgekehrt" (Werbik, 1987b, 211; vgl. Allesch, Billmann-Mahecha & Lang, 1992, 8). Die Kulturpsychologie berücksichtigt allerdings nicht nur diese verbreitete alltagsweltliche Erfahrung. Sie zieht nämlich auch die Konsequenzen aus einer wissenschaftsinternen Erfahrung, durch die die Grenzen der universalistischen Begriffs- und Theoriebildung mehr und mehr ins Bewußtsein rückten. Zu dieser Erfahrung verhalf -
läßt, beispielsweise in der von Holzkamp und anderen ausgearbeiteten „Kritischen Psychologie", vor allem in früheren Schriften (Braun & Holzkamp, 1977).
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nolens volens - vor allem die transkulturelle kulturvergleichende Psychologie (vgl. Eckensberger, 1990a; 1990b; 1991a; 1991b), die sich ungefähr seit Frijdas und Jahodas bekanntem Artikel aus dem Jahre 1966 zu einem regelrechten Exportschlager entwickelte. Allerdings ist es bis heute keineswegs selbstverständlich, aus den deutlich gewordenen Grenzen der universalistisch angelegten Psychologie die Konsequenz zu ziehen, fortan eine kulturpsychologische Perspektive einzunehmen, in der kulturelle Differenzen als solche interessieren, also nicht mehr als bloße Hindernisse und Hemmnisse der intendierten allgemeinpsychologischen Begriffs- und Theoriebildung betrachtet werden. Der Aufschwung der Kulturpsychologie war also keine unmittelbare und zwingende Folge jener kulturvergleichenden Forschungen, die die unterstellte Allgemeingültigkeit bestimmter psychologischer Theorien ins Zwielicht rückten. Schon der gegen die kulturvergleichende, transkulturelle Psychologie erhobene Vorwurf des Ethnozentrismus (Sinha, 1983) wurde keineswegs unisono akzeptiert, obwohl die Befundlage, soweit ich sehe, kaum einen anderen Schluß zuläßt. Ingleby (1990, 68) faßt prägnant zusammen, daß ernsthafte Probleme bestehen „about using ready made psychological tools to investigate members of other cultures - because these tools have been fashioned to suit the members of our own culture." Untersuchungs- bzw. Testinstrumente wie der WISC oder MMPI, so Ingleby, können nicht kulturunabhängig eingesetzt werden. Sie messen, was sie messen sollen, nicht ebenso objektiv, wie ein Thermometer ortsunabhängig die Temperatur mißt, gleichgültig ob in der Sahara oder in New York. Ahnliches gilt für nicht oder kaum standardisierte, offene Verfahren der Datenerhebung, wie sie vor allem in der interpretativen Forschung eingesetzt werden. Exemplarisch sei auf die von Matthes (1985) nachgewiesene transkulturelle Relativität erzählanalytischer Verfahren hingewiesen. Auch das narrative Interview und die Methoden zur Analyse von Erzähltexten sind keine Verfahren, die in der empirischen Forschung völlig unabhängig vom kulturellen Kontext verwendet werden können. Ein weiteres Beispiel: Ingleby führt aus, wie problematisch der weltweite Einsatz eindeutig kulturspezifischer Konzepte und Methoden zur Erforschung des psychischen Wohlbefindens von Kindern ist. Wie der Autor argumentiert, ist über die mißliche Lage brasilianischer Straßenkinder durch den Einsatz eines Instrumentes wie des Ainsworth Strange Situation Test so gut wie nichts wirklich Aufschlußreiches in Erfahrung zu bringen. Dieser Test beruht nämlich auf der strengen Unterscheidung zwischen „'familiar' figures and 'strange' ones. Such a distinction is central to our child-rearing practices, because in the course of industrial modernisation a widening gulf has arisen between the segregated atmosphere o f ' h o m e ' and the 'outside world' of work and the public sphere. To say this is not to argue that Brazilian street children are happy: it simply means that one cannot measure the development of a child who lacks the modern western concept of home in terms of anxiety they experience (or fail to experience) in the presence of strangers. The child is a 'cultural in-
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vention' ... and our methodology must adapt to the different ways in which childhood is invented in different cultures" (Ingleby, 1990, 68f.; sowie 1989).' 24 Ähnlich fällt die Kritik am Einsatz von (theoretischen) Konzepten und Untersuchungsmethoden in vielen anderen Bereichen psychologischer Forschung aus. So wurden beispielsweise persönlichkeitspsychologische Intelligenzmessungen häufig ins Visier genommen (Cole & Means, 1981; Serpell, 1974). In diesem Bereich kulturvergleichender Forschungen wurde frühzeitig die Forderung nach culture-fairness erhoben. Bei alledem geht es selbstverständlich nicht bloß um Tests, Methoden und Meßinstrumente. Viele empirische Befunde selbst und schließlich die darauf sich stützenden Theorien erscheinen, was die beanspruchte universelle Gültigkeit angeht, zweifelhaft. Aus der Sozialpsychologie können etwa die Replikationsstudien von Amir und Sharon (1987) angeführt werden (vgl. hierzu bereits Jahoda, 1986a; 1986b; auch Wagner, 1992, 59). Die Autoren griffen sich für ihre Wiederholungsstudien dreißig zufällig ausgewählte Befunde experimenteller Untersuchungen heraus, die in angesehenen nordamerkanischen Fachzeitschriften veröffentlicht worden waren. Die Originalstudien waren in den Vereinigten Staaten durchgeführt worden (meistens mit studentischen Versuchspersonen). Die Replikationsversuche führten Amir und Sharon in Israel durch. Bei aller gebotenen Sorgfalt, die die Forscher bei der Durchführung walten ließen, erwiesen sich in diesem anderen kulturellen Rahmen nur sechs Ergebnisse als vollständig stabil. Die anderen waren von kulturellen und sozialen Faktoren abhängig: „vier waren nur innerhalb der gleichen Sozialschicht nachzuvollziehen" (Wagner, 1992, 59), die übrigen Experimente führten zu anderen Ergebnissen. Weiterhin liegt heute eine Fülle von kulturvergleichenden Studien zu Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung vor, speziell auch zu der von Kohlberg ausgebauten Theorie der Entwicklung moralischen Bewußtseins (Dasen, 1977a; 1977b; 1984; Dasen & Heran, 1981; Edwards, 1986). Auch diese Arbeiten wecken teilweise eine grundsätzliche Skepsis gegenüber universalistischen Ansprüchen psychologischer Theorien. Einen Grund für Bedenken liefert etwa der häufige empirische Befund, daß in sogenannten nicht-westlichen Kulturen das Stadium der konkreten Operationen sensu Piaget im allgemeinen mit deutlicher zeitlicher Verzögerung erreicht wird. Nach den vorliegenden Daten
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Die Formulierung, durch die das „Kind" und die „Kindheit" als cultural inventions aufgefaßt werden, stammt von Kessen (1983). In einem jüngeren Aufsatz stellt Kessen (1993) die starke These auf, die Erfindung der Kindheit, des kompetenten Kindes etc. kompensiere den spezifisch modernen Verlust an Gewißheit und Transzendenz. Zu diesem Thema vgl. auch das in der Auseinandersetzung mit historischen Studien entwickelte Konzept der Kindheitsbilder, die als „ideale Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche oder auch eine soziale Gruppe von Kindern macht" (Billmann-Mahecha, 1990a, 94), verstanden werden können. Zu theoretischen Annahmen, durch die (unter anderem) Kindheitsbilder sowohl als spezifisch historische als auch als sozio-kulturelle Konstruktionen aufgefaßt werden, siehe auch die kritischen Überlegungen zum sozialen Konstruktionismus von Peeters (1990).
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erlangen einige Erwachsene in nicht-westlichen Kulturen dieses Stadium überhaupt nie. Dieses Ergebnis ist auf verschiedene Weise interpretierbar. Eine Interpretation geht dahin, den Befund nicht einfach als empirische Tatsache hinzunehmen, sondern als Artefakt aufzufassen, das auf einen kulturellen bias in den begriffli-chen, theoretischen und methodischen Grundlagen wissenschaftlicher Forschung zurückzufuhren ist. Viele Vertreter der kulturvergleichenden Psychologie sehen in zweifelhaften Befunden wie den angeführten allerdings keinen Anlaß, die Universalitätsansprüche psychologischer Erkenntnisse einzuschränken oder gar aufzugeben. Die traditionelle Reaktion fällt anders aus. Meistens werden theoretische oder methodische Korrekturen vorgenommen, die gerade nicht dazu zwingen, die universellen Geltungsansprüche einer Theorie grundsätzlich in Frage zu stellen. Wagner oder Eckensberger etwa halten solche Rettungsstrategien zu Recht für unzureichend, in vielen Fällen für prinzipiell verfehlt. Wagner zieht aus den Ergebnissen der Replikationsstudien von Amir und Sharon die Konsequenz, daß der universalistische Ansatz, dem sich die (kulturvergleichende) Sozialpsychologie verpflichtet fühlt, ergänzt werden müsse. Er fordert eine Sozialpsychologie, die ihre Theorien und Forschungen explizit auf die jeweiligen soziokulturellen Referenzpopulationen bezieht, an denen die Forschungsergebnisse gewonnen wurden. Wagner bezieht sich damit auf eine längere Reihe von Autoren (z.B. Graumann, Jahoda, Moscovici, Ryff, Tajfel), die allesamt eine ernsthafte soziokulturelle Orientierung der Sozialpsychologie angemahnt haben. Eckensberger nimmt Befunde kulturvergleichender Forschungen aus der Entwicklungspsychologie zum Anlaß, der Kultur prinzipiell größte Bedeutung für die psychische Entwicklung zuzuschreiben. Auch er zeigt sich gegenüber Totalitätsansprüchen universalistischer Erkenntniskonzeptionen skeptisch.125 Eckensbergers Plädoyer für die Kulturpsychologie richtet sich gegen die Theorie und Praxis der traditionellen kulturvergleichenden Psychologie. Ekkensberger skizziert einen Weg, der von der transkulturellen kulturvergleichenden Psychologie (cross-cultural psychology) weg- und zur Kulturpsychologie (cultural psychology) hinführt. Ähnlich argumentiert der kulturvergleichende Entwicklungspsychologe Price-Williams (1980). Es ist nun zu sehen, aufweiche Weise der „Widerstand" bestimmter Kulturen gegen die Universalitätsansprüche psychologischer Theorien zur Kritik an jeder transkulturellen Psychologie und zugleich zum Aufschwung der Kulturpsychologie beitrug. Vor allem die kulturvergleichende Forschung stieß an ihre eigenen, theoretisch-konzeptionellen und methodologisch-methodischen Grenzen. Diese Grenzen waren im Grunde genommen die Grenzen einer Allgemeinen Psychologie, die definitionsgemäß von allen Besonderheiten konkreter Lebensformen absieht, um universelle Strukturen, Prozesse und Funktionen menschlichen Erlebens und Verhal-
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In einer neueren Arbeit (Eckensberger, 1996) argumentiert er allerdings stärker für eine universalistische Orientierung, als es in den oben genannten Aufsätzen der Fall ist.
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tens in deterministisch oder probabilistisch formulierten Allsätzen zu erfassen. Die traditionellen Bemühungen, durch interkulturelle Vergleiche die transkulturelle Gültigkeit psychologischer Theorien abzusichern, hatten somit einen nicht intendierten Nebeneffekt. Der Kulturvergleich rückte seine eigenen theoretischen und methodischen Grundlagen ins Zwielicht. Auf die mögliche heuristische und kritische Funktion der kulturvergleichenden Forschung wird häufiger hingewiesen. Für nicht wenige Beteiligte führten kulturelle Fremdheitserfahrungen, wie sie die kulturvergleichende Forschung mit sich bringen kann, zu einem Verlust von Selbstverständlichkeiten und eingeschliffenen Urteilen. Ihre althergebrachte Wissenschaftsauffassung begann, zusammen mit anderen Deutungsmustern, Handlungs- und Lebensorientierungen, zu wanken. All dies bekräftigt, was die Hermeneutik nicht müde wird zu betonen: Es gibt kein Verstehen des anderen ohne Veränderung des eigenen Selbstverständnisses. Speziell der Blick auf fremde Kulturen führt nicht bloß dazu, daß wir neue Erkenntnisse über diese gewinnen. Er wirft häufig ebensoviel Licht auf die eigenen (kulturspezifischen) Voreingenommenheiten, auf die Vorurteile und unhinterfragten Voraussetzungen, die den Forschungen zugrunde liegen. So mancher Forscher, der sich in fremden Kulturen bewegt, bekommt „Zweifel an der Übertragbarkeit seines Instrumentariums, der Bedeutung der Untersuchungssituation, der Vergleichbarkeit von Stichprobenparametern und so fort. All das, was ihm bisher selbstverständlich war, scheint ins Wanken zu geraten: Schlimmer noch, er beginnt sich zu fragen, ob denn die Vergleichbarkeit von Situationen und/oder Tests überhaupt innerhalb einer Kultur gewährleistet ist, ja ob sie prinzipiell möglich ist. Fragen, die einem im Kulturvergleich eigentlich ganz selbstverständlich widerfahren, die einem 'in der gewohnten psychologischen Ökologie' jedoch vielleicht als eher weit hergeholt vorkommen. Meine Behauptung ist also, daß der kulturvergleichende Psychologe mehr als seine Kollegen gezwungen wird, die 'mainstream psychology' und ihre modalen Ansätze zu reflektieren" (Eckensberger, 1991a, 4; Hervorh. von mir, J.S.; vgl. auch ders., 1990a, 38). Die wissenschaftlichen und persönlichen Verunsicherungen nehmen zu, je mehr die empirische Forschung mit der Partizipation an einer mehr oder minder unvertrauten kulturellen Praxis einhergeht. Ethnologen und Kulturanthropologen, für die die teilnehmende Beobachtung häufig die Methode der Wahl ist, singen ein Lied davon. Betrachtet man sich die Geschichte der kulturvergleichenden Psychologie, so erweist sich die durchaus verbreitete Behauptung, von Kultur sei in der neueren Psychologie so gut wie gar nicht die Rede, zunächst einmal als falsch, zumindest aber als erläuterungsbedürftig. Der Kulturvergleich ist ganz offenkundig seit langem fest etabliert. In welcher Art und Weise Kultur zum Thema wird, ist allerdings durchaus bedenklich. Es läßt sich nämlich leicht zeigen, daß die Thematisierung von „Kultur" in der kulturvergleichenden Psychologie gerade nicht dazu dient, kulturspezifische Besonderheiten psychosozialer Phänomene zu klären bzw. die wechselseitig konstitutiven Beziehungen zwischen
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Kultur, Subjekt und Handlung (und anderen psychischen Phänomenen) zu erhellen. Diese sollen vielmehr möglichst „weg-erklärt" werden, um den Universalitätsanspruch psychologischer Theorien bewahren zu können. Häufig sorgen allein schon das tertium comparationis bzw. die im Kulturvergleich eingesetzten Untersuchungs- oder Meßinstrumente dafür, daß Eigenheiten zumindest einer der untersuchten Kulturen nicht einmal im Ansatz ins Blickfeld geraten können. Eckensberger legt überzeugend dar, daß sich unter dem Titel „kulturvergleichende Psychologie" nicht etwa eine inhaltlich definierte Subdisziplin verbirgt, sondern eine „bloße Methode" oder „Strategie, die substantiell zwar das Experiment ergänzt, formal aber der gleichen Logik folgt" (Eckensberger, 1990b, 154). Diese Charakterisierung entspricht durchaus dem Selbstverständnis kulturvergleichender Psychologen: „cross-cultural psychology is defined mainly by its method", heißt es gleich am Anfang eines Aufsatzes von Berry (1980). Maßgeblich fiir diese Auffassung war, so Eckensberger, Strodtbecks (1964) klassische Arbeit, in der Kultur allein in der Form kultureller Bedingungen des Verhaltens, nämlich als ein set of treatments oder unabhängigen Variablen, interessiert. Der empirische Kulturvergleich ergänzt das Experiment, das fraglos als via regia wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung gilt. Dabei werden kulturelle Bedingungen den experimentellen Variablen im Prinzip gleichgestellt. Dies stellt, so Eckensberger, einen eklatanten Verstoß gegen eine durchaus allgemeine Einsicht dar. Kulturelle Bedingungen kann man ja nicht, wie es ein experimentelles Untersuchungsdesign erfordert, willkürlich beliebigen Personen zuordnen. Trotzdem gilt der Kulturvergleich noch heute vor allem als „der explizite, systematische Vergleich psychologischer Messungen unter verschiedenen kulturellen Bedingungen" (Eckensberger, 1991a, 2). Auf der Grundlage dieser allgemeinen Definition wurden insbesondere zwei Forschungsstrategien entwickelt. Auf der einen Seite ging und geht es um die Suche nach kulturbedingten Differenzen psychischer Phänomene, ohne daß dabei stets ein expliziter Vergleich empirischer Daten durchgeführt wird. Kulturelle Differenzen werden in solchen, wie Eckensberger sagt, Differenzierungsstudien als unabhängige Variablen eingesetzt. Häufig dreht sich in solchen Untersuchungen alles um den „test of a 'point hypothesis'... The aim of this kind of study in cross-cultural research is to clarify the following function: Some psychological condition = f (some cultural condition)" (Eckensberger, 1990b, 154f.). Auf der anderen Seite bemüht man sich in Generalisierungsstudien gleichsam direkt um den Nachweis psychologischer Universalien - trotz der augenscheinlichen kulturellen Unterschiedlichkeit psychologischer Entwicklungs- und Verhaltensbedingungen. Getestet wird in diesen Fällen die in theoretischen Hypothesen behauptete Unabhängigkeit konkreter psychologischer Phänomene von kulturellen Bedingungen. Man erwartet keine kulturellen Differenzen, sondern transkulturelle Gleichheit. In Eckensbergers Worten geht es um die Klärung der folgenden Gleichung: „A systematic relationship between some psychological conditions (their antecedents and development) in Culture A =
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the same systematic relationship between the same psychological conditions (their antecedents and development) in cultures B, ..., N " (ebd., 155; Beispiele für beide Strategien finden sich in Eckensberger, 1991a, 2ff.). Wie ist es in diesen beiden Fällen um die Kultur bestellt? Das Resümee ist ernüchternd: „Im ersten Fall wird Kultur zu einer relativ isolierten Umweltgröße eingedampft, die man ihrerseits zu skalieren versucht (sei es kategorial oder mehrstufig). Diese Auffassung enthält damit an sich kein Kulturkonzept im engeren Sinne. Robert Segall ... findet es deshalb auch gar nicht notwendig, sich in der Psychologie über das Kulturkonzept den Kopf zu zerbrechen, sondern er meint, daß es, solange man es als Variable oder als ein Variablenbündel in einem Forschungsplan verwirklichen kann, seinen Zweck bereits voll erfüllt. Im zweiten Fall verschwindet das Kulturkonzept unter Umständen ganz: Postuliert wird ja gerade die Unabhängigkeit psychologischer Prozesse von kulturellen Kontexten" (Eckensberger, 1991b, 3; vgl. Segall, 1983; 1984). Die kulturvergleichende Psychologie bildet und testet universelle Hypothesen und Theorien über psychische Strukturen, Prozesse und Funktionen unter verschiedenen Kulturbedingungen. Wo es dem Titel nach um Kulturen und die kulturspezifische Sinn- und Bedeutungsstruktur von Handlungen (und anderen psychischen Phänomenen) geht, wird letztlich doch nichts anderes erforscht als die vermeintlich universale Natur des Menschen (Jahoda, 1986b). In die bedingungsanalytisch angelegten Studien werden allenfalls die als unabhängige Variablen operational faßbaren „Dimensionen" einer Kultur einbezogen. Mit guten Gründen führt Eckensberger (1990b, 153ff.), der einst selbst für eine kulturvergleichende Psychologie im skizzierten Sinne eintrat (Eckensberger, 1969), die Anlage dieses Forschungstyps auf die epistemologischen und methodologisch-methodischen Prinzipien der nomologischen Psychologie zurück. Poortingas bekannte Konzeption der kulturvergleichenden Psychologie zielt entsprechend auf eine möglichst totale Dekontextualisierung psychologischer Variablen ab: „to reveal underlying universal human characteristics by 'peeling the onion called culture' layer after layer until the culture concept itself has vanished" (Eckensberger, 1990a, 42; vgl. Poortinga, van de Vijver, Joe & van de Koppel, 1987). Ähnliches hat Whiting (1976) mit ihrer Formel „unwrapping the packaged variable culture" im Sinn. Jahoda (1990, 127) resümiert treffend: „... when one looks back over the recent history of cross-cultural psychology, it will be realized that what happened in essence was a straight transposition of what Cronbach called the 'two disciplines' of psychology, namely the experimental and the psychometric. In other words we ourselves are to a considerable content guilty of the same sin with which we like to castigate main-stream psychologists, namely the omission of the cultural context." 126
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Jahoda bringt seine Enttäuschung über den Ausschluß der Kultur aus der kulturvergleichenden Psychologie unverblümt zum Ausdruck. Er verweist sodann auf Shweders Alternative, jedoch nicht ohne Zögern. Dessen „romantische" Version der Kulturpsychologie sei, was die
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So gut wie immer geht es um den empirischen Nachweis, daß die eine und einzige Welt psychologischer Tatsachen kulturunabhängig ist und zu Recht mit jener Wirklichkeit gleichgesetzt werden kann, wie sie in den Laboratorien der „westlichen" Psychologie zutage gefordert wird. Die kulturvergleichende Psychologie ist ein Zweig der Allgemeinen Psychologie. Sie prüft empirisch, was jene programmatisch unterstellt. Dieses Anliegen darf keineswegs pauschal kritisiert werden. Die Frage nach psychologischen Universalien hat zweifellos ihre Berechtigung und Bedeutung. Wie van de Vijver und Poortinga (1990, 91-114) in ihrer Taxonomie darlegen, können solche kulturunabhängigen Universalien - trivialerweise - am ehesten dort erwartet werden, wo Verhalten als bloßer Effekt von biologisch-physiologischen Strukturen, Prozessen und Funktionen aufgefaßt werden kann. Die Dinge werden komplizierter (kulturspezifischer), wenn es - in der taxonomischen Ordnung der genannten Autoren - um wahrnehmungs- und kognitionspsychologische, um komplexere persönlichkeitspsychologische und schließlich um sozialpsychologische Fragen geht. Und bisweilen ist es nicht nur theoretisch plausibler, sondern auch praktisch bedeutsamer und interessanter, das Augenmerk nicht auf Gleichheit und mögliche Uni versalien, sondern auf kulturelle Differenzen zu richten. Dogmatismus kleidet weder die Kulturpsychologie noch die traditionelle kulturvergleichende Psychologie gut. Wer Eckensbergers (1991b, 4ff.) Diagnose, Poortingas und Malpass' Wissenschaftsverständnis sei „antiquiert", nicht teilen mag, könnte zumindest den dogmatischen Ton befremdlich finden, mit dem die genannten Autoren ihren „neo-Popperian or neo-positivistic framework" als verbindlichen Rahmen wissenschaftlichen Handelns zur Geltung bringen. Dies erscheint besonders problematisch, sobald sich zeigt, daß Poortinga und Malpass konkurrierende Auffassungen bisweilen nur unzulänglich rezipieren, so daß sich dogmatische Vorurteile besonders leicht breit machen können. Symptomatisch erscheinen mir die Versuche Poortingas und van de Vijvers, sich abweichende Positionen anzueignen, um schließlich für eine vermeintlich „integrative" oder „pluralistische", kulturvergleichende Kulturpsy-
Ausführungen zur methodischen Forschungspraxis betrifft, wenig konkret. Diese Diagnose trifft zu. Sie benennt außerdem ein allgemeineres, trotz aller Fortschritte noch immer bestehendes Defizit der interpretativen Psychologie. Allerdings ist davor zu warnen, Shweders Konzeption oder sonst einen der interpretativen Ansätze kurzerhand mit einer Rückkehr zu Dilthey in Verbindung zu bringen. Diese Unterstellung Jahodas ist nicht haltbar. (Vgl. hierzu auch Jahodas Vorwort zu Boeschs Symbolic Action Theory and Cultural Psychology.) Eine solche Rückkehr wäre allenfalls ein Anachronismus - und abgesehen davon ein näher zu spezifizierender Weg, der Diltheys eigene, unter dem Einfluß von Husserls „Logischen Untersuchungen" formulierte Skepsis gegenüber seiner „frühen", psychologistischen Konzeption zu berücksichtigen hätte. Jahodas Bedenken gegenüber Shweders Kulturpsychologie erinnert im übrigen an Jahodas frühere Kritik an Coles Ansatz. Auch dieser ist dem Kritiker zu vage und unbestimmt, da er den Forscher einer Masse von empirischem Material ausliefere, ohne ihm das theoretisch-konzeptionelle und methodische Rüstzeug mitzugeben, das für eine aussichtsreiche Analyse dieses Materials nötig erscheint.
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chologie zu plädieren. Ihre Überlegungen müssen so, wie sie nun einmal angelegt sind, entweder zu vorschnellen Einebnungen differenter Denkformen und Forschungslogiken und entsprechend zu einer bloßen Pseudointegration unterschiedlicher Positionen, oder aber zu internen Widersprüchen einer angeblich integrativen Konzeption kulturvergleichender bzw. kulturpsychologischer Forschung fuhren. Vor allem ersteres scheint mir in hohem Maße der Fall zu sein. Man ist versucht, die Bemühungen dieser Autoren selbst in kulturpsychologischer Perspektive zu analysieren. Dabei stellte sich unter anderem heraus: Poortinga und van de Vijver gleichen zweierlei „Kulturen" des Denkens und Forschens allzu zügig aneinander an, indem sie die eine ganz aus der (normativen) Perspektive der anderen verstehen. Sie sprechen in dem oben zitierten Artikel weitgehend aus der Perspektive einer nomologischen Psychologie. Sie setzen deren Erkenntnisziele, deren Methodologie und deren Methodik voraus, auch wenn sie, den Kontrahenten scheinbar entgegenkommend, gleich in den ersten Sätzen abschwächend schreiben, ihr eigener Standpunkt sei der sogenannten universalistischen Position „näher" als der relativistischen. Am Ende ihrer Ausführungen heißt es: „The implicit philosophy of science in the present approach is related more to a neo-positivist than to a hermeneutic framework ... or to Gergen's social constructionism ..." (van de Vijver & Poortinga, 1990, 108). Wie die Rede vom „moderaten Universalismus" ist das nicht nur eine Untertreibung, sondern auch eine durchaus unklare Formulierung. Van de Vijver und Poortinga werfen nicht nur mancherlei Ansätze, die der transkulturellen nomologischen Psychologie üblicherweise als kritische Alternativen gegenübergestellt werden, kurzerhand in einen Topf. Sie gehen auch ohne eingehende Analysen bald schon davon aus, daß sich die vermeintlichen Kontrahenten sowieso viel ähnlicher sind, als gemeinhin angenommen wird. Die Kulturpsychologie als das „andere" wird über Gebühr homogenisiert und sodann - durch eine Art „Kombination", über die man nichts Näheres erfährt - dem Eigenen inkorporiert. Schon auf der ersten Seite wird der Standpunkt formuliert „that the differences between various paradigms in cultural psychology are often overestimated" (ebd., 91). Am Ende heißt es, was unterschiedliche Methoden betrifft: „Incomparability and incommensurability are too easily taken for granted" (ebd., 108). Ähnliche Äußerungen gibt es mehr. So halten sie die Vorstellung eines „unified body of cultural phenomena, and hence of a Single cultural psychology" (ebd., 109) für unabweisbar und hinreichend begründet. Diese Einheit wird jedoch, wie so oft beim „Verstehen" anderer, zumindest teilweise fremder Kulturen, eher durch eine fragwürdige Angleichung ans Eigene erzwungen, als daß sie aus einem Vergleich hervorgegangen wäre, der den besonderen Charakteristika des Verglichenen angemessen Rechnung getragen hätte. Selbstverständlich kann man vieles, wenn man nur abstrakt genug ansetzt, als „im Grunde genommen gleich" etikettieren. Ob damit gewinnbringende Einsichten verbunden sind, ist allerdings nicht von vornherein entschieden.
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Insofern van de Vijver und Poortinga fur einen liberalen Pluralismus psychologischer Denkformen und Forschungsmethoden plädieren - was nicht mit einem kriterienlosen anything goes zu verwechseln ist -, verdienen sie uneingeschränkte Zustimmung. Bisweilen mag das Verhältnis solcher Denkformen und Methoden als komplementär, manchmal als Verhältnis zwischen heterogenen Konkurrenten aufgefaßt werden. Im einen wie im anderen Fall sind Homogenisierungen oder Harmonisierungen, wie sie gerne unter dem Titel der „Integration" vorgetragen werden, fragwürdige Unternehmen. Der Ruf nach einer „integrativen", ja sogar einheitswissenschaftlichen Konzeption der Kulturpsychologie erinnert in mancherlei Hinsicht an die Auseinandersetzungen über qualitative und quantitative Methoden und die zugehörigen Methodologien. Auch dort, wo der Ruf nach einer Integration qualitativer und quantitativer Ansätze ertönt, geschieht dies häufig ohne nähere Spezifizierungen und vor allem ohne Hinweise auf eine Praxis, die als rundum überzeugendes Beispiel fur eine solche Integration dienen könnte. Wo in empirischen Forschungen heterogene Ansätze verfolgt werden, wird dies nicht selten so bewerkstelligt, daß der eine oder andere allenfalls halbherzig umgesetzt wird. Theoretische und forschungspraktische Kompromißbildungen sind keine Integrationen. Integriert wird Différentes unter Bewahrung der jeweiligen Eigenarten des Unterschiedenen. Kompromißbildungen und andere Konglomerate verwischen oft wichtige Differenzen. Man denke etwa an die Probleme, die mit dem methodologischen Konzept der Triangulation verknüpft sind.127 Im Gegensatz zu Poortingas und van de Vijvers einheitswissenschaftlicher Konzeption und verwandten Ansätzen unterscheide ich weiterhin die transkulturelle kulturvergleichende Psychologie von der Kulturpsychologie im engeren Sinn. Grundbegriffe, Methodologie, Methoden, Forschungslogik und Forschungsstrategien dieser beiden Konzeptionen sind kaum unter einen Hut zu bringen, ohne daß eine von beiden eine dominante Rolle erhält oder sich unannehmbare Widersprüche auftun. Boesch, Bruner, Shweder und einige andere sagen von der Kulturpsychologie unisono: „It is not général psychology. It is not cross-cultural psychology" (Shweder, 1990, 1; ähnlich Boesch, 1991, 15f.; Bruner, 1990, 20).128 Damit wird kulturpsychologische Forschung auch innerhalb einer Kultur oder Subkultur möglich und sinnvoll (Boesch, 1991, 365).
127
Von „Triangulation" war zunächst in der allgemeinen Methodendiskussion die Rede (Campbell & Fiske, 1959). Van de Vijver und Poortinga beziehen sich implizit auf diese Wurzeln, wenn sie sich mit Fiskes (1986) neueren Überlegungen einverstanden erklären. Denzin (1978) bezog das Konzept speziell auf die Kontroverse zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen. Zur aktuellen Diskussion vgl. z.B. Flick (1987), Köckeis-Stangl (1980).
128
Andere Autoren teilen diese Auffassung, unter ihnen Cole, Krewer oder Valsiner. Bemerkenswert ist eine vergleichbare Tendenz in der Soziologie, in der sich Kultursoziologen ebenfalls skeptisch über die kulturvergleichende Soziologie äußern (vgl. Matthes, 1992a, darin insbesondere die Beiträge von Tenbruck und Matthes).
5. Handlung und Kultur
181
5.4 Kulturpsychologie als Perspektive interpretativer Forschung Die Kulturpsychologie wird hier nicht als eine besondere Teildisziplin der Psychologie aufgefaßt. Sie ist vielmehr eine Perspektive, die in gegenstandstheoretischen und methodologisch-methodischen Überlegungen begründet ist. Sie kann in verschiedenen Forschungsbereichen gewinnbringend eingenommen werden. Wie Cole, Boesch (1991, 365) und andere gehe ich davon aus, daß Kulturpsychologie keine Subdisziplin ist, sondern eine besondere Betrachtungsweise des menschlichen Lebens. Cole begründet diese spezielle Sichtweise durch anthropologische Überlegungen, die hervorheben, daß Menschen in ihre (natürliche) Umwelt eingreifen, diese durch die Bildung von Artefakten gestalten können und daß sie akkumulierte Wissensvorräte an nachfolgende Generationen tradieren können, insbesondere durch die Sprache. Neben theoretischen Überlegungen spricht auch die faktische Forschungspraxis gegen die Auffassung der Kulturpsychologie als Subdisziplin. Kulturpsychologische Untersuchungen widmen sich häufig ganz „traditionellen" Fragestellungen aus der Entwicklungs-, Sozial- und Persönlichkeitspsychologie oder aus einem der anwendungsorientierten Teilgebiete der Psychologie. Auch deswegen stellt die Kulturpsychologie keine eigenständige Teildisziplin dar. Eine andere Ansicht vertreten etwa van de Vijver und Hutschemaeker (1990b, 4) oder auch Berry (1985, 3), der Kulturpsychologie definiert als „an analogous term to social, industrial, developmental (etc.) psychology. That is, it identifies an area of study which seeks to discover systematic relationships among cultural and behavioral variables." Relationierungen zwischen Kultur, Handlung und Subjekt, durch die vor allem Bestimmungsgründe von Handlungen expliziert werden sollen, sind interpretative Akte. Interpretieren kann man Wirklichkeiten, die Sinn und Bedeutung „haben" oder zumindest haben können. Der Kulturbegriff richtet sich nicht zuletzt gegen ein Denken und Forschen, das von der Sinn- und Bedeutungsstruktur der menschlichen Praxis abstrahiert. Diese Funktion teilt der Kulturbegriff mit anderen Ausdrücken. Er erfüllt sie jedoch in spezifischer Weise. Die Kulturpsychologie rückt die für die psychosoziale Praxis konstitutiven, sprachlich-kommunikativen und symbolisierenden Leistungen einer kulturellen Gemeinschaft ins Zentrum des Interesses. Daniel (1993, 72) spricht treffend von einer „bedeutungsorientierte(n) sozialwissenschaftliche(n) Verwendungsweise des Begriffs" der 'Kultur'. 129 Sie hat dabei primär einige weit über die Fachgrenzen hinaus einflußreiche Arbeiten aus der Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie im Blick. Diese Disziplinen bieten noch heute wichtige Anre-
129
Die Autorin grenzt diesen bedeutungsorientierten Kulturbegriff von dem gänzlich anderen Kulturbegriff ab, der im 19. Jahrhundert zum Vokabular zahlreicher Historiker, Soziologen (mit Ausnahme Dürkheims) und Ethnologen gehörte und etwa in Lamprechts Version der Kulturgeschichte eine wichtige Rolle spielte.
I. Handlung
182
gungen für alle Nachbarwissenschaften. N i c h t zufällig unterhielten und p f l e g e n auch Vertreter der Kulturpsychologie mitunter e n g e Verbindungen zur Ethnolog i e b z w . zur nordamerikanischen cultural
anthropology.u°
M a n d e n k e an die
klassischen Kultur- und Persönlichkeitsforschungen v o n Margaret M e a d ( 1 9 2 8 ; 1939) und Ruth Benedict ( 1 9 6 0 ) . D i e an Freuds p s y c h o a n a l y t i s c h e Kulturtheorie anschließenden,
im wesentlichen
auf Enkulturationsprozesse
schnittenen Sozialisationstheorien der culture-and-personality
school
zuge-
- auch als
p s y c h o l o g i s c h e Anthropologie bekannt (Sapir, Kardiner und andere) - g e h ö r e n ebenfalls in d i e s e n Kontext ( z u m Überblick vgl. B o c k , 1988). D a n i e l betont allerdings, daß hier die prägende
R o l l e der Kultur - gerade im V e r g l e i c h mit
den rezenten handlungstheoretischen A n s ä t z e n - ein allzu d o m i n i e r e n d e s G e wicht erhielt. Schließlich sei die neuere E t h n o p s y c h o a n a l y s e genannt, w i e sie etwa Erdheim ( 1 9 8 2 ) oder Parin ( 1 9 8 0 a ; 1980b; 1 9 8 5 ) vertreten. G e g e n w ä r t i g ist die E t h n o l o g i e insbesondere w e g e n der subtilen V e r k n ü p f u n g kultur- und bedeutungstheoretischer Überlegungen, aber auch w e g e n der A n a l y s e der Ethnographie als einer schriftstellerischen Praxis und schließlich w e g e n der ausgefeilten texttheoretischen Erörterungen interessant.' 31
130
Von der amerikanischen Kulturanthropologie kann - zumindest fiir einen gewissen Zeitraum, etwa bis Ende der 40er Jahre - die britische Sozialanthropologie unterschieden werden. Die Entstehung der social anthropology kann auf das Jahr 1922 datiert werden. Damals erschienen die bahnbrechenden Arbeiten von Radcliff-Brown und Malinowski, durch die die Ethnologie eine strukturfunktionalistische Sozialwissenschaft wurde (mit Dürkheim als Pate); vgl. Daniel (1993, 78). Mehr als Malinowskis theoretischer Ansatz ist der von ihm etablierte „Feldforschungsmythos der 'teilnehmenden Beobachtung' als Zugang zum wirklichen Leben" (Daniel, 1993, 79) berühmt und berüchtigt geworden. Die Entmystifizierungsgeschichte nach der posthumen Veröffentlichung von Malinowskis Forschungstagebüchern ist bekannt. Sie gibt nicht nur in spektakulärer Weise die Distanz und Arroganz des Feldforschers gegenüber den „primitiven" Kulturen preis, sondern auch dessen bisweilen wenig methodisch anmutende Forschungspraxis.
131
Daniel (1993, 73ff.) liefert einen knappen, informativen Überblick über die Entwicklung des Kulturkonzeptes (auch) in dieser Disziplin, insbesondere in den Varianten der angelsächsischen cultural bzw. social anthropology. Sie unterscheidet zwei Ansätze und Entwicklungslinien: der zweckrational-funktionale, nomologische Ansatz, der Kultur als etwas Superorganisches begriff, wurde fortgesetzt in neueren holistischen und prozessualen Kulturkonzeptionen und einer Methodologie vom Standpunkt des Beobachters; ein exemplarischer zeitgenössischer Vertreter dieses Kulturkonzeptes ist etwa Harris mit seinem kulturmaterialistischen Ansatz. Die zweite Auffassung von Kultur betonte seit jeher Normen, Werte, kognitive und symbolische Repräsentationen, die das Individuum prägen; diese Auffassung war mit unterschiedlichen disziplinaren Forschungsperspektiven verknüpft; bekannt ist etwa die soeben erwähnte Verbindung zwischen Psychologie beziehungsweise Psychoanalyse und Kulturanthropologie in der culture-and-personality school. Neuere Ansätze innerhalb dieser zweiten Traditionslinie haben sich von der Psychoanalyse abgewandt. Sie können summarisch als bedeutungs- bzw. symbolorientierte Ansätze bezeichnet werden, die einen partialen bzw. lokalen Kulturbegriff vertreten und methodologisch den Standpunkt der Angehörigen einer Kultur beziehen. Diese Ansätze differenzierten sich nach 1945 in zwei Hauptrichtungen, nämlich die kognitive Ethnologie (oder Anthropologie), wie sie etwa Goodenough (1970; 1981) vertritt, dessen Position in manchem an die bereits erörterten Überlegungen Winchs erinnern. Kultur wird hier radikal mit Sprachstrukturen gleichgesetzt. Die Kritik hier-
5. Handlung und Kultur
183
Längst steht auch in der Kulturpsychologie eine sinn- oder bedeutungsorientierte Fassung des Kulturbegriffs im Zentrum (so etwa bei Boesch, Bruner, Cole, Eckensberger, Krewer, Shweder, Valsiner, Werbik). Für Bruner steht außer Frage „that the central concept of a human psychology is meaning and the process and transactions involved in the construction of meanings" (Bruner, 1990, 33). An anderer Stelle heißt es, „that culture and the quest for meaning within culture are the proper causes of human action" (ebd., 20). Shweder schreibt unmißverständlich: „Cultural psychology is premised on human existential uncertainty (the search for meaning) and on a (so-called) intentional conception of 'constituted' worlds. ... The basic idea of cultural psychology is that no sociocultural environment exists or has identity independent of the way human beings seize meaning and resources from it, while every human being has her or his subjectivity and mental life altered through the process of seizing meanings and resources from some sociocultural environment and using them" (Shweder, 1990, If.). Und Krewer bezeichnet die Sinn- oder Bedeutungsstruktur als eine „sine qua non of all psychic phenomena" (Krewer, 1990, 24). Sogar van de Vijver und Hutschemaekers (1990b, 1) betrachten das „Bedeutungsproblem" als basic issue der Kulturpsychologie, obwohl diese Autoren, die sich ausdrücklich einer neopositivistischen Wissenschaftsauffassung verpflichtet fühlen, meines Erachtens weit davon entfernt sind, angemessene methodologische und methodische Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen.' 32 Der Kulturbegriff ist nun aber nicht allein an die Rehabilitierung des Sinn- und Bedeutungsbegriffs gekoppelt. Er wendet sich zugleich gegen subjektivistische, individualistische oder solipsistische Fassungen von „Sinn" und „Bedeutung". Daniel erinnert an Neidhardts Bemerkung, daß mit der heutigen Wiederbelebung des Kulturbegriffs vor allem „das System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen Wirklichkeit definieren" bzw. jener „Komplex von allgemeinen Vorstellungen, mit denen sie zwischen wichtig und un-
an führte weg von der ausschließlichen Thematisierung von Sprach- und Wissensstrukturen, hin zur Praxis selbst, zum Handeln der Angehörigen einer Kultur. Der noch immer bekannteste Vertreter dieser symbolischen Ethnologie oder Kulturanthropologie ist Geertz, der Symbole als „auskristallisierte Formen des Deutungssystems Kultur" (Daniel), als „aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen" bestimmt: „Kulturelle Handlungen - das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen - sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch, sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie etwa die Landwirtschaft" (Geertz, 1987b, 49f.; zit. nach Daniel). Wie Daniel am angegebenen Ort anmerkt, betonen andere Vertreter stärker „die Trennung der kognitiven von der Handlungsebene ... oder die strukturellen Aspekte ...". 132
Sehr genau explizieren die genannten Autoren ihre neopositivistische Auffassung nicht; wenn man sich jedoch an Traditionen hält, die mit dem logischen Positivismus oder kritischen Rationalismus verbunden sind, ist nicht leicht zu erkennen, wie Bedeutungsfragen in diesem Rahmen angemessen behandelt werden sollen. Vgl. hierzu etwa Zitterbarths (1987, lff.) Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Psychologie.
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I. Handlung
wichtig, wahr und falsch, gut und böse sowie schön und häßlich unterscheiden", thematisiert werde (Neidhardt, 1986, 10f.; zit. nach Daniel, 1993, 72). Es ist eben die Kultur, „that shapes human life and the human mind, that gives meaning to action by situating its underlying intentional states in an interpretive system. It does this by imposing the patterns inherent in the culture's symbolic system - its language and discourse modes, the forms of logical and narrative explication, and the patterns of mutually dependent communal life" (Bruner, 1990, 34). Knorr-Cetina spezifiziert ihr Programm soziologischer Kulturanalysen dadurch, daß sie kulturalistische Perspektiven nicht nur von einem engeren, auf strukturelle und funktionale Aspekte begrenzten, makroskopischen Sozialitätsbegriff abgrenzt, sondern auch vom traditionellen soziologischen Konzept des subjektiven Sinns (Max Weber). Kulturanalysen zielen auf transindividuelle Bedeutungs- und Symbolsysteme. Personen erscheinen damit nicht mehr als intentionale Akteure, deren Handlungen subjektiv sinnhaft sind, sondern als Angehörige einer Kultur, deren Handeln nur durch die interpretative Relationierung mit kulturellen „Systemen von Signifikationen" angemessen erfaßt werden kann. Personen und deren Handlungen müssen „von Bedeutungssystemen her gedacht (werden). Sie (Personen, J.S.) unterliegen dem Zwang, Bedeutungen zu produzieren, zu transformieren und zu repräsentieren. Signifikationssysteme gehen dem intentional handelnden Akteur voraus. Sie lassen sich nicht aus Intentionen oder sonstigen Sinnelementen im nachhinein aggregieren. Akteure erscheinen in Bedeutungsgewebe eingesponnen - Bedeutungsstrukturen generieren die zentrale Realität der Teilnehmer. ... Aber das Netz von Bedeutungen, das die Teilnehmer umgibt, wird von diesen auch weitergeknüpft. ... Die Teilnehmer bewegen sich in den Systemen von Signifikationen, die sie selbst mitspinnen, sie sitzen in ihnen nicht fest, auch wenn sie von ihnen umgeben erscheinen" (Knorr-Cetina, 1988a, 30). Ein solches signifizierendes Handeln stellt nicht zuletzt dar, wie die Akteure „ihre Umwelt konstruieren, ohne daß diese Darstellungen beabsichtigt sein mögen" (ebd., 30). Kulturtheoretisch orientierte Handlungsanalysen verknüpfen Handlungen mit kollektiv verbindlichen Bedeutungsgeweben, mit sozialen Akten der Bedeutungskonstitution bzw. der Konstruktion bedeutungsstrukturierter Wirklichkeiten; es sind, zeichentheoretisch gesprochen, diese wirklichkeitsbildenden, wirklichkeitstradierenden und wirklichkeitstransformierenden Semiosen und deren handlungsorientierende oder handlungsbestimmende Produkte, die auch den Kulturpsychologen vornehmlich interessieren.'33 Eine wichtige Rolle in der kulturpsychologisch orientierten Handlungstheorie spielt die Analyse der (alltagsweltlichen) Sprache. Die handlungs- und kulturpsychologische Relevanz der Sprache und speziell der folk psychology
133
In der rezenten Kulturpsychologie bedient sich Lang (1991a; 1991b; 1992) einer semiotischen Terminologie.
5. Handlung und Kultur
185
wird besonders von Bruner hervorgehoben. Eine solche Volks- oder Ethnopsychologie des common sense, eine solche Alltagspsychologie „is a culture's account of what makes human beings tick. It includes a theory of mind, one's own and others', a theory of motivation, and the rest" (Bruner, 1990, 13).134 Nun kann sich die kulturtheoretisch orientierte Handlungspsychologie freilich nicht allein auf das spezifisch alltegspsychologische Wissen von Angehörigen einer Kultur beziehen, sondern auf jedes handlungsrelevante Wissens-, Zeichen- oder Symbolsystem. Auf der Basis der entwickelten Handlungstypologie lassen sich solche kulturellen Wissens-, Zeichen- und Symbolsysteme formaltheoretisch differenzieren. Diese Typologie eröffnet also nicht zuletzt Möglichkeiten der Präzisierung des Kulturbegriffs und dessen Funktion in wissenschaftlichen Handlungsanalysen. Kultur als ein handlungsrelevantes, transindividuelles Wissens-, Zeichen- oder Symbolsystem besteht aus (1) kollektiven Zielen, die Individuen situationsspezifisch konkretisieren und als Akteure übernehmen und verfolgen können; (2) kulturspezifischen Handlungsregeln, insbesondere bestimmten sozialen Normen (Aufforderungs- bzw. Bewertungsnormen oder Werten); (3) einem kulturspezifischen Reservoir an Geschichten, durch die die Angehörigen einer Kultur ihre Identität, ihr kollektives und individuelles Selbst- und Weltverständnis bilden, artikulieren und tradieren. Diese Ziele, Regeln, Normen und Werte sowie die Geschichten, die in einer Kultur kursieren und das Handeln bestimmen, müssen keineswegs eine sprachsymbolische oder diskursive Gestalt besitzen. Sie sind im Handeln häufig implizit und allenfalls in der Form von Spuren oder Anzeichen präsent. Ebenso können sie in nicht-sprachlichen Symbolen verkörpert sein. Symbole verweisen auf kulturelle Sinn- und Bedeutungssysteme. Auch sie können als Anzeichen von etwas oder als eine Spur, deren Verfolgung zu kulturellen Überlieferungs-, Sinn- und Bedeutungszusammenhängen fuhrt, aufgefaßt werden. An den besagten Anzeichen oder Spuren setzt die kulturpsychologische Handlungsinterpretation an, wenn sie Handlungen in bestimmter Weise identifiziert, versteht und erklärt, indem sie „kulturelle Texte" auch über die Schultern der Handelnden hinweg zu lesen versucht und mit deren konkreten Handlungen in Zusammenhang bringt. Auf Fragen, die das Problem der Interpretation in der Hand-
134
Ähnlich definiert der Autor auf S. 35 die folk psychology als ein „set of more or less connected, more or less normative descriptions about how human beings 'tick', what our own and other minds are like, what one can expect situated action to be like, what are possible modes of life, how one commits oneself to them, and so on." Diese in erster Linie nicht begrifflich, sondern narrativ strukturierte Volkspsychologie wird bereits früh erlernt, ebenso wie die Muttersprache und der alltägliche soziale Umgang mit anderen. Sie bildet schließlich, wie es am zuletzt angegebenen Ort heißt, „a system by which people organize their experience in, knowledge about, and transactions with the social world." Dieser folk psychology schreibt Bruner unmittelbar Handlungsrelevanz zu. Dies macht ihren hervorragenden Stellenwert für psychologische Handlungserklärungen verständlich. Psychologische Erklärungen, die dies ignorieren, besitzen nach Bruner notwendigerweise nur einen beschränkten Wert.
186
I. Handlung
lungs- und Kulturpsychologie betreffen, komme ich im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ausfuhrlich zu sprechen. Vorher möchte ich einige weitere begrifflich-theoretische Aspekte des Kulturkonzeptes unter die Lupe nehmen.
5.5 Kultur als diskursiver Tatbestand Der Kulturbegriff verweist auf eine Mehrzahl von Personen, die in ein gemeinsames Bezugsgewebe von kollektiven Deutungen und Orientierungen, Selbstund Weltauffassungen, Wirklichkeitsdefinitionen und Praktiken eingebunden sind. Die Rede von der Kultur als etwas „Kollektivem" kann sich auf sehr unterschiedliche und veränderliche Einheiten beziehen. Zu solchen Einheiten lassen sich eine Mehrzahl von Menschen und deren symbolisch vermittelte Praktiken im Zuge mehr oder minder expliziter Aushandlungs- und Definitionsvorgänge zusammenfassen. In einem begrifflichen Sinn werden „Kulturen" auf diskursivem Weg als abgrenzbare Einheiten gebildet oder konstruiert. Solche Akte sind im Hinblick auf bestimmte Zwecke nützlich oder dysfunktional. An dieser Begriffsbestimmung sind mehrere Gesichtspunkte wichtig. Der erste betrifft den „quantitativen" Umfang bzw. die räumliche und zeitliche Extension der besagten Einheiten (1). Der zweite Aspekt hat mit der Unterscheidung zwischen tagtäglichen Gewohnheiten und außeralltäglichen Zäsuren im Leben einer Kultur zu tun, insbesondere mit den von Menschen bewußt vorgenommenen und „institutionalisierten" Zäsuren (2). Der dritte Aspekt berührt normative Probleme der diskursiven Konstruktion von Kulturen (3). Der vierte schließlich knüpft an die Einsicht der diskursiven Bestimmung kultureller Identitäten im alltagsweltlichen Leben an und verweist sodann darauf, daß speziell wissenschaftliche Konstruktionen von Kulturen bzw. kulturellen Wirklichkeiten erhebliche methodologische Probleme, die im Kern etwas mit dem vergleichenden Denken der Kulturpsychologie zu tun haben, in sich bergen (4). (1) Die Kollektivität und Allgemeinheit kulturspezifischer Wirklichkeiten soll hier nicht auf dasjenige beschränkt werden, was die Angehörigen von geschichtlich wirkungsmächtigen Kulturen oder von sogenannten „Hochkulturen" miteinander verbindet.135 Es ist zwar richtig, daß der Kulturbegriff zeitli-
135
Unter Hochkulturen versteht man einerseits bestimmte Kulturen (etwa die altägyptische Kultur, die Kultur der griechischen Antike etc.), die in der Regel von sogenannten primitiven Kulturen unterschieden werden. Andererseits spielt der Ausdruck der Hochkultur auch auf jene Aspekte des kulturellen Lebens (einer Gemeinschaft oder Gesellschaft) an, die meistens in normativer Absicht von der niederen, trivialen oder populären Kultur, der Volks-, Alltagsoder Massenkultur abgegrenzt werden. Zum Begriff der Massenkultur siehe etwa Soeffner (1988b, 6ff.). Dort wird ein Versuch unternommen, den Begriff der Massenkultur als eine nicht-normative, deskriptive und analytische Kategorie einzuführen. Auf Seite 7 wird Massenkultur bestimmt „als eine - die gegenwärtige - gesellschaftliche Situation, in der es, zunächst bezogen auf die westlichen Industrienationen, immer schwerer und bisweilen auch unergiebiger wird, ausschließlich Einzelkulturen (Völker oder Nationen) für die tragenden Elemente einer multinationalen Kultur zu halten. 'Massenkultur' ist weder lediglich ein diffuses Agglomerat konkreter nationaler Einzelkulturen, noch so simpel und eindimensional aufge-
5. Handlung und Kultur
187
che, räumliche und soziale Kontinuitätsannahmen impliziert, bisweilen auch „besonders starke" (Grathoff, 1988, 21). Dennoch muß man, wenn von Kultur die Rede ist, nicht bloß - wie Grathoff - an „die Kultur der Kelten", die „black culture" oder die „matrilinearen Kulturen" und dergleichen denken. Grathoffs Beispiele implizieren Kontinuitätsannahmen, die in räumlicher und zeitlicher Hinsicht ausnahmslos sehr weit ausgreifen. Meistens ist der in der kulturvergleichenden Psychologie und Kulturpsychologie gebräuchliche Begriff ähnlich weitläufig. Dagegen bezieht sich der hier verwendete Kulturbegriff auch auf die Gemeinsamkeiten schaffende, verbindende Kraft von partialen, regionalen oder lokalen, also auch flüchtigeren kulturellen oder subkulturellen Lebenszusammenhängen. Solche partialen und flüchtigeren Kulturen oder Subkulturen sind in besonders vielfaltiger Form in zeitgenössischen multikulturellen Gesellschaften anzutreffen. Die Kulturpsychologie interessiert sich also auch für räumlich, zeitlich und quantitativ „überschaubare" kulturelle Lebenszusammenhänge und das zugehörige lokale Wissen. Beispiele sind etwa jugendliche Subkulturen, wie sie - willkürlich ausgewählt - hippies, punks oder skinheads bilden, oder die kulturellen Lebensformen, wie sie in sozialen Bewegungen propagiert und praktiziert werden mögen. In kulturpsychologischer Perspektive lassen sich die Selbst- und Weltauffassungen, das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Adligen und Clochards, Prostituierten, Homosexuellen, Angehörigen der SadoMaso-Szene oder von Studierenden untersuchen.136 Die Beispiele zeigen im übrigen, daß bestimmte partiale Kulturen nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern in mehreren Gesellschaften bestehen können. Darüber hinaus machen sie deutlich, daß Personen gleichzeitig an verschiedenen Kulturen oder Subkulturen partizipieren können. Auch die Rede von „Kulturen in einer Kultur" macht durchaus Sinn. Man kann diesbezüglich von binnenkulturellen Differenzierungen sprechen, wobei die intern differenzierten Kulturen oder Subkulturen von den übergeordneten kulturellen Sinnsystemen „abhängig" sind, da sie sich in diesen ausdifferenzieren und fortan erhalten können. Die Kulturpsychologie interessiert sich für alle möglichen Gruppierungen, insofern deren Angehörige durch je spezifische Deutungsmuster, Orientierungssysteme und Praktiken miteinander verbunden sind und somit eine Le-
baut wie McLuhans Vision vom 'planetarischen D o r f . Ebensowenig ist sie eine alle jene Kulturen übergreifende, historisch eingrenzbare Allgemeinkultur. Dennoch repräsentiert sie grenzüberschreitende konkrete Kulturmuster, Lebensgewohnheiten, Produktions- und Rezeptionsmuster, Lebensstile etc." Damit wird die traditionelle normative Unterscheidung zwischen Hoch- und Trivialkultur und die verwandte, ebenfalls normativ aufgeladene Gegenüberstellung zwischen Massen- und Elite- oder Individualitätskultur unterlaufen und uno actu ein Gegenwartsphänomen beleuchtet. Noch weiter gefaßt und noch neutraler ist der Bedeutungshorizont des Begriffs „Alltagskultur". 136
Ohne dezidiert psychologisch ausgerichtet zu sein, stellen Arbeiten von Girtler (z.B. 1989) oder die Studie von Friebertshäuser (1992) gute Beispiele für das Interesse an partialen Kulturen dar.
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I. Handlung
bensform teilen. Kulturspezifisch sind Muster, Systeme und Praktiken, die eine transindividuelle, gemeinsame und zugleich besondere Struktur und Charakteristik des Selbst und der Welt der Gruppenmitglieder konstituieren. Wenngleich sich die Kulturpsychologie nicht bloß mit solchen Kulturen befaßt, die weite geographische Räume (die „Mittelmeerkulturen") und/oder weite Zeiträume (die Kultur des „Mittelalters", der „Moderne") und/oder die gesamte Bevölkerung eines Landes oder einer Nation umfassen, ist eine solche Beschäftigung selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Bekannt ist, daß die Gefahr, in allzu weitläufigen Ausgriffen Einzelheiten zu übersehen, groß ist. Eckensberger macht zu Recht auf die erstaunlich stereotypisierenden Sprechweisen aufmerksam, mit denen die kulturvergleichende Psychologie ihre Erkenntnisse über „die Japaner", „die Afrikaner", „die Inder", über „die japanische Kultur", „die afrikanische Kultur südlich der Sahara" und dergleichen kundtut - wenngleich „vor diesen groben Vereinfachungen nun wirklich aus der Anthropologie seit langem gewarnt wird" (Eckensberger, 1991a, 10). In diesem Zusammenhang sei noch die stereotyp-kontrastierende Distinktion zwischen den sogenannten „westlichen" und den „nicht-westlichen" Kulturen erwähnt, die häufig mit der durchaus fragwürdigen Gegenüberstellung „individualistischer" und „kollektivistischer" Kulturen einhergeht. Auch diese groben Unterscheidungen genießen in der kulturvergleichenden Psychologie eine geradezu modische Popularität (vgl. hierzu etwa Eckensberger, 1990a, 41f.; 1991a, lOff.; Kagitçibasi, 1987b; Weidemann, 1997, 88). Mit dem Konzept der partial en Kultur schützt man sich vor jenen Problemen, in die die homogenisierende Konstruktion von allzu weiträumigen, historisch ausgreifenden und große Populationen umfassenden Kulturen sehr leicht gerät. Pluralisierung durch Partialisierung von Kulturen sowie eine entsprechend différentielle Analyse kultureller Phänomene bewahrt vor vorschnellen und unangemessenen Homogenisierungen und vor der Hypostasierung „einer" Kultur zu einer Art superorganischen Einheit. Dies beugt jener Grobschlächtigkeit kulturgeschichtlicher und aktualempirisch-kulturvergleichender Betrachtungen vor, die mögliche (und von den Betroffenen vielleicht vorgenommene) binnenkulturelle Differenzierungen kurzerhand glattbügelt. (2) Die Kulturpsychologie kann ihr Augenmerk auf das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche einer kulturellen Praxis richten. Sie interessiert sich für das „Doppelgesicht der Kultur" (Assmann, 1991a), also für das Alltägliche und die besonderen Tage. Den Blick auf die historisch einflußreichen Kulturen gerichtet, läßt sich dieses Doppelgesicht folgendermaßen charakterisieren: „Die eine Seite ist die unscheinbare Welt des Gebrauchs und Verzehrs, der Grundstrom unauffälliger Verrichtungen und Verständigungen, das Substrat alltäglicher Gegenstände und Gewohnheiten. ... Die andere Seite ist die 'scheinbare' Welt der auf Sichtbarkeit und Dauer, Ehrfurcht und Verehrung, Imposanz und Bedeutung und, nicht zuletzt, auf Erinnerung angelegten Zeichen, die sich bewußt und scharf vom Hintergrund des Alltäglichen abheben" (ebd., 11). Im Hinblick auf die oben vorgenommene Bestimmung des Kulturbegriffs, durch die auch regionale und kurzfristigere kulturelle Lebensformen in den Blick geraten, wirken Ausdrücke wie Ehrfurcht und Verehrung, Imposanz
5. Handlung und Kultur
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und Bedeutung freilich deplaziert. Solche Kulturen oder Subkulturen haben keine Monumente oder Feiertage aufzubieten, um ihre Identität zum Ausdruck zu bringen und zu sichern. Die Unterscheidung zwischen Alltäglichem und den Tagen, an denen geplante und institutionalisierte oder spontane Zäsuren den gewöhnlichen Gang der Dinge unterbrechen, bleibt freilich auch im Hinblick auf diese Fälle fruchtbar. Erinnerungsanlässe, Anlässe zur kollektiven Selbstvergewisserung und Besinnimg, Feste und Feiern und andere besondere Einrichtungen, kurz: die auf Dauer und Bedeutung gegründeten und gerichteten Zeichen, Symbole und (ritualisierten) Praktiken können zu jeder Art von Kultur gehören, auch wenn diese nicht im großen Stil mit Ehrfurcht und Verehrung Gebietendem aufwarten kann. Generell gilt, daß das Tagtägliche und das Außergewöhnliche als die beiden komplementären Sphären von Kulturen „ihre eigene 'Zeit' und ihre besondere Sprache (haben), die sich in jeweils eigentümlichen Wirklichkeitsbildern verkörpern - die Alltagskultur in 'Zeugnissen', die 'Hochkultur' in 'Botschaften'" (Assmann & Harth, 1991, „Klappentext"). Solche Unterscheidungen sind akzentuierend angelegt. Alltag und besonderer Tag können Gemeinsamkeiten aufweisen, sich überlappen, ineinander übergehen. 137 (3) Eine Handlungswissenschaft, die sich für alle Kulturen und für alles interessieren kann, was in Kulturen die Orientierungen und Handlungen von Angehörigen (und unter Umständen auch von Außenstehenden) bestimmt, nimmt Abstand von jeder a priori normativen Fassung des Kulturbegriffs. Seit der Kulturbegriff zum Zweck der wissenschaftlichen Analyse des menschlichen Soziallebens verwendet wurde, also seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besitzt er nicht zuletzt einen normativen Sinn. In diachroner Sicht war der normative Kulturbegriff eng mit der Fortschrittsideologie seiner Zeit verknüpft. Das hierarchische Kulturkonzept verwies (und verweist) auf den idealisierten Endzustand der Universalgeschichte der Menschheit. In synchroner Perspektive trennt es die „kulturell hochwertigen" Lebensformen von den „niederwertigen", die „Kulturgesellschaften" von den „primitiven" Gesellschaften, die „innere" oder „geistige Kultur" von, wie im deutschsprachigen Raum unterschieden wurde, der „bloß äußerlichen Zivilisation", die wahre oder hohe Kultur von
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Eher problematisch scheint mir, wenn Assmann den Kulturbegriff in manchen Formulierungen ganz auf die Seite des Besonderen und Erhabenen, des auf Imposanz, Dauer und Bedeutung Abgestellten, vielleicht auch des Elitären, rückt. Dies ist tendenziell etwa dann der Fall, wenn davon die Rede ist, daß der Mensch „in dem Maße, wie er die Sprache des Alltags und seiner Zeitgenossen beherrscht, ... Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft (ist), in dem Maße, wie er die Sprache des Festtags und seiner Vorfahren beherrscht, ... Teilnehmer einer Kulturgemeinschaft (ist)" (Assmann, 1991a, 11). Hier werden die tagtägliche Kommunikation und die feierliche Kultur in ein klares Verhältnis der Differenz gebracht, und zwar so, daß Polarisierungen und bewertende Konnotationen nur noch schwer abgewehrt werden können. Nach meinem Verständnis widerspricht der soeben zitierte Satz der auf Seite 15 formulierten Absicht, nach der es weder darum gehen könne, „mit Hilfe der Stichworte Lebenswelt und Monument komplexe Befunde reduktiv zu polarisieren, noch darum, dieser Unterscheidung eine affektive Wertkolorierung zu geben."
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degenerierten oder schlicht minderwertigen Formen w i e der trivialen, populären oder „Massenkultur". 138 In ihren Anfangen hat auch die Ethnologie ein eindeutig normativhierarchisches Kulturkonzept verwendet. Erst später wurde in dieser Disziplin ein distinktiver Kulturbegriff eingeführt, der die Pluralisierung der einen, idealisierten (faktischen oder utopischen) Kultur in verschiedene, miteinander vergleichbare und wechselseitig bestimmbare Kulturen mit sich brachte (Daniel, 1993, 76). D i e „Freisetzung des Kulturbegriffs v o n normativen Entwicklungsmodellen war die Leistung der um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten entstehenden cultural anthropology" (ebd., 76). Einflußreich war dabei Boas' Plädoyer für die Gleichwertigkeit aller Kulturen. Kultur als ein lange Zeit klar ethnozentrischer Maßstab wurde - zumindest der Intention nach - zu einer nicht-normativen Kategorie, die die begriffliche „Unterscheidung der vielfältigen Formen menschlicher Gesellschaftsbildung und der ihnen zugrundeliegenden Dynamik" ermöglichen sollte (ebd.). Ohne Z w e i f e l wird der Kulturbegriff heute überwiegend in einer neutraleren Bedeutung verwendet, als dies i m Rahmen der hierarchisierenden Ansätze des 19. Jahrhunderts der Fall war. D i e Sensibilität gegenüber normativen Problemen bei der B e s t i m m u n g und Erforschung v o n Kulturen ist gewachsen. V ö l l i g frei v o n Wertschätzungen und Geringschätzungen sind allerdings auch die aktuellen Betrachtungen v o n Kulturen nicht. Manchmal wird daraus gar kein Hehl gemacht. B o a s ' Forderung, Kulturen als gleichwertig anzuerkennen, hat dort, w o sie sich überhaupt Gehör ver-
l!S
Eine frühe Ausnahme bildet der bis zum Lamprecht-Streit berühmteste kulturgeschichtliche Ansatz, nämlich derjenige Jacob Burkhardts, welcher, so Daniel (1993, 75), in gewisser Weise neuere ethnologische Betrachtungsweisen vorwegnahm. Daniels Bemerkung kann allerdings nur insoweit Gültigkeit beanspruchen, als das ethnologische Denken tatsächlich mit einer radikalen Ernüchterung jenes Fortschrittsglaubens und Überlegenheitsstrebens, wie sie die ambitiösen „Culturgeschichten" des 19. Jahrhunderts prägten, verbunden war und ist. Diesbezüglich ist Daniel wohl etwas zu optimistisch. Sie sagt zwar, daß die Ethnologie in ihren Anfängen - etwa im Evolutionismus Morgans - das überlieferte hierarchische Kulturkonzept übernahm. Neuere Beiträge aber sieht sie vielleicht in einem zu rosigen Licht. Vgl. hierzu etwa die Kritiken an Geertz' berühmter Analyse des balinesischen Hahnenkampfes, die darauf hinauslaufen, Geertz eine ethnologische Arroganz und Überlegenheitsattitüde vorzuhalten, die sofort an traditionelle hierarchische Kulturkonzeptionen vergangener Zeiten erinnert. Fuchs und Berg (1993) rufen in ihrer zusammenfassenden Darstellung dieser Kritik den durchaus fragwürdigen Satz von Geertz in Erinnerung: „Die Balinesen fuhren nie etwas in einfacher Weise aus, wenn es auch komplizierter geht." Ohne Frage wird hier „ein distanziertes, generalisiertes, ... herablassendes Bild 'der' Balinesen als überindividueller Gesamtheit, des generalisierten 'Eingeborenen' und des balinesischen 'Nationalcharakters, im 'zeitlosen Präsens' des ethnologischen Realismus" präsentiert (ebd., 58). Auf der nächsten Seite heißt es: „Als überindividuelles kulturelles Phänomen hat der Text des Hahnenkampfes keinen bestimmten Autor - außer eben den außer- und oberhalb stehenden Ethnologen. Die einzig konkrete Szene bietet denn auch die sogenannte 'arrival story' am Anfang, die den Ethnologen und seine Ehefrau - nicht die Balinesen - als individuelle Personen, die 'dort waren', einführt und seine Repräsentation der Anderen autorisiert." Freilich hat die Bearbeitung dieser Problematik in der Ethnologie mittlerweile neue Reflexionsstufen durchlaufen, wie der von Berg und Fuchs herausgegebene Sammelband dokumentiert.
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schaffen konnte, keineswegs allgemeine Zustimmung gefunden. Auf der einen Seite des Spektrums können Positionen angesiedelt werden, für die ein berüchtigtes Diktum stehen mag: „Wenn die Zulus einen Tolstoi hervorbringen, werden wir ihn lesen."139 Hier tritt die für jeden voreingenommenen, hierarchisch operierenden Kulturbegriff charakteristische Überheblichkeit ganz ungebrochen und unverhüllt hervor. Das Gleichheitsprinzip wird in diesem Satz ungeschminkt abgelehnt. Kulturen ohne gewisse Leistungen, wie sie die europäischen hervorgebracht haben, sind für den Verehrer Tolstois per definitionem minderwertig. Davon sind die Angehörigen der abgewerteten Kultur direkt betroffen. Aber auch die Angehörigen „der" europäischen Kultur können am angedeuteten, der zitierten Äußerung impliziten Leistungsmaßstab beurteilt werden. Wo immer Tolstois Werke und dergleichen als überragende Kulturgüter gelten, ist der Weg zur Diskriminierung von Personen, die keine derartigen Schöpfungen, ja nicht einmal annähernd „gleichwertige" Leistungen vorweisen können, nicht weit. Die interkulturelle normative Differenzierung läßt sich leicht verbinden mit fragwürdigen intrakulturellen Grenzziehungen zwischen Gruppen und Personen. Auf der anderen Seite des Kontinuums steht die Forderung einer unbedingten Anerkennung aller Kulturen als gleichwertig. Dazwischen lassen sich etwa Taylors (1993) Überlegungen verorten. Er argumentiert - auf heiklem Geleise die unbedingte Gleichwertigkeitsforderung sei nur die Kehrseite einer voreingenommenen Abwertung fremder oder anderer Kulturen, da auch sie jenen wirklichen Respekt verweigere, der allein aus einer tiefergehenden Auseinandersetzung hervorgehen könne. Eine solche Auseinandersetzung mit anderen Kulturen könne aber durchaus zu Unterscheidungen zwischen mehr und weniger wertvollen Kulturen führen (zur Kritik dieses Standpunkts siehe insb. Wolf, 1993). Ich komme auf das aufgeworfene Problem in Teil III der vorliegenden Arbeit zurück. Vorerst genügt es, in akzentuierender Absicht zwischen einem hierarchischen und einem zumindest nicht a priori wertenden, distinktiven Kulturkonzept unterschieden zu haben. Während ersteres Kulturen (insofern hier überhaupt von mehreren Kulturen gesprochen wird) kurzerhand in eine feststehende normativ-hierarchische Ordnung bringt, eröffnet das zweite Konzept die Möglichkeit, Kulturen in beliebiger Anzahl und unter den verschiedensten Gesichtspunkten in deskriptiver Absicht voneinander zu unterscheiden und sie sodann möglichst unvoreingenommenen, komparativen Analysen zu unterziehen, die unter Umständen auch zu normativen Differenzierungen führen können. Die hier vertretene Kulturpsychologie fühlt sich einem distinktiven Kulturbegriff verpflichtet. Sie ist sich allerdings darüber im klaren, daß Distinktion und komparative Analyse alles andere als harmlose Unternehmungen sind, und zwar auch dann, wenn die damit verbundenen Zielsetzungen vor-
" 9 Der Ausspruch wird üblicherweise Saul Bellow zugeschrieben (zit. nach Taylor, 1993, 33).
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nehmlich deskriptiver Art sind. Auch Beschreibungen können manchmal nicht völlig wertfrei formuliert werden. (4) Egal, ob es um eher deskriptive oder um normative Aspekte der alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Thematisierung von Kulturen geht: Kulturelle Wirklichkeiten - eine Kultur im Ganzen oder Ausschnitte derselben sind diskursive Tatbestände (Matthes, 1992b, 3). Kulturelle Wirklichkeiten sind Konstrukte, die Menschen bilden und aushandeln: miteinander, nebeneinander oder gegeneinander. Soziale Konstruktionen kultureller Wirklichkeiten können so gestaltet werden, daß die Form des friedfertigen Aushandelns gewahrt bleibt oder aber verletzt wird. Neben jenem Aushandeln, in dem die Beteiligten - wenigstens im Prinzip - über einigermaßen gleiche Mittel verfugen und sich nicht bloß instrumentalisieren, sondern als einen „Zweck an sich" achten, gibt es bekanntlich die Möglichkeit des auf Macht gestützten, gewaltsamen Oktroys von Wirklichkeitsdefinitionen. Dies gilt für kulturspezifische und kulturbezogene Sicht- und Verstehensweisen genauso, wie es für alle anderen Auffassungs- und Erfahrungsmodi zutrifft. Matthes hebt hervor, daß es zum fraglosen Bestand unserer alltagsweltlichen Selbst- und Welterfahrung gehört, daß „in dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sicht- und Verstehensweisen in einzelnen Handlungssituationen jede Seite bemüht ist, die eigene gegen die andere zum Zug zu bringen, - die eigene Definitionsmacht gegen die des anderen durchzusetzen" (ebd.). Normativ-moralische Probleme stecken nicht erst in der Frage nach der bewertenden Beurteilung und der Anerkennung konkreter kultureller Wirklichkeiten. Bereits die am Anfang einer harmlos scheinenden Beschreibung stehende Bestimmung, Definition und Repräsentation (anderer oder fremder) kultureller Wirklichkeiten ist problematisch. Matthes rückt die Frage nach kulturspezifischen Wirklichkeitsdefinitionen in den Kontext machtbestimmter Interaktion und Kommunikation.140 Zu Recht wird damit auch die wissenschaftliche Erforschung von Kulturen bereits in ihren ersten Schritten als praktisch-normatives Problem aufgefaßt. Forschung erfordert allemal definierende Bestimmungen der interessierenden kulturellen Wirklichkeiten. Sie operiert mit solchen Bestimmungen, und bisweilen werden die Definitionen des anderen oder Fremden von vornherein in einem ganz der eigenen Perspektive verpflichteten Akt einfach vorausgesetzt. Die Frage, wer wen bzw. welche Wirklichkeiten mit welchen Mitteln und auf welche Weise repräsentiert, ist eine Frage, die sich jedes Bemühen um Fremdverstehen gefallen lassen muß. Diese Frage ist wohl nirgends so radikal gestellt und intensiv bearbeitet worden wie in der Ethnologie. Sie ist in dieser Disziplin noch immer virulent wie in kaum einer anderen. Dies hängt offenbar „mit dem Zusammenbruch und der Neuverteilung kolonialer Macht in den Jahrzehnten nach 1950 zusammen und mit dem Echo, den dieser Prozeß in den radikalen Kulturtheorien der sech-
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Vgl. hierzu auch seinen Hinweis auf die weitgehend ubiquitäre Durchsetzung der okzidentalen Selbst- und Weltauffassung des Menschen, die als „Ausdruck und Ergebnis von Machtentfaltung" bezeichnet wird (Matthes, 1992b, 7).
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ziger und siebziger Jahre gefunden hat" (Clifford, 1993, 110). Noch die oben erwähnte arrival story, die am Beginn von Geertz' berühmter Analyse des balinesischen Hahnenkampfes steht, trägt Spuren jener machtbewußten Geste, die Clifford als Signum kolonialistisch geprägter Feldforschungsautorität begreift: „Ihr seid dort, weil ich dort war." Derartig autoritäre Akte der Bestimmung und Repräsentation anderer bzw. fremder Kulturen sind mittlerweile unter Beschuß geraten. Sie bilden einen guten Teil des sogenannten Repräsentationsproblems in der Ethnologie, das neben ontologischen, epistemologischen und methodologischen Aspekten gerade auch ein normatives, kurz: ein Machtproblem ist. Wer repräsentiert wen mit welchen Mitteln und auf welche Weise? Diese vielschichtige Frage, die in der Ethnologie nicht zuletzt zu einer Infragestellung des Ethnologen als Autor führte, begreift die Repräsentation weniger als Vergegenwärtigung und Vertretung anderer und fremder Wirklichkeiten in einem Text, sondern vielmehr als Bestimmung des anderen oder Fremden durch eine Autorität: eben durch den schreibenden Ethnologen, der seine Darstellungen durch den Hinweis autorisiert, „dort" gewesen zu sein, Erfahrungen im Feld gesammelt und von diesen schließlich Zeugnis abgelegt zu haben. Ohne der Feldforschung in der Form der teilnehmenden Beobachtung ihre besondere Stellung zu nehmen, ist die Transformation des „Feldes" in den „Text" zunehmend problematisiert worden: Der schreibende Autor und mit ihm das Schreiben und die Sprache selbst werden längst als eine Vermittlungsinstanz analysiert, deren konstitutive Funktion geradewegs zur Krise der Repräsentation und zum Schwund der Autorität des repräsentierenden Autors fuhren (Clifford, 1993). Der Thematisierung dieses Machtproblems geht in Matthes' (1992c) Überlegungen ein Schritt voraus, der auch für die Kulturpsychologie theoretisch und methodologisch höchst bedeutsam ist. Kulturelle Wirklichkeiten liegen, so Matthes, nirgendwo als eine fix und fertige „Substanz" vor. Sie mögen teilweise materielle Formen angenommen haben und in weniger anschauliche Bestände geronnen sein. Unveränderliche, ja überhaupt fixierte Zustände sind sie gleichwohl nicht. Matthes warnt davor, kulturelle Wirklichkeiten als Zustände mit festen Merkmalen zu vergegenständlichen. Wer so vorgeht, kann vielleicht drohenden persönlichen Verunsicherungen ausweichen, wenigstens kurzfristig. Er weicht aber zugleich der Erfahrung aus, daß sich das als Zustand Aufgefaßte in der praktischen Begegnung und Auseinandersetzung schnell „verflüssigt". Das als Zustand Aufgefaßte wird zur Quelle von Irritationen, sobald gewahr wird, „wie wenig zuständlich es eigentlich ist" (Matthes, 1992b, 4). In psychologischer Sicht sind diese Irritationen unschwer als Verunsicherungen zu erkennen, die nicht nur den Umgang mit dem Fremden prägen, sondern auch das eigene Selbstverhältnis. Wenn das Fremde nur durch ein Ausweichmanöver als zuständliche Wirklichkeit zu fassen ist, wieso sollte es mit dem Eigenen und Vertrauten dann anders bestellt sein? Im direkten, praktisch-kommunikativem Umgang „verflüssigt" sich womöglich nicht nur das Fremde, sondern zugleich auch das Eigene. Die Einsicht, daß fremde Wirklichkeiten keine unabhängig vom eigenen Blick bestehenden Zustände sind und generell kaum die Form des Zuständlichen annehmen, ist der
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Einsicht in den sozialen und diskursiven Charakter des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses „gefährlich" nahe. Wie das Fremde vom Eigenen abhängt, so dieses von jenem. Psychologische Identitätstheorien haben, was soeben als Gefahr bezeichnet wurde, durchaus als solche gesehen und ernst genommen. Dazu ist auch heute noch zu raten, auch unter Bedingungen gesteigerter Ambiguitätstoleranz. Zugleich ist jedoch daran zu erinnern, was insbesondere Identitätstheoretiker, die ihre Theoriebildung eng an das Studium der psychischen Verfassungen und Entwicklungen ihrer Gesprächspartner banden, ebenfalls betonten: Wer der Gefahr einer Verunsicherung des eigenen Selbst durch die Begegnung mit fremden Wirklichkeiten bloß ausweicht, setzt sich einem neuen, unter Umständen bedrohlicheren Risiko aus. Er verpaßt nämlich nicht allein die Chance, die Selbst- und Weltauffassungen, Lebensformen und Praktiken anderer Menschen in ihrer Eigenart erkennen und anerkennen zu können. Er verschließt sich damit nicht bloß die Möglichkeit, andere zu verstehen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und Erfahrungen auszutauschen, die für beide Seiten neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten oder Bereicherungen anderer Art mit sich bringen können. Er verstellt sich nämlich auch den Blick für das andere oder Fremde im Eigenen. Psychologisch betrachtet ist das Ausweichen vor anderen, fremden Wirklichkeiten „außerhalb" des eigenen Selbst strukturell identisch mit dem Ausweichen vor der möglichen Fremdheit des eigenen Selbst. Gerade letzteres ist keineswegs folgenlos. Psychologisch betrachtet kann gerade dieses andere oder Fremde „innerhalb" des Eigenen - was Freuds Analysen des „inneren Auslands" gezeigt haben wie keine Untersuchungen zuvor zur Quelle von Angst und anderen Leiden werden. Wie sieht die Alternative zur Vergegenständlichung oder „Verzuständlichung" kultureller Wirklichkeiten aus? Bestimmungen kultureller Wirklichkeiten und die damit verwobenen Selbst- und Weltauffassungen von Personen sind unhintergehbar relational strukturiert. Die konstitutiven Relationen zwischen dem Eigenen einerseits, dem „zu bestimmenden" anderen oder Fremden andererseits, sind dabei keine fixierten Beziehungen in stabilen Strukturen, sondern diskursiv ausgehandelte oder auch oktroyierte Momente einer mehr oder minder ephemeren Begegnung. Was bei solchen Begegnungen herauskommt, ist prinzipiell nicht das Resultat eines direkten, unverstellten Blicks auf einen „Sachverhalt", der jenseits der am Diskurs Beteiligten liegt. Clifford sagt von den Bildern, die sich Menschen von sich und den anderen machen: „... keine noch so unumschränkt gültige wissenschaftliche Methode oder ethische Haltung kann die Wahrheit solcher Bilder garantieren. Sie werden in spezifischen historischen Herrschafts- und Dialogbeziehungen konstituiert - soviel zumindest hat die Kritik der kolonialen Darstellungsweisen gezeigt" (Clifford, 1993, 112). Und eine Seite vorher schreibt auch er, daß die „menschliche Vielfältigkeit" immer weniger als „in abgegrenzte unabhängige Kulturen eingeschrieben" vorgestellt werden könne. Ich werde die Einsicht, daß interpretative Bestimmungen „von etwas" immer auf einem „in-Beziehung-setzen" und Vergleichen von wenigstens zweierlei beruht, noch ausführlich behandeln (vgl. Teil II). Interpretieren ist stets das mehr oder minder reflektierte und detaillierte Ausarbeiten einer Relation, es
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zielt auf das, was im Zwischenbereich von wenigstens zwei „Beziehungspunkten" - traditionell: dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis - als Wirklichkeit gebildet und anerkannt wird. Die Erkenntnis „von etwas" ist relational strukturiert. Dieses „etwas" ist idealiter eine diskursiv konstruierte Beziehung, eine Beziehung, durch deren Artikulation sich das Eine und das andere wechselseitig bestimmen. Es ist also nicht „etwas Einzelnes", das dem Erkenntnissubjekt schlicht gegenüberliegt, vollständig isoliert und vom sozialen Vorgang wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung unabhängig. „Daten" sind, dem Wortsinn zum Trotz, nie etwas einfach „Gegebenes" (vom lateinischen dare), sondern stets „Fakten" (vom lateinischen fare), was heißt: etwas „Gemachtes", in Handlungs-, Interaktions- und Kommunikationszusammenhängen Geschaffenes und zur Geltung Gebrachtes. Kulturelle Wirklichkeiten können nicht anders als im Lichte anderer kultureller Wirklichkeiten bestimmt werden. Definitive Bestimmungen werden dabei nicht erreicht. Die wissenschaftliche Analyse kann stets nur mit vorläufigen, flexiblen Bestimmungen operieren. Gewiß ist die Versuchung, „das Relationale, das mit der Unterscheidung von Kulturen ins Blickfeld tritt, je tiefer man in den Hintergrund von Sicht- und Verstehensweisen von Wirklichkeit und Sinnhaftigkeit eindringt, wieder in Zuständliches, in Kultur" (Matthes, 1992b, 4) zu verwandeln, erheblich. Es ist wohl sogar so, daß es, zumindest im Rahmen bestimmter (kulturspezifischer) Sprachen, beinahe unvermeidlich ist, dieser Versuchung früher oder später zu erliegen. Zumindest „unsere" sprachlichen Beschreibungen kultureller Wirklichkeiten kommen wohl nicht gänzlich ohne ein Vokabular aus, das vorgibt, daß „etwas" dann und dort so und so war oder ist. Matthes selbst macht auf die Tendenzen der meisten indogermanischen Sprachen aufmerksam, Wirklichkeiten zu verräumlichen und zu vergegenständlichen (ebd., 5f.). Man stößt hier in der Tat an Grenzen der Sprache und des Denkens. Im Bewußtsein dieser Grenzen kann man sich allerdings dagegen wenden, der besagten Versuchung früher als notwendig zu erliegen. Es braucht weder vergessen noch beiseite geschoben werden, daß es sich beim „Gegenstand" kulturpsychologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung um etwas Relationales handelt, um ein diskursiv ausgehandeltes Konstrukt. Die angestellten Überlegungen gelten nicht allein für den Fall, in dem Kulturanalysen und Kulturvergleiche Matthes spricht von „kulturellen Analysen", die an Kulturbegegnungen gebunden sind - das eigentliche Forschungsziel darstellen. Sie gelten auch für jenen Fall, in dem der Rekurs auf kulturelle Wirklichkeiten vornehmlich dem Beschreiben, Verstehen und Erklären bestimmter Handlungen dient. Im übrigen ist Matthes zuzustimmen, wenn er fordert, den weiten „Weg in die Hinter-Bühnen von Wirklichkeits- und Sinndefinitionen" zu gehen (ebd., 4; vgl. als beispielhafte kultursoziologische Studie Shimada, 1994). Dabei sollte der in der Begegnung mit kulturell Fremdem häufig gemachten Erfahrung, daß sich nicht alles und jedes kurzerhand miteinander vergleichen läßt, Rechnung getragen werden. Es gibt kulturelle Differenzen, die kaum angemessen thematisiert, geschweige denn aufgehoben werden können, weil sich noch nicht einmal ein taugliches tertium comparationis finden läßt. Dem kulturpsychologischen
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Vergleich sind Grenzen gesetzt. Diese Grenzen haben mit der möglichen, radikalen Heterogenität kultureller Phänomene und Lebensformen zu tun. Daß das Vergleichen schnell zu einem vordergründigen Abgleichen und zum Angleichen des anderen oder Fremden ans Eigene wird, illustrieren nicht zuletzt zahlreiche traditionelle „Kulturvergleiche" in der cross cultural psychology. Das Thema des Vergleichens ist nicht nur für die Kulturpsychologie, sondern ganz generell für die handlungstheoretische, interpretative Psychologie bedeutsam. Diesem Thema hat sich die allgemeine Theorie und Methodologie interpretativer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zu widmen. Vergleichende, „komparative" Analysen sind konstitutiv für die hier interessierende Forschung. Sie bilden ihren Dreh- und Angelpunkt. Matthes' Überlegungen, die auf die Theorie und Praxis des Kulturvergleichs zugeschnitten sind, lassen sich unschwer in einer allgemeineren Perspektive lesen. Sie liefern wichtige Hinweise darauf, was beim Vergleichen und schon beim definitorisehen Bestimmen des zu Vergleichenden „verkehrt" gemacht werden kann. Die reflexionslose nostrifizierende Angleichung des „Erkenntnisobjekts" an eigene kognitive Vorurteilsstrukturen ist eine extreme Möglichkeit, den angestrebten Vergleich zu verfehlen.141 Auf diese Weise ist offenkundig so gut wie nichts über fremde Wirklichkeiten in Erfahrung zu bringen. Die Denkschwierigkeiten, die Matthes bewußt macht, sind teilweise ausweglos. Wo das Vergleichen den Ruch des nostrifizierenden Abgleichens und Angleichens annimmt, zugleich aber nicht zu sehen ist, wie ohne Vergleich überhaupt gedacht und geforscht werden könnte, wie insbesondere ohne irgendeine Art von Relationierung, die schließlich doch auch in identifizierende Bestimmungen mündet, Erfahrungen und Erkenntnisse „über" Fremdes und - uno actu - über Eigenes gebildet werden könnten, gerät die schwierige Lage zur Aporie. Noch einmal fühlt man sich an einen Satz Cliffords erinnert. Clifford meint nämlich, die jüngeren Debatten in der Ethnologie oder Kulturanthropologie hätten „radikale Zweifel an der Verfahrensweise aufgeworfen, mit deren Hilfe fremde Menschengruppen dargestellt werden können, ohne jedoch systematische und entschieden neue Methoden oder Epistemologien zu unterbreiten" (Clifford, 1993, 111). Allerdings spricht er kurz danach von vergleichsweise „besseren, wenn auch unvollkommenen" Forschungsansätzen, die aus der Problematisierung interkultureller Repräsentation und der Infragestellung ethnographischer Autorität hervorgegangen sind. Man kann wohl behaupten, daß bereits diese Problematisierung und Infragestellung einen Bestandteil und eine Stärke innovativer, in der skizzierten Hinsicht reflexiv gewordener Ansätze bilden. Festzuhalten ist: Vergleiche sind unabdingbare Bestandteile der Forschung, Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in der interpretativen Psychologie. Verglichen werden Konstrukte, an deren diskursiver Bildung stets auch diejenigen beteiligt sind, die den Vergleich vornehmen. Konstrukte der besagten Art
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Der treffende Begriff der „Nostrifizierung" stammt von Stagl (1981).
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sind Relationierungen kultureller Differenzen. Sie bezeichnen keine Zustände mit festen Merkmalen. Kulturelle Wirklichkeiten werden sozial definiert und sind doch nie definitiv. Sie werden praktisch gebildet, insbesondere im Diskurs zwischen Angehörigen einer oder mehrerer Kulturen, durch Abgrenzung der eigenen von anderen, oder allgemeiner: durch die auf einem Vergleich beruhende Unterscheidung kultureller Wirklichkeiten. All dies unternehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um eine genauere Vorstellung zumeist von einer bestimmter Kultur bzw. speziellen kulturellen Praktiken zu bekommen. Zumindest zu Beginn sind sie weitgehend auf ihre eigene Außenperspektive, wie sie mehr oder minder kulturfremde Personen einnehmen müssen, angewiesen. Sie stehen erst am Beginn einer möglichen, mehr oder minder folgenreichen Enkulturation. Wissenschaftler unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von anderen Touristen oder länger verweilenden Gästen. Sie können wie diese ihre eigenen, kulturspezifischen Wirklichkeitsdefinitionen zur Disposition stellen oder, gestützt auf ihre Definitionsmacht, kurzerhand durchsetzen. Völlig neutrale Vorgehensweisen stehen ihnen nicht zur Verfugung. Fremde Praktiken, Sicht- und Verstehensweisen werden „schon immer im Lichte der eigenen - als konträr oder ähnlich, zumeist aus beiden gemischt - abgebildet und in dieser Gestalt zum Ansatz für das Geltendmachen der eigenen genommen" (Matthes, 1992b, 3). Kulturelle Wirklichkeiten werden identifiziert, indem gewisse Merkmale benannt oder beschrieben werden, „die ihnen im Unterschied zu anderen zu eigen sind. Jede Bestimmung von Kulturen in diesem Sinne erfolgt über die Ermittlung von Differenzen und ihrer Reichweite und Erstreckung. ... So kann von Kulturen in der Tat nur im Plural geredet werden, und es kann von ihnen nur geredet werden als von diskursiven Tatbeständen, - nicht als Zustandsbeschreibungen, wieviel zuständlich Geronnenes auch immer in solche Bestimmungen eingehen mag" (ebd.). Dabei kann und muß es darauf ankommen, den Vorgang, durch den kulturelle Abgrenzungen geschaffen und etabliert werden, zu reflektieren. Erst wenn diesem Vorgang seine gebührende Rolle zugestanden wird, erscheinen kulturelle Wirklichkeiten in der Perspektive des Betrachters nicht mehr nur als verräumlichte und gleichsam vergegenständlichte Einheiten mit festen Merkmalen, sondern als diskursive Tatbestände, über deren Charakteristik das Sprechen der am Diskurs Beteiligten, letztendlich das Schreiben desjenigen, der Fremdes zu repräsentieren beabsichtigt, entscheidet. Am Ende dieses Kapitels sollte deutlich geworden sein, daß der in der Auseinandersetzung mit dem Handlungsbegriff entfaltete „konstruktivistische" Ansatz durch kulturtheoretische Überlegungen bestätigt und bekräftigt wird. Viele Vertreter der rezenten Kulturpsychologie stimmen in diesem Punkt überein. Vernachlässigt man Einzelheiten, trifft man immer wieder auf eine radikal handlungs- und sprachbezogene Theorie der Welt und des Selbst von Menschen.142 Sozio-kulturelle und individuelle Wirklichkeiten sind keine unabhän142
Auf diese Position stößt man bekanntlich keineswegs nur in der Handlungs- und Kulturpsychologie, sondern beispielsweise auch in den Kognitionswissenschaften (Varela, 1990; vgl. hierzu Straub, 1992b).
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gig vom praxischen und sprachlich-imaginativen Handeln bestehende Entitäten, die ontologisch als „Wirklichkeiten an sich" erfaßt werden könnten. Kants für die Geschichte dieses Gedankens wegweisende Infragestellung einer „Wirklichkeit an sich" hat dabei eine radikale Form angenommen. Die rezente Handlungs- und Kulturpsychologie geht davon aus, daß unsere Wirklichkeitsauffassungen nicht nur weit auseinanderdriften können, sondern daß sich diese Unterschiede durch keinerlei a ^non-Strukturen, die letztlich doch die Universalität unserer Selbst- und Weltauffassungen sichern, besänftigen oder gar einebnen lassen. Bruner knüpft unter anderem an Überlegungen von Goodman (1984), Rorty (1981) und Taylor (1994) an, um Grundzüge seines konstruktivistischen Ansatzes zu erläutern. Seine Konzeption erhält dabei eine im weitesten Sinne des Wortes politische Note. Bruner begreift seine konstruktivistische Handlungs- und Kulturpsychologie nämlich als Ausdruck einer demokratischen Kultur (Bruner, 1990, 24ff, 30).143 Dadurch kennzeichnen diesen „Konstruktivismus" auch in normativer Hinsicht andere Merkmale, als sie für den Ansatz Piagets, mit dem Bruner zeitweise zusammenarbeitete, charakteristisch sind. Auch Boesch (1991, 367) bindet seine Handlungs- und Kulturpsychologie an bestimmte Werte, wenn er für eine Psychologie plädiert, die Raum für Freiheit, Verantwortung und Kreativität läßt und die Würde des Menschen zu bewahren trachtet. Und auch er begreift sein eigenes Denken als eine Radikalisierung und Fortführung des Piagetschen Konstruktivismus. Er rät, den konstruktivistischen Grundgedanken ernster zu nehmen, als es Piaget selbst tat. Boesch begnügt sich nicht mehr mit Piagets Annahme, daß die für eine Theorie kognitiver Operationen so wichtigen Konzepte des Raumes und der Zeit, des Objektes und der Kausalität Konstrukte sind, zu deren Bildung und Verwendung Individuen in ihrer ontogenetischen Entwicklung allmählich fähig werden. Von dieser Auffassung sei es nur noch ein kleiner, dennoch höchst wichtiger Schritt zu der Annahme „that reality as a whole is in some ways constructed, too. After all, Piaget's constructivism ranges from perceptual structures to moral judgements, so why not also from social roles to individual identity?" (Boesch, 1991, 10). Vor allem Gergen (z.B. Gergen & Davies, 1985a; Shotter & Gergen, 1989) setzt sich seit langem für einen „sozialen Konstruktionismus" ein, der diesen Schritt in vielen verschiedenen Themenfeldern vollzogen hat. In der Perspektive einer konstruktivistischen Handlungs- und Kulturpsychologie geraten Phänomene in den Blick, die offenkundig keine invarianten Universalien der menschlichen Psyche mehr verkörpern. Anders als bei Piaget
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Diese Koppelung einer konstruktivistischen Sicht auf historisch variable, kulturspezifische „Weisen der Welterzeugung" an eine liberalistisch-demokratische Grundauffassung ist allerdings nicht so selbstverständlich, wie Bruner dies nahelegt. Beispielsweise unterscheiden sich Rortys vemunftkritisch-anarchischer und radikal-liberaler Pluralismus und Taylors streckenweise durchaus „konservative" Konzeption einer multikulturalistischen Politik der Anerkennung (vgl. auch Taylor, 1993) beträchtlich. Der Abschied vom metaphysischen „Mythos des Gegebenen" garantiert nicht schon dieselben demokratischen Positionen.
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sind Konstruktivismus und Universalismus nun nicht mehr zwei Seiten ein und derselben Medaille. Was wir erkennen und anerkennen, ist als Erkanntes und Anerkanntes ein Konstrukt. Konstruktionen sind keineswegs willkürliche Schöpfungen. Die Regeln, die ihrer Bildung zugrunde liegen, und die Regeln, denen wir folgen, wenn wir ihre Gültigkeit begründen oder bestreiten, sind allerdings an historische und soziokulturelle Rahmenbedingungen gekoppelt. Absolutes Wissen gibt es unter diesen Bedingungen prinzipiell nicht. Dies gilt für die alltagsweltliche Praxis ebenso wie für die wissenschaftliche und jede andere. In welcher Weise Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Konstrukte bilden, genauer: wie sie dies als methodisch vorgehende Handlungs- und Kulturpsychologen tun können, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen zur Theorie und Methodologie der Interpretation.
II. Interpretation 1. Interpretation: allgemeine Basisoperationen 1.1 Einleitende Hinweise Interpretationen werden im folgenden als Bestandteil einer möglichst transparenten, intersubjektiv nachvollziehbaren und methodisch geregelten Praxis begriffen. Ein einziger Weg, den interpretative Analysen unbedingt zu gehen hätten, wird dabei nicht festgelegt oder gar vorgeschrieben. Die interpretative Erfahrungs- und Erkenntnisbildung kann mehrere Pfade einschlagen, die zum Ziel fuhren. Diese pluralistische Auffassung ändert jedoch nichts daran, daß sich einige allgemeine Basisoperationen ausmachen lassen, um die auch die handlungs- und kulturpsychologische Forschungspraxis nicht herumkommt. Das in Kapitel 1.3 vorgestellte theoretische Rahmenmodell soll das Interpretieren als eine wissenschaftliche Basistätigkeit mit genau angebbaren Merkmalen ausweisen, ohne die Vielfalt möglicher interpretativer Verfahren einzuschränken. Danach werden texttheoretische Positionen unterschieden und in ihren methodologischen und methodischen Konsequenzen erörtert (Kapitel 2). Dabei wird ausgeführt, daß es nicht zuletzt die fundamentalen sprach- und texttheoretischen Auffassungen sind, die den Begriff und die Praxis der Interpretation maßgeblich bestimmen. Sprach- und texttheoretische Positionen eröffnen und verschließen besondere Interpretationsperspektiven, sie legen bestimmte Interpretationsmethoden nahe und schließen andere aus. Solche Positionen legen fest, was als Gegenstand der Interpretation zu gelten hat, wie dieser zu charakterisieren ist und wie demzufolge zweckdienliche interpretative Verfahren beschaffen sein müssen. Nach wie vor kämpfen interpretative Ansätze gegen das eingeschliffene Vorurteil, subjektiver Willkür Tür und Tor zu öffnen. Wo interpretiert wird, sei, wie nicht wenige sagen, nicht einmal mehr in groben Zügen klar und nachvollziehbar, was die Interpreten aus welchen Gründen auf welche Weise denn eigentlich täten. Interpretieren gilt in der zeitgenössischen Psychologie häufig als eine nebulöse, unheilbar „spekulative" Tätigkeit.1 Nicht selten wissen sich Befürworter interpretativer Methoden selbst nicht recht zu helfen, wenn sie sich mit diesem Vorwurf konfrontiert sehen. Einen Grund dafür sehe ich in der Tatsache, daß theoretische und methodologische Reflexionen interpretativen Handelns noch immer keine befriedigende Klärung der Frage erbracht haben, was
Sichler (1994) lotet Möglichkeiten aus, den Begriff der Spekulation nicht pejorativ zu verwenden und ihn als theoretisch-methodologischen Grundbegriff für die interpretative Psychologie zurückzugewinnen.
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II. Interpretation
Interpreten denn eigentlich genau tun, wenn sie textuell repräsentierte Handlungen und andere Phänomene analysieren. Handlungs- und kulturpsychologische Interpretationen zielen darauf ab, sinn- und bedeutungsstrukturierte Wirklichkeiten zu beschreiben und zu erklären. Sie können dies über weite Strecken auf eine geregelte und intersubjektiv nachvollziehbare Weise zuwege bringen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es, wie hier, ausschließlich um die Interpretation von textuell objektivierten Wirklichkeiten, kurz: um Textinterpretationen geht. Jede Art der Textrezeption, jeder Leseakt ist an Deutungs- und Verstehensleistungen gebunden, die Texte oder Textelemente in der einen oder anderen Weise als sinn- und bedeutungsvolle Gebilde auffassen. Im folgenden wird akzentuierend zwischen alltagsweltlichen Deutungen und wissenschaftlichen Interpretationen unterschieden. Der Übergang zwischen diesen sprachlichkognitiven Operationen ist fließend. Die gezogene Unterscheidung markiert also nicht nur Differenzen zwischen alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Handlungs- und Verstehens-„Logik", sondern schärft gerade auch das Bewußtsein für genetische Relationen, strukturelle Gemeinsamkeiten und jene Übergänge, die das Verhältnis zwischen alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Modi der Erfahrungs-, Wissens- und Erkenntnisbildung kennzeichnen. Wesentliche Unterschiede betreffen die Explizitheit, die Systematik, die methodische Regelung und Kontrolle, mit der Deutungen bzw. Interpretationen vorgenommen werden. Das Lesen ist jene alltagsweltliche Tätigkeit, die aus Texten konkrete sinn- und bedeutungsstrukturierte Gebilde macht. Die keineswegs regellose, aber doch nicht systematische und methodisch kontrollierte Lektüre kann als Vorform der wissenschaftlichen Textinterpretation angesehen werden. Schutte (1990) hebt den aktiven, Sinn und Bedeutung schaffenden Charakter des Lesens hervor. Seine speziell auf die Lektüre literarischer Texte und die Konstitution ästhetischer Erfahrung gerichtete Begriffsbestimmung kann ohne weiteres verallgemeinert werden. Sie paßt zu jeder an Lektüre gekoppelten Erfahrungs- und Erwartungsbildung. Die „Konstruktion" des Textes und, uno actu, von textuell vermittelten Erfahrungen, Orientierungen und Erwartungen ist an aktive Deutungs- und Verstehensleistungen des Textrezipienten gebunden. Die Textrezeption ist eine komplexe Handlung, die „Verstand, Gefühl, Einbildungskraft, Erfahrung und Erfahrungstätigkeit des Lesers und der Leserin nachhaltig fordert" (ebd., 6). Gerade der Handlungscharakter des Lesens gewährleistet, daß Leseerfahrungen mit den Lebenserfahrungen eines Menschen verwoben und, wie Schutte mit Stierle (1980, 229) sagt, zu „Orientierungszentren eigener Erfahrungen" werden können. Auch die wissenschaftliche Interpretation ist eine Handlung. Sie ist eine explikative Konstruktion oder Inszenierung der Lese-Erfahrung, eine aus dem routinierten Lesen ausdifferenzierte, sprachlich-kognitive Handlung: „So wie das Lesen eine Keimform der Interpretation, so ist diese eine analytisch agierende, auf Darstellung der Lese-Erfahrung und Verständigung mit anderen Lesern und Leserinnen zielende Form der Lektüre. Sie versieht die Lese-Erfahrung und die kritische Stellungnahme mit Begründungen ..." (Schutte, 1990, 10). Dies gilt für die Interpretation von Texten aller Art, und zwar auch in jenen wis-
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senschaftlichen Disziplinen, zu deren methodischem Rüstzeug nicht bloß die Analyse, sondern bereits die praktische Konstitution von Texten gehört (z.B. durch das Führen und Verschilften elektroakustisch aufgezeichneter Gespräche). Stets expliziert die Interpretation den Vorgang des Verstehens und damit das Bedeutungs- und Sinnpotential des Textes aus der Perspektive des Rezipienten. Interpretationen machen diesen Vorgang intersubjektiv nachvollziehbar und kritisierbar. Der zwangsläufig vindizierte Überlegenheitsanspruch wissenschaftlicher Interpretationen über alltagsweltliche Deutungen gründet sich auf die angeführten Merkmale. Ob Interpretationen diesem Anspruch faktisch gerecht werden, ist allerdings nicht von vornherein ausgemacht. Theoretische Reflexion und methodische Rationalität garantieren, wo es um triftige Beschreibungen und Erklärungen von Handlungen und Widerfahrnissen, Erfahrungen, Orientierungen und Erwartungen geht, noch keine besseren Ergebnisse als alltagsweltliche Deutungs- und Verstehensleistungen. Der Erfahrungs- und Wissenshorizont des deutenden oder interpretierenden Subjekts spielt hier eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie methodische Rationalität. Der relativ hohe Abstraktionsgrad der folgenden Ausfuhrungen und die Absicht, zu einer allgemein konsensfähigen Analyse interpretativer Textanalysen in der Handlungs- und Kulturpsychologie beizutragen, veranlassen mich, noch drei Hinweise vorauszuschicken: (1) Die begrifflich-theoretischen Klärungen interpretativen Handelns wurden im Zusammenhang empirischer Forschungsprojekte entwickelt (z.B. Straub, 1991b; 1993a; 1997; Straub & Seitz, 1998). Außerdem hatte ich ständig andere Berichte über empirische Forschungen vor Augen. Ohne diese ständige Tuchfühlung mit konkreten Versuchen, in wissenschaftlicher Einstellung Erfahrungen und Erkenntnisse zu bilden, hätte nicht entwickelt werden können, was in den folgenden Abschnitten vorgestellt wird. Den engen Kontakt zur empirischen Forschungspraxis halte ich für eine wesentliche Voraussetzung, um über die Logik, Methodologie und Methodik handlungs- und kulturpsychologischer Forschung etwas Nützliches sagen zu können. Selbstverständlich ist der Praxis allein wenig zu entnehmen. Rekonstruktive Analysen wissenschaftlichen Handelns müssen theoretisch reflektiert werden. Nur so kann die Forschungspraxis nicht nur beschrieben, sondern auch so analysiert werden, daß Verbesserungsmöglichkeiten sichtbar werden. Was faktisch getan wird, muß ja nicht schon vernünftig sein. Was ich anstrebe, kann als erfahrungsgesättigte formale Theorie interpretativen Handelns bezeichnet werden. Die Konstruktion dieser Theorie beruht, mit anderen Worten, auf einer interpretativen Analyse von Interpretationen, wie sie in den empirischen Handlungs- und Kulturwissenschaften faktisch vollzogen werden. Wer mit solchen Interpretationen vertraut ist, hat die Möglichkeit, das vorzustellende Modell an eigenen Erfahrungen zu prüfen. Was Interpreten bei der Entwicklung, Präsentation und Begründung ihrer empirischen Forschungsergebnisse tun, sollte sich durch meine theoretischmethodologischen Klärungen und Bestimmungen angemessen rekonstruieren und auf den Begriff bringen lassen. Nicht zuletzt soll die vorzustellende formale
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Theorie dem forschungspraktischen Anliegen dienen, empirische Untersuchungen in einer möglichst transparenten, systematischen und methodischen, kurz: in rationaler Weise betreiben zu können. (2) Dieses Plädoyer für methodische Rationalität besagt nicht, man solle sich der Hoffnung hingeben, interpretative Forschung ließe sich vollständig systematisieren und methodisch kontrollieren. Auch die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung läßt sich nicht lückenlos als zielorientiertes, zweckrationales und regelgeleitetes Handeln entwerfen und betreiben. Kreativität gehört zur wissenschaftlichen Basistätigkeit der Interpretation. Vollständige methodische Regelungen und Festlegungen interpretativer Handlungen sind weder erreichbar noch wünschenswert, insofern Interpretationsakte auch als kreative Handlungen, die Neues schaffen, vollzogen werden sollen. Die nicht reglementierbaren, kreativen Aspekte interpretativen Handelns sind nicht zuletzt darauf zurückzufuhren, daß Interpretationen subjektgebundene semantische Operationen darstellen. Interpretationen erschließen Sinn- und Bedeutungsgehalte von Texten oder Textanaloga, indem Individuen (oder Kollektive) Sinn und Bedeutung aktiv konstruieren und aushandeln. Interpretationen sind sprachlich-reflexive Handlungen. Als solche bezeugen sie, um eine Formel von Frank (1986) aufzugreifen, die Unhintergehbarkeit von Individualität und damit die Freiheit und prinzipielle Unabschließbarkeit interpretativer Bedeutungs- und Sinnproduktionen, die vernünftigerweise zwar durch Ziele und Regeln angeleitet werden, aber nicht auf die bloße Verfolgung von Zielen und Befolgung von Regeln, also auf gleichsam mechanische Bedeutungs- und Sinnreproduktionen reduzierbar sind: „Individualität ist eine Instanz, und sie scheint die einzige zu sein, die der rigorosen Idealisierung des Zeichensinns zu einem instanten und identischen Widerstand entgegenbringt" (ebd., 130). Die Einsicht in den subjektgebundenen Charakter wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung bedeutet natürlich nicht, daß man sich nicht um eine Explikation und kontrollierende Reflexion solcher subjektiver Konstitutionselemente bemühen sollte. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Die Abhängigkeit der Interpretation von der Subjektivität des Interpreten desavouiert nicht das Ziel, intersubjektiv nachvollziehbare und zustimmungsfähige Erkenntnisse zu bilden (Steier, 1991). Eine gewisse Tradition hat die selbstreflexive Relationierung und Kontrolle wissenschaftlicher Forschungsergebnisse beispielsweise in der Psychoanalyse. (3) Das Anliegen, interprétatives Handeln in einer systematischen, allgemein zustimmungsfähigen Weise zu begreifen, hat mit dem vergleichsweise verbreiteten Bemühen, die qualitative oder interpretative Forschung in ein grob oder fein zurechtgezimmertes Gehäuse zu zwängen, nichts zu tun. Vorschläge zur Systematisierung und allgemein verbindlichen Festlegung des gesamten Ablaufs interpretativer Forschung leiden häufiger daran, daß sie Eigenheiten verschiedener Ansätze vernachlässigen müssen. Sie reduzieren die faktische Vielfalt von Theorien, Methodologien, Verfahren und konkreten Forschungspraktiken zum Zwecke der Konstruktion einer idealisierten Ordnung (vgl. z.B. Flick, 1991). Im Unterschied zu solchen Versuchen geht es im folgenden allein um einen sehr spezifischen Aspekt interpretativer Forschung. Dieser allerdings
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besitzt allgemeine Bedeutung und ist in allgemeiner Weise analysierbar. Stets weist die Interpretation als eine handlungs- und kulturwissenschaftliche Basisoperation dieselben Grundzüge auf. Es ist auffällig, daß die Frage, wie sich Interpretationen begreifen lassen, nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt ist. Im Kontext von Versuchen, die interpretative oder qualitative Forschung in den empirischen Handlungs- und Kulturwissenschaften zu systematisieren, wird diese Frage meistens nur im Vorübergehen gestreift. Manche qualitativen Verfahren ignorieren das Problem der Interpretation sogar ganz. So spielen Interpretationen beispielsweise in Mayrings (1985; 1991) Konzeption der Inhaltsanalyse theoretisch, methodologisch und praktisch keine besondere Rolle. Die „Problematik des Sinnverstehens" wird hier und in anderen qualitativen Ansätzen in ganz ähnlicher Weise wie in der quantitativen Forschung umgangen. Dafür mag es, wie gerade Mayrings ausgefeilter und bewährter Ansatz zeigt, gute Gründe geben, vornehmlich solche, die darauf abzielen, den forschungspraktischen Aufwand wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in ökonomisch vertretbaren Grenzen zu halten.2 Wer jedoch, wiederum aus guten Gründen, interpretative Forschung betreiben will, wer also einen bedeutungs- und sinnverstehenden Zugang zu psychosozialen Wirklichkeiten wählen möchte, kommt um eine Klärung des Interpretationsbegriffs nicht herum.
1.2 Interpretation: erste Bestimmungen einer unerläßlichen Aktivität In lockerer Anlehnung an eine Definition Abels kann mit dem Grundbegriff „Interpretation" auf Vorgänge verwiesen werden, durch die wir in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen „etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen. Unsere Welten können darum als Interpretationswelten und diese als jene behandelt werden" (Abel, 1993, 14). Abel unterscheidet nicht zwischen Deutungen und Interpretationen. Er differenziert jedoch drei Ebenen und drei Hinsichten der Interpretation. Was mögliche Hinsichten interpretativen Handelns angeht, unterscheidet er die Interpretations-Logik von der Interpretations-Ästhetik und der Interpretations-Ethik. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Ebenendifferenzie-
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Zum Argument, bestimmte Verfahren der quantitativen und qualitativen Forschung als lediglich „arbeitsökonomisch" begriindbare Abkürzungen explizit bedeutungs- und sinnverstehender, interpretativer Analysen aufzufassen, vgl. etwa Oevermann, Allert, Könau und Krambeck (1979, 352) oder Soeffner (1989d, 186).
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rung wichtiger: „Interpretationen," nennt Abel „die ursprünglich-produktiven und sich in den kategorialisierenden Zeichenfunktionen selbst manifestierenden konstruktbildenden Komponenten, die in jeder Organisation von Erfahrung bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen sind. ... Dagegen heißen die durch Gewohnheit verankerten und habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster 'Interpretationen^. Und die aneignenden Deutungen, z.B. die Vorgänge des Beschreibens, Theoriebildens, Erklärens, Begründens oder Rechtfertigens, werden ... 'Interpretationen' genannt" (ebd., 14f.). Ändern sich Deutungen oder Interpretationen des ersten Typs, ändert sich die durch diese Interpretationen konstituierte Welt; auf dieser Ebene stehen Deutungen oder Interpretationen für die sprachliche Fassung und Vermittlung dessen, was die Welt bestimmter Menschen ausmacht. Auf Ebene zwei und drei sind Modifikationen von Interpretationen nicht derart folgenreich. Auf Ebene zwei verschieben sich Zuordnungen zwischen Interpretationen und Welt. Auf Ebene drei sind und bleiben die Interpretationen abhängig von einer vorgängig - durch Interpretationen, konstituierten Welt. Die Unterscheidung zwischen den genannten Ebenen kann in Zweifelsfällen dazu dienlich sein, präzisieren zu können, was beim Interpretieren und Deuten jeweils in Frage steht bzw. was dabei eigentlich getan wird. Abels Unterscheidung hebt den produktiv-kategorialisierenden, den habituellen und den aneignend-erkennenden Charakter menschlicher Welt-, Fremd- und Selbstverständnisse hervor. Deutungen und Interpretationen schaffen „Welten", sie vermitteln und reproduzieren mehr oder minder stabile Orientierungen innerhalb bestimmter Welten und sie können detaillierte Einsichten in bestimmte Weltaspekte liefern. Abels Grundwort der „Interpretativität" changiert beträchtlich in seiner Bedeutung. Es steht sowohl für den „Grundcharakter der Lebenspraxis sowie des Gebrauchs symbolisierender Zeichen selbst", als auch für spezielle Erkenntnisverfahren, die an bestimmte Vokabulare oder Terminologien gebunden sind (ebd., 16).3 Einer Theorie, Methodologie und Methodik interpretativer Wissenschaften geht es vornehmlich um Interpretationen, um aneignend-erkennende Praktiken und Verfahren, derer man sich bedienen kann, um selbst schon symbolisch strukturierte, textuell vermittelte Welten zu beschreiben und zu erklären. Auch die Handlungs- und Kulturpsychologie interpretiert Sinnwelten, und diese gründen in Deutungen, die auf allen drei genannten Ebenen angesiedelt sein können. Ich werde im folgenden wieder ganz allgemein von „Interpretationen" reden, wobei in der Regel wissenschaftliche Interpretationen im Sinne von Abels Typisierung gemeint sind. Interpretiert wird in Wissenschaften wie der Handlungs- und Kulturpsychologie insbesondere Merk- und Fragwürdiges, Unplausibles, Unverständli-
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Abel begreift den Interpretationsbegriff als weiter und fundamentaler als den Ausdruck „Verstehen". Im folgenden werde ich diesen Ausdruck häufig anstelle von „Deutung" oder „Interpretation" verwenden, mich also nicht an die Terminologie von Abels pragmatischer Interpretationsphilosophie, die der Autor von der philosophischen Hermeneutik und der sprachanalytischen Philosophie abgrenzt, halten.
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ches. Interpretationen werden vor allem im Fall von Verständigungs- und Verständnisschwierigkeiten erforderlich. Sie zielen, wie Taylor sagt, darauf ab, ein Studienobjekt - einen Text oder ein Text-Analogon -, das „in gewisser Weise wirr, unvollständig, verschwommen, scheinbar widersprüchlich, also auf die eine oder andere Weise unklar ist" (Taylor, 1975a, 154), klar und sinnvoll zu machen. Dabei muß berücksichtigt werden, daß solche Klärungsversuche mit einem für die interpretativen Wissenschaften charakteristischen Geschäft einhergehen. Dieses besteht darin, auch das auf den ersten Blick klar und selbstverständlich Scheinende zu hinterfragen. Dieser methodische Zweifel ist ein notwendiger Bestandteil wissenschaftlicher Textinterpretationen (Soeffner, 1989c, 105ff.). Das methodologische Prinzip der Fremdheit, das neben den Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation zu den Grundpfeilern interpretativer Forschung gehört (Hoffmann-Riem, 1980), bringt dies treffend zum Ausdruck: Die handlungs- und kulturwissenschaftliche Analyse hat nichts als selbstverständlich, sondern alles, also auch das, was vertraut erscheint, möglichst so aufzufassen, als sei es fremd. Diese Auffassung ist das Resultat einer artifiziellen Haltung und methodischen Einstellung, die als eine Art Vorsichtsmaßnahme gegen eigene Vorurteilsstrukturen fungiert. Nur so läßt sich Phänomenen, die sich nicht in diese Strukturen fugen, gerecht werden. Allerdings ist die Möglichkeit, fremdartigen Phänomenen so zu begegnen, daß deren Auffassung nicht durch die eigenen Vorurteilsstrukturen bestimmt wird, prinzipiell begrenzt. Es gibt keine Erfahrungs- und Erkenntnisbildung jenseits von Vorurteilsstrukturen. Der erwähnte methodische Zweifel ist im übrigen auch Ausdruck einer radikalisierten Skepsis gegenüber Selbstverständlichkeiten jedweder Art. Wenn man mit Grondin (1991, 1) die Hermeneutik überall dort am Werke sieht, wo das Deuten, Interpretieren und Verstehen zu einem Problem erhoben wird, dessen Bearbeitung auf methodische Reflexionen und Anweisungen angewiesen ist, dann kann das wissenschaftliche Interpretieren mit einer fundamentalen hermeneutisehen Skepsis in Zusammenhang gebracht werden. Diese geht davon aus, daß so gut wie alles auch anders verstanden werden kann, als es, von diesen oder jenen Personen, verstanden wurde oder verstanden wird. Hörisch hat recht, wenn er konstatiert, „daß 'Verstehen' nicht immer und an allen Orten selbstverständlich war und ist, weil das, was selbstverständlich ist, aufhört, es zu sein, wenn es verstanden oder gar interpretiert wird" (Hörisch, 1988, 7). Er beklagt sodann den ubiquitären Geist einer Hermeneutik, die zersetzend wirkt, wo immer sie sich niederläßt. Warum Hörisch nicht zuzustimmen ist, wenn er für den Abschied von einer Hermeneutik plädiert, die stets zersetzend wirkt, wo sie doch vorgibt, dem Verstehen den Weg zu ebnen, möchte ich kurz darlegen. Als konsensfähiger Ausgangspunkt kann die Einsicht gelten: Interpretieren steht nicht bloß im Zeichen eines „guten Willens", der dafür Sorge trägt, daß das Fremde oder andere - das Selbst und die Welt von anderen Menschen zumal - im Verstehen zu ihrem Recht kommen, also als etwas Besonderes gehört und zur Kenntnis genommen werden. Jede Interpretation, die ihren Namen verdient, will zwar auch dies. Gadamers philosophische Hermeneutik etwa ist
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von dieser versöhnlichen Geste getragen. Sie schlägt der Erweiterung des Diskursuniversums, der sogenannten Horizonte der Gesprächspartner, eine Bresche. Die Interpretation steht aber auch im Zeichen einer Gegnerschaft gegen unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. Hörisch sieht darin ein aggressives Moment des hermeneutischen Bemühens, das Schleiermacher höchstpersönlich mit seinem Hinweis auf die „Wut des Verstehens" frühzeitig anzeigte. Vor der Versöhnung werden Verbindungen gelöst, vor jeder Bemühung um Einsicht werden radikale Zweifel gesät, kurz: Das Verstehen kann getrieben sein von einem Impuls, in dem Hörisch eine Wut erkennt, jedenfalls eine auch destruktive, keineswegs ganz unschuldige Lust daran, Probleme zu sehen, wo bislang keine waren. Die Hermeneutik ruft sich unter Umständen selbst auf den Plan, indem sie Barrieren der Verständigung und des Verstehens (genauer) benennt und aufrichtet, die, so Hörisch, sodann allein die Hermeneutik mit ihren besonderen methodischen Mitteln abzubauen in der Lage ist. Die Hermeneutik, ein Selbstbeschäftigungsprogramm von Leuten, die die Schleier, die sie zum Wohle aller zu lüften vorgeben, erst einmal selbst produzieren? Hönischs Polemik, die den Namen „Schleiermacher" als Indiz eines fragwürdigen Programms liest, trifft zweifellos einen Aspekt beinahe jeder hermeneutischen, interpretativen Aktivität. Ob es allerdings zutreffend ist zu sagen, der Bedarf an Hermeneutik werde allein durch das vorgängige hermetische Handeln des Hermeneuten geschaffen, darf getrost bezweifelt werden (ebd., 16). Diese Behauptung ist stark überzogen. Man kann, zumal in der Psychologie, an alltagsweltlich hinreichend vorhandenen Schwierigkeiten ansetzen, mit denen sich Individuen und Kollektive, nach eigener Auskunft, nun eben einmal herumschlagen, ohne hinreichend genau angeben zu können, wo denn der Schuh eigentlich drückt. Die Problemdefinition ist häufig der erste Schritt der Problemlösung. Problemdefinitionen aber sind Deutungen oder Interpretationen. Insofern mag die Hermeneutik auch als Kunst der Problematisierung bezeichnet werden, wobei auch das bislang Selbstverständliche und - dies mag konzediert werden - keinesfalls immer und unbedingt zu Problematisierende in den Sog der Hermeneutik geraten kann. Alles in allem verdankt sich das Interpretieren jedoch keiner nörglerischen Wut und ungezügelten Machtneigung, sondern dem Interesse an lebenspraktischen Problemen, zu deren Entstehung es keineswegs eines Hermeneuten bedarf - zu ihrer präzisen sprachlichen Fassung und reflexiven Durchdringung bisweilen schon. Interpretationen setzen Differenzerfahrungen voraus. Solche Differenzerfahrungen können Widerfahrnischarakter besitzen. Differenz kann aber auch aktiv gesetzt werden. Insofern letzteres der Fall ist, erledigen Interpreten ein „zer-setzendes" Geschäft, bevor sie „über-setzen", die artikulierten Unterschiede also zu überbrücken und Verbindungen zu stiften versuchen. In der Tat: Interpretationen setzen das Ende einer Selbstverständlichkeit voraus, sei es, daß dem Interpreten Unverständliches begegnet oder widerfährt, sei es, daß das Interpretieren mit einer Setzung anhebt, die zur Folge hat, daß das, was selbstverständlich war und ist, aufhört, es zu sein. Das sorgfältige Unterscheiden gehört ebenso ins Aufgabenfeld des Interpreten wie das Konstruieren von Relationen, Verbindungen und Zusammenhängen. Wer das nicht sehen mag, verwechselt
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das Interpretieren und Verstehen mit einem simplen Hang zu Harmonie und Einheit, der nun wahrlich nichts mit wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zu tun hat. Die am Ende womöglich integrierende Kraft des Verstehens setzt erst einmal einen klaren Blick voraus, der der Differenz als einer Krisis zur Sprache verhilft. Die im Verstehen zum Zuge kommende Macht des guten Willens ist von der Differenzierungsneigung des Verstehens nicht zu trennen. Bei alledem kennen Interpretationen Anlässe, die nicht bloß die eigenen Angelegenheiten des Interpreten sind. Wer die „aufklärerischen" Ambitionen und Effekte des Interpretierens und Verstehens nicht generell aufgeben möchte - auch wenn hermeneutische Bemühungen Selbstverständlichkeiten zerstören mögen und keineswegs nur von vornherein erwünschte Folgen zeitigen -, wird eine strikt anti-hermeneutische Position nicht teilen. Diese wäre ja ohnehin bloß die Kehrseite der von Hörisch zu Recht gescholtenen Scheinheiligkeit mancher Hermeneuten. Es zeugt zwar von einer gewissen Naivität und Selbstillusionierung, wenn Interpreten nur sehen, daß sie Licht in gewisse Angelegenheiten bringen, ohne zu erkennen, daß sie eventuell selbst daran beteiligt waren, die fraglichen Angelegenheiten im Zuge ihres Interpretierens als dunkel und fragwürdig auszuweisen. Selbstreflexive interpretative Bemühungen auch in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen haben zu bedenken, in welcher Weise sie an der Formulierung der Probleme teilhaben, die sodann analytisch durchdrungen werden sollen. Problemdefinition und Problemanalyse haben in der Tat nicht immer nur „dienenden" Charakter. Häufig ist der Interpret aktiv in die Konstitution des Interpretandums verwickelt; daß damit Machtfragen gestellt sind, ist unabweisbar. Es wäre aber ebenfalls naiv, dem hermeneutisch-interpretativen Bestimmen von Problemen und dem Formulieren von Fragen von vornherein jeden Wert und jede Nützlichkeit abzusprechen. Dies gilt um so mehr, als verschiedene Interpretationstheorien oder Verstehenslehren heute kaum mehr der von Hörisch zu Recht kritisierten „Ägide des imperialen Geistes" zugeordnet werden können. Interpretationen setzen demgemäß nicht an einem Problem an, für das die eine und einzige Lösung gesucht und verordnet wird, sondern an Fragwürdigkeiten einer polyvalenten Textstruktur, die immer auch Fragwürdigkeiten für einen konkreten Interpreten darstellen und als solche zu reflektieren sind, bevor schließlich Verständnisvorschläge und Orientierungsangebote unterbreitet, d.h.: zur Diskussion gestellt, begründet und geprüft werden. Hörischs Schlußfolgerung, mit der „die" Hermeneutik - in einer ohnehin etwas verwunderlichen, grob vereinheitlichenden Formulierung - kurzerhand als Anachronismus verabschiedet wird, scheint dann doch etwas voreilig. Die Aussage, daß das Verstehen altere „wie die Erfahrung mit den Gesprächen und den Büchern" (ebd., 98), mag soziokulturellen Wandel signalisieren. Aus dieser „Diagnose" zu schließen, Bücher, zumal aber Gespräche und das Bemühen um Verstehen und Verständnis, seien heute, im Zeitalter „der elektronisch verdateten Welt", ein luxuriöses und jedenfalls überflüssiges Überbleibsel vergangener Zeiten, erscheint reichlich überhastet. Eine solche Schlußfolgerung ist naiv und ebenso bedenklich wie manche imperiale Entgleisung der traditionellen Hermeneuten. Aus Hörischs Dia-
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gnose kann man beim besten Willen keine überzeugende Kritik des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik ableiten - als verschwänden alle Probleme der Verständigung und des Verstehens schon deswegen, weil, wie Hörisch meint, mittlerweile folgendes offenkundig sei: „Daß Verstehen heute Grund zur Wut hat, ist angesichts seiner bemitleidenswerten Unzeitgemäßheit nur zu leicht nachvollziehbar. Daß nämlich Zeichen heute im erschlagenden Übermaße nicht produziert werden, um verstanden zu werden, macht jeder elektronisch erstellte Kontoauszug, jeder Buchungsvorgang, jeder milliardenschwere transatlantische Geldverkehr, jede Aktenablage und jeder durch EDV erstellte Text sinnlich gewiß deutlich. ... Gewachsen sind den unbegreiflichen Zeichenmengen hingegen die neuen Medien und spezifischer die Möglichkeiten der EDV" (ebd., 97f.). Auf der Grundlage eines, wie sich zeigt, ziemlich eigenwilligen Verständnisses „der" Hermeneutik und einer gleichermaßen erstaunlichen Auffassung von ihren Aufgaben wird dieses traditionsreiche, aber angeblich überalterte Unternehmen von Hörisch kurzerhand zum „exquisiten und zumeist dysfunktionalen Epiphänomen" erklärt, das man getrost vergessen könne. Dies überrascht ebenso wie die feierliche Überschätzung der Funktionen neuer Medien und der Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung. Bliebe man für einen Moment bei der eigentümlichen Auffassung, nach der die Erfahrung des Gesprächs und das Bemühen um Verständigung und Verstehen kurzerhand gegen die Welt der elektronischen Daten und Medien ausgespielt werden können, so wäre noch längst nicht ausgemacht, daß die neueren Einrichtungen die älteren ersetzen könnten (oder sollten) - ganz zu schweigen von dem modischen Kokettieren mit der Vorstellung, nach der die besagte Ersetzung längst lückenlos erfolgt sei (abgesehen von den Wochenendveranstaltungen einiger übriggebliebener, rückständiger Hermeneuten). Nicht alles und jedes, was mit dem (keineswegs eindeutigen) Titel „Hermeneutik" in Verbindung gebracht werden kann, ist ein bloßer Anachronismus. Manches von dem, was die Philosophen neuer Technologien und andere Zeitdiagnostiker als Wirklichkeiten beschreiben, beruht dagegen auf einer Verwechslung von Diagnose und Vision (einer Vision zumal, die vielleicht mehr von der fragwürdigen Faszination der Uniformität zehrt, als es den Apologeten lieb sein dürfte). Daran kann man festhalten, ohne auch nur im geringsten den Einfluß der Technik, speziell der neuen Informations- und Medientechnologien, auch auf die Theorie und Praxis der Verständigung, des Interpretierens und des Verstehens zu unterschätzen. Es ist jedoch geradezu banal, auf soziokulturelle und psychosoziale Schwierigkeiten hinzuweisen, die andauern, wie auch immer sich Essayisten und Theoretiker von Datenproduktionen und Datentransfers beeindrucken lassen. Nicht zuletzt zur Bewältigung der fortdauernden und der veränderlichen Schwierigkeiten in einer Lebenspraxis, die heute nicht und auch morgen nicht bruchlos in Datenflüssen „aufgeht", dienen die in den Handlungsund Kulturwissenschaften erarbeiteten Erfahrungs- und Erkenntnisbestände. Diese Disziplinen aber sind und bleiben auf Interpretationen und die methodischen Mittel, die vernunftorientierte interpretative Analysen kultureller, sozialer und psychischer Wirklichkeiten ermöglichen, angewiesen.
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1.3 Interpretieren im Zeichen bestimmender und reflektierender Vernunft 4 Als Interpretation bezeichne ich ein in absichtsvoller und bewußter Einstellung realisiertes, explizites, methodisch kontrolliertes, auf Transparenz und intersubjektive Zustimmungsfahigkeit angelegtes Bemühen um das Verstehen von Texten bzw. Handlungen und anderen praktischen und pathischen Aspekten der menschlichen Existenz. Solche Interpretationen werden in handlungsentlasteten Situationen (meistens) ex post facto vorgenommen, also dann, wenn die interessierenden Handlungen schon vollzogen bzw. die zu interpretierenden Texte bereits verfaßt sind (Soeffner, 1989a; 1989b; Straub, 1989, 213ff.). Wissenschaftliche Interpretationen sind selbstreflexiv strukturierte Deutungen. Sie weisen die Grundlagen und Gründe, die sie fundieren und rechtfertigen, sowie die im einzelnen zur Anwendung gelangenden Verfahren, die ebenfalls zur Rationalität von Interpretationen beitragen sollen, möglichst weitgehend aus. Im Vorgang der Interpretation werden also die arbiträren oder okkasionellen Züge alltagsweltlicher Deutungs- und Verstehensleistungen methodisch kontrolliert und dadurch, soweit das eben geht, vermieden.5 Um den komplexen Vorgang der Textinterpretation genauer zu klären, beziehe ich mich unter anderem auf Überlegungen von Bohnsack (1989, 343ff.; 1991, 127ff), die ich allerdings differenziere und erweitere (wodurch sich auch die Terminologie etwas ändert). Interpretative, sequentielle Textanalysen lassen sich durch analytische Unterscheidungen in struktureller und prozessualer Hinsicht in verschiedene Komponenten gliedern. Von besonderer Bedeutung sind dabei zwei Komponenten des Verstehens, die als formulierende und vergleichende Interpretation bezeichnet werden sollen. Die vergleichende Interpretation kann ihrerseits sowohl als bestimmende als auch als reflektierende Interpretation begriffen werden. Die Durchfuhrung dieser Interpretationsschritte setzt einige Vorbereitungen voraus, die zunächst kurz skizziert werden. Natürlich gehören auch diese vorbereitenden Schritte bereits zur interpretativen Textanalyse. Im folgenden wird vorausgesetzt, daß mindestens ein Text vorliegt. Ich gehe also davon aus, daß die Datensammlung oder -erhebung sowie die eventuell nötige Verschriftung von Daten bereits abgeschlossen ist. Dabei ist unbestritten, daß die Transkription bereits an Entscheidungen gebunden ist, die nicht allein den weiteren Gang der Interpretation bestimmen, sondern selbst schon interpretative Akte darstellen. Die folgenreiche Wahl des Transkriptionssystems
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Einige der folgenden Formulierungen übernehme ich aus bereits publizierten Abhandlungen (z.B. Straub, 1993b, 158ff.).
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Auch Hörisch (1988, 79) weist auf traditionelle Abgrenzungen der Interpretation von der Deutung hin. Überflüssig zu sagen, daß der hier entfaltete Interpretationsbegriff so gut wie nichts gemeinsam hat mit dem von Hörisch kritisierten Konzept einer von allen autochthonen Momenten des Deutens gereinigten, mimetischen Interpretation.
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macht dies besonders deutlich. All das soll hier zugunsten einer Konzentration auf das Problem der interpretativen Textanalyse vernachlässigt werden. 6 Formulierende und vergleichende Interpretationen beziehen sich auf einen segmentweise gegliederten Text. Durch die Gliederung des Textes in einzelne Segmente wird die sequentielle Analyse formal vorstrukturiert. Bei dieser Strukturierung kann sowohl auf inhaltliche als auch auf formale Aspekte des Textes Bezug genommen werden. Inhaltliche Gesichtspunkte sind beispielsweise ein Themenwechsel, das Auftreten neuer Akteure in der erzählten Geschichte oder beschriebenen Szene, der Eintritt neuer Ereignisse, ein Ortswechsel oder Zeitsprung in den Darlegungen, dramaturgische Merkmale der Ausführungen und anderes mehr. Formale Kriterien, die die segmentweise Gliederung des Textes leiten können, sind beispielsweise ein Sprecherwechsel, die Variation der Textsorte (z.B. vom Erzählen zum Argumentieren), des Tempus, der Erzähl- oder Darstellungsperspektive, sogenannte Rahmenschaltelemente, die anzeigen, daß nun ein neuer Erzählabschnitt beginnt („nun gut, und dann"), der Wechsel von abstrakt-unpersönlichen Darstellungsformen auf die indexikalische Ebene vice versa und dergleichen mehr. Formulierende und vergleichende Interpretationen beziehen sich zunächst einmal auf die unterschiedenen Segmente, die nun nacheinander einer sequentiellen Analyse unterzogen werden. Selbstverständlich werden die aufeinander folgenden Segmente dabei auch auf ihre sinnhaften, beispielsweise auf ihre narrativen oder argumentativen Beziehungen hin untersucht. Die Schritte der formulierenden Interpretation einerseits, sowie der vergleichenden Interpretation andererseits sind bis zu einem gewissen Grad hierarchisch gegliedert. Die Position der Interpretationsschritte bemißt sich dabei primär nach deren Abstraktionsgrad. Mit zunehmendem Abstraktionsgrad steigt die Komplexität der Interpretation. Je abstrakter diese ist, desto vielfältiger sind ihre begründungsbedürftigen (theoretischen) Voraussetzungen. Als „Abstraktion" im interpretativen Prozeß bezeichne ich die sich schrittweise vollziehende „Lösung" oder „Entfernung" vom zu interpretierenden Text, dem Interpretandum. Wer abstrakt interpretiert, erläutert das Interpretandum in einer Sprache, die nicht mehr die Sprache des interpretierten Textes ist. Interpretative Abstraktionsleistungen sind an die Erarbeitung der Interpretationsergebnisse und damit an die Produktion eines neuen Textes gekoppelt. Solche Texttransformationen und die damit verbundene Entwicklung von sprachlichen„Konstrukten zweiten Grades" (Schütz) sind, relativ zu den im Interpretandum artikulierten Wissensbeständen,
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Zu den vorgängigen Schritten gehören im übrigen nicht nur die methodische Datenkonstitution sowie die Transkription, sondern auch alle übrigen pragmatischen Bedingungen und praktischen Abläufe im Prozeß empirischer Forschung. Eine diesbezüglich sehr aufschlußreiche Beschreibung und Reflexion empirischer Forschung bieten Wahl, Honig und Gravenhorst (1982). Was Methoden der Datenkonstitution und der Transkription betrifft, verweise ich lediglich auf die einschlägigen Artikel im „Handbuch Qualitative Sozialforschung" (Flick, von Kardorff, Keupp, Rosenstiel & Wolff, 1991; einige Verfahren stellen kurz vor: Appelsmeyer, Kochinka & Straub, 1997).
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an die Einnahme externer Interpretationsperspektiven und Vergleichshorizonte gebunden. Ich komme darauf zurück. Die formulierende Interpretation abstrahiert vom zu interpretierenden Text so wenig wie möglich. Sie schafft ein erstes inhaltliches Verständnis des vorliegenden Textes. Sie ist im Kern eine Art Paraphrase. Der Interpret gibt, indem er formulierende Interpretationen ausarbeitet, in Stichworten, kurzen Titeln, Oberbegriffen, sodann in mehr oder weniger ausführlichen Sätzen an, wovon in den einzelnen Segmenten die Rede ist. Die Ausführlichkeit und Detailliertheit, in der solche Paraphrasen formuliert werden, richtet sich nach der Relevanz der jeweiligen Segmente. Da zu jedem Segment zumindest ein titelartiges Stichwort gebildet wird, steht nach Abschluß der formulierenden Interpretation ein Stichwortregister zur Verfugung, durch das sich der Interpret fortan einen schnellen Überblick über den thematischen Ablauf des bzw. der zu interpretierenden Texte verschaffen kann. Stichwortregister übernehmen Ordnungs- und Übersichtsfunktionen. Sie unterstützen die Erinnerung und die Suche des Interpreten nach bestimmten Textstellen. Computerprogramme zur Analyse qualitativer Daten leisten diesbezüglich hilfreiche Dienste. In gewisser Weise sind Stichwortregister auch extrem verdichtete Interpretationen; sie liefern Hinweise auf mögliche Wege der extensiven Interpretation einzelner Segmente. Die nicht bloß mit Stichworten überschriebenen, sondern bereits detaillierter reformulierten Segmente werden auch, möglicherweise in einem zweiten Durchgang, vergleichenden Interpretationen unterzogen. Vor allem diese Segmente gehen in die komparativen Analysen und fallübergreifenden Typisierungen und Typenbildungen ein.7 Detaillierter reformuliert werden die als thematisch relevant erachteten Passagen. Ob dieses Kriterium erfüllt ist, entscheidet der einzelne Interpret oder eine Interpretationsgruppe. Die Praxis kollektiven Interpretierens schützt zwar vor idiosynkratischen Entscheidungen. Eine Garantie gegen folgenreiche Fehlurteile bietet aber keine Gruppe. In der Praxis einer Interpretationsgemeinschaft müssen vielmehr immer auch mögliche Nachteile, vor allem gruppendynamische „Barrieren des Verstehens", berücksichtigt und methodisch kontrolliert werden. Es ist eine sozialpsychologische Binsenweisheit, daß Entscheidungen in Gruppen nicht a priori rationaler verlaufen als Entscheidungen eines Individuums, das zumindest in der Interpretationssituation nicht unmittelbar von Gruppenstrukturen, Gruppennormen und Gruppenerwartungen abhängig ist. Dies betrifft bereits die auf der Ebene formulierender Interpretation angesiedelte Entscheidung, was denn besonders wichtig ist und deshalb ausführlicher paraphrasiert werden sollte.
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Zu einem typologischen Programm wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, das jenseits der Unterscheidung zwischen idiographischer und nomothetischer Forschung angesiedelt ist, vgl. z.B. Straub (1989, 223ff.); ich setze die dort angestellten Überlegungen im folgenden voraus; vgl. weiterhin Aschenbach, Billmann-Mahecha, Straub und Werbik (1983, 129ff.), Bohnsack (1989) sowie die an Max Weber anschließenden Überlegungen von Gerhardt (1985, 86ff.; 1986).
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II. Interpretation
Besonders gravierend sind Fehlentscheidungen auf dieser Ebene allerdings nicht, da jeder bis zu diesem Zeitpunkt unternommene Schritt leicht korrigierbar ist. Was nicht gleich im ersten Durchgang paraphrasiert wurde, kann später noch detailliert reformuliert werden. Was zunächst als unwichtig abgetan wurde, mag sich nach intensiver Beschäftigung mit dem Text (oder mit anderen Texten) als relevant erweisen. Damit ist auch offensichtlich, daß die formulierende und die vergleichende Interpretation keine strikte Abfolge bilden müssen. Während der gesamten Dauer der interpretativen Analyse können diese Interpretationsschritte Einfluß aufeinander nehmen und abwechselnd vollzogen werden. Ihre Trennung hat einen primär analytischen Zweck. Sie hilft klären, was jemand tut, der interpretiert. Das zentrale Merkmal der formulierenden Interpretation besteht darin, daß der Interpret möglichst unmittelbar an den gegebenen Text anschließt und sich innerhalb des Erfahrungs-, Erwartungs-, Deutungs- und Orientierungssystems, kurz: des Wissenssystems des jeweiligen „Sprechers" bewegt. Dessen Äußerungen werden hin und her gewendet, zusammengefaßt oder verdichtet. In diesem Sinne ist die formulierende Interpretation ein reproduktives Verstehen des Selbst- und Weltverständnisses des Textproduzenten, sie ist „eine Art Interpretation, die sich innerhalb des Rahmens oder ... des Erwartungssystems derjenigen bewegt, deren Handeln und deren Texte Gegenstand der Interpretation sind. Deren Erwartungssystem ... wird nicht transzendiert oder als solches thematisiert" (Bohnsack, 1989, 343). Durch die formulierende Interpretation wird also, verglichen mit den Worten des Sprechers, nichts oder kaum etwas Neues gesagt. Die formulierende Interpretation ist trotz ihrer bloß reproduktiven Funktion wichtig, da sie die direkte Verbindung zu den textuell vermittelten Handlungs-, Selbst- und Weltverständnissen knüpft. Dies kann als wichtiger Aspekt der methodischen Kontrolle interpretativer Forschung betrachtet werden. Die skizzierte reproduktive Prozedur kann von den stärker produktiven oder kreativen, vergleichenden Interpretationen unterschieden werden. Im extensiven Analyseschritt der vergleichenden Interpretation werden die detailliert reformulierten Segmente einer weitergehenden Interpretation unterzogen. Häufig sind es nicht bloß einzelne Segmente, die herangezogen werden, sondern mehrere aufeinander folgende oder aufeinander beziehbare Segmente, die bestimmte Erlebnis-, Erfahrungs-, Deutungs-, Orientierungs-, Handlungs- oder Entwicklungsmuster erkennen lassen. Die vergleichende Interpretation baut also auf der formulierenden Interpretation auf, erweitert und vertieft diese jedoch erheblich. Die formulierende Interpretation geht dabei gleichsam in die vergleichende ein. Die Erweiterung und Vertiefung des Interpretationsprozesses wird im wesentlichen dadurch erreicht, daß nun, wie der Name dieses Interpretationsschritts schon sagt, komparative Perspektiven eine zentrale Funktion erhalten. Einzelne Äußerungen und Textpassagen werden nun dadurch genauer verstanden, daß sie auf andere Äußerungen und Textpassagen bezogen werden. Sie werden im Prozeß des vergleichenden Bedenkens als symbolische Gebilde mit jetzt genauer explizierbaren Sinn- und Bedeutungsgehalten erkannt. Vergleichende Interpretationen sind
1. Interpretation: allgemeine Basisoperation
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konstruktive Bedeutungs- und Sinnproduktionen, es sind semantische Operationen, die die Bedeutungsgehalte von Äußerungen, textuell vermittelten Handlungen etc. durch Bezugnahmen auf andere Textteile erschließen. Prädikationen, Identifikationen, Reidentifikationen, Unterscheidungen, Relationierungen und die Konstruktion von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, wie sie in psychologische Erklärungen eingehen, sind nur auf der Basis vergleichenden Interpretierens möglich. Glaser und Strauss (1967; Glaser, 1978; Strauss, 1991) bringen dies treffend zum Ausdruck, wenn sie ihre Forschungen global mit dem Titel der „komparativen Analyse" überschreiben. So sehr sie jedoch die Bedeutung des Vergleichens für die interpretative Erfahrungs- und Erkenntnisbildung herausstellen, so ergänzungsbedürftig sind ihre theoretischen und methodologischen Ausführungen, die das Konzept der komparativen Analyse allenfalls ansatzweise klären. Wenn der Ausdruck „Alltagswissen" als summarischer Begriff für die im Interpretandum zur Sprache gebrachten Selbst- und Weltverständnisse bzw. Selbst- und Weltverhältnisse verwendet wird, läßt sich sagen: Alltagsweltliche Wissensbestände werden im Zuge vergleichender Interpretationen durch die kognitive Konstruktion von bedeutsamen Relationen zu anderen Wissens- oder Erkenntnisbeständen verstanden. 8 Mit einem in der philosophischen Hermeneutik gebräuchlichen Ausdruck kann dieser Sachverhalt einer differenzierenden Klärung zugeführt werden. Ein gegenüber den Ergebnissen der formulierenden Interpretation vertieftes Verständnis von Äußerungen wird dadurch erreicht, daß diese Äußerungen durch den Vergleich mit relevanten Gegenhorizonten erschlossen werden. Das Verständnis, das durch die vergleichende Interpretation erlangt werden kann, ist dabei in hohem Maße von kontrastiven Gegenhorizonten abhängig. Kontrastive Vergleiche erzeugen Differenzierungen, zunächst oft in Form einfacher binärer Oppositionen, und sie ermöglichen die detaillierte Ausarbeitung sprachlicher Unterscheidungen. Generell sollten die in die Interpretation eingehenden Vergleichs- und Gegenhorizonte explizit eingeführt, also in einer methodisch kontrollierten Weise verwendet werden. Sie können „minimalen" und „maximalen" Vergleichen dienen, also solchen, die einander ziemlich ähnliche Phänomene ins Spiel bringen, oder solchen, die mit starken Kontrasten arbeiten. 9
8
Von „Wissen" ist hier in einem sehr weiten Sinn die Rede. Mögliche Geltungsansprüche in Rechnung stellend, könnte in Anlehnung an Kant unterschieden werden zwischen (a) Wissen im engeren Sinn, womit alle intersubjektiv gültigen Aussagen und Aussagesysteme gemeint sind, (b) dem Glauben, der allein subjektive Gewißheit verschafft, (c) der bloßen Meinung, für die keinerlei Geltung beanspracht wird.
9
Als empirische Studien, die dies anschaulich illustrieren, kommen zahlreiche Arbeiten in Frage (wobei es keine Rolle spielt, wie die Autorinnen oder Autoren ihre Vorgehensweise erläutern). Publikationen, in denen sich formulierende und vergleichende Interpretationen bis hin zur Konstraktion von Typen, Typiken und Typologien gut nachvollziehen lassen, sind etwa die Bücher von Billmann-Mahecha (1990b), Bohnsack (1989), Popp-Baier (1995), Riemann (1987), Straub (1993) oder Welzer (1993).
216
II. Interpretation
Um zu Vergleichsmöglichkeiten zu gelangen, kann auf unterschiedliche „Quellen" zurückgegriffen werden. Wie Bohnsack schreibt, können die vom Interpreten aufgegriffenen oder ins Spiel gebrachten „Vorstellungen oder Entwürfe des Interpreten, die den Gegenhorizont bilden, ... entweder gedankenexperimentell sein, können auf hypothetischen Vorstellungen beruhen, die dann abhängig sind von der jeweiligen Erfahrungsbasis, dem jeweiligen Erfahrungshintergrund des Interpreten, in den Alltagserfahrungen und theoretische ... Erfahrungen gleichermaßen eingehen können. Die Gegenhorizonte können aber auch empirisch gewonnen sein" (Bohnsack, 1989, 346). Die von Bohnsack angedeutete Typik von Vergleichshorizonten läßt sich wie folgt erweitern und systematisieren: Die theoretischen Vergleichshorizonte des Wissenschaftlers können in allgemeinen formaltheoretischen oder in bereichsspezifischen theoretischen Begriffen, Konzepten oder Hypothesen bestehen. Als Beispiele für formaltheoretische Konzepte seien - willkürlich ausgewählt - genannt: „Handlung", „Widerfahmis", „Erfahrung", „Erwartung" oder auch „Identität"; bereichsspezifische Begriffe oder Theoreme legen beispielsweise bestimmte „Identitätsprobleme im Jugendalter" nahe, sie postulieren eine „bessere Bewältigung individueller Lebensprobleme im Falle sozialer Unterstützung" und dergleichen mehr. Dem Interpreten stehen selbstverständlich nicht allein theoretische Vergleichshorizonte zur Verfugung, sondern auch materiale wissenschaftliche Erkenntnisse, die ebenfalls Vergleiche ermöglichen. Man denke etwa an historische Erkenntnisse oder an die Erträge anderer Sozialund Kulturwissenschaften, ohne die psychologische Interpretationen individuellen und kollektiven Handelns häufig kaum denkbar wären. In systematischer Absicht lassen sich die Quellen, aus denen interpretationsleitende Vergleichshorizonte stammen können, in einem Schema zusammenstellen. Im Hinblick auf ihre Herkunft und Charakteristik können konkrete Vergleichshorizonte durchaus Mischformen darstellen. Im theoretischen Schema ist deswegen von sogenannten „reinen" Typen die Rede.
Vergleichende Interpretation
4
Interpretation durch Referenz auf Vergleichshorizonte 4 4 4 4 Explizit empiImaginative, Alltagswissen Wissenschaftlich risch fundierte fiktive, des Interpreten fundierte/ VH als VH vermittelte VH utopische VH Theoretische oder empirisch-materiale I Erkenntnisse als VH Formaltheoretische oder bereichsspezifische theoretische VH Abb. 8: Reine Typen von Vergleichshorizonten (VH)
1. Interpretation: allgemeine Basisoperation
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Anzumerken bleibt, daß sich unter dem Titel der „explizit empirisch fundierten Vergleichshorizonte" sehr Unterschiedliches verbirgt. Dabei kann es um eigene Erlebnisse oder Erfahrungen gehen, über die ein Sprecher im zu interpretierenden Text Auskunft gibt. In solchen Texten ist aber fast immer auch von Erfahrungen anderer die Rede. Dies ist schon deswegen so, weil nicht nur der wissenschaftliche Interpret, sondern wir alle unsere Erfahrungen und Erwartungen im Lichte der uns bekannten, ähnlichen oder unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen anderer Menschen bilden und artikulieren. Außerdem ist auch die alltagsweltliche Erfahrungsbildung an implizite oder explizite Vergleichshorizonte gebunden, die „theoretische" Konzepte und schließlich imaginative, utopische oder gedankenexperimentelle Vorstellungen beinhalten können. All dies steckt im Titel der „empirisch fundierten Vergleichshorizonte", mit denen der wissenschaftliche Interpret arbeiten kann. Alles, was in den zu interpretierenden Texten zur Sprache kommt, gilt in der hier interessierenden Forschung als empirisches Datum und kann zum Gegenstand formulierender und vergleichender Interpretationen werden - idiosynkratische Phantasien und Wünsche genauso wie handfeste Beschreibungen sozialer Erfahrungen. Jene Interpretationen, die sich auf die Konstruktion einer Relation zwischen mindestens zwei empirisch fundierten Gegenhorizonten stützen, mögen als regulatives Ideal erfahrungswissenschaftlicher Forschung gelten. Für die empirisch gehaltvolle Entwicklung möglichst differenzierter Typiken und Typologien ist die Arbeit mit explizit empirisch fundierten Gegenhorizonten unerläßlich. Jedoch muß sowohl vor unpraktikablen Verabsolutierungen dieses Ideals, als auch vor naiv-empiristischen Mißverständnissen gewarnt werden. Wissenschaftstheoretische Argumente ganz unterschiedlicher Provenienz haben längst gezeigt, daß auch erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse niemals ausschließlich auf empirischer Grundlage beruhen. Speziell Interpretationen sind stets an den „Standort" und die Perspektive des Interpreten, an dessen Erfahrungs-, Erkenntnis- und Wissensbestände gebunden. Bohnsacks emphatisches Plädoyer für eine möglichst weitgehend mit empirisch fundierten Vergleichshorizonten operierende Forschung rückt diese Einsicht allzu sehr in den Hintergrund (vgl. Straub, 1993a, 62ff.). Wer die alltagsweltlichen Selbst- und Weltverständnisse zwar ernst nimmt und angemessen rekonstruieren will, sie aber dennoch nicht als Maß aller Dinge betrachtet und sie nicht nur reproduzieren möchte, der muß seine empirischen Daten im Zuge interpretativer Analysen „transzendieren". Dabei spielen theoretische Konzepte eine herausragende Rolle. Sie befähigen und autorisieren den Interpreten, dem „subjektiv gemeinten" oder „sozial geläufigen" Sinn einer Praxis bzw. eines Textes einen „konkurrierenden Gegensinn" gegenüberzustellen, vielleicht auch mehrere konkurrierende Gegensinne, wie Böhme (1990) im Hinblick auf diesen kritischen Akt der „obliquen Reflexion" sagt.10
10
Den Typus der „obliquen Reflexion" erörtert Böhme unter Bezugnahme auf Schriften von
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II. Interpretation
Wissenschaftliche Theorien können den Leitfaden für die Entwicklung von Interpretationen liefern, die mit den alltagsweltlichen Selbst- und Weltverständnissen konkurrieren und als Artikulation eines Gegensinnes verstanden werden können. Zu diesem Zweck kommen allerdings nicht nur wissenschaftlich-theoretische Erkenntnisbestände in Betracht, sondern alle Vergleichshorizonte, die es gestatten, die Selbst- und Weltverständnisse von Personen zu transzendieren. Solche Interpretationsperspektiven ermöglichen es, bestimmte Praktiken, Selbst- und Weltverhältnisse anders zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, als es jene Akteure tun, deren Texte den Gegenstand der Interpretation bilden. Ohne mich an dieser Stelle bereits mit der Frage befassen zu wollen, welche Rolle valorative und normative Orientierungen des Interpreten bei der wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung spielen bzw. spielen sollten, lassen sich deskriptive von normativen oder valorativen Perspektiven unterscheiden. Normative oder valorative Gegenhorizonte können „positiv" oder „negativ" sein. Fend (1988) hebt die fördernde, bisweilen sogar konstitutive Funktion normativer und valorativer Orientierungen für die empirische Erkenntnisbildung hervor, wenn er von seiner eigenen Arbeit sagt: „Dieser Ansatz entspringt der Überzeugung, daß die wertende Stellungnahme zur Wirklichkeit eine erkenntniserschließende Bedeutung hat. Erst auf einer normativen Folie, die die vorgefundene Wirklichkeit mit einer erwünschten konfrontiert, wird das Faktische in seinem spezifischen Sosein bewußt" (ebd., 25). Seine Studien zur „Sozialgeschichte des Aufwachsens im zwanzigsten Jahrhundert" zeigen im übrigen beispielhaft, daß die in vergleichende Interpretationen eingehenden Gegenhorizonte sehr abstrakte, theoretisch vermittelte Dimensionen annehmen können. So bezieht sich Fend, um die in den sogenannten neuen sozialen Bewegungen etablierten „alternativen" Prinzipien der Handlungs- und Lebensgestaltung zu analysieren, auf Max Webers Darstellung der okzidentalen Moderne als negativen Gegenhorizont (ebd., 44). Nach den obigen Ausfuhrungen läßt sich nun sagen: Vergleichende Interpretationen durchzufuhren heißt, das in Frage stehende Interpretandum durch die auf Vergleichshorizonte gestützte Konstruktion von Beziehungen entweder der Ähnlichkeit oder der Differenz zu erschließen. Genauer besehen kann sich die an den Akt des Vergleichens gebundene Interpretation zwei verschiedener
Freud und Nietzsche. Die oblique Reflexion dient der Dekonstruktion und Destruktion von alltagsweltlichen Naivitäten im Verständnis unseres Sprechens und Handelns. Böhmes anregender Essay richtet sich dabei auf einen speziellen Typus unseres Sprechens: das Erzählen von Geschichten. Diese Praxis und damit auch die Begriffe „Erzählen" und „Geschichte" sollen, am Leitfaden konkreter Beispiele, kritisch dekonstruiert werden. Der im Erzählen einer Geschichte sich manifestierende Sinn soll mit Alternativen konfrontiert werden. Diese Alternativen bilden eine „chaotische Mannigfaltigkeit vieler Gegensinne" (Böhme, 1990, 589). Im übrigen steht in Böhmes psychoanalytisch inspirierter philosophischer Anthropologie der Begriff des „Gegensinns" letztlich „im wörtlichen Sinne (für) das Irrationale, nämlich das, was aufgrund gewisser Umstände, politischer Bedingungen, moralischer Schranken etc. nicht sagbar ist" (ebd., 590).
1. Interpretation: allgemeine Basisoperation
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Formen der Urteilskraft bedienen, nämlich der bestimmenden und der reflektierenden. Diese Unterscheidung geht auf Kant zurück. Kant (1977) führt diese Unterscheidung allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang ein, nämlich in seiner 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft".11 Erst in dieser Schrift betrachtet er die Reflexion als eigenständigen Modus der Urteilskraft. Noch 1771, also im Jahr der Publikation der „Kritik der reinen Vernunft" wurde sie von Kant lediglich als eine Vorbedingung der Urteilskraft angesehen. Ich beziehe mich im folgenden sehr selektiv auf Kants Kritik der Urteilskraft, die bekanntlich nicht nur eine dritte Form der Vernunft - die ästhetische oder teleologische Vernunft - analysiert, sondern auch mögliche Bezüge zwischen den beiden anderen Formen bzw. Vermögen, die als „Verstand" in der Kritik der reinen Vernunft und als „Vernunft" (im engeren Sinne des Wortes) in der Kritik der praktischen Vernunft untersucht werden. In der Hauptsache denkt Kant freilich an die ästhetische Erfahrung, wenn er von (reflektierender) Urteilskraft spricht. Die mit diesem Begriff bezeichnete Denkform ist meines Erachtens nicht nur für eine philosophische Ästhetik von Bedeutung, sondern auch für eine Theorie und Methodologie empirischer Erkenntnisbildung in der interpretativen Psychologie und anderen Disziplinen. Ich vertrete hier die Auffassung, daß sich Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft auf ein breites Feld von Erfahrungen beziehen läßt, und zwar immer dann, wenn sich diese Erfahrungen nicht ohne weiteres geläufigen Schemata subsumieren lassen. Reflektierende Urteilskraft ist erforderlich, sobald wir Erfahrungen bilden bzw. artikulieren wollen, dies jedoch nicht umstandslos können, weil noch nicht hinreichend begriffen und bestimmt ist, was als „Erfahrung" zur Sprache gebracht werden soll. Mit solchen noch unbestimmten Erlebnissen und ähnlichen Phänomenen hat es auch die psychologische Forschung häufig zu tun, weshalb auch sie des reflektierenden Vernunftvermögens bedarf.12
"
Vgl. z.B. den Abschnitt V aus der (posthum veröffentlichten) „Ersten Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft".
12
Das stillschweigende Vorbild meiner Aufnahme der Kantischen Unterscheidung ist Arendts (z.B. 1985) politische Philosophie, die die politische Vernunft in entscheidenden Hinsichten auf die reflektierende Urteilskraft - und nicht auf die praktische Vernunft - gründet. Kants Kritik der Urteilskraft hat in anderen Disziplinen als der Philosophie nur wenig Resonanz gefunden. Ein interessanter Versuch, Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften und dessen Psychologie mit Kants Konzept der reflektierenden Vernunft in Verbindung zu bringen und dadurch zu erhellen, findet sich bei Makkreel (1991). Makkreel versucht, im Unterschied zur gängigen Gegenüberstellung des „frühen" und des „späten" Dilthey, die Einheit seiner psychologischen und hermeneutisch-historischen Arbeiten nachzuweisen. Als vereinheitlichende Klammer betrachtet Makkreel Diltheys ästhetische Schriften, denen er eine zentrale Stellung einräumt. Bei alledem rückt er Dilthey viel näher an Kant, als dies gemeinhin üblich ist. Alle Methoden, die im Laufe von Diltheys Arbeit ins Zentrum rückten - Beschreibung und Vergleichung in den psychologischen Schriften, Interpretation und Nacherleben in den hermeneutischen -, sind nach Makkreel gleichermaßen an den Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft gebunden; dies gilt Makkreel als entscheidendes Definiens von Diltheys geistes-
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II. Interpretation
Kants Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Vernunft oder Urteilskraft nehme ich auf, wenn ich fortan die bestimmende und die reflektierende Interpretation als zweierlei Formen der vergleichenden Interpretation begreife. Vor der Klärung dieser Begriffe fasse ich die zuletzt getroffenen Unterscheidungen in ihren logischen und praktischen Zusammenhängen zusammen. Im untenstehenden Schema werden neben der formulierenden und der (intern in die bestimmende und reflektierende untergliederten) vergleichenden Interpretation noch einmal alle Typen von Vergleichshorizonten angeführt. Die textanalytischen Schritte werden in den Kontext des gesamten Forschungsprozesses gestellt, wobei zu berücksichtigen ist, daß die verschiedenen Phasen im Sinne des von Glaser und Strauss propagierten Verfahrens (z.B. Glaser, 1978, 36ff.) durchaus ineinander greifen können. So mögen etwa nach ersten Textanalysen gezielt neue Daten erhoben werden, die neue Vergleichsmöglichkeiten eröffnen sollen.
wissenschaftlichem und geschichtlichem Ansatz. Makkreels Bezugnahme auf Kants dritte Kritik ist offenkundig in ein weit gewagteres Unternehmen eingebunden, als es hier verfolgt wird, da es mir ja lediglich darum geht, wesentliche Aspekte der Logik, Methodologie und Methodik interpretativer Forschung zu klären. Ob sich Diltheys in vielen Punkten fragwürdige Psychologie in Makkreels Sinne stärken läßt, mag dahingestellt bleiben. Erwähnenswert ist seine Auffassung: „Während Kants reflektierende Urteilskraft einem Besonderen gestattet, auf eine Idee oder ein Allgemeines zu weisen, erlaubt uns Diltheys reflektierende Erfahrung, das Allgemeine im Besonderen zu sehen" (ebd., 287; vgl. auch 262ff.). Nach meiner Auffassung fuhrt Makkreel Diltheys Denken ein gutes Stück über sich selbst hinaus (vgl. auch Makkreel, 1990).
1. Interpretation: allgemeine Basisoperation
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Projekt-Vorbereitung und Arbeit im Feld Datenerhebung I Verschriftung/Transkription nicht schriftlich fixierter Daten Textkonstitution i Textanalyse I Formulierende Interpretation 4 Vergleichende Interpretation Interpretation durch Referenz auf Vergleichshorizonte 4 4' 4' 4 Explizit empiAlltagswissen Wissenschaftlich Imaginative, risch fundierte des Interpreten fiindierte/verfiktive, utoVH als VH mittelte VH pische VH Konstruktion von .Ähnlichkeitsrelationen und Differenzrelationen durch bestimmende und reflektierende Interpretationen Typisierungen und Typenbildungen Konstruktion von Typiken und Typologien Abb. 9: Vergleichende Interpretationen im Forschungsprozeß
Die bestimmende Interpretation stützt sich beim Vergleichen und Verstehen von einzelnen Phänomenen auf bereits vorhandene sprachliche Typisierungen bzw. Begriffe, unter die die in Frage stehenden Phänomene subsumiert werden können. Dagegen geht es der reflektierenden Interpretation um das Verstehen von Einzelnem, das sich der Subsumtion unter geläufige Typisierungen, Typen bzw. Begriffe entzieht. Vergleichende Interpretationen können sich in erster Linie auf die bestimmende Urteilskraft stützen und demzufolge primär mit der Konstruktion von Ähnlichkeitsbeziehungen, Zu- und Unterordnungsrelationen operieren. Vergleichende Interpretationen können jedoch auch an den Gebrauch reflektierender Urteilskraft gebunden sein und demgemäß mit dem Aufweisen von Differenzen operieren, die einen Mangel an Allgemeinbegriffen in der Sprache des Interpreten erkennbar werden lassen. Dieser Mangel verunmöglicht es, das Interpretandum auf angemessene Weise durch die subsumtionslogische Zuordnung zu bereits Bekanntem zu verstehen. Es obliegt der reflektierenden Vernunft, Phänomene so aufzufassen, daß sie einen neuen Begriff nahelegen, also eine Erweiterung des Vokabulars und Horizontes des Interpreten in die Wege leiten.
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II. Interpretation
Der reflektierenden Vernunft geht es also nicht um die Zuordnung von noch Fremdem oder Unverständlichem zu Bekanntem und Vertrautem. Es geht ihr nicht um die Unterordnung von Einzelnem unter verfugbare Allgemeinbegriffe, sondern zunächst um die Identifizierung, Behauptung und Begründung von Differenz, sodann aber auch um die kognitive Bearbeitung der im einzelnen aufgewiesenen Differenzen. Daß Unterschiede bearbeitet werden, bedeutet zweierlei: (1) Durch die detaillierte Ausarbeitung einer Differenzrelation werden die verglichenen, in bestimmten Hinsichten als unterschiedlich beurteilten Erlebnis-, Erfahrungs-, Deutungs-, Orientierungs-, Handlungs- oder Entwicklungsmuster in ihrer jeweils individuellen Eigenart genauer erkennbar. Dies beinhaltet insbesondere die angestrebte Klärung des Interpretandums. Textuell vermittelte Aspekte menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse werden gerade im Vollzug reflektierenden Unterscheidens in ihrer Spezifität begriffen. Diese spezifizierenden Darlegungen können sodann (2) den Ausgangspunkt für innovative, empirisch fundierte Typisierungsprozesse abgeben. Zumindest der Intention nach führt die Bearbeitung von Differenzrelationen also letztlich auch zur Spezifizierung, Revision und Verfeinerung verfügbarer oder zur Entwicklung neuer Allgemeinbegriffe. 13 Zusammengefaßt: „Urteilskraft überhaupt ist", wie Kant (1977, 87) sagt, „das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken." Als solche ist sie „nicht bloß ein Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden" (ebd., 22). Während die bestimmende Urteilskraft über bereits formulierte Begriffe verfugt und „diese Schemata auf jede empirische Synthesis anwendet", geht es der reflektierenden Urteilskraft darum, Begriffe „zu gegebenen empirischen Anschauungen zuallererst" zu finden (ebd., 25). Der „gleichsam bloß mechanischen" Subsumtion des Einzelnen unter einen bereits ausgebildeten Begriff durch die bestimmende Urteilskraft korrespondiert eine konstruktive, schöpferische oder „künstliche" (Kant) reflektierende Bewegung, die das Allgemeine im empirisch gegebenen Einzelnen erst sucht und begrifflich zu artikulieren bemüht ist: „Die Urteilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu reflek-
IJ
Zur damit verbundenen Problematik der „Zerstörung des Individuellen" durch „identifizierendes Denken" vgl. z.B. Adornos (1975) Überlegungen zu einer „negativen Dialektik". Jedes Programm typologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung wird zwangsläufig mit diesem Problem konfrontiert. Typen sind ja Allgemeinbegriffe und als solche Komplizen bestimmender Vernunft und identifizierenden Denkens (vgl. hierzu Straub, 1989, 223ff.). Adorno hob, im Unterschied zu manchen heutigen Apologeten des Nicht-Identischen, im übrigen hervor, daß es ein Denken ohne identifizierende Akte nicht gibt und geben kann. Der Titel „Dialektik" signalisiert dies ja, wie auch immer sich Adornos „negative Dialektik" auf die Schattenseiten des identifizierenden Denkens konzentriert.
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tieren, oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung zu bestimmen, angesehen werden. Im ersten Fall ist sie die reflektierende, im zweiten Fall die bestimmende Urteilskraft. Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt" (ebd.).'4 Der skizzierte Akt der empirisch fundierten Begriffsbildung oder Begriffsrevision, der darin besteht, daß bestimmte Aspekte eines nicht unter allgemeine Schemata subsumierbaren Einzelnen zunächst expliziert und diese Explikate sodann in weiteren reflektierenden Vergleichen mit anderen Phänomenen genauer ausgearbeitet und typisiert werden, kann als Kern der reflektierenden Interpretation bezeichnet werden. Wissenschaftliche Begriffsrevisionen oder Begriffsentwicklungen nehmen ihren Ausgang von Einzelnem, das aus den genannten Gründen eine Differenzierung und Erweiterung des wissenschaftlichen Vokabulars nahelegt. Im Verlauf dieser Erweiterung, Differenzierung oder Neukonstruktion von Typisierungen und Begriffen verliert das Einzelne, das Anlaß zu reflektierenden Interpretationen gab, den Status des Besonderen, das sich dem Zugriff bestimmender Vernunft entzieht. Einst Anlaß und Bezugspunkt reflektierender Interpretationen, ist es durch die Ausarbeitung passender, innovativer Typisierungen und Begriffe selbst zum Exemplar eines Allgemeinen geworden. Nicht zuletzt die Vergegenwärtigung jenes Prozesses, in dem die Resultate reflektierender Erwägungen und Beurteilungen neue operative Möglichkeiten der bestimmenden Vernunft eröffnen, zeigt, daß die interpretative Forschung nicht ohne bestimmende Urteilskraft auskommt. Reflektierende und bestimmende Vernunft sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Festzuhalten ist: Wenn empirische Forschung nicht bloß reproduktiv, sondern innovativ sein und auf die Artikulation von bislang Unbekanntem, zumindest nur unzureichend Benanntem und Begriffenem abzielt, bedarf sie der reflektierenden Urteilskraft. Es liegt auf der Hand, mit Kants Unterscheidung eine Grenze zwi-
14
Daß Kant auch fragwürdige transzendentale Voraussetzungen oder Prinzipien der (bestimmenden und) reflektierenden Urteilskraft erörtert, sei lediglich erwähnt: „Nun lehrt zwar schon der reine Verstand ..., alle Dinge der Natur als in einem transzendentalen System nach Begriffen a priori (den Kategorien) enthalten zu denken; allein die Urteilskraft, die auch zu empirischen Vorstellungen, als solchen, Begriffe sucht (die reflektierende), muß noch überdem zu diesem Behuf annehmen, daß die Natur in ihrer grenzenlosen Mannigfaltigkeit eine solche Einteilung derselben in Gattungen und Arten getroffen habe, die es unserer Urteilskraft möglich macht, in der Vergleichung der Naturformen Einhelligkeit anzutreffen und zu empirischen Begriffen, und dem Zusammenhang derselben untereinander zu gelangen: d.i. die Urteilskraft setzt ein System der Natur auch nach empirischen Gesetzen voraus und dieses a priori, folglich durch ein transzendentales Prinzip" (ebd., 25; vgl. auch die Seiten 24f., 88f.).
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II. Interpretation
sehen zweierlei Forschungstypen zu ziehen: einerseits ist an jene Formen der (quantitativen und qualitativen) empirischen Forschung zu denken, die sich ausschließlich (oder fast nur) der bestimmenden Urteilskraft bedienen. Dies ist dann der Fall, wenn die Forschenden vorab formulierte Hypothesen testen oder empirisches Datenmaterial so auswerten, daß es bereits formulierten Begriffen bzw. den zur Anwendung bereitstehenden Kategorien zugeordnet wird, um schließlich vielleicht quantifizierenden Operationen zugeführt zu werden. Andererseits wäre ein Forschungstypus zu nennen, für den beispielsweise die Konzeption der Grounded Theory stehen mag; Glaser und Strauss (1967; Glaser, 1978; Strauss, 1991; vgl. Kelle, 1994; Straub, 1995) geht es an den entscheidenden Stellen des Forschungsprozesses nämlich gerade um den kreativen Gebrauch des reflektierenden Urteilsvermögens.' s Interpretieren ist Vergleichen im Zeichen bestimmender und reflektierender Urteilskraft. Vergleichen heißt, daß der Interpret das Interpretandum vor dem Hintergrund eines oder mehrerer Vergleichshorizonte bestimmt bzw. über es reflektiert. Vergleichen heißt auch, das Interpretandum in einen Kontext zu stellen. Eine Sache in einen Kontext stellen und dadurch zu erhellen, ist ohne das Durchfuhren von Vergleichen nicht möglich. Unterschiedliche Kontexte schaffen unterschiedliche Sinn- und Bedeutungsgehalte des kontextualisierten Interpretandums. Durch eine Differenzierung des Kontextbegriffs lassen sich die letzten Ausführungen präzisieren. Der Begriff des Kontexts kann in wenigstens viererlei Weisen verstanden werden: (1) Zu exemplarischen Zwecken sei angenommen, das Interpretandum sei ein unverständliches, irritierendes Wort. Dessen Kontext bildet zunächst einmal der Satz, in dem das Wort steht, sodann wird er gebildet durch die weiteren Satzzusammenhänge, schließlich den Text, den wir als jenes einheitliche Ganze identifizieren, zu dem auch das fragliche Wort gehört. In allen diesen Fällen ist ein und derselbe Text bzw. Textteil, in den das Interpretandum als ein Element integriert ist, der Kontext. Interpretieren durch Kontextualisierung heißt hier also, intratextuelle Relationen zwischen dem Interpretandum und anderen Textteilen zu konstruieren. Interpretieren kann dementsprechend - zunächst einmal - als intratextuelle Konstruktion sinnerzeugender Relationen aufgefaßt werden. Mit intratextuellen vergleichenden Interpretationen, die der bedeutungs- und sinnverstehenden Erschließung eines Interpretandums dienen, hat man es beispielsweise zu tun, wenn sich Interpreten einer lebensgeschichtlichen Erzählung auf verschiedene repräsentierte Lebensphasen beziehen, um diese
15
Kelle bezieht sich bei seiner Rekonstruktion des Ansatzes von Glaser und Strauss zu Recht auf das in der Soziologie vor allem in jüngerer Zeit einflußreiche Konzept des abduktiven Schlusses, wie es einst Peirce entwickelte (einen Überblick bietet Reichertz, 1993). Ohne dem hier nachgehen zu können, sei angemerkt, daß der Begriff der reflektierenden Vernunft gewisse Parallelen und Verwandtschaften zum Konzept des abduktiven Schlusses unterhält.
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durch den intratextuellen Vergleich in ihren jeweiligen Besonderheiten wechselseitig zu erhellen. (2) Texte jeder Art können auch so betrachtet werden, daß sie nicht mehr (nur) als hermetisch abgeschlossene Sinn- und Bedeutungseinheiten in den Blick geraten, sondern allenfalls als Einheiten mit durchlässigen Grenzen. Dies meint zunächst: auch ganze Texte haben Kontexte, und diese werden durch andere Texte gebildet. Die Interpretation kann dementsprechend auf andere Texte als denjenigen, zu dem das Interpretandum gehört, zurückgreifen und diese als Kontext ins Spiel bringen. Die Interpretation ist dann als intertextuelle Konstruktion sinnerzeugender Relationen angelegt. Dies ist immer dann der Fall, wenn verschiedene Texte vorliegen bzw. auf verschiedene Texte zurückgegriffen wird, wobei bestimmte Äußerungen aus einem Text (oder auch ein ganzer Text) als bedeutungs- und sinnstiftender Kontext für Äußerungen aus einem anderen Text gelesen werden. (3) Als Kontext von Äußerungen bzw. Texten kommen nicht nur Texte in Frage. Einen möglichen Kontext bildet das praktische Wissen, das der Interpret stillschweigend besitzt und in Anspruch nimmt - vielleicht ohne es auf Anfrage explizieren zu können. Textuell objektiviert sind solche interpretationsrelevanten, extratextuellen Kontexte jedenfalls nicht. (4) Weitere texttranszendierende Konstruktionen sinnerzeugender Relationen nehmen auf spezielle pragmatische Aspekte der Konstitution und Interpretation des Interpretandums Bezug: (4.1) Ein Interpretandum beliebiger Komplexität kann im Rahmen empirischer Forschung dadurch geklärt werden, daß auf den praktischen Kontext des Forschungsprojektes Bezug genommen wird und dieser als ein Rahmen Berücksichtigung findet, der Sinn und Bedeutung der erhobenen Daten mitzubestimmen vermag. Zum praktischen Kontext der Forschung gehören kulturelle, gesellschaftliche, soziale, institutionelle Rahmenbedingungen und schließlich auch Aspekte der Subjektivität der Forschenden (deren Absichten, Motive, Interessen etc.). (4.2) Interpretationsrelevant sind eventuell auch Informationen über die besonderen pragmatischen Umstände speziell der Datenerhebungssituation und über den Verlauf dieser Forschungsphase. Nur manche dieser pragmatischen Aspekte können am Text selbst „festgemacht" werden; andere sind lediglich durch Zusatzinformationen thematisierbar. (4.3) Schließlich bleibt auf die pragmatischen Umstände der Textinterpretation selbst hinzuweisen. Auch diese bilden einen Kontext der Interpretation. Allerdings ist damit insofern eine Grenze der obigen Ausführungen überschritten, als nun der Interpret selbst und sein situiertes Handeln in die Reflexion der Interpretation einbezogen wird. Es ist nun deutlich, inwiefern Interpretationen als semantische Operationen Sinn und Bedeutung erzeugen, indem sie Relationen zwischen Text und Kontext, zwischen Horizont und (kontrastivem) Vergleichshorizont herstellen. Dies kann in der Form intratextueller, intertextueller oder texttranszendierender
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II. Interpretation
Relationierungen geschehen. Die Rede von texttranszendierenden Relationierungen führte insbesondere die Rolle pragmatischer Aspekte für die Textinterpretation vor Augen. Lediglich der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Textinterpretationen sich nicht nur auf der pragmatischen oder semantischen (denotativen und konnotativen) Ebene bewegen können, sondern auch syntaktische, ästhetisch-literarische sowie rhetorisch-kognitive Strukturmerkmale und Formelemente des Textes zum Ansatzpunkt der (psychologischen) Erfahrungsund Erkenntnisbildung machen können (vgl. z.B. Kochinka, 1998; Kokemohr, 1985; 1988; 1990; Koller, 1993; Straub, 1996a; Straub & Sichler, 1989; Straub & Seitz, 1998). Auch solche Perspektiven sind ohne weiteres in den Rahmen des vorgestellten, allgemeinen Modells der bestimmenden und vergleichenden Interpretation integrierbar. Die Frage, was Interpreten tun, wenn sie ihrem Geschäft nachgehen, ist am Ende dieses Abschnitts zumindest in ihrem Kern geklärt. Eine detailliertere Antwort auf diese Frage hat jedoch auch speziellere theoretische Voraussetzungen zu berücksichtigen, unter denen Textinterpreten jeweils antreten. Ohne den Anspruch, solche möglichen Prämissen erschöpfend zu behandeln, werde ich drei für die interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie wichtige, fundamentale theoretische Optionen diskutieren, die jeweils ganz unterschiedliche Perspektiven und Spielräume der Interpretation eröffnen und begrenzen.
2. Sprache, Text, Interpretation 2.1 Erste Bestimmungen und Unterscheidungen „Seien wir Realisten: Es gibt nichts Sinnvolleres als einen Text, der über seine Loslösung vom Sinn spricht." (Umberto Eco)
Sprach- und texttheoretische Positionen lassen das Verständnis und die Praxis handlungs- und kulturpsychologischer Interpretationen nicht unberührt. In welcher Weise Texte als sinn- und bedeutungsstrukturierte Gebilde gelten und wie sie methodisch analysiert werden sollen, wird durch solche Positionen festgelegt. Die Handlungs- und Kulturpsychologie braucht sich nicht auf eine einzige Auffassung, worauf es bei der interpretativen Analyse von Texten ankommt, zu verpflichten. Sie kann mit guten Gründen durchaus Verschiedenes tun, wenn sie ihre Erfahrungen und Erkenntnisse bildet. Die im folgenden diskutierten Optionen und Ansätze schließen einander weder logisch noch praktisch strikt aus. Sie lassen sich alle in das oben vorgestellte Modell allgemeiner interpretativer Basisoperationen integrieren. Sie bestimmen jedoch genauer, als es bislang angegeben werden konnte, was der Interpret im einzelnen tut und worauf sein Handeln abzielt und hinausläuft, wenn
2. Sprache, Text, Interpretation
227
er Texte formulierend und vergleichend interpretiert. Sprach- und Texttheorien enthalten Annahmen darüber, in welcher Weise die Sinn- und Bedeutungsgehalte eines Textes konstituiert sind oder gebildet werden und wie sie adäquat zu entschlüsseln sind. Für die Interpretation von Texten bieten sich drei fundamentale Ansatzpunkte an. Dementsprechend lassen sich - in verschiedenen Sprach- und Textwissenschaften - drei Gruppen systematisch elaborierter Interpretationstheorien ausmachen, wobei manche Theorien nicht eindeutig einer einzigen dieser Gruppen zugeordnet werden können. Wenn man gewillt ist, den Intentionsbegriff metaphorisch zu gebrauchen, können Interpretationstheorien in einer dreigliedrigen Intentionstypologie verortet werden. Typologisch lassen sich die intentio auctoris, die intentio operis und die intentio lectoris unterscheiden (Eco, 1992,
35ff.). Diese Trilogie, die den Autor, den Text selbst oder den Leser als (primär) konstitutiv für textuell vermittelte Sinn- und Bedeutungsstrukturen ausweist, hat den Rang einer klassischen Differenzierung. In der Text- bzw. Literaturtheorie stand zeitweise die eine, sodann die andere Sichtweise im Vordergrund. Beispielsweise dominierte in der Romantik und im gesamten 19. Jahrhundert die Konzentration auf den Autor als sinn- und bedeutungsschaffende Instanz. Der Psychologismus und die Subjektorientierung verschiedener Interpretationslehren - wie sie noch heute in der Psychologie gängig sind - wurden dann etwa in der philosophischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts einer radikalen Kritik unterzogen. Anstelle des Autors rückten das in einem geschichtlichen Überlieferungszusammenhang stehende Werk und die in ihm artikulierten Geltungsansprüche ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Text selbst stand auch in der Ära des Strukturalismus klar im Mittelpunkt, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen als in der philosophischen Hermeneutik. Vor allem in jüngerer Zeit erhielt das Lesen bzw. der Leser die Rolle eines entscheidenden Mitarbeiters bei der Konstitution des Textes und seiner im Lesevorgang entstehenden Sinn- und Bedeutungsgehalte. In sehr unterschiedlicher Art und Weise heben dies etwa wirkungsgeschichtliche und rezeptionsästhetische Ansätze, manche semiotischen Konzeptionen oder auch verschiedene Varianten poststrukturalistischer oder dekonstruktivistischer Text- und Literaturtheorien hervor; auch in der psychoanalytischen Sozialforschung und Kulturanalyse, auf die ich ausführlich eingehen werde, spielt der Textrezipient eine entscheidende Rolle bei der interpretativen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Heutzutage sind in den theoretischen Debatten alle drei Intentionstypen präsent. Manchmal fungieren sie sogar als komplementäre Sichten innerhalb eines theoretisch integrativen Rahmens. Solchen Integrationsbemühungen sind allerdings Grenzen gesetzt. In der vorliegenden Arbeit wird insbesondere gegenüber jenen dekonstruktivistischen Text- und Literaturtheorien, die keinerlei Grenzen der Interpretation akzeptieren mögen, ein Vorbehalt geltend gemacht. Von einer vermeintlich uferlosen „Abdrift des Sinnes" wird hier nicht die Rede sein. Ich stimme diesbezüglich Ecos (1992) Ausführungen zu diesem Thema zu. Eco verteidigt die Grenzen, die jeder ernstzunehmenden Interpretation gesetzt sind. Damit bezieht er Stellung gegen eine Text- und Interpretationstheorie, in der alles auf die subversiven Praktiken einer Dekonstruktion gesetzt wird, die
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II. Interpretation
die „Initiative des Adressaten" und die „irreduzible Ambiguität des Textes" zum allein selig machenden A und O der Interpretation erklärt.
2.2. Zur Kritik radikal dekonstruktivistischer Ansätze Unter der Position des Dekonstruktivismus verstehe ich mit Eco nicht eine kritische Theorie, schon gar keine kohärente, sondern eher ein „Archipel verschiedener Einstellungen und Methoden" (Eco, 1992, 39). Ähnlich sieht dies ein Autor, dessen Arbeiten (teilweise) als Musterbeispiele der im folgenden kritisierten Strömung des Dekonstruktivismus gelten können: Culler (1988) präsentiert die Dekonstruktion als philosophische Position, als politische oder intellektuelle Strategie oder als einen bestimmten Modus der Lektüre. Dekonstruktivistische Sprach-, Text- und Literaturtheorien wurden im Umfeld postmoderner, post- bzw. neostrukturalistischer Bewegungen ausgearbeitet. Als initiale Texte gelten gemeinhin Schriften Derridas. Der hier interessierende Dekonstruktivismus greift einige Denkmotive und Denkfiguren Derridas auf, wandelt diese jedoch mehr oder minder ab oder führt sie weiter (bisweilen in eine vom Ausgangspunkt abliegende Richtung; womit klar ist, daß es mir nicht um Derridas Philosophie geht, nicht einmal um den sprachphilosophischen und texttheoretischen Ausschnitt). Die dekonstruktivistische Strömung entfaltete sich vor allem in einigen nordamerikanischen departments of literary criticism. Während in den literaturwissenschaftlichen Instituten die Mode des Dekonstruktivismus mittlerweile verblaßt ist und die dekonstruktivistische Emphase abgenommen hat, findet dieses Denken in der Psychologie, aber auch in der Geschichtswissenschaft und anderen Sozial- und Kulturwissenschaften, erst seit kürzerer Zeit Aufnahme. Diese für die interdisziplinäre Kommunikation charakteristische Zeitverschiebung bringt auch in diesem Fall erhebliche Bedeutungsverschiebungen mit sich. So haben die mittlerweile vorliegenden Konzeptionen einer dekonstruktivistischen Psychologie häufig nur noch wenig mit jenen dekonstruktivistischen Sprach-, Text- und Interpretationstheorien gemeinsam, die hier von Belang sind.16 Im folgenden interessiert dekonstruktivistisches Gedankengut allein im Hinblick auf seine sprach-, text- und interpretationstheoretischen Implikationen. Es geht mir nicht darum, einzelnen Varianten gerecht zu werden, sondern be-
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Demzufolge treffen die vorgetragenen Argumente den psychologischen Dekonstruktivismus nicht oder nicht unbedingt. In der Psychologie geht es unter dem Titel der Dekonstruktion häufig gar nicht um text- und interpretationstheoretische Ansätze und entsprechende Analysemethoden, sondern vor allem um die Dekonstruktion der soziokulturellen Konstitution psychologischer Konstrukte. Derartige Unternehmen richten sich in erster Linie gegen die naive Naturalisierung psychologischer „Tatsachen". Ein einigendes Band im schillernden Feld des Dekonstruktivismus signalisiert der Anspruch, dekonstruktivistisches Denken sei letztlich eine Form der Machtkritik. Beispiele bieten die Publikationen von Joy (1993), Hegener (1993), Morss (1992), Sampson (1989), Shotter und Gergen (1989), Walkerdine (1993).
2. Sprache, Text, Interpretation
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stimmte Grundzüge eines Denkens vorzustellen, von dem sich alle anschließend besprochenen Ansätze klar unterscheiden. In radikaler Abwendung von jedem theoretischen Modell, das Sinn und Bedeutung eines Textes auf etwas zurückfuhren will - auf die Intention des Autors, den intendierten Referenten usw. -, propagieren Dekonstruktivisten eine unendliche Zerstreuung des Sinns und der Interpretation. In diesen Ansätzen lebt, wie Eco darlegt, das Erbe Hermes' fort. Hermes gehörte ebenso zur Welt der Griechen wie sein „Gegenspieler", das logozentrische Rationalismus-Modell. In der Regel wird zuerst und häufig ausschließlich an dieses Modell gedacht, wenn vom Ursprung und der Tradition des abendländischen Denkens die Rede ist (Eco, 1992, 59ff.). Damit hat man jedoch, so Eco, allenfalls die halbe Wahrheit auf seiner Seite (speziell zur zeitgenössischen Präsenz der hermetischen Tradition siehe ebd., 73ff.). Neben den Konzepten der Identität, des Nichtwiderspruchs und dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten, neben der logischen Stringenz des modus ponens gibt es in den Anfangsgründen des abendländischen Rationalismus auch „die Vorstellung von der ständigen Metamorphose, deren Sinnbild Hermes ist. Hermes ist unbeständig, vieldeutig, Vater aller Künste, aber auch Gott der Diebe, iuvenis et senex zugleich" (ebd., 61). Im Hermes-Mythos wird verneint und ausgehöhlt, was die logozentrische Selbst- und Weltsicht zusammenhält. Kausale, räumliche und temporale Ordnungen und Grenzen, wie sie der logos kennt und achtet, werden ignoriert, abgelehnt, verrückt und aufgehoben zugunsten spielerischer Zerstreuung und Vielfalt. Die Zugehörigkeit des zeitgenössischen Dekonstruktivismus zur hermetischen Tradition ist offenkundig. Interpretation und Sinnproduktion als dekonstruktive Aktivität sind „hermetische" Semiosen.' 7 Sie bewegen sich in einem unbegrenzten Raum, in dem für den Gedanken des Originals, des Authentischen, des Identischen, des Definitiven kein Platz ist. In dekonstruktivistischer Sicht gibt es nichts mehr zu finden, was vor der Dekonstruktion als instantierter Sinn schon existierte, und es gibt nichts abzuschließen, wo doch die dekonstruktive Aktivität immer nur eröffnet und unterscheidet: neue Lesarten ohne Unterlaß, Lesarten von Texten, die sich als Einheiten nicht fassen lassen. Die Autorität, die mit jedem Akt der Autorisierung einer Lesart verknüpft ist, weicht dem anarchisch-diffusen Fluß gleichberechtigter Sinnproduktion. Der Autor bzw. Interpret ist dabei nicht mehr Ort und Kontrollinstanz dieser Produktionen, sondern allenfalls Medium, Durchgangsstadium für die eigentlich schöpferischen, anonymen Prozesse eines nicht intentional kontrollierbaren, nach keiner Seite limitierten Sprachgeschehens. Wer sich als Leser von Texten in dieses Geschehen einklinkt, dem öffnet sich der Blick auf eine unbegrenzte Vielfalt von Einzelheiten und Zusammenhängen.
17
Unter Semiose kann man allgemein mit Peirce verstehen „an action or influence, which is, or involves, a cooperation of three subjects, such as sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into actions between pairs" (Peirce, 1960, 332 [5.484]). Semiosen bilden den Gegenstand der Semiotik.
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II. Interpretation
Eco spricht polemisch von einer Mystik der grenzenlosen Interpretation und fuhrt - in einer Art Karikatur, die, wie alle guten Karikaturen, den Kern der Sache trifft, obwohl sie mit ihren Stilisierungen übertreibt - als weitere Kennzeichen dieser mystischen Konzeption noch folgende Annahmen an (ebd., 74ff.): ein Leser, der der erwähnten Konzeption anhängt, geht von der unendlichen Offenheit von Texten aus, in denen es „unendlich viele Zusammenhänge" zu entdecken gebe; er lehnt jede Sprachauffassung ab, die es nahelegt, es sei in Texten nur „eine einzige und bereits existierende Bedeutung" zu erfassen, nämlich die vom Autor intendierte; ebenfalls glaubt er nicht, daß letztlich jede Interpretation auf Vermittlung des Gegensätzlichen abzuzielen hätte; demgegenüber beharrt er auf Differenz; er versucht der Auffassung Geltung zu verschaffen, die Sprache spiegle die Unangemessenheit und Unzulänglichkeit des Denkens; gegen die logozentrische Auslegung des In-der-Welt-Seins setzt er die Unmöglichkeit, im Denken eine transzendentale Bedeutung identifizieren zu können; er sieht schon den leisesten Anspruch auf Eindeutigkeit einer Äußerung als Symptom des Stillstands und der Starre, wie sie für bestimmendes und identifizierendes Denken charakteristisch seien; nichts sei, was es im Lichte einer definitiven Bestimmung zu sein vorgebe; jedes Wort und jeder Satz seien nur Teile eines unbegrenzten Verweisungszusammenhangs, Elemente einer wuchernden Signifikantenkette, in der alles Bestimmte sich auflöse, nichts dasselbe sei und bleibe; alles Ansinnen einer festen Bedeutung hält der radikal dekonstruktivistische Leser für einen Abfall von der erlösenden Einsicht, daß „Sein Abdrift (von Bedeutungen) ist" (so Eco mit Derrida); für diesen „pneumatischen Leser" destruieren Texte Bedeutung, anstatt sie als etwas Festes festzuschreiben; wer dies wisse, so heißt es, ließe sich vom Text nichts mehr vorschreiben und vormachen, sondern bringe sich selbst, eben die intentio lectoris als einzig produktive Instanz ins Spiel; dies geschieht dann derart, daß nun grenzenlos Interpretationen produziert werden können, immer im Bewußtsein, daß der Text nicht so sehr etwas sage oder aussage, sondern eher schon etwas verschweige, geheim halte; auf dieses Verborgene spielt der Text freilich unentwegt an; Interpretieren wird damit zu einem assoziativen Mitspielen in einem Geflecht unendlicher, mehr oder minder subtiler Anspielungen; Verständnis ist nach dieser Ansicht eine Illusion, da, wo ja nichts (definitiv) feststeht und festgestellt werden kann, auch nichts (abschließend) zu verstehen ist; jedes vermeintliche Verständnis erscheint dem pneumatischen Leser als eine Art Gewaltakt, als ein trügerischer Abbruch von etwas Unabschließbarem, als Unterbrechung der Signifikantenkette, die der Interpret gerade fortzusetzen hätte, um den Text alles und nicht bloß eines sagen zu lassen; dieses „alles" ist schließlich eine Art mystische „Leere", die sich, wie Eco seine Polemik zu Ende bringt, als „wahre Bedeutung eines Textes" erweist. Und natürlich ist für einen derartigen Leser die Semiotik und gewiß nicht nur diese, sondern mehr noch die Hermeneutik, „eine Verschwörung deijenigen, die uns glauben machen wollen, die Sprache diene der Kommunikation des Denkens" (ebd., 75). Zu beachten ist, daß Eco diese Ansichten nicht alle kurzerhand ablehnt. Im Gegenteil erkennt er den einen oder anderen Aspekt ausdrücklich als wichtigen Gesichtspunkt einer Theorie und Methodologie der Interpretation an. (Auch
2. Sprache, Text, Interpretation
231
in der vorliegenden Arbeit wird mancher der soeben karikierten Gedanken aufgegriffen und weitergeführt.) Nur: alle genannten Merkmale zusammengenommen hat man es mit einer obsessiven und mystischen Überhöhung eines vermeintlich unendlichen Textes und einer ins Grenzenlose diffundierenden Interpretation zu tun. Eco macht nicht davor halt, all denen, die es allzu bunt treiben und den Text, wo sie ihn doch interpretieren wollen, kaum mehr beachten, ein Argwohns-Syndrom zuzuschreiben (ebd., 119ff.). Er hält es gar für eine paranoische Aufgeregtheit, in jedem Wort unendlich viele Sinne und Bedeutungen zu wittern und dabei nach der Devise vorzugehen: je abwegiger, desto besser. Natürlich kann, wenn nur abstrakt genug angesetzt wird, zwischen allem und jedem irgendeine Ähnlichkeit oder irgendein Zusammenhang ausfindig gemacht werden. Während Interpretationen, die ihren Namen verdienen, jedoch sehen, daß gewisse Zusammenhänge minimal sind (und deshalb nicht unnötig auf ihnen herumgeritten werden sollte), werden „paranoische" Interpretationen gerade in solchen Fällen ausladend: warum benutzt der Autor gerade diese beiden Wörter und nicht jene anderen zwei, welche ihm doch auch zur Verfugung standen? Eco wittert eine kontraproduktive Wunder-Sucht (ebd., 120ff.), wenn jede Kleinigkeit als Indiz verborgener Sinn- und Bedeutungsgehalte gelesen wird. Er verspottet alle, denen es vor allem darum geht, Erstaunen über Abwegiges hervorzulocken und dazu alle Register einer hermeneutischen Akrobatik zu ziehen, streng nach dem Motto: warum unauffällig, wenn es auch spektakulär geht! Vom Augenfälligen mutwillig abdriflende Interpretationen hält Eco häufig genug für Irrwege der Adepten des Schleiers, die, illuster und subtil oder grob und bizarr, aus Texten herauslesen, was beim besten Willen nicht „drinsteht" (ebd., 123ff.). Was Eco exemplarisch an mißratenen Interpretationen der Schriften Dantes vorführt, läßt sich verallgemeinem. Ein lupenreines Beispiel für hermetische Semiosen par excellence bespricht Eco auch in seiner herben Kritik an Guénon. Auch diese Kritik läßt sich auf verwandte Fälle übertragen, egal, in welcher Disziplin man sich bewegt. Eco attackiert Guénon, der, so der Kritiker, vor unseren Augen Sinn versprühe wie ein Pyrotechniker Funken - allerdings weniger kunstgerecht, bleibe am Ende dieser „hermetischen Disco-Musik" doch nichts weiter als ein „leeres Geheimnis" (ebd., 135). Derartig obsessive Interpretationen, die aus einigermaßen beliebig konstruierten Verweisen im Signifikantennetz vermeintlich aufschlußreiche Einsichten in ungeahnte „Zusammenhänge" hervorzaubern wollen, finden sich heute in allen interpretativen Wissenschaften. Dabei geraten Interpretationen zu bloßen Assoziationen, denen ungehemmt freier Lauf gelassen wird. Assoziiert werden kann, wie Eco treffend diagnostiziert, auf Grund phonetischer Ähnlichkeit, (angeblicher) etymologischer Zusammenhänge, auf Grund von Bedeutungsähnlichkeiten, wie „in einer Art Stafettenlauf von Synonymien, Homonymien und Polysemien, in einem beständigen Entgleiten des Sinnes, bei dem jede neue Assoziation das fallenläßt, was sie provozierte, um zu neuen Ufern zu streben, und bei dem das Denken ständig die Brücken hinter sich abbricht" (ebd., 135). Die in hermetischen Semiosen formulierten Assoziationen begnügen sich im übrigen keineswegs damit, Einfalle zu dem im Text
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II. Interpretation
Präsentierten zum besten zu geben. Sie bringen als Ausgangspunkt ihrer „interpretativen" Höhenflüge durchaus auch absente Worte ins Spiel. Eco hat schon recht damit, daß dies nicht in allen Ohren Musik ergibt und, wo solche Kakophonien des Denkens doch auch als Musik wahrgenommen werden, nicht schon alle Hörerinnen und Hörer zu dieser Musik - wie die Apologeten es sich wünschen - „tanzen" wollen. 18 Eco verteidigt den wörtlichen Sinn gegen seine zeitgenössischen Verächter, insbesondere jene, die die Grundlagen wörtlichen Sinns in ein ufer- oder grenzenloses Feld beliebiger Lesarten „zerstreuen" möchten. Wer den wörtlichen Sinn preisgibt, verunmöglicht Kommunikation. Wer Texte für Interpretationen offenhalten will, muß, so Eco, zunächst schützen, was sie sagen, sobald sie wörtlich genommen werden. Dieses Prinzip sei unentbehrlich, wenngleich es „wenn nicht konservativ, so doch zumindest banal klingen mag" (ebd., 42). Die obigen Ausführungen zur formulierenden Interpretation trugen ganz offenkundig diesem banalen Prinzip Rechnung. Es stimmt schon, daß man, als der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan in einer berüchtigten Mikrophonprobe sagte, er werde in wenigen Minuten „den Befehl zur Bombardierung Rußlands geben", diese Äußerung zunächst einmal in ihrem wörtlichen Sinn verstanden haben muß, um sie sodann - der intentio auctoris entsprechend - als einen „Scherz" interpretieren zu können oder aber, wie es manche psychoanalytische Rezipienten getan haben, als einen aggressiven sprachsymbolischen Akt, der, sobald man dessen Beziehung zum (kollektiven) Unbewußten untersuche, durchaus Anlaß zur Sorge biete. Interpretationen, die offenkundig jeden Bezug zum wörtlichen Sinn eines Textes aufgeben, ja, diesen Bezug durch das Ausagieren subjektiver Willkür vehement verweigern, verdienen ihren Namen nicht. Radikal gegen jeden methodischen Anspruch gerichtet, werden sie zu intersubjektiv nicht mehr nachvollziehbaren, wuchernden Deutungen, die den Ausgangstext, das Interpretandum, aus dem Auge verloren haben. Damit wird das Interpretandum zum bloßen Stimulus von Wortkaskaden des Rezipienten herabgewürdigt. Ein derartiger Rezipient interpretiert nicht mehr einen Text, sondern er benutzt ihn zum Zweck einer wilden Autostimulation und Selbstexpression. Ecos (1990, 226ff.) Unterscheidung zwischen dem Benutzen, Gebrauchen oder Verwenden eines Textes einerseits, dem Interpretieren andererseits, markiert eine anzuerkennende Grenze. Dabei sollte man sich durchaus darüber im klaren sein, daß diese Unterscheidung eine akzentuierende Funktion besitzt, also keine völlig trennschar-
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In die angezeigte Richtung gehen, um wenigstens ein Beispiel aus der Psychologie anzuführen, zahlreiche der wuchernden Deutungen Schödlbauers (1992; Überinterpretationen finden sich insbesondere im zweiten Teil). Wenn ich Schödlbauers Arbeit als ein Musterbeispiel für obsessives Interpretieren anführe, stelle ich keineswegs den Ertrag dieser Arbeit pauschal in Abrede. Hervorgehoben sei zudem, daß der Autor das Spiel auf der vor allem von Jacques Lacan bereitgestellten Klaviatur beherrscht. Schödlbauers Ausfuhrungen sind also innerhalb des von ihm gewählten Denkrahmens zweifellos ganz anders zu beurteilen als aus der hier eingenommenen Perspektive.
2. Sprache, Text, Interpretation
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fe Scheidelinie markiert: In der Praxis gibt es kein Interpretieren ohne Verwenden, keine Suche nach der intentio operis oder intentio auctoris, die von der intentio lectoris vollständig losgelöst ist. Während die maßvolle rezeptionstheoretische Analyse der Interpretation den aktiven Anteil des Rezipienten bei der Lektüre und Analyse von Texten bewußt machen möchte und reflexiv einzuholen versucht - wodurch sich die methodische Kontrolle von Textanalysen beträchtlich erhöhen läßt -, schütten diejenigen Propagandisten radikal dekonstruktivistischer Ansätze, die Texte nur noch für „eigene" Zwecke dienstbar machen wollen, das Kind mit dem Bade aus. Sie verabschieden sich im Zeichen ihrer verabsolutierten Lust am Text vom Ziel der hier interessierenden wissenschaftlichen Bemühungen, wenn sie letztlich nicht mehr einen Text analysieren, sondern bloß noch die kreative Phantasie des eigenen Selbst inszenieren. Wo immer durch das bedenkenlose Benutzen von Texten gezeigt werden soll, daß in der Sprache prinzipiell unbegrenzte „Möglichkeiten zu unbeschränkter Semiose und Abdrift" stecken (Eco, 1992, 54), kann mit Eco polemisch von einer prätextuellen Lektüre gesprochen werden. Dies mag zu manchen Zwecken freilich eine fruchtbare Übung sein." Textinterpretationen aber findet man selten, sobald sich Interpreten gänzlich der Abdrift der Sprache und des Sinns (bzw. ihrer eigenen Phantasie und Imagination) hingeben. Zu Recht hält Eco auch Rortys „starken Pragmatiker" eigentlich für gar keinen Pragmatiker mehr, sondern für einen Anhänger des pensiero debole, der, sobald er Texte in die Finger bekommt, diese ganz nach eigenem gusto und Gutdünken gebraucht, indem er sich den vermeintlichen Mechanismen der „Signifikationsketten" ausliefert: „Jedenfalls aber ist der starke Pragmatiker ... kein Textualist, denn er scheint sich bei seiner Lektüre für alles mehr zu interessieren als für die Beschaffenheit des von ihm gelesenen Textes" (ebd., 46).20 Wie Eco fordert, muß eine methodisch anspruchsvolle Interpretation mit jeder beliebigen Stelle eines Textes verträglich sein. Darauf beharren auch neuere Text- und Interpretationstheorien in den empirischen Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften, wenn sie sequentielle Analysen just an diesen Anspruch koppeln. Eco spricht diesbezüglich von einer Art Falsifizierungsprinzip. Der Text ist dabei das Objekt und zugleich der Parameter für die Beurteilung von Interpretationen: schlechte, unzutreffende Interpretationen können und müssen zurückgewiesen oder delegitimiert werden (ebd., 51).21
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Nicht nur in diesem Zusammenhang verteidigt Eco Derridas Dekonstruktivismus gegen den „Denidismus" (ohne damit Derridas Eingemeindung von Peirce in den Kreis der Theoretiker der „Abdrift" und der Dekonstruktion sowie andere Einzelheiten in Derridas Philosophie gutzuheißen).
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Rorty greift seinerseits Ecos Unterscheidung zwischen intentio operis und intentio lectoris an. Dies wäre meines Erachtens nur dann gerechtfertigt, wenn diese Unterscheidung als eine absolut trennscharfe, logische Disjunktion begriffen würde - und nicht, wie erwähnt, als akzentuierende Unterscheidung. Seine Position skizziert Rorty (1993) in aller Kürze.
21
Was diese Möglichkeit einer Kritik von Interpretationen angeht, die am Text selbst Maß
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II. Interpretation
Wer dekonstruktivistische Ansätze kritisiert, kann selbst weit davon entfernt sein, Sinn und Bedeutung eines Textes auf eine univoke Botschaft reduzieren zu wollen. Mir liegt selbstverständlich nichts an solchen Reduktionen. Ebensowenig geht es um eine pauschale Zurückweisung leserorientierter Textund Interpretationstheorien - ganz im Gegenteil. Auch gegen eine „Hermeneutik des Verdachts" (Ricoeur) ist im Prinzip nichts einzuwenden. Den Verdacht, daß Äußerungen - Zeichen allgemein - etwas anderes bedeuten, als ihr manifester Sinngehalt besagt, kann man mit Eco unter drei Bedingungen in Erwägung ziehen: das Indiz für den Verdacht kann nicht auf ökonomischere Weise erklärt werden; es kann auf einen Bestimmungsgrund, nicht auf unbestimmt viele zurückgeführt werden; es kann schließlich mit anderen Indizien ein System bilden, so daß sich ein Verdacht erhärten und schließlich als triftig erweisen läßt. Gegen die Vielfalt von Sinn und Bedeutung und Interpretationen, die die Ebene wörtlicher, offenkundiger Botschaften (des Autors) verlassen, ist nichts einzuwenden. Wer aus der Einsicht in die Polyvalenz von Texten und in die Möglichkeit mehrerer Interpretationsvorschläge jedoch schlußfolgern wollte, es gebe unendlich viele gleichwertige (und das heißt ja: gar keine treffenden) Interpretationen, driftet in ein Abseits ab, in dem obsessive Textlektüren allenfalls noch die Verschwendung hermeneutischer Energien mit sich bringen. Zu sagen, jede Interpretation sei gleich möglich und gleich viel wert, läuft auf dasselbe hinaus wie die Behauptung, jede Interpretation sei eine Fehlinterpretation (ebd., 52f.). Das Interpretieren eines Textes ist und bleibt eine Aktivität, die auf einen Text gerichtet ist, der auch dann noch von etwas einigermaßen Bestimmtem oder Bestimmbarem spricht, wenn er theoretisch von rigiden und dogmatischen Bindungen an seinen Produzenten, an intendierte Referenten und an pragmatisch-situative Umstände seiner Hervorbringung befreit ist. Es ist gewiß richtig, daß man, um eine Äußerung oder einen Text zu verstehen, via interpretatione eine Vielzahl von Signifikanten und Referenten ausprobieren kann. Auch ist kaum zu bestreiten, daß sich häufig nicht die eine und einzig wahre Interpretation oder auch nur die triftigste unter mehreren konkurrierenden ausmachen läßt. Dem Interpretieren sind jedoch Grenzen gesetzt, und dies macht Eco mehrfach daran fest, daß es, obschon es oft nicht um die wahre oder beste Interpretation gehen kann und soll, zumindest möglich ist, völlig absurde Interpretationen als solche zu identifizieren und auszuschließen. Es wäre - um ein Beispiel des Semiotikers zu variieren - eben gar keine Interpretation des vorliegenden Textes mehr, sondern allenfalls Vergeudung von Worten, wenn jemand behauptete, in der vorliegenden Arbeit hätte ich vor allem sagen wollen, „der Untergang der Deutschen Demokratischen Republik sei bedauerlich" oder „die Psychologie als
nimmt, muß natürlich eine „Sprache der Kritik" vorausgesetzt werden können. Diese ist, so reformuliert Eco am zuletzt angegebenen Ort Peirces Prinzip der Interpretanz und der unbegrenzten Semiose, keine der „normalen" Sprache übergeordnete Metasprache. Vielmehr genügt es, daß ein Teil einer „Sprache als Interprétant fur einen anderen Teil derselben Sprache" verwendet werden kann.
2. Sprache, Text, Interpretation
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Wissenschaft müsse als eine Teildisziplin der Medizin aufgefaßt werden": davon war nicht einmal am Rande die Rede, und verborgen wurden derartige Ansichten auch nicht. Sie befinden sich eindeutig außerhalb der Grenzen, innerhalb derer Interpretationen dieses Textes notwendigerweise angesiedelt sind. Leser übernehmen konstitutive Funktionen, wo immer es um Sinn und Bedeutung geht. Sie bestimmen dabei aber weder als Subjekte noch als Statisten im Spiel anonymer Signifikantenketten einfach alles. Völlig vom Interpretandum ablösen lassen sich Interpretationen nicht, wenn sie nicht als bloße Impulse verstanden werden wollen, denen ein Subjekt eben nachgibt, nachdem es einem textuellen Stimulus ausgeliefert war. Es sind zumindest negative Kriterien verfugbar, die es erlauben, haltbare Interpretationen von abwegigen zu unterscheiden. Im Extremfall kann bestimmten Äußerungen der Status einer Textinterpretation überhaupt abgesprochen werden - und zwar in einer allgemein konsensfähigen Weise. Der Raum möglichen Interpretierens ist negativ limitiert, ohne daß damit die Spielräume des Interpretierens, die freilich auch Freiräume des interpretierenden Subjektes sind, klar abgezirkelt wären. Spielräume und die in Grenzen gegebene Freiheit der Interpretation sind jedoch kein Freibrief für den von Eco kritisierten magischen Idealismus, als hinge es ganz von der Willkür des Interpreten ab, beispielsweise ein „Tier" entweder als einen „Hund" oder als ein „Pferd" zu identifizieren (ebd., 21). Eco macht in einem Rückblick auf seine eigenen Arbeiten darauf aufmerksam, daß mit seinen neueren Schriften die Position aus den Tagen des „offenen Kunstwerks" (Eco, 1972) keineswegs vollständig revidiert werde, etwa in dem Sinne, daß er von einer Option für radikal offene Interpretationen von Kunstwerken zu einer nunmehr „konservativen" Option für die Beachtung von Grenzen des Sinnes und der Interpretation von ästhetischen Objekten und Texten gelangt sei. Ohne Änderungen seines theoretischen Denkens in Abrede zu stellen, macht der Autor ganz im Gegenteil klar, daß er schon damals bemüht war, „eine Art von Oszillation oder instabilem Gleichgewicht zwischen Initiative des Interpreten und Werktreue zu definieren. Im Lauf dieser dreißig Jahre haben manche sich zu sehr auf die Seite der Initiative des Interpreten geschlagen. Es geht jetzt nicht darum, einen Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung zu vollführen, sondern noch einmal die Unausweichlichkeit der Oszillation zu betonen. Zu sagen, daß ein Text potentiell unendlich sei, bedeutet nicht, daß jeder Interpretationsakt gerechtfertigt ist. Selbst der radikalste Dekonstruktivist akzeptiert die Vorstellung, daß es Interpretationen gibt, die völlig unannehmbar sind. Das bedeutet, daß der interpretierte Text seinen Interpreten Zwänge auferlegt. Die Grenzen der Interpretation fallen zusammen mit den Rechten des Textes (was nicht heißen soll, sie fielen zusammen mit den Rechten des Autors)" (Eco, 1992, 22). Es ist offenkundig, daß Dekonstruktivisten in einen performativen Widerspruch zu ihren eigenen Theorien geraten, wenn sie was Eco erörtert - im Alltag beispielsweise Briefe schreiben und erwarten, daß die Adressaten gewisse Grenzen der Interpretation, die die Theorie des Dekonstruktivismus ansonsten gerne leugnet, erkennen und anerkennen (also den Inhalt des Briefes nicht willkürlich von seinem wörtlichen Sinn abrücken).
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II. Interpretation
Anzumerken bleibt, daß sich nicht zuletzt um Ecos Schrift über das offene Kunstwerk einige Mißverständnisse ranken, die bisweilen mit höchst eigentümlichen Moralisierungen ästhetischer Prinzipien und Formen zu tun haben: „offen = frei = tolerant = gut", „geschlossen = begrenzt = gewaltsam = böse", so etwa lauten die allzu simplen Gleichungen, die unter anderem ignorieren, daß das offene Kunstwerk seinen Rezipienten nicht nur Freiheiten läßt, sondern ihnen diese geradezu aufzwingt: Offene Kunstwerke erwarten gleichsam eine Mitarbeit, die sich nicht auf den bloßen Nachvollzug eines im Werk instantierten und eindeutigen Sinnes beschränkt, sondern sich auf ein „freieres" Spiel der Interpretation einläßt. Eco zeigt, um gewisse naive Lesarten literaturtheoretischer Texte zu entlarven, daß offene Kunstwerke bestimmte Beziehungen, in die Rezipienten geraten können, autoritär setzen und diktieren. Es gibt eben Textstrategien, die den Leser zu einer „unendlichen Befragung" des Werkes verführen sollen (ebd., 33). Bei alledem werden Grenzen der Interpretation nicht völlig destruiert. Obwohl man während der unbegrenzten Semiose unterschiedliche Richtungen einschlagen kann, gibt es Regeln, die festlegen, wie Interpretationen sinnvoll begonnen und fortgeführt werden können und was sinnvolle Verbindungen von Elementen zu einem Zusammenhang sind. Solche Regeln sind Produkte einer geschichtlichen und soziokulturellen Praxis. Es ist das kulturelle und soziale Erbe, das den Rahmen möglicher Interpretationen absteckt. Dabei ist unbestritten, daß solche Legitimationen auf Machtverhältnisse verweisen, und daß sich der Rahmen legitimer Interpretationen im Lauf der Geschichte verschieben kann und sich tatsächlich ständig verändert.
2.3 Intentio auctoris, intentio operis, intentio lectoris Die Intentionen des Autors, des Werkes oder Textes selbst und die des Lesers können als drei mögliche, gleichermaßen berechtigte Ansatzpunkte für die theoretische Analyse und Konzeptualisierung der Textinterpretation angesehen werden. Texte sind polyvalent. Dieser Begriff aus Boeschs Handlungs- und Kulturpsychologie, der gegen das einseitige Verständnis von Texten und Handlungen als univoke Sinn- und Bedeutungseinheiten gewendet werden kann, läßt sich im Lichte der getroffenen Unterscheidungen präzisieren. Polyvalenz hat in dieser Perspektive damit zu tun, daß ein Interpretandum Sinn und Bedeutung besitzen kann (1) für den Autor, der eine bestimmte Bedeutung intendiert, (2) als eine autonome Struktur oder als eine mit Geltungsansprüchen verbundene Auffassung, (3) für einen Rezipienten oder Interpreten, der einen Text aus seinem Blickwinkel bzw. mit den Augen eines Menschen liest, der in einem speziellen geschichtlichen und soziokulturellen Kontext steht. Auch die Handlungs- und Kulturpsychologie kann bei der Erforschung ihres Objektbereiches an alle diese interpretationstheoretischen Positionen anknüpfen. Und sie kann, wie ich meine, nicht nur das eine oder das andere tun. Text- und interpretationstheoretische Ansätze stehen zwar in einem produktiven
2. Sprache, Text, Interpretation
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Konkurrenzverhältnis zueinander, und ihre jeweilige Entstehung, theoretische Ausarbeitung und praktische Profilierung ist stets auch aus der Kritik an den konkurrierenden Ansätzen hervorgegangen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß handlungs- und kulturpsychologische Analysen je nach Zweck aus verschiedenen Perspektiven durchgeführt werden. So können sich interpretationstheoretische Positionen trotz ihrer Heterogenität ergänzen und ihre Stärken ausspielen. Zugleich kompensiert eine Vorgehensweise, die mehrere interpretationstheoretische Positionen und Perspektiven nutzt, die spezifischen Schwächen, die alle diese Positionen besitzen. Sie alle akzentuieren dies, vernachlässigen oder ignorieren jenes. Beharrt man auf dem Standpunkt, Interpretationen müßten stets auf eine einzige Ansicht und Einsicht zulaufen, ist über polemische Gegenüberstellungen konkurrierender Text- und Interpretationstheorien nicht hinauszukommen. Nimmt man dagegen die dogmatischen Festlegungen, die zu diesem Standpunkt fuhren, zurück, tritt der einander ergänzende Charakter aller Positionen klar hervor. Die Unterscheidung zwischen intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris greife ich lediglich in ihren Grundzügen auf.22 Ecos dreigliedrige text- und interpretationstheoretische Differenzierung benennt drei basale Optionen und Positionen, denen jeweils mehrere Interpretationstheorien zugeordnet werden können. (Theorien, die im Detail keineswegs miteinander verträglich sein müssen, in grundlegenden Aspekten jedoch Gemeinsamkeiten aufweisen.) Ich werde auf drei ausgewählte Theorien zu sprechen kommen. Die Bezugnahme auf die intentio auctoris läßt sich an den Ansätzen Bettis und Hirschs verdeutlichen, die als exemplarische Repräsentanten einer intentionalistischen Hermeneutik gelten können. (Als eine psychologische Konkretisierung der intentionalistischen Hermeneutik kann beispielsweise die Handlungspsychologie Groebens und das damit verwobene Forschungsprogramm Subjektive Theorien gelten.) Die Betonung der intentio operis werde ich am Beispiel von Gadamers philosophischer Hermeneutik diskutieren. Schließlich wird die intentio lectoris im Anschluß an Lorenzer als wichtigster Ansatzpunkt für die psychoanalytische bzw. tiefenhermeneutische Textinterpretation ausgewiesen.
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Eco verkompliziert diese Differenzierung, indem er sie mit der Unterscheidung zwischen generativen und interpretativen Ansätzen (Patrizia Violi) kombiniert. Dies bleibt hier ebenso unberücksichtigt wie die für Eco wichtige Unterscheidung zwischen semantischer (oder semiotischer) und kritischer (oder semiotischer) Interpretation. In seiner Semiologie werden Interpretationen kritisch genannt, wenn sie angeben bzw. erklären, aufgrund welcher Strukturmerkmale „der Text diese (oder andere) semantische Interpretationen hervorbringen kann" (ebd., 43). Semantische Interpretationen sind dagegen die Resultate aktiver Sinnbildungen durch einen Textrezipienten. Ecos semiologische Bestimmungen kritischer Interpretationen sind vornehmlich auf literarische Texte gemünzt. Diese versuchen mittels bestimmter Strategien semantische Interpretationen zu erzeugen, nahezulegen etc. All dies interessiert in der empirischen Psychologie kaum. Es geht hier nicht darum, durch „kritische" Interpretationen sensu Eco darzutun, warum ein Text mehrere semantische Interpretationen nahelegt oder gestattet. Demgegenüber besitzt der Begriff der Kritik in der interpretativen Psychologie, wie ich in Teil III erörtern werde, einen ganz anderen Sinn.
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II. Interpretation
Diese Theorien qualifizieren einen Text auf jeweils spezifische Weise als Interpretandum. Wenn Handlungen oder beliebige andere Aspekte psychosozialer Wirklichkeiten in sprachlicher, textuell vermittelter Form analysiert werden, reichen die gängigen handlungstheoretischen und methodologischen Überlegungen nicht mehr aus, um die Grundlagen der interpretativen Psychologie auszuweisen und ihr methodische Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies wird in psychologischen Diskursen bis heute weitgehend ignoriert. Wo über Interpretation nachgedacht wird, geschieht dies meistens unter der unreflektierten Voraussetzung dieser oder jener sprach- oder texttheoretischen Annahmen. Ganz anders stellt sich die Lage in Nachbardisziplinen wie der Philosophie, der Geschichts- oder Literaturwissenschaft dar. So ist beispielsweise in der Literaturwissenschaft zu Recht von einem „Triumph der Theorie", nicht zuletzt der Text- und Interpretationstheorie, die Rede, um auf jüngere Entwicklungen in dieser Disziplin hinzuweisen (Miller, 1987; zum Überblick Bogdal, 1990; Zapf, 1991).23
2.4 Interpretation und die intentio auctoris: Hirschs Theorie Texte sind, wie schon die ephemeren Worte im Gespräch, Produkte sprachlichen Handelns. Sie werden von einem intentionalen, reflexiven Subjekt unter spezifischen pragmatischen Bedingungen - historischen, kulturellen, gesellschaftlich-sozialen, interaktiv-kommunikativen, psychologischen - geschaffen. Texte aller Art - also auch Transkripte gesprochener Sprache - können in produktionstheoretischer Perspektive betrachtet werden (speziell literarische Texte werden vor allem in prod\i\i\\or\&ästhetischer Perspektive analysiert).
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Die offenkundige theoretische Produktivität läßt es ungerechtfertigt erscheinen, daß empirische Literaturpsychologen noch immer ganz pauschal ein angebliches „Theoriedefizit der Literaturwissenschaft" beklagen (Barsch, Rusch & Viehoff, 1994, 12). Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch angemerkt, daß meine Anleihen bei Sprach-, Text- und Interpretationstheorien, die gerade auch in der Literaturwissenschaft diskutiert werden und teilweise sogar am Gegenstand literarischer Texte entwickelt wurden, keinerlei Verwandtschaft mit der Konzeption einer empirischen Literaturwissenschaft anzeigen sollen. Es geht mir in keiner Weise um einen Beitrag zur psychologischen Erforschung der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung speziell literarischer Texte. Betrachtet man sich die im deutschsprachigen Raum bedeutendsten Arbeiten zur empirischen Literaturwissenschaft, wird im übrigen offenkundig, daß meine Klärung der Grundzüge einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie an eine ganz andere methodologische Position gebunden ist, als sie dort vorherrscht. Groeben (1972) forderte frühzeitig, die empirische Literaturwissenschaft dem State of the art in den nomologischen Sozialwissenschaften anzupassen. Damit deckte sich sodann Schmidts (1980) wegweisender theoretischer Grundriß. Beide Autoren machen aus ihrer Gegnerschaft gegen die sogenannten texthermeneutischen Ansätze keinen Hehl (vgl. auch Barsch, Rusch & Viehoff, 1994, 10). Noch heute überwiegen die Plädoyers für eine nicht oder „nicht primär" texthermeneutisch orientierte Literaturwissenschaft. Auch im Hinblick auf dieses Feld könnte man allerdings mit guten Gründen fragen: Warum nicht das eine tun und das andere nicht lassen?
2. Sprache, Text, Interpretation
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In produktionstheoretischer Sicht rückt die Intention des „Autors" ins Zentrum, unter Umständen auch die historische Praxis einer Zeit, in der der jeweilige Autor handelt und spricht (oder schreibt). Bedeutung und Sinn eines Textes werden damit an dessen aktive, kontextualisierte Produktion gekoppelt. Bedeutungs- und Sinngehalte sind an die beabsichtigte Vermittlung einer auktorialen Botschaft gebunden, durch die das sprechende Subjekt Aspekte seiner Welt und seines Selbst zum Ausdruck bringt. Der Text wird produktionstheoretisch als eine Objektivation sprachlichen Handelns aufgefaßt, als Resultat eines intentional handelnden Subjektes, das wußte, was es hat sagen und mitteilen wollen, kurz: Textsinn und Textbedeutung werden auf die intentio auctoris zurückgeführt. Interpretative Textanalysen und das Textverstehen richten sich demgemäß auf diese Intention. Sie unternehmen eine Rekonstruktion der Absichten des Autors. Unter Bezugnahme auf die in der pragmatischen Handlungs-, Sprach- und Texttheorie übliche Unterscheidung zwischen Redeverstehen und Handlungsverstehen kann folgende Differenzierung vorgenommen werden: Sprecher können mit ihren Redebeiträgen etwas sagen, darstellen und erörtern wollen etc.; sie können aber außerdem, indem sie sprechen, bestimmte Sprechakte vollziehen: eine Aufforderung formulieren, eine Frage stellen, jemanden um Entschuldigung bitten, verdächtigen oder bezichtigen usw. (vgl. Teil I, Kapitel 2.7). Sprecherintentionen können also auf zweierlei Ebenen angesiedelt sein. Die erste ist in den semantischen, grammatischen und syntaktischen Strukturen des Textes konstituiert. Auf dieser Ebene stellt sich die Frage, wovon in einem Text die Rede ist. Es geht hier um „Redeverstehen". Auf der zweiten Ebene sind die für den Autor relevanten pragmatischen Bestimmungsgründe, Funktionen oder Ziele sprachlicher Äußerungen angesiedelt. Wer auf dieser Ebene versteht, versteht Sprechhandlungen. Das Handlungsverstehen oder Verstehen von Sprechakten setzt das Redeverstehen voraus (Schutte, 1990,44). Interpretative Analysen der intentio auctoris geben Aufschluß darüber, was ein Sprecher mit dem, was er mitteilte, sagen und tun wollte. Sie sind ein gerade auch in der Psychologie vielbeschrittener Weg zur Subjektivität des Textproduzenten. Produktionstheoretische Textanalysen setzen an den Gedanken und Absichten von Handlungssubjekten an, die in einer bestimmten Situation zu jemandem über etwas aus bestimmten Gründen und zu bestimmten Zwecken sprechen. Im Sinne von Karl Bühlers (1934) sprachtheoretischem Modell kann eine Darstellungsfunktion - im Text wird über etwas geredet -, eine Ausdrucksfunktion - das Subjekt gibt Teile seines Selbst und seiner Welt preis - und eine Appellfunktion - der Sprecher fordert den Adressaten zu etwas auf - unterschieden werden. In subjektwissenschaftlicher Sicht können durchaus alle diese Funktionen zum Interpretandum gehören, wobei der Sprecher und speziell sein Wissens-, Glaubens- und Meinungssystem, seine Gefühle, Motive und Willensregungen, seine Wünsche und Handlungen interessieren. Zweifellos ist der traditionelle produktionstheoretische Ansatz in der Psychologie nach wie vor dominierend, auch in der Handlungstheorie und der qualitativen, interpretativen Forschung. Diese Position wird aber auch durch neuere philosophische Arbeiten, etwa durch Axel Bühlers (1993) Überlegungen
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II. Interpretation
zum hermeneutischen Intentionalismus, gestützt. Selbstverständlich besitzt die an der intentio auctoris orientierte Sprach-, Text- und Interpretationstheorie in der Handlungspsychologie ihre Berechtigung. In der Psychologie interessieren bekanntlich gerade auch die subjektiven Intentionen der Akteure und das, was diese über sich, über ihre Welt und zu anderen sagen wollen. Eine Disziplin, die sich nur langsam aus den Fängen des Behaviorismus befreit hat, wird, insofern sie (auch) als hermeneutische Wissenschaft betrieben wird, von den subjektiven Intentionen, die das sprachliche und sonstige Handeln von Personen leiten, nicht einfach absehen. In der Tat wurden während der letzten Jahrzehnte theoretische, methodologische und methodische Beiträge zu einer subjektorientierten Psychologie erarbeitet, die sich dem Programm des hermeneutischen Intentionalismus verschrieben hat und denen hier nichts hinzuzufügen ist (z.B. Groeben & Scheele, 1977; Groeben, 1986). Das handlungstheoretisch fundierte „Forschungsprogramm Subjektive Theorien", das mittlerweile ebensosehr ein bereits verwirklichtes Projekt wie ein Programm ist, kann dafür als beispielhaft gelten (Dann, 1990; Dann, 1992; Groeben & Scheele, 1982; Groeben, Wahl, Schlee & Scheele, 1988). Da dieses Forschungsprogramm in der Psychologie einen hohen Bekanntheitsgrad genießt und ich mich an anderer Stelle selbst ausführlich darüber geäußert habe (Straub, 1999c), verzichte ich vollständig auf eine Darstellung der Theorie, Methodologie und Methodik dieser intentionalistisch-hermeneutischen Handlungspsychologie. Näher widmen möchte ich mich dagegen der theoretischen Grundlegung des hermeneutischen Intentionalismus, wie sie vor allem Hirsch (1972) versucht hat.24 Hirschs Sprach- und Texttheorie sowie seine Bedeutungs- und Interpretationstheorie ist ganz und gar an der intentio auctoris orientiert. Sein Ansatz schließt unmittelbar an das Werk Bettis (1954, 1962, 1967) an.25 Betti, der be-
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Text- und Interpretationstheorien, die ihren Sinn- und Bedeutungsbegriff an der Intention des Autors festmachen, bestimmen den Intentionalitätsbegriff bisweilen ganz „unpsychologisch". Die Phänomenologie Husserls und noch die an ihn anschließenden Literatur- und Texttheorien, etwa jene aus dem Umkreis der Genfer Schule (Poulet, Starobinski, Rousset, Richard, Staiger, Miller), sind Beispiele dafür (zusammenfassend Eagleton, 1988, 19ff.). Husserl hat nicht das empirische, sondern das transzendentale Bewußtsein des Autors im Visier. Die Intentionalität des Autorenbewußtseins konstituiert in dieser Sicht den dem geschaffenen Werk immanenten, einheitsstiftenden Bedeutungskern. Bedeutung als ein intentionales Objekt ist entsprechend nicht auf psychische Akte der Textproduzenten und -rezipienten zurückzufuhren. Nicht die Biographie des Autors oder andere empirische Umstände sind es, die in dieser text- und interpretationstheoretischen Perspektive relevant werden, sondern allein die „Tiefenstrukturen des Geistes" (Eagleton), denen der Autor in seinem Werk Ausdruck verleiht. Von dieser Position sehe ich im folgenden ab.
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Betti gehört, neben Heidegger, Gadamer, Ricceur und anderen, zu denen, die den Diskurs über die Hermeneutik im 20. Jahrhundert maßgeblich prägten. Betti richtet sich gegen die ontologische Wende in der Hermeneutik, die Heidegger wirkungsvoll einleitete und die Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik am Leitfaden sprachtheoretischer Überlegungen weiterführte (vgl. Kapitel 2.5). Er macht sich für einen objektivistischen Ansatz stark, bezieht sich entschieden auf die intentio auctoris und betont die Notwendigkeit einer methodologisch-methodischen Ausrichtung der Hermeneutik. Zu Bettis Ansatz vgl. etwa Bianco (1993) oder Madison (1985). Die Differenzen zwischen Betti/Hirsch und Gadamer zeigen
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reits vor der Publikation von Gadamers 1960 erschienenem Hauptwerk, nämlich im Jahre 1955, eine umfangreiche Hermeneutik veröffentlichte, wurde bald schon der vielleicht wichtigste Repräsentant der in den 60er Jahren angesiedelten Bemühungen, den Objektivismus und Methodologismus der verstehenden Wissenschaften gegen Gadamers Herausforderung zu verteidigen. Bettis Hermeneutik zielt auf den als mens auctoris aufgefaßten „inneren, fremden Geist", wie er in Objektivationen sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns zum Ausdruck gelangt. Interpretation ist demnach, ganz im Sinne der idealistischromantischen Tradition, eine Art Umkehrung des schöpferischen Aktes: Während der Autor (oder allgemeiner: der Akteur) einen bestimmten Ausdruck des Inneren intendiert, fuhrt der Weg des Interpreten von „äußeren" sinn- und bedeutungsstrukturierten Ausdrücken bzw. Handlungsobjektivationen nach innen zu den authentischen Intentionen des Autors (oder Akteurs). Hirschs Beitrag, der vielen als einer der wichtigsten zur neueren Hermeneutik galt und gilt, steht ganz im Zeichen einer szientistischen Ausrichtung interpretativer Wissenschaften und verpflichtet die Interpretation auf den vom Autor intendierten Sinn. Hirsch bezieht sich bei der philosophischen Grundlegung seiner „streng wissenschaftlichen" Theorie der Interpretation auf Husserl (speziell auf dessen „Logische Untersuchungen"), wobei mit guten Gründen in Frage gestellt werden kann, inwieweit diese affirmative Bezugnahme berechtigt ist.26 Wie dem auch sei: Hirsch macht im intentionalen Bewußtsein des Autors den Ankerpunkt für richtige oder gültige Interpretationen fest. Damit verteidigt er - gegen Gadamer - einen realistischen Standpunkt: es gibt, so Hirsch, objektivistisch konzeptualisierbare Bedeutungen eines Textes. Diese „existieren" unabhängig von irgendwelchen Interpretationen; sie sind dem Text immanent. Interpretationen stellen keine im eigentlichen Sinne bedeutungskonstituierenden Akte dar, sondern Handlungen, die etwas zu erfassen haben, was ihnen vorausgegangen ist und ihnen als Objekt gleichsam gegenüberliegt. Dieses Erfassen ist die Angelegenheit einer Wissenschaft der Interpretation, die Hirsch entschieden
nicht zuletzt, wie unangebracht es ist, von „der" Hermeneutik zu sprechen. Einen informativen Überblick über unterschiedliche Ansätze in der Philosophie sowie eine gute Bibliographie bietet Grondin (1991). Systematisch differenzierende Darstellungen hermeneutischer Psychologien sind nach wie vor Mangelware. Einblicke bieten etwa Terwee (1990) oder Messer, Sass & Woolfolk (1988). 26
Madison (1985, 399) argumentiert, Hirsch habe Husserl „ungenügend und unkorrekt ausgelegt". Eine genauere Lektüre der „Logischen Untersuchungen" und späterer Schriften hätte, so Madison, Hirsch zu einem ganz anderen Begriff der Interpretation geführt, als er ihn propagiert. Madison hält Hirsch zu Recht vor, eine entscheidende Einsicht Husserls zu ignorieren. Wirklichkeit (bzw. die „Transzendenz des wirklichen Gegenstandes") ist durch das intentionale Bewußtsein konstituiert, was bei Husserl unter anderem heißt, daß die Wirklichkeit des Sinnes (von Texten etwa) keinesfalls im Sinne der traditionellen Subjekt-ObjektDichotomie als etwas Gegenständliches von den (auf Erkenntnis zielenden) Bewußtseinsleistungen abgetrennt werden kann (vgl. Madison, 1988, 399ff., 404f.). Gerade dies jedoch tut Hirsch. Er unterliegt damit einem Mißverständnis von Husserls in den „Logischen Untersuchungen" formulierter Psychologismus-Kritik. Im Unterschied zu Madison nimmt Eagleton (1988, 32ff.) Hirsch seine Bezugnahmen auf Husserl relativ unbesehen ab.
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II. Interpretation
von einer bloßen Kunstlehre abgrenzt. Erfaßt werden muß jener Textsinn, der in dem und nur in dem besteht, „was der Autor durch eine bestimmte Zeichenfolge ausdrücken wollte" (Hirsch, 1972, 23). Hirsch bindet die Gültigkeit der Interpretation an die Übereinstimmung mit dem vom Autor intendierten Sinn- und Bedeutungsgehalt von Texten. Mag es auch nicht unbedingt nur eine einzige gültige Interpretation eines Textes geben, so müssen sich doch alle gültigen Interpretationen innerhalb eines autorisierten „Systems der typischen Erwartungen und Wahrscheinlichkeiten" (Hirsch; vgl. Eagleton, 1988, 32f.) bewegen. Zudem gibt es letzten Endes doch so etwas wie die beste Interpretation. Das vom Autor Gemeinte als historisch beständiger, stabiler Sinn eines Textes und nichts anderes ist in gültigen Interpretationen möglichst präzise zu erfassen. Daran ändert die Tatsache, daß verschiedene Interpreten (und zu diesen mag sogar der Autor selbst gehören!) in wechselnden historischen Situationen unterschiedliche Lesarten eines Textes erzeugen, diesen also einmal so, ein andermal so sehen mögen, nicht das Geringste. Von solchen wechselnden Relevanzen und, wie Hirsch mit Betti sagt, Signifikanzen oder Bedeutsamkeiten, die der Rezipient an den Text heranträgt, bleibt der ein für alle mal intendierte, authentische Sinn eines Textes unberührt. Signifikanzen ändern sich je nach historisch-subjektiven Bezügen, nicht aber der vom Autor vorgegebene und im Text gleichsam aufbewahrte Sinn, kurz: dessen authentische Bedeutung. Hirsch unterscheidet scharf - allzu scharf - zwischen einem von Zeit und Veränderung unberührten Textsinn und der historisch und soziokulturell variablen Bedeutsamkeit, die ein Text für bestimmte Interpreten in konkreten Anwendungszusammenhängen im Lichte spezieller Relevanzen besitzen mag. Nach Hirsch unterliegt der Textsinn oder die authentische Bedeutung keinerlei Veränderungen. Vergänglich sind allein die Deutungen bzw. Applikationen wechselnder Interpreten. Unterläge der Textsinn selbst Schwankungen, würde er in seinem wirklichen und wahren Sein angekränkelt, und Erkenntnis des Textsinns wäre, wie Hirsch (mit Betti) schlußfolgert, überhaupt unmöglich. Alle hermeneutischen Bemühungen glichen einem ungeregelten Stochern im Nebel. Dagegen richtet sich auch Bettis Kanon wissenschaftlichen Interpretierens, speziell der Kanon der sogenannten hermeneutischen Autonomie oder der Immanenz des hermeneutischen Maßstabs. Dadurch soll sichergestellt werden, daß der vom Autor intendierte, textimmanente Sinn erfaßt wird und nicht etwas in den Text hineinprojiziert wird, was nicht „drinsteht". Die intentio auctoris ist und bleibt für Hirsch der einzig mögliche - in vielen Fällen natürlich nicht direkt abrufbare - Maßstab für die Beurteilung der Gültigkeit von Interpretationen. Allerdings können Interpreten nicht mit absoluter Gewißheit in Erfahrung bringen, ob sie die Autorintention exakt und vollständig erfaßt oder, wie Hirsch sagt, richtig „erraten" haben (Hirsch, 1972, 262). Objektivität ist nicht mit Sicherheit erreichbar, wohl aber anstrebbar. Der Versuch einer Approximation an die intentio auctoris ist für Hirsch eine conditio sine qua non aller methodischen Interpretationen, die ihre Geltungsansprüche regeln und ausweisen wollen. Ohne zu berücksichtigen, was der Autor hat
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sagen wollen, werden Interpretationen bodenlos, unabhängig von der einzig möglichen und angemessenen Beurteilungsnorm, also willkürlich. Interpretative Erkenntnis eines substantialisierten und instantierten Textsinnes ist demnach, wie Hirsch mit Betti sagt, ein strikt reproduktives „Wiedererkennen dessen, was der Autor meinte" (ebd., 162). Diese Behauptungen sind nicht zu halten. Der Wille des Autors, etwas Bestimmtes zu sagen bzw. zu meinen, liefert allenfalls ein mögliches Kriterium für die Beurteilung von Interpretationen. Das einzig denkbare und rational begründbare ist es nicht. Außerdem gehört es zu einer Sprach-, Text- und Bedeutungstheorie, die insgesamt gravierende Schwächen hat. Hirschs Untersuchungen bleiben häufiger an der Oberfläche der gestellten Fragen. Allgemeine Grundlagen einer Theorie und Praxis der Interpretation werden, wie Madison (1988) moniert, von Hirsch jedenfalls nicht ausgewiesen. Hirsch übernimmt unhinterfragte, der Epistemologie und Logik der Naturwissenschaften entnommene Wissenschafts- und Objektivitätsideale, ohne wirklich zu prüfen, ob diese Ideale der interpretativen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung angemessen sind. Er klärt nicht hinreichend, ob diese Ideale, die in den interpretativen Wissenschaften faktisch nur approximativ erreicht werden können, wenigstens „im Prinzip" erfüllt werden könnten. All dies wird lediglich konstatiert und kurzerhand vorausgesetzt. Tatsächlich aber ist das Interpretieren - wie meine Überlegungen zur Kreativität des Handelns und zum Konzept der reflektierenden Vernunft zeigen sollten - keineswegs das von Hirsch propagierte, hypothetisch-deduktive Verfahren, wie es für die experimentellen Naturwissenschaften maßgeblich und charakteristisch ist (vgl. auch Madison, 1985, 394ff.). Hirschs (1972, 228) Bezeichnung interpretativer Hypothesen als „Wahrscheinlichkeitsurteile" suggeriert, man hätte es in den interpretativen Disziplinen mit quantitativ skalierbaren oder gar statistisch präzisierbaren Urteilen zu tun - auch dabei handelt es sich um eine aus der Luft gegriffene Behauptung. Zurecht hält Madison Hirsch vor, völlig zu verkennen, daß „sowohl das traditionelle Paradigma naturwissenschaftlicher Objektivität, als auch die traditionellen Begriffe von Wahrheit und Realität einer kritischen Überarbeitung bedürfen. ... Hirschs Irrtum im Hinblick auf Hermeneutik ist demjenigen eines ausgeprägten Behavioristen in der Psychologie vergleichbar: in beiden Fällen führten der Versuch, ultra-wissenschaftlich zu sein, und eine irrationale Abneigung gegenüber allem 'Subjektiven' dazu, Disziplinen analog ... einem spezifischen Wissenschaftsbegriff (zu entwerfen), der mittlerweile gänzlich überholt ist" (Madison, 1985, 417). Weitere Einwände liegen auf der Hand. Hirsch vertritt eine gleichsam „vorsprachliche" Theorie der Bedeutung und Interpretation: Bedeutung „existiert" bei Hirsch als eine „determinierte", vermeintlich objektive Entität, als eine einmal hervorgebrachte und sodann feste Substanz. Die Sprache wird dabei, wie in vielen intentionalistischen Ansätzen, als ein Ausdrucksmedium für Bedeutungen aufgefaßt, die im „Inneren" des intentionalen Bewußtseins schon vorhanden waren und im Akt des Sprechens bloß veräußerlicht werden. Bedeutung gilt Hirsch als eine Substanz, die vom „Inneren" nach außen gelangt und womöglich in einem Text konserviert wird. Diese Substanz ist nach Hirsch
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II. Interpretation
unabhängig von sprachlichen, soziokulturell vermittelten Akten der Interpretation. Sie kann angeblich „als solche", als etwas durch den intentionalen Akt des Autors Gesetztes und Unabänderliches, durch textuelle Vermittlung auf stets gleiche Weise Gegebenes angenommen und mehr oder minder treffend entziffert werden. Dazu habe man beharrlich der Frage nachzugehen, was der Autor denn „aller Wahrscheinlichkeit nach" (Hirsch) - hat sagen wollen. Der vom Autor intendierte und vom Interpreten anzugebende Sinn ist nach Hirsch eine „mit sich selbst identische Einheit", und nicht nur das: sie bleibt sich als solche „stets gleich", ist also „unveränderlich", „unwandelbar" und als solche immer und überall „reproduzierbar" (vgl. Hirsch, 1972, 68) - folgt man nur der wissenschaftlichen Methode der Interpretation. An dieser Auffassung ist nicht bloß höchst fragwürdig, daß Sinn und Bedeutung als etwas strikt Gegenständliches aufgefaßt werden, das durch gültige Erkenntnis im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit repräsentiert werden kann. (Hirsch muß auf dieser Auffassung freilich bestehen, um an seiner voreingenommenen Idee von objektiver Wissenschaft und Erkenntnis festhalten zu können.) Unklar bleibt nämlich auch, was denn dieses zu erkennende „wortlose Bewußtsein" jenes Autors, den Hirsch „retten" will, genauerhin sein soll, und wie man diesem Bewußtsein auf die Spur kommen kann. Hirschs Weisung, dies könne durch eine Explikation des „intrinsischen Genres", also, mit Eagletons Worten, der „allgemeinen Konventionen und Sichtweisen, die den Autor beim Schreiben bestimmt haben", geleistet werden, ist unbefriedigend: „um seine Theorie aufrecht erhalten zu können, ist er indessen gezwungen, all das, was der/die Autor/in gemeint haben könnte, drastisch auf das zu reduzieren, was er 'Bedeutungstypen' nennt, handhabbare Bedeutungskategorien, mit denen der Kritiker die Texte einengen, vereinfachen und aussieben kann. Somit kann unser Interesse am Text sich nur innerhalb dieser breiten Bedeutungstypologien bewegen, aus denen jegliche Besonderheit sorgfältig verbannt wurde" (Eagleton, 1988, 33). Mit polemischer Schärfe attackiert Eagleton Hirschs Theorie der Interpretation, wenn er sagt, diese installiere eine (wenigstens das Denken einengende) Ordnungsmacht. Alle potentiell anarchischen Details eines Textes und unbestimmte Unschärfen würden dem „einen Sinn" des Textganzen eingegliedert, sobald Hirsch Sinn allein als einen „bewußt gewollten Typ ..., der den Sinn als Ganzes definiert" (Hirsch, 1972, 77), bestimmt. Eagleton beklagt das Einsperren von Sinn und Bedeutung in intrinsische Genres, und mit Verve kritisiert er die in Hirschs Ansatz implizite, autoritäre Haltung gegenüber Text und Autor. Wo die überzeitliche Fixierung der Textbedeutung allein an die mens auctoris gekoppelt wird und das entscheidende Kriterium für die Gültigkeit von Interpretationen durch den Rückbezug auf den vom Autor intendierten sensus erfüllt werden kann, werden Bedeutung und Sinn im Namen des Autors monopolisiert. Aus Furcht vor Skeptizismus, Relativismus, Subjektivismus, Historizismus und Anarchie in der Praxis der Textinterpretation - all dies wittert Hirsch (merkwürdigerweise) bei Gadamer - werden bei Hirsch Interpretationsnormen aufgestellt, die das Verstehen dem Sog der Geschichtlichkeit und Kontingenz entreißen sollen. Auch wenn der Autor beim Schreiben zwischen diesem und jenem
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Wollen und Meinen geschwankt haben mag, bleibt dessen intentionales Bewußtsein die Letztinstanz für die Beurteilung der Gültigkeit von Interpretationen. Ähnlich wie schon Betti die Möglichkeit der methodologisch-methodischen Kontrolle von Interpretationen an den Rückbezug auf die mens auctoris bindet, ist dieser Rekurs auch für Hirsch das einzige Rezept gegen anarchische Willkür. Und wie Betti bezieht Hirsch innerhalb des hermeneutischen Diskurses klar eine Gegenposition gegen die „Heidegger-Gadamer-Linie", kurz: gegen das dort verortete Gespenst des Relativismus und Nihilismus. Selbst kritische Rezipienten von Heideggers und Gadamers Philosophie können zugestehen, daß diese Autoren dem besagten Gespenst nicht Tür und Tor öffneten, sondern ihm vielmehr seinen Schrecken genommen haben. Sie bewerkstelligten dies - kurz gesagt -, indem sie die im abendländischen, besonders im Denken der neuzeitlichen Wissenschaften fest installierte binäre Kodierung „absolut-relativ" einer radikalen Kritik unterzogen. Wer nach absolutem Wissen, nach „für immer und ewig" unumstößlichen Erkenntnissen sucht, säkularisiert und „humanisiert" gewisse theologisch-religiöse Attribute „Gottes" und projiziert sie in den Bereich menschlicher Praxis. Er installiert eine heillose Pseudoalternative, als gebe es im Bereich menschlichen Erkennens und Wissens nichts zwischen dem gottgleichen Absolutum und der nihilistischen Grund- und Haltlosigkeit eines willkürlichen Relativismus. Damit wird zugleich das menschenmögliche und von Menschen faktisch erworbene, tagtäglich erweiterte und praktisch angewandte Wissen entwertet. Die rigide Polarisierung eines - zumindest idealiter - totalen und absoluten Wissens auf der einen Seite, einer totalen Haltlosigkeit des Denkens und Handelns auf der anderen Seite, ist unter logischen, praktischen und, wie ich meine, psychologischen Gesichtspunkten bedenklich. (Auf diese psychologische Interpretation verzichtet übrigens auch kaum ein Philosoph; auch diese sprechen gerne von der Angst vor dem Relativismus und seinen vermeintlichen Folgen.) Hirsch bewegt sich im Geleise der skizzierten Pseudo-Alternative. Er erweist sich damit - wie schon Betti - als ein Spätausläufer des Historismus. Madison zeigt im übrigen, wie Hirschs Konzeption, ihrem Ideal absoluter Wahrheit zum Trotz, schließlich selbst zu relativistischen Konsequenzen führt. Dies ist deshalb so, weil die „absolute Wahrheit" nach Hirschs eigener Auffassung faktisch ja doch unzugänglich ist - sie fungiert lediglich als Ideal für die versuchten Approximationen, von denen wir allerdings nie mit Sicherheit wissen, ob sie denn wirklich Annäherungen an die verborgene Wahrheit sind oder nicht. Entsprechungen oder Korrespondenzen festzustellen ist in der Tat ein schwieriges Unterfangen, wo ein Element des geforderten Entsprechungsverhältnisses unzugänglich ist (Madison, 1985, 408ff.). Merleau-Ponty, auf den sich Madison am angegebenen Ort beruft, hat Recht, wenn er sagt, die Rede von „absoluter Wahrheit" und „absolutem Sinn" und selbst noch die Rede von der „wahrscheinlichen Annäherung" an solche Absoluta sei sinnlos. Dies ist deswegen so, weil solche Redeweisen „kein Äquivalent in unserer Erfahrung besitzen bzw. keine bedeutende Rolle in ihr spielen; weil sie keinen Erlebnisinhalt haben" (ebd., 409).
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II. Interpretation
Die vermeintlich zwingende Alternative ergibt sich immer dann, wenn an einer Metaphysik des Absoluten festgehalten wird - sei es, daß, wie Grondin (1991, 14f.) sagt, eine überzeitliche, sakrale oder säkulare Autorität angerufen wird, sei es, daß die Logik als unhintergehbares und zugleich allem geschichtlichen Wandel entzogenes Fundament des Denkens betrachtet wird, sei es schließlich, daß vermeintliche Letztbegründungen der eigenen Position als sicher gelten. Solche obsessiven Sehnsüchte nach einem absolut sicheren Fundament des Denkens und Handelns teilen mit dem radikalen Nihilismus und Relativismus einen metaphysischen Glauben: entweder es gibt unumstößliche Wahrheiten, oder es herrscht totale Unordnung, Orientierungslosigkeit und anarchische Willkür. Diese Frontstellung, die den philosophischen Kern der historistischen Problematik (und Aporie) bildet, haben nicht zuletzt Heidegger und Gadamer ad acta gelegt. Sie taten dies bekanntlich im Widerspruch gegen die nicht nur in der Philosophie verbreitete Negierung der menschlichen Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Endlichkeit, die als abwehrende Verneinung von Grundelementen der conditio humana einer Selbstnegierung des Menschen und des ihm möglichen Daseins gleichkommt. In Hirschs Ansatz ist das Problem der „Wahrheit von Interpretationen" eng damit verwoben, daß der Autor, um dessen sinn- und bedeutungskonstituierende Intentionen es in den hermeneutischen Forschungen der historischen Geisteswissenschaften geht, in der Regel nicht mehr selbst befragt werden kann. Es sei jedoch angemerkt, daß dieses Problem nicht schon gelöst ist, sobald Hirschs Konzeption in aktualempirischen Disziplinen wie der Psychologie Anwendung findet. Auch wenn jene Autoren, deren Texte bzw. deren Handeln interpretiert werden, nach der Triftigkeit der vom Wissenschaftler formulierten Interpretationen gefragt werden können, ist nicht unbedingt alles erledigt. Was beispielsweise macht der Interpret, der auf eine entsprechende Anfrage vom Autor zur Antwort erhält, er wisse selbst nicht (mehr), was (genau) er mit diesen oder jenen Äußerungen habe sagen wollen? Hat der Text dann keinen Sinn? Hat er niemals Sinn und Bedeutung gehabt oder diese verloren, nur weil der Autor sich nicht mehr an seine ehemaligen Intentionen erinnern kann, weil er im fraglichen Text heute vielleicht etwas anderes erkennt (und erkennen möchte), als er damals hat sagen wollen etc.? Ganz unmißverständlich wendet sich Hirsch gegen die Möglichkeit vielfältiger Sinn- und Bedeutungskonstruktionen, die sich auch gegen den vom Autor intendierten Sinn wenden und mit diesem konkurrieren wollen. Hirsch löst Sinn und Bedeutung von zeitlichen und soziokulturellen Bindungen ab und erhofft sich durch diese Vergegenständlichung jene Stabilisierung, die nach seinem Wissenschafts- und Erkenntnisbegriff methodische Forschungen erst ermöglicht. Nach der hier vertretenen Auffassung lassen sich Sinn und Bedeutung dagegen nicht dadurch fixieren, daß sie mit den intentionalen Akten eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation „verschnürt" werden. Die komplexe Konstitution von Sinn und Bedeutung wird durch die Bezugnahme auf die intentio auctoris allenfalls partiell begriffen. Diese Einsicht wird von Gadamer mit großem Nachdruck zur Geltung gebracht. Er wendet sich entschieden gegen die Identifizierung von Sinn und
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Bedeutung mit der authentischen Autorintention, weil diese, so ein zentrales Argument Gadamers, zeitlich Differentes zu einer trügerischen Einheit zusammenschließt (also Zeit und Geschichte ignoriert). Autor und Interpret befinden sich jedoch häufig an anderen Standorten in der Geschichte, was nicht nur heißen kann, daß sie womöglich keine Zeitgenossen sind, sondern auch, daß unterschiedliche historische Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte ihre Persönlichkeitsbildung und hermeneutische Kompetenz geprägt haben. Offenkundig geht diese zeitliche oder geschichtliche Differenz mit kulturellen, gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Unterschieden einher. Wie die Vereinheitlichung des geschichtlich Differenten, die Hirsch betreibt, ist auch jede auf synchroner Ebene vorgenommene Angleichung kulturell, gesellschaftlich, sozial und individuell differenter Perspektiven und Auffassungsweisen ein potentieller fort. Sinn und Bedeutung entstammen niemals bloß reproduktiven Akten, die, unabhängig vom Bewußtsein und von der Sprache des Interpreten, lediglich wiederholen, was der Autor (als individueller Angehöriger einer anderen Zeit, Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft) hat sagen wollen. Sinn und Bedeutung als Resultate von Textinterpretationen sind als Konstrukte aufzufassen, die nicht dem Willen und den Absichten des Autors unterstehen. Gadamer hält die in der kritisierten Auffassung gemachte Unterstellung, daß sich die in Texte und Handlungen eingehenden Autorintentionen „bruchlos und direkt in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte realisiert und zur Geltung gebracht haben" (Kögler, 1992, 21), geradezu für absurd. In der Tat ist es so, daß „die symbolischen Realisierungspotenzen sprachlicher und historischer Sinnartikulationen vom Subjekt weder bestimmt noch kontrolliert werden können" (ebd., 21). Kurzum: Wie ein Text gelesen wird, entzieht sich der Verfugungsmacht des Autors. Die an Gadamers Denken heranführende Kritik an Hirschs Ansatz läßt sich folgendermaßen zuspitzen: Geschichtlicher Abstand ist, wie jede Differenz zwischen Interpret und Autor, keine mißliche Barriere, die man zu beseitigen hätte, weil sie angeblich die wissenschaftliche Erkenntnisbildung blockiert. Dieser Abstand ist vielmehr Bedingung und Chance hermeneutischer Erkenntnis, er ist eine unhintergehbare Voraussetzung der Interpretation, die erfreulicherweise produktive Wirkungen freisetzen kann. Dazu bedarf es der Reflexion der besagten Differenz. Dies bedeutet, daß die „Objektivität des Textes ... von der Subjektivität des Interpreten nicht geschieden werden kann; das einzig denkbare Kriterium für textuellen Sinn ist in der Tat der Interpret (die ganze interpretierende Tradition). Außerhalb des interpretierenden Bewußtseins ist es unmöglich, über den Sinn eines Textes zu reden" (Madison, 1985, 406). Was Hirsch und Betti als ein gefahrlicher, relativistischer Irrweg gilt - nämlich bestimmte Vorverständnisse oder Vorurteilsstrukturen von Interpreten in der wissenschaftlichen Praxis anzuerkennen -, wird für Gadamer zu einer unabdingbaren Voraussetzung allen Interpretierens und Verstehens. Nun hat Gadamer keinerlei „Subjektivismus" vor Augen, und auch der Interpret ist nicht als ein „Subjekt" im Sinn der zeitgenössischen Handlungsund Kulturpsychologie gedacht. Der Interpret hat es nämlich ebensowenig vollkommen unter Kontrolle, wie er einen Text interpretiert und versteht, wie ein
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II. Interpretation
Autor autonom Sinn und Bedeutung setzen und für immer festlegen kann. Auch der Interpret ist ein Autor, auch sein Handeln führt zu schriftlichen Objektivationen, deren Sinn und Bedeutung nicht autonom gesetzt und festgeschrieben werden können. Interpretieren ist also kein durch und durch reflektierter Akt autonom handelnder Subjekte, sondern, so Gadamer, Bestandteil eines durch Tradition vermittelten Geschehens, genauer: ein Bestandteil eines als Sprachgeschehen begriffenen Verstehens. Ich komme auf diesen (meines Erachtens durchaus problematischen) Aspekt der philosophischen Hermeneutik Gadamers zurück. Vorerst soll zustimmend festgehalten werden, daß Gadamer gegen objektivistische Theorien der Interpretation unhintergehbare Voraussetzungen auf Seiten des Interpreten hervorhebt, die mitbestimmen, wie textuell repräsentierte Phänomene im konkreten Fall gedeutet, interpretiert, verstanden oder erklärt werden. Damit gerät Hirschs von Betti übernommene Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bedeutsamkeit ins Zwielicht. Schon Betti propagierte einen Interpretationsbegriff, der scharf von Gadamers Konzept der „Applikation" abgegrenzt ist. In der von Hirsch vorgetragenen Form erscheint diese Unterscheidung vollends überzogen. Man kann zwar akzentuierend zwischen der Bedeutung oder dem Sinn, den der Text für den Autor besaß (oder besitzt), sowie der Bedeutsamkeit eines Textes für uns (oder sonstige Rezipienten) differenzieren. Die zeitgenössisch-aktuellen Interpretationen klassischer Literatur (beispielsweise) im Theater zeigen das auf eindrückliche Weise. Wie Eagleton (1988, 35) darlegt, wäre es jedoch unsinnig, anzunehmen, Shakespeare habe beim Schreiben an den Atomkrieg gedacht. Auch an lapidareren Beispielen aus der Welt alltäglichen Handelns läßt sich die akzentuierende Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bedeutsamkeit hermeneutisch nachvollziehen. So läuft in der Kommunikation zwischen Zeitgenossen bekanntlich manches schief, weil der eine die Worte und Taten des anderen im Lichte einer Bedeutsamkeit vernahm und verstand, mit der letzterer nicht gerechnet hatte. Ego meinte es nicht so, wie es alter auffaßte: für diesen war bedeutsam, was jener doch gar nicht als Sinn und Bedeutung seines Redens und Tuns intendierte. So weit, so gut. Gleichwohl ist es prinzipiell so, daß Texte und Taten nur im Licht ihrer jeweils aktuellen Relevanz und Bedeutsamkeit für bestimmte Rezipienten Sinn und Bedeutung annehmen können. Die besondere Bedeutsamkeit, die ein Text (oder ein sonstiges Interpretandum) für uns besitzt, läßt sich identifizieren, nachdem wir Sinn und Bedeutung dieses Textes im Lichte dieser Bedeutsamkeit verstanden haben. Die Sinn- und Bedeutungsgehalte, die ein Text „für uns" Mitglieder einer bestimmten Kultur, Sprachgemeinschaft, Gesellschaft, Gruppe - besitzt, lassen sich niemals völlig unabhängig von unseren Relevanz- und Signifikanzsystemen ausmachen. Auch wenn wir Bedeutsamkeit von Bedeutung bis zu einem gewissen Grade voneinander abheben können, bleibt es dennoch schon deswegen völlig unklar, wie ursprüngliche und authentische Sinn- und Bedeutungsgehalte sicher und definitiv festgelegt werden sollen, weil sich Bedeutsamkeiten nicht auf Beschluß hin suspendieren oder einklammern lassen. Dies scheint mir das entscheidende Argument.
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Über die Fragwürdigkeit, den „eigentlichen, wahren" Sinn- und Bedeutungsgehalt eines Textes als asymptotisches Telos der Interpretation aufzufassen, wurde bereits gesprochen. In psychologischer Sicht läßt sich das dabei aufgeworfene Problem noch vertiefen, wenn wir - im Sinne der Psychoanalyse das (individuelle und kollektive) Unbewußte als eine sinn- und bedeutungskonstituierende Instanz theoretisch in Rechnung stellen. Dies bedeutete nämlich, daß der „innere Geist" eines Textes ohnehin nicht bruchlos zum Ausdruck gelangt bzw. rezipiert werden kann, wie sich Betti und Hirsch dies vorstellen. Vorerst ergibt sich: Ein Text hat niemals andere Sinn- und Bedeutungsgehalte als jene, welche er für konkrete Rezipienten besitzt. Bedeutsamkeit ist nicht suspendierbar, wo es um Sinn und Bedeutung geht. Erstere bestimmt letztere unweigerlich mit, „eben weil sich diese Bedeutungen nur durch unsere gewordenen, historisch vermittelten Erfahrungen hindurch erschließen lassen" (Kögler, 1992, 22). Damit ist evident, daß und warum Interpretationen radikal neue Einsichten zutage fördern können. Interpretationen sind potentiell innovative Konstruktionen textuell vermittelter, sinn- und bedeutungsstrukturierter Wirklichkeiten. Die „Geschichte" fordert immer wieder neue Auffassungen des Vergangenen zutage, und zwar zwangsläufig, insofern neue Erfahrungen neue Vergangenheiten „erzeugen". Gadamer und viele andere Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher theoretischer Provenienz - George H. Mead, Hannah Arendt oder Arthur C. Danto seien genannt -, haben dies überzeugend dargelegt. Hermeneutische Erkenntnis ist unweigerlich geschichtlich bedingt oder, mit einem allgemeineren, von Nietzsche herkommenden Ausdruck, der sich nicht allein auf die historischen Konstitutionsbedingungen allen Wissens bezieht: Erkenntnis ist perspektivisch. Perspektivität ist eine notwendige Implikation der intrinsischen Positionalität oder Standortgebundenheit jedes interpretativen Aktes. Man kann sich leicht vorstellen, wie Hirschs Idee der objektiven, wahren oder richtigen Interpretation im Feld der aktualempirischen Forschungen der Psychologie aufgegriffen und verteidigt werden könnte. Wie gesagt können die betreffenden Akteure in diesem Fall ja einfach danach gefragt werden, ob die vom Wissenschaftler gegebene Interpretation zutrifft. Falls Interpretationen die Intentionen des Akteurs oder Autors wiedergeben sollen und es dabei bewenden lassen wollen, ist dieses Nachfragen zweifellos ein angemessener Weg der Validierung von Interpretationen. Solche kommunikativen Validierungen werden im Kontext des bereits erwähnten „Forschungsprogramms Subjektive Theorien" systematisch durchgeführt. Die Einsicht in die Fruchtbarkeit dieses Verfahrens ändert allerdings nicht das Mindeste daran, daß Interpretationen auch in den aktualempirischen Forschungszusammenhängen nicht als erkenntnisbildende Operationen im Sinne von Hirschs objektivistischem Ansatz aufgefaßt werden sollten. Interpretationen sind prinzipiell voraussetzungsvolle kognitive Akte, die zu Resultaten führen, die die Vorverständnisse des Interpreten mit denjenigen Wissensbeständen (Selbst- und Weltauffassungen) relationieren, mit denen sich der Interpret im Dialog mit seinem Forschungspartner auseinandersetzt. Dabei bestimmt dieses Vorverständnis bereits mit, was überhaupt in eine solche Auseinanderset-
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zung einfließen kann. Grenzen des Wissens, Grenzen der kognitiven Strukturen und Kompetenzen des Interpreten sowie sein Standort und seine Perspektive formieren Möglichkeiten und Grenzen der sozialen Interaktion, Kommunikation und zuletzt der kommunikativ vermittelten Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen. Wohin der Blick wegen kulturell, sozial oder individuell bedingter Barrieren und Trübungen nicht gelangt, ist nichts zu sehen. Zu diesen Trübungen zählt nicht zuletzt, daß manche Text- und Interpretationstheorien dogmatisch vorschreiben möchten, Sinn und Bedeutung ausschließlich an den authentischen Intentionen jenes Autors oder Akteurs festzumachen, dessen Handeln oder Text analysiert werden soll.
2.5 Interpretation und die intentio operis: Gadamers Hermeneutik 2.5.1 Erste Standortbestimmung, zweierlei Begriffe des Verstehens Wo Bedeutung und Sinn als Attribute des Textes selbst aufgefaßt werden, treten Autorintentionen in der Theorie und Praxis interpretativer Forschung in den Hintergrund. Zwar können Texte generell als Objektivationen sprachlichen Handelns gelten. Dieses Handeln wird nun aber nicht mehr (nur) als intentionale Zwecktätigkeit eines autonomen Subjektes begriffen. Die Sinn- und Bedeutungsgehalte eines Textes werden vom intendierten Referenten abgelöst. Worte bedeuten damit stets mehr und anderes, als der Autor hat sagen wollen. Maßgeblich für die Interpretation ist nicht mehr die intentio auctoris, sondern die intentio operis. Interpretationen haben demgemäß danach zu suchen, was ein Text „in bezug auf seine eigene kontextuelle Kohärenz und auf die Signifikationssysteme sagt, auf die er sich bezieht" (Eco, 1992, 35). Diese Auffassung läßt sich in verschiedenen Theorierahmen ganz unterschiedlich konkretisieren. Entsprechend unterscheiden sich die jeweiligen Methodologien und Methoden der Textanalyse. Beispielsweise kann an folgende drei Traditionen gedacht werden: Der Text in seiner sachbezogenen Sinn- und Bedeutungshaftigkeit rückt in der sprachontologisch fundierten philosophischen Hermeneutik Gadamers, in verschiedenen Varianten des Strukturalismus und in bestimmten Ansätzen der Semiotik ins Zentrum des Blickfeldes. In der philosophischen Hermeneutik und in manchen semiotischen Ansätzen wird die Konzentration auf die intentio operis, wiederum auf je spezifische Weise, von Überlegungen flankiert, die von einer ausschließlich an Textmerkmalen interessierten Theorie und Praxis der Interpretation nicht integriert werden können. Die Sinn- und Bedeutungsgehalte von Texten werden in diesen Ansätzen manchmal nämlich auch als Produkt eines geschichtlich situierten Rezeptionsund Verstehensaktes untersucht. In Gadamers philosophischer Hermeneutik, auf deren Diskussion ich mich in diesem Kapitel beschränke, ist dies offenkundig. Speziell von dieser Variante hermeneutischen Denkens kann nicht zuletzt die
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Theorie, Methodologie und Methodik einer interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie profitieren. 27 Gadamer vertritt die Auffassung, daß jeder Interpret „mit der grundsätzlichen Unabschließbarkeit des Sinnhorizontes rechnen muß, in dem er sich verstehend bewegt" (Gadamer, 1986a, 355). Und er konstatiert: „Die Aufgabe des Verstehens aber geht in erster Linie auf den Sinn des Textes selbst" (ebd., 21). Dies ist freilich ganz anders gemeint als Hirschs Aussage, nach der es um eine „Entsprechung zwischen Interpretation und durch den Text wiedergegebenem Sinn" geht (Hirsch, 1972, 26), da Hirsch den Textsinn ja mit der intentio auctoris identifiziert. Ganz anders Gadamer: er sieht zunächst in der Schriftlichkeit des Textes keine „bloße Hinzufugung, die an dem Fortgang mündlicher Überlieferung qualitativ nichts änderte" (Gadamer, 1986a, 395). Just der Schriftcharakter des Textes fuhrt das Verstehen nämlich weg vom Verstehen der Intention des Autors und weg vom Blick auf einen „ursprünglichen Leser", wie ihn der Verfasser einst vor Augen gehabt haben mag. Das Interpretieren und Verstehen von Texten wird von der Kontingenz des Ursprungs und der ersten Leserschaft radikal abgelöst. „Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers", schreibt Gadamer (ebd., 399), „repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfüllt." Und dieses Verstehen kümmert sich allein um die Sache, vor die sich der einen Text lesende, befragende und um Verständnis bemühte Interpret gestellt sieht; dieser will nicht den Autor, sondern allein den Text in dem verstehen, „was er sagt" (ebd., 396). Was aber heißt hier „Verstehen"? Gadamers philosophische Hermeneutik setzt die von Heidegger (1976) Mitte der zwanziger Jahre eingeleitete ontologische Wende der Hermeneutik fort.28 Die ontologisch fundierte, „philosophische" Hermeneutik grenzt Gadamer strikt von den methodologisch-technisch orientierten Interpretationslehren und Interpretationsanweisungen ab. Ihr Anspruch ist tiefer angesetzt und zugleich umfassender. Die philosophische Hermeneutik verleiht dem Verstehen eine universal-ontologische Struktur, welche es verbietet, im Zusammenhang der Hermeneutik allein über die Methodologie und Methodik der interpretativen Wissenschaften zu sprechen. Verstehen ist
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Dies gilt gewiß auch für die Semiotik und den Strukturalismus. Allerdings bin ich insbesondere gegenüber szientistischen Ausprägungen des strukturalistischen Ansatzes skeptisch. Die Entscheidung, Gadamers Ansatz zu diskutieren, ist gewiß auch eine persönliche Wahl, die mit meiner vergleichsweise größeren Vertrautheit mit der philosophischen Hermeneutik zu tun hat. Die sachlichen Argumente, die zeigen, warum dieser Ansatz für die Handlungs- und Kulturpsychologie von Interesse ist, hoffe ich im folgenden nachvollziehbar zu machen.
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Gadamer selbst hebt hervor, daß vor Heidegger am ehesten Nietzsche als Wegbereiter jener Fragen gelten könne, deren Bearbeitung zur anti-metaphysischen, (sprach-) ontologischen Wendung der Hermeneutik führte (ebd., 262). Nietzsches Polemik gegen alle vermeintlichen „Tatsachen an sich" ist bekannt; die Betonung der konstitutiven Rolle der Interpretation ist bei Nietzsche nicht zuletzt an eine Befreiung der Sprache aus ihrer Dienerfunktion im Zeichen der adaequatio intellectus ad rem gebunden (vgl. Boehm, 1985, 15ff.).
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demnach primär etwas anderes, als im Kontext wissenschaftlicher Selbstverständigung angenommen wird. Wie Gadamer im Anschluß an Heideggers „Hermeneutik der Faktizität" schreibt: „Verstehen ist nicht ein Resignationsideal der menschlichen Lebenserfahrung im Greisenalter des Geistes, wie bei Dilthey, es ist auch nicht, wie bei Husserl, ein letztes methodisches Ideal der Philosophie gegenüber der Naivität des Dahinlebens, sondern im Gegenteil die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, das In-der-Weltsein ist" (Gadamer, 1986a, 264). Am selben Ort heißt es: „Vor aller Differenzierung des Verstehens in die verschiedenen Richtungen des pragmatischen oder theoretischen Interesses ist Verstehen die Seinsart des Daseins, sofern es Seinkönnen und 'Möglichkeit' ist."29 Heidegger „ersetzt" Husserls transzendentales Ego und apodiktisches Selbstbewußtsein durch das Dasein, das nun nicht mehr als potentieller Statthalter der phänomenologischen, eidetischen Reduktion, sondern als geworfener Entwurf inmitten einer materiellen, sozialen, kulturellen und geschichtlichen Welt begriffen wird. Gadamer greift diese Betrachtungsweise auf. In Heideggers Fundamentalanalyse des Daseins wird „Verstehen" also nicht als eine bloß epistemische, kognitive Operation aufgefaßt. Die im Verstehen erreichbare Einsicht in sinn- und bedeutungsstrukturierte Wirklichkeiten, namentlich das in der Aussage sich artikulierende intelligere, gilt in Heideggers Hermeneutik des Daseins als etwas Sekundäres, „Abkünftiges". Zuallererst ist das Verstehen von dessen Vorstruktur her zu begreifen, die in der Existenz selbst verwurzelt ist. Diese Vorstruktur meint, so Grondin (1991, 121), „daß sich das menschliche Dasein durch eine ihm eigene Ausgelegtheit charakterisiert, die vor jeder Aussage liegt - eine Ausgelegtheit, deren fundamentaler Sorgecharakter die einebnende Tendenz des propositionalen Urteils zu verhüllen droht." Verstehen wird damit erst in zweiter Linie mit einem Wissen, Glauben oder Meinen verknüpft. Zunächst einmal ist es die elementare Vollzugsform des Daseins selbst. Es gehört zu einer Praxis, in die Menschen „geworfen" sind und in der sie sich auf ihre Möglichkeiten hin entwerfen. Solche Entwürfe werden primär nicht in Aussagen artikuliert. Vielmehr geht es dabei im Grunde um ein Können, ein vorprädikatives Sich-auskennen und Mit-etwas-zurechtkommen. Fundamental dafür ist, so Heidegger, die Sorge des Daseins um sich selbst. Das in unausdrückliches Verstehen eingebettete Sich-Verhalten von Menschen ist von der Sorge bestimmt. Es ist evident, daß ein derartiger Ansatz der seit Schleiermacher und Dilthey dominierenden Auffassung, die Hermeneutik habe den methodologisch zu begründenden Geisteswissenschaften eine methodische Kunstlehre oder Technik des Interpretierens und Verstehens zur Verfügung zu stellen, zuwiderläuft. Heideggers Hermeneutik der Faktizität, wie er sie „in voller Deutlichkeit" (Grondin) in einer gleichnamigen Vorlesimg aus dem Jahre 1923 vorstellte,
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Die Unterscheidung zwischen einem ursprünglichen Verstehen, das die Vollzugsform des menschlichen Daseins schlechthin ist, und davon abgeleiteten Formen des Verstehens von „etwas" wird häufiger in Frage gestellt. Insbesondere wird bezweifelt, ob es zweckmäßig ist, in beiden Fällen schlicht von „Verstehen" zu sprechen (vgl. etwa Graeser, 1993).
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setzt radikaler und universaler an. Der Universalitätsanspruch bleibt in Heideggers sprachontologisch inspirierter „Philosophie der K e h r e " und der gerade auch darauf sich stützenden philosophischen Hermeneutik Gadamers erhalten. Allerdings wird dabei die Sprache von beiden Autoren als „Haus des D a s e i n s " dahingehend mystifiziert, daß dieses „Haus" nicht nur mit den Attributen einer „Behausung", sondern mit denen eines allgemeinen „Superakteurs" ausgestattet wird. Frank ( 1 9 8 3 , 18) ist zuzustimmen, wenn er in dem vielzitierten, häufig variierten Diktum „die Sprache spricht sich selbst" eine verdinglichte R e d e erkennt, durch die eine „Eigenschaft des sprechenden Subjekts ... nunmehr zu einer Eigenschaft der Sprache" hypostasiert wird. Er sieht in dieser Hypostasierung zu Recht eine Art „Wiederkehr des Verdrängten". Demgegenüber ist darauf zu beharren, daß die Sprache „kein S c h i c k s a l " ist, sondern „von uns gesprochen" wird (ebd., 11). Die Entthronung des Subjekts beim späten Heidegger und in Gadamers Hermeneutik erscheint als eine bloße Umkehrung einer Metaphysik des Subjekts, die diesem in der Tat zuviel zugemutet hat. W o die Abdankung des Subjekts mit einer ontologischen Inthronisation der Seinsgeschichte und der Sprache einhergeht, die nun - anstelle des sprechenden Menschen - gleich „selbst spricht", werden in fragwürdiger W e i s e Attribute des autonomen Subjekts in die Sprache projiziert - womit die beklagte Metaphysik doch eher verschoben als aufgehoben oder „verwunden" ist (vgl. auch Grondin, 1 9 9 1 , 133ff.). B e zeichnenderweise greift Kögler ( 1 9 9 2 ) in seinem Entwurf einer zeitgemäßen kritischen Hermeneutik auf Heideggers „frühe" Analyse der Vorstruktur des Verstehens zurück. E r modifiziert dabei Heideggers B e g r i f f e - namentlich diejenigen der Vorhabe, des Vorgriffs und der Vorsicht - so, daß sie als Strukturmomente für eine dialogisch verstandene Interpretationssituation gelten können, „ohne einerseits in die Aporien der Daseinshermeneutik und des praktischen Holismus zu geraten oder andererseits den schlechten Idealismus der Sprachontologie mitmachen zu müssen" (Kögler, 1 9 9 2 , 7 7 ) . Festzuhalten ist: Gadamer formuliert seine Hermeneutik unter dem Einfluß von Heideggers „frühen" Vorlesungen, in denen, wie es allenthalben heißt, mehr von Hermeneutik die Rede war als in seinen für die Publikation verfertigten Schriften; einige wichtige Aspekte dieser frühen Überlegungen, die Gadamers Universalhermeneutik mit auf den W e g brachten, waren - a u f wenige Zeilen konzentriert (vgl. Grondin, 1991, 119ff.) - als Existentialhermeneutik sodann in „Sein und Z e i t " entfaltet. Unter dem Einfluß des „späten" Heidegger trägt Gadamer schließlich maßgeblich zu j e n e r Ausrichtung der Hermeneutik bei, die er in „Wahrheit und Methode" (Gadamer, 1986a, 3 8 7 f f . ) unter dem Titel einer „ontologischen Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der S p r a c h e " eingehend vorstellt. Insgesamt erweist sich das Verstehen als ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, und als solche gehört es untrennbar zur Lebensweise des Menschen. Hermeneutik ist demnach ein „universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische B a s i s der sogenannten Geisteswissenschaften" (ebd., 4 7 9 ) . W a s Gadamers Hermeneutik bezweckt, ist demzufolge gerade nicht, „ein Verfahren des Verstehens zu entwickeln, sondern die Bedingungen aufzu-
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klären, unter denen Verstehen geschieht. Diese Bedingungen sind aber durchaus nicht alle von der Art eines 'Verfahrens' oder einer Methode, so daß man als der Verstehende sie von sich aus zur Anwendung bringen vermöchte - sie müssen vielmehr gegeben sein" (ebd., 300f.). Wie ich darlegen werde, gründet Gadamer - mit dem späten Heidegger - den sich jedem verstehenden Subjekt entziehenden Geschehenscharakter des Verstehens letztlich auf den Geschehenscharakter der Sprache. Die Grundzüge seiner Hermeneutik verdanken sich zunächst jedoch einer Reflexion auf den Begriff der geschichtlichen Erfahrung. Gadamer zieht „aus der Konzeption der Seinsgeschichte (sensu Heidegger, J.S.) Konsequenzen für das Selbstverständnis des geschichtlich situierten Bewußtseins und die es ausdrückenden Geisteswissenschaften" (Grondin, 1991, 10). Dabei widerspricht die philosophische Hermeneutik dem methodischen Denken der Wissenschaften „gründlich", und dieser Widerspruch stellt bis heute eine Provokation dar, die auch auf die methodisch verfahrenden, interpretativen Disziplinen bereichernd wirken kann.
2.5.2 Verstehen und Methode Es liegt auf der Hand, daß deijenige, der über Gadamers Hermeneutik spricht, wo es doch um eine Theorie, Methodologie und Methodik der handlungs- und kulturpsychologischen Interpretation geht, um ein paar klärende Hinweise nicht herumkommt. Einem gängigen Mißverständnis zum Trotz hat Gadamer keineswegs behauptet, Wahrheit und Methode schlössen sich gegenseitig aus. Er hat diesem Mißverständnis vielleicht nicht entschieden genug vorgebeugt (vgl. Boehm, 1985). Selbst erlegen ist er ihm jedoch nie. Es ist falsch, den Titel seines opus magnum als Alternative - Wahrheit oder Methode - zu lesen. An eine simple Gegenüberstellung hat der Autor nicht gedacht - im Buch jedenfalls ist davon nicht die Rede. Habermas vertrat ohne überzeugende Gründe die einst einflußreiche Meinung, daß in der philosophischen Hermeneutik „noch die methodische Verfremdung des Gegenstandes, die ein sich reflektierendes Verstehen von der kommunikativen Erfahrung des Alltags unterscheidet, suspendiert wird. Die Konfrontation von 'Wahrheit' und 'Methode' hätte Gadamer nicht verleiten dürfen, die hermeneutische Erfahrung abstrakt der methodischen Erkenntnis im ganzen entgegenzusetzen" (Habermas, 1971, 46). Gadamer selbst stellt klar, daß er das „und" im Titel seines Hauptwerks nie iterativ aufgefaßt habe. So schreibt er im Vorwort zur zweiten Auflage von „Wahrheit und Methode", es sei ihm „nicht von ferne in den Sinn gekommen, die Unerläßlichkeit methodischer Arbeit innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften zu leugnen" (Gadamer, 1986a, 439). In „Wahrheit und Methode" finden sich zahlreiche Formulierungen, die ganz unzweideutig methodisches bzw. methodisch geführtes Bewußtsein, methodische Kontrolle und dergleichen fordern - auch dort, wo es um hermeneutische Erfahrung und Erkenntnis geht (z.B. ebd., 274). Schon dies nimmt dem besagten Vorwurf den Wind aus den Segeln. Ich weise auch noch einmal auf die bereits zitierte Feststellung hin, daß, so Gadamer, „nicht alle" Bedingungen, unter denen das Verstehen steht und
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sich vollzieht, „von der Art eines 'Verfahrens' oder einer Methode" sind (ebd., 300, Hervorh. von mir, J.S.), was ja heißt: einige durchaus! Sodann möchte ich daran erinnern, daß Gadamer nie behauptete, daß in den interpretativen Wissenschaften objektivierende Methoden generell unangebracht und kontraproduktiv seien. In der Diskussion mit Habermas konzedierte er etwa, daß die Psychoanalyse zu jenen Disziplinen gehöre, die sich objektivierender Methoden bedienen könnten und sollten (Gadamer, 1971, 292ff.; das war vielleicht ein eher fragwürdiges Zugeständnis: vgl. Ricceur, 1969). Daß der philosophischen Hermeneutik nicht pauschal Methodenfeindlichkeit unterstellt werden kann, zeigt schließlich auch ihre Wirkungsgeschichte. Gadamers Ansatz wurde längst von verschiedenen Fachwissenschaften adaptiert, ohne daß sich diese von methodischen Regeln und Verfahren verabschiedet hätten. Die philosophische Hermeneutik liefert den interpretativen Wissenschaften zwar keine Verfahren an die Hand. Neben grundlegenden Klärungen interpretativer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, die für die wissenschaftliche Praxis aufschlußreich und teilweise unmittelbar relevant sind, bietet sie aber eine Fülle von Anregungen für das methodische Denken und Forschen. Diese Anregungen kann man aufnehmen und weiterführen. Dies ist natürlich geschehen, wenngleich der Einfluß Gadamers nicht immer „direkt" sichtbar ist. So ist beispielsweise im Kontext der heutigen „qualitativen Sozialforschung" von einem „Prinzip der Offenheit" die Rede (Hoffmann-Riem, 1980; vgl. bereits Thomae, 1969, 145). Gadamer expliziert dieses Prinzip als conditio sine qua non hermeneutischen Denkens (Gadamer, 1986a, 273), wobei man sich unweigerlich an aktuelle methodologische Debatten in der Soziologie, Psychologie und anderen Fachgebieten erinnert fühlt. „Offenheit" gilt dort als unabdingbares methodologisches Prinzip einer um methodisches Fremdverstehen bemühten, empirischen Forschung. Dabei herrscht im übrigen Konsens darüber, daß eine Orientierung an diesem handlungsleitenden Prinzip nicht mit der vollständig regelgeleiteten Anwendung strenger, Objektivität verbürgender Methoden verwechselt werden darf. Dasselbe gilt für andere Prinzipien, etwa das „Prinzip der Kommunikation" oder dasjenige der „Fremdheit" (Hoffmann-Riem, 1980; Straub, 1989, 213ff.). Auch diese sind Gadamer vertraut wie kaum jemand anderem sonst. Ein letztes Beispiel: worin könnten die vielfach vorgetragenen Argumente gegen die Objektivierung des Menschen als „Versuchsobjekt" in Experimenten und anderen wissenschaftlichen Veranstaltungen besser begründet sein als in einer Reflexion auf die Erfahrung, die zum Schluß kommt, daß sich keine hermeneutische Erfahrung an Objekten bilden läßt, sondern allein im Dialog mit einem Du, mit Personen also, die niemals nur als Mittel für die eigenen Ziele gebraucht, sondern als Zwecke an sich betrachtet und anerkannt werden sollen? Auch die kommunikativ strukturierte, empirische Forschung in den interpretativen Wissenschaften ist eben, was alle hermeneutische Erfahrungsund Erkenntnisbildung ist, nämlich ein „moralisches Phänomen" (ebd., 364ff.). Mit anti-methodischen Idealen und Illusionen haben solche Einsichten nichts zu tun. Unbestreitbar ist allerdings, daß Gadamer von einer beträchtlichen Skepsis gegen eine Wissenschaft inspiriert ist, die, dem berühmten Diktum Heideggers zufolge, ,.nicht denkt". Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß zwi-
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sehen dem verabsolutierten Methodenbewußtsein der neuzeitlichen Wissenschaften und dem Wahrheitsbegriff der Gadamerschen Philosophie ein prekäres, unauflösbares Spannungsverhältnis besteht (Grondin, 1982). Interpretieren und Verstehen sind nach Gadamer eben nicht auf ein kognitiv-methodisches Erschließen von bloßen Aussagesätzen, die Wirklichkeiten objektiv repräsentieren, zu reduzieren. Verstehen folgt nicht einer apophantischen und durchgängig methodisierbaren, sondern einer hermeneutischen „Logik". In diesem Geist, der sich kritisch gegen die Verabsolutierung des Ideals methodischen Denkens und des damit verbundenen Objektivitätsideals der Wissenschaften wendet, ist die philosophische Hermeneutik verfaßt. Es ist die Idee der Objektivität, die die philosophische Hermeneutik - wie der frühe Heidegger gesagt hätte - so „destruiert", daß ihre naiven Implikationen und ihre Unangemessenheiten im Bereich der Erforschung des menschlichen Handelns, der Geschichte und der Kultur sichtbar werden. Diesbezüglich wendet sich Gadamer auch kritisch gegen die Vertreter der sogenannten „traditionellen" Hermeneutik. Als Ausgangspunkt seiner eigenen Bemühungen nimmt er provokativ eine Abhandlung von Helmholtz her womit er die Beiträge zur Begründung einer eigenständigen Methodologie und Methodik der Geisteswissenschaften eines Droysen, Dilthey und der Neukantianer zunächst einfach übergeht, da er auch deren Bemühungen im Lichte der kritischen Frage liest, ob „das Verlangen nach Methoden, die allein Allgemeingültigkeit gewährten, in den Geisteswissenschaften wirklich am Platze" sei (Grondin, 1991, 140).30 Gadamer stellt den naturwissenschaftlichen Methoden nicht die geisteswissenschaftlichen gegenüber. Er bezweifelt radikaler, daß sich die Eigenheiten verstehender Wissenschaften überhaupt durch ein eigenständiges Methodenbemißtsein angemessen artikulieren lassen. Es sind vielmehr andere Charakteristika der Geisteswissenschaften bzw. andere Bedingungen, unter denen diese stehen und die diesen ihr spezifisches Profil verleihen. Methoden stehen bei Gadamer, ohne pauschal abgelehnt zu werden, unter einem Vorbehalt und Verdacht. Sie verleihen, so Gadamer, dem Anwender eine trügerische Sicherheit und verleiten zu allzu reduktiven Vorgehensweisen. Sie ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich, wo es doch ebenso wichtig wäre, methodisch nicht (vollständig) kontrollierbare Voraussetzungen und Bedingungen der Interpretation und des Verstehens zu bedenken. Die Methodenobsessionen spielen zudem dem Objektivismus, den Gadamer vehement angreift, in die Hände, und sie sind mit jener von Heidegger „destruierten" und „verwundenen" Philosophie des Selbstbewußtseins verwoben, die auch die deutenden und interpretierenden Akteure in fragwürdiger Weise als autonome Subjekte begreift. Alle diese Punkte scheinen mir für eine interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie von größtem Interesse zu sein. Methodenkritisches Bewußt-
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Zu Gadamers teilweise umstrittener Rezeption hermeneutischer Vorläufer vgl. z.B. Rodi (1990, 89-101), der die Unterscheidung zwischen traditioneller und philosophischer Hermeneutik überhaupt ablehnt, oder Frank (1977), der Schleiermachers Ansatz gegen Gadamer verteidigt.
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sein ist auch in dieser Disziplin kaum weniger bedeutsam als Methodenbewußtsein und methodische Praxis. Der Argwohn gegenüber (vermeintlich) Dinghaftem und (methodisch) Verfügbarem kann bisweilen vor vergeblichen Mühen bewahren oder nachträglich heilsam sein. Wer diese Erfahrung gemacht hat, ist nicht zuletzt vor dem Irrtum geschützt, Interpretationskompetenz bestünde allein in der Beherrschung von Verfahren. Sie gründet ebensosehr in Handlungsund Lebenserfahrungen, die wir machen und reflektieren, nicht aber herstellen können - schon gar nicht durch die bloße Anwendung einer Methode.
2.5.3 Verstehen und Vorverständnis Zu den zentralen Einsichten Gadamers gehört, daß jedes Deuten und Interpretieren in einem unhintergehbaren Vorverständnis fundiert ist, das alle Akte der Verständigung und des Verstehens auf untergründige Weise bestimmt und leitet. Wird dies akzeptiert, muß die Ansicht, Interpreten hätten es mit einem von den eigenen „kognitiven Strukturen" unabhängigen Gegenstand zu tun, aufgegeben werden. Das Interpretandum ist kein Gegenstand, der, völlig losgelöst von pragmatisch-kontingenten Bedingungen, von einem autonomen Handlungssubjekt, das strikt methodisch vorgeht, objektiv faßbar ist. Bei seiner Begründung dieser Behauptung setzt Gadamer an der transsubjektiven Struktur des Vorverständnisses an. Das Vorverständnis kommt „von weit her". Diese Herkunft ist im Grunde ein Geschehen, das außerhalb der Reichweite des handelnden Subjektes angesiedelt ist. Die transsubjektive Struktur des Vorverständnisses ist in der Geschichtlichkeit des Menschen verwurzelt. Kein Interpret kann sich dem Traditionszusanunenhang, dem er zugehört, ohne über ihn verfugen zu können, entziehen. Die „innere Geschichtlichkeit" der Erfahrung ist ein Kennzeichen jeder Interpretation. Interpretation und Verstehen sind unweigerlich von historischen Erfahrungen und Erwartungen bestimmt, die der Interpret mit anderen teilt und dennoch nicht zu kennen braucht.31 Aus dem wirkungsgeschichtlichen Überlieferungszusammenhang kann sich niemand herausstehlen, und wer wirklich versteht, tut ohnehin, so Gadamer, das gerade Gegenteil. Diesem Faktum gegen-
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Ich verweise auf Kosellecks Bestimmung der Begriffe Erfahrung und Erwartung, in die gerade auch diese nicht bewußten Komponenten eingehen: Erfahrungen können demnach aufgefaßt werden als „gegenwärtige Vergangenheit, deren Erlebnisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsentiert sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben. ... Ähnliches läßt sich von der Erwartung sagen: auch sie ist personengebunden und interpersonal zugleich, auch Erwartung vollzieht sich im Heute, ist vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das NochNicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare. Hoffnung und Furcht, Wunsch und Wille, die Sorge, aber auch rationale Analyse, rezeptive Schau oder Neugierde gehen in die Erwartung ein, indem sie diese konstituieren" (Koselleck, 1985, 383).
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II. Interpretation
über kann man sich allenfalls naiv oder reflexiv verhalten. Ändern läßt sich daran nichts, jedenfalls nichts Prinzipielles: wer versteht, ist in die Wirkungsgeschichte eingebunden und setzt die Tradition fort.32 Damit ist ein wichtiger Aspekt markiert, der konkretisiert, wieso das Verstehen transsubjektiv strukturiert ist: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln. Das ist es, was in der hermeneutischen Theorie zur Geltung kommen muß ..." (Gadamer, 1986a, 295). Kögler (1992) legt in seiner systematischen Analyse des transsubjektiven Geschehenscharakters dar, welche weiteren Argumente Gadamers berücksichtigt werden müssen, um diese Eigenheit des Verstehens genauer begreifen zu können. Wichtig ist der Hinweis auf den holistischen Charakter des für alles Interpretieren und Verstehen konstitutiven Vorverständnisses. Dadurch macht Gadamer ,jede reflexive Leistung des Subjekts abhängig ... von dem symbolischen Kontext einer historischen Tradition. Der entscheidende Punkt ist, daß das Subjekt für sich selbst nicht in der Lage ist, die es intern bestimmenden Grundannahmen in einer thematisch offenen Weise vor sich zu bringen. ... Das hermeneutische Bewußtsein bleibt also als Bewußtsein abhängig von dem umgreifenden Sinnhorizont, der seine Leistungen ebenso bestimmt wie dieser nie restlos und auf einmal in das Bewußtsein einholbar ist" (ebd., 23). Die besagten Hintergrundannahmen bilden jenes tacit knowledge, das allem Deuten, Interpretieren und Verstehen implizit ist und, zumal für das betreffende Subjekt selbst, wenigstens teilweise stets implizites Hintergrundwissen bleiben wird. Jeder Interpret, jede Generation, jede Zeit muß sich ihr eigenes Verständnis von Vergangenem und Gegenwärtigem schaffen und auf dieser Grundlage Erwartungen ausbilden. Dies geschieht zwar in der Perspektive einer Gegenwart. Diese aber ist selbst schon vom gesamten Erfahrungsschatz der Geschichte durchdrungen. Damit ist, wie Kögler betont, die Struktur des sogenannten hermeneutischen Zirkels ontologisch bestimmt und nicht bloß methodologisch. Es geht Gadamer (mit Heidegger) nicht allein darum, mit methodologischen Argumenten nachzuweisen, daß die Teile eines Textes oder sonstigen symbolischen Zusammenhangs nur verstanden werden können, indem ihre Bedeutung für das Ganze, zu dem sie gehören, geklärt wird, und daß umgekehrt
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Wie Auerochs (1995) resümiert, läßt sich Gadamers These auf zwei theoretischen Ebenen bestreiten. Zum einen kann der empirische Gehalt von Gadamers Konzeption der Wirkungsgeschichte angegriffen werden. So mag argumentiert werden, daß unter Bedingungen der Moderne Traditionen allenfalls gebrochen fortgesetzt werden. Die Kraft der Reflexion, die in den Traditionsfluß eingreife, indem sie nach dessen Legitimität frage, führe zu Distanz gegenüber dem Althergebrachten und schließlich zu Innovation. Diesem Argument könnte allerdings dadurch begegnet werden, daß auch die moderne Identität immer nur partiell zur Kritik und Distanzierung von Tradition in der Lage ist; den totalen Bruch muß man in der Tat auch unter Bedingungen der Moderne nicht fordern, ja nicht einmal als möglich anerkennen. Auf der zweiten Ebene der Kritik wird Gadamers Traditionsbegriff selbst unter die Lupe genommen. Just dies unternimmt Auerochs in überzeugender Weise.
2. Sprache, Text, Interpretation
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das Ganze nur dadurch faßbar ist, daß die Bedeutung seiner Teile und deren Interrelationen erschlossen werden. In seiner ontologischen Fassung besitzt der hermeneutische Zirkel keinen formal-methodologischen Sinn. Das sachliche Vorverständnis des Interpreten selbst kann nämlich als jenes inhaltlich bestimmte Ganze angesehen werden, ohne das ein Text - als ein zu verstehender Teil - nicht verstanden werden kann. Dieses Vorverständnis ist freilich nichts Subjektives. Es ist der Niederschlag bisheriger geschichtlicher Erfahrung, eben die Tradition. Es sind die Vorentwürfe oder Vorurteile, die jedem Menschen von der Tradition her, in die er hineingeboren wurde, zuwachsen. Geschichtlich konstituierte Vorurteile fungieren in der philosophischen Hermeneutik als quasi-transzendentale Bedingungen allen Verstehens. Vorurteilsstrukturierte Sinnerwartungen stehen am Anfang allen Deutens, Interpretierens und Verstehens; sie bilden deren principium und können nicht einfach oder gar vollständig beseitigt werden. Darum kann es in vernunftorientierter Einstellung nicht gehen. Ein solches Ansinnen ist aus prinzipiellen Gründen illusionär. Es sollte darum aber auch gar nicht gehen, weil, so Gadamer, die Vergangenheit und Tradition auch dem kritisch-reflexiven Bewußtsein der modernen Gegenwart noch etwas zu sagen haben. In jedem Fall gilt: Deuten, Interpretieren und Verstehen vollziehen sich nur durch die jeweils konstitutiven Vorurteile hindurch. Diese lassen sich nun zwar nicht beseitigen, aber strekkenweise doch explizieren oder „ausarbeiten". Ich komme darauf zurück. Gadamers Rehabilitierung des Vorurteils hat bekanntlich heftigen Einspruch provoziert. Insbesondere Habermas (1971) stellte den Universalitätsanspruch einer Hermeneutik, welche der Tradition und dem Vorurteil den Vorrang vor der Kraft kritischer Reflexion einzuräumen scheint, radikal in Frage." Gadamers berühmtes Diktum, daß es, fernab von allen Ansprüchen auf ein besseres, überlegenes Verständnis eines Textes, völlig genüge zu sagen, „daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht" (Gadamer, 1986a, 302), scheint den zu interpretierenden Text in die überragende Stellung einer fraglosen Autorität zu hieven. Mit dieser Position könnte sich die zeitgenössische Handlungs-
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Habermas' Kritik sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die philosophische Hermeneutik für seine Arbeiten zur Theorie und Methodologie der Sozialwissenschaften seit jeher bedeutsam war (vgl. Habermas, 1967). Aufschlußreich ist auch Grondins (1991, 167f., 171) Hinweis, daß Habermas' Uni Versalpragmatik und schließlich die Theorie des kommunikativen Handelns die universelle Bedeutung sprachlicher Verständigung in einer Weise hervorhebt, die den alten Streit um den Universalitätsanspruch der Hermeneutik in neuem Licht erscheinen läßt. In gewisser Weise kehrt Habermas dadurch zu der im Literaturbericht von 1967 noch affirmativen Lesart des Universalitätsanspruchs der Hermeneutik zurück. Grondin scheint mir die Sache zu treffen, wenn er Habermas vorhält, das Erbe der philosophischen Hermeneutik bisweilen etwas zu verdecken, wenn er sich bei der sprachtheoretischen Grundlegung der Theorie des kommunikativen Handelns in jüngerer Zeit nicht mehr auf Gadamer, sondern auf Wittgenstein bezieht. Zurecht moniert Grondin (1991, 172), daß Habermas „in seinen letzten Arbeiten die Hermeneutik zunehmend zum Geschäft der Erhaltung 'kultureller Überlieferung' banalisiert und ihre universelle Ansetzung der Sprachlichkeit aus dem Auge verloren hat. Wie dem auch sei, die hermeneutische Grundkategorie der Verständigung erfährt bei Habermas eine neue Universalisierung."
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II. Interpretation
und Kulturpsychologie aus naheliegenden Gründen nicht einverstanden erklären. Ist es die Position, die die philosophische Hermeneutik für den Text und die in ihm sich vermittelnde Vergangenheit und Tradition vorsieht? Zunächst einmal ist es so, daß Gadamers Begriff des Vorurteils primär gerade nicht das meint, woran man zunächst denkt. Vorurteile werden von Gadamer nicht als Bestandteile von Selbst- und Weltauffassungen betrachtet, die unzutreffend, irgendwie falsch sind und das Denken und Handeln der Betroffenen irreleiten. Es geht ihm also nicht um Irrtümer, denen Personen erliegen und derer sie sich ohne besondere aufklärerische Anstrengungen nicht bewußt werden können (ebd., 275ff). Vorurteile als unangemessene Urteile über diese oder jene Sachverhalte interessieren die philosophische Hermeneutik weniger (das heißt keineswegs: überhaupt nicht). Als Vorstruktur des praktischen und epistemisch-kognitiven Verstehens sind Vorurteile nicht in erster Linie Irrtümer, sondern stillschweigend wirksame Hintergrundannahmen. Diese Bestimmung erinnert an Wittgensteins Ausdruck des „Weltbildes", zumal auch dieser alle aufklärerischen Überlegenheitsattitüden von sich weist, sobald er über Weltbilder spricht. Noch das Sprachspiel, in dem wir zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden, gehört in einen umfassenderen intersubjektiven Zusammenhang, und dies ist auch bei Wittgenstein „der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide" (Wittgenstein, 1984b, 139; vgl. die Absätze 95-99), eben das Weltbild (vgl. Schulte, 1989, 221 f f ) . Wittgenstein entzieht das Weltbild als einen durch Tradition vermittelten Sinnhorizont - noch mehr als Gadamer das Vorverständnis der Möglichkeit radikaler, kritisch-rationaler Reflexion. Für Wittgenstein ist ein Weltbild ein mit der Praxis verwobener Gesamtzusammenhang von Auffassungs- und Urteilsweisen, ein System wie eine „Mythologie". Als ganzes läßt es sich ohnehin nicht thematisieren, und auch einzelne Annahmen und Ansichten innerhalb dieses Systems lassen sich nicht ohne weiteres explizieren, kritisieren und ersetzen. Es beruht - zumindest in den wesentlichen Bestandteilen - nicht auf empirischer Erkenntnis und auch nicht auf Einsichten, die sich unmittelbar aus alltagsweltlicher Erfahrung ergeben hätten, schon gar nicht aus rational geprüfter Erfahrung. Weltbilder können durch wissenschaftliche oder alltagsweltliche Erfahrung nicht falsifiziert werden; sie sind rational argumentierender Kritik weitgehend entzogen. Wie Schulte prägnant zusammenfaßt, hat der „Wechsel zu einem anderen Weltbild ..., ebenso wie die Annahme einer neuen Mythologie, Bekehrungscharakter" (Schulte, 1989, 225). Konkurrenz zwischen Weltbildern provoziert Kämpfe, die durch Macht und Überredung entschieden werden. (Soweit geht Gadamer keineswegs.) Weltbilder sind der tragende Rahmen, innerhalb dessen die Möglichkeit, zwischen wahr und falsch, rational und irrational zu differenzieren, angesiedelt ist. Nur auf dem Boden eines unhintergehbaren Weltbildes haben Fragen und Auseinandersetzungen, Kritik und Rechtfertigung Halt. Dieser Halt ist, so Wittgenstein, niemals die durch vermeintliche Letztbegründungen gewährte Gewißheit einer alles fundierenden Vernunft. Weltbilder sind, wie Lebensformen und schon das einzelne Sprachspiel, gegeben und zwangsläufig hinzunehmen. Was für das Sprachspiel gilt,
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gilt auch für das Weltbild: „Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da - wie unser Leben" (Wittgenstein, 1984b, 232). Gadamer betont mit der Rehabilitierung der Vorurteilsstruktur allen Deutens, Interpretierens und Verstehens sowie der Ontologisierung und Universalisierung des hermeneutischen Zirkels die unhintergehbaren, insgesamt weder rational begründeten noch hinterfragbaren Voraussetzungen, die Interpreten notwendigerweise an Texte herantragen. Verstehen ist demnach immer eine Art von Vermittlung, in der Vergangenes und Gegenwärtiges, Fremdes und Eigenes ins Verhältnis zueinander treten. Die Wirkungsgeschichte, in der der Interpret steht, indem er bestimmte Lesarten eines Textes aktualisiert und bestimmte Verständnisse artikuliert, ist als ganze nicht explizierbar - allerdings ist sie auch keine ausschließlich und uneinholbar bewußtseinsexterne Instanz. Dieser Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit. Gadamer spricht vom wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein, womit gemeint ist, daß sich der Interpret seine aktuelle hermeneutische Situation im Rückblick auf die Geschichte klar zu machen versucht, um seine Interpretation zu kontrollieren. Dieses Bewußtsein reicht immer nur bis zu einem gewissen Punkt. Es ist zwangsläufig begrenzt. Die Forderung nach totalem wirkungsgeschichtlichem Bewußtsein wäre ebenso vermessen wie der (Hegeische) Anspruch auf absolutes Wissen (Gadamer, 1986a, 306). Im übrigen begreift Gadamer noch den reflexiven Akt, der auf wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und die Kontrolle der Interpretation abzielt, um der fraglichen Sache gerecht zu werden, eher als etwas Unverfügbares denn als bewußtes Handeln. Noch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist „mehr Sein als Bewußtsein" (Gadamer, 1967, 127). Betrachtet man den erörterten Aspekt eingehend, kommt man wohl nicht umhin, in der philosophischen Hermeneutik eine bis zum theoretisch-logischen Widerspruch reichende Spannung auszumachen. Deutlich wird das, wenn die zuletzt gegebene Charakterisierung des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins zusammen mit Gadamers Aufforderung gelesen wird, der Interpret möge sich um ein Bewußtsein wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge bemühen, um nicht naiv die Überlieferung fortschreiben zu müssen, sondern seine Analysen, soweit es eben geht, methodisch führen zu können. Das Schwanken zwischen handlungstheoretischem und ontologischem Denken signalisiert bereits der Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins selbst. Steht der Bewußtseinsbegriff doch unweigerlich für die eine oder andere Variante reflektierter Subjektivität, so verweist der Begriff der Wirkungsgeschichte auf ein transsubjektives Geschehen, an das kein subjektives Vermögen heranreicht. Wenn Gadamer auch das Bewußtsein von der Vorstellung eines reflexiven Handlungssubjekts lösen möchte, um Bewußtwerdung - mehr oder minder eindeutig - der Seinsgeschichte zuschlagen zu können, verwickelt er sich mit seiner Aufforderung, Interpreten mögen dieses tun und jenes lassen, in performative Selbstwidersprüche. Der naheliegende Vorschlag, das Interpretieren im vorgestellten terminologischen Sinn als kreatives Handeln zu begreifen, liegt auf der Hand (Kapitel 2.5). Nur so lassen sich wesentliche Einsichten Gadamers ohne die Last selbstwidersprüchlicher Implikationen bewahren. Man kann also
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II. Interpretation
formulieren: die unter dem Aspekt der Kreativität des Handelns begriffenen, bewußten Bemühungen und kritischen Urteile, durch die sich Interpreten ihrer Tradition vergewissern und sich von ihr vielleicht distanzieren, sind stets sekundär. Primär oder „immer schon da" sind die überlieferten Vorurteile und Vormeinungen, die durch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein des einzelnen immer nur partiell eingeholt, reflektiert und modifiziert werden können. Das ist und bleibt so, auch wenn es gute Gründe für die Auffassung gibt, daß sich Traditionen auf lange Sicht tiefgreifender umwälzen lassen, als es Gadamer konzediert. Traditionen lassen sich nicht einfach abschütteln, gewiß. On the long run versickert jedoch mancher Strom der Überlieferung, und ganze Vokabulare und Begriffssysteme, die die Überlieferung einst verbürgten und in Gang hielten, können nach und nach durch innovative Sprachspiele verdrängt und ersetzt werden. Rorty, der sich in mancherlei Hinsicht nicht zuletzt auf Gadamer beruft, führt dies mit Nachdruck vor Augen, wenn er seine radikal historistische und nominalistische Philosophie der schöpferischen Umwälzung von Traditionen formuliert (Rorty, 1989; vgl. insb. die Einleitung sowie das erste Kapitel).34 Die Gadamersche Analyse des Vorverständnisses zeigt, daß jedes Verstehen von etwas als etwas durch den Interpreten und die ganze geschichtliche Erfahrung, die sich im Interpreten bündelt und fortsetzt, vermittelt ist. Es ist nun auch klarer, wie die Einsicht in die Vorstruktur allen Deutens, Interpretierens und Verstehens jede objektivistische Devise und speziell die Absicht, Interpretanda als gleichsam dinghafte Objekte vom interpretierenden Subjekt abzutrennen, untergräbt. Gadamer arbeitet diese anti-objektivistische Sicht der Dinge genauer aus, indem er, ganz anders als Betti und Hirsch, das Problem der Anwendung oder Applikation gegen die methodologisch-methodischen Neutralisierungen des Verstehens als Problem der Interpretation selbst zurückgewinnt (Gadamer, 1986a, 312ff.). Es ist demnach gerade nicht so, daß sich zuerst eine von jeder situierten Subjektivität unabhängige, gleichsam neutrale Interpretation eines Textes ausformulieren läßt, und der Interpret erst im Anschluß darüber nachgrübelt, was ihm der Text in der konkreten Situation, in der er sich befindet und mit bestimmten Problemen herumschlägt, wohl sagen könnte. Interpretieren ist Applizieren. Die kognitiv-epistemische Funktion des Verstehens ist von der Anwendung der Interpretation nicht säuberlich zu trennen. Interpretieren heißt immer auch, eine Antwort auf Fragen zu geben, die sich der Interpret stellt. Interpreta-
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Rorty geht dabei programmatisch davon aus, daß Wahrheit „gemacht", nicht gefunden wird, und daß sich dieses „Machen" in der Sprache vollzieht, vor allem im Erzählen von (innovativen) Geschichten und metaphorischen Redeweisen. Er vereinfacht dabei allerdings manches, wenn er dem erfinderischen und schöpferischen, sich selbst erschaffenden Menschen huldigt. Fragwürdig ist etwa, daß er bisweilen so spricht, als spielten Argumente und rational begründete Auseinandersetzungen überhaupt keine (besondere) Rolle bei solchen Erneuerungen eines Vokabulars; als entzögen sich „Vokabulare" vollständig dem rationalen Diskurs, als verlören, erfanden oder übernähmen Individuen und Kollektive die Gewohnheit, bestimmte Worte zu benutzen oder zu vermeiden, ganz und gar ohne rationalen bzw. rational rekonstruierbaren Grund.
2. Sprache, Text, Interpretation
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tionen sind interessierte und motivierte Aktivitäten von Menschen, die in praktischer Einstellung um etwas besorgt sind. Auch in den handlungsentlasteten Situationen, in denen wissenschaftliche Interpretationen ausgearbeitet werden, ist dieser Zusammenhang niemals völlig abgerissen. Texte sagen jemandem in einer bestimmten Situation etwas - oder sie sagen gar nichts. Wenn Texte tatsächlich gar nichts sagen, vielleicht vollkommen unverständlich sind, sind sie unverständlich für diese oder jene Rezipienten. Sinn und Bedeutung finden sich also, wie in der Diskussion von Hirschs Interpretationstheorie bereits dargelegt, nur dort, wo etwas fiir jemanden bedeutsam ist. Sinn und Bedeutung werden auf der Basis handlungsleitender Strukturen der Bedeutsamkeit und Relevanz aktiv konstruiert. Dies geschieht so, daß sich das interpretierende Subjekt mit seinem der Überlieferung entstammenden Vorverständnis in die interpretierende Tätigkeit einbringt. Verstehen von anderem und Fremdem ist, so kann gefolgert werden, immer auch ein Sich-selbst-verstehen der Interpreten. Das andere und Fremde im Interpretandum kann immer zu einer Herausforderung des Selbst- und Weltverständnisses des Interpreten geraten. Mit dem Verstehen oder Mißverstehen des anderen und Fremden wird auch das Eigene und Vertraute erhellt oder mißverstanden. Verstehen ist, mit anderen Worten, relational strukturiert. Im Verstehen wird im Zuge relationierender Akte Eigenes und Fremdes (allmählich) bestimmt; uno actu wird das Interpretandum gebildet und analysiert, ein Interpretandum, das Gadamer als dasjenige begreift, was der Text sagt. Dessen Identifikation also ist vermittelt durch das Vorverständnis der fraglichen Sache. Einen Gegenstand als ein vom Interpreten und von der Geschichte und Tradition, in der dieser steht, strikt zu trennendes Objekt, kennen die interpretierenden Wissenschaften nicht: „Ein solcher 'Gegenstand' an sich existiert offenbar überhaupt nicht" (ebd., 289). Wie dargelegt ist es falsch, Gadamer zu unterstellen, er habe Wirkungsgeschichte und Vorurteile derart zu einem Prinzip allen Deutens, Interpretierens und Verstehens erhoben, daß die Kraft traditionskritischer Reflexion überhaupt nichts mehr auszurichten hätte. Auch wenn dies nicht ohne theoretisch-logische Widersprüche abgeht, hebt Gadamer ja nicht nur die Grenzen, sondern auch die Wichtigkeit eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins für sachangemessenes Interpretieren und Verstehen hervor. (Das tat im übrigen auch Heidegger, der ja ebenfalls für eine Auslegung der Vorstruktur des Verstehens plädierte, die das dumpfe Eingebundensein in „wirkungsgeschichtliche" Zusammenhänge doch immer auch brechen und abmindern soll und kann.) Vorurteile können aktualisiert und bewußt gemacht werden, wenigstens partiell. Dies allerdings ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. An erster Stelle steht dabei die dialogische Begegnung mit anderem oder Fremdem. In der im Dialog erforderlichen Einnahme anderer und fremder Perspektiven wird das Eigene und Vertraute fraglich. Vorverständnisse werden zumindest teilweise als solche sichtbar und kritisierbar, wenn die sie konstituierenden, überlieferten Vorurteile in der Konfrontation mit anderen, fremden Wirklichkeiten bloßgestellt werden. Gadamer sieht und sagt all dies. Eine wohlmeinende, von der Macht des guten Willens getragene Rezeption wird das nicht übersehen. Dementsprechend
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II. Interpretation
kann die philosophische Hermeneutik mit guten Argumenten gegen die massive Kritik verteidigt werden, sie würde unter dem Deckmantel einer philosophischen Rehabilitierung von Tradition und Autorität eine konservative, gar reaktionäre Affirmation des Überlieferten befürworten. Die philosophische Hermeneutik erkennt Althergebrachtes keineswegs bedingungslos an. Sie erkennt vielmehr klar, daß die Tradition und das durch sie vermittelte Vorverständnis auch Barrieren des Verstehens bilden können: „Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich 'an den Sachen' erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens" (ebd., 272). Oder: „Es hat darum seinen guten Sinn, daß der Ausleger nicht geradezu, aus der in ihm bereiten Vormeinung lebend, auf den Text zugeht, vielmehr die in ihm lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf ihre Herkunft und Geltung prüft" (ebd., 272). Und schließlich: „Ein mit methodischem Bewußtsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewußt zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen" (ebd., 274). Der Gadamersche Begriff des Vorurteils ist trotz seiner spezifischen und primären Bedeutung mit dem in alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen gebrauchten Wort verwandt: Vorurteile sind stets auch mögliche Erkenntnisbarrieren, die ein angemessenes Verständnis der fraglichen Sache behindern oder vereiteln können. Als solche können und sollen sie, soweit möglich, bewußt gemacht und kontrolliert werden. Sie werden sichtbar als ein unser Handeln leitender Hintergrund, sobald wir mit Erfahrungen konfrontiert werden, die in diesen Hintergrund nicht integrierbar sind, die wir also nicht (recht) verstehen. Solche Erfahrungen - und jede Erfahrung im tieferen Sinne des Wortes ist, so Gadamer, dieser Art - erschüttern die Selbstverständlichkeiten, auf denen die vertraute Praxis aufruht. Sie stehen am Anfang innovativer Bildungsvorgänge, die das Selbst und die Welt der Betroffenen modifizieren. Bildung beseitigt irreführende und schafft produktivere, neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnende Vorurteile. Bildung in diesem Sinne ist freilich kein ganz aus freien Stücken initiierter und aus eigener Kraft kontrollierter Vorgang. Außerdem ist sie nicht aus distanzierter Position zu erwerben, sondern nur im Verlauf der Interpretationsbemühung selbst. Der Interpret, dessen Bewußtsein besetzt ist von Vorurteilen und Vormeinungen, „ist nicht imstande, von sich aus vorgängig die produktiven Vorurteile, die das Verstehen ermöglichen, von denjenigen Vorurteilen zu scheiden, die das Verstehen verhindern und zu Mißverständnissen führen. Diese Scheidung muß vielmehr im Verstehen selbst geschehen" (ebd., 279). Das Verstehen bedarf des anderen oder Fremden, es bedarf eines Gesprächs, in dem Differenzen artikulierbar und aushandelbar sind. In Gadamers Analyse des „historisch-hermeneutischen Verhaltens" erscheinen solche Differenzen vornehmlich im Zeitenabstand fundiert, durch den der zu interpretierende Text und der Interpret voneinander getrennt sind (ebd., 302ff.). Zeitlicher
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Abstand als paradigmatische Bedingung der Andersheit ist kein zu überwindendes Hindernis, sondern eine Bedingung der Möglichkeit von (historischer) Erkenntnisbildung. In einer allgemeineren Perspektive, die die Psychologie vorrangig einnehmen wird, lassen sich als produktive hermeneutische Differenzen auch Unterschiede zwischen den Selbst- und Weltverhältnissen der Angehörigen verschiedener Kulturen, Gesellschaften oder Gemeinschaften ausmachen, schließlich auch Unterschiede zwischen Personen mit individuellen Lebensgeschichten und Zukunftserwartungen. Die einst zwischen Habermas und Gadamer geführte Debatte erscheint aus heutiger Sicht streckenweise als ein Scheingefecht, geführt in der politischmoralisch sensibilisierten, „ideologiekritischen" Atmosphäre der späten sechziger Jahre. Gadamer hat die Legitimationsbedürftigkeit jeder Autorität in seinem Hauptwerk nicht bestritten; anderslautende Formulierungen, die an Mißverständnissen nicht unschuldig waren, hat er korrigiert. Verhältnisse, die von blinder Herrschaft und Machtausübung durchsetzt sind, können keinerlei legitime Überlegenheit beanspruchen. Nicht aufklärerische Vernunft überhaupt, sondern die Illusion der totalen Transparenz geschichtlich-pragmatischer Rahmenbedingungen, unter denen jedes noch so kritische Denken steht, war Gadamer ein Dorn im Auge. Damit behält er bis heute ebenso recht wie mit dem Vorbehalt, Kritikpotentiale vollständig vom Instrumentarium bestimmter Wissenschaften abhängig zu machen. Hermeneutik als kritisches Reflexionswissen ist keineswegs auf Musterdisziplinen wie die Psychoanalyse oder die marxistische Ideologiekritik angewiesen. Kritik kann auf dem Boden der alltagsweltlichen oder, wie Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns selbst betont, der lebensweltlichen Sprache formuliert und begründet werden. Das kritische Potential von Verständigung und Verstehen ist nicht von wissenschaftlichen Reflexionsformen dieser oder jener Art abhängig. Meine Interpretation der philosophischen Hermeneutik ist wohlwollend. Es soll allerdings nicht bestritten werden, daß sich in Gadamers Werk auch Äußerungen finden lassen, die nur schwer oder überhaupt nicht mit den oben entfalteten Einsichten in Einklang zu bringen sind. Es gibt Sätze, durch die Gadamer eine autoritär motivierte Unterwerfung unter die Tradition nahelegt. In der philosophischen Hermeneutik erklingt hie und da eine Nebenmelodie, die den Respekt vor der Tradition in die Nähe einer Hörigkeit rückt, die weniger ein gutes Gehör als Bereitschaft zu passivem Gehorsam voraussetzt. So erhält die Analyse des Verstehens als eines Einrückens in das Überlieferungsgeschehen in manchen Ohren den Ruch einer einseitigen, tendenziell unterwürfigen Ehrfurcht vor der Geschichte und deren „Leistungen" (denen gegenüber diejenigen der Gegenwart notwendigerweise verblassen). Das ist insgesamt nicht gerechtfertigt und dennoch nicht völlig unverständlich. Wer davon spricht, noch dazu in den sechziger Jahren, daß „der Autorität eine Überlegenheit an Erkenntnis" zuzubilligen sei, muß mit Unmut in den Verstehensbemühungen anderer rechnen. Skepsis und Kritik ist in der Tat noch heute angezeigt, wann immer jemand wie es Gadamer einst tat - Autorität auf historisch gewachsene Erkenntnis gründen möchte (Gadamer, 1986b, 244).
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II. Interpretation
Gewiß hat Gadamer auch die Möglichkeit der totalen Verblendung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse nicht gebührend berücksichtigt. Diesbezüglich fiel manches realitätsfremde und befremdliche Wort. Kögler erinnert zu Recht an die heikle - in glattem Widerspruch zu der oben rekonstruierten Auffassung stehende - Verlautbarung Gadamers, daß jede gesellschaftlich-soziale Ordnung mehr oder minder legitim sei, weil ja, wie Kögler reformuliert, jede Ordnung nur „durch und innerhalb der Sprache aufzubauen (sei). Sofern aber Sprache wesentlich Verständigung ist, und Verständigung immer auf einem tragenden Einverständnis faktisch aufruht, wohnt jeder sozialen Ordnung selbst schon das tragende Moment von kommunikativer Zustimmung inne" (Kögler, 1992, 65). Dies ist nicht nur eine eigentümliche Apologie aller historischen, aktuellen und denkbaren gesellschaftlichen Ordnungen, sondern auch Zynismus gegenüber denen, die wider Willen unter sozialen Ordnungen litten und leiden. Habermas kritisiert aus gutem Grund, daß Gadamer unterschätzt, wie die Sprache selbst von prä- und außersprachlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägt sein kann.35
2.5.4 Verstehen als Geschehen und die sprachontologische Begründung Den Geschehenscharakter des Verstehens begreift Gadamer letztlich auf der Grundlage sprachontologischer Überlegungen. Deutungen und Interpretationen sind an die Sprache gebunden. Sprache aber meint das Sprechen und das Gespräch: wer spricht, spricht mit jemandem über etwas. Alles Verstehen besitzt eine dialogische Struktur und Dynamik. Wie ein Gespräch ausgeht, weiß niemand im voraus. Sein Verlauf entzieht sich der totalen Kontrolle und Verfügungsgewalt der Beteiligten. Obwohl wir sagen, wir führten ein Gespräch, ist es eher so, daß die Führung gerade nicht „in dem Willen des einen oder anderen Gesprächspartners (liegt). So ist das eigentliche Gespräch niemals das, das wir führen wollten" (Gadamer, 1986a, 387). Wenn ein Gespräch gelingt, stehen an dessen Ende neue Einsichten in die erörterte Sache, und zwar dialogisch konstituierte Einsichten, die mit der verwandelten Ansicht der Sache zugleich die Gesprächspartner verändern: aus einem gelungenen Gespräch geht niemand so hervor, wie er hineingegangen ist. Wer verstanden hat, was ihm fremd war, hat sich verändert, wie unmerklich auch immer. Dieses Verständnis hat er, analog zur Gesprächsführung, nicht wirklich selbst herbeigeführt oder hergestellt:„Die Verständigung oder ihr Mißlingen ist ein Geschehen, das sich an uns vollzogen hat..." (ebd., 387). Sobald das Deuten, Interpretieren und Verstehen (von Texten) metaphorisch als Teilnahme an einem Gespräch aufgefaßt wird, in das sich die Beteilig-
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Nicht zuletzt dieser Punkt gibt Anlaß, die philosophische Hermeneutik in der skizzierten Hinsicht in Richtung einer machtkritisch sensibilisierten Hermeneutik zu entwickeln. Kögler (1992, 78ff., 134ff.) unternimmt genau dies und stützt sich in seinem interessanten Versuch auf Foucault.
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ten eher verwickeln und verstricken, als daß sie zu seiner Kontrolle und Lenkung fähig wären, ergibt sich die Schlußfolgerung: Deutung, Interpretation und Verstehen gehören zu einem transsubjektiven sprachlichen Geschehen. Dies um so mehr, je genauer Gadamers Auffassung der Sprache und des Gesprächs betrachtet wird. Die philosophische Hermeneutik wendet sich vehement gegen die Reduktion der Sprache auf eine bloße Aussagestruktur. Gespräche setzen sich aus den in der „Sorgestruktur des Daseins" verwurzelten Fragen und Antworten konkreter Personen zusammen, die, keineswegs bewußt, zur Sprache bringen, was sie angeht und betrifft. Was Menschen angeht, wird aber nicht bloß ausgesagt und in propositionalen Sätzen artikuliert. Es steht zu einem guten Teil gleichsam zwischen den Worten: „Was ausgesagt ist, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann" (Gadamer, 1986b, 504). Diese Sprachauffassung stürzt das autonome Vernunft- und Handlungssubjekt vom Thron. Das, was nicht „ausgesagt" und dennoch im Gespräch ist. konstituiert einmal mehr einen zusätzlichen, anderen Sinn als denjenigen, dessen sich kommunikativ Handelnde, Autoren so gut wie Interpreten, bewußt sind. Um seine Auffassung vom Gesprächs- und Geschehenscharakter des Verstehens zu präzisieren, greift Gadamer auf eine Analyse des Spiels zurück. Sprechen und Sinnverstehen sind, wie Gadamer meint, ein Spielgeschehen. Der Begriff des Spiels erhält in der philosophischen Hermeneutik einen theoriestrategisch prominenten Platz. Wie Kögler darlegt, hebt Gadamer in seiner Ontologie des Spiels einen speziellen Aspekt hervor, den er dann zu einem Merkmal aller hermeneutischen Erfahrung und Erkenntnisbildung verallgemeinert. Gadamer operiert dabei mit einem allzu homogen konzipierten Spielbegriff - es gibt nicht „das" Spiel, sondern allenfalls Spiele, die in Wittgensteins Sinne eine Familie bilden. Gadamer setzt bei der ästhetischen Erfahrung an. In diesem Bereich kommt nach Gadamer geradezu alles darauf an, daß sich das Subjekt in die Erfahrung versenkt, sich ihr rückhaltlos überläßt und ausliefert. Andernfalls wird alles verdorben, nichts verstanden und zustande gebracht. Das Ekstatische der ästhetischen Erfahrung verdrängt in diesem Modell jedes Moment von Bewußtsein, Reflexion und Handlung. Gadamer hypostasiert die „richtige Einsicht in den dialogisch-medialen Charakter der ästhetischen Erfahrung ... zu einer tragisch konzipierten Teilhabe an einem Geschehen, das gleichsam als das eigentliche Subjekt der Bewegung identifizierbar sein soll" (Kögler, 1992, 45). Wie in der ästhetischen Erfahrung soll nun nach Gadamer auch alles Verstehen eine Ganzheit und Einheit voraussetzen, in die das Subjekt einrückt, in die es sich eingliedert, in dem es sich, wie im Spiel, ganz dem sich vollziehenden Geschehen überantwortet. Vom Modell des Tragischen ausgehend, einem spezifischen Typ von Erfahrung jedenfalls, in der das Subjekt gleichsam überwältigt und mitgerissen wird, gelangt Gadamer zu einer Bestimmung aller Erfahrung, allen Interpretierens, Verstehens und Erkennens, die zwar einen richtigen Kern besitzt, aber überzogen ist. Gadamers Bestimmung läßt von der Handlungs- und Reflexionsfähigkeit des Subjekts kaum einen Hauch übrig, so daß es nun geradezu als eine vorsichtige Untertreibung erscheint, wenn Gadamer seine Auffassung mit den Worten ankündigt: „Das Verstehen ist selber
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II. Interpretation
nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken ..." (Gadamer, 1986a, 295; im Original komplett kursiv). Die Verallgemeinerung, die Gadamer vom Spiel zur Totalisierung ereignishafter Momente im Verstehen führt, vermag nicht zu überzeugen. So plausibel es sein mag, den Kern des Erfahrungsbegriffs an der Endlichkeit des Menschen festzumachen, an einem „Dasein" also, das als „Vorlauf zum Tode" aufgefaßt werden kann, so überzogen ist es, alle Erfahrung und alles Wesentliche an der Erfahrungs- und hermeneutischen Erkenntnisbildung als unverfügbares Sprachgeschehen zu begreifen. Bekanntlich rührt Gadamers Auffassung von der Sprachontologie des späten Heidegger her, in der eine nicht hintergehbare Sprache als „Haus des Seins" wie eine Art „Supersubjekt" firmiert, dem sich das subjectum humanum zu fügen hat, und zwar mit Gelassenheit, ja Demut. Es ist im Grunde also die ontologisch ausgezeichnete Sprache, die den transsubjektiven Charakter allen Deutens, Interpretierens und Verstehens konstituiert. Verstehen ist für Gadamer Teilhabe an der Sprache und sprachlich verfaßter Tradition. Alles „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", lautet das berühmte Diktum. Weil das Deuten, Interpretieren und Verstehen prinzipiell an Sprache gebunden ist, die Sprache aber das Bewußtsein und Verfügungspotential von Subjekten transzendiert, deshalb ist auch das Verstehen im wesentlichen ein transsubjektives Geschehen. Ganz grob lassen sich die Argumente, die diese Auffassung genauer begründen, im Anschluß an Kögler (1992) folgendermaßen zusammenfassen: Erstens ist da die „Selbstvergessenheit" der Sprache beim Sprechen; niemand, der eine Sprache spricht und sich um das Verständnis einer Sache bemüht, muß sein Bewußtsein auf die Sprache richten. Zweitens geht die dialogische Struktur der Sprache mit deren Subjekt- oder „Ichlosigkeit" einher. Die Sprache begreift Gadamer paradigmatisch als Sprechen mit anderen, und diese anderen sind immer schon beteiligt an der Aushandlung eines Verständnisses der fraglichen Sache. Drittens schließlich ist Gadamers Behauptung der Universalität des sprachlichen Sinns zu erwähnen, die These also, nach der „alles verstehbare Sein ontologisch selbst als Sprache zu bestimmen sei" (ebd., 51). Aus den dargelegten Gründen interpretieren und verstehen Subjekte nicht mittels der Sprache Gegenstände. Vielmehr verstehen sie in der Sprache, und zwar im Sinn eines Involviertseins in ein Geschehen, das sich am Interpreten vollzieht. In der intrinsischen Verschränkung zwischen Sein und sprachlicher Symbolisierung sieht Kögler (ebd., 34ff.) den Kern der philosophischhermeneutischen Kritik an der Konzeption des autonomen Reflexions- und Handlungssubjekts. Eine tragfahige Grundlage für Einwände gegen diese radikale Kritik bietet die hier vorgestellte Handlungstheorie. In Teil I der vorliegenden Arbeit wurde ausführlich dargelegt, wie und warum die Interpretation weder restlos als zweckgerichtete und/oder regelgeleitete Handlung rationaler Subjekte rekonstruiert, noch als ein bloßes Geschehen konzeptualisiert werden sollte. Wenn man das Sprechen und Interpretieren im Licht einer Theorie der Kreativität des Handelns betrachtet, braucht der Dialog und das sich in ihm ausbildende Verständnis oder Mißverständnis keineswegs nur von den bewuß-
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ten und kontrollierten Leistungen der Subjekte her gedacht werden. Ebensowenig ist es nötig, all das als bloßes Geschehen zu begreifen, in dem die Subjekte als bloße Statisten des sprachlich verfaßten Seins fungieren - also mehr oder minder verschwinden und den Gang der Dinge dem angeblichen „Tun der Sache selbst" überlassen. Man kann von ereignishaften Momenten im Handeln sprechen, ohne dieses als nur noch anonymes Ereignis oder Geschehen zu überzeichnen. Man kann den heteronomen und kontingenten Strukturmomenten menschlicher Praxis Rechnung tragen und, uno actu, den Begriff des autonomen Subjektes schwächen, ohne ihn gleich ganz zu verabschieden. Auch die heteronomen und kontingenten Bestimmungsgründe des Handelns sind zeitlich und graduell limitiert. Andernfalls hätte man mit dem Subjektbegriff auch den Handlungsbegriff zu verabschieden. Ohne den Handlungsbegriff aber wäre es schlicht unmöglich, methodologische Prinzipien und methodische Anweisungen für die interpretative Forschung in widerspruchsfreier Form zu formulieren. Eine Theorie und Methodologie der Interpretation, die der philosophischen Hermeneutik vieles abzugewinnen vermag, braucht die Sprachontologie Gadamers nicht zu teilen. Seine Auffassung, daß wir in und nicht mittels der Sprache verstehen, kann getrost übernommen werden - ohne jede Befürchtung, deswegen einer „idealistische" Konzeption anzuhängen. Gadamer hat diese Kritik vorweggenommen: „Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzieht" (Gadamer, 1986b, 496; zit. nach Grondin, 1991, 155). Ebenfalls evident ist, daß Gadamer nicht glaubte, Verstehen von sprachlichen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen setze lediglich Sprachkompetenz voraus. Verstehen bedarf, wie dargelegt, der Aktualisierung eines praktischen, holistischen, vorprädikativen oder präkognitiven Kontextwissens. Was er jedoch hervorhob und was zumal im Kontext wissenschaftlicher Erkenntnisbildung überaus plausibel ist, ist die Tatsache, daß Deutung, Interpretation und Verstehen gleichwohl an Sprache gebunden sind, und zwar unabdingbar. Wo nichts verstanden werden kann, gibt es nichts zu sagen. Dort verstummt die Sprache und das Gespräch. Wo dagegen etwas verstanden werden kann und soll, vollzieht sich das Verstehen als Ringen um die treffenden Worte im Gespräch (Gadamer, 1984, 28f.). Wie auch sonst? In der interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie jedenfalls lassen sich Erfahrungen und Erkenntnisse schlicht nicht anders bilden.
2.5.5 Einrücken in Tradition und Sprache - aber in welche? Horizontverschmelzung und Wahrheitssynthesis Die philosophische Hermeneutik konzeptualisiert das Verstehen als eine im Gespräch sich vollziehende Wahrheitssynthesis verschiedener Sachansichten. Am Ende gelungener Verständigung steht ein sachlicher Konsens zwischen den Beteiligten. Die eingenommenen Perspektiven und die Sinnhorizonte der Dialogpartner verschieben sich im Laufe des gelingenden Gesprächs. Es entsteht eine neue Ansicht der fraglichen Sache, die schließlich alle miteinander teilen
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und die keinen der Gesprächspartner unverändert läßt. Andernfalls kann, so Gadamer, von Verstehen nicht recht die Rede sein. Überflüssig zu betonen, daß es beim Verstehen von Texten nur um die virtuelle Teilhabe an einem Gespräch und, zumindest unmittelbar, allein um die Selbstveränderung des Interpreten gehen kann. Das quasi-dialogisch strukturierte Verstehen der intentio operis fuhrt zu neuer Erkenntnis und tangiert den Verstehenden selbst. Das hermeneutische Lesen berührt auch dessen Leben. Gadamers Auffassung des Verstehens kann als wahrheitsorientierter Ansatz bezeichnet werden. Die Interpretation zielt auf die Wahrheit, die ein Text vermittelt. Was das genauer heißt, soll eine kritische Analyse dieses Aspekts der philosophischen Hermeneutik zeigen. Zunächst möchte ich zu diesem Zweck noch einmal zum Traditionsbegriff Gadamers zurückkehren. Dabei wird sich zeigen, daß sich die philosophische Hermeneutik wichtige Einsichten in den Vorgang kommunikativer Verständigung und des Verstehens verbaut, indem sie den Akzent allzusehr auf ein bestimmtes, eigentümlich gefaßtes Telos des Verstehens legt. Am Ende jedes wirklichen Verstehens rücken, so Gadamer, die Dialogpartner in einen als Wahrheitsgeschehen gefaßten Überlieferungszusammenhang ein. Das erreichte Verständnis der in Frage stehenden Sache signalisiert schließlich einen harmonischen Konsens zwischen alter und ego, was heißen soll: zwischen Positionen oder Parteien, die sich in ein und derselben Tradition verorten können und sollen. Gadamer arbeitet mit einem allzu weit gefaßten, vermeintlich alle Menschen umschließenden Traditionsbegriff. Der Begriff der Tradition steht in der philosophischen Hermeneutik im Grunde für eine vorgängige Einheit des Seins und der Sprache. Eagleton (1988, 38) kritisiert zu Recht diese prästabilierte Harmonie, die, so Gadamer, durch den angeblich einen und einzigen zentralen Traditionsfluß gewahrt werde. Gadamer vereinheitlicht und homogenisiert Heterogenes im Zeichen einer angeblich alles umspannenden Tradition, der sich alle zugehörig fühlen, sobald wirklich verstanden wird. Die philosophische Hermeneutik setzt auf die Kontinuität der Geschichte und den Konsens als Telos kommunikativer Verständigung. Diskontinuität, Kämpfe, Ausgrenzungen werden tendenziell eingeschmolzen in die eine und einzige Geschichte, Distanzen und Diskrepanzen werden herabgemindert auf ein vorübergehendes Zwischenstadium. Gadamers Hermeneutik steht ganz im Dienste der auf Eintracht und Einheit abzielenden Verständigung. Jedes Mißlingen von Kommunikation und jedes Mißverstehen erscheint als etwas Vorübergehendes. Gadamer vertraut allzu sehr auf die einigende Kraft des Gesprächs, und er begreift Einigung auf höchst problematische Weise als Eingliederung in ein seinsgeschichtlich und sprachliches Überlieferungsgeschehen. Man mag, wie Gadamer (1984) Derrida entgegenhält, zwar einen Willen zur Verständigung und zum Verstehen voraussetzen müssen, um überhaupt zu sehen, was die Sprache als „das Gespräch, das wir sind" (Gadamer), auszeichnet. Dennoch ist nicht davon auszugehen, daß die Sprache gleichsam von sich aus zum Konsens führt, ja nicht einmal davon, daß sie jedenfalls die Möglichkeit der Übereinstimmung und Einstimmigkeit im wahrheitsorientierten Diskurs bereithält.
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In der sprachontologischen Hermeneutik werden Unterschiede zwischen Lebensformen und Sinnwelten harmonisiert. Dies liegt an der nicht auf Anhieb offenkundigen Unterstellung, daß sich im Grunde genommen alle über ein und dieselbe Sache verständigen und darüber Einverständnis erzielen können. Die ontologisch ausgezeichnete Sprache hält Wahrheiten bereit, die alle Menschen angehen. Natürlich weiß Gadamer um die vielfaltigen Möglichkeiten des Mißverstehens und des Unverständnisses. Vor dem Blick auf radikale Differenz und Heterogenität von kollektiven Symbolsystemen, Lebensformen und Individualitäten scheut er jedoch zurück (vgl. Kögler, 1992, 109ff., 120ff.). Menschen können einander nicht radikal fremd sein, weil sie, so Gadamer, gleichermaßen an dem traditionsvermittelten Sprach- und Wahrheitsgeschehen teilhaben. Auch wenn Menschen vieles, was ihnen begegnet, fremd und unverständlich sein mag, so gibt es in der Perspektive der philosophischen Hermeneutik letztlich nichts in der Welt des Menschen, was grundsätzlich unverständlich sein und einen unüberbrückbaren Graben zwischen Personen aufreißen könnte. Historische, kulturelle und gesellschaftliche Unterschiede, verschiedene Lebensformen und Sprachen, kurz: andere Sitten zu anderen Zeiten und in anderen Ländern sind demnach niemals Zeichen radikaler Differenz, Heterogenität oder Inkommensurabilität. Sie kennzeichnen allenfalls sehr schwierige Ausgangslagen für eine Verständigung, in der einander Fremde sich annähern. Im gelingenden Gespräch finden sie schließlich zueinander, indem sie ihre ursprünglichen Standpunkte in einer gemeinsamen und allgemeineren Sicht der Dinge „aufheben". Was einander fremd war und sich widerstritt, wird in einem neuen, gemeinsamen und einheitlichen Horizont verschmolzen. Gadamer denkt Annäherung im Gespräch von einem unbegrenzten Allgemeinen her. Hinter allen Weisen der Welterzeugung und des Weltbezugs sieht er letzten Endes das allumfassende, sprachlich verfaßte Sein, das über alle Unterschiede hinweg verbindet. Das ganz andere, die absolute Alternat und Fremdheit hat in diesem Denkrahmen keinen Ort im Verkehr zwischen Menschen. Gadamers Ansatz läuft in beträchtlichem Maße Gefahr, nolens volens einer einzigen Sprache und einer einzigen Wahrheit zu subsumieren, was nur als Vielheit bestehen kann. Damit wird der von Lyotard (1987, 9ff.) monierte tort begangen, ein unvermeidliches „Unrecht" also. Dieses stellt sich ein, sobald ein Widerstreit so gelöst wird, daß eine der sich widerstreitenden Positionen der anderen angeglichen und eingegliedert wird, um „Einigung" erzielen und „Einheit" herstellen zu können. Man kann diesbezüglich von einem Akt der Nostrifizierung sprechen (Stagl, 1981). Bei aller Vorsicht gegenüber jeder Art von Überheblichkeit und Unbeweglichkeit im Verstehen krankt die philosophische Hermeneutik doch selbst daran, daß sie, gleichsam unter der Hand, nostrifizierenden Akten der Aneignung von Fremdem und Bemächtigung des anderen den Weg bahnt. Dies liegt an der Unfähigkeit, radikale Differenz, Heterogenität oder Inkommensurabilität menschlicher Seinsweisen zuzulassen. Man kann mit Kögler (1992, 62) mutmaßen, daß dies mit Gadamers „quasi-hegelianischer Konzeption einer Aufhebung der Differenzen und Divergenzen im Dialog (statt im absoluten Wissen)" zusammenhängt.
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Die entwickelte Diagnose ist durchaus mit der Tatsache verträglich, daß viele Arbeiten Gadamers ein ungewöhnlich hohes Maß an Sensibilität für das andere oder Fremde und das allem Verstehen innewohnende Risiko, die in Frage stehende Sache zu sehr aus eigener Perspektive zu sehen, bezeugen. Kaum jemand hat in ähnlich eindrucksvoller Weise dargelegt, daß die Logik gelingenden Interpretierens und Verstehens eine Z);dogik ist, deren wesentliches Merkmal darin besteht, daß sich die Dialogpartner offen auf ein Gespräch einlassen, das ihre jeweiligen Horizonte erweitern wird. Gadamers Dialektik der Gesprächsführung steht offenkundig im Dienst eines nicht assimilierenden Interpretierens und nicht vereinnahmenden Verstehens. Unzählige Male fordert Gadamer den Interpreten auf, das andere oder Fremde nicht leichtfertig ans Eigene anzugleichen. Diese Forderung läßt sich theoretisch jedoch nicht widerspruchsfrei erheben, solange die philosophische Hermeneutik an einem ontologisch fundierten Begriff des Verstehens als eines Geschehens festhält. Auch eine angemessene methodologische Entsprechung dieses Postulats läßt sich bei Gadamer nicht ausmachen. Die Kritik an Gadamer, die an dessen ontologischer Fundierung des Verstehens und an seinem univoken Traditionsbegriff ansetzt, läßt sich noch verfeinern und zuspitzen, indem der für Gadamers Verstehensmodell zentrale Begriff der Horizontverschmelzung genauer analysiert wird. Diese Analyse präzisiert den Verdacht, daß die philosophische Hermeneutik die guten Absichten ihres Autors vereitelt. Kögler bezeichnet die Vermittlung fremden Sinnes zu Recht als das Grundproblem jeder Hermeneutik. An einer angemessenen Behandlung dieses Problems scheitern Hermeneutiken reihenweise. Auch die philosophische Hermeneutik läuft Gefahr, fremden Sinn allenfalls als so berechtigt und wahrheitsfähig zu erkennen und anzuerkennen, wie es die eigene Sicht der Dinge eben nahelegt und gestattet. Wo im Grunde genommen ein universaler Traditionsund Wahrheitsstrom den Maßstab allen Verstehens liefert, sind radikal differente Sinnwelten stets dem Risiko ausgesetzt, im Zuge einer nostrifizierenden Assimilation in den vertrauten Horizont des Interpreten eingemeindet zu werden. Gadamers Konzept des Verstehens als einer Horizontverschmelzung fördert, genau besehen, exakt dies. Dagegen hilft es wenig, wenn Gadamer angesichts der poststrukturalistischen Kritik (Derridas) betont, Verständigung führe nie dazu, „daß die Differenz in der Identität untergeht" (Gadamer, 1986c, 16). Diese Äußerung kann sogar als eine gewisse Abschwächung der „klassischen" Position der philosophischen Hermeneutik gelesen werden, als eine Absichtserklärung zumal, der die Theorie nicht gerecht wird. Den unifizierenden Effekten der anvisierten Horizontverschmelzung muß eindeutiger vorgebeugt werden, als es die philosophische Hermeneutik vermag. Bestimmte Aspekte dieser Verstehenslehre müssen dazu revidiert werden. Erst die Aufgabe des Ideals allumfassender Einigung und Einheit ebnet den Weg für differenztheoretische Erweiterungen hermeneutischer Interpretationstheorien, deren die Handlungs- und Kulturpsychologie bedarf. Bei Gadamer ist bereits die Konstitution von zweierlei Horizonten an eine Verschmelzung derselben gekoppelt. Schon in diesem grundlegenden Ge-
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danken setzt sich unter der Hand eine Seite durch. Unterscheiden lassen sich Horizonte, so Gadamer, nämlich immer nur auf der Basis eines der beiden Sinnhorizonte, also aus einer bestimmten Perspektive, in der das andere oder Fremde als solches erst konstruiert wird. Während Matthes (1992c) aus dieser Einsicht eine nahezu aporetische Lage macht, in der sich Interpreten mit diffizilen epistemologischen und methodologischen Schwierigkeiten konfrontiert sehen, kommt die philosophische Hermeneutik unbefangener damit zurecht, daß die je eigenen Sicht- und Auffassungsweisen den anderen Horizont mitbilden. Auch Gadamer weist zunächst einmal jedes naiv reifizierende Denken zurück. Mit der Vorstellung, daß das zu Verstehende bereits vor allen Interpretationsbemühungen besteht und als solches erkannt werden kann, bricht er radikal. Der andere Horizont wird vielmehr dialogisch konstituiert. Der heikle Punkt besteht nun aber darin, daß Gadamer diese dialogische Konstitution des Differenten bereits als Horizontverschmelzung begreift. Das Unterscheiden und Verschmelzen von Horizonten wird demnach uno actu vollzogen. Vergleichen ist nach Gadamer ein Relationieren bloß „vermeintlich für sich seiender Horizonte" (Gadamer, 1986a, 311). Diese Formulierung ist höchst aufschlußreich. Für Gadamer ist die Vorstellung eines geschlossenen Horizontes, „der eine Kultur einschließen soll, eine Abstraktion" ebenso wie die Idee des Einzelnen, der ja, recht besehen, doch auch „nie ein Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen versteht ..." (ebd., 309). Letzterem könnte zugestimmt werden, wenn Gadamer nicht eine sehr fragwürdige Folgerung aus dieser Einsicht zöge (die eigentlich keine Folgerung, sondern eine fundamentale Prämisse der philosophischen Hermeneutik darstellt): recht besehen gibt es für Gadamer nämlich „immer schon" nur einen einzigen Horizont des Verstehens, in den sich alle „bloß vermeintlich" verschiedenen, partialen Horizonte eingliedern lassen. Alles Unterscheiden ist im Grunde eine „Abstraktion". Dies ist nicht deswegen so, weil das von einem Interpreten Unterschiedene in der lebenspraktischen Perspektive der anderen Seite möglicherweise ganz anders aussieht. Abstrahiert wird in jedem Akt des Unterscheidens nicht von der konkreten, partikularen Seins- und Sichtweise besonderer Menschen, sondern von der Einheit eines universalen Seins- und Wahrheitsgeschehens, wie es in der Sprache beständig überliefert und kontinuiert wird. Gadamers Ausfuhrungen legen die Frage nahe, warum man eigentlich überhaupt im Plural von Horizonten und deren Verschmelzung und nicht gleich davon spricht, daß sich im Verstehen beständig ein Horizont bilde und bewahre. In der Tat ist es in Gadamers Sicht lediglich „ein einziger Horizont, der alles umschließt, was das geschichtliche Bewußtsein in sich enthält" (ebd., 309). Für Gadamer ist dieser eine und einzige Horizont, in dem sich die Sachansichten aller am Gespräch beteiligten Subjekte aufheben, die Tradition. Deshalb kann die philosophische Hermeneutik auch sagen, Verstehen sei, im wesentlichen zumindest, ein Sich-wieder-erkennen, eine Art Erinnerung also. Die allumfassende Einheit des überlieferten Horizontes beherbergt ja all die konkreten Horizonte, die in geschichtlichen Situationen und kulturellen Kontexten die Vorverständnisse und Verstehensbemühungen des Interpreten bestimmen.
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Dieses traditionalistische Konzept des Verstehens ist hoffnungslos überfordert. Radikale Differenzen zwischen Sinnwelten kann es nicht mehr geben, wo alles „vermeintlich" Verschiedene untergründig durch die einheitsstiftende Kraft der Tradition verbunden ist - und doch gibt es faktisch solche Differenzen. In Gadamers „Verstehen" schmilzt Verschiedenes zusammen, und diese Verschmelzung wird dazu noch als eine Art von Gewahrwerden einer überlieferten Wahrheit begriffen, einer Wahrheit, die alle „immer schon" verbindet. Anders sei, so Gadamer, Verstehen gar nicht möglich. Insofern Gadamer jedes Verstehen als Erkennen und Anerkennen der im Interpretandum sich artikulierenden Wahrheit auffaßt, diese Wahrheit aber ein Gut der allumfassenden Tradition und des universalen Seins- und Sprachgeschehens ist, wird Verstehen in der Tat als Affirmation und Unterwerfung gedacht - als eine Art dienen, wie Gadamer bisweilen selbst sagt. In solchen Redewendung mutet Gadamer der Tradition zuviel an selbstverständlicher Überlegenheit zu. Wesentlich heikler ist jedoch der Sachverhalt, daß ein auf Horizontverschmelzung angelegtes Verstehen ein univokes, zu homogenes und allzu sehr auf Kontinuität setzendes Konzept der Tradition voraussetzt. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß „Tradition" für Gadamer nicht bloß ein formales, zeit- oder geschichtstheoretisches Konzept ist, sondern ein Begriff, der für eine substantiell gehaltvolle Geschichte steht. Was die Menschen verbindet, sind die geschichtlichen Erfahrungen und Erwartungen, die sie miteinander teilen. Tradition verbindet und vereinheitlicht. Die Frage, wer sich auf wessen Tradition bezieht, hat in der philosophischen Hermeneutik keinen rechten Platz. Die Geschichte und Gegenwart insbesondere anderer Kulturen bleibt außen vor. Kögler weist zu Recht darauf hin, daß die philosophische Hermeneutik speziell den interkulturellen Dialog nicht angemessen beschreiben kann: „Mit anderen Kulturen verbindet uns nämlich zunächst kein substantielles Erbe gemeinsamen Sinns, sondern vielmehr eine heterogene und vielschichtige Geschichte der wechselseitigen Beeinflussung bzw. der westlichen Dominanz" (Kögler, 1992, 111). Sobald die Tradition als ein materialiter bestimmtes Überlieferungsgeschehen gedacht wird, lassen sich die Verständigung und das wechselseitige Verstehen zwischen radikal fremden Dialogpartnern nicht mehr als Einrücken in ein allgemeines Überlieferungs- und Wahrheitsgeschehen konzeptualisieren. Wenn und solange Texte (und Textanaloga) interpretiert werden, die aus gutem Grund der Tradition des Interpreten zugerechnet werden können, ist Gadamer weitgehend zuzustimmen, wenn er Tradition, Sprache, Verstehen und Einverständnis in der skizzierten Weise aufeinander bezieht. Sobald diese Voraussetzung entfallt, also von vielfachen Traditionen und Seitenlinien ausgegangen werden muß, wird Gadamers Ansatz hinfallig, da er zur Nostrifizierung anderer Kulturen, Lebensformen und Auffassungsweisen führt. Der philosophischen Hermeneutik fehlen die theoretischen und methodologischen Konzepte, um radikalen Differenzen gerecht werden zu können. Heterogenität ist durch keine ontologische Unterstellung eines universalen, untergründig wirksamen Sprachund Wahrheitsgeschehens aus der Welt zu schaffen. Gadamers homogenisierende Verstehenskonzeption stößt nicht nur im interkulturellen, sondern auch
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im intrakulturellen Dialog an Grenzen. Auch in synchroner und binnenkultureller Perspektive sind radikale Differenzen zwischen den Sinnwelten verschiedener „Gruppen" keineswegs auszuschließen. Die Heterogenität oder Inkommensurabilität von Lebensformen, Symbol- und Regelsystemen ist in vielen Gesellschaften ein längst virulentes Problem. In handlungs- und kulturpsychologischer Sicht müssen radikale Differenz und Dissens als mögliches Resultat von Dialogen und Interpretationen zugelassen werden. Manche Interpretations- und Verstehensbemühungen enden aus gutem Grund in der Explikation eines Widerstreits (Lyotard, 1987). Neben dem Widerstreit stellen „komplexe Versöhnungen" (Stierlin, 1971) eine zusätzliche Alternative zu Gadamers konsensorientiertem Modell des Verstehens dar. Komplexe Versöhnungen sind Arrangements zwischen Gesprächspartnern, die unüberbrückbare Differenzen und Widersprüche anerkennen. Auf dieser Basis (und nur auf dieser) kann sodann Sorge dafür getragen werden, daß Toleranz die Lebensweisen beider Parteien und deren Interaktionen bestimmt. Darin mag sogar eine gewisse Art von verbindender Gemeinsamkeit gesehen werden. 36 Interpretationen laufen keineswegs in allen gelingenden Gesprächen auf eine Horizontverschmelzung hinaus. Verstanden wird unter Umständen auch dort, wo von der Sehnsucht nach Harmonie abgelassen und auf die Fusion möglicherweise irreduzibel heterogener Lebensformen und Sinnwelten verzichtet wird. Die Artikulation radikaler Differenz und der Dissens als Gesprächsausgang bilden mögliche sachangemessene Einsichten und nicht bloß ein Zwischenstadium auf dem Weg zur allgemeinen Einigung. Nur so ist die Interpretation von heterogenen oder inkommensurablen Sinnwelten überhaupt möglich (Kögler, 1992, 117ff.). Menschen können sich radikal andersartige Vorstellungen beispielsweise von der Natur, der conditio humana oder der Zeit machen, ohne daß diese Vorstellungen und die damit verwobenen Praktiken jemals in eine einzige allgemeine Wahrheit eingeschmolzen werden könnten. Ahnliches mag für kleiner dimensionierte Angelegenheiten gelten. Gadamer hegt die Auffassung, daß entweder „hermeneutisch" verstanden werden kann und dieses Verstehen auf eine gemeinsame Wahrheit und Horizonterweiterung abzielt - oder eben überhaupt keine Interpretationsprobleme vorliegen, sondern allenfalls Erklärungsaufgaben für die aus der distanzierten Außenperspektive operierenden Wissenschaften. Diese Ansicht wird hier nicht geteilt. Man muß das, was in der wahrheitsorientierten philosophischen Hermeneutik beim besten Willen keinen Sinn macht, keineswegs gleich aus dem Zuständigkeitsbereich der interpretativen Disziplinen ausschließen und den nomologischen Wissenschaften zuschieben. Was fiir uns jenseits von wahr und falsch, gut und böse, wahrhaftig und unaufrichtig angesiedelt sein mag, ist für andere nicht schon zwangsläufig ohne Sinn und Bedeutung. Wie Kögler halte auch ich den Rahmen einer auf Horizontverschmelzung und Wahrheitssynthesis
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Im Hinblick auf die ko-memorative Konstruktion kollektiver Vergangenheiten diskutieren diesen Aspekt Assmann und Assmann (1990) sowie Straub (1992a, 1993c).
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angelegten Hermeneutik für zu eng, um radikale Differenz zulassen, heterogene und inkommensurable Wirklichkeiten interpretieren und verstehen zu können: „Für einen immanenten Nachvollzug der jeweiligen internen Kohärenz oder regionalen Rationalität von Weltbildern, symbolischen Ordnungen, ästhetischen oder ethischen Einstellungen ist methodologisch kein Raum" (ebd., 119f.). Die philosophische Hermeneutik mit ihrer Zentrierung des Blicks auf ein universales Seins- und Wahrheitsgeschehen ist selbst ein geschichtliches und kulturspezifisches Phänomen. Andere, vor allem radikal fremde Welten mit den Augen der „Bewohner" selbst zu sehen, wird zwangsläufig zum Problem, wo die anderen allenfalls als so vernünftig, wie man selbst ist, betrachtet werden (können). Auch Gadamer leistet, obwohl viele seiner subtilen Überlegungen und Formulierungen das Gegenteil nahelegen, letztlich einem „Denken des eigenen Innen" Vorschub, wie man in Anspielung an Foucaults Formel vom ,Renken des Außen" sagen könnte. Radikal anderes oder Fremdes, das auch nach hermeneutischen Überbrückungs- und Vermittlungsversuchen nicht mit dem Eigenen verträglich und vereinbar ist, wird von Gadamer aus dem Kreis der am Wahrheitsgeschehen Partizipierenden theoretisch ausgegrenzt; es fungiert allenfalls noch als Objekt distanzierter Erklärungen. Gerade dann, wenn es darauf ankäme, alles auf eine Karte zu setzen und die Herausforderungen radikal anderer, fremder Handlungs- und Lebenswirklichkeiten anzunehmen, geriert sich die philosophische Hermeneutik als ein Unternehmen, das ihr Gegenüber „in einer vermeintlich offenen und in Wahrheit hintergründig konservativen Weise in die eigene Weltsicht" (ebd., 118) einschließt. Dies hat mit dem für die philosophische Hermeneutik charakteristischen Willen zu tun, Interpretationen an ein Urteil über textuell vermittelte Sachfragen zu binden. Wer interpretiert, kann und soll, wie dargelegt, auf Wahrheiten stoßen, die seinen bisherigen Horizont erweitern. Dazu bedarf es eines Urteils. Der Wille zum Urteil verhilft eigenen Sichtweisen und Maßstäben zum Durchbrach, wenn anderes nicht mit dem Eigenen zu vermitteln ist. Gadamers eindrucksvolle Devise, die Stärken des anderen so lange zur Geltung zu bringen, wie es nur möglich ist, und diese Stärken immer wieder gegen die eigene Auffassung hervorzukehren, erhält etwas Fahles, sobald berücksichtigt wird, daß in der Sicht der philosophischen Hermeneutik die Stärken des anderen untergründig „immer schon" als mögliche eigene Stärken ins Blickfeld geraten nicht aber als etwas eventuell mit der eigenen Lebensform nicht zu Vereinbarendes. Eine alternative Verstehenskonzeption, wie sie Köglers Ansatz einer kritisch-dialogischen Hermeneutik darstellt, wird demgegenüber die Erfahrung radikaler Fremdheit zum Anlaß nehmen, sich vom eingefleischten Eigenen zu distanzieren, dieses im Lichte des begegnenden anderen zu verfremden, zu hinterfragen und zu ändern. Dies aber setzt voraus, daß man von einer Hermeneutik abrückt, die allzu ausschließlich um die vermeintlich universale Wahrheit, die ein Text beherbergt, besorgt ist.
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2.5.6 Die intentio operis und das wahrheitsorientierte Verstehen: weiterführende Überlegungen Kögler legt dar, wie Gadamers wahrheitsorientierte Hermeneutik ihr eigenes Prinzip der Offenheit nicht recht einlösen kann. Der entscheidende Grund dafür ist, daß sie die zu verstehende Position des anderen lediglich im Licht der eigenen substantiellen Hintergrundaimahmen und Rationalitätsstandards wahrzunehmen und zu stärken vermag. Das vom Interpreten für wahr Gehaltene dient letztlich als ein unverrückbarer Maßstab für die Beurteilung anderer Kulturen, Lebensformen, Individuen und ihrer Selbst- und Weltverhältnisse. In diesen eigenen Maßstab fließen substantielle Annahmen ein, die keineswegs zeit- und weltumspannende Universalien sind. Methodologisch betrachtet baut, so Köglers Resümee, das philosophisch-hermeneutische Fremdverstehen radikaler Selbstkritik und Innovation auf subtile Weise vor. Der andere vermag den Interpreten nie radikal in Frage zu stellen: die Überlieferung, in die die Gesprächspartner im Zuge des Verstehens einrücken, ist ja „immer schon das Eigene" des Interpreten. Selbst die durch den anderen provozierte und angestoßene Erkenntnis wird deswegen nie radikal innovative Züge besitzen können, sondern letztlich doch ein „Sichwiedererkennen" des Interpreten sein und bleiben. So bleibt der Kreis des Verstehens geschlossen, das vorausgesetzte Ganze unversehrt, die Einheit der Tradition, der angeblich alle zugehören, bewahrt und erneuert. Die Vielfalt der Stimmen im hermeneutischen Gespräch erweist sich als ein untergründig immer schon gesicherter Einklang einer prästabilierten Harmonie überlieferter Sachwahrheiten, in die sich alle am Verstehen teilhabenden Personen einfinden. Ist dieses Defizit von Gadamers Ansatz nicht einem der zentralen Charakteristika dieser Variante hermeneutischer Reflexion verschuldet, nämlich der Orientierung an einer Sache und an Wahrheit? Was Gadamers „Interpreten" interessiert, ist letztlich allein die Wahrheit der Sache, die in Frage steht. Anlässe für solche Fragen können Texte beliebiger Art abgeben (wenngleich Gadamer vornehmlich bestimmte Texte und Werke, nämlich die bleibenden Werke der Tradition, vor Augen hatte). Kommunikative Verständigung und Verstehen werden hier also nicht unter jenen Aspekten betrachtet, die in den Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften meistens hervorgehoben werden. Es geht der philosophischen Hermeneutik nicht, jedenfalls nicht primär, um den Informationsgehalt sprachlicher Äußerungen, um die sprachlich vermittelte Handlungsund Interaktionskoordination oder Selbstexpression der Akteure. Sie interessiert sich vielmehr für die in Texten zur Geltung gebrachten Wahrheiten, die alle angehen und die der Interpret ans Licht bringen soll. Diese Akzentverschiebung ist durchaus eine Bereicherung, von der auch eine interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie, die sich nicht mit Analysen der intentio auctoris begnügen will, profitieren kann. Gespräche und Texte verhandeln auch eine Sache, die die Sprecher und Autoren, die Rezipienten und Interpreten womöglich berührt und betrifft. Dies bedeutet: Sachverstand und Sinnverstehen sind, wie Gadamer häufig am Beispiel der Übersetzung aus einer Sprache in eine andere darlegt, eng miteinander verwoben. Verstehen heißt bei
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Gadamer: verstehen, was der andere oder der Text sagt, verstehen, weshalb und auf welche Weise bestimmte Auffassungen menschlicher Angelegenheiten ein Recht haben und Geltung beanspruchen können (Gadamer, 1986a, 389ff.). In der Perspektive der philosophischen Hermeneutik ist letztlich alle Verständigung und alles Verstehen auf die Explikation von Sachansichten und die Prüfimg von Geltungsansprüchen zugeschnitten. Diese Konzentration steht im Dienste der Horizonterweiterung, kurz: im Dienste einer allgemeineren Wahrheit, an der die Gesprächspartner teilhaben können und sollen. Sieht man von den erörterten Problemen speziell dieser wahrheitsorientierten Hermeneutik ab, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht jedes um Wahrheit in Sachfragen bemühte Verstehen schon im Ansatz falsch angelegt ist. Kögler (1992) scheint diese Ansicht zu vertreten, wobei er sich meines Erachtens in performative Selbstwidersprüche verwickelt, sobald er den machtkritischen Anspruch einer dialogischen Hermeneutik hervorkehrt. Denn diese Machtkritik soll ja argumentativ zur Geltung gebracht werden. Auch sie ist also mit Geltungsbzw. Wahrheitsansprüchen verknüpft. Ich selbst werde in Teil III ausführlicher darlegen, warum interpretative Analysen in der Handlungs- und Kulturpsychologie nicht völlig von Stellungnahmen zu textuell vermittelten Geltungsansprüchen, wie sie mit bestimmten Selbst- und Weltauffassungen, Handlungs- und Lebensorientierungen verbunden sein können, absehen können. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Interpretation und Kritik, an dem auch die psychologische Erfahrungs- und Erkenntnisbildung nicht vorbeikommt. Daß dieser Zusammenhang seine Tücken hat, machte die Kritik an der philosophischen Hermeneutik deutlich. Wer sich bewußt auf ihn einläßt, läuft schnell Gefahr, Interpretationen als nostrifizierende Akte zu vollziehen. Dieses Risiko bedarf eingehender theoretischer und methodologischer Reflexionen, die darauf abzielen, es zu minimieren. Völlig ausschalten läßt es sich nicht.
2.5.7 Das vergessene Subjekt: Übergang zur Tiefenhermeneutik Lorenzers Konzeption einer tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse stellt ein für die Handlungs- und Kulturpsychologie interessantes Beispiel für einen Ansatz dar, der sich in einem rezeptionstheoretischen Rahmen verorten läßt (vgl. hierzu Kapitel 2.6). Auch die philosophische Hermeneutik stellt rezeptionstheoretische Erwägungen an. Für manche Varianten der literaturwissenschaftlichen Wirkungsgeschichte und Rezeptionsästhetik war und ist Gadamers Werk wegweisend. Unübersehbar ist allerdings, daß wirkungsgeschichtliches Bewußtsein in der philosophischen Hermeneutik ausschließlich der wahrheitsorientierten Klärung einer fraglichen Sache dient. Als Subjekte, die die wissenschaftliche Erfahrung und Erkenntnis bilden, interessieren die Interpreten dagegen nicht. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist für Gadamer ein Bewußtsein der überlieferten Vorstrukturen des Verstehens, also ein transindividuelles Phänomen. Darin kann man einen Mangel sehen, dem abgeholfen werden kann, ohne den Psychologismus überholter Verstehenslehren wiederbeleben zu müs-
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sen. Die Frage nach der Subjektivität als einer wichtigen „Instanz" in der hermeneutischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung läßt sich von der Handlungsund Kulturpsychologie nicht einfach abweisen. Im Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik kann sie die Subjektivität nicht nur des Textproduzenten, sondern auch des Interpreten nicht vollständig in der Allgemeinheit der Sprache und der zu verhandelnden Sache verschwinden lassen. Die philosophische Hermeneutik ist zwar ein vorzügliches Mittel dagegen, der Reduktion von Sinn und Bedeutung auf „subjektiv gemeinten Sinn" entgegenzuwirken. Sie macht den Weg für text- und interpretationstheoretische Perspektiven frei, die sich im produktions- und rezeptionstheoretischen Rahmen nicht unterbringen lassen. Gadamers Ansatz krankt aber an einem komplementären Defizit. Für das handelnde Subjekt hat er so gut wie nichts übrig. Für die Handlungs- und Kulturpsychologie ist dagegen die Einsicht wichtig, daß selbst noch das Allgemeine, insofern es durch Subjekte zur Sprache gebracht wird, individuell vermittelt ist. Die Entwicklung von Sacheinsichten ist ein Vorgang, der durch die biographischen Erfahrungen und Erwartungen, den aktuellen Standort und Wissensstand des Interpreten geprägt ist. Die ihm verfügbaren Vergleichshorizonte bestimmen mit, was analysiert wird und wie das geschieht. Wenn die Psychologie die Subjektivität des Interpreten theoretisch und methodologisch in Rechnung stellt, tut sie dies nicht aus Interesse an Idiosynkrasien. Sie trägt dadurch vielmehr zur methodischen Kontrolle von Interpretationen bei und schafft in manchen Fällen sogar neue Ansatzpunkte und Perspektiven für die interpretative Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in den handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Ohne Zweifel kommt Individualität stets als etwas mit dem Allgemeinen Vermitteltes zum Zug. Deswegen muß man jedoch nicht damit einverstanden sein, daß bei Gadamer „das Individuelle derart perfekt in die allgemeine Sachlichkeit der Sprache aufgehoben (ist), daß sich die Frage nach der subjektiven Individualität, die sich im Text oder beim dialogischen Gegenüber (oder in der Interpretation, J.S.) zum Ausdruck bringt, sozusagen erübrigt" (Kögler, 1992, 68). Damit würde einfach weggebügelt, daß das Individuum, obschon es kein autonomer Urheber von Sinn und Bedeutung ist, an der Konstruktion sinn- und bedeutungsstrukturierter Wirklichkeiten beteiligt ist. Die besondere Individualität und die Allgemeinheit sprach-symbolischer Formen stehen auch in Texten und deren Interpretation in einem Spannungsverhältnis zueinander. Es ist immer ein konkretes Ich, das vor seinem individuellen Erlebnishintergrund in allgemeinen sprachlichen Schemata und Formen spricht und interpretiert. Das eine geht im anderen nicht bruchlos auf, obwohl sich Erlebnisse nie anders als in einer öffentlichen Sprache zu mitteilbaren Erfahrungen formen lassen. Die Tiefenhermeneutik wird dieser Einsicht gerecht. Als Theorie, Methodologie und Methodik der Interpretation setzt sie bei der intentio lectoris an, ohne den Sinn und die Bedeutung von Texten an die subjektive Lesart des Interpreten zu binden. Auch sie strebt durchaus nach der Klärung von Sachfragen. Diese erhalten nun jedoch ein besonderes Profil und können nur auf bestimmte Weise erschlossen werden. Wer an der Subjektivität der Interpreten vorbeiblickt, bekommt die für die Tiefenhermeneutik wichtigsten Fragen gar nicht
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II. Interpretation
ins Blickfeld. Unbewußte Dimensionen der Lebenspraxis, des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns von Menschen erkennen zu wollen, erfordert den Einsatz der ganzen Person. Die Tiefenhermeneutik verlangt nach dem Interpreten als einem individuellen, seine Gefühle, Vorstellungen und Handlungen reflektierenden Subjekt
2.6 Interpretation und die intentio lectoris: Psychoanalyse als Tiefenhermeneutik von Text-Leser-Interaktionen „Das, was Freud 'seelische Vorgänge des Menschen' nannte, sind Lebensentwürfe, die man - und dies ist die wichtigste These meines Beitrags - auch an Texten und an Gebilden der Kultur studieren kann, sofern man modo psychoanalytico vorgegangen ist..." (Alfred Lorenzer)
2.6.1 Elementare Bedingungen und Merkmale König (1993) macht auf einige unerläßliche Bedingungen und Merkmale der psychoanalytischen Forschung außerhalb des therapeutischen Kontextes aufmerksam. Eine erste Voraussetzung besteht in der handlungstheoretischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Reformulierung psychoanalytischer Grundgedanken. Nur so kann die Psychoanalyse der physikalistischen Sprache, die Freuds Schriften prägt, den Rücken kehren und ihr szientistisches Selbstmißverständnis überwinden. Dieses Selbstmißverständnis ist anzutreffen, wo immer die hermeneutischen Fundamente der Psychoanalyse völlig verkannt oder abgelehnt werden (vgl. z.B. Eagle, 1988, 212ff.). Es tritt häufig in Gestalt der medikozentrischen Ausrichtung der Psychoanalyse auf.37 Lorenzer wendet sich, wie er an prominenter Stelle schreibt, „kompromißlos-unzweideutig gegen alle Versuche ..., Psychoanalyse als nomologische Wissenschaft zu behaupten" (Lorenzer, 1974, 94; vgl. auch 1972c, 1977c). Die Psychoanalyse begreift er als
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Ob Freud diesem Selbstmißverständnis so erlegen war, wie Habermas (1977, 300; vgl. 262364) dies in den sechziger Jahren diagnostizierte, kann bezweifelt werden. Eine differenziertere Auffassung vertrat bereits damals Ricasur (1969). Er hat die hermeneutischen Grundlagen der Psychoanalyse freigelegt, ohne die (Trieb-) Ökonomik und Energetik über Bord zu werfen, was nicht zuletzt bedeutet, daß die Extensionalität des in die Neurophysiologie hineinreichenden Denkens Freuds als produktiv anerkannt wird. Seit langem betont auch Lorenzer (Lorenzer, 1974, 93, 153ff.; 1988b, 12ff.) die Doppelmetaphorik der Psychoanalyse. Demnach trifft weder die Reduktion der Psychoanalyse auf eine bloße Handlungstheorie und Sozialwissenschaft (etwa im Sinne von Schafer, 1976), noch die von Freud zeitlebens erhoffte neurophysiologische Fundierung den Kern der Sache. Ich brauche dieses schwierige Problem hier nicht zu vertiefen und gehe fortan einfach davon aus, daß die Psychoanalyse als sinnverstehende Praxis und Wissenschaft aufzufassen ist. Zur neueren Diskussion dieser bekanntlich umstrittenen Auffassung vgl. Grünbaum (1988, 1991).
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hermeneutische Wissenschaft, die sich mit der Analyse handlungsrelevanter Symbolsysteme befaßt. Lorenzers sozial- oder kulturwissenschaftliche Konzeption der Psychoanalyse lehnt nicht nur die nomologische Auslegung der Psychoanalyse, sondern auch gewisse geschichts- und gesellschaftsblinde, mythologische Spekulationen Freuds ab (z.B. Freud, 1973b). Auch die Methoden psychoanalytischer Erkenntnisbildung werden revidiert und erweitert. Ein Blick in Lorenzers Arbeiten zeigt schnell, daß dieser Autor nicht bloß den einen oder anderen Begriff auswechselt, hier eine überholte Hypothese streicht, dort ein neues Theorem hinzufügt. Er nimmt keine vereinzelten Reparaturen an der Nomenklatur vor, sondern reinterpretiert die metaphorischen Konstrukte Freuds. Lorenzers Reformulierung der Fundamente und Grundgedanken der Psychoanalyse verknüpft Symbol-, sprach-, interaktions-, sozialisations- und metatheoretische Überlegungen (zur Entwicklung des Werks vgl. Lorenzer, 1977c, 7-11; Belgrad, Görlich, König & Schmid Noerr, 1987). Lorenzer begreift die Psychoanalyse als eine interpretative Wissenschaft, deren Gegenstand Erlebnisfiguren bilden, die in ihrer sozialen, lebensgeschichtlichen und „geschichtlichen Fülle" ins Blickfeld geraten (Lorenzer, 1977b). Seine Schriften liefern jeder an sozialen und kulturellen Phänomenen interessierten Psychoanalyse wichtige Anregungen. Für die Kulturpsychologie, die Handlungen und andere Phänomene in ihrem soziokulturellen Kontext betrachtet, ohne dabei das Individuum aus den Augen zu verlieren, ist Lorenzers Ansatz höchst interessant. Dieser Ansatz sprengt den Rahmen einer Psychoanalyse, die sich ganz auf das Individuum und therapeutische Maßnahmen konzentriert. Er ist, soweit er im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften angesiedelt ist, speziell auf die Interpretation von Texten und anderen Handlungsobjektivationen zugeschnitten und bedient sich dabei eigens entwickelter Verfahren. Die methodische Orientierung, die Textinterpretationen an die Analyse von Text-Leser-Interaktionen bindet, verdient hier besondere Aufmerksamkeit. Lorenzer überträgt die Methodik der individuumszentrierten psychoanalytischen Therapeutik nicht umstandslos in das Feld der empirischen Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Er geht vielmehr davon aus, daß sich mit dem Gegenstand und Zweck der psychoanalytischen Erkenntnisbildung auch ihre Methodologie und Methodik ändert. Die Reflexion auf diesen Umstand begreift König (1993) zu Recht als notwendige Bedingung einer textwissenschaftlichen Konzeption psychoanalytischer Forschung. Die von Lorenzer angeregte tiefenhermeneutische Kulturanalyse und psychoanalytische Sozialforschung gehört zu den wenigen Ansätzen, die diese Bedingung erfüllen. Ihr methodologischer und methodischer Grundbegriff lautet „Interpretation", und dies meint nun die an der intentio lectoris ansetzende, tiefenhermeneutische Analyse von Texten und anderen Handlungsobjektivationen oder Objekten.
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II. Interpretation
2.6.2 Psychoanalytische Literaturinterpretation: Ausgangspunkt und Abweg Die Konzeption der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse wurde zunächst im Bereich der psychoanalytischen Literaturinterpretation entwickelt. Die psychoanalytische Kulturtheorie und Kulturforschung besitzt ihren Schwerpunkt seit jeher in der Literaturinterpretation und Literaturkritik (Lorenzer, 1984a, 215).38 Lorenzer (1978) gesteht zwar zu, daß die traditionelle psychoanalytische Literaturdeutung unbestreitbare Erfolge verbuchen könne. Er diagnostiziert aber auch schwerwiegende theoretisch-methodologische Begründungsprobleme. Die psychoanalytische Literaturdeutung wird üblicherweise als eine Abteilung der angewandten Psychoanalyse aufgefaßt. Diese Auffassung enthalte, so Lorenzer, einige fundamentale Schwierigkeiten, und zwar aus folgendem Grund: „eine im therapeutischen Verfahren erarbeitete Theorie wird unabhängig von der Therapieaufgabe zur Grundlage der Auseinandersetzung mit gänzlich anderen Untersuchungsgegenständen (hier: literarischen Texten) gemacht. Die innerhalb der ursprünglich-eigenen Domäne psychoanalytischer Arbeit, nämlich der Therapie, stets beachtete Einheit von Verfahren und Erkenntnis wird unbedenklich außer Kraft gesetzt, als ob damit nicht eine Grundregel der psychoanalytischen Erkenntnisbildung verletzt würde. Daß der Autor eines literarischen Textes in vielen Fällen kein lebender Mensch der Gegenwart ist, in keinem Fall aber einer, den die Deutung systematisch erreichen könnte, daß der Text kein Patient ist, der Interpret keinen verändernden Einfluß auf den Text oder einen irgendwie gearteten imaginären Patienten im Text hat - all diese einschneidenden Abweichungen vom analytischen Setting werden naiv übergangen, ohne sich und den anderen Rechenschaft darüber zu geben" (Lorenzer, 1978, 71f.; vgl. auch 1988a, 7; 1988b). Die traditionelle psychoanalytische Theorie und Methodik ist unweigerlich an Erfahrungen in der therapeutischen Praxis gebunden. Von daher wagt sich die Tiefenhermeneutik in andere Felder vor, von daher übernimmt sie theoretische Denkformen und das methodische Instrumentarium zur Analyse von textuell vermittelten Erzählfiguren - allerdings nicht umstandslos, nicht ohne Modifikationen, die der notwendigen Anpassung an den neuen Gegenstand dienen. Freud und seine Nachfolger haben dieser Notwendigkeit nicht hinreichend Rechnung getragen. Ihre psychoanalytischen Literaturinterpretationen werden längst als theoretisch und methodisch fragwürdige Unternehmen kritisiert. Die allzu leichtfertige Anwendung psychoanalytischer Theoreme und Begriffe führt in aller Regel zur Psychologisierung und Psychopathologisierung von Autoren und literarischen Figuren (Hamlet, der Hysteriker, hieß es schon bei Freud). Der
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Wegweisend waren Freuds Arbeiten. Bezugnahmen auf Sophokles' König Ödipus und Shakespeares Hamlet finden sich bereits in der Traumdeutung (Freud, 1973a, 267ff., 270ff.). Von einer in einem Brief an Fließ enthaltenen Analyse der Novelle „Die Richterin" von C.F. Meyer abgesehen, gilt als erste bedeutende Literaturdeutung Freuds seine Analyse der „Gradiva" (Freud, 1966). Zur Diskussion zwischen Literatur, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse vgl. die Bibliographie von Pfeiffer (1989).
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Gebrauch der vor allem der Metapsychologie und Psychopathologie entnommenen Kategorien öffnet methodisch unseriösen Mutmaßungen über die psychische Verfassung von Subjekten Tür und Tor. Ebenso fragwürdig sind die auf diesem Weg vorgenommenen „Illustrationen" der vermeintlich uneingeschränkten Anwendungsmöglichkeit des psychoanalytischen Vokabulars.39 Die autororientierte Produktionsanalyse bzw. Biographik sowie die werkorientierte, figurenanalytisch ausgerichtete Inhaltsanalyse literarischer Texte reflektieren die Anwendungsbedingungen des psychoanalytischen Vokabulars nicht hinreichend. Diese Ansätze besitzen zwar das Verdienst, daß sie den Blick auf das Leiden von realen oder fiktiven Subjekten richten und danach fragen, wie Individuen und Kollektive mit dem diagnostizierten Leid umgehen. Aus diesem Grund wird schon Freuds Hamlet zum exemplarischen Fall, an dem alle lernen können (Lorenzer, 1988b, 23). Problematisch ist und bleibt jedoch das angewandte Verfahren: Mit wenigen Bruchstücken der Theorie und Begrifflichkeit werden Individuen und deren Handlungen subsumtionslogisch „begriffen", also mehr oder minder zügig in die bereitstehenden Schemata eingeordnet. Damit geht in der Regel weder ein empirischer Erkenntnisgewinn noch eine Entwicklung theoretischen Denkens einher. Dies gilt auch für jene Fälle, in denen die autororientierte literaturpsychologische Analyse in einem umfassenden produktionstheoretischen Rahmen vorgenommen wird, der Autor also als Repräsentant seiner Zeit, als eine Art Seismograph der typischen psychosozialen Konfliktlagen betrachtet wird. In solchen Fällen bleiben auch Kollektive, bisweilen ganze Gesellschaften und Kulturen, vor psychologisierenden und pathologisierenden Zuschreibungen nicht verschont. Volmerg spricht im Hinblick auf die traditionelle psychoanalytische Literaturdeutung treffend von ,3iographismus" und der „Reduktion aufs abstrakt Allgemeine metapsychologischer Kategorien" und beklagt „als deren Folge eine Verkürzung des hermeneutischen Prozesses zu einem quasi-nomothetischen Subsumtions- und Zuordnungsverfahren ..." (Volmerg, 1977, 241; vgl. auch 1975). Neben vielen anderen (etwa Scheifele, 1987, 320f.) konkritisiert Würker diese Kritik an einem Beispiel. Es geht um eine Passage aus Canettis Autobiographie „Die gerettete Zunge". Nach traditioneller Auffassung legt es
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Die Autoren, die ins Netz der Psychoanalyse geraten waren, haben sich bisweilen selbst gegen allzu pauschale Deutungen ihrer kreativen Akte und ihrer Persönlichkeit verwahrt. Gleichwohl leben solche Deutungen bis heute fort. Schönau (1991, 4) etwa meint, „der" Künstler wolle „tendenziell seinen gekränkten Narzißmus wiederherstellen, seine Grandiosität realisieren statt mühsamen Verzicht zu leisten." Die Begründung dieser allgemeinen Behauptung kann sich methodisch nicht auf die Analyse literarischer Texte stützen, und auch autobiographische Schriften - die Literaten mit literarischen Mitteln gestalten -, bilden keine umstandslos geeignete Grundlage für solche Aussagen. Zur Diskussion der psychoanalytischen Theorie der Kreativität künstlerischen Schaffens vgl. die einschlägigen Abhandlungen in Curtius (1975) sowie Kraft (1984). Der „Kunstcharakter", speziell der formale Aufbau der Literatur und andere ästhetische Aspekte, werden in psychologischen Betrachtungen häufig vernachlässigt, nicht selten zum Schaden der Sache. Dagegen wenden sich neuere Arbeiten z.B. von Pietzcker (1990) oder Rose (1980).
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der Text nahe, die der Psychoanalyse so vertraute Kastrationsthematik zu verfolgen - gerade so wie in Freuds paradigmatischer Analyse von Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann" und in unzähligen nachfolgenden Literaturinterpretationen. „In der Tat", so Würker, enthält auch Canettis Text zahlreiche Szenen, „die eine ödipale Problematik zur Geltung bringen, wie z.B. eine Szene, in der der Vater nackt, mit großem Glied als Pferd bezeichnet wird, was uns aufdringlich Freuds Fallgeschichte vom 'Kleinen Hans' in Erinnerung ruft" (Würker, 1987, 304). Er fährt dann mit der Aufforderung fort, sich eine Interpretation vorzustellen, „die solcherlei Parallelen zwischen psychoanalytischer Erfahrung bzw. Erkenntnis und Textszenen organisierte; - was würde sie leisten? Nun, sicherlich nicht wesentlich mehr als eine Illustration psychoanalytischer Erkenntnisse (um solche Illustration ging es zumeist Freud), keinesfalls ein Verständnis einer unbewußten Sinndimension." Würker weist darauf hin, daß in der erwähnten Passage aus Canettis literarischer Autobiographie die dort geschilderten Bedrohungen, die den sich identifizierenden Leser ängstigen mögen, keineswegs verborgen sind. Sie werden vielmehr offen ausgesprochen. Zudem ist die Kastrationsproblematik dem Interpreten nicht unbewußt. Illustrationen, die auf dieses Thema abheben, artikulieren mehr oder minder Offenkundiges. Sie hantieren mit psychoanalytischen Stereotypen und popularisierten theoretischen Bruchstücken der Psychoanalyse. Wer das psychoanalytische Setting verläßt, um sich um die interpretative Analyse von Texten und Textanaloga zu bemühen, bedarf eines seinem Gegenstand anverwandelten Rüstzeugs. Diese Einsicht wird von Lorenzer und allen, die seinen Ansatz aufgreifen, hervorgehoben. Allerdings ist schon die Frage, wie dieser Ansatz zu charakterisieren ist, nicht einfach und einheitlich zu beantworten. Manches aus Lorenzers früheren Arbeiten wurde später verworfen oder revidiert. Lorenzers Hinwendung zur Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus spielt dabei eine wichtige Rolle. Ich werde diesen Sachverhalt im folgenden vernachlässigen. Ich setze voraus, daß die tiefenhermeneutische Kulturanalyse und Sozialforschung von der Anbindung an den historischen Materialismus losgelöst werden kann. Die Krise des historischen Materialismus legt sogar die Ansicht nahe, daß die tiefenhermeneutische Theorie, Methodologie und Methodik der Interpretation von Texten und anderen Objektivationen unserer Praxis an Überzeugungskraft gewinnt, wenn sie nicht mehr an die Erklärungsschemata und ideologiekritischen Perspektiven einer historischmaterialistischen Geschichts- und Gesellschaftstheorie gebunden ist.40
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Sieht man von früheren Arbeiten Lorenzers ab, läßt sich grob folgendes feststellen: nach der Kritik und Revision des psychoanalytischen Symbolbegriffs einerseits (Lorenzer, 1970), dem ersten ausführlichen Versuch, die Psychoanalyse gegen nomologische Auffassungen als hermeneutisches Verfahren auszuweisen andererseits (Lorenzer, 1973), rückte Lorenzer zwar keineswegs vollkommen von den bis dahin formulierten Positionen ab. Er reformulierte diese aber unter dem Einfluß der idelogiekritischen Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus (Lorenzer, 1972a, 1972b, 1972c, 1974, 1977c). Fortan bildet der historische Materialismus den Boden, auf dem die Psychoanalyse aufruht, allerdings als eine selbständige, kriti-
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In einer jüngeren Arbeit schreibt Lorenzer, daß die tiefenhermeneutische Kulturanalyse sich theoretische Überlegungen anzueignen habe, die nicht durchweg der Psychoanalyse entstammen. Er nennt dabei die Literatur- und Kunstwissenschaft sowie die kritische Gesellschaftstheorie. Letztere mache „kulturelle Phänomene als soziale durchsichtig" und kläre, „wie die kulturellen Gestalten aus der Wirklichkeit der Lebenstätigkeit und der Lebensverhältnisse einer Gesellschaft hervorgehen und hervorgingen: Es sind die eigenen, naturwüchsig an der eigenen Lebenspraxis orientierten Deutungsmuster geschichtskritisch aufzuklären" (Lorenzer, 1988b, 88). An dieser Forderung ist zumindest dann nichts auszusetzen, wenn die Lebenstätigkeiten und Lebensverhältnisse nicht einseitig und reduktionistisch als Produktionstätigkeiten und Produktionsverhältnisse begriffen werden und wenn das Geschichtsmodell des historischen Materialismus nicht den verbindlichen Maßstab für die eingeklagte geschichtskritische Aufklärung abgeben muß. In Teil III werde ich erörtern, daß selbst unter diesen Voraussetzungen die Kritik des Interpretandums ein schwieriges
sehe Theorie des Subjekts. An der Eigenständigkeit der Psychoanalyse als der Wissenschaft vom Unbewußten ließ Lorenzer nicht rütteln, wenngleich sich häufiger Formulierungen finden, die die Beschädigungen des Subjekts letztlich auf jene gesellschaftlichen Widersprüche zurückfuhren, die die politisch-ökonomische Analyse der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zuvor ans Licht zu bringen hat. Dadurch wird die Psychoanalyse dann doch in ein gewisses Unterordnungsverhältnis gerückt. Obendrein zeigen solche Formulierungen an, daß Lorenzer einer eindimensionalen, geradezu mythologischen Überhöhung der Produktionsverhältnisse als einer letzten und fundamentalen Erklärungsinstanz in die Hände arbeitet (vgl. Lorenzer, 1973) - obwohl er sich von allen kurzschlüssigen Auslieferungen des Subjekts an „objektive Bedingungen" und dogmatischem „Ableitungsdenken" distanziert. Die Sogwirkung des damaligen Zeitgeistes preßte auch Lorenzers Denken teilweise in einseitige Schablonen. Dazu zwang, ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis des Autors, keinerlei objektive „Nötigung". Wer gesellschaftliche (Produktions-) Verhältnisse im Sinne des historischen Materialismus überbewertet, kann das Psychische und die Kultur allenfalls noch als Derivat im gesellschaftlichen Überbau betrachten. Die geradezu zwanghafte, eindimensionale Rückbindung aller Erscheinungen an die materielle Basis gesellschaftlicher Verhältnisse - und damit die vermeintlich „unerläßliche Vermittlung subjektiver Analyse als kritisch-hermeneutischer mit der objektiven, kritisch-nomologischen Analyse der politischen Ökonomie" (Lorenzer, 1973, 19) -, raubt der Kultur, der Sprache und den Subjekten ihre begrifflichtheoretische und praktische, freilich stets limitierte Unabhängigkeit und Kreativität. Lorenzer spricht bisweilen im Fahrwasser des materialistischen Reduktionismus, wie sehr er auch auf Gefahren aller Reduktionismen aufmerksam macht und speziell gegen den ökonomischsoziologischen die Triebhaftigkeit und Bedürftigkeit der Subjekte und deren lebensgeschichtlich konstituierte Individualität ins Felde fuhrt. So überzeugend es ist, die Analyse der „Beschädigung von Individuen" (Lorenzer) nicht biologistisch, individualistisch oder idealistisch verkürzen zu wollen, so zweifelhaft erscheint es, die sozialtheoretische Fundierung und Konzeptualisierung der Psychoanalyse an einen Begriff von Gesellschaft zu koppeln, der der Kultur nicht den gebührenden Platz läßt und Soziales letztlich auf Produktionsverhältnisse reduziert. Der damit abgesteckte Rahmen ist für eine Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaft zu eng. Da nützt es nichts mehr, daß Lorenzer nach Wegen der Vermittlung zwischen objektiven Bedingungen und Subjektivem sucht und obendrein konzediert, die Psychoanalyse sei allein auf die „individuellen Absonderungen" des gesellschaftlich Objektiven spezialisiert, da ihr zur Gesellschafts- und Ideologiekritik die kategorialen Mittel fehlten.
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II. Interpretation
und heikles Unterfangen bleibt. Das gilt erst recht fiir die Begründung des Maßstabs der Kritik.
2.6.3 Vom therapeutischen Setting zum Text Im Kontext einer psychotherapeutischen Behandlung die Selbstdarstellungen und freien Assoziationen eines Patienten zu deuten, ist eine Sache, Textinterpretationen auszuarbeiten, die der sozial- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnisbildung dienen, eine andere: „Der besondere Objektbereich 'Text' verändert die Erfahrungsgrundlage der Psychoanalyse. Die konkrete Interaktion zwischen Analytiker und Patient läßt sich in der Textinterpretation nur virtuell, jedoch nicht praktisch einlösen. Der Forscher vermag zwar durch praktische Teilhabe an den Sprachspielen des Textes den Sinn auf der Basis umgangssprachlicher Regeln zu rekonstruieren, er vermag aber nicht den individuellprivatsprachlichen Anteil des Sprachgebildes zu entziffern. Für diese Operationen fehlt ihm ein entscheidendes methodisches Instrument der therapeutischen Praxis: die unmittelbare Teilhabe, das kontrollierte Mitagieren des Analytikers an der unbewußten Szene im Übertragungs-Gegenübertragungs-Kontext. Aufgrund des besonderen Objektbereichs der Textinterpretation im Gegensatz zu dem der analytischen Praxis bleibt dem Interpreten die individuell-lebensgeschichtliche und konkret-individuelle Bedeutung der Szene verschlossen" (Leithäuser & Volmerg, 1979, 137; vgl. außerdem 92ff, 120ff.; siehe zudem dies., 1988, 26-52; Leithäuser, Volmerg, Salje, Volmerg & Wutka, 1977). In der therapeutischen Praxis sind die Deutungen des Analytikers in unmittelbare Interaktions- und Kommunikationssituationen eingebettet, an denen zwei Personen teilhaben. Einen Dritten verträgt diese Situation bekanntlich nicht. (Von Besonderheiten gruppentherapeutischer Verfahren kann hier abgesehen werden.) Diese Interaktionen und Kommunikationen sind von Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgängen bestimmt. Der Analytiker übernimmt dabei die Funktion, Übertragungen des Patienten zu ermöglichen, ohne selbst den eigenen Gegenübertragungen ausgeliefert zu sein. Im Dienste des Patienten bietet er eine Beziehung an, in der der Analysand unbewußte Kindheitskonflikte, die in aktuellen, zumindest teilweise undurchsichtigen Konflikten ihren Niederschlag gefunden haben, wiederbeleben kann. Auf diese konkreten Reaktivierungen von Konflikten, auf das Übertragungsgeschehen zwischen Patient und Analytiker also, beziehen sich die psychoanalytischen Deutungen in allererster Linie. Die berühmte Freudsche Formel besagt ja, daß die Erinnerung an die pathogenen Erlebnisse mit deren Wiederholung in der aktuellen psychoanalytischen Situation verknüpft werden muß; anders könnte das ehemals Erlebte und sodann aus der Sprache „Exkommunizierte" nicht zum Gegenstand der Deutung und schließlich durchgearbeitet werden, im gelingenden Fall also - topisch und dynamisch gesprochen - trotz anfanglicher Widerstände aus dem Unbewußten zurückgeholt und resymbolisiert werden. Die (produktive) soziale Beziehung im psychoanalytischen Setting ist bei alledem von einem Vertrauen getragen, das der Analysand dem Analytiker
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entgegenbringt. Die Analyse weist einige weitere Besonderheiten auf, die bei der Anwendung psychoanalytischer Verfahren in textwissenschaftlichen Gefilden ebenfalls wegfallen. So haben psychoanalytische Beratungen und Behandlungen bekanntlich einen bestimmten Anlaß: zum Analytiker gehen Menschen unter Leidensdruck. Sie haben eine zumeist ausgedehnte zeitliche Dauer.41 Sie finden mit Regelmäßigkeit statt, und zwar unter klar definierten pragmatischen Voraussetzungen und situativen Bedingungen. Sie wollen bezahlt werden. Für die psychoanalytisch-therapeutische Praxis gilt das Koinzidenzprinzip. Dieses besagt, daß die Einsicht in die Genese der leidvollen Lebenssituation und Verfassung des Analysanden mit seiner Heilung einhergeht. Damit hängt es zusammen, daß innerhalb des psychoanalytischen Settings die Wahrheit psychoanalytischer Erkenntnis daran gebunden ist, daß der Patient den Deutungen des Analytikers zustimmt. Dies geht nicht ohne vorherigen Widerstand. Kann dieser überwunden und die treffende Deutung angenommen werden, eröffnet das veränderte Selbstverständnis dem Analysanden neue Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten. Aufklärung dient im therapeutischen Kontext unmittelbar der Transformation des praktischen Selbst- und Weltverhältnisses eines Menschen. In der mit Texten arbeitenden psychoanalytischen Forschung sieht das alles ganz anders aus. Die Arbeit am Text kann allenfalls metaphorisch als virtuelles Gespräch aufgefaßt werden. Ein personales Gegenüber gibt es hier nicht. Wissenschaftliche Textinterpretationen sind vom alltagsweltlichen Handlungsund Zeitdruck befreit. Die Materialität des schriftlichen Protokolls sichert, daß das Interpretandum stets zur Verfugung steht. Im Gegensatz zur Flüchtigkeit des ephemeren Wortes im psychoanalytischen Gespräch erlaubt es der Text beliebig vielen Rezipienten, sich immer wieder auf ein und dieselbe „Sache" zu beziehen. Darin besteht eine wesentliche Bedingung der methodischen Kontrolle und intersubjektiven Überprüfbarkeit von Interpretationen. Der Vertraulichkeit des psychoanalytischen Dialogs steht die öffentliche Zugänglichkeit von Texten gegenüber. Dabei spielt es allenfalls eine untergeordnete Rolle, ob sich die „Autoren" dieser Texte von vornherein an ein öffentliches Publikum richten oder ob die öffentliche Zugänglichkeit eine Art sekundäres Merkmal von Texten darstellt. Ersteres ist in aller Regel bei literarischen Werken der Fall, die sich an eine Leserschaft richten, deren Interesse geweckt und deren Phantasie provoziert werden soll. Letzteres kennzeichnet Texte, wie sie beispielsweise in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen entstehen, etwa dann, wenn Gespräche (Interviews, Gruppendiskussionen etc.) aufgezeichnet und sodann transkribiert werden. Das Verhältnis zwischen Text und Leser unterscheidet sich strikt von dem zwischen Analysand und Analytiker im therapeutischen Setting. Dementsprechend verschieden sind die Ziele und Möglichkeiten wissenschaftlicher und 41
Abkürzungen „klassischer" Behandlungstechniken gibt es natürlich. Lacans eigenwillige Kurztherapien sind eine extreme, heftigen Widerspruch hervorrufende Form davon (zur Kritik siehe Castoriadis, 1983).
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II. Interpretation
therapeutischer Praktiken. Textlektüren ändern allenfalls den Leser (und vielleicht noch diejenigen, die mit diesem im Gespräch sind). Der Autor bleibt davon unberührt. Verändert sich auch dieser, so ist das jedenfalls keine unmittelbare Folge der wissenschaftlichen Textinterpretation, sondern eine mögliche Folge des Gesprächs mit dem Wissenschaftler. Der Text schließlich ist und bleibt als ein fixiertes Dokument stets ein und dieselbe Sache. Er läßt sich auch durch Assoziationen des Textproduzenten nicht erweitern: „Der manifeste wie der latente Textsinn sind ausweglos 'eingesperrt' in den Text und in das aktuelle Text-Leser-Verhältnis" (Lorenzer, 1988b, 85). Der Leser kann sich, wie gesagt, verändern - und er soll sich verändern. Nach psychoanalytischer Auffassung sind Leseerfahrungen dazu da, den Leser und mit ihm idealiter die gesamte Leserschaft, die der psychoanalytische Rezipient und Interpret gleichsam vertritt, zu verwandeln. In der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse jedenfalls ändert sich der Rezipient und Interpret im Zuge des Textverstehens. Darin sieht Lorenzer den entscheidenden Unterschied zur psychoanalytischen Therapie, in welcher der Analytiker ja zur heilsamen Veränderung des Patienten beitragen soll. (Was freilich nicht gänzlich ausschließt, daß auch der Behandelnde aus der Behandlung als ein anderer hervorgeht. Eine Absicht oder ein Ziel ist dies jedoch keineswegs.) Der psychoanalytische Interpret von Texten soll also selbst und gewissermaßen an sich selbst erfahren und erkennen, was er bislang nicht sah - und was mit ihm viele andere Mitglieder einer Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur nicht (gebührend) wahrnehmen konnten und können. Die aufgezählten Besonderheiten, die von der Textualität des wissenschaftlichen Interpretandums herrühren, grenzen dieses scharf vom Gegenstand und Verfahren der psychoanalytischen Deutung innerhalb des therapeutischen Settings ab. Textwissenschaftliche Interpretations- und Verstehensbemühungen unterscheiden sich generell von Deutungs- und Verstehensleistungen, die unmittelbar in eine soziale Praxis eingelassen sind und in dieser bestimmte Funktionen erfüllen. Allerdings gibt es gerade in psychoanalytischer Sicht auch wichtige Verbindungsglieder zwischen den genannten Verstehensleistungen. Von besonderer Bedeutimg ist dabei das von Lorenzer so genannte szenische Verstehen, das vom Therapeuten und vom Tiefenhermeneutiker gleichermaßen verlangt, Interpretationen im Einsatz seiner ganzen Person zu entwickeln. Ohne daß der Sozialforscher und Kulturanalytiker seine subjektiven, lebenspraktischen Vorannahmen in seine Interpretationen einbrächte, bliebe der latente Sinn von Texten unweigerlich verschlossen. Tiefenhermeneutische Textinterpretationen sind an „Interaktionen" zwischen dem Text und dem Leser und die analytische Reflexion dieser Interaktionen gekoppelt.
2.6.4 Text-Leser-Interaktion und tiefenhermeneutische Interpretation: Ansatzpunkt und Zielsetzung Der Ansatz der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und psychoanalytischen Sozialforschung ist gegenwärtig die ausgefeilteste Variante einer psychoanalyti-
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sehen Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaft. Lorenzers Konzeption wurde in zahlreichen Forschungsfeldern erprobt. Es gibt tiefenhermeneutische Bildinterpretationen und Medienanalysen (Film, Fernsehen u. a.), Architekturanalysen, Interpretationen musikalischer Werke oder von Interaktionsritualen (Berndt, Lorenzer & Horn, 1968; Karlson, 1987; König, 1992; Nagbai, 1987, 1988; Salje, 1977; Schmid Noerr, 1987; Schmid Noerr & Eggert, 1988).42 Im folgenden beziehe ich mich im wesentlichen auf Textanalysen. Differenzen zwischen der tiefenhermeneutischen Kulturana\yse sensu Lorenzer und der psychoanalytischen Sozialforschung im Sinne von Leithäuser und Volmerg werden dabei vernachlässigt. Die text- und interpretationstheoretischen, die methodologischen und methodischen Aspekte, auf die es mir ankommt, bleiben sich in diesen Fällen nämlich gleich. Von manchen Vertretern der Tiefenhermeneutik wird die Unterscheidung zwischen Kulturanalyse und Sozialforschung ohnehin nicht respektiert. Im übrigen ist es für die folgenden Darlegungen egal, welche Art von Texten psychoanalytisch interpretiert werden soll. Literarische Texte kommen ebenso in Frage wie nicht-literarische. Tiefenhermeneutische Textanalysen richten sich nicht auf die (realen) Personen, die die auszulegenden Texte produziert haben oder in ihnen vorkommen, sondern auf textuell vermittelte, soziokulturelle und psychische Phänomene, die für mehrere Menschen von Interesse sind. Vor allem aus diesem Grund ist die Textsorte des Interpretandums allenfalls von sekundärer Bedeutung, so daß beispielsweise Scheifele (1987, 317) vor ihrer tiefenhermeneutischen Analyse eines Textes von Canetti schreiben kann: „Für die Interpretation ist unerheblich, ob 'Die gerettete Zunge' eine Autobiographie oder, wie der Untertitel lautet, die 'Geschichte einer Jugend' ist. Da es darum geht, die Struktur des Handlungsraumes und damit die Interaktionsformen herauszuarbeiten, ist es gleichgültig, ob es eine lebende Person gibt, die mit der Hauptperson des Buches identisch ist und Elias Canetti heißt, oder ob die geschilderten Episoden aus dem Leben dieser Person berichten und ihr Erleben darstellen. Es spielt also keine Rolle, ob Geschehenes subjektiv verzerrt erzählt wird oder ob das Geschilderte erdichtet ist. Handelte es sich bei dem zu interpretierenden Kapitel um eines aus einem Roman, der Gang der Interpretation würde sich von dem hier eingeschlagenen nicht unterscheiden." Die traditionelle psychoanalytische Literaturdeutung vernachlässigte die Rolle des Lesers bzw. wissenschaftlichen Interpreten fast vollständig. Die Bot-
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Alle diese Forschungsfelder haben ihre Traditionen. Freuds kulturpsychologische Studien bilden dabei den Anfang einer Reihe, deren Fortsetzung er ausdrücklich wünschte. Freud warnte davor, daß die Psychoanalyse „von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische Suggestion, Autosuggestion, Persuasion", und er ergänzte diese Warnung durch die Hoffnung: „Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als 'Tiefenpsychologie', Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen" (Freud, 1972c, 283).
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schaft literarischer Werke galt, wie die Bedeutung von Texten generell, als etwas vom Rezipienten Unabhängiges. In erster Linie interessiert sich die Psychoanalyse noch heute für das literarische Werk „als psychisches Produkt eines Individuums in einer bestimmten gesellschaftlichen, historisch-kulturellen und Lebens-Situation, ein Produkt, das sich als Kompromißbildung aus Phantasie und Abwehr erweist..." (Schönau, 1991, 82).43 Auch Lorenzer huldigte einst diesem Programm. So sprach er von den „Künstlerpsychogrammen" als Ergebnissen eines „gut bewährten Zweiges psychoanalytischer Arbeit". Er sah damals kein Problem darin, daß „(zumal dann, wenn die biographischen Notizen spärlich sind) der Weg über eine 'Interpretation des Werkes' gewählt (wird), um so das Zusammenschließen von Einzelgedanken über eine ganze Philosophie hin zum psychologischen Verständnis auszunutzen. Binswanger ... sagt mit Recht: Schopenhauer läßt sich über die Schopenhauersche Philosophie verstehen" (Lorenzer, 1973, 94). Lorenzers aktuelle Konzeption bricht mit dieser Tradition radikal. Diesen Bruch signalisiert der nunmehr gänzlich andere Ansatzpunkt der tiefenhermeneutischen Erfahrungsund Erkenntnisbildung auch im Feld der Literaturinterpretation. Als konstitutiv für den sozial- und kulturwissenschaftlichen Modus psychoanalytischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung gelten nun die Text-LeserInteraktionen. Diese Wendung ist ohne die in den sechziger Jahren einsetzende Entwicklung des wirkungsgeschichtlichen Ansatzes in der Literaturwissenschaft und vor allem der Rezeptionsästhetik kaum verstehbar - auch wenn Lorenzer auf Formulierungen Freuds aufmerksam macht, die bereits in eine ähnliche, allerdings kaum verfolgte Richtung wiesen (Lorenzer, 1988b, 25). In seinen Briefen an Fließ bestand Freud nämlich auf der „textaktualisierenden" Rolle des Hörers bzw. Lesers bei der Rezeption von Theaterstücken und literarischen Werken. Was die aktuellen wirkungsgeschichtlichen und rezeptionstheoretischen Ansätze in den Textwissenschaften angeht, spielen die Literaturwissenschaften eine wegweisende Rolle. Arbeiten beispielsweise von Weinrich, Jauß, Iser oder auch Eco haben die Konzentration auf den „Akt des Lesens" (Iser, 1990) entscheidend gefordert. Es ist der Leser, der den Text aktualisiert. Erst seine aktive Mitarbeit am Text macht diesen zu einem sinn- und bedeutungsstrukturierten Gebilde. Sinn- und Bedeutung sind keine vom Handeln des Rezipienten völlig losgelösten Eigenschaften des Textes. Sie sind ausschließlich in der „interaktiven" Beziehung zwischen Leser und Text existent. Texte sagen
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Schönau nimmt in der Fortführung seines Satzes einen durch den ¡eser-orientierten, wirkungsgeschichtlichen und rezeptionsästhetischen Ansatz verbreiteten Gedanken auf. Nachdem er zunächst der Kritik an der traditionellen psychoanalytischen Literaturdeutung und Literaturkritik Nahrung liefert, macht er auf eine Einsicht der leser-orientierten Literaturtheorien aufmerksam. Schönau schreibt nämlich, daß das literarische Produkt „in der Kommunikation mit dem Leser als überdeterminiertes Sinnpotential funktioniert." Dies ändert freilich nichts an dem von ihm hervorgehobenen, primären Interesse und Ansatzpunkt der psychoanalytischen Literaturinterpretation.
2. Sprache, Text, Interpretation
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aktiven Lesern etwas, oder sie sind stumm. Was sie Rezipienten bedeuten, mag verständlich oder wirr sein. Ohne den Akt des Lesens schweigen Texte. In den hier interessierenden Varianten liefert die rezeptionstheoretische Sicht keinen Freibrief für willkürliche, nur noch der Lust und Laune und den idiosynkratischen Phantasien des Rezipienten entspringende Lesarten, Deutungen oder Interpretationen. Die strukturelle und inhaltliche Beschaffenheit eines Textes begrenzt die möglichen, potentiell sinnvollen Lesarten, Deutungen und Interpretationen. Wenngleich also Sinn und Bedeutung eines Textes davon abhängen, was das aktive Subjekt im Rezeptionsvorgang mit dem Text macht, kann der Leser mit dem Text, möchte er diesen als ein sinn- und bedeutungsstrukturiertes Gebilde erfassen, doch nicht alles anstellen, was ihm gerade einfällt. Die Rede von Text-Leser-Interaktionen ist auch als Eingrenzung von Deutungs- und Interpretationsspielräumen, in denen subjektiv zu konkretisierende Textaktualisierungsmöglichkeiten offenstehen, zu verstehen. Diese Limitierung hat mit dem Text selbst zu tun. Texte können Deutungen und Interpretationen Widerstand entgegenbringen; sie lassen sich nicht beliebig auslegen und auffassen. Auch Lorenzer hält den Text nicht für eine tabula rasa. Texte sind keine unbegrenzten Projektionsflächen, die den Leser einladen, seine Phantasien zügellos auszuagieren. Erst recht sind sie kein neutraler Adressat für Übertragungen. Es ist nicht bloß so, daß der Leser einen Text aktualisiert, sondern auch so, daß der Text eine Wirkung auf den Leser entfaltet. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, daß er soziokulturell bedeutsame „unbewußte Erlebniskomplexe" tangiert. Im Gegensatz zu einem durchaus verbreiteten Mißverständnis geht es der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse letztlich nicht um den Rezipienten selbst, schon gar nicht um seine Subjektivität oder Individualität. Dies muß im Auge behalten werden, wenn von einem rezeptionstheoretischen Rahmen der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und Sozialforschung die Rede ist. Der Rezipient bzw. wissenschaftliche Interpret dient vielmehr als eine Art Vermittlungsinstanz, deren theoretisch und methodologisch begründete und schließlich methodische Funktion in der Analysepraxis zur Erschließung transsubjektiver, latenter oder unbewußter Sinndimensionen des Textes selbst führen soll. Diese Funktion erfordert allerdings den Einsatz der ganzen Person. Der wissenschaftliche Interpret muß seine subjektiven, individuellen Voraussetzungen vorbehaltlos in den Dienst der Sache stellen. Diese Sache gibt jedoch der Text, das Interpretandum, vor. Um den Interpreten als Person geht es in der psychoanalytischen Kulturanalyse und Sozialforschung nicht. Dieser ist in seiner Subjektivität und Individualität zwar ein unerläßliches Mittel der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, nicht aber deren Zweck und Zielobjekt. Die Sinn- und Bedeutungsgehalte, die die psychoanalytische Interpretation ans Licht bringen will, sind soziokultureller Natur. Sie verweisen auf psychologische Phänomene, die nicht einen einzelnen, sondern viele Menschen angehen. Den Betroffenen sind diese Phänomene nicht bewußt. Sie bilden einen latenten Bestandteil der Praxis und bedürfen, um in ihrer handlungs- und interaktionssteuernden Wirksamkeit durchschaut werden zu können, der psycho-
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II. Interpretation
analytischen Aufklärung. Es ist evident, daß sich der tiefenhermeneutische Ansatz von rezeptionstheoretischen Überlegungen in der Literaturwissenschaft und Semiotik sowie den empirischen Forschungen, die durch Fokussierungen des Leserverhaltens initiiert wurden, unterscheidet. Das kollektive Unbewußte ist eine Spezialität der Tiefenhermeneutik. Lorenzers Konzeption setzt sich aber auch klar von älteren psychoanalytischen Ansätzen ab, und zwar nicht nur von solchen, die in den bereits kritisierten Traditionen stehen, sondern auch von jenen, die ganz im Sinne des allgemeinen rezeptionstheoretischen Ansatzes die Wirkung von Literatur auf den Leser zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Forschungen machen (z.B. Holland, 1968, 1973, 1975, 1979). In der Perspektive der psychoanalytischen „Ich-Psychologie" untersucht Holland die assimilierenden Lektüren von Lesern, die Literatur, so die grundlegende Annahme, stets im Dienst eigener Wünsche, Identitäts- und Abwehrstrukturen rezipieren. Holland interessiert sich nicht für den literarischen Text als solchen und die speziell an ihn gekoppelten Sinn- und Bedeutungsgehalte. Gelesene Literatur wird von ihm vielmehr ganz und gar als subjektives Erlebnis thematisiert, das in individuumszentrierter Sicht zu analysieren ist. Dieser Ansatz ist höchst umstritten. Während beispielsweise Groeben (1972, 418) Hollands Untersuchungen - nicht zuletzt wegen des Bemühens, theoretische Hypothesen auch „experimentell" zu bestätigen - als methodisch seriöse Variante psychoanalytischer Forschung lobt, fallt die - an anderen Kriterien orientierte Einschätzung Isers (1990, 67ff.) sehr negativ aus. Iser kritisiert Hollands Anwendung der Psychoanalyse als eine Art „'imperialistischer Philosophie' mit außerordentlich verquollener Begrifflichkeit". Damit wendet er sich nicht gegen Freuds Denken oder die Psychoanalyse im allgemeinen, sondern gegen die in der Freud-Rezeption erfolgte Erstarrung des psychoanalytischen Vokabulars zu einem System.44 Wo die psychoanalytische Forschung sich ihrem Gegenstand mit einem feststehenden Kategoriensystem nähert, ist sie in der Tat weit entfernt von jenem „Stoffdenken" Freuds, das sich dem interessierenden Material anzuschmiegen bemühte. Eine bloß systematisch-kategorisierende und illustrative, kaum aber explorative und hermeneutische Verwendung der Psychoanalyse kann man Holland mit guten Gründen vorhalten. Diese Kritik, die Iser um einige weitere Einwände ergänzt (etwa gegen Hollands klassischen Formbegriff; gegen dessen teilweise an Richards erinnernde „emotive theory" und seine Harmonieästhetik, welche im Lesen von Literatur allein die Funktion eines psychischen Ausgleichs walten sieht), diese Kritik also stimmt mit Lorenzers Einwänden überein. Sie markiert den entscheidenden Bruch in der Entwicklung der psychoanalytischen Literaturtheorie und Literaturinterpretation. Der (wissenschaftliche) Rezipient interessiert in der Tiefenhermeneutik ausschließlich als Textinterpret, der über die Analyse seiner „Interaktionen" mit dem gelesenen Stoff zu textuell vermittelten, unbewußten Strukturen psychoso-
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Ähnlich hart geht Iser am angegebenen Ort mit Lessers (1957) psychoanalytischem Ansatz ins Gericht.
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zialer Wirklichkeiten vordringen soll. Diese bilden den eigentlichen Gegenstand der psychoanalytischen Kulturanalyse und Sozialforschung. Die in allen Rezeptionstheorien hervorgehobene Tatsache, daß das lesende Subjekt den Text aktualisiert und dabei seine Lesart und sein Verständnis entwickelt, bedeutet hier gerade nicht, daß es um die Individualität oder Subjektivität des Interpreten geht. Oevermanns spöttische, nicht zuletzt gegen die Tiefenhermeneutik gerichtete Bemerkung, „daß in neuerer Zeit ... mehr der Forscher selbst in seiner Subjektivität untersucht zu werden scheint als sein Gegenstand" (1990, 64), bezeugt nicht allein ein fragwürdiges objektivistisches Wissenschaftsideal. Sie stellt auch ein grobes Mißverständnis der tiefenhermeneutischen Interpretationstheorie und -methodologie dar.45 Das Forschungssubjekt ist in der Tiefenhermeneutik keinesfalls ein letzter, den „Gegenstand" ersetzender Bezugspunkt psychoanalytischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Es ist vielmehr eine Art Vermittlungsinstanz, ohne die bestimmte Modi der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung nicht vorstellbar, bestimmte Einsichten nicht zu haben sind. Wie jede hermeneutische Verstehensleistung, so bleibt auch die tiefenhermeneutische „Interpretation als Resultat des Interpretierens an das Interpretandum gebunden. Die Deutung muß unablässig zum Gedeuteten, z.B. den konkreten Erlebnisschilderungen, zurückkehren. Dies ist notwendig nicht nur, um sich immer wieder der Triftigkeit der Deutung zu versichern, sondern auch, weil sich die Interpretation konkret nur am Interpretandum auslegen läßt. ... Der Begriffmuß am Begriffenen erläutert werden" (Lorenzer, 1988b, 14). Dies ist eine unmißverständliche Aussage zur empirisch fundierten, interpretativen Erkenntnis-, Begriffs- und Theoriebildung einer „konkreten Psychologie" (Politzer, Lorenzer). Texte und andere „greifbare Symbolbildungen" bestimmen den Akt des Lesens mit, die Provokation des Textes ist, wie Lorenzer formuliert, „inhaltlich bestimmV, und sie ist überindividuell, vielleicht gesellschaftlichkollektiv, möglicherweise sogar epochenübergreifend" (Lorenzer, 1988b, 28). Kollektiv Unbewußtes, also gerade nicht (allein) das Unbewußte des Interpreten, steht zur Debatte. Die Forderung, die Subjektivität des Interpreten in tiefenhermeneutischen Untersuchungen zu überschreiten, hat im übrigen noch einen anderen, trivialeren Aspekt. Dieser besagt, daß alle für die Erfahrungs- und Erkenntnisbildung wesentlichen Handlungen des Interpreten kontrolliert werden sollen, und zwar von anderen Interpreten. Die psychoanalytische Kulturanalyse und Sozialforschung ist idealiter ein Gruppenunternehmen. Die Beteiligten übernehmen dabei füreinander eine Art Moderator-, Kritik- und Kontrollfunktion, wenn sie damit beschäftigt sind, Texte zu analysieren. Was bedeutet es genauer, daß sie Texte und sonstige „greifbare Symbolbildungen" auf Spuren kollektiv
4!
Von einer tiefenhermeneutischen „Methodologie" des Sinnverstehens wird (gegen Oevermanns Verdikt) gesprochen. Oevermann (1993, 144ff.) mag in der tiefenhermeneutischen Interpretation ja bloß eine Praxis oder Lebensform sehen, nicht aber eine Methodologie wissenschaftlichen Sinnverstehens.
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II. Interpretation
unbewußter Erlebnisse und Erfahrungen, Erwartungen und Orientierungen hin untersuchen? Tiefenhermeneutische Interpreten erkunden Spuren von „innerem" und „sozialem Leid". Der Ausdruck dieses Leids in Objektivationen aller Art muß modo psychoanalytico entschlüsselt werden, um verstanden werden zu können (Lorenzer, 1988b, 23). Das Leiden und Leid von Menschen steht also im Mittelpunkt der psychoanalytischen Therapie und der Sozialforschung oder Kulturanalyse. Erfahrenes und erwartetes, erlittenes und befürchtetes Leid kommen dabei gleichermaßen in Betracht. „Zwischen den Zeilen" von Texten nimmt dieses Leid Gestalt an. Ohne eingehende Berücksichtigung seiner Beziehungen zu unbewußten Wünschen kann es nicht begriffen werden. Menschliches Leid gerät nach tiefenhermeneutischer Auffassung also in ein textuelles Feld, in dem es in all seinen Verbindungen mit den inneren Spannungen zwischen Wunsch und Verbot, zwischen Selbstentfaltung und Zwang (Lorenzer) thematisch wird (und doch verborgen bleibt). Nach tiefenhermeneutischer Auffassung leiden Menschen an dem Widerspruch zwischen individuellen Wünschen, also den psychischen Repräsentanzen der Triebe einerseits, kulturellen und sozialen Zwängen, Versagungen und Ansprüchen andererseits. Der Wunsch muß verdrängt werden, weil der kulturelle, gesellschaftliche, soziale Konsens es fordert. Unbewußt bleibt er gleichwohl wirksam. Obwohl unterdrückt, strukturiert er möglicherweise soziale und psychische Konflikte und schürt das drohende „Elend" der Neurose, generell jedweder Form der Gewalt nach „innen" oder „außen". Erdheim veranschaulicht dies an einem Beispiel. Er zitiert Luther als einen strengen Repräsentanten der soziokulturellen Ordnung, der reklamiert, daß ein schwachsinniges Kind tagein tagaus nichts tat, nur „fraß, schiß und seichte und wenn mans angriff, so schrie es. Wenns übel im Hause zuging, daß Schaden geschah, so lachete es und war fröhlich, gings aber wohl zu, so weinete es" (Luther, zit. n. Erdheim, 1987, 151). Luther hätte an dem, wie er glaubte, vom Teufel besessenen Kind am liebsten den homicidium gewagt, doch da er mit diesem Vorschlag allein stand, blieb schließlich nur das Beten, um den Teufel vielleicht so loszuwerden. Erdheim analysiert die in dem (hier nur teilweise zitierten) Textstück sich artikulierende Spannung zwischen Wünschen und sozialen Normen bzw. Werten. Er diagnostiziert schließlich ein allgemeines Leiden am Prozeß der Zivilisation und den damit einhergehenden Entdifferenzierungen und Verlusten. Der alte Menschheitswunsch, essen und trinken zu können, ohne arbeiten und sich disziplinieren zu müssen, wird von Luther in die verwerflichen Machenschaften eines schwachsinnigen Kindes verkehrt. Der Statthalter der soziokulturellen Ordnung ist sogar bereit, dieses Kind dem Tod zu weihen. Es kommt in der kurzen Geschichte nicht dazu. Was nach Erdheims Lesart in den interpretierten Zeilen jedoch schon „abgestorben" ist und erneut unterdrückt wird, sind bestimmte triebhaft-sinnliche Wünsche in ihrer Maß- und Zügellosigkeit. Sie werden (mehr oder minder) der Kultur geopfert. In der damit einhergehenden Spannung steckt der Grund nicht nur der schöpferischen Leistungen der Individuen und Kollektive, sondern auch des inneren und sozialen Leidens, von dem die Mitglieder einer Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur
2. Sprache, Text, Interpretation
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jederzeit erfaßt werden können. Wie Lorenzer verfolgt auch Erdheim die Zerstörung der Sinnlichkeit im soziokulturellen Prozeß der Zivilisation. Er legt (an einem anderen Beispiel) detailliert dar, „daß eine sich auf den Teufel beziehende Religion Produkt ist der aus dem Bewußtsein ausgeschlossenen und ins Unbewußte verwiesenen Wahrnehmungen kultureller Entdifferenzierungen" (Erdheim, 1987, 152). Damit wendet sich Erdheim nicht zuletzt gegen die allzu simple Idee einer soziokulturellen Evolution, die die Geschichte und speziell den Prozeß der Zivilisation lediglich als fortschreitende Differenzierung begreift. Die den Tiefenhermeneuten interessierenden, unbewußten Sinn- und Bedeutungsgehalte eines Textes sind latent, das heißt: sie bilden eine gegenüber dem manifesten Gehalt der Äußerungen eigenständige Ebene. An literarischen Texten macht Lorenzer klar, daß das, wonach der tiefenhermeneutische Interpret sucht, nicht in logisch-diskursiver Sprache gesagt, sondern in szenischen Bildern vermittelt wird. Im Gegensatz zum Traum, der dem Träumenden nach dem Erwachen häufig genug wirr vorkommt und in der Tat keinerlei latente Bedeutung anzeigt, berühren literarisch ausgearbeitete Bilder unbewußte Sinnund Bedeutungsschichten einer kollektiven Praxis. Der Literat geht in seinen Symbolbildungen einen entscheidenden Schritt über das hinaus, was durch die Traumarbeit, also vor allem durch die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung, geschaffen wird und schließlich als manifester Trauminhalt artikuliert werden kann (Freud, 1973a). Der Schriftsteller muß nämlich „dem Unbewußten einen unübersehbaren Platz im öffentlichen Raum schaffen, indem er das vom allgemeinen Bewußtsein Verworfene, Ausgeschlossene oder doch Unbeachtete zu jenen sichtbaren, hörbaren, greifbaren Gebilden gestaltet, an denen sich die Imagination der anderen entzünden kann. Das Unsagbare muß in eine Mitteilungsform eingebunden werden, die stummgewordene oder unerlöste Empfindungen spürbar macht" (Lorenzer, 1988b, 25; zur Differenz zwischen Traumdeutung und Literaturinterpretation 29-38). Die Tiefenhermeneutik geht den Anzeichen nach, die sich im Text als einem „real greifbaren Symbolgefuge" finden lassen, nicht aber im Bewußtsein des Leidenden, der, nach einem Wort Goethes, in seiner Qual verstummt (ebd., 24). Daß zumal literarische Texte solche Anzeichen des Unbewußten aufweisen, unterscheidet sie z.B. vom manifesten Trauminhalt. Die Analyse von Träumen bedarf der freien Assoziationen des Träumers. Nur so kann die Traumdeutung als via regia einer Psychologie des Unbewußten fungieren. Der als Symbolgefuge objektivierte literarische Text verwischt dagegen die Spuren des Unbewußten nicht ganz, im Gegenteil! Auch wenn er Unbewußtes nicht schon unverhüllt zum Ausdruck bringt, thematisiert er es in jenen polyvalenten, szenisch-bildhaften Arrangements, die die Phantasie des Lesers herausfordern. Texte besitzen denotative und konnotative Sinn- und Bedeutungsdimensionen. Ein Text sagt mit ein und denselben Worten möglicherweise zweierlei. Sein wörtlicher Sinn liegt offen zutage. Neben diesem manifesten Sinn besitzt der Text einen verborgenen. Dieser ist allerdings nicht einfach verdeckt und „versteckt". Der Text artikuliert ihn vielmehr in sinnlich-unmittelbarer Symbolik, in bildhaft-szenischen Arrangements. Diese entziehen sich der logisch-
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II. Interpretation
diskursiven Denotationsanalyse. Sie bedürfen der interpretativen Konnotationsanalyse. Nach der hier vertretenen Auffassung sind mehrdeutige Bilder und Szenen nicht nur Merkmale literarischer Konstruktionen. Sie haben auch in der Alltagssprache und alltagsweltlichen Verständigung ihren Platz. Demzufolge kann die Tiefenhermeneutik nicht nur literarische Texte auf Anzeichen des kollektiv Unbewußten hin abklopfen. Gewiß, die Kunst verläßt die diskursivdenotative Ebene logisch-rationaler Darstellungs- und Verständigungsformen bewußt und mit eigens zu diesem Zweck entwickelten Mitteln. Sie besitzt darin eine ihrer zentralen Funktionen. Nicht zuletzt die Meisterschaft, die sie an den Tag legt, wenn sie diese Funktion erfüllt, grenzt sie von den Sinnbezirken „Wissenschaft" und „Alltag" ab. Sie steht allerdings keineswegs ganz allein da, wenn sie, in Bildern und Szenen verhüllt, anzeigt, wo den Menschen der Schuh drückt. Die Ebene logisch-diskursiver Darstellung und Verständigung, die denotative Ebene der Sinnbildung wird beinahe überall, wo gehandelt und gesprochen wird, für den einen oder anderen Moment verlassen. In Boeschs (1991) Handlungs- und Kulturpsychologie besitzt diese Einsicht aus gutem Grund den Status eines fundamentalen Theorems. Eine dezidiert als Konnotationsanalyse angelegte Interpretation setzt an der polyvalenten Struktur aller möglichen Symbolgefüge an. Alle Handlungen und deren mögliche Objektivationen können im Prinzip von verschiedenen, eigenständigen Sinn- und Bedeutungsebenen her bestimmt, beschrieben und erklärt werden.46 Tiefenhermeneutische Interpretationen richten sich auf psychologische Sachfragen. Finden diese Fragen Aufklärung und Antwort, läßt das die Wissenschaftler und die, die ihre Analysen zur Kenntnis nehmen, in der Regel nicht unberührt. Dies gehört durchaus zu den Zielen tiefenhermeneutischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Wer Spuren des kollektiv Unbewußten in bildhaft-szenischen Textarrangements sucht, entziffert und die Ergebnisse seiner Bemühungen veröffentlicht, der wendet sich an Personen, die er nicht unverändert lassen will. Die tiefenhermeneutische Interpretation soll benennen, was der Poet wirkungsvoll gestaltete, ohne das Geheimnis zu lüften. Literatur und Tie-
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Boesch (1976) beruft sich in den ersten Zeilen seiner Ausfuhrungen über das Verfahren der Konnotationsanalyse im übrigen auf Freud, speziell auf die paradigmatischen und seines Erachtens bis heute unübertroffenen Darlegungen in der „Traumdeutung". Von prinzipiellen Differenzen einmal ganz abgesehen, ist Boeschs Methodologie und Methodik der Konnotationsanalyse allerdings ein gutes Stück vom Differenziertheitsgrad der Überlegungen, die im Umfeld der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse und Sozialforschung angestellt wurden, entfernt. Schwierigkeiten beginnen bereits dort, wo die Konnotationsanalyse, die als Verfahren der freien Ideenassoziation in Diagnostik und Therapie entwickelt wurde, relativ umstandslos in einer an objektivierten Symbolgefiigen interessierten Handlungs- und Kulturpsychologie eingesetzt werden soll. Was die Methodologie und Methodik der Interpretation angeht, ist Boeschs symbolische Handlungs- und Kulturpsychologie ergänzungsbedürftig. Die 1976 verfaßten, später öffentlich zugänglich gemachten Ausfuhrungen über die Konnotationsanalyse bilden diesbezüglich auch noch im opus magnum (Boesch, 1991, 281) die einzige Grundlage.
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fenhermeneutik sind in Lorenzers Verständnis gleichermaßen einem kritischen Geist verpflichtet. Sie pochen beide auf Veränderung. Sie sprechen, wie es mit aufklärerischem Pathos heißt, im Namen von Leidenden, die unter internalisierten Zwängen stehen und mit Versagungen und repressiven Ansprüchen, vielleicht mit dem Orientierungsverlust oder der Ratlosigkeit einer Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur konfrontiert sind. Die Literatur und die Tiefenhermeneutik sind nach Lorenzer der Aufgabe verpflichtet, Klarheit in die Angelegenheiten von Menschen zu bringen, die praktisch in kein rechtes, befriedigendes Verhältnis zu ihren eigenen Wünschen mehr kommen. Texte repräsentieren in dieser Perspektive soziokulturelle Ordnungen, die als Machtinstanzen und Zwangsgehäuse erscheinen, im Falle utopischer Texte als ersehnte Fluchtorte, die als positive Gegenhorizonte des Bestehenden fungieren. In Texten findet dies auf der Ebene sinnlich-unmittelbarer Symbolik seinen Ausdruck. Texte sind demnach „Symbole der Freiheit oder Symptome des Zwangs". Stets geht es der tiefenhermeneutischen Interpretation dabei um das von Menschen Erlebte. Zwang und Unterdrückung, aber auch das NeinSagen und Aufbegehren oder die imaginierte Flucht an einen anderen Ort, kurz: die Repression und der Widerstand interessieren als Erlebtes. Die tiefenhermeneutische Sozialforschung und Kulturanalyse ist in diesem Sinne eine Subjektwissenschaft - auch wenn sie überindividuelle Phänomene zu ihren Interpretanda macht und sich nicht, wie der Therapeut, an eine einzelne Person, sondern an die Öffentlichkeit wendet. Die Tiefenhermeneutik verschafft dem Wunsch und seinem soziokulturellen Gegenstück sprachlichen Ausdruck. Das Unbewußte erscheint ihr als das soziokulturell Ausgeschlossene, Verpönte, Verachtete, Tabuisierte, Sanktionierte, als all das, was nicht sein und nicht einmal bewußt sein, auch nur vorgestellt werden darf. Selbstverständlich kann und soll auch nach psychoanalytischer Auffassung nicht jeder Wunsch Erfüllung finden, schon gar nicht nach Maßgabe des auf unmittelbare und unendliche Befriedigung setzenden Lustprinzips. Nicht zuletzt für Wünsche, die ihren körperlich-triebhaften Ursprüngen noch sehr nahe stehen (die also nicht schon die weiten Wege der Sublimierung durchlaufen haben), ist auch in der psychoanalytischen Konzeption eines „gelingenden Lebens" nur begrenzt Raum. Solche Grenzen können enger oder weiter gesetzt werden. Wie diese Grenzziehungen im konkreten Fall auch ausfallen: die Psychoanalyse richtet ihr Augenmerk generell auf das unauflösliche Spannungsverhältnis zwischen Wünschen einerseits, soziokulturellen Regeln, Normen und Werten anderseits. Der tiefenhermeneutischen Sozialforschung oder Kulturanalyse geht es speziell um jene leiderzeugenden Effekte, die durch konkrete soziokulturelle Formen des praktischen Umgangs mit diesem Spannungsverhältnis erzeugt werden. Ihre Skepsis richtet sich nicht nur gegen die rigide, möglichst weitgehende Unterdrückung von Wünschen, sondern auch, ja mehr noch gegen die Tabuisierung ihrer sinnlich-unmittelbaren oder diskursiven Symbolisierung. Bereits Freud sprach sich dagegen aus, inzestuöse Wünsche, verwerfliche aggressive Phantasien und dergleichen unter Androhung von Sanktionen zu unterbinden und für null und nichtig zu erklären. Da bloß unterdrückte, verdrängte Wünsche psy-
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chisch wirksam bleiben, liegen die Risiken ihrer „Exkommunikation" aus der Welt des Symbolischen auf der Hand. Neurosen und andere Formen des inneren Leids sowie Gewalt nach außen sind mögliche Konsequenzen des allzu rigiden Umgangs mit Wünschen und Phantasien, die aus guten oder schlechten Gründen soziokulturell versagt und verschwiegen werden. Insbesondere das Totschweigen erweist sich in tiefenpsychologischer Sicht als unfreiwilliger Durchsetzungsgehilfe des tabuisierten Wunsches. Die Kontrolle und Gestaltung von Wünschen ist nur im Medium präsentativer oder diskursiver Symbolik möglich. Der vernunftorientierte Umgang mit dem Unerlaubten und Unerhörten setzt dessen Symbolisierung voraus. Die Literatur operiert häufig im Namen des Unerlaubten und Unerhörten. Die Vertreter der Tiefenhermeneutik zeigen dies an zahlreichen Beispielen. So analysieren Schmid Noerr und Eggert (1988, 99) Hemingways Essay „Tod am Nachmittag", in der der Autor eine alte Dame sagen läßt, ihr habe der soeben mitverfolgte Stierkampf sehr gefallen, besonders habe sie gerne gesehen und es als irgendwie anheimelnd empfunden, wie die Stiere die Pferde aufschlitzten. Die Dame widersetzt sich offenkundig der soziokulturellen Norm, sie fühlt und spricht anders, als es sich für empfindsame, zivilisierte Menschen gehört - was nicht heißt, sie lege keinen Wert auf die Errungenschaften der Kultur (vgl. hierzu die Analyse und den schönen Epilog von Schmid Noerr & Eggert, 1988, 150ff). Unausgesprochenes und Unerhörtes vernehmbar und sagbar zu machen, gehört zum Geschäft der Tiefenhermeneutik. Der Grund dafür liegt nicht in einem obskuren Vergnügen an spektakulären Verletzungen soziokultureller Normen und Werte. Tiefenhermeneutische Bemühungen setzen an der psychologischen Relevanz des Unerhörten an und zielen in jedem einzelnen Fall darauf ab, der psychoanalytischen Einsicht, daß das Unbewußte und das Leiden ein verborgenes Bündnis miteinander unterhalten, Gehör zu verschaffen. Dieses Bündnis kommt zumindest dann zustande, wenn bereits das leiseste Anzeichen des Unbewußten durch starre Verdikte und Tabuisierungen erstickt wird: „Wenn psychoanalytische Tiefenhermeneutik ins Geheimnis des Unbewußten eindringen will, muß sie sich gegen jene Verbote wenden, die dagegen aufgerichtet sind, daß die Auseinandersetzung zwischen Wünschen, Normen und Werten offen und mit Bewußtsein geführt wird" (Lorenzer, 1988b, 27). In diesem Sinne spricht Lorenzer von der psychoanalytischen Interpretation als einem kritisch-hermeneutischen Verfahren - egal, in welcher Variante und in welchem Kontext dieses Verfahren angewandt wird. Nicht zuletzt der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse geht es um die vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossenen Handlungs- und Lebensentwürfe, Interaktions- oder Praxisfiguren und das durch diesen Ausschluß hervorgebrachte Leid. Die Tiefenhermeneutik zehrt offenkundig von einem „utopischen Potential" (Lorenzer, 1988b, 27f.). Sie ist an die normative Idee einer individuellen Existenz und soziokulturellen Praxis gebunden, die von Unlust und Leid niemals restlos, aber stets ein Stück weit befreit werden können. Der normative Orientierungspunkt tiefenhermeneutischen Denkens läßt sich meines Erachtens aus zwei Komponenten zusammensetzen. Neben einem formaltheoretischen Modell gelingender Subjektbildung - der klassische Titel
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dafür ist „Identität" - hält sich die Tiefenhermeneutik an die Vorstellung einer Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft, deren Praxis die Schwächen und Nöte der einzelnen nicht unbekümmert oder gar zynisch in Kauf nimmt. Wer die normativen Grundlagen der psychoanalytischen Sozialforschung und Kulturanalyse von diesen Komponenten her begreift, bedarf keiner historisch-materialistischen „kritischen Theorie", die, von einigen wenigen formuliert, als Maßstab für das Leben aller herhalten muß. Jede Kritik bedarf eines Kriteriums. Einen überzeitlich gültigen Maßstab, gar eine Theorie, die sich das Monopol weltverbessernder Maßgaben und Maßnahmen vorbehält, braucht es jedoch nicht. Man benötigt keine der Zeit- und Ortsgebundenheit enthobenen Maßstäbe, „um die Hitlerdiktatur oder weniger unheilvolle Ungereimtheiten anzuprangern. Kritik geschieht doch immer und primär im Namen des Leides ... Diese Kritik braucht nicht die Stütze von unzeitlichen Prinzipien. Das zugefügte oder befürchtete Leiden, auf großer und kleiner Ebene, bietet nach wie vor die besten Argumente der Kritik. Dafür kann die Hermeneutik das Bewußtsein schärfen" (Grondin, 1991, 16).
2.6.5 Sozialisationstheoretische Grundlagen Obwohl es der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse letztlich nicht um den Interpreten geht, spielt dessen Subjektivität bei der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung eine zentrale Rolle. Für die Tiefenhermeneutik sind wissenschaftliche Interpretationen subjektgebundene Operationen. Die subjektiven Anteile der Interpretation sind allerdings methodisch kontrollierbar. Wer Interpretationen im Einsatz seiner ganzen Person entwickelt, wer Interpretationen methodisch kontrolliert und womöglich korrigiert, bleibt als Forschender nicht unverändert. Es ist eine alte hermeneutische Einsicht, daß das Fremdverstehen nicht strikt von Selbsterkenntnis und Selbstveränderung zu trennen ist. Wer textuell vermittelte Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen, Handlungs-, Interaktions- oder Praxisformen analysiert, kommt um Selbstreflexionen und Selbstanalysen häufig nicht herum. Im rezeptionstheoretischen Ansatz der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse wird unterstellt, daß Lektüren von (literarischen) Texten ins Feld der sekundären Sozialisation gehören. Auf der Grundlage der abgeschlossenen primären Sozialisation verändern sich Heranwachsende und Erwachsene im Prozeß der sekundären Sozialisation zeitlebens. Zu den Instanzen, die solche Veränderungen initiieren und beeinflussen können, gehören auch Akte des Lesens und Textverstehens. Lektüren setzen Selbständerungspotentiale frei. All dies gilt für jeden Leser, also auch für den wissenschaftlichen Interpreten. Beim Wissenschaftler treten Selbsttransformationen in der Regel als Nebeneffekt in den Hintergrund des primären Interesses. Dieses richtet sich auf die tiefenhermeneutische Entzifferung von sozial, gesellschaftlich oder kulturell unbewußten und gleichwohl praxisrelevanten Sinn- und Bedeutungsstrukturen, wie sie in Texten objektiviert sind.
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Um genauer zu verstehen, wie sich tiefenhermeneutische Textinterpreten dieser Zielsetzung nähern können, ist ein Umweg über Lorenzers Sozialisationstheorie nötig. Wesentliche Grundannahmen dieser Theorie lassen sich folgendermaßen rekapitulieren: Die Sozialisierung beginnt nach Lorenzer bereits in der pränatalen Phase, ab ovo sozusagen. Der embryonale, fötale Organismus des heranwachsenden Kindes und die Mutter „interagieren" von Anfang an miteinander (Lorenzer, 1974, 116ff.). In diesem Zusammenspiel stellen sich Funktionsmechanismen des sich entwickelnden Organismus ein. Man kann im Hinblick auf das Leben vor der Geburt in besonders einleuchtender Weise vom „körperlichen Substrat der unbewußten Sinnebene" sprechen (Lorenzer, 1988b, 39ff). Im Uterus ist der sich entwickelnde Organismus taktilen, akustischen und anderen sinnlichen Einflüssen ausgesetzt, die sich dem Organismus auf der Basis seiner dispositionellen Struktur als Engramme einschreiben - als etwas Befriedigendes oder Unbefriedigendes. „Bedarf' und „Befriedigung" sind dabei noch ganz auf der Ebene des organismischen Stoffwechsels angesiedelt. In diesem ersten „organismischen" Austausch zwischen Mutter und Kind haben komplexere Bedürfnisse und die sich später herausbildenden, psychologisch besonders interessanten Wünsche ihre Grundlage. Die besagten Engramme bilden die Erinnerungsspuren.47 Erinnerungsspuren sind Niederschläge von primitiven „Interaktionen", zunächst Niederschläge des intrauterinen Wechselspiels des kindlichen und des mütterlichen Organismus. Als solche sind sie auch „Entwürfe" oder „Schemata", die künftiges Verhalten bestimmen. Am Anfang der sozialisatorischen Entwicklung stehen „organismisch-undifferenzierte Situationseindrücke" (Lorenzer, 1988b, 42). Mit dieser Ausdrucksweise wird vorweggenommen, was nach Lorenzer das Grundmuster aller Erlebnisse bleiben wird: diese haben primär szenischen Charakter, sie sind Bestandteile eines Ensembles oder Situationskomplexes. Schon die ersten „sensomotorischen" Erinnerungsspuren sind Niederschläge beziehungsweise Entwürfe situationsgebundener Verhaltensabläufe und „Interaktionszirkel", es sind dem Organismus eingeschriebene Anweisungen, denen einfache Verhaltensweisen wie etwa Bewegungen künftig folgen werden. Engramme bzw. Erinnerungsspuren legen Wiederholungen nahe, die Befriedigung „versprechen", und sie ermöglichen Vermeidungsverhalten, wenn Unlust droht. Aus den ersten Interaktionen im pränatalen Stadium bilden sich bestimmte Interaktionsformen, die das zukünftige Sich-Verhalten strukturieren und regulieren. Lorenzer hebt an diesen ersten Entwicklungsschritten hervor, daß in jede Interaktionsform „die embryonalen Dispositionsbesonderheiten und
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Der Begriff der Erinnerungsspur besitzt in Freuds (unvollendeter) Gedächtniskonzeption zentrale Bedeutung. Zu bedenken ist, daß dieser Begriff dem frühen neurophysiologischen Denken Freuds entstammt und von dort her in die Metapsychologie übernommen wird. Zugleich aber ist zu berücksichtigen, daß sich der Begriff der Erinnerungsspur bei Freud (zumindest häufig) „deutlich von der empirischen Konzeption des Engramms unterscheidet, das als ein der Realität ähnlicher Abdruck definiert wird" (Laplanche & Pontalis, 1977, 139).
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die gesellschaftlichen Praxisformen" eingehen (Lorenzer, 1984a, 217).48 In entwicklungs- und identitätstheoretischer Sicht betont Lorenzer das Zusammenspiel von Leiblichkeit und Sozialität. Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang, daß die Ausbildung erster Interaktionsformen auf entwicklungs- bzw. sozialisationsgeschichtlich frühe Modi der Erlebnisorganisation verweist, die sich ohne bewußte Kontrolle des Subjektes einstellen und die gleichwohl sein Erleben, auch sein späteres Denken, Fühlen, Wollen und Handeln bestimmen. (Teilweise sind solche Organisationsformen des Psychischen mit der instinktiven Ausstattung und der Triebnatur des Menschen ab ovo vorhanden. Sie sind gleichursprünglich wie das Soziale, in das menschliches Leben ebenfalls von Anfang an eingebettet ist. Damit ist der unhintergehbar leibliche Aspekt aller sozialen Beziehungsfiguren besiegelt, wie umgekehrt Leiblichkeit immer schon sozial verfaßt ist.) Die sozialisatorische Einübung unbewußter Interaktionsformen setzt sich nach der Geburt fort. Die Aktivitäten des Kindes schließen sich mit den Reaktionen der Mutter zu immer komplexeren Verhaltenszirkeln zusammen und führen beim Kinde zur Ausbildung sensomotorischer Verhaltensformeln: Interaktionsformen eben, die künftiges Sich-Verhalten strukturieren. Im direkten Umgang mit der Mutter und sodann mit anderen Personen bildet das Kind weit vor dem Spracherwerb zahlreiche derartige Interaktionsformen aus. Lorenzers Begriff der Praxis oder der praktischen Interaktionsform umfaßt also weit mehr als nur das sprachlich vermittelte und regulierte Handeln: zur Praxis gehören zahlreiche Weisen des nonverbalen Umgangs von Menschen mit sich und anderen, Berührungen, körperliche und körperbezogene Formen des (sozialen) Sich-Verhaltens, Gestik und Mimik und dergleichen mehr. Die Mutter und andere Interaktionspartner übernehmen bei alledem die Funktion einer die Triebbedürfhisse des Kindes regulierenden Sozialisationsinstanz. Sie verleihen den Befriedigungen jene Form, die eine Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft jeweils vorgesehen hat. Dies heißt immer auch: sie versagen Befriedigungen hier und dort und zu bestimmten Zeiten; sie kanalisieren so die weitere Bedürfnisentwicklung und Bildung des heranwachsenden Kindes. Nimmt man Bezug auf Freuds topische Differenzierungen der Psyche, läßt sich sagen: sozial vermittelte Befriedigungen und Versagungen schreiben sich, weit vor der Entwicklung von Sprachkompetenzen, in der Form von Erinnerungsspuren dem Unbewußten ein. Das Unbewußte ist, wie Lorenzer sagt, „ein nicht sprachliches und nicht symbolisches Sinnsystem, das im Gegensatz zur sprachlichen Ordnung der Individuen steht und sich auszeichnet als eigen-
48
Genauer betrachtet Lorenzer diese Praxisformen in seiner materialistischen Sozialisationstheorie unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit der Mutter zu einem „Bezugsrahmen einer realen Klasse innerhalb gesamtgesellschaftlicher Prozesse" (Lorenzer, 1974, 117; vgl. hierzu ders., 1972d). Ich vernachlässige diese mit der ganzen Problematik des Klassenbegriffs, des Gesellschafts- und Geschichtsmodells des historischen Materialismus belastete Rahmung der „Mutter-Kind-Dyade". Der soziale Bezugsrahmen der Mutter-Kind-Dyade läßt sich offenkundig anders bestimmen, als es der historische Materialismus nahelegt.
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II. Interpretation
ständiges Sinnsystem" (Lorenzer, 1988b, 46). Dem Unbewußten fehlt insbesondere die Diskursivität, Grammatik und Logik der Sprache. Als ein in der Lebensgeschichte kontinuierlich aufgebautes und körperlich verankertes Sinnsystem bestimmt es das Sich-Verhalten „hinter dem Rücken" der Subjekte. Teilweise, aber eben nur teilweise, wird sich dieses Sinnsystem im Laufe der Entwicklung mit der Sprache verbinden. Dies geschieht empraktisch im Zuge des Spracherwerbs. Die erworbenen Verknüpfungen zwischen Interaktionsformen und Worten sind Symbolbildungen, durch die Körper, Situation und Wort zu einer Einheit verknüpft werden (ebd., 46ff.).49 Solche Verknüpfungen von Sprachfiguren und Praxisfiguren machen den Weg frei für die Etablierung und Ausweitung „prädizierter bestimmter Interaktionsformen", kurz: sprachsymbolischer Interaktionsformen. Die allmählich erlernte Sprache ermöglicht dabei jene Distanzierungsleistungen, welche die „unmittelbare" Praxis in einen Abstand rücken, einen Abstand, der Antizipation und Planung, Rückschau und Reflexion sowie die bewußte Gestaltung von Praxis ermöglicht. Sprache bzw. sprachliche Symbole und deren Gebrauch erscheinen damit als unerläßliche Bedingung der Handlungsfähigkeit und Identität von Subjekten. Wo Sprache und Praxis als eine erworbene Einheit sprachsymbolischer Interaktionsformen wieder zerfallen - zu Zeichen und Klischees „deformiert", „systematisch gebrochen" werden, wie Lorenzer sagt -, verliert das Subjekt Kontrollmöglichkeiten.50 Verdrängungen sind Desymbolisierungen. Sie bringen stets einen gewissen Verlust an Handlungsfähigkeit mit sich. Mit der Verminderung von Reflexionsmöglichkeiten, die für das Selbstbewußtsein des Subjekts konstitutiv sind, verengt sich auch seine Fähigkeit zu relativ autonomen Akten der Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Die Verdrängung ist eine Art Ausschluß verhaltensbestimmender „Kräfte" aus der Sprache, ja, aus dem weiteren Bereich des Symbolischen überhaupt. Ausgeschlossen werden jene Vorstellungs- und Gedankenkomplexe oder Handlungs- und Lebensentwürfe, die sich als unverträglich mit sozialen Normen, Werten und Praktiken erwiesen haben. Was mit den internalisierten, im Über-Ich lokalisierten und von dort her psychisch wirksamen Normen und Werten signifikanter anderer kollidiert, fällt der Verdrängung anheim. Ins Un-
49
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang Lorenzers Erläuterungen zu Freuds Bestimmung, daß die bewußte Vorstellung „Sachvorstellung" und die zugehörige „Wortvorstellung" umfaßt, die unbewußte dagegen allein eine Sachvorstellung ist (vgl. Lorenzer, 1988b, 39ff., 49ff.; zur Revision der Begriffe Sach- und Wortvorstellung insb. 52f.) Grundlegend sind in diesem Zusammenhang wiederum die Arbeiten zur materialistischen Sozialisationstheorie (z.B. Lorenzer, 1974, 120ff.).
50
„Innerhalb der nicht-symbolischen Interaktionsformen gibt es nun aber Unterschiede. So unterscheiden sich Klischees und Zeichen durchaus von den nicht in Sprache aufgenommenen, weil überhaupt nicht sprachlich lizenzierbaren bestimmten Interaktionsformen. Beide haben unter Konfliktdruck entweder - die Zeichen - ihre emotionale Basis, d.h. den Zusammenhang mit den konkret einsozialisierten sensomotorischen Komplexen ('bestimmte Interaktionsformen') verloren oder ihnen ist - den Klischees - ihre sprachliche Repräsentanz abhanden gekommen" (Lorenzer, 1974, 134).
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bewußte abgeschoben bleibt es gleichwohl wirksam: die Wiederkehr des Verdrängten läßt sich vom Subjekt nicht unterbinden. Das Unbewußte übt seine verhaltensbestimmende Kraft zwangsläufig und zwanghaft aus. Wie Freuds Rede vom „armen Ich" signalisiert, ist das Unbewußte unerbittlich. (Darüber darf freilich nicht vergessen werden, daß das Unbewußte auch im Dienste des Ich steht: Abwehrmechanismen sind bekanntlich unbewußte Ich-Funktionen.) Wenn Desymbolisierungen dazu führen, daß das Handeln des Subjekts durch das „innere Ausland" (Freud) bestimmt wird, also zu einer zwar sozial vermittelten, aber im eigenen „Inneren" angesiedelten Fremdbestimmung, drohen dem betroffenen Subjekt als leidvoll erlebte Identitätskrisen. Wenn das Verdrängte in Leiden umschlägt, weil das Subjekt zunehmend weniger „weiß" und ausdrücken kann, was ihm in seiner eigenen Lebensgeschichte widerfuhr, was womöglich kommen wird und was in der aktuellen Situation im eigenen Interesse zu tun ist, dann helfen allein Bemühungen um die Resymbolisierung des aus der Sprache Ausgeschlossenen weiter. Diese bringen die verlorene Sprache zurück; sie restituieren die verlorenen Möglichkeiten, bewußt auf das eigene Leben Einfluß zu nehmen, machen aus unbewußten Interaktionsformen wieder sprachsymbolisch vermittelte. Die im Zuge der Desymbolisierung vom Erleben des Subjekts abgespaltenen, bloß abstrakten Zeichen und Klischees werden wieder zu Symbolen, deren Sinn und Bedeutung nicht mehr von der erlebten Praxis losgelöst ist. Zusammengefaßt: Der Übergang zum Bewußtsein vollzieht sich im Zuge des empraktisch-interaktiv situierten Spracherwerbs: „Die einsozialisierten Erfahrungskomplexe, die formbestimmten Komplexe passiver Empfindung und aktiven Verhaltens werden in den Situationen der Spracheinführung mit 'Sprachfiguren' verknüpft. Und d. h.: Die leiblichen Funktionskomplexe, die ... zugleich Erlebnisfiguren sind, werden mit anderen Funktionskomplexen, nämlich denen des Laut-hörens und Laut-gebens verbunden" (Lorenzer, 1984a, 218). Von größter Bedeutung ist nun, daß diese Verknüpfung keine durchgängige Verschmelzung zweier unterschiedlicher psychischer Systeme der Erlebnis- und Verhaltensorganisation darstellt. Mit dem Spracherwerb und - wie nun nachzutragen ist - schon vorher, nämlich im Umgang mit vorsprachlichen Symbolen, differenziert sich auf der Grundlage des bereits ausgebildeten Systems ein weiteres, zweigliedriges System aus. Die beiden Systeme - das Es und das Ich - stehen vor allem in Konkurrenz zueinander. Insbesondere die Sprache als ein sekundäres handlungsbestimmendes Ich-System fungiert als „Widerpart zu den unterhalb der Sprache einsozialisierten Systemen der Funktions- und Erlebniskomplexe des Es, die ihren 'erlebnisdeterminierenden' Einfluß geltend machen - mehr oder weniger schroff gegensätzlich zum sprachvermittelten Handlungssystem" (ebd., 219). Die Bereiche „der sprachlich und sprachlos regulierten Praxis" stehen einander, wie es an anderer Stelle heißt, „unversöhnlich" gegenüber (Lorenzer, 1974, 141). Lorenzers psychologisches Theoretisieren erweist sich, ganz im klassischen psychoanalytischen Sinn, als Denken eines für alle psychischen Funktionen konstitutiven Spannungsverhältnisses. Die primär ausgebildete „alte Matrix von Interaktionsformen" bleibt als eine Basis erhalten; unbewußte Erinnerungs-
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II. Interpretation
spuren reichen in die Gegenwart hinein und bestimmen, wenn sie „reaktiviert" werden, das jeweilige Tun und Lassen. Sie bestimmen das Sich-Verhalten ebenso wie die lebensgeschichtlich später sich entwickelnden, sprachlich vermittelten und sprachlich verfaßten Handlungsanweisungen und Deutungsmuster oder andere symbolische Sinnsysteme. Die sprachlichen Symbolisierungsleistungen schaffen Handlungsfähigkeit in einem neuen, emphatischen Sinne. Das alte System wird allerdings niemals ganz „ausgelöscht, sondern bestenfalls 'aufgehoben' im Zusammenfügen der Funktionskomplexe (Interaktionsformen) mit den Sprachfiguren, welche Verbindung wir 'symbolische Interaktionsformen' nennen" (Lorenzer, 1984a, 220). Durch die in der Entwicklung sich entfaltende Anbindung der nach und nach erworbenen Sprache an bereits ausgebildete, vorsprachlich-unbewußte Interaktionsformen kommt es also zu jener „glücklichen Vermittlung von Sinnlichkeit und Bewußtsein", die, wie dargelegt, prinzipiell nicht die gesamten Handlungs- und Lebensvollzüge abdecken kann. Wo die genannten Systeme nicht zu integrieren sind, weil sie allzu unterschiedliche Anforderungen stellen, verbleiben die primär ausgebildeten Interaktionsformen im Unbewußten oder sie werden, falls die besagten Widersprüche erst nach der bereits geglückten Symbolisierung erlebt werden, dorthin zurückgestoßen, d.h. desymbolisiert. In traditioneller Terminologie: Was mit dem Ich eine Verbindung unterhielt und demzufolge mehr oder minder verfügbar war, wird zu einem abgewehrten, von allen bewußten Kontrollmöglichkeiten abgeschnittenen Bestandteil des Unbewußten, insbesondere des im Es lokalisierten Unbewußten. Nicht zuletzt im Hinblick auf die textwissenschaftlich orientierte Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaft ist eine bislang nur angedeutete Differenzierung äußerst wichtig: Interaktionsformen sind nicht unbedingt völlig unbewußt oder, als sprachlich symbolisierte, gänzlich bewußt. Lorenzer kennt, wie Freud, ein Drittes (Lorenzer, 1988b, 54ff.; Freud, 1972b): Das heranwachsende Kind lernt nämlich auch auf einer noch vorsprachlichen, vorbewußten und unmittelbar sinnlichen Ebene mit Dingen und Menschen relativ kontrolliert umzugehen. Wenngleich auf dieser Ebene also das Sich-Verhalten nicht völlig heteronom bestimmt ist (durch unbewußt wirksame soziale Zwänge etc.), ist die subjektive Kontroll- und Verfügungsmöglichkeit nicht unmittelbar verbalisierbar. Auf dieser Vorstufe des Bewußtseins laufen Interaktionen nicht jenseits aller Verfügungsmacht der Beteiligten ab, sie sind aber auch nicht sprachlich verfaßte, bewußtseinskontrollierte Vollzüge. Nach psychoanalytischer Auffassung sind nicht nur Sprachkompetenz und sprachliche Symbolisierungsfahigkeiten für die psychische Organisation und Verarbeitung von Erlebnissen wichtig, sondern auch die Möglichkeiten des Individuums, über sinnlich-unmittelbare Symbole zu verfügen. Lorenzer verweist diesbezüglich auf Freuds berühmte Interpretation des sogenannten „FortDa-Spiels", durch das Kinder auf sinnlich-symbolischer Ebene die temporäre und gleichwohl beängstigende Abwesenheit der Mutter spielerisch verarbeiten (Lorenzer, 1988b, 54).51 Lorenzer sieht in diesem Spiel, in dem verschiedene
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Eine wesentliche Rolle in diesem Spiel kommt sogenannten Übergangsobjekten zu, im
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Szenen miteinander verknüpft werden, Vorgänge erster vorsprachlicher Symbolbildungen und Symbolverwendungen. Verknüpft werden sinnlichsymbolische Interaktionsformen, die Lorenzer von sprachlich-symbolischen Interaktionsformen unterscheidet. Wesentliche Merkmale dieser Unterscheidung erläutert Lorenzer so: „Diejenigen Praxisfiguren, die mit Sprachfiguren verbunden werden, also sprachsymbolische Interaktionsformen bilden, erhalten Zugang zur gleichsam unerschöpflichen Instrumentalität der Sprache; gleichzeitig werden sie jenem Reglement unterworfen, das sich aus dem Konsistenzzwang von Logik und Normbestimmtheit der Sprache ergibt. Die Reichweite der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen dagegen ist ungleich geringer; sie greifen gerade so weit, wie die lebenspraktische Bedeutung der beiden Anteile reicht. Im Falle der Garnrolle zeichnet sich der eine Pol des Symbols - die Mutter - durch eine außerordentliche Bedeutungsfulle aus, während der andere, die Garnrolle, durch einen eng begrenzten Bedeutungshof gekennzeichnet ist. Die 'Übergangsobjekte' leben von eben diesem Rückgriff auf die Fülle und Tiefe der Bedeutung, die sich dank der Verbindung der beiden Szenen vom reichhaltigeren zum begrenzteren Pol verschieben lassen. Das Bedeutungsfeld 'Mutter' heftet sich an das viel engere Bedeutungsfeld 'Teddybär' oder 'Garnrolle' - diese können vom Kind manipuliert werden, jene nicht. Die Bedeutung der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen bleibt also auf den Umkreis der beide Male aktualisierten Lebenspraxis beschränkt. Dafür fuhren diese Symbole in den jeweiligen Praxisnischen ein viel ungestörteres Eigenleben als die vom soziokulturellen Konsenszwang betroffenen sprachsymbolischen Interaktionsformen" (ebd., 56). Aus all dem ist der Schluß zu ziehen: Das Ich als eine Organisationsform nicht nur sprachlich vermittelter, sondern gerade auch sinnlich-symbolischer Interaktionsformen ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse. Die zuletzt genannten Interaktionsformen zeichnen sich dadurch aus, daß sie früh in der Entwicklung des Kindes gebildet werden, „den Affekten noch nahestehen und dem Unbewußten einen so unmittelbaren Ausdruck erlauben, wie es Freuds Analyse der Traumbilder dokumentiert. Diese Erlebnisformation der sinnlich-symbolischen Lebensentwürfe bildet das vorbewußte Reich der Phantasie" (König, 1993, 195). Es sind Bilder, die den Menschen unmittelbar-sinnlich ansprechen, Symbole jedenfalls, die ihre eigene „Grammatik" besitzen. Die Grammatik dieser präsentativen Symbolik der Bilder ist nicht so sehr von der Logik des Bewußtseins, als vielmehr von der Macht versagter, nicht in der diskursiven Symbolik der Sprache artikulierbaren Wünsche, Handlungs- und Lebensentwürfe bestimmt.52
erwähnten Beispiel also der Garnrolle und sonstigen Objekten, die das Kind außer Sichtweite wirft, um sie dann wieder hervorzuholen; ein in unserer Zeit und unserem Kulturkreis gebräuchliches Übergangsobjekt ist beispielsweise der Teddy-Bär. 52
Lorenzer übernimmt die Unterscheidung zwischen Präsentativität und Diskursivität von Langer (1965, 143). Die Psychoanalyse ist wohl nach wie vor derjenige Zweig der Psychologie, der die Einsicht in die nicht nur diskursiven, sondern im skizzierten Sinne präsentativen
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Eine entscheidende Rolle in Lorenzers Denken spielen die unterschiedlichen Modi der psychischen Erlebnisorganisation und Erlebnisverarbeitung. Diese Weisen der Erlebnisorganisation bezieht Lorenzer, wie dargestellt, auf Differenzierungen, wie sie Freud (1972b) im Rahmen der zweiten Topik in seinem klassischen Instanzenmodell formulierte. Dadurch, daß Lorenzer bei seiner Konzeptualisierung des Ich entschieden allen rationalistischen Einseitigkeiten vorbeugt, bannt er die Gefahr, Ich-Kontrolle und Handlungsfähigkeit schlicht gegen das Unbewußte auszuspielen. Vielmehr macht dieser Autor sehr klar, wie das Unbewußte und das Vorbewußte maßgeblich zur Kreativität eines Handelns beitragen, das weder total rational geplant und geformt ist, noch eine bloße Emanation schöpferischer Impulse darstellt. Das Unbewußte spielt in sinnlichsymbolische Interaktionsformen in einer Weise hinein, die dem Subjekt nicht schon die ganze Verfugungsmacht über sein Tun und Lassen raubt. Es gibt schon vor dem Erwerb der Sprache - und sodann zeitlebens - Möglichkeiten für die Subjekte, zur Welt auf eine zwar vorsprachliche, aber dennoch nicht bloß dumpf-impulsive Weise Stellung zu nehmen. Die psychische Instanz des Ich steht für das Selbstgewollte und Selbstbestimmte im individuellen Leben. Dieses Ich ermöglicht nicht bloß Handlungen, die strikt nach dem Rationalitätsprinzip strukturiert sind, nach einem Prinzip also, das für die logische Sprache und eine dadurch vermittelte Praxis maßgeblich ist. Das Ich operiert auch auf der Ebene präsentativer Symbole, es kennt sich auch mit diesen aus und bedient sich ihrer, um selbstbestimmende und selbstbehauptende Akte des Subjektes zu ermöglichen. Wenn man sagen kann, daß das Ich der Initiator und Organisator jener Handlungen ist, welche dem Realitätsprinzip folgen, so ist in Rechnung zu stellen, daß die („äußere" und „innere") Realität in psychoanalytischer Sicht durch zweierlei Symboltypen vermittelt und zugänglich ist. Ein „starkes Ich" ist bei Lorenzer also keinesfalls mit dem psychischen Handlungszentrum rationaler Akteure gleichzusetzen. Die in Lorenzers Explikation des Ich-Begriffs hervorgehobene Bedeutung sinnlichsymbolischer Interaktionsformen und präsentativer Symbole macht klar, daß mit Freuds Devise „Wo Es war, soll Ich werden" keine Idealisierung rational kalkulierender Strategen der Selbstbehauptung verbunden werden kann. Zugleich werden so aber auch, wie Lorenzer aus gutem Grund betont, die Abgründe eines blanken Irrationalismus nicht verklärt, wie es im Zuge der bloßen Umkehrung von Freuds Formel zwangsläufig geschieht. Der Slogan „Wo Ich war, soll Es werden" ist ja offenkundig ein tendenziell besinnungs- und verantwortungsloses Gegenprogramm. Dieses Programm ist noch nicht einmal dazu an-
Funktionen auch der Sprache besonders fruchtbar umsetzt. Es ist eine gleichwohl noch offene Frage, in welcher Weise und in welchem Maße das Bewußtsein, also gerade die im engeren Sinne sprachlich-kognitiven Aspekte des Selbst- und Weltverständnisses, durch präsentative Symbole, Bilder zumal, mit-konstituiert, vermittelt, von ihnen durchzogen sind. In spezifischer Sicht, nämlich im Hinblick auf die Konstitution und Struktur des Geschichtsbewußtseins fragt neuerdings auch Rüsen nach den präsentativen Elementen. Er tut dies, indem er mit Arthur E. Imhof - das Sehen von Geschichte zu bedenken gibt (Rüsen, 1992, 4, 13ff.).
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getan, gewissen Einseitigkeiten von Freuds eigenem Rationalismus erfolgversprechend entgegenzuwirken. Als bloßer Protest und einfache Umkehrung der Freudschen Formel gehört dieser Slogan zu einer Praxis, die aus dem simplen „Entweder-oder" von Rationalismus und Irrationalismus nicht herausfindet, weil sie blind ist für all jene Bestimmungsgründe und Strukturierungsmöglichkeiten des Handelns, die jenseits dieser Pseudo-Alternative angesiedelt sind. Festzuhalten ist: Neben das Es als eine Organisation unbewußter Interaktionsformen tritt in der lebensgeschichtlichen Entwicklung eines jeden Menschen das Ich als eine Organisationsform sinnlich-symbolischer sowie sprachsymbolischer Interaktionsformen. Die zuletzt genannte Organisationsform ist die entwicklungspsychologisch späteste. Sie steht für das Bewußtsein im engeren Sinne und damit für die Reflexions- und Handlungsfähigkeit des Subjekts, sofern Handlungen eben als bewußtseinskontrollierte Vollzüge gedacht werden. Die Produktion nicht bewußter und nicht ohne weiteres bewußtseinsfahiger Interaktionsfiguren ist ein lebenslanger Prozeß. Totales Bewußtsein ist unmöglich, da die konkrete Praxis sich niemals vollständig sprachlich symbolisieren läßt. Die Grenzen, die den Bemühungen um Reflexion und sprachliche Symbolisierung gesetzt sind, sind unaufhebbar, weil, wie König (1993, 196) eine fundamentale Annahme der Lorenzerschen Sozialisations- und Entwicklungstheorie reformuliert, „der Umfang der Sprachfiguren sehr viel enger ist als der Umfang der noch nicht systematisierten Praxisfiguren, ob es sich nun um die der Dyade, des Umgangs mit der Gegenstandswelt, um die des familialen Feldes oder anderer sozialer Gruppen handelt." Dabei ist zu bedenken, daß es sinnlichsymbolische Interaktionsformen gibt, die Erfahrungen artikulieren, die prinzipiell nicht in Sprache übersetzbar sind: Raumerfahrung, Tanz, das Schaffen und Betrachten von Bildern, das Musizieren und das Hören von Musik gehören etwa hierher.53 Es ist nun klar, daß in der psychischen Entwicklung des Individuums zweierlei besonders wichtig ist: Möglichkeiten der aktiven Selbstbestimmung sind einerseits daran gebunden, daß sinnlich-unmittelbare Symbolisierungen von Wünschen, Vorstellungen, Ängsten etc. verfugbar sind; andererseits geht es um den Erwerb und Gebrauch sprachlicher Symbolisierungsfahigkeiten. Nach dem Blick in ausgewählte sozialisationstheoretische Überlegungen Lorenzers steht nun eine begründete Begrifflichkeit zur Verfügung, ohne die kaum angemessen davon die Rede sein kann, worum es in tiefenhermeneutischer Sicht in Texten und Textinterpretationen eigentlich geht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die sozialisationstheoretischen Konzepte und die damit eng verwobene Theorie der Entstehung des Unbewußten (das im übrigen auch „angeborene" Anteile aufweist, also nicht nur aus Resultaten der Sozialisations- bzw. Verdrängungsgeschichte besteht), auf Individuen und ontogenetische Entwicklun-
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Man kann dies als eine wichtige Differenz zwischen den Basistheoremen der objektiven Hermeneutik Oevermanns einerseits, Lorenzers Tiefenhermeneutik andererseits betrachten, geht Oevermann doch davon aus, daß nicht-sprachliche Protokolle grundsätzlich in Sprache logisch-diskursive Sprache zumal - überfuhrt werden können (vgl. König, 1993, 196).
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II. Interpretation
gen zugeschnitten sind. Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings entscheidend, Lorenzers sozialtheoretische Fassung des Individuellen und überhaupt sein Interesse am Sozialen und Kulturellen als einer der Individualität von Subjekten vorgeordneten Wirklichkeit in Rechnung zu stellen. Lorenzer erinnert dabei zunächst an die Freudsche „Aufhebung der grundsätzlichen Differenz zwischen normaler und gestörter Persönlichkeit. Niemand ist frei vom sozialen Unglück der Neurose; und das individuelle Scheitern ist allemal das Resultat mißglückter sozialer 'Einigungsformeln' des Kollektivs" (Lorenzer, 1984a, 215). Er betont zwar, daß die Neurose den Betroffenen sozial isoliert, ihn in seinen lebensgeschichtlich konstituierten Idiosynkrasien zeigt. Neurosen sind in diesem Sinne immer individuelle Eigenheiten, und damit ist das „Interpretandum der psychoanalytischen Interpretation das Vereinzelt-Soziale" (ebd., 216), es ist die den anderen unverständliche und selbst dem Betroffenen in ihrem Tiefensinn verschlossene „Privatspräche". Der in Lorenzers Argumentation zentrale Punkt ist aber, daß die „hinter" neurotischen (und anderen psychischen) Störungen liegenden Strebungen „'soziale Formeln' menschlicher Praxis (sind). Formeln der lebenspraktischen Auseinandersetzung mit der inneren wie auch der äußeren Natur: Grundformeln der Subjektivität, wie sie für jede Gesellschaft ausgebildet werden" (ebd., 216). Eben darum, also um Erfahrungen des Leidens, die Subjekte als Angehörige einer Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft auf sich nehmen oder befürchten müssen, geht es in der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse.
2.6.6 Kunst, Alltag und der ubiquitäre Charakter präsentativer Symbolik Vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung verschiedener Interaktionsformen unbewußter, sinnlich-symbolischer und sprachlich-symbolischer - definiert Lorenzer die Funktion der Kunst folgendermaßen: Kunst hat „die unbewußten Praxisfiguren und Erlebniserwartungen in sinnlich-unmittelbare Symbole zu überführen, um so neue Lebensentwürfe in der sinnlichen Erfahrung zur Debatte zu stellen. Das schließt ein: Es können unbewußte Erlebniserwartungen, unbewußte Praxisfiguren gegen einen Zensor inszeniert werden. Dabei kann es um neue soziale Inhalte gehen, also neue Aktionsformen des Verhaltens, oder um neue Rezeptionsformen, neue Darstellungsformen des Erlebens, oder um das Wiederaufgreifen geschichtlich vergangener Erlebnisformen, deren Widerstandspotential gegen bestehende Verhältnisse zu reklamieren ist" (Lorenzer, 1988b, 60). Es ist leicht zu sehen, daß literarische Texte gerade auch auf der Ebene präsentativer Symbolik operieren. Sie machen dadurch das, was nicht dem sprachlich-diskursiven Zugriff und der bewußten Kontrolle untersteht, in gewissem Maße „handhabbar". Sie spielen mit vorbewußtem Material, stiften Verbindungsbriicken zwischen Unbewußtem und Bewußtsein, und sie tun dies - im Gegensatz zum kindlichen Umgang mit Übergangsobjekten etwa - im Medium der Sprache, einer Sprache freilich, die in hohem Maße in Bildern spricht. Diese Bilder leben von der Spannung zwischen manifestem und latentem Sinn. Tie-
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fenhermeneutische Interpretationen gehen gerade diesem Spannungsverhältnis nach, indem sie sinnlich-unmittelbare Symbole nach den beiden genannten Seiten hin zu verstehen suchen: „Der Text ist als Symbolgefüge zu respektieren; er ist als Vermittlung einander widerstrebender Impulse aus zwei eigenständigen Ordnungssystemen zu lesen. Die eine Ordnung ist bewußtseinsfahig, sie ist Bewußtsein, sie bestimmt den manifesten Textsinn. Die andere Ordnung ist das Unbewußte, die im latenten Textsinn zum Vorschein kommt. Der Text ist die Einheit beider. Oder genauer ausgedrückt: Am Text ist die Einheit beider Sinnebenen festgemacht. Das Symbol ist der Doppelsinn" (ebd., 58). Gemeint ist hier vornehmlich die sinnlich-konkrete Symbolik, wie sie auch die szenischen Darstellungen in Texten beherrscht. Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen vermitteln, ohne die Spannung je aufzuheben, Wünsche und Werte, sinnlich-triebhafte Neigungen und soziokulturelle Normen. Die bildhaft-szenische Tiefenstruktur, die präsentative Symbolik und Bildersprache, in der sich vergegenwärtigen und ansprechen läßt, was sich als etwas sozial nicht Akzeptables nicht (ohne weiteres) aussprechen läßt, wecken das spezifische Interesse der Tiefenhermeneutik. Literatur symbolisiert Unbewußtes sinnlich-konkret in einer sozial erträglichen Form. Damit wird bewahrt, was andere soziale Gruppen dem Vergessen anheimstellen, es wird thematisiert, was sozial unterdrückt wird und worunter zumindest manche leiden: gewalttätige Praktiken, tabuisierte Ängste und Schuldgefühle, Wünsche, Sehnsüchte und aggressive Phantasien, Affekte jedenfalls, die beim Leser durch die Lektüre belebt, bearbeitet, unter Umständen bewußt gemacht und reflektiert werden können. Gilt das, was für die Sprache der Literatur gesagt wurde, nun nicht auch für die Sprache des Alltags, zumindest in bestimmtem Maße? Man wird dieser keine so klare Aufgabe zuschreiben wollen, wie Lorenzer dies für die Literatur tut - was im übrigen als eine allzu vereinheitlichende Bestimmung kritisiert werden könnte. Selbstverständlich setzt die Alltagssprache nicht das hochentwickelte Instrumentarium der Literatur ein, ein Instrumentarium, mit dem Poeten Unbewußtes auf die Ebene sinnlich-unmittelbarer Symbolik heben können. Literarisch-fiktionale Texte sind unbestreitbar strukturierter als die alltagsweltliche Rede. Gerade wegen der artifiziellen Struktur des literarischen Textes, die auf einen Abbau von Redundanz abzielt, ist dieser auch unvorhersehbarer in seinem Verlauf, komplexer und offener als die redundantere alltagsweltliche Rede. Dies heißt: Literarische Texte sind - nicht trotz, sondern wegen ihrer hohen Strukturiertheit - in ihren Sinn- und Bedeutungsgehalten weniger eindeutig bestimmt und bestimmbar. Sie eröffnen ein weiteres Spektrum an Deutungsoder Interpretationsmöglichkeiten. Die Sinn- und Bedeutungsüberschüsse oder die Überbestimmtheit literarischer Texte zeigen sich etwa in der Schichtung mehrerer, vielfach miteinander verzahnter semantischer Ebenen (vgl. etwa Iser, 1990, 83). Zur Überbestimmtheit und speziell zu den von der Tiefenhermeneutik hervorgehobenen Eigenschaften literarischer Texte tragen verschiedene ästhetisch-rhetorische Sprachformen und Stilmittel bei, namentlich etwa metaphorische Ausdrücke und Redeweisen. Gerade die metaphorische Sprache der Lite-
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ratur wendet sich an das „sinnliche Erleben" und bietet „ein szenisches Arrangement oder Bildangebot ..., das einzigartig und nicht (in die diskursive Sprache, J.S.) übersetzbar ist..." (König, 1993,1989) 54 Das ist zutreffend. Gleichwohl wird wohl niemand behaupten wollen, daß die präsentative Symbolik und mit ihr die sprachlichen Mittel, die szenischsinnliche Inszenierungen in Rede und Text ermöglichen oder unterstützen, in der Alltagssprache keine Rolle spielten. Man darf also Zweifel gegen eine allzu scharfe Unterscheidung zwischen literarischen Texten und alltagsweltlicher Rede erheben, insofern damit bestimmte Merkmale allzu rigide verteilt und zugeordnet werden. Zöge man die Grenzen zwischen literarischer Sprache und Alltagssprache nicht relativ locker, wäre eine tiefenhermeneutische Sozialforschung im Sinne von Leithäuser und Volmerg (1988) wenig sinnvoll. In diesem Zweig empirischer Forschung geht es ja um psychologische Formen und Inhalte, wie sie sich an alltagsweltlichen Äußerungen, sprachlichen und non-verbalen, studieren lassen. Kurz: Auch die alltagsweltliche Sprache sagt mehr, als der Sprecher sagen will, und sie transportiert andere Sinn- und Bedeutungsgehalte als jene, die auf der denotativen Ebene der diskursiven Logik von Aussagen und Behauptungen angesiedelt sind. Auch sie ist nicht auf die Funktionen der Sachverhaltsdarstellung, der argumentativen Begründung oder der sachbezogendiskursiven Abstimmung sozialen Handelns und dergleichen beschränkt. Exemplarisch läßt sich dies am Gebrauch von Metaphern aufzeigen. Metaphern finden sich in der Alltagssprache kaum weniger als in der Literatur. Die für die Tiefenhermeneutik so wichtige Funktion metaphorischer Konstruktionen erfüllen alltagsweltliche Ausdrücke und Wendungen ebenso wie die innovativen, kunstvollen Metaphern der Literatur. So ist es kein Zufall, daß Metaphern neuerdings in handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen besondere Beachtung geschenkt wird (Bohnsack, 1989, 348f.; Buchholz, 1993, 1996; Schmitt, 1996; Straub & Seitz, 1998; Straub & Sichler, 1989). Auch in der im Alltag gesprochenen Sprache sind Sinn- und Bedeutungsüberschüsse nicht zuletzt auf die präsentative Symbolik zurückzufuhren, mit der zahlreiche Äußerungen operieren. Das alltagsweltliche Sprechen bedient sich unmittelbar-sinnlicher Symbole genauso wie der Logik der diskursiven Sprache und der sprachsymbolischen Reflexion. Nicht nur „der Dichter" übersetzt, wie König (1993, 204) die traditionelle, romantische Verklärung literari-
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Merkwürdig ist, am Rande bemerkt, Königs Gegenüberstellung von Metonymie und Metapher. Die Metonymie wird ja bisweilen ebenso zum Grundrepertoire eines sprachtheoretisch interpretierten Unbewußten gerechnet wie die Metapher. In linguistischer und poetologischer Perspektive hat Jakobson die Metapher und die Metonymie als die beiden Primäroperationen, mit denen unsere Sprache arbeitet, aufgefaßt. Es liegt demnach - so Lacan, dessen sprachtheoretische Fassung des Unbewußten hier nicht diskutiert werden soll - auf der Hand, diese Operationen, nämlich die Verdichtung von Bedeutung und deren Verschiebung ganz im Sinne der Begriffe aus Freuds psychoanalytischer Traumtheorie aufzufassen - was Lacan eben tat und was ihn bekanntlich dazu brachte zu sagen, das Unbewußte sei wie eine Sprache strukturiert.
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sehen Schaffens fortschreibt, „unbewußte Lebensentwürfe in Bilder." Dies geschieht nolens volens, mehr oder minder, wo immer gesprochen wird. Die Tiefenhermeneutik hat somit guten Grund, sich von der hohen Kultur in die Niederungen der alltagsweltlichen Praxis zu begeben, um in Objektivationen auch dieser Praxis nach „greifbaren Repräsentanten der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen" (Lorenzer, 1988b, 60) zu suchen.
2.6.7 Szenisches Verstehen Wie löst die tiefenhermeneutische Sozialforschung und Kulturanalyse die Aufgabe eines reflektierten Transfers der traditionellen psychoanalytischen Interpretationsmethodologie und -methodik? Was also macht der tiefenhermeneutische Textinterpret? Texte eröffnen Möglichkeiten für die virtuelle Teilhabe an Interaktionsszenen. Die tiefenhermeneutische Analyse setzt am Text-LeserVerhältnis an und fragt nach den Wirkungen, die ein Text beim Leser auslöst. Solche Wirkungen setzen Gegenübertragungen des Rezipienten frei.55 TextLeser-Interaktionen bilden das Medium für die Analyse latenter Sinngehalte von Texten. Voraussetzung ist, daß sich der Interpret auf sinnliche Interaktionen mit den textuell vermittelten Szenen einläßt - und diese Interaktionen sodann modo psychoanalytico reflektiert. Die in der Interaktion zwischen Textstruktur und Leseraktivitäten sich einstellenden Wirkungen auf den Rezipienten bilden das Material, mit dem die tiefenhermeneutische Untersuchung unbewußter, sozial anstößiger Motive, Handlungs- und Lebensentwürfe arbeitet. Ohne den Einsatz der Lebenserfahrungen des Interpreten ist dies nicht möglich. Mit Psychologismus hat das dennoch nichts zu tun. Tiefenhermeneutisches Verstehen ist an das methodisch kontrollierte Aussprechen und Bedenken der szenischen Erwartungen des Interpreten gebunden. Der Interpret hat seine Erwartungen mit der Textszene in Beziehung zu setzen. Das Einbringen eigener praktischer Erfahrung wird somit zur wichtigen Voraussetzung und Vermittlungsinstanz des tiefenhermeneutischen Verstehens überindividueller Sinn- und Bedeutungsgehalte von Texten und Textanaloga: „Aus der szenischen Anteilnahme erwächst das szenische Verstehen. Beides gelingt nur dann, wenn der Leser/Interpret seine eigenen Lebensentwürfe als 'Vorannahmen über das Erlebnis des anderen Menschen' einsetzt - um die Differenz im Spiel mit den Situationsbildern abzubauen, und zwar so lange abzubauen, bis sich die Struktur der dargestellten Szenen von der eigenen Lebenserfahrung her buchstabieren und zusammenfügen läßt zu einer 'szenischen Aussage'" (Lorenzer, 1988b, 62).
55
Zu Recht hebt König diesen Aspekt hervor und warnt davor, die Reaktionen des Lesers auf den Text als Übertragungen mißzuverstehen (König, 1993, 202). In Rechnung zu stellen ist allerdings, daß auch noch der Begriff der Gegenübertragung nicht präzise paßt. Genau genommen kann von Gegenübertragung ja nur die Rede sein, wo von Übertragung die Rede war - was im Falle eines Textes ein befremdlicher und schlicht irreführender Anthropomorphismus wäre. Königs Rede ist metaphorisch, als solche jedoch sinnvoll und fruchtbar.
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II. Interpretation
Im Rahmen der sogenannten horizontalen Hermeneutik baut der Interpret Differenzen zwischen den eigenen und den fremden lebenspraktischen Vorannahmen, zwischen der eigenen Sprache und der des anderen ab. Die vertikale, eben die Ti'e/enhermeneutik fuhrt vom manifesten zum latenten Sinn, mithin zum Verstehen verborgener Lebensentwürfe.56 Die Lebenserfahrungen des Interpreten, die dieser ins Spiel bringt, können im Lichte der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie systematisiert und in Anschauungsformen konkretisiert werden. Dieses Vorgehen soll davor bewahren, das Interpretandum durch vorschnelle Kategorisierungen auf abstrakt-theoretischer Ebene bloß „einzuordnen". Zugleich gewährleistet es, daß die psychoanalytische Herkunft interpretativen Handelns nicht kaschiert wird. Ohne psychoanalytische Basisannahmen macht die tiefenhermeneutische Methodologie und Methodik der Textinterpretation keinen Sinn.57 Ohne Lorenzers Sozialisations- und Persönlichkeitstheorie wäre das, was tiefenhermeneutische Interpreten tun, unverständlich. Aber nicht allein psychoanalytische Theorien gehören zum Horizont des kompetenten Tiefenhermeneuten. Lorenzer (1988b, 66ff.) fordert außerdem vielfältige materiale und theoretische Kenntnisse, wie sie andere Sozial- und Kulturwissenschaften bereitstellen. Auch mit diesen muß der Interpret behutsam umgehen. Er hat alle seine theoretischen und empirischen Vorannahmen in der Auseinandersetzung mit den konkreten Interpretanda kritisch zu reflektieren. Ebenso wie seine lebenspraktischen Annahmen gehören die sozial- und kulturwissenschaftlichen Kenntnisse, die er als sinnerschließende Vergleichshorizonte an das Interpretandum heranträgt, zu den eventuell zu revidierenden Vorurteilsstrukturen. Nur so können die fraglichen Szenen schließlich auf angemessene Weise „als aufschlußreiche Momente einer subjektiven Lebenspraxis" und „als Moment eines objektivierten Kulturzusammenhangs" begriffen werden (ebd., 69). Als besonders wichtiger Schritt der tiefenhermeneutischen Textanalyse wurde das szenische, lebenspraktische Verstehen bereits genannt. Dieses bezieht sich auf Szenen des Textes, die im Lichte der subjektiven Handlungs- und
56
Eine andere Bedeutung nehmen die Begriffe der horizontalen und vertikalen Hermeneutik bei Leithäuser und Volmerg (1988, 244) an.
57
Es ist mißverständlich, wenn König schreibt, die tiefenhermeneutische Textinterpretation sei „nicht theoriegeleitet" (König, 1993, 199). Gemeint ist damit wohl, daß Interpreten nicht subsumtionslogisch verfahren, das Interpretandum also nicht allein durch die vorab bereitstehenden Begriffe und Ordnungsraster auffassen sollen. Auch in der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse ist Freuds „Stoffdenken" gefordert. Man könnte von einer empirischen Forschung sprechen, die bei der Gewinnung materialer Einsichten in einen bestimmten Gegenstandsbereich „gegenstandssensitiv" vorgeht und behutsam prüft, ob die Anwendung theoretischer Begriffe im konkreten Fall angemessen ist. Zudem ist es so, daß die tiefenhermeneutische Forschung - durchaus im Sinne der Konzeption der grounded theory (Glaser & Strauss, 1967) - neue Begriffe und Theoreme in der intensiven Auseinandersetzung mit empirischem Material hervorbringen soll. Das alles spielt sich jedoch auf der Basis bestimmter psychoanalytischer Theoreme und Grundannahmen ab, ist also keineswegs ein theoriefreies Unternehmen.
2. Sprache, Text, Interpretation
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Lebensentwürfe des Interpreten, unter Bezugnahme auf die psychoanalytische Persönlichkeitstheorie sowie sozial- und kulturwissenschaftliche Theoriestücke als szenische Anschauungsformen konkretisiert und schließlich „begriffen" werden. Insgesamt kann die tiefenpsychologische Erkenntnisbildung als ein langer „Weg des Verstehens ('in kleinen Schritten')" aufgefaßt werden (Lorenzer, 1993, 79). Generell geht es der Psychoanalyse nicht allein um logisches und psychologisches, sondern auch, sogar vorrangig um szenisches Verstehen (Lorenzer, 1973, 79-105, 138-194; ders., 1974, 105-152). Logisches Verstehen erfordert Sprachkompetenzen, wie sie jeder Sprecher einer Sprache normalerweise erwirbt. Diese befähigen zur Erfassung des wörtlichen Sinnes und ermöglichen es, Ausgesagtes als sinnvolle Sprachgestalt, als Sprachgebilde oder Sprachfigur aufzufassen. 58 Logisches Verstehen - den Ausdruck entnimmt Lorenzer dem Werk Binswangers - ist Sprachverstehen. Von der üblicherweise ziemlich engen Bedeutung des Prädikators „logisch" darf man sich dabei nicht irreführen lassen. „Logik" ist hier ein vager Name für das regelabhängige „Funktionieren" der Sprache. Die Verfügbarkeit eines bestimmten Wortschatzes, die Beherrschung grammatischer Regeln etc. gestatten es dem logisch Verstehenden wiederzugeben, was auf der Ebene des wörtlichen Sinnes - in konsistenter oder inkonsistenter Form - gesagt wird. Logisches Verstehen erschließt die denotative Bedeutung sprachlicher Äußerungen. Als kleinste Einheit des logischen Verstehens gilt Lorenzer der Satz. Wörtlicher Sinn ist „Satz-Sinn", logisches Verstehen Satzverstehen. Sätze stehen dabei stets in einem Kontext. Was der Satz für das einzelne Wort ist, ist der intratextuelle oder intertextuelle Kontext für den Satz. Die Bedeutung von Sätzen hängt zudem vom pragmatischen Kontext ab, in dem sie geäußert werden. Wie dem auch sei: solange der psychoanalytische Interpret logisch versteht, bewegt er sich stets in der Sprache. Objekte des Verstehens sind in diesem Fall Sprachgebilde, nichts anderes sonst. Der logisch Verstehende fragt nicht nach den sprachlichen Referenten und den Geltungsansprüchen von Aussagen. Die zu verstehende Wirklichkeit ist hier ganz und gar das sprachlich Mitgeteilte. Verständliches ist ihm als solches evident, an logisch Unverständlichem - wie etwa grammatikalisch nicht korrekten Sätzen - bleibt er spontan hängen: „Die logische Evidenz, mit der der Analytiker arbeitet, resultiert aus dem Zusammenschluß der Mitteilungen zu einer Sprachgestalt in der Wahrnehmung des Analytikers" (Lorenzer, 1973, 85). Logisches Verstehen ist möglich, insofern die „Gesprächspartner" eine gemeinsame Sprache sprechen, an bestimmten Sprachspielen teilhaben können (Lorenzer, 1973, 96ff.).59 Barrieren der Verständigung markieren auf logischer
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Der Begriff der Sprachgestalt weckt aus gutem Grund Erinnerungen an gestaltpsychologisches Denken. Der Begriff des Sprachgebildes wird von de Saussure und Karl Bühler übernommen (Lorenzer, 1973, 83).
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Wittgenstein bleibt auch in späteren Arbeiten Lorenzers eine wichtige Referenz, wenngleich seine Sprachphilosophie zunehmend kritisiert wird. Auch Leithäuser und Volmerg (1988) stützen sich auf Wittgensteins Sprachauffassung.
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II. Interpretation
Ebene Differenzen zwischen den „Gesprächspartnern", zwischen der Sprache des Interpreten und der des Interpretandums. Sie lassen sich durch weitere Bemühungen um logisches Verstehen möglicherweise abbauen. Solche Differenzen stellen sich so gut wie immer ein, da logisches Verstehen notwendigerweise auf der stets riskanten Unterstellung beruht, daß eine gemeinsame Sprache gesprochen wird. Das logische Verstehen setzt voraus, daß Sinn- und Bedeutungszuschreibungen im Sprachverstehen verschiedener Personen identisch ablaufen. Die Erfahrung lehrt jedoch, daß Personen aus denselben Äußerungen häufig Sprachgestalten machen, deren Sinn und Bedeutung nicht übereinstimmen. Die formale Übereinkunft zwischen dem Verständnis ein und desselben Satzes „ich fühle mich gut" - kann die unterschiedlichen Bedeutungsgehalte, die der Satz für verschiedene Personen (aus unterschiedlichen soziokulturellen Milieus) besitzen mag, nicht beseitigen. Das logische Verstehen führt zu einem Verständnis, das lediglich eine „formale" oder „strukturelle Übereinstimmung der Sätze" zweier Sprecher markiert. Es ist unvollständig und unsicher. Die Übereinstimmung in den allgemeinen Begriffen gewährt keinerlei Gewißheit, das Interpretandum in seiner Besonderheit, die eben nicht in allgemeinen Sprachfiguren aufgeht, verstanden zu haben. Wie dem auch sei: Auf dem logisch Verstandenen bauen alle weiteren Schritte des tiefenhermeneutischen Verstehens auf. Einen anderen Anfang und eine andere Grundlage gibt es nicht. Logisches Verstehen ist „das Fundament der Verständigung, die Operationsbasis, von der her die Erkundung der Bedeutungen allmählich vorangetrieben werden kann" (Lorenzer, 1973, 91). Das Ende des langen Weges tiefenhermeneutischen Verstehens ist, sobald Äußerungen logisch verstanden wurden, noch lange nicht erreicht. Definitionsgemäß kann das logische Verstehen nicht zur Erkenntnis unbewußter Lebensentwürfe vordringen. Das Unbewußte ist ja das aus der Sprache, der logisch-diskursiven zumal, Ausgeschlossene. Ein weiterer Schritt im mehrgliedrigen Prozeß des Verstehens ist das psychologische Verstehen.60 Das psychologische Verstehen bezieht sich auf die affektive Verfassung von Sprechern bzw. Autoren, auf deren Befindlichkeit, wie sie insbesondere in der Gestik, Mimik, im Tonfall und anderen Begleiterscheinungen des Sprechens bzw. in parasprachlichen Phänomenen (etwa einem „äh") Ausdruck findet. Zu einem guten Teil sind solche Begleiterscheinungen und parasprachlichen Phänomene, auch wenn sie im Dienst des Selbstausdrucks stehen, vom Subjekt nicht (vollständig) kontrollierbar. Die Leitfrage des psychologischen Verstehens heißt: wie wird (zueinander, miteinander) gesprochen, welche affektiven Gehalte des Sprechers oder Autors signalisieren Rede oder Text (bzw. die darin protokollierten Handlungen etc.)? Das psychologische Verstehen dient dem Verstehen des Sprechers oder Autors.
60
Lorenzer spricht diesbezüglich auch vom Nacherleben (Lorenzer, 1973, lOOff.). Ich vermeide diesen traditionell sehr vorbelasteten Begriff der psychologistischen Einflihlungshermeneutik.
2. Sprache, Text, Interpretation
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Texte bieten für diesen Typus des Verstehens nicht allzu viele Anhaltspunkte. Gestik, Mimik etc. sind in schriftlichen Protokollen meistens gar nicht, manchmal unvollständig fixiert. Ohne Verlust an Unmittelbarkeit und „Informationsgehalt" lassen sich leibliche Begleiterscheinungen des Sprechens prinzipiell nicht schriftlich wiedergeben. Textinterpretationen legen aus, was gesagt wurde. Das gilt im übrigen auch für das Verstehen in der Psychotherapie. Auch dort steht das gesprochene Wort im Zentrum des Mitgeteilten und Wahrgenommenen (Lorenzer, 1974, 106; 1973, 80f.). In jedem Fall bleibt das Verstehen einzelner Gesten etc. unsicher. Auf festerem Boden stünde es erst, wenn die Bedeutung von Gesten etc. in den Zusammenhang einer dramatischen Handlung, einen Handlungszusammenhang, eingebunden werden könnte: „Auch hier verbürgt die Sprachgemeinschaft allein die formale Übereinstimmung der Symbolanordnung, der dramatischen Handlung. Die Bedeutung der Einzelgeste kann wie die Bedeutung des einzelnen Wortsymbols lediglich aus einem ausgebreiteten Kontext erschlossen werden" (Lorenzer, 1973, 103). Logisches und psychologisches Verstehen sind vielfach miteinander verschränkt, sie gehen fortwährend ineinander über (Lorenzer, 1993, 138). Die Psychoanalyse begnügt sich allerdings auch mit diesem komplexen Wechselspiel des logischen und psychologischen Verstehens noch nicht: „Logisches Verstehen wie das von ihm abhängige psychologische Verstehen müssen im Dienste einer anderen Methode stehen" (Lorenzer, 1974, 110). Dies ist schon deswegen so, weil diese Arten des Verstehens lediglich einen Zugang zu dem eröffnen, worüber man sich bereits verständigt hat bzw. worüber stillschweigendes Einverständnis herrscht. Unbewußtes bleibt in beiden Fällen außer Reichweite, so daß „die Psychoanalyse unablässig dazu drängt, die Grenzen beider Operationsweisen zu überschreiten. Die Überschreitung geht in eine ganz bestimmte Richtung, auf eine Zwischenebene, die, vom logischen wie psychologischen Verstehen gleich weit entfernt, die eindeutige Abgrenzung der beiden Bereiche verwischt" (Lorenzer, 1993, 138).61 Das szenische Verstehen faßt das Sprechen mitsamt seinen parasprachlichen und non-verbalen Begleiterscheinungen als eine interaktive Inszenierung von latent wirksamen Handlungs-, Interaktions- oder Lebensentwürfen auf, kurz: als Integration von Sprach- und Handlungsfiguren zu Interaktionsfiguren. Die auf „logischer" Ebene angesiedelten Sprachfiguren und die auf „psychologischer" Ebene verorteten Handlungsfiguren werden im Zuge des szenischen Verstehens als Interaktionsfiguren aufgefaßt. Diese Interaktionsfiguren interessieren die Tiefenhermeneutik in ihren verborgenen Sinn- und Bedeutungsgehalten. Als latente Sinnstrukturen zeigen sie leidvolle oder leiderzeugende soziale Beziehungsmuster an. Szenisches Verstehen zielt auf die Erfassung von verborgenen, sozial anstößigen Lebensentwürfen, wie sie bestimmten Interak-
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Was die psychoanalytische Therapie betrifft, gibt Lorenzer (1993, 176ff.) ein sehr aufschlußreiches Beispiel. Da die Methode des szenischen Verstehens in der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse ihre Herkunft aus der therapeutischen Praxis nicht verleugnet, ist dieses Exempel generell aufschlußreich.
316
II. Interpretation
tionssymbolen und Symbolisierungen implizit sind. Dabei gilt, daß Texte generell latente Sinn- und Bedeutungsgehalte besitzen. Die radikale Verdachtshermeneutik Lorenzers betrachtet den Text als „stets verderbt" (Lorenzer, 1974, 101). Dies gilt für das Wort des Patienten so gut wie für Protokolle aus anderen Handlungs- und Interaktionszusammenhängen. Psychisches wird szenisch präsentiert. Was als Interpretandum der Tiefenhermeneutik verbalisiert ist, ist eine Szene oder eine Reihe von Szenen, in denen dieses und jenes geschieht, Akteure vereinzelt, nebeneinander, miteinander oder gegeneinander handeln. In Szenen finden Beziehungsfiguren Ausdruck, Objektbeziehungen und Interaktionsbeziehungen der Subjekte. Szenisches Verstehen beginnt damit, daß der Interpret seine eigenen lebenspraktischen Vorannahmen probeweise an das Interpretandum heranträgt, um die szenisch dargebotenen Vorstellungen und Phantasien zu entschlüsseln. Man denke beispielsweise an die Eröffnungsszene eines Kriminalstücks: ein Toter liegt in einem Durcheinander von umgestürzten Möbelstücken, durchwühlten Schränken und Schubladen. Was ist für den Leser zu tun, auch für den, der keine psychoanalytischen Absichten hegt? Er hat „seine 'Lebenserfahrung' einzusetzen, um zur Deutung der Szenen zu kommen: Eine Gewalttat ..." (ebd., 111). Klar ist, daß der Leser „seinen eigenen szenischen Vorannahmen gemäß nicht umhin kann, sich eine bestimmte Deutung des Zusammenhangs zu eigen zu machen, obwohl der gewitzte Kriminalleser weiß, daß ihm auf Seite 1 schwerlich die richtige oder gar ganze Lösung ermöglicht wird. Im Bewußtsein, verstanden zu haben, aber noch nicht das richtige Verständnis zu besitzen, wird der Leser weiter suchen" (ebd., 112).62 Der psychoanalytische Interpret sucht nach anderem als der Detektiv. Erst recht deckt sich sein Gegenstand nicht mit dem des alltagsweltlichen szenischen Verstehens. Das szenische Verstehen in der tiefenhermeneutischen Forschung ist zwar als lebenspraktisches zu begreifen, aber keinesfalls mit dem Alltagsverstehen gleichzusetzen (König, 1993, 200f.). H Der Tiefenhermeneut 62
Im Fortgang seiner Argumentation grenzt Lorenzer - auch in anderen Publikationen - die Arbeit des psychoanalytischen Interpreten von der des Detektivs und Kriminalisten ab. Er formuliert dabei, ganz nebenbei, treffende Einwände gegen die mittlerweile (vor allem durch die Semiotik) modisch gewordene Analogie. Der sozial- und kulturwissenschaftliche Textinterpret arbeitet nicht wie Sherlock Holmes (Lorenzer, 1988b, 70ff.).
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Nicht nachvollziehbar ist eines der von König angeführten Unterscheidungsmerkmale: nicht nur das alltagsweltliche Verstehen beruht auf Typisierungen und fuhrt unter Umständen zu Korrekturen und Erweiterungen des typisierten Wissensvorrates, sondern auch das psychoanalytische. Wie anders als in der Form von Typisierungen sollte nicht nomologisch strukturiertes Wissen, das sich auf überindividuelle Phänomene bezieht, verstanden werden können (vgl. Straub, 1989, 223ff.)? Dieser Gesichtspunkt hat, im Gegensatz zu Königs Darlegungen, nichts mit dem Sachverhalt zu tun, daß „das in der Tiefenhermeneutik zur Geltung kommende szenische Verstehen den Zweifel zur Methode (erhebt), indem es systematisch nach einer Sinnebene sozial anstößiger Lebensentwürfe fragt, die sich der Ordnung der in Sprache zur Geltung kommenden Normen und Werte widersetzen" (König, 1993, 201). Auch wenn dem so ist, muß schließlich auch jede psychoanalytische Erkenntnis zur Sprache gebracht werden, mithin die Form von formaltheoretischen oder materialen Typisierungen annehmen.
2. Sprache, Text, Interpretation
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problematisiert die in Szenen angezeigten Interaktionsformen und erkundet die verborgenen Lebensentwürfe; und während er das tut, reflektiert und korrigiert er die eigenen lebenspraktischen Vorannahmen. Entscheidend ist beim szenischen Verstehen, daß sich der Interpret in die szenischen Interaktionsangebote verstrickt, diese Verstrickungen dann aber in der Auseinandersetzung mit dem Interpretandum kontrolliert. Zum szenischen Verstehen, das sich zwangsläufig im Medium der Sprache bewegt, kommt die zumindest virtuelle Teilhabe an textuell angebotenen Interaktionsszenen. Erst beides zusammen ergibt, wofür der Name „Tiefenhermeneutik" steht. Unbewußtes, individuelles so gut wie kollektives, läßt sich nicht ohne weiteres aussprechen. Einen direkten Zugang zu den aus der Sprache exkommunizierten Inhalten des Unbewußten gibt es nicht. Sich sozial anstößiger Lebensentwürfe bewußt zu werden, ist auf szenische Artikulationsformen und szenische Interaktionen, an denen der Interpret aktiv teilhat, angewiesen. Die Aufhebung tiefenpsychologischer Erkenntnisbarrieren verläuft über szenisches Verstehen und die aktive Teilhabe an einem vom Text offerierten, szenischen Interaktionsspiel. Die Unterscheidung zwischen der sprachlich und der nichtsprachlich bestimmten Praxis findet ihr Pendant auf der methodischen Ebene der Interpretation (auch) von Texten und anderen Objektivationen. Wandelt man eine auf die psychoanalytische Therapiesituation zugeschnittene Formulierung Lorenzers etwas ab, läßt sich sagen:" nur szenisches Verstehen, Deuten, Interpretieren und Erkennen im Medium der Sprache und das subjektivemphatische szenische Mit-Agieren, das Mitspielen in einer vom Text angebotenen Position, führt den Sozialforscher und Kulturanalytiker zu kollektiv unbewußten Sinn- und Bedeutungsgehalten einer textuell vermittelten Handlungsund Lebenspraxis. Sprachgebundenes szenisches Verstehen textuell vermittelter Interaktionsformen und emphatisches szenisches Interagieren, ,¿Sprachoperation und reales Zusammenspiel" (Lorenzer, 1974, 142), konvergieren in tiefenhermeneutischer Erkenntnis. Bevor dies an Beispielen näher betrachtet werden soll, ist nachzutragen, daß auch das szenische Verstehen unsicher beginnt und nur allmählich Boden unter die Füße bekommt. Dies ist zwangsläufig so, soll nicht eine wenig gewinnbringende Sicherheit dadurch erheischt werden, daß das Interpretandum vorschnell unter eine theoretische Regel, eine vorgefaßte Hypothese oder einen fertigen Begriff subsumiert wird. Der gesuchte Sinnzusammenhang bildet sich erst im Vorgang des Verstehens. Für jede psychoanalytische Deutung und Interpretation gilt: „zu Beginn kann die 'Szene' vieles bedeuten, am Ende vieles nicht mehr" (Lorenzer, 1973, 148). Erst beim Gehen gewinnt der Interpret Boden unter den Füßen und zunehmende Sicherheit in seiner Orientierung. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn sich die Vorannahmen des Interpreten als zutreffend erweisen oder irreführende Annahmen durch angemessenere ersetzt werden. Daß überhaupt mit dem szenischen Verstehen begonnen werden kann, setzt voraus, daß auf der Seite des Interpreten und der des Interpretandums gemeinsame Interaktionserfahrungen vorhanden sind und sich zum Zwecke des Verstehens einsetzen lassen. Zu Beginn bleibt dieses Unternehmen ein gewagter Versuch, und selbst wenn es an ein glückliches Ende gelangt ist, zeigt sich, daß
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II. Interpretation
vollkommenes Verstehen versagt bleiben muß. In jedem Verstehen hausen Mißverständnisse, noch nicht aufgenommene Chancen zumal, die fragliche Angelegenheit besser zu verstehen, als es der Interpret oder die Interpretationsgemeinschaft vermochte. On the long run hat man sich auch den tiefenhermeneutischen Zirkel des Verstehens metaphorisch als eine offene Spirale vorzustellen. Wenn sich Verständnis einstellt, haben die Bemühungen des Interpreten bisweilen einen langen Weg hinter sich. Dennoch stellt sich die schließlich erworbene Einsicht durchaus plötzlich und spontan ein. Dies gilt im Falle des szenischen wie des logischen und psychologischen Verstehens. Sinn und Bedeutung einer Szene gehen dem Interpreten zumeist in einem kurzweiligen kreativen Moment auf. Lorenzer spricht von Evidenzerlebnissen. Aufschlußreicher sind diesbezüglich seine Bezugnahmen auf gestaltpsychologisches Gedankengut. Gestalten haben Evidenzcharakter, Gestaltbildungen haben (zumindest am Ende) etwas Plötzliches, Spontanes an sich. Tiefenhermeneutisch verstandene Szenen sind prägnante Gestalten. 64 Sieht man sich beliebige forschungspraktische Beispiele tiefenhermeneutischen Interpretierens an, so wird das Zusammenspiel zwischen szenischem Verstehen und Interagieren, speziell das emphatische Sich-Einlassen des Interpreten auf die textuell vermittelten Interaktionsszenen, anschaulich und nachvollziehbar. Solche Beispiele machen auch klar, worin die aktive Teilhabe an Textszenen besteht. Das klassische Modell der Übertragung und Gegenübertragung trägt dagegen wenig bis nichts zu einer solchen Klärung bei. Der emphatische Einsatz der Subjektivität des Tiefenhermeneuten läßt sich gleich zu Beginn des interpretativen Handelns ausmachen. Alles beginnt nämlich damit, daß sich der Interpret von irgend etwas im Text ansprechen und Offizieren läßt und dadurch Aspekte seiner Subjektivität offenlegt. Und so setzt es sich eine gute Weile fort. Beispiele: Würker bittet die Leserschaft vor Beginn seiner Textanalyse darum, seinen „zunächst sehr persönlichen Assoziationen und Irritationen zu folgen, von denen mein Verstehen seinen Ausgang nimmt" (Würker, 1987, 304). Die Lektüre eines Textes von Canetti veranlaßt ihn zu folgenden Worten: „Die Harmonie, die ich aktualisiere, hängt damit zusammen, daß ich mir Elias ungestört vorstelle, allein inmitten der offenen Getreidesäcke ... langsam nimmt er Kömer aus den Säcken, fuhrt die Hand zur Nase, um zu riechen, und ebenso langsam läßt er die Körner wieder durch die Finger in den Sack zurückrinnen. Ich aktualisiere den Geruch, spüre die Körner, deren glatte Oberfläche, ihre angenehme Wärme, die sich meiner Hauttemperatur anpaßt... ich nehme die Szene sinnlich intensiv wahr. Und gerade deshalb fällt mir auf, daß diese sinnliche Dimension nicht ungebrochen ist ..." (ebd., 306). An der soeben angegebenen Stelle schreibt er weiter: „Ein Zweites fällt mir auf: während Elias nur an den
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Dies haben Gestaltpsychologen - Wertheimer, Köhler, Koffka und andere, auch Lewin - an zahlreichen Phänomenen nachgewiesen. Lorenzer stützt sich auf Devereux, der den psychoanalytischen Prozeß durch die Verwendung gestaltpsychologischer Begriffe erhellt und dabei „bemerkenswerte Parallelen" zu Lorenzers Auffassung offenbart (Lorenzer, 1993, 160ff.).
2. Sprache, Text, Interpretation
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Körnern riecht, möchte ich sie auch schmecken; ich würde sie zwischen den Zähnen zermalmen, um ihren mehligen Geschmack zu schmecken. Plötzlich kommt mir Elias' Verhalten recht distanziert vor ... erscheint mir so zurückgenommen und diszipliniert... Der kleine Elias erscheint mir immer mehr als disziplinierter Erwachsener - fast wie ein Lebensmittelprüfer -, der ernst mit isolierter Sinneswahrnehmung kontrolliert..." (ebd., 306). Eine andere Interpretin setzt folgendermaßen an: „Die Erzählung ist von einem feierlichen Ton getragen, der mir den Eindruck vermittelt ..." (Scheifele, 1987, 318). Oder: „Der erste Satz berührt mich merkwürdig" (ebd., 319). Oder: „Am ersten Satz blieb ich bei der Lektüre haften. ... Was mir schwer verständlich war, ist also ...." (ebd. 323f.). Oder: „Die wahnhafte Obsession, die Elias Handlungen diktiert ..., lassen mich fragen ..." (ebd., 320). Und schließlich: „Auf mich wirkt die Spinne hier nicht mehr so bedrohlich wie zu Beginn ... Je aufmerksamer ich der Erzählung folge, desto mehr verflüchtigt sich der Eindruck, ein Wahn werde geschildert, desto stärker zeigt sich, wie geneigt die Beschreibung des Kribbeins der Spinnenbeine auf Elias' Wange den Leser macht, diesen Affekt auch über die folgenden Schilderungen festzuhalten, die ihn selbst nicht mehr hervorzurufen vermögen" (ebd., 321 f.). Es ist ersichtlich, was subjektgebundenes szenisches Verstehen meint. Die eigenen Empfindungen, Gefühle, Assoziationen und Phantasien bei der Lektüre, die Irritationen, die Besonderheiten und Auffälligkeiten beim Leser auslösen, werden zum Seismographen des „szenischen Verstehens". Verstanden wird, „indem ich das, wozu die Darstellung mich beim Lesen verleitet, entfalte und analysiere" (ebd., 318). Nun ist es heutzutage beinahe ein Gemeinplatz, daß Interpretationen subjektgebundene Operationen sind. Unabhängig vom theoretischen und methodologischen Ansatz wird einmütig betont, daß am Anfang der Interpretation eine subjektive Irritation steht, eine Auffälligkeit, an der keineswegs jeder Leser hängenbleiben muß. Iser bringt diese Einsicht auf den Punkt, wenn er schreibt, daß nicht das Wiedererkennen des Eigenen im Text die entscheidenden Leserreaktionen auslöst, sondern eine durch Lektüre vermittelte Differenzerfahrung. Lektüre, Textverarbeitung und Textverstehen setzen eine Ungleichartigkeit, eine „strukturelle Asymmetrie" zwischen Text und Leser voraus: „Das Nicht-Identische ist die Bedingung der Wirkung, die sich im Leser als die Sinnkonstitution des Textes realisiert" (Iser, 1990, 75). Tiefenhermeneuten haben eine besondere Art, ihre Partizipation an den szenischen Angeboten des Textes und ihr szenisches Verstehen zu entfalten und kundzutun. Auffällig ist das allmähliche, immer wieder andere Richtungen einschlagende Sich-Einlassen des interpretierenden Subjektes auf die Wirkungen dessen, was verstanden werden soll, gerade auch auf zunächst unscheinbare Details des Textes. In mancherlei Hinsicht liefert Freuds Interpretation von Michelangelos Statue des Moses das unverkennbare Vorbild. Diese Arbeit gilt Lorenzer nicht zufallig als ein zwar nicht unproblematisches, aber doch unvergleichliches Exempel angewandter Psychoanalyse (Lorenzer, 1988b, 79). Die tiefenhermeneutische Interpretation bleibt selbstverständlich nicht bei ersten Eindrücken wie den exemplarisch angeführten stehen. Sie verwechselt auch nicht das Erkenntnissubjekt mit dem Erkenntnisobjekt. Eher schon
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II. Interpretation
untergräbt sie, wie jede rezeptionstheoretische Text-, Bedeutungs- oder Interpretationstheorie, diese Unterscheidung, ohne sie vollends aufzugeben. Die Tiefenhermeneuten machen ihren Textbezug und die methodische Kontrolle der Interpretation unter anderem daran fest, daß sich der Text bestimmten Interpretationen widersetzen kann. In einer etwas dunklen Formulierung behauptet Lorenzer, die Triftigkeit oder zumindest die Fruchtbarkeit der psychoanalytischen Interpretation sei durchaus „gesichert durch das Gegenspiel zwischen dem spürbaren Widerstand des Textes und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Interpreten" (Lorenzer, 1990, 267). Der Text verbiete, heißt es weiter, willkürliche Deutungen durch seine „Festigkeit" oder, so König, durch sein Bestehen auf seiner „Aussage". So einfach, wie diese Formulierungen suggerieren, ist es leider nicht. Es leuchtet zwar ohne weiteres ein, daß jemand den wörtlichen Sinn eines Textes gegen die völlig zügellos ausufernde Willkür von Deutungen verteidigt, wie sie mancherorts propagiert wird. Zweifellos können wir bestimmte Deutungen in allgemein zustimmungsfahiger Weise als völlig verfehlt disqualifizieren. Positive Kriterien für die Beurteilung von Interpretationen lassen sich jedoch allenfalls bis zu einem gewissen Grad angeben. Die Hoffnung, daß die Texte verfehlten Deutungen einen Widerstand entgegensetzen, den der Interpret spüren könne, ist irreführend. Sie ist Ausdruck einer reichlich nebulösen Ansicht der fraglichen Angelegenheit und wird es schwer haben, ihre Gründe ausweisen zu können. Der „Widerstand des Textes" ist selbst noch von den interpretativen Handlungen des Rezipienten abhängig. Texte „widersetzen" sich verfehlten Deutungen nicht so, wie die unüberwindliche Mauer den Körperbewegungen eines Akteurs Grenzen setzt. Im übrigen sagt ein Text gerade auf der Ebene präsentativer Symbolik nichts Eindeutiges aus. In der Praxis der Interpretation von Texten gibt es immer Spielräume für mehrere, nicht unbedingt miteinander verträgliche Auslegungen. Die Kritik und Rechtfertigung von Interpretationen ist allemal auf konsensorientierte Argumente angewiesen. Dafür gibt es zwar Richtlinien und Empfehlungen, aber keine verbindlichen Wegweiser und Sicherungen. Günstige pragmatische Bedingungen für vernunftorientierte Konsensbildungsprozesse lassen sich bis zu einem gewissen Grade einrichten (Werbik, 1987a). Außerdem lassen sich Vorkehrungen dagegen treffen, daß das Verstehen von idiosynkratischen, zumal psychopathologisch motivierten Auffassungen geprägt wird. Die Interpretation in Gruppen, in denen die Mitglieder gegenseitig die Aufgabe eines Supervisors wahrnehmen, ist eine solche Vorkehrung. Zur absoluten Wahrheit auch der spezifisch psychoanalytischen Erkenntnis führt jedoch kein Weg, schon gar kein einziger, der sich vorab bestimmen ließe. Interpretationen behalten stets ein kontingentes Moment. Die Sicherheit in der Beurteilung von Interpretationen ist unhintergehbar die Sicherheit einer Interpretationsgemeinschaft, die ihre Arbeit in einer geschichtlichen und kulturellen Situation verrichtet. Am Ende dieses Abschnitts bleibt zu illustrieren, wie sich interpretierende Subjekte von ihrem „Gegenüber" in gewissem Ausmaß leiten lassen können. Texte sind - und daran läßt sich auch in einem wirkungs- und rezeptions-
2. Sprache, Text, Interpretation
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theoretischen Rahmen festhalten - keine neutralen Projektionsflächen, an denen sich die Lust am Text nach Belieben des Interpreten ausagieren ließe. Um eines der obenstehenden Beispiele aufzugreifen: Würker hat sich zunächst mit der literarischen Figur „Elias" aus Canettis Autobiographie identifiziert, also eine identifikatorische Interpretation des Textes versucht. Der Text bzw. ein präziseres Verständnis des Textes sperre sich jedoch, so Würker, gegen diese Interpretation. Ein genauerer Blick zeige nämlich, daß Elias nicht der Projektion des Interpreten entspreche. Der Text vermittle vielmehr - im Gegensatz zum ersten Anschein, von dem auch Würkers anfangliche Assoziationen und Phantasien ausgingen - gerade kein ungetrübtes Bild eines spontan und lustvoll spielenden Knaben. Er führe vielmehr untergründig die bestimmende und kontrollierende Macht einer „Disziplin" vor, die die von Canetti inszenierte Subjektivitätsform, die präsentierten Objektbeziehungen und Interaktionsfiguren beharrlich durchziehe (Würker, 1987, 307). Auf diese Weise bereitet Würker seine (vorläufige) Gesamtinterpretation der analysierten Textpassage vor. Diese weist selbstredend auf einen zentralen Aspekt der Interpretation des kompletten autobiographischen Textes voraus, die Würker an anderer Stelle als eine in Interpretationsgemeinschaften differenzierte und „konsensuell abgesicherte" Analyse ausführlicher vorzustellen beabsichtigt (Würker, in Vorb.). Würker will letzten Endes aufzeigen, daß „die genannten Aspekte der Kontrolle und des Verfügens, des Überragens, der Disziplinierung sinnlicher Erfahrung, v.a. der Ausgrenzung von Essen und Eßbarem, sowie die Dementierung von eigener Kindheit und lebensgeschichtlicher Gewordenheit zentrale Aspekte des Lebensentwurfs sind, der den latenten Sinn des Gesamttextes auszeichnet und der letztlich auf eine Allmachtsvorstellung hinausläuft, in der Sprachverfügung mit Wirklichkeitsverfügung identifiziert wird" (ebd., 309). Ich habe exemplarisch illustriert, wie die tiefenhermeneutische Textinterpretation einsetzt, wie sie sich fortsetzt und wohin sie, den „Widerstand des Textes" in Rechnung stellend, schließlich führen kann und soll. Zumindest angedeutet wurde, daß auch das szenische Verstehen komparativ vorgeht. Wie generell in der interpretativen Forschung verlangt das Verstehen auch in diesem Fall den Vergleich. Szenisches Verstehen erfordert das Bestimmen und Reflektieren der Sinngehalte verschiedener Szenen. Es bedarf der Analyse der Verweisungsbeziehungen, in denen einzelne Szenen zueinander stehen. Besonders wichtig sind in solchen vergleichenden Interpretationen solche Szenen, die im Widerspruch zum insgesamt dominierenden Eindruck stehen. Es sind Szenen, die gegen den Strom schwimmen und sich nicht bruchlos in den manifesten Sinnzusammenhang integrieren lassen. Es sind szenische Arrangements, die den Rezipienten, der den Text mit gleichschwebender Aufmerksamkeit und ohne das rigide Korsett (theoretisch) vorgefaßter Meinungen aufnimmt, irritieren. Genau darauf spielt der Titel von Würkers Aufsatz „Irritation und Szene" an. Die „Irritation" bezeichnet jenen Punkt, an dem sich der „spürbare Widerstand" des Textes gegen verfehlte Interpretationen einerseits, die „Offenheit" und „Sensibilität" des Interpreten andererseits treffen (Lorenzer, 1990, 267). Dieser Punkt ist entscheidend für die Entwicklung tiefenhermeneutischer Einsichten.
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II. Interpretation
Die Tiefenhermeneutik achtet nicht bloß auf den zuerst und spontan sich zeigenden Textsinn, sondern vor allem auch auf gegenläufige, quer zum dominierenden Sinnfluß liegende Bedeutungselemente. Ihr zentraler Gegenstand steht aufs engste mit diesem „Gegensinn" in Berührung, wie man in Anlehnung an Böhmes (1990) Konzeption einer obliquen Vernunft sagen kann. Detailliertere Einsichten in den langen Weg tiefenhermeneutischen Verstehens sind allein auf der Grundlage extensiver Protokolle dieser Tätigkeit selbst zu gewinnen. Dabei würde ein bislang fast vollständig vernachlässigter Gesichtspunkt das Gewicht erhalten, das ihm gebührt. Gemeint ist die methodische Funktion von Gruppen bei der Ausarbeitung von tiefenhermeneutischen Interpretationen.
2.6.8 Subjektivität und Interpretationsgruppe Das übliche Setting der tiefenhermeneutischen Sozialforschung und Kulturanalyse ist die Gruppe.65 Die wichtigsten Aspekte, wie sie vor allem von König (1993) dargelegt werden, sollen kurz zusammengefaßt werden. Das Procedere der Interpretationsgruppe läßt sich folgendermaßen wiedergeben: Die Gruppenmitglieder assoziieren frei zum ausgewählten Textausschnitt. Sie können dabei in gewisser Weise psychisch „regredieren", ihren Einfällen und Phantasien zunächst einmal (und immer wieder in bestimmten Phasen des Interpretationsvorgangs) freien Lauf lassen. Der Gruppenmoderator übernimmt stellvertretend für alle Anwesenden bestimmte Ich-Funktionen: er folgt den Assoziationen der anderen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit, regt weitere freie Einfälle an, unterstützt, sammelt, bündelt, ordnet, reflektiert sie. Dabei achtet er darauf, daß auch die auf den ersten Blick abwegig erscheinenden Vorschläge nicht untergehen. Er hat Sorge dafür zu tragen, daß die Interpretation sich nicht fragwürdigen Harmonisierungswünschen beugt. Gegen Diagnosen, die dem Text vorschnell Kohärenz und Konsistenz zusprechen, hat der Gruppenmoderator Einsprüche anzumelden. Den sich anbahnenden Konsensbildungen zum Trotz erinnert er die Gruppenmitglieder an eventuell schon aufgezeigte Ungereimtheiten im Text. Er macht auf Widersprüche zwischen den Interpretationsvorschlägen aufmerksam. Er rückt die Irritationen und die Alternativen in den Vordergrund, nicht das Einverständnis und die Einheitlichkeit. Er fordert dazu auf, die probeweise formulierten Interpretationen am Text „zu überprüfen und die bildhaft-szenische Struktur des Textes herauszuarbeiten"
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Vgl. hierzu insbesondere die Darlegungen von König (1993, 206ff.), der sich - wie schon Lorenzer (1988b, 87) - den Vergleich mit sogenannten Balint-Gruppen zunutze macht. Daß in Gruppen nicht gleich alles so glatt läuft, wie es die folgenden Ausführungen nahelegen, zeigt der Praxisbericht über ein „akademisches Trauerspiel" von Leithäuser (Leithäuser & Volmerg, 1988, 262-291). Die genannten Abhandlungen zeigen nicht zuletzt einige Unterschiede auf, die mit der jeweiligen Zusammensetzung von Interpretationsgruppen einhergehen.
2. Sprache, Text, Interpretation
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(ebd., 208). Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die latenten Sinn- und Bedeutungsgehalte. Der Gruppenmoderator hält das Bewußtsein davon wach, daß sich die Interpretationsgemeinschaft entlang der Linien einer horizontalen und vertikalen Hermeneutik bewegen soll. Zu erwarten ist, daß der Moderator auch mögliche gruppendynamische Spannungen und Konflikte thematisieren und Hilfestellung für den Umgang mit bedrohlichen Gefühlen anbieten muß. Die Interpretationsgemeinschaft bildet ein Spannungsfeld nicht nur, weil sie das Verhältnis zwischen manifestem und latentem Textsinn ausloten möchte, sondern auch, weil verschiedene subjektive Lesarten von sinnlich-symbolischen Interaktionsszenen und Bildern mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Handlungs- und Lebensorientierungen der Interpreten verknüpft sind. Gegenübertragungs- und Gruppendynamiken gehören zum Vorgang kollektiven Interpretierens. Der Moderator nutzt gerade auch diese spannungserzeugenden „Elemente" als Wegweiser zum angestrebten Textverständnis. Neben seinen Supervisionsaufgaben und Vermittlungsfünktionen nimmt der Moderator auch selbst an der Gruppenarbeit teil, unterbreitet Interpretationsvorschläge oder kritisiert die von anderen formulierten. Umgekehrt können selbstverständlich auch Gruppenmitglieder Funktionen erfüllen, die speziell zum Aufgabenbereich des Moderators gehören. So kontrollieren sich die Interpreten in der Regel wechselseitig, sie hinterfragen idiosynkratische Interpretationen, wenn diese eher etwas über die nicht verallgemeinerbaren Erlebnisse und Sichtweisen des Interpreten sagen als über die kollektiv bedeutsamen Lebensentwürfe, die sich in den textuellen Szenen, Bildern und der Textstruktur verbergen (Leithäuser & Volmerg, 1988,133ff.). Die Gruppenarbeit ist nicht nur Bestandteil der tiefenhermeneutischen Methodologie und Methodik. Sie ist außerdem eine Praxis des Lehrens und Lernens. Die „auf szenische Anteilnahme, auf intellektuelle und affektives Verstehen setzende Methode (läßt) sich nur in einem mehljährigen Gruppenprozeß aneignen ..." (König, 1993, 212). Interpretieren ist eine Praxis, die der Übung bedarf, eine Handlungskompetenz, die auf der langwierigen Erfahrung aufruht, aus der sie hervorgegangen ist. Die Hermeneutik betont dies seit jeher. Lorenzers (1988b, 86ff.) Skizze eines Ausbildungsprogramms (Selbsterfahrung, Supervisión, Kasuistik) und seine Aufzählung von Qualifikaktionsanforderungen tiefenhermeneutischer Interpretation knüpfen an diese Einsicht an.
2.6.9 Kritische Schlußnotiz Egal, ob Texte (wie gefordert) von Gruppen oder aber von einzelnen Personen interpretiert werden, so zielt die tiefenhermeneutische Sozialforschung und Kulturanalyse stets auf zweierlei: Sie muß Szenen begreifen „- als aufschlußreiche Momente einer subjektiven Lebenspraxis (das ist die eigenständige Erkenntnisaufgabe einer psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Kulturanalyse) und - als Moment eines objektiven Kulturzusammenhangs" (Lorenzer, 1988b, 69).
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II. Interpretation
Die interessierende subjektive Lebenspraxis ist dabei nicht diejenige eines bestimmten Individuums. Sie ist die Praxis einer Mehrzahl von Subjekten. Tiefenhermeneutische Erkenntnisse richten sich an die Angehörigen einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur. Sie stellen Reflexionsangebote dar, durch die sozial Anstößiges oder Verpöntes ins Blickfeld gerät. Solche Angebote sollen praktische Veränderungschancen eröffnen. Die Tiefenhermeneutik als kritische Theorie sozial konstituierter Subjektivitätsformen hält am aufklärerischen Anspruch der Emanzipation fest. Abschließend möchte ich noch auf ein Problem dieses Ansatzes hinweisen. Die Tiefenhermeneutik geht davon aus, daß Verstehen ohne Vorannahmen weder denkbar noch praktizierbar ist. Sie faßt diese Vorannahmen dabei als eigene Lebenserfahrungen des Interpreten auf. Im therapeutischen Kontext spielt der Analytiker im dramatisch strukturierten Spannungsfeld von Übertragung und Gegenübertragung eine aktive Rolle, um sein Gegenüber zu verstehen. Dies bedeutet, „daß der Psychoanalytiker seine subjektiven Lebensentwürfe als Vorannahmen in die vom Patienten produzierten Szenen einsetzt und so lange korrigiert, bis er dessen Lebensentwürfe von der eigenen Lebenserfahrung her verstehen kann" (König, 1993, 201). Analoges soll für den tiefenhermeneutischen Textinterpreten gelten. Dieser setzt „seine individuellen Lebensentwürfe als Vorannahmen in die Szenen des literarischen Werkes (oder eines anderen Textes, J.S.) ein und verändert sie solange, bis sich die fremden Lebensentwürfe von der eigenen Lebenserfahrung her verstehen und szenisch konkret fassen lassen. Und auch bei der Textinterpretation steht die Aufarbeitung der horizontalen Verstehensdifferenz zwischen dem Vorverständnis des Lesers und den im Text arrangierten Lebensentwürfen im Dienste der Aufhebung der vertikalen Verstehensdifferenz zwischen unbewußten und bewußten Verhaltensentwürfen" (ebd., 201). Diese Beschreibung szenischen Verstehens hat einen Haken. Es drängt sich nämlich die Frage auf, was der Interpret denn eigentlich macht, wenn sich seine eigenen lebenspraktischen Vorannahmen nicht soweit korrigieren lassen, daß die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen schließlich ausreichen, das Interpretandum zu verstehen? Was, wenn die eigenen lebenspraktischen Vorannahmen, also letztlich das lebensgeschichtlich konstituierte Erlebnis- bzw. Erfahrungsreservoir des Interpreten, beim besten Willen nicht genügen, um Fremdes zu verstehen? Was, wenn sich die zwischen Fremden herrschende, „horizontale" und „vertikale" Distanz nicht überbrücken läßt, schon gar nicht in absehbarer Zeit, weil der Erfahrungshorizont des Interpreten zu schmal ist? Auf diese Fragen erhält man von der Tiefenhermeneutik keine befriedigende Antwort. Das aufgeworfene Problem tritt in aller Schärfe hervor, wenn der Interpret sich anderen Kulturen oder vergangenen Epochen zuwendet, die ihn mit radikaler Fremdheit konfrontieren. Auch in solchen Fällen müssen tiefenhermeneutische Analysen vom aktuellen, „subjektiv erfahrenen Text-Leser-Verhältnis ausgehen, denn nur als subjektive Analyse läßt sich modo psychoanalytico der latente Sinn erschließen. Die Analyse muß sich aber", wie Lorenzer fordert, „aufs 'Fremde' oder 'Vergangene' einlassen" (Lorenzer, 1988b, 68). Mit dieser Forderung ist es allerdings nicht getan.
2. Sprache, Text, Interpretation
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Lorenzer warnt vor der Übernahme des ethnopsychoanalytischen Modells des Fremdverstehens. Die Ethnopsychoanalyse, argumentiert er, sei unzureichend, da sie die unmittelbare, nicht nur virtuelle Teilhabe an einer fremden Lebenspraxis voraussetze. Dieser Weg steht der tiefenhermeneutischen Textanalyse nicht offen. Lorenzer hebt nun selbst hervor, daß die Auszeichnung der lebenspraktischen Annahmen bzw. der Lebenserfahrungen des Interpreten als unerläßliche Basis und zentrales Medium der interpretativen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung eine folgenschwere Implikation besitzt: damit werde nämlich die „Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur unbefragt akzeptiert und hingenommen" (ebd.). Lorenzer fordert sodann, diese Selbstverständlichkeit zu relativieren. Man müsse die eigenen Vorannahmen reflektieren, „gelenkig" machen und „im Hinblick auf andere Kulturbilder (mobilisieren), auf jenes Kulturpanorama, aus dem die Texte jeweils stammen" (ebd.). Während beispielsweise der Ethnopsychoanalytiker dem Fremden sinnlich-unmittelbar begegnen könne, sei die Textanalyse auf vermittelnde Wissensbestände angewiesen, die nicht der direkten praktischen Begegnung mit anderen abgerungen und nicht der eigenen Erfahrung entnommen werden könnten. Solche Wissensbestände böten allein Texte, wie sie zum Korpus vor allem anderer Sozial- und Kulturwissenschaften gehören. Lorenzer hat zwar recht, wenn er schreibt: „Genau besehen geht sie (die textwissenschaftliche Erforschung des Fremden, J.S.) nur einen Schritt weiter als die Ethnopsychoanalyse, denn auch der Ethnopsychoanalytiker kann ja nicht ganz und gar in die Gestalten einer fremden Kultur schlüpfen; auch er muß eine unaufhebbare Sozialisationsdifferenz durch das Studium der Struktur der fremden Kultur ausgleichen" (ebd.). Seine Empfehlung, die eigenen Vorannahmen im Lichte der Erkenntnisbestände anderer Sozial- und Kulturwissenschaften gelenkig zu machen, birgt aber dennoch ein schwerwiegendes Problem. Diese Erkenntnisbestände, auf die die Interpreten zurückgreifen sollen, um Differenzen überbrücken zu können, die auf der Basis der eigenen lebenspraktischen Erfahrungen und Annahmen nicht angemessen bearbeitet werden können, sind nämlich ebenfalls keine Garantie für adäquates Fremdverstehen. Das Bild der fremden Kultur, mit dem Interpreten, die sich in anderen wissenschaftlichen Disziplinen umgesehen haben, zurückkehren, mag seinerseits unzureichend sein. Es kann das Verstehen ebenfalls auf einen Irrweg führen, indem es weitere „Vorannahmen" ins Spiel bringt, die dem Gegenstand unangemessen sind. Das „Kulturpanorama", das die Vorannahmen des tiefenhermeneutischen Interpreten gelenkig machen soll, gewährleistet nicht unbedingt, daß eigene kulturelle Selbstverständlichkeiten wirklich hinterfragt werden können und damit ein aussichtsreicher Weg zur Erforschung fremder Wirklichkeiten eröffnet wird. Vielmehr wird häufig auch dieses „Kulturpanorama" noch durch die Perspektiven und Verfahren von Wissenschaften vermittelt, die der Kultur des Interpreten zuzurechnen sind. Wissenschaftliche Erkenntnisbestände der besagten Art sind ihrerseits zu hinterfragende Konstruktionen des Fremden. Ich verweise diesbezüglich auf meine Ausführungen über „Kulturpsychologie". Mit dem formulierten Einwand gegen Lorenzers Empfehlung wird nicht bestritten, daß die interpretative
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II. Interpretation
Handlungs- und Kulturpsychologie mit „Konstruktionen des Fremden" operieren muß, die zur Vorstruktur des Verstehens gehören und sich niemals in ihrer Totalität thematisieren lassen. Diese Einsicht wurde auch im vorgestellten, allgemeinen Modell der vergleichenden Interpretation begründet. Ein Vorzug dieses Modells scheint mir darin zu liegen, daß es von vornherein mehrere Typen von Wissens- oder Erkenntnisbeständen als interpretationsleitende Vergleichshorizonte ausweist. Lorenzers Ausführungen zum Verstehen von radikal Fremdem erwecken dagegen den Anschein nachgeschobener Differenzierungen. Die Tiefenhermeneutik trägt der Einsicht, daß jedes Interpretieren immer schon mehr ist als ein Operieren auf subjektiver Erlebnis- oder Erfahrungsgrundlage, nicht hinreichend Rechnung. Im übrigen sind auch die subjektiven, lebenspraktischen Vorannahmen unweigerlich mit kulturspezifischen Wissens- und Erkenntnisbeständen verflochten. Sie lassen sich demzufolge nicht ausschließlich auf den Erlebnishintergrund des Interpreten zurückfuhren. Auch noch die relative Unmittelbarkeit von Erlebnissen schafft nicht Lebenserfahrungen, die als methodisch kontrolliert einzusetzende Interpretamente von den soziokulturellen Erfahrungen, wie sie durch Lesen und Reden, kurz: durch die Sprache vermittelt sind, vollständig abkoppeln lassen. Last but not least ist zu bedenken, daß nicht nur die (theoretischen und empirischen) Erkenntnisbestände der Nachbardisziplinen, sondern auch die Psychoanalyse und Tiefenhermeneutik selbst kulturspezifische Konstrukte sind. Auch die „vertikale" Hermeneutik hat ihren geschichtlichen und soziokulturellen Ort. Nicht zuletzt das Verstehen modo psychoanalytico läuft Gefahr, die Handlungen anderer Personen, radikal fremde Handlungen von Angehörigen anderer Kulturen und Zeiten zumal, einseitig im Lichte der eigenen, theoretisch präformierten Perspektiven, Selbst- und Weltverständnisse aufzufassen. Dies ist kein prinzipieller Einwand gegen die Tiefenhermeneutik. Jede spezielle Hermeneutik ist mit dieser Gefahr konfrontiert. Angesichts dieser Tatsache, die uns die unweigerlichen Aporien in jedem Bemühen um Verständigung und Verstehen erahnen läßt, bleibt kaum etwas anderes übrig, als die kulturellen Voraussetzungen und Besonderheiten der eigenen Interpretationen zu reflektieren. Diese können jedoch stets nur teilweise artikuliert werden. Sie wenigstens nicht zu ignorieren, ist immerhin ein Anfang.
III. Kritik 1. Interpretation und Stellungnahme Gegenüber den ersten beiden Hauptteilen fallen die folgenden Überlegungen sehr knapp aus. Dieser letzte Teil des Buches bietet eher eine vorläufige Ansicht gewisser Probleme, in die Interpreten verstrickt sind, als eine rundum zufriedenstellende Bearbeitung der behandelten Sachfragen, von abschließenden Lösungen ganz zu schweigen. Die oben formulierte Antwort auf die Frage, was wir denn eigentlich tun, wenn wir interpretieren, hat den zentralen Stellenwert der Operation des Vergleichens verdeutlicht (Teil II, Kap. 1). Wer interpretiert, stellt Vergleiche an. Als unmittelbare Ziele der Interpretation seien noch einmal angeführt: die Identifikation und prädizierende Qualifikation eines textuell objektivierten Phänomens, die detailliertere, dichte Beschreibung und schließlich die (imitationsmustergebundene, intentionalistische, regelbezogene oder narrative) Erklärung der fraglichen Handlungen und verwandter Sachverhalte. Ohne Vergleiche im Zeichen bestimmender und reflektierender Vernunft ist handlungs- und kulturpsychologische Forschung nicht praktizierbar. In dieser Operation stecken bei näherem Hinsehen jedoch einige vertrackte Schwierigkeiten. Ein zentrales Problem hat mit der normativen und valorativen Dimension vergleichender Denkakte zu tun. Eng damit verknüpft ist die keinesfalls harmlose Tatsache, daß jedes Denken an irgendein Vokabular gebunden ist, das Kategorisierungen, Schematisierungen und Beurteilungen der verhandelten Sachverhalte nahelegt oder beinhaltet. Vergleichen impliziert, bereits getroffene Unterscheidungen anzuwenden, ihre Triftigkeit zu prüfen, sie eventuell zu verwerfen und neue Differenzierungen zu begründen. Bei alledem stellt sich die Frage nach dem valorativen oder normativen Gehalt der Unterscheidungen, durch die wir Erfahrungen und Erkenntnisse artikulieren und ordnen. Es gibt bekanntlich handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftliche Interpretationen, die expressis verbis als Kritik einer Praxis vorgetragen werden. Zahlreiche wissenschaftliche Interpreten beziehen, während sie ihre Analysen entwickeln und ihre Ergebnisse präsentieren, Position: sie sind für oder gegen eine bestimmte Weise zu denken, zu fühlen, zu handeln und zu leben; sie halten das eine für anerkennenswert, das andere für bedenklich, sie fordern und fördern dieses und warnen vor jenem. Ebenso gibt es Interpreten, die bemüht sind, sich wertender Stellungnahmen strikt zu enthalten. Sie beschränken sich, zumindest der Absicht nach, auf eine Rekonstruktion der sogenannten Binnenlogik bestimmter Formen des Denkens, Fühlens und Handelns, stellen Lebensformen allenfalls nebeneinander, um sie in ihrer Unterschiedlichkeit deutlich werden zu lassen, nicht aber, um hierarchisierende Urteile zu fällen. Die vielleicht provozierendste Frage, die man diesbezüglich stellen kann, lautet: geht das überhaupt? Kann es Interpretationen außerhalb des valorativen und norma-
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III. Kritik
tiven Bezugsrahmens geben, in dem sich Interpreten als Personen (notwendigerweise) orientieren und bewegen? Können wissenschaftliche Interpreten einfach abstreifen, was zu den Konstituenten ihrer personalen Handlungsfähigkeit gehört? Oder geht das nicht unweigerlich - nolens volens - in die Begrifflichkeit, in das Vokabular ein, das sie verwenden, um andere, ihnen womöglich zutiefst fremde Menschen und deren Praxis, zu verstehen? Mit anderen Worten: müssen Interpreten, wenn sie andere zu verstehen versuchen, nicht zwangsläufig zu dem, was sie verstanden zu haben meinen, Stellung nehmen, und sei es „unausdrücklich", gleichsam stillschweigend durch den Gebrauch bestimmter, vielleicht sehr subtiler valorativer und normativer Prädikate? Wenn das der Fall ist, drängen sich einige unbequeme Anschlußfragen auf. Diese Fragen sprengen den Rahmen, den Max Weber in jenem Streit abzirkelte, der als klassischer Werturteilsstreit in die Geschichte der Sozial- und Kulturwissenschaften eingegangen ist (vgl. Weber, 1968; zur Diskussion etwa Thiel, 1972; Zecha, 1976; neuere Beiträge finden sich in Apel & Kettner, 1994). Die Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften sollen, so heißt es im Anschluß an Weber häufig, Selbst- und Weltbilder von Menschen, einschließlich ihrer imaginativen Dimensionen, erforschen, nicht aber beurteilen. Zu letzterem fehlen ihnen, so wird gesagt, die rationalen Mittel: „Empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und - unter Umständen - was er will" (Weber, 1968, 6). In jede Fragestellung gehen zwar valorative und normative Vorannahmen ein - schon die Wahl einer Forschungsfrage ist keine wertneutrale Entscheidung -, und außerdem steht, wer Wissenschaft treibt, auf einem normativen Fundament, das kulturelle, gesellschaftliche, gruppenspezifische Merkmale und durchaus auch eine persönliche Note aufweisen mag. In der wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung selbst haben Entscheidungen über „praktische" Fragen jedoch keinen Platz, da sie, wie Weber glaubte, nicht mit den argumentativen Mitteln objektiver Vernunft begründet werden können. Dezisionistische, stets von einem Hauch Willkür überschattete Wahlen verderben den Glanz einer methodischen, rationalen Veranstaltung. Im Rahmen des klassischen Werturteilsstreits, speziell eben der Position, die sich Webers Argumente zu eigen machte, wurden und werden Wissenschaftler darauf verpflichtet, lediglich zu sagen, was Sache ist, nicht aber, was sein soll. Diese Debatte soll hier nicht noch einmal in ihren ganzen Verästelungen aufgenommen werden. Vielmehr soll von einer etwa von Apel und Kettner (1994, 7f.) gestellten Diagnose ausgegangen werden: „Die 'Erklären-VerstehenKontroverse', postempiristische Paradigmen und Impulse der Kritischen Theorie für eine nach Erkenntnisinteressen differenzierte Wissenschaftstheorie haben nicht nur die wissenschaftstheoretische Position, daß empirische Theorien am besten als Systeme von Ist-Aussagen charakterisiert werden, erschüttert. Sie haben unseren Blick erweitert für den Umfang, in dem Kultur- und Humanwissenschaften soziales Handeln zum Gegenstand haben, und unser Verständnis vertieft für die komplexen Rollen, die Weitungen und Interessen in der Forschungspraxis solcher Wissenschaften spielen. Fortschreitende Einsicht in die allseitige Verflechtung von Erkenntnis und Interesse zwingt aber nicht zu radi-
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kalen Relativismen, weder zur Reduktion von Gültigkeit auf Macht noch zur Gleichsetzung von Wertbindungen mit letztlich vernunftentzogenen Haltungen. Sie nötigt vielmehr zur Fortsetzung der Diskussion über unser Begehren nach wissenschaftlicher Objektivität. Die Entmystifizierung der 'Wertfreiheit' hat sich nicht mit dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie erledigt, sondern stellt der Selbstreflexion von Human- und Kulturwissenschaften, die Objektivität beanspruchen, eine andauernde Aufgabe." Nach der hier vertretenen Auffassung wurde - gegen Weber - von verschiedenen Seiten überzeugend gezeigt, daß vernunftorientierte, methodische Argumentationen auch dort möglich sind, wo es um praktische Fragen geht. Über Werte und Normen und die daran geknüpften Lebensfragen lassen sich rationale Debatten fuhren. Die soziokulturelle und geschichtliche Herkunft praktischer Optionen und Argumente ändert nichts daran, daß sich Fragen der Lebensführung und Lebensgestaltung, speziell solche, die die Allheit der Subjekte angehen, in einer Weise behandeln lassen, die am Gemeinwohl und an gemeinsamen Interessen der faktischen und potentiellen Gesprächspartner orientiert ist (Habermas, 1976; Kambartel, 1976a, 1976b). Es macht bekanntlich einen Unterschied, ob in solchen Angelegenheiten vernünftig argumentiert wird, was die Überschreitung der eigenen Subjektivität notwendigerweise einschließt (und auch eine Art „Integrität" der Argumentation; vgl. Groeben, Schreier & Christmann, 1993), oder ob allein auf der Basis des eigenen, ohne Rücksicht auf die anderen zustandegekommenen Willens geredet, entschieden und gehandelt wird. Im folgenden wird erwogen, was es für die hier interessierenden Wissenschaften bedeutet, wenn Fragen nach dem Sein und Sollen nicht so säuberlich voneinander geschieden werden können, wie es manchen vorschwebt. (Was allerdings nicht heißen soll, man könne vom Sein auf das Sollen schließen, also das zu Wünschende mit der bloßen Faktizität des Bestehenden rechtfertigen. Mit diesem „naturalistischen Fehlschluß" hat die hier vertretene Auffassung nichts gemeinsam.) Was also heißt es genauer, daß in den interpretativen Disziplinen, in denen Handlungen im Zentrum des Interesses stehen, Beschreibungen nicht völlig von valorativen und normativen Stellungnahmen abgekoppelt werden können? Was, wenn Interpreten, die verstehen wollen, was „Sache" ist, gezwungen sind oder jedenfalls gut daran tun, zu den Geltungsansprüchen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, um überhaupt verstehen zu können, Stellung zu nehmen? Das Hauptproblem, das sich ergibt, wenn in der interpretativen Forschung Stellungnahmen der besagten Art unausweichlich, zumindest angezeigt sind, läßt sich am Beispiel der kritischen Interpretation verdeutlichen, wenngleich das affirmative Verstehen nur die Kehrseite des kritischen und also genauso „problematisch" ist. (An kritischen Interpretationen ist allerdings sehr viel leichter zu erkennen, was affirmative Verstehensleistungen eher verschleiern. Während kritische Interpretationen direkt zum Problem der Anerkennung des anderen fuhren, verbergen affirmative Verstehensakte dieses Problem, indem sie das Verhältnis zwischen Interpret und Interpretandum als harmonische Einheit präsentieren.) Kritik beinhaltet Distanzierungsakte der einen oder ande-
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III. Kritik
ren Art. Dies wiederum setzt einen Maßstab voraus, der nicht bloß „beliebige" Unterscheidungen zuläßt, sondern werthaltige, normative Differenzierungen liefert. Interpretationen, die mit valorativen und normativen Unterscheidungen operieren, fuhren nun sehr schnell zur Frage, ob nicht jede „kritische" Hermeneutik das andere oder Fremde verfehlt, weil dieses j a im Lichte der Standards des Interpreten - jedenfalls von Standards, die dieser übernimmt und anwendet beurteilt wird. Ist nicht jedes vorgeblich kritische Verstehen ein bloßes Mißverstehen, das das andere oder Fremde in einem allenfalls als Verstehen getarnten Akt der Bemächtigung ans Eigene angleicht? Diese Gefahr ist in der Tat groß. Sie steckt nicht erst im Urteil des Interpreten, sondern bereits in den Voraussetzungen allen Urteilens. Die von Matthes vorgelegte Analyse der Operation Called „ Vergleichen" macht das überaus klar. Ich werde auf diesen bereits erwähnten Aufsatz etwas genauer eingehen, um anschließend zu diskutieren, ob das Interpretieren und Verstehen ganz ohne Urteil im angedeuteten Sinn auskommt. Der Wunsch, das andere oder Fremde einfach dasjenige sein und bleiben zu lassen, was es nun einmal ist, stellt sich nämlich leicht ein, sobald man erkannt hat, wie sehr eigene Auffassungsweisen, Kategorien, Schemata und - wohl ganz besonders - praktische Optionen den kognitiven Zugang zum anderen oder Fremden verstellen können. Gerade das negative Urteil über eine Praxis trübt den Blick auf das, was es dort ansonsten zu sehen gäbe, bisweilen ungemein. Der Teufel steckt jedoch, wie gesagt, schon in dem, was dem Urteil vorausgeht und zu ihm hinführt: der vorgenommene Vergleich zwischen dem einen und dem anderen, dem Eigenem und dem Fremden nämlich. Die Analyse der Operation des Vergleichens zeigt allerdings, daß der soeben erwähnte Wunsch unerfüllbar ist. Verstehen gibt es nur als Vermittlung zwischen Eigenem und Fremdem. Interpreten verstricken sich zwangsläufig in eine Praxis, in der Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem gezogen werden, Grenzen, die nicht zuletzt praktische, valorative und normative Differenzen markieren. Den neutralen Interpreten, der sich aus allem raushält, was einem die anderen krumm nehmen könnten, gibt es nicht. Wer Wirklichkeiten repräsentiert, verhält sich in und mit seinen Repräsentationen durch die Art, wie er identifiziert, prädiziert, beschreibt, analysiert, erklärt - zu diesen Wirklichkeiten. Er nimmt, bisweilen sehr subtil und kaum erkennbar, Stellung. Habermas vertritt in seiner Theorie des kommunikativen Handelns genau diese Position. Seine Auffassung der „Problematik des Sinnverstehens" dient hier als zweite Referenz der anzustellenden Überlegungen. Um den Punkt, in dem Habermas meines Erachtens Recht zu geben ist, hervorzuheben, werde ich das Problem des Verstehens mit der Frage nach den Voraussetzungen der Anerkennung von anderen verknüpfen. Taylor liefert diesbezüglich wesentliche Anregungen. Indem ich so vorgehe, plädiere ich für eine Verbindung zweier Problemkreise: nämlich der epistemologischen und methodologischen Problematik des Sinnverstehens, wie es sich in allen vergleichenden Interpretationswissenschaften stellt, mit der soziokulturellen - ethischen, moralischen und politischen - Problematik der Anerkennung von anderen. Dabei müssen keinerlei künstliche Verrenkungen vorgenommen werden. Die Zusammenführung
1. Interpretation und Stellungnahme
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dieser beiden Problemkreise bringt nämlich lediglich zueinander, was der Sache nach ohnehin zusammengehört. Die Handlungs-, Sozial- und Kulturwissenschaften treten heute nicht nur an, um das Problem der Anerkennung von anderen, das in multikulturellen Gesellschaften und einer Welt der Globalisierung gehäuft und veschärft auftritt, zu analysieren. Diese Disziplinen haben ihren historischen Anteil an diesem Problem, zu dessen Bearbeitung sie gegenwärtig beizutragen versuchen. Die Erkenntnisse, die sie zu diesem Zweck bilden, sind nicht zuletzt Se/iwierkenntnisse. Es sind eben auch Einsichten in eine herkömmliche Art der vergleichenden, wissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, durch die andere, fremde Welten bisweilen in hohem Maße verstellt und verkannt wurden. Praktisch implizierte dieses kognitive Defizit, daß den Angehörigen dieser Welten die Anerkennung versagt wurde. Wie wissenschaftliche Erkenntnis und die Anerkennung von anderen in eine produktivere, vielleicht auch „glücklichere" Beziehung zueinander geraten können, ist die Leitfrage der anzustellenden Überlegungen. An deren Ende zeichnet sich ungefähr folgende Auffassung ab: Der Interpret muß Vorsicht gegenüber der Versuchung walten lassen, anderes und Fremdes unreflektiert dem Eigenen anzugleichen, es ganz von diesem her aufzufassen und zu beurteilen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um valorative und normative Aspekte des Interpretandums geht. Bei aller Vorsicht kommt er allerdings nicht darum herum, das andere und Fremde mit eigenen Augen zu sehen. Der Interpret muß also das andere als anderes und doch mit den Mitteln, die speziell ihm verfügbar sind, betrachten. Diese doppelte Aufgabe bildet ein unauflösliches Spannungsverhältnis, in dem sich der Interpret bewegen muß, um das andere mit dem Eigenen zu vermitteln und so die Erfahrung und Erkenntnis artikulieren zu können, auf die er aus ist. Aus diesem Verhältnis kann die wissenschaftliche Interpretation nicht entlassen werden. Eine Theorie, Methodologie und Methodik der Interpretation hat dieses Spannungsverhältnis nicht aufzulösen, sondern zu explizieren.
2. Die Operation des Vergleichens: Angleichen oder Fremdverstehen? Glaser und Strauss stellen das Konzept der komparativen Analyse seit jeher in den Mittelpunkt ihres Ansatzes. In zahlreichen Formulierungen betonen sie die Wichtigkeit des Vergleichens für die Entdeckung und Ausarbeitung einer Grounded Theory. Das „konstante" oder „kontinuierliche Vergleichen" gehört zu den für diesen Forschungsstil verbindlichen „methodologischen Leitlinien" (Strauss, 1991, 30, 51). Das Vergleichen rechnet Strauss zu den „grundlegenden Verfahren, mit denen eine Grounded Theory erarbeitet, überprüft und formuliert wird" (ebd., 52). Nicht nur das theoretische sampling, also jene durch bereits vorhandenes Wissen geleitete Datensuche und -erhebung, ist für die interpretative Forschung konstitutiv, sondern auch das Vergleichen: „die vergleichende Analyse beginnt mit dem ersten Wort der Forschungsarbeit" (ebd., 52). Das
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III. Kritik
Ende ergiebiger Vergleiche bzw. Vergleichsmöglichkeiten markiert den Abschluß empirischer Forschung und Theoriebildung. Die Chancen innovativer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung seien damit, so Strauss, erschöpft. An anderer Stelle bezeichnet er das Verfahren der Grounded Theory als „multivariate Analyse", weil es „auf einer Fülle von Vergleichen" beruht, die im Zuge des theoretischen sampling organisiert werden (ebd., 49). Speziell die Akzentuierung vergleichender Analysen unterscheidet die Konzeption der Grounded Theory von anderen qualitativen Ansätzen, denen Strauss kurzerhand „schwache Quervergleiche" vorwirft, da diese „oft nur einzelne Situationen, Organisationen und Institutionen untersuchen" (ebd., 26). Das theoretische sampling fuhrt zur gezielten Vergleichsgruppenbildung, und die detaillierte Analyse empirischer Daten, wie sie im Zuge des offenen, axialen und selektiven Kodierens, des Dimensionalisierens und Schreibens von (theoretischen) Memos, der Festlegung von Schlüsselkategorien und der schrittweisen Formulierung einer konzeptuell dichten Theorie ausgearbeitet wird, besteht in hohem Maße darin, daß, wie Strauss sagt, der Wissenschaftler beständig Vergleiche zieht und darüber reflektiert (ebd., 99, 276). Auch wo es nicht um materiale Einsichten in psychosoziale Wirklichkeiten und die Formulierung bereichsspezifischer geht, sondern um allgemeine formale Theorien (wie etwa eine Handlungstheorie), ist das Vergleichen (verschiedener Gegenstandsbereiche bzw. der darauf bezogenen Theorien) eine maßgebliche, ja, die entscheidende Tätigkeit (ebd., 306, 312). Das in Kapitel Teil II (Kap. 1) vorgestellte Modell vergleichenden Interpretierens wurde mit dem Anspruch verknüpft, die allgemeine Logik und Methodologie komparativer Analysen zu klären. Dieses Modell, das mit der soeben skizzierten Auffassung von Strauss (und Glaser) gut harmoniert, legt die Auffassung nahe, die interpretative Psychologie sei eine per se vergleichende Disziplin - und zwar auch dann, wenn Vergleichsgruppen nicht explizit gebildet werden. Das Eigene ist nämlich als Vergleichshorizont bei der Erkenntnis der Erfahrung von anderen stets im Spiel. Matthes (1992c) diskutiert, in welcher Weise sich die Soziologie als eine per se vergleichende Wissenschaft begreift, und zwar schon immer. Diese Disziplin habe seit Dürkheim die Notwendigkeit der vergleichenden Methode ins Zentrum ihres Selbstverständnisses gestellt.' Wie bereits erwähnt (vgl. Teil I, Kap. 5.5), sind Matthes' Ausführungen auf den interkulturellen Vergleich zugeschnitten, speziell auf soziologische Analysen sogenannter „nicht-westli-
Matthes lehnt sich mit seinem Titel an Abels (1948) berühmte Abhandlung an, in der von der Operation Called Verstehen die Rede ist. Diese Anleihe und die Diagnose, daß es mit einer methodologischen Reflexion des Vergleichens heute ebenso schlecht bestellt sei, wie das vor Jahrzehnten von Abel für das Verstehen behauptet wurde, sind allerdings die einzigen Verbindungsglieder zwischen den beiden Abhandlungen. Matthes selbst hebt hervor, daß die Denk- und Argumentationsweise Abels einer längst überholten Position verhaftet ist. Matthes will, was seine Erörterung der Operation des Vergleichens angeht, insbesondere Abels naive „wissenschaftstheoretische" Unbefangenheit bei der Analyse einer vermeintlich „reinen" Denkoperation durch eine Wissens- oder denksoziologische Perspektive überwinden.
1. Interpretation und Stellungnahme
333
eher" Gesellschaften, wie sie vor allem europäische und nordamerikanische Soziologen durchfuhren. Die Reichweite seiner Überlegungen ist allerdings nicht auf diesen Gegenstand beschränkt. Der Autor läßt daran keinen Zweifel, spricht er im Vorübergehen doch auch von der Politologie, der Wirtschaftswissenschaft oder der Psychologie. Im übrigen erscheinen das Verstehen und das Vergleichen bei Matthes nicht nur als „rein innerwissenschaftliche Tätigkeit" (ebd., 75). Matthes' wissens- oder denksoziologischer Ansatz interessiert im folgenden allerdings unter einer eingeschränkten Fragestellung. Mir geht es vor allem um die Logik und Methodologie vergleichenden Interpretierens. Meines Erachtens sind Matthes' Ausfuhrungen auch diesbezüglich höchst aufschlußreich. Zur Diagnose: Matthes kritisiert, was unter dem Titel des „Vergleichens" in der Soziologie (und anderen Disziplinen) in aller Regel verstanden und praktiziert wurde und wird. In der Soziologie kommt Dürkheim eine besondere Rolle zu. Dieser hat das noch heute vorherrschende Verständnis des „Vergleichens" maßgeblich geprägt. Die für die Soziologie seit ihren Gründungstagen charakteristische Anlage der Operation des „Vergleichens" ist, so Matthes, durch eine kaum wahrgenommene, aber höchst folgenreiche Voreingenommenheit geprägt. Diese vor allem kulturelle Voreingenommenheit fuhrt letztlich dazu, daß die Rede vom „Vergleichen" eine Art Etikettenschwindel ist. Was in den verstreuten Debatten über theoretische, methodologische und methodische Aspekte soziologischer Forschung bis heute durchgängig als „Vergleichen" ausgegeben wird, verdient diesen Namen nicht. Nach Matthes belegen unzählige Forschungen, wie angebliche „Vergleiche" kurzerhand zu bloßen Angleichungen einer fremden Wirklichkeit an die eigene geraten. Die von Matthes kritisierte Operation des „Vergleichens" vereitelt es, „andere Wirklichkeiten als die vertraute aus sich selbst heraus wahrnehmen zu können" (ebd., 80). Was aber wird, wenn diese Diagnose zutrifft, dann überhaupt noch miteinander verglichen? Als neuralgischer Punkt wurde soeben angeführt, daß das Vergleichen als nostrifizierendes Angleichen des Fremden ans Eigene konzeptualisiert und betrieben wird. Dies bedeutet: Wenn mit dem sogenannten „Vergleichen" begonnen wird, hat die nostrifizierende Angleichung der anderen Wirklichkeit an die eigene bereits stattgefunden. Matthes spricht deswegen auch von einer „konzeptuell herbeigeführten Realitätsausblendung" (ebd., 84). Diese wird unter dem Deckmantel vermeintlich „vergleichender" Operationen verborgen und bleibt meistens unerkannt. Was im Zuge der Anwendung bestimmter „vergleichender" Methoden systematisch ausgeblendet wird, sind fremde Wirklichkeiten, die sich mit dem Vokabular bzw. der wissenschaftlichen Begrifflichkeit des Soziologen gar nicht - oder allenfalls unangemessen - fassen lassen. Die vermeintlichen „Vergleiche" kranken daran, daß sie keine „neutralen" tertia comparationis in Anschlag bringen. Die eine Seite des Vergleichs ist nämlich nicht nur Verglichenes, sondern liefert den unhinterfragten Maßstab des Vergleichs gleich mit. Die Größen, die in solche „Vergleiche" eingehen, sind schon vorab bestimmt. Sie sind fixiert in der Sprache und Perspektivität des Forschers, der zunächst einmal mehr oder minder blindlings voraussetzt, dieses mit jenem sinnvollerweise vergleichen zu können. Gerade dies ist jedoch eine vorab zu
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III. Kritik
prüfende Annahme, und just eine derartige Prüfung käme dem entgegen, was zurecht als Vergleich bezeichnet werden könnte. Es ist die unbemerkte universalisierende Projektion des Eigenen und Vertrauten in fremde Wirklichkeiten, die Matthes scharf kritisiert. Dieser universalisierende Denkakt bahnt sich seinen Weg sehr frühzeitig, nämlich schon bei der begrifflichen Fassung der jeweiligen Bestandteile des angestrebten „Vergleichs". Wenn durch den unreflektierten Gebrauch einer (wissenschaftlichen) Sprache von vornherein ausgemacht ist, was unter welchen Gesichtspunkten und nach welchem Maßstab miteinander verglichen wird, wird zwangsläufig versäumt, was die eigentliche Aufgabe vergleichenden Denkens und Forschens ist. Ein Beispiel aus der kulturvergleichenden Forschung, das Matthes selbst anfuhrt: Wo Soziologen auch außerhalb westlicher Gesellschaften nach sozial verselbständigten Konjugalfamilien suchen, „entdecken" sie diese in aller Regel auch - geradezu zwangsläufig. Eine ganze Reihe soziologischer Entwicklungstheorien bindet die gesellschaftliche „Modernisierung" bekanntlich an das Abbröckeln traditionaler Verwandtschaftssysteme zugunsten der uns längst vertrauten Form des Familienlebens. Die in einem modernisierungstheoretischen „universalisierenden Denkakt" vorgenommene Unterstellung, diese „Familie" müsse sich früher oder später überall finden lassen, läßt sich in der „empirischvergleichenden" Forschung schnell bestätigen: Es gibt diese Familie auch außerhalb des westlichen Kulturkreises, zumindest an der „'Spitze' der dortigen 'Modernisierungs'-Prozesse, in den auf die Konjugalfamilie zugeschnittenen Wohnsilos der Urbanen Zentren. Man hat gesucht und gefunden; verglichen hat man nicht" (ebd., 84). Ein zweites Beispiel: Wie die „Familie", so ist auch die „Gesellschaft" ein soziologisches Konstrukt, das in die Irre fuhren kann, sobald es ans „Vergleichen" geht. Die „Entwicklung" - auch dies ist ein kulturspezfisches Konzept -, die „Entwicklung" von „Gesellschaften" wird in der westlichen Soziologie (und in anderen Disziplinen) häufig an einem Maßstab gemessen, nach dem die anglo-europäischen, „modernen" Gesellschaften der okzidentalen Welt den vorläufigen Höhepunkt bilden. Von diesen werden die „traditionalen" Gesellschaften abgegrenzt. Diese „Leitdifferenz" soziologischen Denkens, die den Rahmen für das historische, internationale oder interkulturelle Vergleichen abgibt, kritisiert Matthes als eine „kulturelle Kosmisation - eine grundlegende Bestimmung unserer Selbst- und Weltwahrnehmung" (ebd. 84). Auch das vergleichende Studium von Gesellschaften ist alles andere als voraussetzungslos: In einem vorgängigen und zumeist unreflektierten „universalisierenden Denkakt" wird die „Gesellschaft" nach dem Muster der nationalstaatlich verfaßten Territorialgesellschaft begriffen, um dann - nach dem bekannten Muster - prinzipiell überall gesucht und gefunden werden zu können. Diese Vorgehens weise kennzeichnet nicht bloß die soziologische Forschung. Denkt man nicht mehr an die Entwicklung von Gesellschaften, sondern an diejenige von „Individuen", ist man gleich in einem Bereich, der wahrlich genug Anschauungsmaterial für eine verallgemeinerte Variante der skizzierten Kritik bietet. Die bereichsspezifischen psychologischen Theorien der Entwick-
1. Interpretation und Stellungnahme
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lung von „Individuen" - schon dies ist wiederum ein spezifisch okzidentaler Begriff - weisen genau jene kognitiven, sprachlichen, moralischen, sozialen, psychosexuellen, motivationalen, volitionalen und sonstigen Eigenschaften und Kompetenzen als vermeintlich universale Fluchtpunkte der menschlichen Individualentwicklung aus, die eben „reife Subjekte", wie „wir" sie sind, kurzum: Angehörige der anglo-europäischen Welt, auszeichnen. Auch hier gilt: Immer sind schon vor aller „empirisch-vergleichenden" Forschung Konstrukte bzw. Variablen gebildet, durch die die schließlich untersuchten, angeblich miteinander verglichenen Phänomene von vornherein als gleichartig identifiziert und festgesetzt sind. Die Operation des „Vergleichens" beruht auch in der Psychologie allzu häufig, wie sich paradoxerweise sagen läßt, auf der theoretisch präformierten Festsetzung einer grundlegenden qualitativen Gleichheit der in die Operation des Vergleichens eingehenden Phänomene. Matthes hat schon recht, wenn er speziell dieser Wissenschaft bescheinigt: .Ausgerichtet an der Grundannahme von der durchgängig gleichartigen psychischen Ausstattung des menschlichen Individuums, kann sie Differenzen im Verhalten, bezogen auf die gleichen Einwirkungen, über Raum und Zeit hinweg gleichsam korrelationsstatistisch auflösen und verbleibende Reste über 'ceteris paribus'-Klauseln auffangen. So entgeht sie Umständen, unter denen sich das Problem des 'Vergleichens' erst stellen würde. Eben in solchem Vorgehen aber erliegt sie einer bestimmten kulturellen Prägung in der Auffassung vom Menschen, was sie vor sich selbst durch einen vorgelagerten universalisierenden Denkakt verbirgt. Es ist denn auch nicht verwunderlich, daß gerade die Psychologie in nicht wenigen 'anderen' Gesellschaften, zum Beispiel fernöstlichen, auf eine tief verankerte Abwehr stößt und sich nur mühsam, und zumeist nur als 'Enklave', akademisch behaupten kann" (ebd., 77). Offenkundig wäre es lediglich ein weiterer Zug im laufenden Spiel, zu prognostizieren, die Psychologie werde sich außerhalb ihrer Herkunftskultur schon noch etablieren. Man müsse eben bloß abwarten, bis die anderen Kulturen ein fortgeschritteneres Stadium der universalen sozio-kulturellen Evolution erreicht hätten. Dann nämlich könnten sie auch mit jenen Individuen aufwarten, von denen die „moderne" Psychologie längst spricht. Matthes' Diagnose trifft ins Schwarze. Bis in die feinsten Nuancen des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns hinein wird gerade in der Psychologie alles auf - „im Grunde genommen" - ein und dasselbe reduziert. Die Grundlage für dieses Vorgehen ist ein vorgängiger, häufig unreflektierter „universalisierender Denkakt", der einem die Aufgabe, unvoreingenommen zu vergleichen, erspart. Unterschiedliches kann fortan als phänomenale Variante der ubiquitären psychischen Grundausstattung des Menschen begriffen werden. Qualitative und quantitative Differenzen zeigen unterschiedliche Erscheinungsformen einer sich immer und überall gleich bleibenden Psyche an. Angebliche „Vergleiche" entnehmen ihr tertium comparationis kurzerhand dem vermeintlich universalen Basisinventar. Wohl noch weniger als in der Soziologie sind in der Psychologie sozial- und kulturwissenschaftliche Reflexionen auf die praktischen Voraussetzungen der theoretischen Konstruktbildungen zu finden. Die Tatsache, daß Konstrukte eine gewisse Entsprechung in der Erfahrung der Ge-
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III. Kritik
sellschaftsmitglieder haben müssen, um in der empirischen Forschung produktiv eingesetzt werden zu können, wurde und wird selten bedacht.2 Ein Beispiel: McClellands Arbeiten über Leistungsmotivation bejahen nicht nur „die individualistische, produktive Orientierung unserer Zivilisation, sondern sie (diese Orientierung, J.S.) wird auch unterentwickelten Nationen und Gruppen als spezifischer Weg zum Fortschritt empfohlen" (Taylor, 1975b, 287). Der hier entscheidende Punkt ist: Selbst wenn man zugestehen wollte, daß es McClelland in seinen inhaltsanalytischen Auswertungen von Legenden, Märchen, Mythen und Erzählungen gelungen ist, die kultur- und entwicklungsunabhängige Existenz einer allgemein-menschlichen Leistungsmotivation festzustellen, faßt er dieses „Leistungsbedürfnis" in seinen wissenschaftlichen Forschungen in einer Weise auf, die, so Taylor, der westlichen modernen Identität entspricht. Menschen mit ausgeprägtem Leistungsmotiv verhalten sich bei McClelland nämlich generell „wie erfolgreiche, rationalisierende Unternehmer" (McClelland & Winter, 1969, 11; zit. n. Taylor, 1975b, 287f.). Damit ist klar, daß der angeblich allgemein-psychologische Begriff der Leistungsmotivation nicht allein so bestimmt wird, daß McClellands Forschungen (etwa in Indien) „nebenbei noch Missionierungen" (Taylor) für die Idee des zweckrational handelnden Individuums westlicher Provenienz und für die Vorstellung, Lebensglück sei an Effizienz und ökonomischen Erfolg gekoppelt, darstellen. Darüber hinaus bildet die kulturspezifische Fassung eines vermeintlich anthropologischen Motivs nämlich auch die Grundlage für fragwürdige wissenschaftliche „Vergleiche", bei denen eine der Parteien zwangsläufig schlecht abschneiden muß. Wirkliche Einsichten in den kulturellen Wandel der fremden Kultur (Indien) und ein wissenschaftlich fundierter „Ausblick auf mögliche Alternativen" werden auf diese Weise systematisch verhindert (Taylor, 1975b, 288f.): „Was bleibt, ist lediglich das Streben nach Leistung um ihrer selbst willen, dürftig verallgemeinert für alle Zeitalter und Gesellschaften. Mit so stumpfem Werkzeug lassen sich kaum Erklärungen auftun. Und schließlich werden weder der Preis all dessen, noch Alternativen berücksichtigt. Aufgrund sehr oberflächlicher Beweise ... ist McClelland offenbar davon überzeugt, daß die traditionellen Hindu-Überzeugungen und -Bräuche durch die moderne (westliche, J.S.) Identität nicht in Frage gestellt sind. Aber abgesehen von allen anderen Erwägungen haben wir guten Grund, zwischen den Auswirkungen einer neuen Identität auf einige wenige Individuen in einer weitgehend unveränderten Gesellschaft und ihren Auswirkungen, sobald die ganze Gesellschaft davon erfaßt ist, zu unterscheiden."
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In jüngster Zeit gibt es allerdings Anzeichen für einen Wandel. Zumindest teilweise gehen bestimmte Arbeiten aus dem Umkreis der (sehr heterogenen) „historischen Psychologie" (Jüttemann, 1986) in diese Richtung. Besonders entschieden wendet sich der social constructionism, wie er etwa von Gergen (1985) entwickelt wurde, gegen unreflektierte universalistische Annahmen psychologischen Denkens und Forschens.
1. Interpretation und Stellungnahme
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Das skizzierte Vorgehen ist nicht nur ungeeignet, kulturellen Wandel und interkulturelle Vorgänge angemessen zu beschreiben und zu erklären. Auch innerhalb einer Kultur oder Gesellschaft wird manches schon im Ansatz verfehlt, wenn psychologische Konzepte, die auf ungeprüften universalisierenden Unterstellungen beruhen, das Werkzeug des Denkens und Forschens bilden. So erscheinen ja auch in unseren Breitengraden Kinder, Jugendliche und Erwachsene, deren Handeln nicht oder allenfalls mäßig durch McClellands „Leistungsmotiv" bestimmt ist, sofort als „defizient": Sie haben im „Vergleich" mit anderen ein gering ausgeprägtes Leistungsmotiv, und diese empirische Tatsache ist ein objektives Kennzeichen ihrer Person und persönlichen Handlungs- und Lebenspraxis. Doch was sagt dieses Kennzeichen tatsächlich über einen Menschen und dessen Praxis? Nicht unbedingt viel, vielleicht nichts, was als angemessene Auskunft angesehen werden könnte. Die Eigenlogik eines praktischen Selbstund Weltverhältnisses, das möglicherweise auf radikal alternativen Handlungsund Lebensorientierungen beruht, bleibt einer in McClellands Sinne vergleichenden Psychologie der Leistungsmotivation völlig verschlossen. Unreflektierte universalisierende Denkakte finden sich in der modernen Psychologie seit ihren Anfangen. Dies gilt nicht nur für die nomologische Psychologie und deren „naturwissenschaftliches" Selbstverständnis. Auch Kontrahenten dieser Psychologie waren auf universalisierende Denkakte eingeschworen. Daran änderte die pathetische Rede über Kultur, Geschichte oder die Einmaligkeit des einzelnen Menschen nicht das Geringste. Diltheys Ausfuhrungen über das Vergleichen und die vergleichenden Methoden in der Psychologie verdeutlichen das in exemplarischer, mustergültiger Weise. Sie führen das Grundproblem eines Denkens vor Augen, das die bloße Möglichkeit wirklich vergleichender Analysen von vornherein vereitelt. In aller Kürze: 1895 gab Dilthey eine Abhandlung in Druck, die er jedoch sogleich wieder zurückzog. Ihr Titel hätte lauten sollen: „Über vergleichende Psychologie".3 Im letzten Abschnitt dieser Arbeit bemüht sich Dilthey um einen Überblick über die vergleichende Methode in anderen Disziplinen und erörtert deren Einsatzmöglichkeiten in der Psychologie. Makkreel (1991) stellt in seiner interessanten Interpretation der Psychologie Diltheys den Begriff der „reflektierenden Erfahrung" ins Zentrum. Er schreibt: Diese reflektierende Erfahrung „enthält den bewußten Vergleich und weist über sich hinaus, weil die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung ihre Identität nicht verlieren" (ebd., 266). Schaut man sich Diltheys Psychologie im Lichte von Matthes' Überlegungen zur Operation des Vergleichens näher an, wird das kühne, letztlich kaum haltbare Moment in Makkreels Auffassung deutlich. Dilthey war nämlich weit davon entfernt, das Problem des Vergleichens auch nur angemessen wahrzunehmen. Er verbirgt es vielmehr genau in der beschriebenen Weise, und das hat mit reflektierender Vernunft und Erfahrung nun wirklich nichts gemeinsam. Dilthey geht in seiner Psychologie (in all ihren Varianten und EntwicklungsstaJ
1896 erschien die Abhandlung in erheblich gekürzter Fassung und unter anderem Titel. Mittlerweile findet sich die Originalfassung in den Gesammelten Schriften (Dilthey, 1957a).
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III. Kritik
dien) ganz ausdrücklich von einer „allgemeinen Menschennatur" aus, die, so der Autor, der Bildung aller Individuen zugrunde liegt. Die Konsequenz zieht Dilthey in ganz unmißverständlicher Weise: „Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander, sondern nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt" (Dilthey, 1957a, 329f.). Dem ist nichts hinzuzufügen. Für das Fremdverstehen bedeutet dies, daß der Interpret ganz auf der Basis seines eigenen Seelenlebens zum Verstehen des anderen befähigt ist. Letzteres solle er, so Dilthey, durch eine Art Beeinflussung eigener Seelenvorgänge, die auf die Nachbildung der fremden abziele, erfassen können. Dilthey legt das Verstehen und Vergleichen nostrifizierend an. Er sieht darin keinerlei Schwierigkeit. In der psychologistischen Konzeption des „IdeenAufsatzes" (Dilthey, 1957b) werden die Ergebnisse introspektiver Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen als direkte und hinreichende Grundlage allen Fremdverstehens ausgewiesen. Innere Erfahrung gilt als Schlüssel zum Verständnis der Erfahrungen anderer. In der ansatzweise formulierten Konzeption einer vergleichenden Psychologie bindet Dilthey das Verstehen (des Historikers) ebenfalls an die Verallgemeinerung des Innenlebens des Verstehenden. Nun mag man zwar in den späteren (hermeneutischen) Schriften einen gewissen Wandel des Verstehenskonzeptes erkennen, der eine Transzendierung der inneren Erfahrung anzeigt und zu einer Theorie des Verstehens fuhrt, „die eine bessere Ausgewogenheit zwischen dem Selbst und anderen herstellte" (Makkreel, 1991, 295). Makkreels vage Rede von der „besseren Ausgewogenheit" zeigt aber schon an, daß Dilthey alte Mängel seiner Verstehenskonzeption nicht ganz los wird. Vor allem bleibt es dabei, daß Dilthey von einem allen Menschen gemeinsamen Fundus seelischer Eigenschaften ausgeht, einer Theorie der menschlichen Natur also, die für alles Verstehen und Vergleichen fundamental ist. Wie aber könnte sich radikale Differenz auch bloß ansatzweise wahrnehmen lassen, wenn doch durch theoretisch-begriffliche Voreingenommenheiten des beschreibenden, vergleichenden und verstehenden Psychologen (oder Historikers etc.) ohnehin alle Unterschiede nur graduell verschiedene Ausprägungen und Konfigurationen der einen, überall und immer gleichförmigen Seele darstellen? Diltheys Auffassung ist Wasser auf die Mühlen einer Kritik, wie sie Matthes formuliert. Die Ansicht, daß die Psychologie eigentlich nur aus Allgemeiner Psychologie und ihren Unterabteilungen bestehen kann, findet sich an vielen Stellen von Diltheys Werk. Besonders ausgeprägt ist sie in den „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" (Dilthey, 1957b), vor allem in deren letzten Teil über „Individualität". Die Theorie- und Forschungsgeschichte der Psychologie ist reich an ähnlichen Beispielen. Das maßgebliche, bereits die „Vergleichsgruppenbildung" bestimmende tertium comparationis ist sehr häufig nur das Resultat einer kulturellen und sozialen Projektion, einer definitorisch-praktischen Durchsetzung des idealisierten und universalisierten Eigenen. Auf der Basis solcher Projektionen zeigt sich dann „überall alles in gleicher Grundverfaßtheit", und das „Vergleichen", das mit Vergleichbarem von vornherein rechnet und dieses durch einen vorgängigen universalisierenden Akt auf der Ebene ein und dessel-
1. Interpretation und Stellungnahme
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ben (abstrakten) Begriffs ansiedelt, gerät „zur selffulfilling prophecy" (Matthes, 1992c, 83). Das angebliche Vergleichen ist, wissens- oder denksoziologisch betrachtet, schon im Ansatz zur bloßen Angleichung des Fremden ans Eigene, zur „Aneignung des anderen nach eigenem Maß" (ebd., 82), kurz: zu einem Akt der Nostrifizierung geraten, der alles, „was sich nicht fügt, in den Status einer Randdifferenz versetzt" (ebd., 84). Die angeblich „vergleichende" Psychologie nimmt die Erfahrung anderer nicht ernst genug. Durch Nivellierung im Zeichen des Vertrauten von vornherein entschärft, geht die Erfahrung von anderen gar nicht mehr in den sogenannten „Vergleich" mit ein. Sie wird schnell in einem bestimmenden Urteilsakt diesem oder jenem begrifflichen Typus - einer Kategorie, einem Schema - zugeordnet, nicht aber in ihrer Eigenart und als ein potentielles Novum reflektiert. Wissenschaftliche Erkenntnis hält auf diese Weise Distanz zu fremden Wirklichkeiten, sie hält sich die Erfahrung der Alterität vom Leib, schließt die Erfahrung der anderen empirisch aus - obwohl doch die „Empirie", recht besehen, als ein „Erfahren der Erfahrung anderer" (Matthes, 1992d) betrieben werden müßte. Nun muß, wie angedeutet, keineswegs der Kulturvergleich bemüht werden, um die geschilderte Problematik des Vergleichens veranschaulichen zu können. Matthes selbst macht darauf aufmerksam, daß sich seine Kritik an der Operation des Vergleichens unschwer auf komparative Analysen beziehen läßt, die Unterschiedliches innerhalb einer Kultur und Gesellschaft in den Blick nehmen. Auch die Wirklichkeit der eigenen („westlichen") Gesellschaft „ist ja nicht die eine, als die sie sich im Begriff von Gesellschaft darstellt, wiewohl sie sich über zwei Jahrhunderte hinweg nach diesem Prinzip organisiert hat, vor allem in der Ausgrenzung und Marginalisierung des jeweils 'anderen'" (Matthes, 1992c, 97). An bestimmten Maßstäben gemessen, schneiden bestimmte Personen und Gruppen vergleichsweise schlecht ab, und zwar unweigerlich. Wenn die Vergleichskriterien und Maßstäbe der Lebensform noch nicht zu alter „weißer Männer" aus der Mittelschicht westlicher Gesellschaften (vornehmlich der nordamerikanischen) entnommen werden, dann versickern die Stimmen anderer zwangsläufig. Sie bringen bestenfalls noch Defizite und eine auffällige „Andersheit" zur Sprache. Was sich so zeigt, erscheint weniger entwickelt, eingeschränkt leistungsfähig oder einfach schrill. Was von einem fremden Standort aus, von außen und bisweilen aus beträchtlichem Abstand vernommen wird, erscheint kaum mehr als es selbst. Die Funktionalität der Unterstellung einer universalen psychischen Grundausstattung hat Grenzen, die heute zunehmend wahrgenommen werden. Diese Unterstellung zerbröckelt unter dem Einfluß um sich greifender, radikaler Differenz-, Alteritäts- und Heterogenitätserfahrungen mehr und mehr. Sobald das Bewußtsein tiefer Differenzen in den Lebensformen, im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln von Menschen zur unabweisbaren Erfahrung von immer mehr Menschen wird, rückt den Wissenschaftlern die Problematik des Vergleichens auf den Leib. Die dabei errungenen Einsichten versanden manchmal jedoch so schnell, wie sie gekommen sind. Sie führen bisweilen noch tiefer in
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III. Kritik
Aporien. Dies ist immer dann der Fall, wenn das kritisierte Schema des „Vergleichens" im Grunde genommen beibehalten, also allenfalls unter umgekehrten Vorzeichen angewandt wird. So erhebt sich nun etwa „die" Stimme „der" Frau gegen die mißlichen Fremdbestimmungen einer männlichen, von Männern betriebenen Wissenschaft. Wird der Spieß einfach nur umgedreht, der Denkrahmen selbst jedoch nicht verlassen, liegen die Grenzen des Unternehmens von vornherein fest. Die konkrete Vielfalt der Lebensweisen, des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns von Frauen (und Männern) wird abermals ignoriert. Wiederum verdankt sich dies der begrifflichen Abstraktion des „Geschlechts". Dies mag für manche Zwecke, praktisch-politische zumal, angebracht erscheinen (obwohl auch unter diesem Gesichtspunkt Einwände gegen abstrakte Homogenisierungen vorgetragen werden können). Was speziell das hier interessierende „vergleichende" Denken betrifft, bleibt so vieles beim Alten. Erneut wird mit einem als Einheit gedachten „Wir" und „Ihr" gerechnet. Wo so mit dem „Vergleichen" begonnen wird, bewegt sich das Denken in durchaus gewohnten Bahnen. Der Anspruch des in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Modells der vergleichenden Interpretation ist offenkundig. Dieses Modell faßt das Vergleichen eben nicht als eine Operation, die lediglich auf die theoretisch-konzeptuell präformierte, nostrifizierende Angleichung fremder Wirklichkeiten an die eigene und vertraute hinausläuft. Die Unterscheidung bestimmender und reflektierender Akte im Vergleichen und insbesondere der hohe Stellenwert der reflektierenden Urteilskraft sollten ja aufzeigen, wie interpretative Analysen in einem nicht bloß vordergründigen Sinn vergleichend verfahren können. Es gehört bereits zur vergleichenden Interpretation, während der Relationierung von Interpretandum und Vergleichshorizonten geeignete tertia comparationis zuallererst einmal auszumachen. Die genauere Fassung der zu vergleichenden Größen während der bestimmenden und reflektierenden Interpretation ist ein Bestandteil des Vergleichens. Die Festsetzung des Interpretandums und die Bezugnahme auf diese oder jene Vergleichshorizonte sind Angelegenheiten, in die der Interpret verwickelt ist, für die er einen Anlaß, einen Beweggrund, ein Interesse hat. Das Interpretandum wird im Rezeptions- und Interpretationsvorgang konstituiert. Alterität ist ein relationales Konstrukt, und jeder rechte Vergleich endet mit dem „Zwischenergebnis" einer prinzipiell vorläufigen Beziehung, die sich in einem „wechselseitig geteilten" Diskursuniversum vollzieht, um dessen Erweiterung es auch in der Wissenschaft geht. Mit all dem wird einer Forderung Rechnung getragen, wie sie auch von Glaser und Strauss seit langem erhoben wird. Mit dem Prädikator „empirically grounded" verweisen diese Autoren ja auf ihre Absicht, die wissenschaftliche Erfahrungs-, Erkenntnis- und Theoriebildung so anzulegen, daß die Erfahrung und das Wissen der anderen darin aufgehoben werden können. Die in Frage stehenden Wirklichkeiten sollen, soweit dies nur möglich ist, „aus sich selbst heraus" (Matthes) wahrgenommen werden, ohne daß der Interpret den Preis der Selbstverleugnung bezahlt. Vorausgesetzt, dies gelänge: wäre die Problematik des Vergleichens damit vom Tisch? Diese Frage muß, wohl oder übel, negativ beschieden werden.
1. Interpretation und Stellungnahme
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Es liegt in der Natur der Sache, daß sich der Interpret zurückhalten muß, wenn er andere, fremde Wirklichkeiten aus sich selbst heraus wahrnehmen möchte. Er muß die ihm vertrauten Perspektiven, Sprach- und Begriffsraster zurückstellen, um sich den interessierenden Wirklichkeiten in deren eigenen Artikulationsformen und Ausdrucksgestalten annähern zu können. So berechtigt sie sind, verleiten diese Forderungen leicht dazu, den relationalen Charakter der vergleichenden Interpretation herunterzuspielen. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß der Interpret die eigenen Sichtweisen, Kategorien und Schemata zwar zurückhaltend und umsichtig ins Spiel bringen kann, sie jedoch niemals völlig außen vor zu lassen vermag. Interpretationen als subjektgebundene semantische Operationen konstituieren das Interpretandum mit. Sie tun dies in einem Akt der Vermittlung von Eigenem und Fremdem. Die Erfahrungs- und Wissensbestände von anderen erscheinen in der interpretativen Forschung stets als „etwas", das sich auch der spezifischen Perspektive und Auffassung des Interpreten verdankt. Gelungene Interpretationen changieren zwischen der bloßen Reproduktion fremder Wirklichkeiten, Selbstund Weltständnisse einerseits, der Gefahr einer naiven, nostrifizierenden Aneignung dieser Wirklichkeiten durch den Interpreten andererseits. Dabei gilt: „ohne ein erstes wechselseitiges 'Nostrifizieren' kommt das 'Vergleichen' nicht aus" (Matthes, 1991, 96). Das „Eigene" läßt sich auch im Fortgang des Vergleichens nicht restlos aus der Interpretation und ihrem Resultat tilgen. Darum kann und soll es nicht gehen. Interpretationen bewegen sich, wenn sie tatsächlich etwas vermitteln, in jenem Zwischenraum, der Eigenes und Fremdes nicht nur voneinander trennt, sondern auch die Chancen zur relationalen Bestimmung des Differenten bereithält. Eine Konzeption des Vergleichens und Verstehens, die der bloßen Reproduktion der „Vorbegriffe" oder „Vulgärbegriffe" (Dürkheim) alltagsweltlicher Selbst- und Weltauffassungen das Wort redet, ist ebenso unzulänglich wie ein Standpunkt, von dem aus sich diese gemeinen Vorbegriffe bloß abwerten und als wissenschaftlich belanglos ausklammern lassen. Psychosoziale Phänomene sind in ihrer jeweiligen symbolischen, sprachlichen Verfaßtheit zu thematisieren, bevor sie aus der Perspektive des Interpreten begriffen werden, also (teilweise) eine andere sprachliche Fassung erhalten (und dabei kaum ganz dieselben bleiben). Auch jede „Vereinseitigung", die aus dem dynamisch-relationalen Verstehen das Erkennen eines dinghaften Objekts machen möchte, verkennt die unweigerliche Verschränkung von Eigenem und Fremdem in der interpretativen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Es geht in der Handlungs- und Kulturpsychologie nicht um „Objekte" in ihrer Struktur und Qualität „an sich". Wo Verständigung und Verstehen gelingen, wird (schließlich) eine Sprache des durchsichtigen Kontrastes gesprochen - a language of perspicuous contrast (Taylor, 1981, 205).4 Der Interpret, der etwas verstanden hat und dies nicht zu-
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Taylor hebt - auf Seite 206 - die Verwandtschaft seines glücklichen Begriffs zu Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung hervor. Verwandtschaften zeigen Gemeinsamkeiten an, ohne Differenzen auszuschließen: Aus den ausfuhrlich dargelegten Gründen (vgl. Teil II,
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III. Kritik
letzt in seiner Herkunftskultur artikulieren will, spricht nicht ganz und gar die Sprache derer, deren Texte und Praxis er zu erläutern hat. In diesem Punkt irrte Winch (vgl. Kap. 4.3.4). Ein Verstehen, das auf der bloßen Zugehörigkeit zu einer soziokulturellen Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur beruht, ist uns geläufig; es ist allerdings kein Resultat wissenschaftlicher Interpretationen. Interpretationen vermitteln Différentes auf eine explizite, transparente, nachvollziehbare Weise. Sie relationieren Verschiedenes, ohne den Vorgang der diskursiven Konstruktion von Alterität zu verschweigen. Diese Relationierung ist eben keine Identifizierung, Verstehen keine Verschmelzung von Differentem, bei der das Eigene auf der Strecke bleibt, verleugnet wird. Différentes bleibt noch in der Vermittlung nebeneinander bestehen. Die Interpretation begnügt sich nicht mit einem bloßen Abgesang fremder Wirklichkeiten. Wer andere, fremde Wirklichkeiten interpretiert und versteht, kann sich dabei auch selbst fremd werden und schließlich verändern. Interpretieren ist Fremdverstehen und Selbstverstehen uno actu. Fremdverstehen und Selbstverstehen können so ausfallen, daß die diskursive Relationierung des Eigenen und des Fremden die Form der Kritik annimmt. Auch dies gehört nach der hier vertretenen Auffassung zur Problematik des Vergleichens. Unter der sorgfaltig zu prüfenden Voraussetzung, daß wirkliche Vergleichsmöglichkeiten geschaffen und genutzt werden, können vergleichende Interpretationen durchaus als kritische Interpretationen angelegt werden. Dem Zusammenhang zwischen Interpretation und Kritik nähere ich mich auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit Habermas' Behandlung der Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften.
3. Interpretation und Verstehen als Kritik von Geltungsansprüchen Habermas (1981 I, 114-203) fuhrt in seiner Analyse der Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften aus: Zur Interpretation anstehende Äußerungen beliebiger Art besagen nicht nur etwas, sondern erheben auch den Anspruch, daß stimmt, was sie sagen. Geltungsansprüche sind konstitutive Bestandteile von sinn- und bedeutungsstrukturierten Äußerungen, Texten und Textanaloga. Praxische Handlungen verkörpern, sprachliche Handlungen und ihre textförmigen Objektivationen artikulieren fehlbares und kritisierbares Wissen. Handlungs-, sozial und kulturwissenschaftliche Textinterpretationen explizieren und reflektieren mit Geltungsansprüchen verknüpfte Wissens-, Glaubensoder Meinungssysteme. Unter dieser theoretischen Voraussetzung ist evident, daß die Aufgabe, Texte in vernunftorientierter Einstellung zu interpretieren und zu verstehen, nicht allein den Einsatz methodischer Verfahren erfordert, die die
Kap. 2.5) sollten „durchsichtige Kontraste" keinesfalls im philosophisch-hermeneutischen Schmelztiegel eines traditionsvermittelten allgemeinen Horizontes aufgelöst werden.
1. Interpretation und Stellungnahme
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Transparenz und intersubjektive Kontrollierbarkeit der Interpretation gewährleisten. Darüber hinaus müssen rationale Interpretations- und Verstehensleistungen die textuell vermittelten Geltungsansprüche identifizieren und auf sie reagieren. Wer Äußerungen und Handlungen wirklich ernst nehmen will, darf die ihnen impliziten Geltungsansprüche nicht einfach ignorieren. Er muß zu ihnen Stellung nehmen. Dies kann explizit und unter Angabe von Gründen geschehen, es kann aber auch implizit bleiben. Der Interpret thematisiert insbesondere die aus seiner Sicht fragwürdigen Äußerungen bzw. Geltungsansprüche. Er problematisiert vor allem solche Ansprüche, die im Kreis der Adressaten, zu denen er selbst zählt oder deren Perspektive er virtuell, in gleichsam advokatischer Einstellung, übernimmt, nicht (ohne weiteres) auf Zustimmung stoßen. In diesen Fällen ist eine explizite Thematisierung der auf Bedenken oder Widerspruch stoßenden, zumindest irritierenden Geltungsansprüche angezeigt. Diese Reflexion führt schließlich dazu, die geprüften Äußerungen als intersubjektiv zustimmungsfahig anzuerkennen, oder ihre Gültigkeit argumentativ zu bestreiten, oder sie als noch offene, momentan unentscheidbare Fragen zu bewahren. Die These, daß der semantische Gehalt von sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen und Handlungsobjektivationen auch durch die jeweils erhobenen Geltungsansprüche sowie die Gründe, die sie rechtfertigen sollen, konstituiert wird, nimmt dem Sinnverstehen seinen „unverdächtig deskriptiven Charakter" (ebd., 160). Wer Handlungen „von innen her" erschließen will, muß auf die mit ihnen verknüpften Geltungsansprüche reagieren. Andernfalls verkürzt und verfehlt er deren Sinn. Die „strikte Trennung von Bedeutungs- und Geltungsfragen" (ebd., 157f.) ist nach dieser Auffassung hinfallig. Im Bemühen um Interpretation und Verstehen verstrickt sich der Interpret unweigerlich in eine strukturell dem Dialog verwandte Auseinandersetzung, in der nicht zuletzt die Rationalität oder Irrationalität einer Handlungs- und Lebenspraxis auf dem Spiel steht. Rationalitätsfragen betreffen dabei nicht nur die Erfolgschancen instrumenteller bzw. strategischer Handlungen, sondern auch die Akzeptabilität von moralisch oder ästhetisch konnotierten Handlungs- und Lebensorientierungen für die Allheit vernunftbegabter, unvoreingenommener Subjekte. Sinnverstehen wird damit zu einer kommunikativen Erfahrung, in die die Sprach- und Handlungskompetenzen des beteiligten Wissenschaftlers eingehen. Dieser muß sich „mindestens virtuell" mit den anderen verständigen, er muß sich zu einem „mindestens potentiellen" Gesprächspartner der Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur machen, die er zu verstehen beabsichtigt (ebd., 165). Habermas verknüpft jeden möglichen theoretischen Handlungsbegriff mit der Rationalitätsproblematik. Er argumentiert für eine Differenzierung unterschiedlicher Handlungsbegriffe, Geltungsansprüche und damit verbundener Argumentationstypen, die relevant werden, sobald es um die Frage der Verteidigung oder Kritik spezifischer Geltungsansprüche geht. Dabei orientiert er sich am Leitfaden quasi-ontologischer Voraussetzungen und Rationalitätsimplikationen theoretischer Handlungsmodelle. „Quasi"-ontologisch werden diese Voraussetzungen genannt, weil der in bestimmten Handlungsmodellen jeweils implizierte Begriff der „Welt", auf die sich Handelnde beziehen, in die sie eingrei-
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III. Kritik
fen und die sie gestalten können, konstitutionstheoretisch begründet ist (ebd., 114ff.). Der Begriff des kommunikativen Handelns ist nun bekanntlich so angelegt, daß er alle anderen Handlungsmodelle, die Habermas expliziert, umfaßt. Das kommunikative Handlungsmodell integriert und überbietet also die theoretischen Begriffe des teleologischen, des normenregulierten und des dramaturgischen Handelns. Dies gilt bezüglich ihrer quasi-ontologischen Voraussetzungen und Rationalitätsimplikationen. Die spezielleren Modelle werden vom allgemeineren integriert, weil der Begriff kommunikativen Handelns alle in den anderen Begriffen unterstellten Akteur-Welt-Beziehungen und die damit verwobenen Geltungsansprüche berücksichtigt, und er überbietet sie, weil er dem Handelnden zusätzlich noch Sprachkompetenzen zugesteht, die es erlauben, sich zu den mit eigenem und fremdem Handeln verbundenen Geltungsansprüchen reflexiv zu verhalten. Im einzelnen bestehen die quasi-ontologischen Voraussetzungen, die mit dem Begriff des kommunikativen Handelns unterstellt werden, darin, daß Handelnde (gleichzeitig) Bezüge zu dreierlei Welten aufnehmen können: Diese Welten bilden „insgesamt ein in Kommunikationsprozessen gemeinsam unterstelltes Bezugssystem. Mit diesem Bezugssystem legen die Beteiligten fest, worüber Verständigung überhaupt möglich ist. Kommunikationsteilnehmer, die sich miteinander über etwas verständigen, ... beziehen sich keineswegs nur auf etwas, das in der objektiven Welt statthat oder eintreten bzw. hervorgebracht werden kann, sondern auch auf etwas in der sozialen oder in der subjektiven Welt" (ebd., 126). Dabei sind die objektive Welt (die „Gesamtheit aller Entitäten, über die wahre Aussagen möglich sind"; ebd., 149), die soziale Welt (die „Gesamtheit aller legitim geregelten interpersonalen Beziehungen"; ebd.) und die subjektive Welt (die „Gesamtheit der privilegiert zugänglichen Erlebnisse des Sprechers"; ebd.) als gleichursprüngliche Welten zu betrachten. Diesem dreigliedrigen Weltbezug entsprechen die möglichen Rationalitäts- oder Geltungsansprüche, die kommunikativ Handelnde erheben. Wie im Modell des teleologischen bzw. des technisch-instrumentellen oder strategischen Handelns unterstellt, machen auch kommunikativ Handelnde Ansprüche auf Wahrheit (und Wirksamkeit) geltend. Diese Ansprüche können in theoretischen Diskursen erörtert werden. Man tut dies üblicherweise dann, wenn Handlungsschwierigkeiten solche Reflexionen geraten scheinen lassen, wenn begründete Zweifel beseitigt werden sollen etc. Kommunikativ Handelnde können aber auch, wie im Modell des normenregulierten Handelns anvisiert, Ansprüche auf die Normengeleitetheit und auf die Richtigkeit der sozialen Normen erheben, die sie als Handelnde befolgen. Anerkannte soziale Normen können Handlungen rechtfertigen. Die Richtigkeit von Normen steht gegebenenfalls in praktischen Diskursen zur Diskussion. Schließlich stellen kommunikativ Handelnde, insofern sie sich in selbstexpressiven Akten auf die subjektive Welt ihrer persönlichen Erlebnisse, Bedürfnisse, Absichten, Wünsche und Gefühle beziehen, Ansprüche auf die Wahrhaftigkeit und Authentizität ihrer Äußerungen. Habermas spricht diesbezüglich von dramaturgischen Handlungen. (Wenngleich das in Teil II, Kap. 4.3.5 vorgestellte narrative Modell nicht bloß einen Rahmen für selbstexpressive Handlungen darstellt, eignet es sich gerade auch
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für die handlungstheoretische Bestimmung der temporal komplexen und kreativen Selbstthematisierungen von Subjekten vorzüglich.)5 Wahrhaftigkeit und Authentizität bilden den Gegenstand therapeutischer Kritik. Weil sich die in selbstexpressiven Handlungen symbolisierten Erlebnisse, Bedürfnisse, Absichten, Wünsche oder Gefühlseinstellungen (zu einem guten Teil) durch die Bezugnahme auf Werte explizieren lassen, seien evaluative Äußerungen noch eigens erwähnt. Evaluative Akte nehmen auf Wertstandards Bezug, die die Akteure für angemessen halten. Für eine Erörterung der Angemessenheit solcher Standards liefert die ästhetische Kritik das prototypische Modell. Der Begriff des kommunikativen Handelns setzt, im Unterschied zu den anderen drei Handlungsmodellen, grundsätzlich voraus, daß sich die Handlungssubjekte zu allen Typen von Geltungsansprüchen reflexiv verhalten können - und dies faktisch auch tun. Sie nehmen also, indem sie verständigungsorientiert handeln, „nicht mehr geradehin auf etwas in der objektiven, sozialen oder subjektiven Welt Bezug, sondern relativieren ihre Äußerung an der Möglichkeit, daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird. Verständigung funktioniert als handlungskoordinierender Mechanismus nur in der Weise, daß sich die Interaktionsteilnehmer über die beanspruchte Gültigkeit ihrer Äußerungen einigen, d.h. Geltungsansprüche, die sie reziprok erheben, intersubjektiv anerkennen" (ebd., 148). Die Typen von Geltungsansprüchen, die kommunikativ handelnde Subjekte in der lebensweltlichen Praxis (meistens implizit) erheben, sind zugleich diejenigen, auf die Textinterpreten in ihren empirischen Forschungen stoßen. Auch handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftliche Interpretationen sind kommunikativ strukturiert. Gewiß, die zu wissenschaftlichen Zwecken eingerichteten Situationen der Datenerhebung und Datenanalyse unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von den lebensweltlichen Kontexten, auf die Habermas' Begriff des kommunikativen Handelns primär gemünzt ist. Das wissenschaftliche Interesse an kommunikativem Verstehen steht nicht unmittelbar im Dienst der sozialen Koordination von Handlungsabsichten, Handlungsplänen und Handlungsvollzügen. Die lebensweltliche Verständigung ist meistens direkt auf die Praxis abgestellt.6 Zwar muß auch der Wissenschaftler mit seinen Ge-
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Die Überschneidungen zwischen der Handlungstypologie von Habermas und der hier entwickelten Typologie sind leicht zu erkennen. Auch Unterschiede sind, zumindest teilweise, offenkundig. Es ist für die Argumentation in diesem Kapitel nicht erforderlich, diese genauer darzulegen, da es mir allein darauf ankommt, einen zentralen Gesichtspunkt der Habermasschen Bestimmung jedes denkbaren - wie auch immer typologisch differenzierten - Handlungsbegriffs zu erörtern.
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Es kann durchaus als Manko der Theorie des kommunikativen Handelns angesehen werden, daß die Sprache meistens „allein unter dem pragmatischen Gesichtspunkt relevant (wird), daß Sprecher, indem sie Sätze verständigungsorientiert verwenden, Weltbezüge aufnehmen ..." (ebd., 148) und um die Koordination ihrer Handlungen bemüht sind. Offenbar erfüllt die Sprache zahlreiche andere Funktionen, sollte also keinesfalls auf einen bloß „handlungskoordinierenden Mechanismus" (ebd., 148) reduziert werden (an dem im übrigen, trotz aller Regeln und Routinen, nichts Mechanisches ist).
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III. Kritik
sprächspartnern gemeinsame Situationsdefinitionen aushandeln und seine Handlungen auf diejenigen seiner Interaktionspartner abstimmen. Weitergehende praktische Handlungserfordernisse, denen umgehend nachzukommen wäre, kennt die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in der Regel jedoch nicht. Sie wird in einer handlungsentlasteten Situation vollzogen, die es gestattet, alltagsweltliche Handlungsprobleme und Lebensnöte auf Distanz zu halten und so der Reflexion zugänglich zu machen. Handlungsentlastung ermöglicht zeitlich ausgedehnte Analysen, sie gewährleistet Freiräume des Denkens und Urteilens. Auch die Handlungs- und Kulturpsychologie ist nicht zuletzt ein institutionalisierter Diskurs, in dem der Urteilskraft idealiter keine pragmatischen Barrieren im Weg stehen. Selbstverständlich heißt dies nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse sollten letztendlich nicht im Dienst der Lösung von Handlungs- und Lebensproblemen stehen. So sie dies tun, bieten sie in ihrem Kern kommunikativ strukturierte Antworten auf die Fragen, die das Leben stellt. Von der performativen Einstellung lebensweltlich Handelnder unterscheidet sich die hypothetisch-reflexive Einstellung des Wissenschaftlers. Der Wissenschaftler, der sich um die Rekonstruktion und Prüfung von (problematischen) Wissensbeständen, um die Beschreibung, Analyse, Erklärung und eventuell um die Kritik und Erweiterung des Alltagswissens bemüht, ist in einer wichtigen Hinsicht mit den in der Alltagswelt Handelnden verwandt. Wenngleich der Begriff des kommunikativen Handelns nicht allein in sprachlicher Verständigung bzw. im „interpretatorisch ausgeführten Akt der Verständigung aufgeht" (ebd., 151), so können auch wissenschaftliche Interpretationen und Verstehensleistungen als kommunikative Handlungen aufgefaßt werden. Interpreten, die eine handlungstheoretische Perspektive einnehmen, unterstellen den Akteuren, deren Handlungen sie untersuchen, spezifische „Aktor-Welt-Bezüge" und Rationalitätsansprüche. In gleicher Weise fassen sie sich selbst auf. Auch die kognitiven, sprachlichen Leistungen der Interpreten setzen kommunikative Kompetenz voraus. Wissenschaftliche Interpretationen unterscheiden sich von alltagsweltlichen Deutungs- und Verstehensleistungen zwar in ihren Funktionen und Zielen, ebenso im Hinblick auf ihre pragmatisch-situativen Realisationsbedingungen und die Subtilität ihrer methodischen Mittel, nicht aber in ihrer Struktur (ontologische Voraussetzungen, Rationalitätsimplikationen, Geltungsansprüche). Festgehalten sei: Nur in dem Maße, „wie der Interpret die Gründe einsieht, die die Äußerungen des Autors als vernünftig erscheinen lassen, versteht er, was der Autor gemeint haben könnte. ... Der Interpret versteht also die Bedeutung eines Textes in dem Maße, wie er einsieht, warum sich der Autor berechtigt fühlt, bestimmte Behauptungen (als wahr) aufzustellen, bestimmte Werte und Normen (als richtig) anzuerkennen, bestimmte Erlebnisse (als wahrhaftig) zu äußern. ... Allein auf dem Hintergrund der kognitiven, moralischen und expressiven Bestandteile des kulturellen Wissensvorrats, aus dem der Autor und seine Zeitgenossen ihre Interpretationen aufgebaut haben, kann sich der Sinn des Textes erschließen. Aber diese Voraussetzungen wiederum kann der ...
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Interpret nicht identifizieren, wenn er nicht zu den mit dem Text verbundenen Geltungsansprüchen wenigstens implizit Stellung nimmt" (ebd., 190). Die Theorie des kommunikativen Handelns geht davon aus, daß der Anspruch auf Vernünftigkeit zur inneren Struktur des Handelns zurechnungsfähiger Personen gehört. Interpretieren und Verstehen werden damit zu Aktivitäten, die jene Handlungsgründe in Rechnung stellen müssen, die die interessierenden Handlungen plausibilisieren oder rechtfertigen. Wer sich solche Gründe vor Augen fuhrt, kommt, so Habermas, nicht darum herum, sie zu beurteilen, sie zu akzeptieren, zu problematisieren oder zu verwerfen. Andernfalls verkennt er die Eigenart menschlichen Handelns. Die Handlungsfähigkeit des animal rationale ist mit dessen Sprach- und Reflexionskompetenz strukturell verflochten. Weil Handlungen eine rationale Binnenstruktur besitzen, gibt es keine strikte Grenze zwischen der Handlungsbeschreibung und Handlungsanalyse auf der einen Seite, der argumentativen Erörterung der Geltungsgründe, die einer aus der Sicht der Akteure vernünftigen, speziell einer legitimen Praxis zugrunde liegen, andererseits. (Selbstverständlich kann man auch bewußt illegitime Handlungen ausfuhren, wofür jedoch wiederum gute oder schlechte Gründe in Anspruch genommen werden können.) Die Wahrnehmung von Gründen bzw. Handlungsbegründungen nötigt zu einer zumindest virtuellen, impliziten Stellungnahme. Als Geltungsgründe lassen sich diese nämlich, so Habermas, grundsätzlich nicht in einer rein deskriptiven Weise erfassen. Insofern er einen schieren Zwang zum Urteil voraussetzt, scheint mir dieser für die Theorie des kommunikativen Handelns charakteristische Begriff des rationalen Verstehens nicht haltbar. Wer interpretiert, sieht sich nämlich keineswegs genötigt, zu den dem Interpretandum inhärenten Geltungsansprüchen Stellung zu nehmen. So überzeugend es ist, auf die von Rationalitätsansprüchen durchzogene Binnenstruktur des Handelns aufmerksam zu machen und das Interpretieren und Verstehen an die Möglichkeit zu binden, auf die einer Praxis impliziten Geltungsansprüche urteilend zu reagieren, so überzogen ist es, in diesem Urteil eine Notwendigkeit zu sehen. Es läßt sich durchaus so einrichten, daß einer Interpretation nicht anzusehen ist, wie sich der Interpret zu dem, was er darstellt, verhält. Auch Handlungsgründe lassen sich erfahrungsgemäß rekonstruieren und darlegen, ohne zu ihnen Stellung nehmen zu müssen?
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Es mag im übrigen durchaus sein (und es ist wohl so), daß die Identifikation einer rationalen Binnenstruktur des Handelns ein „alteuropäisches", jedenfalls kulturspezifisches Selbstverständnis des Menschen anzeigt, das sich nicht, schon gar nicht umstandslos, universalisieren läßt. Ich folge der Argumentation von Habermas zumindest soweit, daß auch die hier vorgestellte Theorie kritischen Interpretierens und Verstehens eine kulturspezifische Angelegenheit darstellt. Diese fundamentale Voraussetzung betrachte ich wie eine Haut, aus der, wie mir scheint, Angehörige einer Kultur, die zutiefst von der Orientierung am logos geprägt ist, nicht ohne weiteres, vielleicht überhaupt nicht (gewiß nicht als „Kritiker des Logozentrismus" oder dergleichen), heraus können. Jedoch kann man diese Voraussetzungen reflektieren. Und man kann sie, falls sie von den anderen, deren Handlungen bzw. Texte die Interpretanda bilden, nicht geteilt werden, als Voraussetzungen des eigenen Interpretierens thematisieren (und damit gewissermaßen selbst zum Gegenstand der Interpretation machen). Nicht zuletzt kann man Argumente dafür vorbringen, warum man an dieser Voraussetzung festhalten und wei-
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III. Kritik
Um ein extremes Beispiel zu wählen: Interpreten können, so sie geneigt sind, in kühler Distanz zu moralischen Fragen Gründe darlegen, die aus der Binnenperspektive der Akteure erklären, warum sich ganz gewöhnliche Männer und Frauen in der nationalsozialistischen Gesellschaft aktiv an der Shoah beteiligten. Diese Täter, jedenfalls viele von ihnen, hatten bekanntlich Gründe, die ihnen ihre Taten als legitim erscheinen ließen (vgl. Kochinka & Straub, 1998; Todorov 1993, 135ff.). Aus ihrer Perspektive machten solche Gründe die Vernichtung der europäischen Juden wenn schon nicht zu einem Gebot der Stunde, so doch zu einer Angelegenheit, die im Rahmen der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen keines besonderen Aufhebens wert war. Zumindest bedurfte es für die Tötung von Juden keiner individuellen Rechtfertigung. Wer den rassistischen Antisemitismus als Weltanschauung (und andere Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis) akzeptierte, für den mochten Erschießungen, Vergasungen, Tötungen durch erzwungene Arbeit und andere Maßnahmen gegen die Juden zwar als eine letzte, vielleicht „harte" Konsequenz erscheinen, aber eben doch als eine „Konsequenz", die sich aus dem (auch) eigenen Denken, Wollen und Fühlen (mehr oder minder) bruchlos ergab. Auch wer nicht gerne mordete und zumindest anfangs einen gewissen Widerstand verspürte, wehrlose Opfer umzubringen, sah sich, wenn er an bevorstehende oder vollzogene „Tötungsaktionen" dachte, in aller Regel nicht mit kognitiven Inkohärenzen konfrontiert, die ihn in massive seelische Bedrängnis gebracht hätten. Das Verhältnis von Weltanschauung und Tat war aus der Sicht der Täter stimmig. (Nebenbei bemerkt: Das heißt nicht, daß ein Hinweis auf diese Weltanschauung bereits eine hinreichende Erklärung der Taten darstellt.) All das (und anderes mehr) kann man als Interpret beschreiben und in ein Begründungs- und Motivgefiige integrieren, das (zumindest teilweise) plausibilisiert, warum jemand dies getan und jenes unterlassen hat. Interpreten müssen nicht unbedingt Stellung zu den rekonstruierten Handlungen und Handlungsbegründungen nehmen, wenn sie zu verstehen und zu erklären versuchen, wieso Personen den Judäozid mit in die Tat umsetzten, wie es ihnen möglich war, das Töten Wehrloser zu ihrem tagtäglichen Geschäft zu machen. Falls jemand aus antisemitischem Haß getötet hat, dann kann sich das Handlungsverstehen durchaus mit der Rekonstruktion dieses Grundes bzw. Motivs begnügen, zumindest darauf konzentrieren (um diese Erklärung dann vielleicht zu ergänzen, etwa durch Ausfuhrungen über die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Antisemitismus, durch Analysen der Sozialisation und Biographie des Täters etc.). Urteilende Stellungnahmen des Interpreten mögen sich hier zwar aufdrängen, ja, sie erscheinen „uns" ohnehin selbstverständlich, denn wie anders als verurteilend sollte man die erwähnten Taten bewerten? Unumgehbar sind solche Stellungnahmen aber keineswegs. Die Tötung kann als Tötung in Betracht gezogen und erklärt werden. Es besteht kein schierer Zwang, als Interpret entwe-
terhin in rationaler Einstellung interpretieren möchte - obwohl einen dazu niemand und nichts wirklich „zwingen" kann.
1. Interpretation und Stellungnahme
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der von einem ,Relikt" oder „Mord" zu reden, „ideologische Verblendungen" oder „psychopathologische Verimingen" zu konstatieren und andere normative Kategorien zu gebrauchen, die die kritische Distanz eines moralische Überlegenheit vindizierenden Aufklärers anzeigen. Ebensowenig muß man sich affirmativ zu den dargestellten Handlungen und ihren Begründungen verhalten, weder explizit noch implizit (wodurch sich der Interpret selbst als Antisemit zu erkennen gäbe und am Geschäft einer nachträglichen Legitimation des Nationalsozialismus, speziell der Vernichtung der europäischen Juden, mitwirkte). Der Interpret kann seine eigene Position - obwohl das schwieriger ist, als es auf den ersten Blick scheint - in der Schwebe lassen. Auf einem ganz anderen Blatt steht, ob man sich mit dieser möglichen Zurückhaltung zufriedengeben mag oder sollte. Wer diese Frage bedenkt, bewegt sich jedoch nicht mehr strikt auf dem Boden einer empirisch fundierten Rekonstruktion der logischen Binnenstruktur des Interpretierens und Verstehens. Die von Habermas vorgelegte Rekonstruktion der Problematik des Sinnverstehens ist nicht frei von normativen Gehalten. Was Habermas als Unhintergehbarkeit auszuweisen versucht, ist eine als Notwendigkeit getarnte praktische Option. Diese Option ist zwar für die konkrete Erfahrungs- und Erkenntnisbildung nicht irrelevant. Wird sie ergriffen, verändert sie nämlich den Rahmen der Interpretation, mithin auch die Möglichkeiten, das Interpretandum in bestimmter Weise aufzufassen: So ist die moralische Beurteilung im obigen Beispiel die „logische" Voraussetzung dafür, individuelle Tötungen an Juden überhaupt als Mord begreifen und analysieren zu können. Dies wiederum stellt die Bedingung dafür dar, die Morde, die einzelne gewollt, befürwortet oder gebilligt, geplant, organisiert oder begangen haben und im Nachhinein womöglich zu vertuschen suchten, in den Kontext eines „Judäozids" stellen zu können, der als historisch beispielloser „Verwaltungsmassenmord" oder als einzigartige „industrielle Menschenvernichtung in Todesfabriken" in unser Bewußtsein Eingang gefunden und die Bildung der neuen Kategorie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" oder, wie Hannah Arendt zu sagen vorschlug, „Verbrechen gegen die Menschheit" veranlaßt hat. Urteilende Stellungnahmen sind für die Möglichkeiten der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung keineswegs belanglos, und dennoch ist kein Interpret gezwungen, ein Urteil über das, was er darstellt, abzugeben. (Vorausgesetzt, der Begriff der „Tötung" oder sonst ein Ausdruck bzw. eine Beschreibung würde - um beim obigen Beispiel zu bleiben - als einigermaßen neutrale Kategorie zur Beschreibung der fraglichen Handlung akzeptiert.) Die Konzeption des rationalen Verstehens im Sinne der Theorie kommunikativen Handelns ist eine zutiefst normative Konzeption. Die Behauptung, Handlungsverstehen setze die zumindest implizite Stellungnahme gegenüber den rekonstruierten Handlungsgründen voraus - andernfalls sei es kein oder allenfalls ein oberflächliches Verstehen -, beruht nicht einfach auf einer empirisch triftigen Rekonstruktion der Interpretation und des Verstehens als einer mentalen, sprachlichen Handlung. Sie nimmt vielmehr ein normatives Kriterium in Anspruch (das sich meines Erachtens auch transzendentalpragmatisch eher schlecht als recht begründen läßt): Als „wirkliches" Verstehen soll jenes gelten, das die Auslegung des Interpretandums mit einer rationalen, also mög-
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III. Kritik
liehst unvoreingenommenen und verallgemeinerungsfähigen Beurteilung des Ausgelegten verknüpft. Daß das geforderte Urteil sich dabei partiell vom Gegenüber ab- und nicht zuletzt dem Interpreten selbst zuzuwenden hat, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Auch für Habermas gilt, was vor allem Gadamers philosophische Hermeneutik ins Zentrum rückt: Eine Beurteilung des anderen vorzunehmen, ohne das Eigene, mithin die Basis und den Maßstab des kritischen Fremdverstehens, zu reflektieren, verfehlte den Sinn und Zweck des Interpretierens und Verstehens. Die normativ urteilende Interpretation ist nach der hier vertretenen Ansicht eine Option, kein Zwang und keine Notwendigkeit. Diese Auffassung gestattet, ja erfordert es, nicht zuletzt normative Gründe dafür vorzutragen, warum kritisch interpretiert werden sollte. (Man könnte außerdem auch die oben angedeutete kognitive Funktion noch einmal ins Spiel bringen, die deutlich macht, daß normativ-moralische Urteile insofern konstitutiv für die Erfahrungs- und Erkenntnisbildung sind, als sie die Voraussetzung dafür bilden, Verhaltensweisen und andere Phänomene in bestimmter Weise auffassen und untersuchen zu können - eine Tötung beispielsweise als Mord. Diese Auffassung und Untersuchungsperspektive ist ja die kognitive Bedingung dafür, weitere Aspekte des fraglichen, nunmehr in einem ersten Schritt begriffenen und qualifizierten Phänomens überhaupt erfahr- und erkennbar zu machen.) Das meines Erachtens wichtigste normative Argument für die genannte Option lautet: Nur der uneingeschränkte, nicht-reduktive Gebrauch der Urteilskraft gewährleistet es, den virtuellen Gesprächspartnern, dessen Texte interpretiert werden, Achtung und Anerkennung entgegenbringen zu können.
4. Verstehen und Anerkennung Achtung und Anerkennung sind nur leere Worte, solange ihre Zuschreibung nicht auf einer eigenständigen, kommunikativen Beurteilung des Anerkannten gründet. Die Anerkennung von Personen ist daran gebunden, daß deren Handlungen, Interaktions- und Lebensformen als etwas zu Billigendes oder Mißbilligendes verstanden werden. Anerkennung beruht nicht auf dem Schein einer vermeintlich uneingeschränkten Toleranz gegenüber allem und jedem, sondern auf einer ernsthaften Auseinandersetzung, die zu einem begründbaren Urteil darüber gelangt, ob Orientierungen und Handlungen, Interaktions- und Lebensformen als achtenswert und anerkennungswürdig gelten können. Man kann, etwas zugespitzt, sogar sagen: Die Anerkennung von Personen besteht geradezu in der auf ein Urteil hin angelegten Auseinandersetzung mit deren Orientierungen, Handlungen und Interaktionsformen, mit der Lebensform, die ihr Dasein jeweils prägt. Die Anerkennung von Personen hängt im Grunde genommen also nicht primär davon ab, ob deren Orientierungen und Handlungen gebilligt oder mißbilligt, die Lebensform, an der die betreffenden Menschen partizipieren, gut oder schlecht geheißen, erwünscht oder abgelehnt, bewundert oder kritisiert wird, sondern davon, daß sie als sprach- und vernunftbegabte Personen, die zu
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intelligenten Auseinandersetzungen mit anderen und zu selbstreflexiven Betrachtungen eigener Orientierungen und Handlungen imstande sind, ernst genommen werden. Dies aber meint: daß sie als Personen behandelt werden, die aus ihrer Sicht gute Gründe für ihr partiell autonomes Handeln haben, zumindest zu haben beanspruchen. Allein dadurch begegnet man einem anderen Menschen als einer Person, der - selbst in Situationen beträchtlich eingeschränkter Spielräume des Verhaltens - zumindest ein Minimum an Wahl- und Handlungsfreiheit, an Möglichkeiten der gedanklichen und praktischen Stellungnahme, mithin Verantwortung, zugesprochen wird. Geschähe dies nicht, betrachtete man den anderen, wie Todorov (1993, 203ff.) unter anderem im Hinblick auf die als Täter, Helfer und Zuschauer in die Shoah verstrickten sagt, nicht als wirklichen Menschen. 8 Die letzten Ausführungen lassen sich verallgemeinern: Den anderen als Menschen wahrzunehmen, setzt voraus, ihn als reflexives, handlungsfähiges „Subjekt" zu betrachten, nicht aber als einen Automaten, der in seinem Tun und Lassen bloß fremde Entscheidungen befolgt und Anweisungen ausführt, kurz: der in der einen oder anderen Weise heteronom determiniert ist. Menschen als Personen zu achten und anzuerkennen, setzt zuallererst einmal voraus, sich mit ihren Orientierungen, Handlungen und der Lebensform, zu der diese Orientierungs- und Handlungspraxis paßt, auseinanderzusetzen. Anerkennung kann dabei - nach allem, was wir wissen - als ein anthropologisches Grundbedürfnis aufgefaßt werden. Das Bedürfnis nach Anerkennung gehört zur conditio humana. Taylor hebt hervor, „daß ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen" (Taylor, 1993, 13f.). Anerkennung ist nicht bloß eine Frage des aus Höflichkeit gezollten Respekts. Todorov bringt drastisch zum Ausdruck, worum es geht, wenn er mit Michael Balint - sagt, der andere und die Anerkennung, die er mir gewährt, sei so nötig wie die Luft zum Atmen, um sodann - mit Karl Philipp Moritz - zu ergänzen, daß beim Fehlen jeglicher Anerkennung eine Angst auftauche, „die uns wie eine Angina die Kehle zuschnürt" (Todorov, 1996, 74). Dem radikal Einsamen ist vertraut, was alle Menschen zumindest in kleineren Dosen kennen. Unerträglicher noch, als radikale Kritik es je sein kann, ist ein Leben ohne jegli-
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Es gibt selbstverständlich Situationen totalen Zwangs, in die Personen ohne eigenes Verschulden geraten sind, so daß sich die Frage nach einer im angegebenen Sinne kritischen Beurteilung des Handelns dieser Personen in diesen Situationen nicht stellt, ja verbietet. Als paradigmatisch für diesen Fall kann die Lage der Opfer in den nationalsozialistischen Lagern angesehen werden, die nicht zuletzt Opfer eines durch die „Wächter" unternommenen, perfiden Versuchs der Entpersönlichung und Entmenschlichung waren (und die, wie die Überlebenden vielfach bezeugten, gerade auch dagegen verzweifelt ankämpften). Ich verweise auch diesbezüglich auf die feinfühligen Analysen von Todorov (1993, z.B. 193ff.).
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III. Kritik
chen Widerhall, ohne Antworten und Aufforderungen des anderen: als existierte man nicht. Verweigerte Anerkennung kann den anderen verletzen und lähmen, entpersonalisieren und im schlimmsten Fall entmenschlichen. Diese Verweigerung trifft den Betroffenen, wie Taylor auf der Grundlage seines sozialtheoretisch begründeten Identitätskonzepts sagt, in seiner Identität. Die Bildung, Reproduktion und Umbildung von personaler Identität ist kein monologischer Akt der Selbsterzeugung. Sie ist notwendigerweise an die dialogisch strukturierte, praktische Anerkennung durch andere gebunden (Taylor, 1993, 21). Dies verläuft bekanntlich selten reibungslos. Anerkennung muß häufig errungen werden. Die gängige Rede vom „Kampf um Anerkennung" signalisiert dies. Ohne diesem Gesichtspunkt hier näher nachzugehen, sei festgehalten: Die an Anerkennung gebundene Identität wird in einem „teils offenen, teils inneren Dialog mit anderen" ausgehandelt. Sie „hängt wesentlich von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen ab" (ebd., 24; vgl. zu diesem und anderen Aspekten auch Honneth, 1992). An dieser Einsicht kann festgehalten werden, ohne die Probleme in Taylors Konzeption einer Politik der Anerkennung zu unterschlagen (vgl. hierzu etwa Habermas, 1993; Henry, 1994; Wolf, 1993). Im vorliegenden Zusammenhang brauchen diese Schwierigkeiten nicht näher zu interessieren. Wichtig ist dagegen ein anderer Punkt. Taylor spricht in erster Linie über die Anerkennung von Kulturen (und in zweiter Linie über die Anerkennung von Personen, die bestimmten Kulturen angehören). Dabei erörtert er unter anderem die wichtige Frage, unter welchen Voraussetzungen Kulturen, die ein Recht auf Anerkennung einfordern, tatsächlich Anerkennung gewährt werden kann und soll. Für Taylor gibt es keinen Automatismus der Anerkennung. Auf der Basis einer äußerst ausgeprägten Sensibilität gegenüber dem Leiden und den Verletzungen der Identität von Kulturen (und Personen), die durch Nichtanerkennung zugefugt werden können, problematisiert Taylor die Auffassung, daß schlechterdings „alle Kulturen von gleichem Wert seien" (ebd., 63), gleichsam a priori. Obwohl er einen „gültigen Kern" dieser Annahme ausmacht, hinterfragt er den Glaubensakt, der ihr zugrundeliegt und unterzieht ihn einer rationalen Prüfung. Dabei ergibt sich, daß durchaus davon auszugehen ist, daß ,jede Kultur Phasen des Verfalls durchlaufen" kann (ebd., 63). Wenngleich wir uns bei der Begegnung mit einer Kultur von der Annahme leiten lassen sollten, daß diese einen Wert besitzt (und deswegen künftig womöglich anders zu betrachten ist, als es die bisherige, voreingenommene Geringschätzung dieser Kultur nahegelegt hat), ersetzt diese Annahme nicht schon die Beschäftigung mit dieser Kultur und das Ergebnis, zu dem allein die unvoreingenommene Auseinandersetzung fuhrt. Das Urteil, daß eine Kultur „tatsächlich wertvoll oder genauso wertvoll wie irgendeine andere Kultur" (ebd., 66) ist, steht, wenn es sich denn um ein wirkliches Urteil handelt, am Ende der Beschäftigung mit ihr. Es steht nicht von vornherein fest: „Wenn in unserem Werturteil etwas zum Ausdruck kommen soll, das von unserem Willen und unseren Wünschen unabhängig ist, dann kann dieses Urteil nicht durch ein ethisches Prinzip vorgeschrieben werden" (ebd., 66). Es bedarf vielmehr des Gebrauchs kommunikativer Vernunft und der daran
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gekoppelten Urteilskraft. Anders wäre die gezollte Achtung und Anerkennung ein bloßer Schein, ein schlecht verpacktes Zeichen mitleidiger Herablassung. Darauf legt, genau besehen, niemand wert, der sein Bedürfiiis nach Anerkennung artikuliert und seinen Rechtsanspruch auf Anerkennung geltend macht. Wer anerkannt sein will oder um die Anerkennung der Kultur, der er angehört oder in deren Namen er spricht, kämpft, will ernst genommen werden, will Respekt, nicht Herablassung: „Jede Theorie, die diese Unterscheidung auslöscht, scheint zumindest auf den ersten Blick entscheidende Facetten jener Realität zu verzerren, mit der sie sich angeblich auseinandersetzt" (ebd., 67). Dies scheint mir in der Tat auch auf den zweiten Blick häufig der Fall zu sein. Aus Schuldgefühlen und einem schlechten Gewissen sprudelnde Vorspiegelungen von Achtungsbezeugungen und Akten der Anerkennung folgen einem unzulänglich reflektierten ethischen Imperativ. Der andere wird dadurch gerade nicht als eine Person geachtet und anerkannt, deren (kulturelle) Orientierungen, Praktiken und Lebensform Respekt verdienen. „Objektiv betrachtet", schreibt Taylor, „spricht daraus nichts anderes als Geringschätzung für dessen Intelligenz" (ebd., 68). Wer zum Objekt allein ethisch motivierter, ansonsten aber blinder Achtungsbezeugungen wird, wird in gewisser Weise sogar erniedrigt. Er erfährt zwar Solidarität durch den, der seine Partei ergreift, nicht aber Anerkennung in einem Sinne, der unabdingbar ist, sobald es um Beziehungen zwischen sprach- und vernunftbegabten Subjekten geht. Wer Kulturen und deren Angehörige „schätzt", ohne sie wirklich zu kennen, ohne sich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben, macht ein zwiespältiges Angebot. Wird diese Scheinheiligkeit durchschaut - und sie wird in aller Regel durchschaut -, zögern die Adressaten der vermeintlichen Anerkennung keine Sekunde mit Verzichtserklärungen. Wer sich mit anderen Kulturen und Personen, mit deren Orientierungen, Handlungs- und Lebensformen nicht so auseinandergesetzt hat, daß er schließlich „selbst eine Veränderung erfahren hat" (ebd., 68) - daß diese Selbstveränderung zumindest im Bereich des Möglichen lag braucht von seiner Achtung und Anerkennung der anderen nicht zu reden. Er hätte den Vergleich, von dem die Gewährung wirklicher Achtung und Anerkennung letztlich abhängt, nicht einmal versucht. Daß dieser Versuch, wie im voranstehenden Kapitel gezeigt, ein äußerst schwieriges Unternehmen ist, ändert nichts an der Tatsache, daß es ohne ihn kein Verstehen und keine Kenntnis des anderen, keine Achtung und Anerkennung geben kann. Das menschliche Zusammenleben ist ein „Abenteuer" (Todorov, 1996), in dessen Zentrum das anthropologische Bedürfnis nach Wertschätzung, Achtung und Anerkennung steht - und zwar von Anfang an, wie Todorovs entwicklungspsychologische Ausführungen zeigen. Wirkliche Anerkennung kann jedoch, wie dargelegt, nicht blind gewährt werden. Todorov, dessen glänzender Versuch einer allgemeinen Anthropologie manches mit Taylors sozialphilosophischer Bestimmung der conditio humana gemeinsam hat, verschärft diesen Gedanken, wenn er ausführt, daß „die größten Beleidigungen ... besser (sind) als überhaupt keine Anerkennung" (102). Diese Formulierung basiert auf einer bereits in Anspruch genommenen Unterscheidung zweier Arten von Anerkennung. Bei der Anerkennung im engeren Sinn geht es um die Anerkennung der
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Existenz eines Menschen, bei der Anerkennung im weiteren Sinn darum, den Wert dieser Existenz zu bestätigen. Wer Anerkennung im ersten Sinn verweigert, läßt die Existenz des anderen völlig unbeachtet, er verhält sich, als sei der andere nicht da und entwertet ihn dadurch radikal. Dies stellt eine zweifellos noch gravierendere Verletzung dar als die Tatsache, daß jemand (wenige oder zahlreiche) Aspekte der Existenz eines anderen mißbilligt, diesen beispielsweise mit Beleidigungen überhäuft und ihm dadurch die Bestätigung versagt. Es ist auf der Grundlage dieser Unterscheidung nun auch zu sehen, daß eine bloß vorgespiegelte Achtung und Anerkennung, also ein bloß ethisch motiviertes Lippenbekenntnis, das ohne jedes begründete Urteil über den Wert bestimmter Orientierungen, Praktiken und Lebensformen auszukommen meint, unversehens zumindest in die Nähe einer radikalen Entwertung geraten kann. Obwohl die Existenz des anderen nicht offen negiert wird, der andere also keineswegs bloß „Luft" ist, wird er in seiner Existenz drastisch reduziert. Er wird als Person nicht für voll genommen. Seine Orientierungen und Handlungen werden nicht als Gegenstand einer dialogischen Auseinandersetzung aufgefaßt und reflektiert, sondern bloß gleichgültig hingenommen. Sie werden damit zu etwas Nichtssagendem herabgemindert, das noch nicht einmal die Frage wert ist, was davon zu halten ist; von einer Antwort, die alle Beteiligten möglicherweise nicht unberührt läßt, ganz zu schweigen. Die zuletzt angestellten Überlegungen führten die interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie weit über die empirischen Grundlagen ihrer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung hinaus. Wer von Kulturen oder Personen spricht und dabei die Frage der Achtung oder Anerkennung anderer bedenkt, spricht nicht mehr nur über „Texte" und die sich in ihnen artikulierenden Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen, Handlungen und Praktiken und damit verwobene Probleme der Erkenntnisbildung einer empirischen Disziplin. Spricht er dann notwendigerweise über diejenigen, welche die zu interpretierenden (oder schon interpretierten) Texte produziert haben? Nicht unbedingt. Um dies zu entscheiden, wäre anderes als eine bloße Textinterpretation vonnöten. Konkrete Personen, ihre lebenspraktischen Orientierungen und Handlungen zu beurteilen, setzt nicht nur ein virtuelles Gespräch voraus, in dem der Textinterpret ja keinen offenen Dialog führt, sondern vielmehr ein wirkliches Gespräch zwischen Personen, die einander widersprechen und dem Fremdverstehen des anderen solange auf die Sprünge helfen können, bis ein Einverständnis zwischen beiden geschaffen ist. Ohne dieses Einverständnis sind die Kritik und Belehrung individueller Personen eine heikle und obendrein etwas nutzlose Angelegenheit, da sich der Angeredete, falls er sich ohnehin nur mißverstanden und ungerecht behandelt fühlt, j a keineswegs angesprochen fühlen muß. Der im dargelegten Sinn urteilende Textinterpret spricht also (in aller Regel) nicht mit und zu konkreten Personen. Sein Wort richtet sich insbesondere nicht unmittelbar an den Autor, den Produzenten des Textes, der vielleicht sein Interviewpartner war. Er hat es aber auch nicht bloß mit abstrakten, von allen denkbaren Personen losgelösten Erfahrungen, Erwartungen, Orientierungen, Handlungen und Praktiken anonymer Homunkuli zu tun. Es ist zwar richtig, daß die Psychologie
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in erster Linie mit dem Beschreiben, Verstehen und Erklären solcher „apersonaler Untersuchungsgegenstände" befaßt ist, wenn sie konkrete Handlungen etwa mit Intentionen, Regeln, Situationen oder Geschichten sowie anderen Elementen eines strukturierten Verweisungszusammenhangs verknüpft. Es wird aber stets Personen geben, die sich und ihr Leben in dem, was psychologische Forschungen schließlich als Erfahrungen und Erkenntnisse präsentieren, mehr oder minder wiedererkennen können. Es ist ein Taschenspielertrick, sich als wissenschaftlicher Interpret aus der Verstrickung in das kollektive Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten herauswinden zu wollen, indem man sagt, man habe es lediglich mit Texten und dem in Texten Erkennbaren zu tun. So richtig es ist, daß Texte die empirische Grundlage der interpretativen Handlungs- und Kulturpsychologie sind, so falsch ist es, daß die Erkenntnisse dieser Psychologie niemanden ansprechen und persönlich betreffen können. Man kann wirklichen Menschen durch wissenschaftliche Erkenntnisse durchaus nahe, manchmal zu nahe treten. Auch die in der Welt von Texten gebildeten und angesiedelten Erkenntnisse berühren also, zumindest indirekt, die Frage der Achtung und Anerkennung konkreter Menschen - ob es sich nun um die Textproduzenten oder andere Personen handelt. Dies läßt, wie ausgeführt, zweierlei ratsam erscheinen. Zum einen hat man die für alle Erfahrungs- und Erkenntnisbildung konstitutiven Vergleiche nach bestem Wissen und Können so auszufuhren, daß dabei mehr herauskommen kann als eine bloße Nostrifizierung des anderen. Die bloße Angleichung des anderen ans Eigene, die nicht zu wissenschaftlicher Erkenntnis führt und obendrein den anderen die Achtung und Anerkennung zwangsläufig versagt, ist das primär zu vermeidende Ziel empirischer Forschung. Zum anderen aber ist nun klar, daß wirkliche Achtung und Anerkennung nicht gewährt werden können, wo sich der Interpret einer reflektierten Beurteilung einer nach allen Regeln der Kunst vergegenwärtigten Orientierungs-, Handlungs- und Lebenspraxis vollständig enthält. Man braucht denjenigen, die keine urteilende Stellungnahme zulassen mögen, nicht völlig abzusprechen, daß sie interpretieren und verstehen (im Gegensatz zu Habermas, 19811,191). Die Behauptung, derartige Zurückhaltungen seien gar nicht möglich, wo „wirklich" interpretiert werde, scheint mir überzogen. Überdies blendet sie die offenkundige Gefahr, durch vorschnelle (moralische) Urteile mögliche Einsichten zu verbauen, allzu sehr aus. Für überzeugender halte ich die ausführlich vorgetragene Begründung einer kritischen, im Zeichen kommunikativer Vernunft stehenden Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. In anderer Form artikulieren auch Habermas und vor allem Kuhlmann das zentrale Argument, wenn sie konstatieren, es sei gewissermaßen unmoralisch, sich jeglicher Stellungnahme zu den dem Interpretandum impliziten Geltungsansprüchen zu enthalten. Damit werde nämlich der Anspruch einer Person (bzw. des Textes), Wahres und Richtiges auszusagen sowie Aspekte der eigenen Subjektivität wahrhaftig zum Ausdruck zu bringen, kurzerhand ignoriert. Bei Kuhlmann heißt es: „Nur wenn der andere - auch und gerade in den Augen desjenigen, der etwas über ihn erfahren will - (1) prinzipiell in der Lage bleibt, etwas wirklich Neues und Überraschendes zu sagen, nur wenn er (2) prinzipiell etwas den Ansichten des ihn erkennen Wollenden Überlegenes äußern könnte,
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III. Kritik
wenn dieser von jenem grundsätzlich etwas lernen könnte, und (3) ... nur wenn der andere prinzipiell die Möglichkeit behält, etwas Wahres zu sagen, nur dann wird er als Subjekt zugleich erkannt und anerkannt" (Kuhlmann, 1975; zit. nach Habermas, 1981 I, 192). Wahres, Überraschendes, Neues zu sagen und überlegene Einsichten zur Geltung zu bringen, ist, wie dargelegt, kein Privileg des Gesprächspartners, dessen Texte den Gegenstand der Interpretation bilden. Umgekehrt mag nämlich der um Aufklärung bemühte Interpret eine Überlegenheit vindizieren, die die Kritik des Interpretandums impliziert. Damit diese Kritik nicht zu einem ethno- und egozentrischen Unternehmen gerät, in dem sich der Narzißmus, das Überlegenheitsstreben und die psychischen Abwehrstrukturen des Interpreten (und seiner Herkunftsgemeinschaft) munter in die Hände arbeiten, sollte sie sich an folgenden, nur noch angedeuteten Prinzipien und Regulativen orientieren: (1) Aufklärerische Kritik basiert auf Toleranz. Dies heißt unter anderem, daß zahlreiche Praktiken und Aspekte möglicher Lebens- und Identitätsformen außerhalb des Horizontes vernunftorientierter Kritik bleiben. Insofern Praktiken, Lebens- und Identitätsformen weder universalisierbare Gleichheits- und Gerechtigkeitsforderungen noch die Würde und das Wohlergehen bestimmter Personen verletzen oder die allgemeine Achtung vor dem Leben untergraben, bilden sie keinen möglichen Gegenstand rational motivierter Kritik. Handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftliche Interpretationen sind keine Handlanger einer tribunalisierenden Vernunft, die im Dienste einer grenzenlosen Disziplinierung der Subjekte oder der Einebnung kultureller, sozialer und personaler Differenzen ohne Unterlaß Urteile fällt. Fragen, die in den Bereich einer ,Ästhetik" der Existenz fallen, entziehen sich - insofern sie „lediglich" den für andere unerheblichen Lebenssi?/ von Gruppen und Individuen betreffen - der Reichweite einer kritischen Vernunft, die auf allgemeine Regelungen soziokultureller Praktiken abhebt. (2) Psychologische Kritik hat es vor allem mit der Interpretation solcher Aspekte der Handlungs- und Lebenspraxis zu tun, die mit dem von Menschen erfahrenen (oder erwarteten) Leid in Zusammenhang stehen. Diesbezüglich finden die als leidvoll erlebten Einschränkungen von Handlungs- und Lebensmöglichkeiten besondere Aufmerksamkeit, zumal dann, wenn diese Beschränkungen kulturelle und soziale Gründe haben, die - im weitesten Sinne des Wortes - „ideologisch" sind. Allgemein gilt: Das bestehende oder befürchtete Leid von Menschen verkörpert den Bezugspunkt psychologischer Vernunft. (3) Die psychologische Analyse und Kritik operiert nicht mit a priori feststehenden, vermeintlich universalen, positiv definierten Vorstellungen eines gelingenden Lebens. Sie hat auf substantielle Vorannahmen so weit wie möglich zu verzichten. Insofern solche Vorannahmen in kritische Interpretationen eingehen, müssen sie im Licht der Begegnung mit anderen zur Disposition gestellt, also ihrerseits zum Gegenstand kritischer Interpretationen werden können. Die in der Verständigung und im Vollzug des Verstehens gegebenenfalls artikulierte Kritik hat also stets zwei mögliche Adressaten. Das andere oder Fremde und das Eigene werden in der Interpretation dialogisch-diskursiv konstituiert und möglicherweise als etwas Fragwürdiges und Kritikbedürftiges
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identifiziert. Wenn das Fremdverstehen mit dem Selbstverstehen verschränkt ist, bezieht sich die kritische Prüfung der Geltungsansprüche, die dem Interpretandum inhärent sind, zugleich auch auf das für die Interpretation konstitutive Selbstverständnis des Interpreten und die kollektive Praxis und Lebensform, an der dieser partizipiert. All dies wird in den Sog eines Vergleichs hineingezogen, in dem die Urteilskraft des Interpreten eine zentrale Rolle spielt. Wenn Eigenes und Fremdes in interpretativen Akten relational konstituiert wird, ist diese Urteilskraft im Spiel. Diesen Sachverhalt gilt es zu bedenken, so daß sich Interpreten des persönlichen Anteils, den sie bereits an der Konstitution des Interpretandums haben, bewußt werden. Matthes' Reflexionen zur Operation des Vergleichens legen nicht zuletzt die Struktur von interpretativen Handlungen frei, durch die (westliche) Wissenschaftler die Begriffsinventare und Denkformen, die Deutungs- und Urteilsmuster, denen sie selbst verhaftet sind, gegen das angeblich zu verstehende andere oder Fremde „durchsetzen". Köglers kritisch-dialogische Hermeneutik hebt, wie erwähnt, letztlich auf die Selbstreflexion und Selbstkritik des Interpreten ab. In seiner Konzeption dient das Fremdverstehen primär dazu, daß der Interpret durch die Begegnung mit anderen, fremden Personen und Kulturen Erfahrungen macht (bzw. Einblicke in Erfahrungsstrukturen gewinnt), die sich gegen die eigenen Selbst- und Weltauffassungen wenden lassen. Fremdverstehen fungiert hier vornehmlich als Instanz einer Kritik der je eigenen, „machtdurchtränkten" soziokulturellen Lebensform, an der der Interpret partizipiert. Die kritischdialogische Hermeneutik möchte die symbolischen Ordnungen, in die der Interpret verstrickt ist, im Lichte der Begegnung mit dem anderen oder Fremden so erschließen, daß, wo zunächst nur „Wissen" war, dieses Wissen in seinem inneren Zusammenhang mit „Macht" erscheint. Foucaults Diskursanalysen stehen Pate für diese Intention (Kögler, 1992, 134-210). Angesichts der irreduziblen Andersheit fremder Wirklichkeiten soll das Eigene „relativiert" und in seiner Kontingenz durchschaut werden können. Letztlich dienen derartige Begegnungen mit dem anderen oder Fremden dazu, das Eigene anders sehen, zumal als etwas Veränderbares und im Zuge des Fremdverstehens vielleicht schon Verwandeltes begreifen zu können. Kritik heißt also nicht zuletzt, manchmal sogar ausschließlich: Distanzierung vom eigenen Selbst, von bislang unhinterfragten Erfahrungen, Erwartungen, Deutungsmustern und Wissensstrukturen. Kritik ist nach der hier vertretenen Auffassung allerdings keine „Einbahnstraße". Als regulatives Prinzip einer handlungs- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik kann festgehalten werden, daß kritische Urteile des Interpreten auf das Eigene und das Fremde gleichermaßen bezogen sein können. (4) Alteritäts- und Fremdheitserfahrungen fordern die Urteilskraft des Interpreten in vielfältiger Weise. Wer bereit ist, seine Urteilskraft zu gebrauchen, muß keineswegs arrogant, ethnozentrisch oder voreingenommen sein: „Because we take languages of understanding seriously in regard to their value/ontological commitments, we don't need automatically to assume that ours is correct in its commitments and that foreign languages are wrong. We can, on the contrary, start with the assumption that we may learn something more about ourselves as well in Coming to understand another society" (Taylor, 1981, 205).
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III. Kritik
Die Sprache, in der sich Interpretationen ganz in Taylors Sinne ausarbeiten lassen, ist eine Sprache des durchsichtigen Kontrastes. In ihr lassen sich sowohl die fremden Handlungs- und Lebensweisen als auch die eigenen artikulieren insofern in beiden gewisse gemeinsame Bezugspunkte oder Kriterien ausgemacht werden können: „It would be a language in which the possible human variations would be so formulated that both our form of life and theirs could be perspicuously described as alternative such variations. Such a language of contrast might show their language of understanding to be distorted or inadequate in some respects, or it might show ours to be so ...; or it might show both to be so" (ebd., 205f.). 9 Unvoreingenommen zu prüfen, ob der für den Vergleich und die Kritik erforderliche gemeinsame Bezugspunkt ausgemacht werden kann, gehört, wie gezeigt, bereits zur Aufgabe des vergleichenden Denkens. (5) Kritische Interpretationen können sich nicht bloß gegen die Geltungsansprüche einzelner Äußerungen oder Handlungen wenden. Da diese stets im Kontext eines Sprachspiels und einer Lebensform stehen, reicht die handlungswissenschaftliche Kritik unter Umständen sehr viel weiter. Mit einer einzelnen Handlung kann gleichsam das Ganze auf dem Spiel stehen. Die Praktiken, Selbst- und Weltauffassungen, die gewisse Handlungen erst ermöglichen und sinnvoll erscheinen lassen, können im Zuge interpretativer Analysen fragwürdig werden. Eine derartig an die Wurzeln einer Praxis und Identität rührende Kritik wird freilich niemand leichtfertig formulieren (und kein Betroffener ohne weiteres hinnehmen). Wie schwierig und heikel Gespräche werden können, in denen kritische Interpretationen die fundamentalen Selbst- und Weltbilder der Beteiligten in Frage stellen, erörtert Tallär (1993). Er macht an verschiedenen Beispielen zunächst eindrücklich klar, daß kritische Interpretationen sich keineswegs auf etwas beziehen müssen, was in der gemeinsamen Welt der Gesprächspartner statthat. Sie können sich vielmehr auf die Sprache und die Welt des anderen richten. Der Interpret findet womöglich nicht bloß ein Detail, sondern tragende Bestandteile der Sprache und Welt des anderen fremd und befremdlich. Kritische Interpretationen mögen somit an der Erfahrung ansetzen, daß eine gemeinsame Welt und Sprache nicht unterstellt werden können. Solche Erfahrungen stellen sich in „unserer" soziokulturellen Praxis vergleichsweise leicht ein, wenn die Rede auf „Homosexuelle", „Zigeuner" oder „Juden" kommt, „oder wenn mein Nachbar Wörter wie 'Frauen' oder 'Abtreibung' in einem unerwarteten Zusammenhang gebraucht" (ebd., 16). Das Kommunikations- und Interpretationsproblem besteht in solchen Fällen etwa darin, „daß mein Nachbar unter 'Frauen' augenscheinlich etwas ganz anderes versteht als ich" (ebd.). Damit ist evident, daß es fortan nicht um Differenzen in einer Welt geht, sondern um unterschiedliche Vokabulare und Praktiken, Sprachspiele und Lebensformen. Der in solchen Situationen „notwendige Diskurs" gerät zu einer
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Taylor verdeutlicht seine Auffassung im Hinblick auf das Verstehen der magischen Praktiken, Selbst- und Weltauffassungen sogenannter „primitiver" Gesellschaften. Er ist dabei von der häufig kritisierten Position Frazers gleich weit entfernt wie von ihrem Gegenspieler (einer „vulgarisierten" Variante bestimmter Überlegungen Wittgensteins).
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schwierigen, verwickelten Angelegenheit: „Der Gebrauch des Wortes ist nämlich in einer Lebensform verwurzelt. Mein Nachbar spricht deswegen so von den Frauen, weil er auch so handelt, so denkt, so lebt. Es sollte also über ihn selbst gesprochen werden, und selbstverständlich auch über mich. Wir sollten Lebensformen vergleichen" (ebd.). Dies sollte auch die Handlungs- und Kulturpsychologie, die, während sie irritierende, befremdliche Sprachspiele und Lebensformen zur Kenntnis nimmt, die Grenzen, die Kontingenz und Veränderbarkeit soziokultureller Praxis- und Identitätsformen begreift und ihren Rezipienten vor Augen fuhrt. Gelingt ihr dies, hat sie eine wichtige Aufgabe erfüllt. Sie macht sich nicht unbedingt eines unwissenschaftlichen Vergehens schuldig, wenn sie dabei eine praktisch-psychologische Vernunft ins Spiel bringt, die auf moralisch-normative Kategorien nicht ganz verzichtet. Wer über mehr oder minder leidvolle Lebensformen und Lebenswege spricht, verstrickt sich in jenes Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, in dem die ganze Urteilskraft einer Person gefordert ist. Wer Kritik als legitimes Ziel handlungs-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen begreift, bezweifelt keineswegs, daß es zunächst einmal darauf ankommt, fremde Wirklichkeiten, soweit dies eben möglich ist, in ihrer internen „Logik" und Kohärenz wahrzunehmen und zu beschreiben. Das ist gewiß schon viel - und bekanntlich mehr, als empirische Forschungsberichte in der Regel zu bieten haben. Es ist jedoch, wie gezeigt, nicht unbedingt schon alles, was zum Geschäft einer Psychologie gehört, die sich mit der Interpretation von Handlungen im kulturellen Kontext befaßt.
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Index 1. Personenverzeichnis
Abel 20, 30, 205f., 332 Adorno 165,222 Aebli 74 Allert 204 Allesch 169-171 Amir 173 f. Angehrn 99f„ 109, 145 Anscombe 21, Apel 107, 123, 328 Arendt 219,249 Aristoteles 9, 11, 143, 150 Aschenbach 3, 76f., 85-94, 101, 108, 213 Assmann, Aleida 169, 188f., 275 Assmann, Jan 166, 169, 275 Auerochs 157, 258 Austin 37-39, 113, 121 Baker 117 Balint 322, 351 Baltes 96 Barr 142 Barsch 238 Baumgartner 145 Beckermann 103,107,116 Belgrad 281 Bellow 191 Benedict 182 Benjamin 141, 149 Berg 143, 147, 190 Berndt 289 Berry 170, 176, 181 Betti 237, 240-243, 245, 247-249, 262 Bianco 241 Billmann 169, 170f., 173,213,215 Binswanger 290, 313 Boas 190 Bock 182 Boehm 251,254 Boesch 3, 4, 7f., 31,46, 56f., 105, 109112, 164-166, 168, 178, 180f., 183, 198, 236, 296 Bogdal 238 Böhler 24 Böhme 217f., 322 Bohnsack 24,211,213-217,310
Bourdieu 133 Brandtstädter 20,45 Braun 171 Brennenstuhl 15 Britton 45 Bruder 169 Brugger 149 Bruner 1 , 4 , 7 , 9 , 1 3 , 1 1 3 , 1 8 0 , 1 8 3 - 1 8 5 , 198 Brunner 107 Bubner 60, 150 Buchholz 310 Bude 149 Bühler, A. 239 Bühler, K. 36f., 114,240,313 Buhr 128 Burckhardt 190 Burgard 163 Campbell 180 Canetti 283f„ 287, 289, 318, 320 Can 147 Castoriadis 287 Charlton 20, 23 Chassein 51 Chomsky 53, 114 Christmann 51 Churchland 107 Claparède 7 Clifford 193f., 196 Cole 56, 164, 170, 173, 178, 180f., 183 Collingwood 117 Conte 125 Costali 2 Cranach, von 3, 7f., 57-60, 76-80, 82-85, 95 Culler 228 Curtius 283 Daniel 169f., 181-184, 190 Dann 240 Danto 4, 12, 147f., 249 Dasen 173 Davidson, 20 Davis 171, 198
404
1. Personenverzeichnis
Denzin 180 Devereux 318 Derrida 159, 228, 230, 233, 270 Descartes 46f. Dewey 7 Diekmann 64 Dilthey 121, 178, 219f., 252, 256, 337f. Döbert 64 Dörner 43 Dray 98f., 103 Droysen 256 Düffel, von 15 Durkheim 63, 98, 120, 181f„ 332f., 341 Eagle 280 Eagleton 240, 242, 244, 248, 270, 280 Eckensberger 4, 56, 163-165, 172, 174178, 183, 188 Eco 4, 226-237, 250, 290 Edwards 173 Eggert 289, 298 Engelkamp 114 Erdheim 181,294f. Erikson 52 Fend 218 Filipp 96 Fisch 167 Fiske 180 Flick 115,180,204,212 Fließ 290 Fodor 113 Foucault 266, 276, 357 Frank 204, 253, 256 Frazer 358 Frege 121 Freud 110, 138, 167, 182, 194, 218, 280284, 286, 289f., 292, 295-297, 300-310, 312, 319 Friebertshäuser 187 Frijda 172 Frommer 67, 73 Fuchs 143, 147, 190 Fuhrer 57 Gadamer 5, 19,42, 53,97, 132, 157, 207, 237, 240f., 244-279, 341, 350 Gagné 113 Galanter 8 Geertz 143, 147, 169, 183, 190, 193 Gergen 171,179,198,228,336 Gerhardt 213 Geser 13 Gethmann 86 Giddens 25, 96f., 126
Girtler 187 Glaser 4, 47, 215, 220, 224, 312, 331f., 340 Goodenough 182 Goodman 20, 30, 198 Goodnow 113 Görlich 281 Graeser 252 Grathoff 187 Graumann 10, 75, 174 Gravenhorst 212 Grewe 10 Groeben 5, 13-16, 51, 56f., 73, 98f., 104, 110, 237f., 240, 292,329 Grondin 207, 241, 246, 252-254, 256, 259, 269,299 Gruhle 66 Grünbaum 280 Gründer 125 Guénon 231 Guilford 151 Gurwitsch 47 Habermas, J. 6, 24, 35, 65, 68-70, 72, 88, 95, lOlf., 116-118, 120, 129, 130, 132, 138, 154, 164f., 254f., 259, 265f., 280, 329f., 342-345, 347, 349f., 352, 355f. Habermas, T. 8 Hacker 8, 56-58, 117 Hahn 8f., 61, 72 Hansen 169 Hardmeier 169 Harras 11, 23, 27f., 37, 107 Harré 1,45 Harris 57, 182 Hart 124 Harth 169, 189 Heckhausen 57 Hegel 260 Hegener 159, 228 Heidegger 16, 18, 97, 240, 245f., 251-256, 258, 263, 268 Hellpack 66 Helmholz 256 Hempel 14, 104, Henry 352 Herder 167 Hermes 229 Heron 173 Herrmann 20, 33, 62 Hert 168, 170 Herzog 75 Hesse 25 Hildebrandt 113-115 Hirsch 5, 151, 228, 237f., 240-249, 251,
1. Personenverzeichnis 262f„ Hoering 149 Hoffmann 284 Hoffmann-Riem 207, 255 Hofmann 125, 128 Hofmann-Riedinger 125 Holland 292 Hölscher 169 Holzkamp 8, 45, 171 Honiger 212 Honneth 352 Hörisch 206-210 Hörmann 114 Horn 289 Hume 106 Hume 143 Husserl 47,178,240f., 252, Hutchinson 151 Hutschemaekers 167, 169f., 181, 183 Imhof 306 Ingleby 173 Iser 290, 292, 309, 319 Jahoda 172-174, 177f. Jakobson 310 James 7f., 11,75 Janet 7, 164 Jaspers 66 Jauß 5,290 Joas 4, 8, 63-65, 67, 70, 82, 94, 150f., 155, 158f., 161 Joy 228 Jüttemann 115f., 336 Kagitfibasi 170, 188 Kallmeier 35 Kambartel 43, 88, 125, 127f., 329 Kaminsky 57 Kamiah 10, 41 f. Kant 4, 9, 21, 30, 143, 198, 215, 219f., 222f., 255 Kardiner 182 Kardorff 212 Karlson 289 Käsler 64 Kelle 9, 47, 224 Keller 22 Kempf 56 Kenny 12 If. Kessen 173 Kettner 328 Keupp 212 Kible 125 Klaus 128
405
Kluckhohn 167 Knies 71 Knorr-Cetina 169f., 184 Kocka 145, 170 Köckeis-Stangl 180 Koffka 318 Kögler 247, 249, 253, 258, 266-268, 271f., 274-279, 357 Kohlberg 114,173 Kohler 13, 16f. Köhler 318 Kokemohr 226 Könau 204 König, H.D. 280f., 289, 305, 307, 310-312, 316,320, 322-324 Koppel 177 Kopperschmidt Korthals-Beyerlein 3, 128, 130-133, 135, 137, 140 Koselleck 145, 149, 257 Kozulin 167 Kraeplin 66 Kraft 283 Krambeck 204 Krewer 56, 164f., 167, 170, 180, 183 Kripke 117 Kroeber 167 Kühl 57, 60-62 Kuhlmann 355f. Kuhn 113 Lacan 232, 310 Lamprecht 181, 190 Lang 170-1 Langer 36, 305 Laplanche 300 Laucken 3, 27, 43-51, 53f., 57, 62, 142 Lazarus 44 Lechler 110 Leithäuser 286, 289, 310, 312f., 322f. Lenk 15,20-30,107 Leontjew 8, 164 Lepsius 170 Lesser 292 Lévinas 159 Levi-Strauß 53 Lewin 112, 164 Lipp 170 Lipsitt 96 Little 80 Lonner 170 Lorenz 125 Lorenzer 5, 237, 278, 280, 285, 288-295, 297f., 300-309, 311-326, Lübbe 132
406
1. Personen Verzeichnis
Luckmann 10, 13, 17 Luria 164 Luther 294 Lyotard 271, 275 Madison 241, 243, 245, 247 Makkreel 219f., 337f. Makropoulos 141, 149f. Malinowski 182 Malpass 178 Manninen 107, 123 Marcuse 165 Marotzki 145 Matthäus 151 f. Matthes 6, 55, 172, 180, 192f., 195-197, 273, 330, 332-335, 337-341, 357 Mayring 204 McClelland 336f. McLuhan 187 Meacham 56 Mead, G.H. 7f., 65, 138, 164, 249 Mead, M. 182 Means 173 Mees 43, 51 Melden 107 Merleau-Ponty 245 Messer 241 Métraux 167 Miller, G.A. 8 Miller, J.H. 238,240 Mischel 107 Morgan 190 Moritz 351 Morss 228 Moscovici 115,174 Münch 82 Murray 151 Musil 152 Nagbal 289 Nagel 20, 104 Neidhardt 170, 183f. Newell 113 Nietzsche 17, 71, 110, 159f., 218, 249, 251 Nipperdey 145 Oevermann 205, 293, 307 Olbrich 96 Oppenheim 14 Parin 182 Parsons 7 Peeters 173 Peirce 8f., 224, 229, 233f. Pellegrini 45
Perpeet 167 Pfeiffer 282 Piaget 8, 114, 164, 173, 197 Pieper 125 Pietzcker 283 Plessner 17, 167 Politzer 293 Pontalis 300 Poortinga 177-180 Popp-Baier 97, 215 Popper 14, 101, 178 Poulet 240 Prewo 64 Pribram 8 Price-Williams 174 Pulver 79 Putnam 20 Pylyshyn 113 Radcliff-Brown 182 Rausch 10 Reagan 232 Reese 96 Rehbein 56 Rehberg 66,70-72 Reichertz 9 Richard 240 Ricoeur 143, 145, 234, 240, 255, 280 Riedel 13, 15, 17-19, 130, 134-136 Riemann 42, 52, 215 Ritter 125, 128 Robinson 8 Rodi 256 Rorty 20, 37, 198, 233, 262 Rosch 82 Röscher 71 Rose 283 Rosenstiel 212 Rosenthal 149 Rossi 145 Rousset 240 Rumelhart 30 Rusch 238 Rüsen 145 Ryff 174 Ryle 29, 106, 116, 147 Salje 286, 289 Sampson 171 Sapir 182 Sarbin 45 de Saussure 310 Sass 241 Savigny 37 Schafer 75
1. Personenverzeichnis Schapp 45, 142 Scheele 240 Scheifele 263,289,319 Schlee 56, 240 Schleiermacher 208, 251 Schluchter 67f. Schmid Noerr 281, 289, 298 Schmidt 238 Schmitt 310 Schneider, Ch. 167 Schneider, H. J. 26, 38 Schödlbauer 232 Scholz-Williams 145 Schönau 290 Schönberg 134 Schräder 125,128 Schulte 117, 120-122,260 Schutte 202,239 Schütz 7, 11, 13, 19, 47, 212f. Schütze 35, 42, 55, 145 Schwemmer 4, 22, 60, 85, 89, 91, 143-147, 167 Searle 115, 121, 127 Segall 177 Seitz 203,226,310 Serpell 173 Shakespeare 248 Sharon 173-4 Shimada 195 Shotter 171, 198, 228 Shwayder 115 Shweder 2, 56, 168, 170, 177f., 180, 183 Sichler 201,226,310 Siebers 142 Simmel 128 Simon 113 Sinha 172 Smedslund 45 Soeffiier 2, 3, 167, 170, 186, 205, 207, 211 Sommer 149 Soudijn 167 Stagi 196,271 Staiger 240 Starobinski 240 Stegmüller 39f., 117 Steier 204 Stierle 202 Stierlin 275 Stigler 168, 170 Still 2 Stoutland 107 Straub 9, 14f., 45, 61f., 65, 92, 95, 99f., 104, 137, 142f., 147, 149, 153, 161, 166, 198, 203, 211-213, 215, 217, 222, 224, 226, 240, 255, 275, 316, 348
407
Strauss 4, 47, 215, 220, 224, 312, 331f„ 340 Strodtbeck 176 Ströker 14 Stückrath 145 Tajfel 174 Tallär 358 Taylor 6, 134, 191, 198, 207, 330, 336, 341, 351-353, 357f. Tenbrock 170, 180 Terwee 241 Thalberg 21,29 Thiel 328 Thomae 79, 255 Thomas 170 Todorov 348,351, 353 Tolman 1 Tolstoi 191 Toulmin 99 Triandis 170 Tugendhat 132 Tuomela 107,123 Valsiner 56, 164, 180, 183 Varela 197 Vattimo 159 Veer 164 Vico 46 Viehoff 238 Vijver 167, 169f., 177-181, 183, Violi 237 Volmerg, B 283, 286, 289, 310, 312f., 322f. Volmerg, U. 286 Volpert 8, 56f. Vonderach 142 Vygotsky 164 f. Wagner, G. 64, 173 Wagner, W. 174 Wahl, D. 240 Wahl, K. 212 Waismann 116 Waidenfels 4, 125, 132f., 143, 150-161 Waldmann 57, 60-62 Walkerdine 228 Weber, Marianne 64 Weber, Max 3, 7, 60, 63-74, 76, 97, 119, 125, 184,213,218, 328f. Wehler 170 Weidemann 188 Weiners 44 Weinrich 290 Weiß 170
408
1. Personenverzeichnis
Welter 11 Welzer 149, 215 Werbik 4, 9, 13, 16f.; 43, 56, 58, 60, 62, 64f., 76, 104, 150f„ 171, 183, 213, 320 Wertheimer 155,318 Wertsch 167 Wessels 26 White 145 Whiting 177 Winch 115-125, 145, 152f., 182,342 Winter 336 Wittgenstein 29, 37f.,49, 116-118, 120123, 125f., 144, 259-261, 267, 313, 358
Wolf 191 Wolff 212 Woolfolk 241 Wright, von 3, 13f., 76, 100, 102-109, 111, 119, 123-125, 140,150 Wundt 151 Würker 283f., 318, 321 Wutka 286 Zapf, H 238 Zecha 328 Zipprian 64, 173 Zitterbarth 183
2. Sachwortverzeichnis
Abbildtheorie 36 Abduktion 9, 224 Absicht(lichkeit) 12, 15f„ 22, 29, 56, 58, 60, 62, 65, 75, 84,102, 110, 113, 157, 211,239, 247, 344f. Absolut 245f., 261,271 Abstraktion 212 Abwehr 42, 290, 292, 303 Achtung 350-359 Affekt s. Handlung, affektuelle Akt s. Handlung Aktivismus 41 Aktivität 12, 22 f., 54 Allgemein(es) 220-222, 256, 271, 279, 329 -begriff 221 f. vgl. Begriff Alltag 188f., 296, 308, 311 -skultur 186-188 -spsychologie 185 -ssprache 296,308-310,341 -swelt 1 l f „ 21, 24, 26, 32, 45, 47, 52, 59-61, 78, 82, 85, 95, 171, 184, 186, 188, 192, 202, 211,215, 217f., 264, 310,316, 341 -swissen 215f., 221, 346 Alterität s. Andere(s) Ambiguität 228 -stoleranz 194 Analytizität 45 Anarchie 244-246 Andere(s) 6, 159, 175, 179, 191-195, 207, 263-265, 271, 273, 275-278, 330-359 Anerkennung 6, 18, 136, 191, 199, 274, 327, 330f., 350-359 Angleichung 331,333-342 Anschauungsform 312f. Anthropologie 11, 16f., 42, 70f., 142, 169, 181f., 218, 246,338,351,353 kognitive 182 philosophische 218 Anticartesianismus 106 Anti-Hermeneutik 209 Antisemitismus 348 Antizipation 31, 36, 56, 89, 264 Antwort 18,22,262,267,352,354 Appell 37, 239 Applikation 232f„ 242, 248, 262 Architektur 289
Argumentation 35, 73, 85-87, 89, 91, 95, 107, 114, 128, 212, 260, 262, 310, 329, 343 -sintegrität 329 -szugänglichkeit 85-87, 89 Askese 71 Assimilation 272 Assoziation 46, 111, 231, 286, 288, 296, 321 f. Attributionstheorie 44 Aufforderung 84, 86, 88, 90, 131, 135, 136,160 -snormen 130-133, 135-137, 139, 143, 163 Aufklärung 209,265 Aufmerksamkeit, gleichschwebende 320322 Ausdruck 36, 39, 46, 50, 68, 90, 133, 162, 239,241,243,314 vgl. Selbstexpression Ausgrenzung 270 Aussage 44, 50f., 252, 256, 267, 310 Ästhetik 126, 133, 153, 219, 226, 236, 309, 343, 345 vgl. Rezeptionsästhetik Ästhetizismus 161 Äußerung 39f., 44, 51, 54 performative 39f. Autonomie 16-19, 159-161, 250, 256f., 267,269, 279, 351 hermeneutische 242, 248 Autopraxis 159 Autor 193, 227, 229, 235f„ 239-244, 246f., 248, 250f., 267, 287f., 314 Autorität 193, 196, 229, 244, 246, 259, 264f. Basishandlung 28 Bedeutsamkeit 242, 248f., 263 Bedeutung lf., 4f„ 7, 19, 24, 36-38, 40, 44f., 51, 54, 61 f., 65, 82, 84, 95, 100, 109-112, 116-118, 121, 123, 144, 146f., 166, 181, 183f., 202-205, 214f., 225, 227f., 230, 234-236, 239-244, 246-250, 252, 263, 279, 290-292, 295f., 299, 305, 309, 313-315, 317, 319, 322, 343, 346 -sbe wußtsein 113 -stheorie 4, 38, 65, 116, 123, 182, 243,
410
2. Sachwortverzeichnis
320, 343 -styp 244 Bedingung 16f„ 26, 43-45, 71, 97, 105, 176 -sanalyse 27,43-45,51,53 Begriff 47,51, 117, 221-223,293,312, 339, 341,357 -sbildung 47, 51, 223, 293, 312 -sverwirrung 26f., 49, 85 Begründung 86, 92, 94, 106, 114, 202, 206,212, 246, 260f„ 310 Behaviorismus 8, 74f., 113, 240, 243 Beobachter, Beobachtung 22, 29, 50, 110, 175, 182, 193 Beobachtungssprache 22 Beschreibung 3, 14, 21-24, 26-29, 32, 35f., 44, 46f., 53, 59f., 108, 121f., 124, 142-147, 192, 195, 203, 206, 218f., 239,327,343,355 vgl. Handlungsbeschreibung dichte 143,327 Beurteilung s. Urteil Bewegung 22f„ 27-29, 33, 106 Bewertung 44 -snormen 130f., 133-137, 139, 143, 163 Bewußtsein) 7f., 10, 19, 22, 40, 47, 5053, 56f„ 65, 67, 74, 78, 86, 92, 95, 97, 110, 113, 159, 211,241, 243f., 247, 254, 258f., 261, 264, 267f., 295, 298, 303f., 307f., 324 geschichtliches 254, 273 hermeneutisches 258 intentionales 241,243,245,247 diskursives 96 vgl. Symbol, diskursives kritisches 259 methodisches 254 praktisches 96 transzendentales 240, 252 wirkungsgeschichtliches 261, 263, 278 Bewußtseinsphilosophie 97 Bewußtseinspsychologie 97, 113 Beziehungsfigur 301,316 Bildinterpretation 289 Billigung 18, 133, 135 Biographie 42, 45, 52, 96, 110f., 142, 149, 224, 240, 265, 279, 285f., 290, 302-304 -forschung 149 -theorie 42, 52 Biographismus 283 Biologismus 285 Brauch 132 Bürokratisierung 70
Computermodell 2 Covering-law-Modell s. Subsumtionstheorie der Erklärung Dasein 16, 19f., 41, 71, 252f., 261t, 351 Daten 19, 34, 74, 195, 212, 220, 224f„ 331 f. -auswertung 224, 332 -erhebung 212,220,225,331 Dekonstruktion, Dekonstruktivismus 5, 89, 227-229, 233-235 Demokratie 198 Denken 113, 222, 230, 246, 254, 260, 333, 339, 358 vgl. Urteilskraft, Vernunft Denkform 3, 24, 26f„ 48, 51, 53, 180, 195, 357 Denkpsychologie 113 Denotation 36, 53, 226, 295f., 310, 313 Desymbolisierung 298, 302, 303 Determination 115 heteronome 115 kausale 115 Deterministisch 44, 175 Deutung 1, 3-5, 9, 19-24, 27, 29-33, 40, 44, 51,65f., 72f., 96, 111, 119, 162, 166f., 186f., 202, 205-208, 211, 214, 242, 248, 257-259, 261-263, 266-269, 282, 288, 291, 293, 304, 316f., 320, 346, 357 -skonstrukt 3, 19-21, 24, 27, 44, 96 -smuster 162, 166f., 187, 304, 357 Dialektik 222, 272 negative 222 Dialog 110f., 160, 194, 253, 255, 263, 266-276, 279, 343, 354, 356 Differenz 158, 171f., 178, 188, 195, 197, 208f., 218, 221f., 230, 247, 264f„ 270275,319. 335, 339, 341,358 Differenzierungsstudie 176 Diskontinuität 158,270 Diskriminierung 191 Diskurs 35, 48, 96, 186, 192-197, 262, 296, 340, 344, 346, 356, 358 Diskursivierung 54f., 96, 137f. Dissens 275 Distanz 258, 270, 329, 348, 357 Disziplin(ierung) 71, 321 Dogmatismus 5, 178 Duldung 13,65 Eigenes 160, 193f., 196, 261, 263, 276, 277, 312, 319, 324, 330, 331-359 Einbildungskraft 30,202 vgl. Imagination Einfühlung 72, 121, 314
2. Sachwortverzeichnis
Einheit 208, 229, 244, 267, 270-274, 277, 329 Einheitswissenschaft 63, 180 Einverständnis s. Konsens Ekstase 267 Elementarismus 46, 152 Elitekultur 187, 188 Emigration 47 Emotion s. Gefiihl -spsychologie 44-47,49, 53, 54 Empirie 24, 45, 47, 52, 60f., 74, 111, 117, 172-174, 180, 203-205, 216f., 221, 246, 249, 255, 332, 336, 339, 354 Empiriographisch 47 Empraktisch 54f., 96, 120, 302f. Endlichkeit 42, 246, 268 Engramm 300 Enkulturation 110, 182, 197 Entscheidung 11, 15-18, 65, 83, 102 -stheorie 57, 102 Entwicklungspsychologie 96, 113 Entwurf 252, 264, 300 vgl. Handlungs-, Interaktions-, Lebensentwurf Entzauberung 70f. Epistemologie 23, 30, 36, 46, 177, 193, 196, 243, 273 Ereignis 102, 148, 159, 267, 269 Erfahrung 2, 4, 6, 9, 23f., 34, 41f., 45, 54f., 59, 61, 75, 91f., 97, 112, 117, 119, 141, 152, 154, 161, 166, 176, 195f., 202-208, 214-219, 222, 226, 243, 245, 249f., 254-257, 259, 260, 264, 268, 269, 274, 278f„ 290f„ 293f„ 299, 307, 324-327, 331f., 335, 339-341, 346, 354f., 357 ästhetische 267, 276 geschichtliche 254, 257, 259, 262, 274 hermeneutische 254, 267f. kommunikative 254f., 343 reflektierende 220,337 -sraum 247 Ergebnis s. Handlungsergebnis Erinnerung 166, 188f., 257, 273, 286 -sspur 300f., 303 Erkenntnis(bildung) 6, 23f., 30, 34, 37, 46, 48, 50, 97, 119, 176, 195f., 199, 203208, 215, 218, 222, 226, 242-247, 249f„ 254f„ 260, 265, 267-269, 274, 277-279, 290f„ 293, 299, 319, 323325, 327f., 331 f., 339, 341, 346, 349, 355 Erkenntnistheorie 117 Erklären-Verstehen-Debatte 116, 328 Erklärung 4, 14, 26-28, 32, 44, 49, 53, 55, 58-63, 65, 72f„ 76f., 85, 89, 92, 94f.,
411
98-102, 109-111, 121f., 124, 128, 131, 139-151, 161, 163, 185, 195, 203, 206, 215, 218, 248, 275f., 327, 348, 355 vgl. Handlungserklärung deduktiv-nomologische/kausale 14, 44, 46, 55, 58, 73, 94, 97f„ 100, 102-104, 107f., 119, 140, 146, 150f. dispositionelle 98, 104, 124, 128, 140 genetische 98 hermeneutische 100 historisch-genetische 98 imitationsmustergebundene 327 induktiv-statistische 55, 94, 98 integrative 100 intentionalistische/teleologische 3 f., 73, 94, 99-112, 119, 123f., 139f., 142f., 150, 327, 344 kausale 5. deduktiv-nomologische kausal-genetische 98 narrative 100, 141-163, 327, 344 quasi-kausale 102 quasi-teleologische 102 regelbezogene 4, 113, 139, 142, 327 rationale 98, 100, 103 -sform 98-103, 108, 148, 171 -spluralismus 99 statistisch-genetische 98 -stheorie 98, 104, 150 systematisch-genetische 98 Erleben, Erlebnis 7, 10, 19, 41, 48f., 52, 54, 219, 257, 279, 286, 289, 292, 294, 297, 300f., 304f., 308, 324, 326, 344346 Erlebnisfigur 281,291,303,305 Erleiden 41f., 54 Ermöglichungsbeziehung 48-51 Erwartung 2, 4, 28, 42, 45, 54f„ 66, 84, 102, 107, 129, 131, 152, 154, 161, 166, 202f., 213f., 242, 257-259, 265, 279, 294, 299,308,311,354,357 -shorizont 247 Erzähltheorie 142, 145, 158 Erzählung 33, 35, 45, 47, 54, 101, 141, 142, 145-150, 161-163, 166, 172, 185, 212,218, 224, 262 dichte 147 Es 138, 303f„ 307 Eschatologie 155 Essentialismus 22 Ethik 11, 17f., 67f., 71, 118, 126, 136, 194, 276, 330, 352-354 Ethnographie 182 Ethnologie 143, 169, 175, 181f., 190, 192 Ethnopsychoanalyse 182, 325 Ethnopsychologie 185
412
2. Sachwortverzeichnis
Ethnozentrismus 171f., 190f., 356f. Evolution, soziokulturelle 335 Evolutionismus 190 Existenz 16, 41 f., 54, 171,211 Existentialhermeneutik 253 Existenzialismus 17, 151 Experiment 176,255 Externalisierung 165 Faktum 195 Falsifikation 233, 260 Familie 334 Familienähnlichkeit 82 Fantasma 109, 112, 165 Folge 14, 16, 67f., 71, 97, 106 vgl. Handlungsfolge Forschung qualitative, interpretative 1, 3, 47, 54, 95, 97, 111, 115, 178, 181, 203-205, 207, 219, 223f., 239, 250, 255, 269, 321,329,331 quantitative 180 Forschungsprogramm Subjektive Theorien 240, 249 Fortschrittsideologie 189f. Freiheit 17f., 31, 36, 157, 198, 204, 236, 297,351 Fremd(e) 6, 158, 160, 175, 179, 191-196, 207, 222, 255, 261, 263f., 266, 271274, 276, 312, 324-326, 330, 331-359 Fremdverstehen 54, 175, 179, 192, 194f., 207, 255, 272, 277, 299, 324-326, 331359 vgl. Verstehen Fundamentalontologie 252 Funktionslust 90, 108 Gebot 84, 132 -snorm 132 Geburt 42 Gedächtnis 95, 166 -theorie 95, 166 Gegenstand 99, 195, 257, 263, 293 Gegensinn 217f., 322 Gegenübertragung 286, 311, 318, 324 Gegenwart 258,261,274 Gegenwehr 51 Geist 29, 45, 49, 113, 240, 241, 249 vgl. mental Geistesgeschichte 117 Geisteswelt 48, 50f., 53 Geisteswissenschaft 219, 246, 252-254, 256 Gefühl 3, 41, 43-55, 67, 139, 202, 280, 344f. -sgeschichte 50f., 54
Gelassenheit 43, 149, 268 Geltungsanspruch 35, 73, 86, 88, 93, 129f., 199, 227, 236, 242, 277f., 313, 342-347, 355f. Gemeinschaft 90, 122, 247, 265, 288, 294, 297, 299, 301, 308, 342, 343 Generalisierungsstudie 176 Generation 257f. Genie 71 Genre 244 Geschehen 41, 54, 160, 248, 254, 257f., 261,266-270,272 vgl. Sprachgeschehen; Überlieferungsgeschehen -scharakter der Sprache/des Verstehens 254 Geschichte 18f., 45-47, 69, 96, 101, 117, 136, 141f., 146-149, 156, 159, 163, 173, 186, 199, 218, 227, 236, 242, 247, 249, 250, 252, 256, 258f., 265, 210t, 273f., 281,295,320, 326 Geschichten s. Erzählung Geschichtlichkeit 94, 141f., 162, 244, 246, 257 Geschichtsbewußtsein 142 Geschichtstheorie, -Wissenschaft 100, 145, 158, 169f„ 228, 238, 274, 284f. Geschlecht 340 Geschmack 133 Gesellschaft 18f„ 46, 90, 96f., 117, 119, 120, 122, 130-135, 138f., 153, 170f., 186f., 190, 225, 247f., 250, 265, 271, 275, 281, 285, 288, 290, 294, 297, 299, 301, 308, 324, 328, 331f., 334-337, 339, 342f., 348, 351,357 -stheorie 284f. Gesetz vgl. Naturgesetz; Verhaltensgesetz konstitutives 115 regulatives 115 Gesinnungsethik 68 vgl. Ethik Gespräch 18, 88, 194, 209f., 264, 266f., 269f., 272f., 275, 277, 288 Gestalt 46 -Psychologie 74f., 155, 157, 313, 318 Gewalt 120, 161,230,298 Gewißheit 215 Gewissen 31, 137f. Gewohnheit 79, 132, 206 Glaube 215,246,252 Gott 245 Grammatik 50f., 118, 239, 301, 313 generative 50f. von Sprachspielen 118 Grounded Theory 47, 33lf., 340 Grund 62, 66, 68f., 73f., 92, 95-98, 101f.,
2. Sachwortverzeichnis
104, 106, 111, 116, 124, 140, 142, 146, 149, 162f., 165, 262, 343, 346f., 349 vgl. Handlungsgrund -Folge-Beziehung 106 Grundbegriff 54, 77 Gruppe 90, 95, 122, 130-135, 138f., 153, 213, 248, 288, 293, 297, 320, 322-324, 328, 339, 342f. Gültigkeit 241 f., 244f., 256, 343, 345 Habitualisierung 132 vgl. Gewohnheit Handeln 13f., 116 vgl. Handlung Handlung 2-4,7-167, 176, 181, 183-185, 189, 195, 197, 203-205, 211, 214, 216, 218, 225, 240, 241, 248, 250, 256-261, 263-265, 267-269, 280f., 290f., 303f., 307, 315f., 320, 326, 328, 330, 339, 342-347, 349-351, 353-355, 357-359 affektuelle 66-68, 81 f., 85 bedeutungsorientierte 81 -84 dramaturgische 35, 73, 101, 164, 344 emotionale 67, 81 f. erfolgsorientierte 70, 164f. explikative 109 expressive s. Ausdruck; Selbstexpression externale 30-33, 84 finale 92 ideomotorische 81 illokutionäre 38-40 instrumentelle 56,70, 164, 343f. internale 30-33, 84 kollektive 102, 149, 162 kommunikative 70, 84, 101, 129, 164, 259, 265, 330, 344-347, 349 kreative s. Kreativität des Handelns lokutionäre 38, 40 mentale 81-83 nachahmende s. Imitationshandlung normenregulierte 4, 101, 127-141, 143f„ 164, 344 perlokutionäre 39 praxische 30-33, 83, 198, 342 präventive 13,42 produktive i.S. von herstellende 13, 43 produktive i.S. von kreative s. kreative prozeßorientierte 81-83, 85 regelgeleitete 3f., 58, 92-94, 101, 113142, 150, 155, 158, 162, 204, 268 reproduktive 152, 155, 158, 214 -sanalyse 26f„ 32, 60f., 66, 69, 89, 118, 120f., 134, 141, 184f. -sbegriff (Definition) 3, 15f., 18-22, 24, 26, 29, 42, 55, 58, 60, 63-67, 71, 77,94, 104, 109, 111, 123, 130, 143,
413
150, 160, 197, 343 -sbereiche 166 -sbeschreibung 4, 14f., 20-24, 26-29, 32, 60-62, 89, 110, 128, 141-147, 150f., 163 schemagebundene 90, 92-94, 101, 107, 147 -sdarstellung 85, 143, 147 vgl. Handlungsbeschreibung selbstzweckhafte 107 -sentlastetheit 211, 263, 346 -sentwurf 298, 302, 305, 311f., 315 -sergebnis 14,22,56,91 -serklärung 4, 55, 58-63, 65, 73, 76, 85, 89, 92, 94f., 98, 101f., 110f„ 122, 124, 128, 131, 139, 141-143, 146-151, 161, 163,185 -sfähigkeit 17, 24, 36, 41, 91, 154, 267, 302, 304, 306f., 328, 343, 347, 351 -sfertigkeit 87 -sfigur 315 -sfolgen 14, 67f., 71, 91, 157, 165 -sform 299 -sgeschichten 22, 51, 54, 145 -sgrund 62, 66, 68, 74, 76, 92, 140, 142, 146, 149, 162f., 165, 347, 349 sinnrationale 92, 94, 101 -skompetenz s. Handlungsfähigkeit -skontingenz 141, 150 vgl. Kontingenz -skontrolle, soziale 57, 131 -skonstituenten 21, 24, 26f. -skoordination 35f., 277, 310, 345 -sniveau 165 -sorientierung 91, 166,343 vgl. Orientierung soziale 65, 119f., 328 -sphilosophie 20,23,76, 150 -spotential 101,112,165 sprachlich-kommunikative 31, 3 3 f., 36, 38-40, 122, 198, 238f., 342 -spsychologie 2f., 5, 7, 10, 13-16, 19f., 22, 24, 26-30, 32, 34, 41, 44, 46, 48, 54, 56-63, 69, 74, 93-95, 99f., 105, 111, 115, 123f., 142, 162, 163, 185, 198, 201, 203, 206, 226, 236, 238, 240, 247, 251, 256, 259f., 269, 275, 277279, 296, 326f., 341, 346, 354, 359 -sregulations-Theorie 57 -Stil 133 -ssubjekt s. Subjekt -ssymbolik 112 strategische 70, 101f., 165, 343f. -ström 57 -stendenz 57
414
2. Sachwortverzeichnis
-stheorie 1-4, 7-10, 13, 17-19, 21f., 24, 41, 43f., 47, 53, 56-58, 60-64, 68-70, 72, 74f., 78, 86, 90, 97, 104, 112, 116, 137, 142, 151, 163, 167, 182, 196, 237, 239f., 261,280, 345 -styp/typologie 3, 54, 59-61, 63, 66-69, 71, 73-83, 85, 89-95, 97-99, 101, 108, 143, 161 traditionale 66f. unter Druck 81 verständigungsorientierte s. kommunikative willensbetonte 81 ziel-/zweckgerichtete 3, 8, 15, 43, 5660, 63, 66-69, 72-75, 77f., 81-85, 90, 92f., 101f., 108f., U l f . , 123, 140, 150, 155, 204, 268 Harmonie 208, 270, 277, 322, 329 Hermeneutik 5, 14, 16, 19-21, 23f., 27, 32, 44, 46, 51, 53, 75, 97, 100, 104, 110, 136, 147, 157, 169, 175, 179, 207-210, 215, 219, 227, 230f., 234, 237, 240243, 245, 247-280, 285, 292, 298f., 307, 311 f., 318, 324, 326, 357 vgl. Tiefenhermeneutik des Verdachts 234 horizontale 312, 324 kritische 285,298,299 kritisch-dialogische 276, 278, 357 objektive 307 philosophische 157,207,215,227, 237, 240f., 248, 250-280 traditionelle 256 vertikale 312,324,326 Hermeneutischer Zirkel 100, 147,258, 259,261,318 Hermetik 208,229,231 Herrschaft 70, 132, 166, 194, 265f. Heterogenität 49, 118, 171, 196, 270f., 274f„ 339 Heteronomie 16, 18, 61, 115, 160f„ 269, 304 Heuristik 48 Hierarchie 189f. Historie s. Geschichte Historischer Materialismus 284f., 299-302 Historismus 245f., 262 Historizismus 244 Hochkultur 186-188 Holismus 121, 182, 253, 258f., 269 Homogenisierung 188,270,274,340 Homonomie 231 Horizont 118,215,221,251,271-273, 278, 342 vgl. Sinnhorizont; Vergleichshorizont
-Verschmelzung 269, 271-275, 341 Hypothese 224f. Hysterie 66 Ich 20, 31, 138, 252, 268, 303-306 -losigkeit 268 transzendentales 252 Ich-Ideal 31, 137f. Ich-Psychologie 292 Idealismus 21,118, 235, 241, 253, 269, 285 magischer 235 Idealnorm 131 Idealtypus 69, 71f., 82 Identität 35, 52, 54, 91-95, 101, 137f., 153-155, 158, 160, 186, 189, 194, 222, 229, 258, 272, 292, 299, 301, 303, 352, 356, 358, 359 -skrise 52,92, 160,303 -stheorie 158 Ideologiekritik 265, 284f. Idiographie 213 Imagination 54 vgl. Einbildungskraft Imitation 86-94, 101, 108, 162 -shandlung 88-92,94, 101, 108, 162 Individualismus 65, 162, 183, 188, 285, 336 methodologischer 65 Individualität 90, 187, 204, 220, 222, 271, 279, 291, 293, 307f., 338 -skultur 187 Individuum 164, 250, 277, 281, 290, 292, 334f. Industrienation 186 Information 7, 26, 35, 49, 51 f., 210, 277 -stechnologie 210 -s(verarbeitungs)theorie 7, 26, 49, 52 Inhaltsanalyse 204 Inkommensurabilität 271, 275 Instinkt 16f. Institution 15, 18f., 22, 119, 125, 127, 129, 136, 166, 189,257,289 Instrumentalisierung 59 Intelligenz 173 Intention(alität) 4, 15f., 22, 40, 54, 56, 58, 61, 74, 78, lOlf., 104-107, 109f., 124, 130, 154, 184, 229, 238-247, 250 Intentio auctoris 4, 227, 232f., 236-240, 242, 246, 250f„ 277 opens 4, 227, 233, 236f., 250, 277 lectoris 4, 227, 230, 233, 236f., 279-281 Intentionalismus 58, 60-63, 65, 73, 97, 106,162 hermeneutischer 238-250 vgl. teleologisches Modell
2. Sachwortverzeichnis
Interaktion 3, 22, 35, 90, 96, 118, 138, 192, 250, 277, 281, 286, 288f., 291f., 298-309, 311, 315-317, 323, 345, 350 -sentwurf 315 -sform, -sfigur 289, 298-308, 311,315, 317,350 -stheorie 281 Interesse 91,328f. Interkulturell 171, 196, 274, 332, 334, 336f. Internalisierung 129, 137, 165 Interpret 96, 110, 257, 262, 264, 267f., 270, 277-279, 288f., 291, 299, 312, 318f., 320, 323f., 328, 330f., 341 Interpretanz 234 Interpretation 1-6, 9, 14f., 18-24, 26-33, 40, 44f., 47f., 51, 53, 88f., 94, 96f„ 99, 109-111, 118f., 141, 163, 166, 181, 185, 194, 199-359 affirmative 329 bestimmende 220f., 226f., 321, 340 formulierende 4, 213-215, 220f. identifikatorische 321 kritische 237, 327-359 paranoische 231 reflektierende 213, 220f., 226, 321, 340 -sästhetik 205 -sebene 205 semantische 237 semiosische 237 semiotische 237 -sethik 205 -sgruppe 213, 320, 322f. -shorizont 48 -skompetenz 257 -skonstrukt 3, 19-22, 24, 26f., 44, 96 -slogik 205 -smethodik 20 -smethodologie 20, 59 -snorm 244 -stheorie 4, 20f., 26f., 94, 97, 110, 209, 227f., 233f., 236-238, 240, 250f., 263, 272, 289, 293, 320 vergleichende 4, 214f., 219-221, 227, 326 InterSubjektivität 21, 61, 72, 159, 202-204, 211,215, 260, 287, 343 -stheorie 159 Introspektion 74 Intuition 97, 227 Irrationalität 68, 70, 72, 112, 218, 243, 260, 306f., 343 Irritation 319, 321f.
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Kairos 155 Kalkül 38, 70, 102, 121 Kampf 270 Kategorienfehler 49, 51, 53, 62 Kategorisierung 22 Kausalanalyse 27,44, 119 Kausalbeziehung 49, 70, 74, 106, 143f. Kausalisierung, Kausalismus 44, 51, 106, 107, 116, 143, 146, 150 Kausalität 102, 112, 119, 229 vgl. Kausalanalyse; Kausalbeziehung Kind 87, 173 -heitsbilder 173 Klischee 302f. Kognition 19, 26, 30, 44, 52, 62, 113f., 152, 173,252 -spsychologie 26, 30, 44, 113f., 152 -swissenschaft 113 Kognitive Kompetenz 113,173 Kognitive Wende lf., 7, 43, 75, 113 Kognitivismus 2 , 7 , 4 3 , 1 3 7 Kohärenz 91, 154, 250, 276, 322, 359 Kollektivismus 188 Kollektivvorstellung 97 Komparative Analyse 4, 191, 214f., 331, 332, 339 vgl. Vergleich Kommunikation 32f., 65, 90, 96, 118, 181, 192f., 207, 230, 248, 250, 255, 266, 270, 277, 286, 344, 358 -sschema 35 Konfiguration 45 Konflikt 171,294 Konformität 157 Konnotation 36, 46, 226, 295 -sanalyse 110,296 Konsens 110, 266, 269-272, 275, 294, 305, 320-322 Konsistenz 91, 322 Konstitution 3, 6, 50, 115 -sanalyse 3, 50 Konstrukt(ion) 3, 19-22, 24, 26-28, 34, 44, 82, 94, 97, 112, 163, 183, 186, 192, 195Í, 199, 202, 204, 206, 212, 215, 222, 224f., 228, 246f., 249, 275, 279, 296, 325f., 335 zweiten Grades 212 Konstruktionismus, Konstruktivismus 46, 86, 164, 171, 173, 179, 197-199, 336 Kontext 15, 22, 29, 96, 121, 129, 147, 162, 172, 177, 224f., 236, 239, 258, 269, 273,281,359 Kontingenz 119, 141, 146, 149f., 152, 154, 161, 244, 251, 257, 269, 320, 359 vgl. Handlungskontingenz Kontinuität 91, 154, 158, 187, 270, 274
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2. Sachwortverzeichnis
Konvention 90, 125, 132 Körper 2 9 , 4 9 Körperbewegung 5. Bewegung Körperwelt 48, 51, 53 Korrelationsstatistik 45 Korrespondenztheorie 244f. Kreativität (des Handelns) 4, 8, 36, 38, 42, 58, 70f., 90, 94, 101, 132, 141, 150162, 198, 204, 214, 233, 241, 243, 261f., 268, 283, 306 -sforschung 151 Krise 155,209 Kritik 5f., 18, 86, 89, 94f., 233f., 258-260, 262f., 278, 286, 327-359 Kritische Theorie 328 Kultur 6, 17-19,47, 59, 61,96, 101, l l l f . , 122, 132, 134, 138, 143, 152, 162-199, 225f., 236f., 247f., 250f., 256, 265, 271-274, 277-328, 334f., 337, 339, 342f„ 346f., 352-354, 357, 359 vgl. Elitekultur; Hochkultur; Subkultur; Trivialkultur; Volkskultur -alismus 184 -analyse 184, 195, 226, 278, 280-326 -anthropologie 143, 169, 175, 181f. -geschichte 181, 188, 190 lokale 187 multinationale partiale 187f. populäre 186, 190 primitive 186, 189 -Psychologie 2, 4-6, 13-15, 20, 26f., 29, 32, 34, 56, 95, l l l f . , 162-199, 203, 206, 226, 236, 238, 247, 251, 256, 260, 269, 275, 277-279, 281, 289, 296, 325f., 341,346, 354,359 regionale 187 -Soziologie 180, 195
-theorie 169, 171, 182, 184, 192, 197, 279 -vergleichende Psychologie/Soziologie 170f., 173-180, 195, 334,339 Kunst 151, 154, 235f., 283, 289, 296, 308 Kunstlehre 242, 252 Künstliche Intelligenz 113 Kybernetik 8 Latenz s. Sinn, latenter Leben 11, 16f., 19, 46-48, 50-53, 59, 70f., 88,91-95, 101, 118f., 122, 129f., 153, 171, 187-189, 194, 196, 257, 260f., 265, 270f., 275-277, 280, 293, 298, 302, 305, 308, 311-313, 315-317, 321, 323-326, 339, 343, 345f., 350f., 353f., 356-359
-sentwurf 280, 298, 302, 305, 308, 310-312, 315-317, 321, 323f. -serfahrung 257, 31 lf., 316, 324-326 -sform 19, 88, 91,94f., 101, 118f., 122, 153, 171, 187-189, 194, 196, 260, 270f., 275-277, 293, 339, 350f., 353f., 356-359 -sführung 16f., 19, 70f„ 129f., 153, 166, 218, 329 -sgeschichte s. Biographie -sorientierung 9 1 - 9 3 , 1 0 1 , 3 4 3 vgl. Orientierung -sstil 187 -svollzug 46 -swelt 11, 47f., 50-53, 59, 153, 189, 265, 345 Legalität 129 Legitimität 129f., 258, 265f. Leiblichkeit 90, 159, 301, 303 Leib-Seele-Problem 106 Leid(en) 283, 286, 294, 297-299, 303, 308f„ 351,356 Leistungsmotivation 336f. Lernen 113,120 Lernpsychologie 113 Lesen, Leser 202, 227, 229f., 232f., 237, 242, 248-251, 261, 270, 279, 287-292, 299,311,318, 326 Letztbegründung 246, 260 Literaturpsychologie 238, 281-285, 290, 295, 308f. Literaturtheorie 227f., 240, 290, 292 Literaturwissenschaft 5, 145, 238, 278, 2 8 2 , 2 9 0 , 2 9 2 vgl. Literaturpsychologie; Literaturtheorie Logik 229, 246, 256, 296, 301, 305 apophantische 256 hermeneutische 256 Logische-Beziehungs-Argument 102, 106 Logographie 4 3 , 4 8 - 5 1 , 5 3 Logozentrismus 229f., 347 Lustprinzip 297 Macht 6, 70, 192f., 208f., 228, 236, 244, 260, 265f., 274, 278, 328, 330, 357 Marxismus 8, 265 Massenkultur 186f., 190 Maxime 70, 102 Medien 210,288 Mehrfachhandeln 57 Meinung 215, 252 Mens auctoris 241, 244f. vgl. intentio auctoris Menschenbild 70, 163, 328, 338 vgl. Anthropologie
2. Sachwortverzeichnis
Mental(es) 21, 97 vgl. Geist Mentalismus 97 Metamorphose 229 Metapher 309f. Metaphysik 20, 71, 198, 246, 251, 253 Metapsychologie 283 Metasprache 234 Metatheorie 61,281 Methode/Methodik 1 , 3 , 5 , 9 , 2 1 , 2 4 , 2 6 , 30, 32, 45, 47f., 50f., 69, 71 f., 74, 85, 88, 96, 109, 111, 137, 171-174, 176, 179, 180, 183, 196, 199, 202-204, 206208, 210f., 214f., 220, 232f., 238, 240, 242, 244f., 250-257, 262, 264, 269, 279, 281, 284, 287, 31 lf., 320, 322f., 329, 331,342 Methodologie 1, 3, 23f., 30, 3 2 , 4 6 , 4 9 , 51, 64, 66, 69, 71, 73f., 77, 94f., 97f., 115f., 119-121, 151, 176, 179f., 182f., 193, 199, 203, 206f., 219f„ 230, 238, 240, 245, 250-252, 254, 258f„ 262, 269, 272f., 277, 279, 281, 284, 293, 31 lf., 3 2 3 , 3 3 1 , 3 3 3 Methodologismus 241 Metonymie 310 Milieu(deskription) 2f. Mimik 90 Minderheit 171 Mittel 15, 18, 36, 56, 58, 66f., 70-72, 74, 90,91, 101, 103f., 107 Mittelalter 188 Mittelmeerkulturen 188 Modern(e) 69f., 136, 149f., 152, 154, 188, 218,258, 334 Modernisierung 69, 70 Möglichkeitsbewußtsein 152 Moral 18, 60, 89, 126, 128f., 160, 166, 192, 218, 236, 255, 265, 330, 343, 348f., 355 Moralisches Urteil 113, 173, 348f. Motiv 19, 20, 22, 57f., 66, 68, 72f., 109111, 311 Motivation 44 Multikulturell 170,187,331 Musik 289 Musterhandlung 87f., 93 Mythologie 260 Mythos 1 0 9 , 1 1 2 , 1 6 3 , 1 6 5 Nachahmung s. Imitation Nacherleben 2 1 9 , 3 1 4 , 3 3 8 Nachträglichkeit 211 Narration, narrativ s. Erzählung Narrativismus 145 Narzißmus 158, 283
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Nation 186, 188 Nationalsozialismus 348,351 Natur 18, 24, 26, 44, 46, 51, 75, 86, 102, 114, 140, 143, 165, 167, 243, 256, 275 -alisierung 44, 51 -ereignis 44 -gesetz 18, 44, 86, 102, 114, 140, 143 -Wissenschaft 24, 26, 44, 75, 114, 243, 256 Neostrukturalismus 228 Neurophysiologie 62, 280, 300 Neuropsychologie 62, 114 Neurose 294, 298, 308 Neutralität 6 Nicht-Identisch(es) 222,319 Nichtwiderspruch 229 Nihilismus 245f. Nominalismus 21,262 Norm 4, 6, 15, 18, 22, 58f., 68, 71 f., 90, 120, 124, 127-141, 143f„ 163, 166, 179, 182, 186, 190, 192f., 213, 218, 243f., 251, 294, 297-299, 302, 305, 309, 316, 327f., 330, 344, 349f. vgl. Aufforderungsnorm, Bewertungsnorm Nostrifizierung 6, 196, 271, 274, 278, 338, 355 Notwendigkeit 73 Oberflächenstruktur 50 Objekt 195f., 240f„ 255, 262, 305, 319, 341 Objektivation 165, 239, 241, 248, 250, 281,284, 294, 296, 299, 343 Objektivierung 165, 255 Objektivität 22, 242-244, 247, 249, 255f., 329 Objektivismus 13, 97, 145, 240f., 248f., 256, 262, 293 Ödipuskomplex 283 Offenheit 9, 207, 255, 277 Ökologische Handlungspsychologie 57, 175 Ökonomie 170,285 Ontologie 49, 51f., 97, 142, 193, 250f., 253, 258f„ 261, 266-270, 272, 343f„ 346 vgl. Sprachontologie Operationalisierung 112 Organismus 19,49 Organon-Modell 36f. Ordnung 82, 85, 128, 136, 143f., 152-157, 161, 166, 191, 229, 244, 266, 276, 297, 309,316 Orientierung 54f., 58, 65, 68, 86, 88f., 9196, 98, 101, 119, 128, 154, 162, 166f., 186, 202f., 206, 214, 218, 287, 294,
418
2. Sachwortverzeichnis
297, 299, 343, 350f., 353f. vgl. Handlungsorientierung; Lebensorientierung -slosigkeit 246, 297 Paradigma 113, 169 Paradox 110 Parallelhandeln 57 Passivität, intentionale 78 Pathisch 41-43, 54 Pensiero debole 233 Person 114,350,354,357 Persönlichkeit 71 Perspektive, Perspektivität 155, 249f., 269, 272f., 325, 341 Perspektivenwechsel 155 Phänographie 47-53 Phänomenologie 10,47, 75, 132, 145, 157,252 Philosophie 8, 11 f., 17, 18, 20-22, 34, 76, 86, 115-117, 143, 219, 228, 238, 246, 252f., 256, 262 der Sozial Wissenschaften 219 politische 219 sprachanalytische, 20, 22, 76 Physikographie 48 Poiesis 129 Poetik 146 Politik 218, 330 Plan(ung) 15f., 56, 70, 89 Piatonismus 2 Pluralismus 179, 198 Polyfunktionalität 111 Polyinstrumentalität 111 Polysemie 231 Polyvalenz 40, 53, l l l f . , 209, 234, 236, 295, 296 Positionalität 249 Positivismus( streit) 116, 178, 183,329 Postempirismus 328 Postmoderne 5, 158, 228 Poststrukturalismus 227f., 272 Prädikation 215 Präferenz 134 Pragmatik 34, 39f., 86, 98, 111, 225f., 239, 252, 257, 265, 345, 346 formale 86 Pragmatismus 7f., 75, 155 Praktischer Schluß/Syllogismus 94, 102108 Praxis 1, 17-19, 41, 45-48, 50, 52, 54, 59, 60, 62, 68f., 86, 88f., 94f„ 118, 121f., 129, 142, 145, 151, 155, 157f., 160, 162f., 166, 181, 183, 186, 189, 193, 197, 206, 208, 210, 239, 252, 260, 263,
264, 268, 280, 284, 293, 295, 298f., 301-303, 306-308, 311,317, 323, 325, 327, 330, 337, 343, 345, 347, 354-359 -figur 298, 305, 307f. -form 299, 301 Privatsprache 122, 308 Privatsprachenargument 122 Problem(lösen) 113, 155, 208f. Produktionsästhetik 238 Produktionstheorie 238f., 279 Prognose 99, 107, 129, 143 Projekt 80 Projektion 245, 253, 291, 321, 333, 338 Protestantismus 71 Protologie 155 Prototyp 82f. Psychoanalyse 57, 66, 75, 109-111, 138, 152, 164, 167, 182, 204, 218, 227, 232, 237, 249, 252, 265, 280-326 angewandte 282,319 Psychoevolution 44 Psychologie lf., 4-8, 11, 13, 16, 18-21, 26, 34f., 40, 42, 45, 48f., 61f., 64, 66, 7275, 94, 97f., 104, 115f., 143, 151, 163, 167-172, 174, 177-180, 184, 213, 221 f., 239-241, 243, 246, 249, 255, 265, 281, 284, 293, 332f., 335-338, 354, 356, 359 Allgemeine 172, 174, 178, 180 beschreibende/zergliedernde 338 geisteswissenschaftliche 74, 338 hermeneutische 241, 337 historische 336 interpretative 48f., 332, 337 kognitive 2 konkrete 293 Kritische 171 narrative 45, 143, 163, 184 nomologische 61f., 94, 115, 177, 179, 213, 281,284, 337 phänomenologische 75 transkulturelle 170, 172, 179 verstehend-erklärende 104 Psychologismus 178,227,241,278, 282, 311 Psychopathologie 72, 282f. Psychosomatik 53 Psychosoziales Moratorium 52 Rationalisierung gesellschaftliche 59, 69f., 73 Rationalismus 3f., 7,41,43, 66, 69-71, 85, 94, 137, 141, 150, 159, 183, 229, 306f. kritischer 183 okzidentaler 69
2. Sachwortverzeichnis
Rationalität s. Vernunft Rational choice-Ansatz 64 Raum 166, 187f., 229, 335 Realismus 37, 241 Rechenschaft 31 Recht 18, 129, 133 Rechtfertigung 18, 60, 107, 206, 260, 348 Rechtswissenschaft 18 Reduktion 252, 256 eidetische 252 Reduktionismus 10,49, 143, 283, 285 Reflex 12,28 Reflexion, Reflexivität 24, 31, 62, 70, 74, 86f., 217-219, 223, 247, 258-261, 263, 265, 267f., 288, 302, 307, 309, 345 Regel 2, 15, 18, 21f., 28, 38, 51, 58, 73, 87f., 90-93, 95, 101, 113-141, 143-145, 151, 155, 162f., 165, 185, 199, 202, 204, 236, 254, 275, 297, 313, 317, 345 -begriff 113f., 125f. -bewußtsein 113 -Implantation 115 -induktion 115 konstitutive 115, 127 -mäßigkeit 106, 119, 128, 130, 140 regulative 115,127 Regression 161, 322 Reifizierung 22, 273 Reiz 16,49 Rekonstruktion 48, 88, 92, 104, 203, 327, 347, 349 Relation(ierung) 46, 147, 184, 194-197, 208, 215, 224-226, 249, 263, 273, 340, 341, 357 extratextuelle 225 intertextuelle 225 intratextuelle 224f. texttranszendierende 225f. Relativismus 179, 244-247, 328 Relevanz(system) 2 , 9 1 , 2 4 2 , 2 4 8 , 2 6 3 Religion 289, 295 Repräsentation 20, 36, 115, 138, 182, 192, 193, 196, 248, 256, 330 Respekt 191 vgl. Achtung Resymbolisierung 286, 303 Retrospektive 99, 147, 157, 161 Rezeption s. Lesen -sästhetik 226, 278, 290 -sgeschichte 247 -stheorie 278f., 291-293, 299, 319, 320 vgl. Rezeptionsästhetik Rhetorik 226, 309 Richtigkeit 73,93, 129, 130, 133, 344, 346, 355 Ritual 189,289
419
Rolle 132, 134 -naufforderungsnorm 132 -nbewertungsnorm 134 Romantik 70f., 241 Routine (-Handlungen) 78f., 81, 85, 158, 166, 345 Rückkoppelungsschleife 112 Sachlichkeit 71 f. Sachvorstellung 302 Sanktion 90, 126, 129-135, 138f. Scham 139 Schema 30, 35, 82, 87-91, 93, 95, 147, 219, 222f., 283, 300, 327, 330 Schreiben 193, 197 Schriftlichkeit 251 Sein 253f., 261,268-270, 273f., 278 -sgeschehen 273f., 276 -sgeschichte 253f., 270 -sweise 273 Selbst 2, 6, 16, 19, 24, 31, 35f., 39,41, 50, 54f., 57, 61f., 68, 70f., 73, 90-92, 107, 117, 133, 137, 153, 158-160, 163, 175, 185-188, 192, 194, 197f„ 211, 214f., 217f., 222, 232f., 239, 249, 252, 256, 260, 263, 265, 268, 270, 277, 286, 294, 299, 302, 306, 328, 329, 331, 334, 337, 342, 344f., 351, 357f. -behauptung 4 1 , 3 0 2 , 3 0 6 -bestimmung 6, 16, 19, 41, 61, 158, 159, 302 -bewußtsein 1 6 , 3 6 , 6 1 , 2 5 2 , 2 5 6 , 3 0 2 -expression 35f., 39, 68, 73, 133, 232, 277, 344f. -kontrollprozeß 57 -kritik,-relativierung, 6 , 7 1 , 2 7 7 , 3 5 7 -reflexion 211, 299, 329, 351, 357 -thematisierung 35f., 73, 137, 286, 345 -transformation 92, 299 -Vergessenheit 268 -Verhältnis 2, 19, 36, 50, 54f., 91, 117, 153, 163, 194, 215, 218, 222, 265, 277, 337 -Verständnis 62, 175, 185-187, 194, 198, 214, 217f., 249, 260, 263, 299, 306, 328, 334, 342, 357f. -Verwirklichung 16, 19, 158f., 294 -zweck 90, 107 Semantik 23f„ 38, 43f., 50f., 53, 121, 226, 239, 309, 343 empirische 43f., 50f., 53 Semiose 184, 231, 233f., 236, 292 Semiologie 237 Semiotik 184, 227, 230, 237, 250f. Shoah 348,351
420
2. Sachwortverzeichnis
Signal 37 Signifikant 231,234f. Signifikanz 242, 248 Signifikat 230 Signifikation 233,250 Sinn lf., 4, 6, 14f., 19, 24, 26, 32, 40, 44f., 51, 53f„ 56, 58, 61f., 65, 68f., 72, 74f., 86-88, 91-93, 95-97, lOOf., 106, 109111, 116, 118f., 121-123, 130, 141f., 146f., 149f., 152, 155, 161, 166, 181, 183f., 195, 202-206, 208, 212, 214f., 217f., 224f., 227, 229-237, 239-252, 258-260, 263, 267, 269, 272-275, 277, 279f., 284, 288, 290-293, 295f., 299302, 309, 311-315, 317, 319-323, 330, 342, 346 -erwartung 259 -horizont 251, 258, 260, 269, 273 latenter 86, 109f., 288, 295, 309, 31 lf., 315,323 -rationalität 91, 93, 101 subjektiver 65, 68f., 74, 97, 184, 217, 279 textimmanenter 242 -verstehen 6, 24, 32, 116, 205, 267, 277, 280, 293, 330, 342 vgl Verstehen -Zusammenhang 106, 121, 141, 146f., 149, 166, 208,231,269,317 Sinnlichkeit 294f., 304-309, 311, 321 Sitte 133,271 Situation 15, 19, 22, 28f., 33, 43f., 71, 89, 102f., 142, 147, 159Í, 263, 273, 320, 346 -sdefinition 44, 102, 346 Skeptizismus 244 Solidarität 353 Solipsismus 2, 183 Sollen 329 Sorge 252, 257, 263, 267 Sozialanthropologie 181 f. Soziale Bewegung 218 Sozialforschung 227, 278, 280-326 Sozialgeschichte 218 Sozialisation 111, 138, 182, 281, 299-308 -stheorie 281,299-308 Sozialität 170, 184,301,352 Sozialpsychologie 90, 102, 116, 119, 174 Sozialtheorie 285 Sozialwissenschaft 117 Soziohistorische Schule 164,167 Soziologie 8, 13, 18, 35, 63-65, 70, 73-75, 90,97, 117, 119, 124, 145, 169, 180, 184, 224, 255,329, 332-335 Spekulation 201 Spiel 151, 155f., 267,304
-theorie 102 Spontaneität 150, 157 Sprachanalyse 117,119,121 Sprache 18-20, 22-24, 26f., 30f., 33-40, 44-46, 48, 50-53, 61, 63, 65, 87, 91, 95f., 106, 109, 113f., 116-123, 137, 182-184, 189, 193, 195, 197, 201, 218, 226-230, 233f., 238-240, 243, 248, 250, 253f„ 259f., 262, 265-271, 273f., 277, 279, 281, 285f., 301-303, 305309, 313-315, 317, 326, 341, 343f., 350, 358f. Spracherwerb 301 -figur 302f., 307, 313-315 -funktionen 34-40 -gebilde 286,313 -gebrauchsnormierung 137 -gemeinschaft 46, 122, 248 -geschehen 229, 248, 270f., 274 -gestalt 313 -idealismus 118 -kompetenz 87, 91, 304, 313, 343f„ 350 -ontologie 250, 253, 266, 268-270 -philosophie 37,313 -Psychologie 33, 36, 113f. -spiel 19, 24, 26f., 37f., 61, 63, 106, 116, 118-123, 260, 262,313, 358f. -theorie 201,226-228,230,238-240, 243, 259, 281 Sprechakt, Sprechhandlung 34-40, 239 konstativer 35 -theorie 34, 37-40, 121 Standort 249f., 279 Statistik 119 Stellungnahme 6, 329f„ 347-349, 351, 355 Stereotyp 188 Stil 133 Stimmung 43 Stoffdenken 292,312 Struktur 2, 18f., 46-48, 50f„ 55, 91f., 96f., 144 generative 50f. kognitive 2 Strukturalismus 46, 50, 53, 227, 250f. Strukturfunktionalismus 70, 182 Strukturierung 165 Subjektivität) 11, 13, 16f., 20, 24, 35f., 41, 48, 55, 58, 61, 65, 67f., 70f., 74, 86, 96f., 102, 104, l l l f . , 132, 138, 154, 158-165, 175, 181, 195, 204, 215, 225, 227, 235, 238-241, 247f., 250, 253, 256-259, 261-263, 267-269, 273, 278280,283, 285, 291-293, 297-300, 302f„ 306-308, 318f., 322-324, 326,
2. Sachwortverzeichnis
329, 345, 351, 355f. -theorie 138, 162f., 247, 285 Subjektive Theorie 104,111 Subjektivierung 165 Subjektivismus 97, 113, 183,201,243, 244, 247 Subkultur 180, 187f. Sublimierung 297 Substantialisierung 193, 243 Subsumtion 55, 94, 99f., 104, 140, 143, 221,271,281,312 -stheorie der Erklärung 55, 94, 99f., 104, 140, 143 Symbol(isch) 1, 19, 23f., 27, 30f., 33, 36, 4 5 , 5 2 , 9 5 , 112f., 117f., 164-166, 181185, 189, 206, 247, 258, 268, 271, 275f„ 281, 284, 293, 295-298, 301310,315,320 diskursives 36, 297f., 301f., 305, 307, 310 präsentatives 3 6 , 2 9 8 , 3 0 4 - 3 1 0 , 3 2 0 vgl. Sinnlichkeit -theorie 164,281 Symptom 36 Synonymie 231 Syntax 226,239 Synthesis, empirische 222 System 4 8 , 7 0 , 9 5 , 114 -theorie 48 Szene 54, 284, 286, 295f„ 300, 309-313, 316f., 321, 323f. Szientismus 2, 63, 241, 251, 280 Tabu 298 Tagtraum 31 Takt 133 Tätigkeitstheorie 8, 75 Technik 126, 129,210 Teil-Ganzes-Verhältnis 258f. Teilhandlung 58 Teleologisches (intentionalistisches) Modell 56, 60, 63, 69f., 72-75, 124, 139f., 142-144, 150, 155, 164f., 344 vgl. Erklärung, intentionalistische/ teleologische; Handlungserklärung; Intentionalismus Temporalisierung 45, 142, 145 vgl. Zeit Test 171 f. Text 2-5, 34, 39f„ 50-52, 111, 145, 182, 185, 193, 201-204, 207, 209-215, 220f., 224-231, 233-244, 246-251, 258261, 263f., 270, 274, 276-282, 284, 286-293, 295, 297, 299, 304, 307, 309, 311 f., 314f., 318-321, 323-325, 342, 346f., 354f.
421
-analogon 207,311 -analyse 2-4, 34, 39f., 51f., 203, 211214, 220f., 233, 239, 250, 289, 318, 325 -interpretation s. Interpretation -Leser-Interaktion 5, 280f., 288, 290, 311, 319 -rezeption 202,299 -theorie 4f., 145, 182, 201, 226-228, 233f., 236-240, 243, 250, 279, 289, 320 -Wissenschaft 2, 111, 281, 287, 304 Thema 79 Theorie(bildung) 47, 51f., 62, 206, 221, 293,312,332 naive 62 subjektive s. Subjektive Theorie Therapie, therapeutisches Setting 111, 280-284, 286-288, 294, 315, 317, 324, 345 Tiefenhermeneutik 5, 237, 278-326 Tiefenpsychologie 289 Tiefenstruktur generative 50 temporale 45 Tod 42, 268 Toleranz 135,275,356 Tradition 157, 247f., 257-260, 262-265, 268-270, 272-274, 277, 342 Transformationsgrammatik 114 Transkription 21 lf. Transsubjektivität 19, 257f., 261, 267f., 278 Transzendentalpragmatik 349 Transzendenz 241 Traum 295f., 305 Triangulation 180 Tribunalisierung 60 Trieb 1 6 , 2 8 5 , 2 9 4 , 2 9 7 , 3 0 1 , 3 0 9 Trivialkultur 186f., 190 Tun 11, 14f. Typisierung, Typ(ologie) 58, 60, 83, 213, 2 1 7 , 2 2 1 - 2 2 3 , 2 2 7 , 3 1 6 , 3 4 5 vgl. Handlungstypf-typologie Überdeterminiertheit l l l f . , 309 Übergangsobjekt 304,308 Über-Ich 31, 137f.,302 Überlieferung(sgeschehen) 227, 251, 257259, 261-265,270, 274, 277 Übersetzung 277 Übertragung 286, 311, 318, 324 Umwelt 57, 82, 163, 177, 184 Unbewußtes) 7, 58, 97, 109f., 249, 257, 280, 284-286, 289, 291-304, 306-310, 317, 324
422
2. Sachwortverzeichnis
Ungeschehenmachen 42 Ungleichheit 171, 191 Universalgeschichte 189 Universalhermeneutik 253 Universalismus, Universalität 17,47, 171176, 178, 198f., 268, 272, 274, 276, 333-339, 356 Universalitätsanspruch der Hermeneutik 210, 252f., 259, 261 Universalpragmatik 259 Unterbewußt(es) 58 vgl. Unbewußtfes) Unterlassung 13, 15-18, 29, 54, 65, 78, 84 Unterscheidung 208, 215, 222, 273, 330 Unverfügbarkeit 42, 149, 261 Ursache 16, 44f., 49, 51, 65, 97, 106, 116, 143-145 Urteil 6, 73, 86, 88, 134, 137, 139, 223, 243,245, 252, 260, 262, 276f., 327f., 330, 347-350, 352, 355, 357 Urteilskraft 4, 8, 219-224, 340 ,346, 350, 353, 357, 359 vgl. Vernunft bestimmende 219-221, 223f., 340 vergleichende 219-221, 223f., 340 Utilitarismus 68, 102 Valenz 41, 111 Validierung, kommunikative 110, 249 Variablenpsychologie 112, 168 Veränderung 148f., 152f., 158, 242 Verantwortung 13f., 16, 18, 67f., 71, 161, 198, 306, 351 -sethik 67f. Verarbeitungslogographie 50 Verbotsnorm 132 Verdacht 110 Verdichtung 295, 310 Verdrängung 294, 297, 302f., 307 Verfügung(sgewalt) 70, 150,247,266, 306,321 Vergangenheit 36, 249, 257-261, 275, 324 Vergegenständlichung 195, 197 Vergesellschaftung 120 Vergleich 4, 6, 179, 186, 191, 194-196, 211, 213-218, 220f., 223f., 279, 297, 312, 326f., 330-342, 353, 357f. vgl. kulturvergleichende Psychologie/ Soziologie maximaler 215 minimaler 215 -shorizont 213,215-218,221,224, 279, 297,312,326, 332 Verhalten 7f., 10-17, 19-24, 26-28, 33, 61, 68, 70, 72, 86, 104, 106, 114f., 139f. regelgesteuertes 114f. -sgesetz 61, 72, 86, 104, 106, 139f.
-stheorie 13, 61 Verlaufskurve 42, 52 Vernunft 4, 9, 17f„ 20, 35, 43, 49f., 67-73, 85f., 88-90, 92, 94f., 103, 114, 129f., 132, 159, 164, 198, 202-204, 210f., 219-224, 230, 243, 257, 259-262, 265, 267, 276f., 298, 306, 320, 322, 327, 329, 337, 342-344, 346f., 350, 352, 355f. bestimmende/identifizierende 4,211, 219, 222f., 230, 327 instrumenteile 70 kommunikative 70, 344, 352, 355 -kritik 198 politische 219 praktische 132,219 reflektierende 4,9,211,219-222, 224f., 327, 337 reine 219 Verräumlichung 195, 197 Verschiebung 295,310 Versöhnung 208,275 Verständigung 19, 21, 32, 45, 65, 88, 136, 164f., 202, 206-208, 210, 257, 259, 265f., 269f., 272, 274, 277f., 296, 313f., 341, 344f., 356 Verstehen 6, 19-21, 24, 26, 32f., 37, 45, 51, 53f., 59, 65f., 71-73, 76, 91, 92, 9497, 99, 103, 106, 108f., 116, 119, 121124, 128, 166, 179, 192, 194f., 197, 202f., 205-211, 214, 218, 221, 230, 239f., 244, 247f., 250-280, 288, 293, 311-322, 324-359 lebenspraktisches 312,316,325 logisches 313-315,318 psychologisches 66, 72, 314f., 318 rationales 347, 349 szenisches 311-322 tiefenhermeneutisches 311,319 Verum factum-Kriterium 46 Verweisungsanalyse 3, 27, 44-46, 51, 53 vgl. Verweisungszusammenhang Verweisungszusammenhang 14, 44f., 49, 54,230,321,355 vgl. Verweisungsanalyse Volition s. Wille Volitionspsychologie 57 Volk 186 Völkerpsychologie 167 Volkskultur 186 Volkspsychologie s. Ethnopsychologie Vorannahme 31 lf., 316f., 324-326 Voraussicht 42, 157 Vorbegriff 341 Vorbewußt(es) 306,308
2. SachWortverzeichnis
Vorbild 86-89, 93, 95, 101, 154, 162 Vorhaben 79f. vgl. Absicht Vorstruktur 252f., 260, 263, 278, 326 Vorurteil 6, 136, 175, 178, 207, 247, 259263,312 -slosigkeit 136 Vorverständnis 249, 257-260, 262-264, 273,324 Wahl 17f., 64f., 104 Wahrhaftigkeit 73f., 344-346, 355 Wahrheit 38, 72f„ 129, 243-246, 253f., 256, 260, 262, 269-278, 287, 344, 346, 355f. -sgeschehen 270f., 273f., 276 Wahrscheinlichkeit 242-245 Welt 2, 6, 30, 35-37, 45f., 48-55, 61f., 70f., 91, 96, 101, 117f., 122, 138, 141, 149f„ 153, 155, 159, 163-165, 185188, 192, 194, 197f., 206, 214f., 217f., 222, 239f., 249, 252, 260f., 263, 265, 271, 274-277, 306, 328, 334, 337, 343345, 348, 358 -beherrschung 70 -bewältigung 70 -bild 46, 260f., 276, 328, 348, 358 deontologisierte 149 materielle 96, 164f., 252 natürliche 46 objektive 35f., 70, 155, 165, 344, 345 soziokulturelle 35f., 46, 70, 96, 155, 164f., 252, 344f. subjektive 35f„ 70, 155, 344f. -Verhältnis 2, 50, 54f., 91, 117, 153, 163, 194, 215, 218, 222,265, 277, 337 -Verständnis 62, 185-187, 194, 198, 214, 217f., 249, 260, 263, 276, 306, 334, 358 Wert(urteil) 6, 18, 20, 22, 58, 66-68, 72f., 95, 129-131, 133-138, 143, 163, 166, 182, 190f., 193, 198, 218, 294, 297f., 302, 309, 316, 327-330, 345, 350, 352 -rationalität 66-68 -urteilsstreit 328 Widerfahmis 3f., 41-44, 54, 150, 160, 203, 208
423
Widerstreit 271,275 Wille 18, 41 f., 44, 56, 110, 247, 257, 266 Willkür 15, 245f., 320 Wirklichkeit 117, 138, 184, 186, 192f., 195, 197f., 243, 256, 276, 279, 330, 333, 341,359 Wirkung 16, 44f., 51, 70-73, 106, 227, 247, 255, 257f., 261-263, 278, 290, 344 -sgeschichte 227, 247, 255, 257f., 261263, 278, 290 Wissen 11, 54f., 74, 91, 95-98, 110, 120, 137, 166, 18lf., 185, 187, 199, 214f., 225, 245, 249, 252, 257, 261, 269, 271, 316,325, 340, 346, 357 praktisches 95f., 120, 137,269 Wissenschaft 11, 202f., 243, 255f., 296 Wissenschaftslehre,-theorie 64, 183,328, 332 Wissenslogographie 50 Wissenssoziologie 333, 339 Wortvorstellung 302 Wunsch 134, 136, 257, 292, 294, 297f., 300, 305, 309, 329, 344f„ 352 Zeichen 36f., 48, 118, 126, 165, 184f., 188f., 204, 206, 210, 234, 242, 302f. Zeit(lichkeit) 4, 36,45, 105, 112, 142f., 145, 147-149, 166, 187, 189, 229, 242, 246f., 264, 271, 274f., 277, 326, 335 Ziel 8, 15, 22, 43, 56-58, 60, 68, 71, 73f., 76, 78, 82-84, 101, 105, 109-112, 140, 143, 145, 155, 162f., 166, 185, 204, 255,336 Zivilisation 189, 294f., 298 Zufall 104, 149 Zukunft 36, 103, 136, 257, 265 Zwang 1 3 5 , 2 9 4 , 2 9 7 , 3 5 1 Zweck 11, 18, 36, 40, 56, 58-60, 63, 6574, 76, 78, 82-84, 90-93, 101-103, 105, 140, 143f., 165, 182, 204, 255 vgl. Handlung, ziel-/zweckgerichtete -Mittel-Schema 59f., 63, 65, 91 -rationalität 60, 66-73, 76, 91f., 105, 140, 165, 182, 204 Zweifel 207f. Zwei-Sprachen-Theorie 115