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German Pages 918 [920] Year 1996
Handbuch zur arbeitsorientierten Bildung Herausgegeben von
Heinz Dedering Mit Kapiteln von Rolf Arnold, Manfred Bönsch, Arnulf Bojanowski, Heinz Dedering, Monika Dietzold, Raimund Dröge, Gerd-E. Famulla, Hannelore Faulstich-Wieland, Peter Fauser, Gottfried Feig, Wilfried Gabriel, Walter Georg, Gerald Heidegger, Wolfgang Hörner, Richard Huisinga, Astrid Kaiser, Ingrid Lisop, Hans-Joachim Müller, Gerd Neumann, Felix Rauner, Peter Schneider und Manfred Schweres
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme H a n d b u c h z u r a r b e i t s o r i e n t i e r t e n B i l d u n g / hrsg. von Heinz Dedering. Mit Kapiteln von Rolf Arnold... - München ; Wien : Oldenbourg, 1966 ISBN 3-486-22797-1 NE: Dedering, Heinz [Hrsg.]; Arnold, Rolf
© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Hofmann Druck Augsburg GmbH, Augsburg Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München
ISBN 3-486-22797-1
V
Inhaltsübersicht Seite
Einführung: Gegenstand und Bedeutung der arbeitsorientierten Bildung
1
Heinz Dedering Erster Teil:
Theoretische Grundlagen 1.
1.1
9
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
11
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
13
Gerd Neumann
1.2
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
41
Heinz Dedering
1.3
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang
67
Ingrid Lisop und Richard Huisinga
1.4
Die Arbeitswelt im Umbruch
81
Gerd-E. Famulla
2. 2.1 2.2
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung .... 105 Sozialisation und Arbeit
107
Reflexion und Handeln
129
Hannelore Faulstich-Wieland
Manfred Bönsch
2.3
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
149
Hannelore Faulstich-Wieland
3.
3 .1
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
167
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
169
Wilfried Gabriel und Peter Schneider
VI
3.2
Unterrichtsverfahren
189
Manfred Bönsch
3.3
Unterrichtsplanung, -durchführung und -kontrolle... 209 Manfred Bönsch
Zweiter Teil:
Curriculare und didaktische Ansätze 4.
4.1
229
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
231
Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule
233
Astrid Kaiser
4.2
Arbeitslehre in der Sekundarstufe 1
253
Heinz Dedering
4.3
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung
281
Wolfgang Hörner (unter Mitarbeit von Monika Dietzold)
4.4
Waldorfpädagogik
309
Wilfried Gabriel und Peter Schneider
4.5
Praktisches Lernen
331
Peter Fauser
4.6
Das Betriebspraktikum
351
Hannelore Faulstich-Wieland
5.
5.1
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
375
Berufliche Grundbildung
377
Heinz Dedering und Gottfried Feig
5.2
Persönlichkeitsfördernde Betriebsausbildung
397
Rolf Arnold und Hans-Joachim Müller
5.3
Gestaltungsorientierte Berufsbildung Felix Rauner
411
VII
5.4
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
431
Felix Rauner
5.5
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
451
Gerd Neumann und Raimund Dröge
5.6
Die Produktionsschule
479
Arnulf Bojanowski
5.7
Benachteiligtenförderung
501
Arnulf Bojanowski, Heinz Dedering und Gottfried Feig
6.
6.1
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sekundarstufe II
531
Modelle zur Doppelqualifikation
533
Arnulf Bojanowski
6.2
Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
561
Manfred Schweres
6.3
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
587
Heinz Dedering
7. 7.1 7.2
Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
603
Neue Ansätze in der betrieblichen Weiterbildung
605
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung
621
Rolf Arnold
Richard Huisinga und Ingrid Lisop
7.3
Lernen im Prozeß der Arbeit
637
Walter Georg
8.
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
661
8.1
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
663
Wolfgang Hörner
VIII
8.2
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
693
Wolfgang Hörner
8.3
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
721
Felix Rauner
8.4
Arbeit und Lernen in der Dritten Welt
747
Raimund Dröge und Gerd Neumann
Dritter Teil:
Hochschulausbildung
769
9.
771
9.1 9.2
Arbeitsorientierte Studiengänge
Lehrerausbildung für das Lernfeld Sachunterricht.... 773
Astrid Kaiser
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
793
Gerd-E. Famulla
9.3
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
817
Walter Georg
9.4
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
841
Manfred Schweres
10.
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
863
10.1
Konzept eines Studienganges „Diplom-Arbeitspädagogik"
865
Arnulf Bojanowski, Heinz Dedering und Gerald Heidegger
10.2
Betriebspraktische Studien für Lehrerstudenten aller Fachrichtungen
881
Arnulf Bojanowski und Heinz Dedering
Sachverzeichnis
897
Namensverzeichnis
903
Die Autoren
907
Einführung: Gegenstand und Bedeutung der arbeitsorientierten Bildung Heinz Dedering
Die arbeitsorientierte Bildung erstreckt sich auf das ganze Bildungssystem. Sie realisiert sich als * vorberufliche - arbeitsbezogene - Elementarbildung in der Grundschule (insbesondere im Sachunterricht), * vorberufliche - technische und ökonomische - Bildung in den Schulen der Sekundarstufe I (Arbeitslehre bzw. Arbeit-TechnikWirtschaft, Berufswahlvorbereitung u.a.), * Vorbereitung auf die Arbeitswelt in der Gymnasialen Oberstufe (z.B. in den Fächern Wirtschafts- und Technikwissenschaften oder in Form von Praktika), * arbeitsweltbezogene Aspekte in der beruflichen Bildung (z.B. in den Fächern Technik- und Wirtschaftslehre in beruflichen Schulen oder in außerberuflichen Kursen in der betrieblichen Ausbildung), * arbeitsweltorientierte Ausbildung von Pädagogen (Lehrern, Erwachsenenbildnern u.a.), * arbeitsorientierte Weiterbildung (im Rahmen der institutionalisierten beruflichen und allgemeinen Weiterbildung sowie im Arbeitsprozeß). Der spezifische Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung ist die Arbeitswelt. Unter der Arbeitswelt wird üblicherweise die Sphäre der beruflichen Arbeit verstanden. Der Begriff verdeutlicht, daß die Berufsarbeit des Menschen in einer komplexen sachlichen und sozialen Umwelt (mit bestimmten Menschengruppen, sachlichen Mitteln, Organisationen und ihren Beziehungen zueinander) stattfindet, die über den einzelnen Arbeitsplatz und Betrieb hinaus auch den gesellschaftlichen Bedingungsrahmen erfaßt und mit den anderen sozialen Situationsfeldern des Menschen vielfältig verknüpft ist. Mit der Bezugnahme der arbeitsorientierten Bildung auf die Arbeitswelt wird der Tatsache entsprochen, daß die Berufsarbeit alle Lebensverhältnisse überformt. Da aber neben und zusammen mit beruflicher Arbeit auch andere Arbeitsformen (Hausarbeit usw.) von offenbar zunehmender - Bedeutung sind, darf ein angemessener
2
Einfuhrung
Begriff der Arbeitswelt die Beziehungen zwischen Berufsarbeit und außerberuflicher Arbeit nicht ausblenden. Somit kommen prinzipiell sämtliche Formen von gesellschaftlicher Arbeit - Arbeit verstanden als zielgerichtetes, planmäßiges Handeln in unterschiedlichen Lebenssituationen - in das Blickfeld der arbeitsorientierten Bildung, und zwar als * Erwerbsarbeit (Berufsarbeit und Nebentätigkeiten wie Schwarzarbeit, Verkauf selbstgefertigter Gegenstände u.a.), * Eigenarbeit (Hausarbeit, Erziehungsarbeit, Pflegearbeit, do-ityourself-Aktivitäten u.a.) und * Gesellschaftsarbeit (Nachbarschaftshilfe, Stadtteilarbeit, politische und caritative Tätigkeiten u.a.). In der arbeitsorientierten Bildung interessieren die verschiedenen Arbeitsformen jedoch - jedenfalls vom Anspruch her - weniger als spezialisierte Phänomene, sondern vielmehr in ihren Handlungs- und Bedingungszusammenhängen, d.h. das Augenmerk gilt primär den Strukturen, in die die (planenden, ausführenden und kontrollierenden) Arbeitstätigkeiten mit den zugrunde liegenden technischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen eingebunden sind. Es geht also um die Grundstrukturen der Arbeit, durch die die moderne, komplexe Arbeitswelt gekennzeichnet ist. Diese sind durch Auseinandersetzung mit den hervortretenden Strukturproblemen, wie z.B. Einführung von Multi-Prozessor-Systemen, Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung oder Doppelarbeit der Frau zu erschließen und einer historischen Analyse (mit einem Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezug) zu unterziehen. Ziel der arbeitsorientierten Bildung ist es, die Lernenden zur Orientierung im strukturellen Veränderungsprozeß der Arbeitswelt zu qualifizieren. Hierbei sollte zweierlei bedacht werden: * Zum einen darf sich die arbeitsorientierte Bildung nicht mit der Vermittlung von sachlichen Qualifikationen für die zweckrationale (instrumentelle und strategische) Bewältigung der Arbeitswelt begnügen, sondern sie muß auch jene sozialen (inkl. humanen) Qualifikationen entwickeln, die die Menschen zu ihrer eigenen Erzeugung als verantwortungsbewußt handelnde gesellschaftliche Subjekte benötigen, z.B. kommunikative Kompetenz, kritische Urteilsfähigkeit, Verhaltenssouveränität oder Lernbereitschaft.
Einfuhrung
3
* Zum anderen müssen die sozialen Qualifikationen - neben den sachlichen Qualifikationen - ein eigenständiges Lernziel der arbeitsorientierten Bildung sein, anderenfalls kommen sie nur 'von der Sache her', nicht aber aufgrund des Interesses der Lernenden an umfassender Persönlichkeitsbildung ins Blickfeld. Die arbeitsorientierte Bildung ist also auf ein Lernen für die Arbeitswelt verwiesen, mit dem nicht nur vordergründig sachliche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, sondern bewußt auch umfassende soziale Kompetenzen, Orientierungen, Eigenschaften und Einstellungen entwickelt werden, durch die die Person elementar erfaßt und verändert wird. Dadurch schafft die arbeitsorientierte Bildung notwendige Voraussetzungen für die Erfüllung gesellschaftlicher Arbeitserfordernisse wie auch für die Verfolgung eigener Ansprüche an die Arbeit. Damit ist angedeutet, daß sich die arbeitsorientierte Bildung nicht nur mit der bestehenden Arbeitswelt auseinandersetzt, sondern auch Vorstellungen von besseren - humaneren - Arbeitsverhältnissen entwickelt. Mit diesem umfassenden und kritischen Verständnis von Arbeit zielt sie prinzipiell auf drei Momente: * auf eine umfassende Bildung, indem sie auf die Strukturzusammenhänge der komplexen Arbeitswelt bezogen ist, * auf eine ganzheitliche Bildung, indem sie auf die vielseitigen Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden durch theoretischreflexives und praktisch-handelndes Lernen ausgelegt ist, und * auf eine Bildung für alle Menschen, indem sie auf sämtlichen Bildungsstufen angeboten wird. Die arbeitsorientierte Bildung hat sich im deutschen Bildungswesen - ebenso wie in den Bildungssystemen des Auslands - noch nicht überall als eigenständige Pädagogik etablieren können. Am weitesten entwickelt und am besten verankert ist sie im Sekundarbereich I als vorberufliche Bildung. In den anderen Bildungsbereichen ist sie indessen nur schwach vertreten. Aspekte der Arbeitswelt werden hier meist in den traditionellen Unterrichtsfächern mit bearbeitet. Da dies in der Regel nur am Rande und aus der spezifischen Sichtweise der einzelnen Fächer geschieht, kommen die Zusammenhänge der Arbeitswelt kaum in den Blick. Diese Situation ist unbefriedigend und wird der konstitutiven Bedeutung, die der Arbeit als gesellschaftliches Grundverhältnis in der modernen Industriegesellschaft zukommt, kaum gerecht. Zurückzuführen ist das arbeitspraktische
4
Einführung
Defizit der Pädagogik auf die noch immer bestehende Dominanz des traditionellen - neuhumanistischen - Bildungsverständnisses, das der menschlichen Arbeit im Vergleich zu dem Wahren, Guten und Schönen im Leben geringe Bedeutung beimißt und nach dem sich weder die Berufsausbildung noch die Allgemeinbildung für Fragen der komplexen Arbeitswelt zuständig fühlt: Orientiert sich diese an den Geistes- oder Naturwissenschaften, so ist jene auf spezialisiertes Handeln und Wissen für die Praxis gerichtet. In der Berufspädagogik gibt es neuerdings jedoch Bemühungen, verstärkt auch spezifisch arbeitsweltbezogene Themen aufzunehmen, die also über eine enge Berufsausbildung hinausweisen. Diese Tendenz zur Erweiterung der Berufsausbildung zeigt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Neuordnung der Ausbildungsberufe und ihrer Umsetzung in Betrieb und Schule. Hier entwickelt sich unter dem Dach der Berufsausbildung eine arbeitsorientierte Bildung, die die Berufsausbildung ergänzt. Hiermit erfüllt die arbeitsorientierte Bildung - da sie sich auf gesellschaftlich allgemein bedeutsame, die Menschen gemeinsam betreffende Tatbestände und Probleme bezieht - einen allgemeinbildenden Auftrag, gleichwohl ist sie auf den Beruf und die Berufsausbildung bezogen. Insofern kommt der arbeitsorientierten Bildung die Funktion zu, die im deutschen Sprachraum bestehende Differenz zwischen Allgemeinbildung und Berufsausbildung zu überwinden und die beiden Bildungsbereiche zu integrieren. Ähnlich wird von Seiten der allgemeinen Pädagogik seit längerem die Forderung nach einer neuen Allgemeinbildung erhoben, in der auch die Arbeitswelt ihren Platz hat. In Anbetracht der Herausforderungen unserer Gesellschaft durch neue (Informations- und Kommunikations-)Technologien und ihre Folgeprobleme (Arbeitslosigkeit u.a.) hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Vorbereitung auf die Arbeitswelt ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung ist. Entsprechend wird über die Frage diskutiert, wie die Arbeitswelt in der allgemeinbildenden Schule stärker als gegenwärtig berücksichtigt werden kann. Diese Diskussion hat durch die politischen Veränderungen in Deutschland und Europa (Vereinigung Deutschlands, europäische Union, Öffnung der osteuropäischen Länder) und die damit notwendig gewordenen bildungspolitischen Maßnahmen (Harmonisierung der Bildungssysteme, neue Lehrpläne u.a.) neuen Auftrieb erhalten.
Einführung
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Diese Tendenzen sollten aufgenommen und in Richtung auf eine umfassende Bildung, die sich explizit auch auf die Arbeitswelt bezieht, fortgeführt werden. Dabei ist es unerläßlich, das Verhältnis von Arbeit und Bildung vor dem Hintergrund ihrer heute veränderten Bedingungen (Übermacht von Wirtschaft und Technik, Identitätskrise der Menschen u.a.) und unter Rückbesinnung auf die frühe Aufklärung, in der Arbeit noch das zentrale Medium der (als Möglichkeit der Emanzipation und Selbstbestimmung des Menschen verstandenen) Bildung war, neu zu bestimmen. Notwendig ist also die intensive Förderung der arbeitsorientierten Bildung, zumal diese noch aus einem spezifischen Grund zunehmend gefragt ist: Es ist die Tatsache zu konstatieren, daß die Arbeitswelt im Zuge ihrer permanenten Veränderung komplexer wird. Hingewiesen sei z.B. auf die Anwendung neuer Techniken zu bereichsübergreifenden Systemen, die Realisierung integrierter Formen der Arbeitsorganisation, das Entstehen breiter geschnittener Berufe mit vielseitiger Verwertbarkeit, die Errichtung alternativer Betriebe, weitreichende Gesundheits- und Umweltbelastungen durch die industrielle Produktion und auf weltweite ökonomische und politische Verflechtungen. Durch solche Vorgänge gewinnen allgemeine Arbeitsqualifikationen an Bedeutung. So werden von den Facharbeitern und Sachbearbeitern neben fachlichen Spezialqualifikationen zunehmend auch sachliche und soziale Grundqualifikationen verlangt, die es ihnen ermöglichen, den komplexen Zusammenhang ihres konkreten Arbeitshandelns zu verstehen und zu beherrschen. Solche Grundqualifikationen, die unter dem Begriff der Schlüsselqualifikation seit längerem im Zentrum der berufspädagogischen Diskussion stehen, sind z.B. abstraktes und symbolisches Denkvermögen, Diagnose- und Planungsfähigkeit, Erfassen von Zusammenhängen, Flexibilität, Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit. Für die arbeitsorientierte Bildung sind Grundqualifikationen eine besondere Herausforderung, denn mit ihrer Aufgabe der Qualifizierung für die - komplexe - Arbeitswelt bei gleichzeitiger Persönlichkeitsbildung hat sie vornehmlich zu deren Ausbildung beizutragen. Insoweit der arbeitsorientierten Bildung dies gelingt, schafft sie auch für die fachlichen Spezialqualifikationen, die aufgrund der technischorganisatorischen Dynamik der Arbeitswelt immer wieder erneuert werden müssen und zunehmend in kurzfristigen ad-hoc-Maßnahmen der betrieblichen Weiterbildung vermittelt werden, den erforderlichen integrierenden Horizont.
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Einfuhrung
Arbeitsorientierte Bildung ist Gegenstand des wissenschaftlichen Fachgebietes der Pädagogik der Arbeitswelt. Dieses weist aufgrund seines Arbeitsweltbezuges enge Bezüge zur Berufspädagogik und auch inhaltliche Überschneidungen mit ihr auf Wie die Berufspädagogik (und die Erziehungswissenschaft generell) kann auch die Arbeitsweltpädagogik als systematische, historische und vergleichende Wissenschaft betrieben werden. Hierbei sollte sie auf analytische, hermeneutische und konstruktive Forschungsmethoden zurückgreifen. Insofern ist es nicht sinnvoll, die Arbeitsweltpädagogik als eine von der Berufspädagogik abgegrenzte Wissenschaft zu etablieren. Vielmehr sollten die Bemühungen darauf hinausgehen, die Berufspädagogik um das Fachgebiet der arbeitsweltbezogenen Pädagogik zu erweitern und als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin entsprechend weitergreifend zu begründen. Der Forschungs- und Entwicklungsstand auf dem Gebiet der Arbeitsweltpädagogik ist gegenwärtig noch unübersichtlich. Es liegt eine Vielzahl von Analysen und Interpretationen der Voraussetzungen und Bedingungen des arbeitsorientierten Lernens sowie von bildungspolitischen Empfehlungen und didaktischen Konzeptionen für die einzelnen Bereiche der arbeitsorientierten Bildung vor; diese bedürfen aber noch der inhaltlichen Abstimmung und der Einbindung in einen stärker einheitlich geprägten Theorierahmen mit den Schlüsselbegriffen 'Arbeitswelt' und 'Bildung'. Die arbeitsorientierte Bildung muß also weiter theoretisch fundiert werden. Hierbei empfiehlt es sich, den Ansatz der traditionellen Arbeitspädagogik aufzunehmen, die ja - ähnlich wie die Arbeitsweltpädagogik - ihren spezifischen Forschungsaspekt in der Frage nach dem Zusammenhang von Arbeiten und Lernen sieht und sich auf den Betrieb bzw. die Schule bezieht. Die Arbeitspädagogik setzt sich hiermit jedoch in beschränkter Weise auseinander: * Sie zielt auf die optimale Vermittlung von Arbeitsfähigkeit, aber nicht auf eine umfassende arbeitsweltbezogene Qualifizierung und Persönlichkeitsbildung. * Sie setzt einseitig am Pol 'Arbeiten' an und fragt nach den Lerneffekten durch die Arbeit am Arbeitsplatz und im Arbeitsprozeß. Aspekte des Lernens für die Arbeit blendet sie hingegen aus. * Sie konzentriert sich auf das konkrete Arbeitshandeln, vernachlässigt aber die Bedingungen der Arbeit. Die Arbeitswelt kommt
Einfuhrung
7
somit in ihrer Komplexität nicht in den Horizont der Arbeitspädagogik. * Sie ist im wesentlichen eine Methodenlehre: in ihrem betrieblichen Ansatz eine Methodik der Arbeitsunterweisung und in ihrem schulischen Ansatz eine Methodik der Schülerarbeit. Da die Arbeitsweltpädagogik diese Beschränkungen überwindet und sich einer umfassenden, ganzheitlichen arbeitsorientierten Bildung für alle Heranwachsenden und Erwachsenen verpflichtet, kann sie als Erweiterung der überkommenen Arbeitspädagogik betrachtet werden. Voraussetzung für die noch notwendige wissenschaftliche Profilierung der arbeitsorientierten Bildung und ihre weitere Etablierung in Schule und Betrieb ist eine Bestandsaufnahme der empirischen Befunde und konzeptionellen Ansätze auf diesem Gebiet. Diese Aufgabe wird mit dem vorliegenden Handbuch geleistet: Es gibt einen Überblick über den Theorie- und Praxisstand der arbeitsorientierten Bildung zur Mitte der neunziger Jahre. Damit richtet sich das Werk an Pädagogikstudenten und an pädagogische Praktiker (Lehrer, betriebliche Ausbilder, Erwachsenenbildner u.a.) sowie an Bildungspolitiker und Verwaltungsfachleute, um ihnen theoretisch fundierte, praktische Hilfe auf dem Gebiet der arbeitsorientierten Bildung zu geben. Die Darstellungen sind trotz des Bemühens um Abstimmung nicht vollkommen 'aus einem Guß'. Dieser Nachteil ist der Pluralität der Aussagen geschuldet, die nicht vernebelt werden sollte. Das verbindende Element der Ausfuhrungen ist die Überzeugung, daß die Arbeitswelt ein zentraler Gegenstand von Bildung sein muß. Entsprechend ist an das Handbuch die Hoffnung geknüpft, daß die darin unterbreiteten Befunde und Vorschläge breite Beachtung finden.
Hinweis: Die Pfeile im Text (-»•) verweisen auf andere Beiträge bzw. Teile von anderen Beiträgen in diesem Handbuch.
Erster Teil Theoretische Grundlagen
1.
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
1.1
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem Gerd Neumann
1.1.1
Arbeit und Bildung in systemtheoretischer Sicht
1.1.2
Arbeit zwischen Wirtschaftssystem, Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt Die Bestimmung der Arbeit im Wirtschaftsund Beschäftigungssystem Zur Funktion des Arbeitsmarktes für das Wirtschafts- und Bildungssystem
1.1.2.1 1.1.2.2
13
21 22 28
1.1.3
Das Bildungssystem und seine Stellung zur Arbeit
30
1.1.4
Ausblick: Arbeitsvermögen als kollaterales Gut
36
Zitierte Literatur
38
Weiterführende Literatur
39
1.1.1
Arbeit und Bildung in systemtheoretischer Sicht
Ziel des Beitrags ist es, die arbeitsorientierte Bildung in ihrem Verhältnis zur Arbeitswelt theoretisch zu bestimmen. In Übereinstimmung mit den traditionellen bildungsökonomischen Theorien wird ein gemeinsames, vitales Interesse an Qualifizierungsleistungen durch das Wirtschafts- und Bildungssystem unterstellt, aber im Gegensatz zur älteren Theoriebildung behauptet, daß die Koordinierung dieses Interesses weder einseitig noch direkt herbeigeführt werden kann. Die Plausibilität dieser Behauptung wird im Kontext des systemtheoretischen Ansatzes untersucht. Dabei werden Wirtschafts- und Arbeitssystem anfangs noch als bedeutungsgleiche Begriffe verwendet. Bildungs- und Arbeitssystem sind von besonderem gegenseitigen Interesse. Es ist auch unstrittig, daß unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen Bildungs- und Berufskarrieren eng aufeinander bezogen sind und daß beide Systeme am Sachverhalt der Qualifizierung gleichermaßen interessiert sind (vgl. Berufsbildungsbericht 1994, Teil II, 1. und 4.). Sie sind es aber unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten und auf der Basis unterschiedlicher, in sich geschlos-
14
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
sener Operationsweisen. Beide Systeme beobachten sich zwar intensiv, aber immer aus ihrer Perspektive unter Zugrundelegung systemeigener Beobachtungskategorien. Allein schon diese grundlegenden Systemeigenschaften müssen zwangsläufig zu "verwinkelten", "indirekten" intersystemischen Verständigungs- und Abstimmungsprozessen fuhren. Daher entsteht für einen außenstehenden Beobachter schnell der Eindruck, daß auf eine paradoxe Art und Weise oft aneinander vorbei geredet wird. Es gibt zwischen den beiden sozialen Systemen offensichtlich nicht nur gemeinsame Bezugspunkte, sondern gerade im Hinblick darauf auch grundlegende Verstehens- und Abstimmungsprobleme, die aus den Eigenarten der Systemkonstruktion, der weitgehenden Verselbständigung der Systeme resultieren. Empirisch sind die Abstimmungsprobleme mit den Sachverhalten von Unter-, Über- und Fehlqualifizierung von Absolventen des Bildungssystem belegbar, wobei es sich aber um Beobachtungen (Begriffe, Unterscheidungen) aus der Sicht des Wirtschafts- und Arbeitssystems handelt. Das Wunschbild von der optimalen Beziehung von Arbeits- und Bildungssystem liegt offensichtlich in einem Gleichgewichtsmodell: Die im Bildungssystem produzierten Qualifizierungsleistungen sollen den Qualifizierungsanforderungen im Arbeitssystem qualitativ und quantitativ entsprechen und so zu einem Gleichgewicht von Qualifikationsangebot und -nachfrage fuhren. Hiermit wird ein Gedankenmodell benutzt, dessen heuristischer Wert fragwürdig ist. Geht man davon aus, daß Systeme autopoietische Systeme sind, die die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren müssen, dann sind sie unruhige und dynamische Systeme. "Der adäquate Bezugspunkt des Systems ist daher nicht die Rückkehr in eine Ruhelage, wie Theorien des Gleichgewichts suggerieren, sondern die ständige Reproduktion der momenthaften Aktivitäten ... aus denen das System besteht." (Luhmann 1988, S. 17). So wie sich in unserem Bewußtsein, dem psychischen System, Gedanke an Gedanke mit Zwangsläufigkeit reiht, so schließt sich in sozialen Systemen wie Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht und Politik ein kommunikativer Akt an den anderen an. Als soziale Systeme sind sie intern existentiell auf Anschluß in ihren Kommunikationen angewiesen. Sie sind rekursiv, weil sie ihre Komponenten mit Hilfe ihrer Komponenten hervorbringen (Kommunikation aus Kommunikation). Gleichgewichtslagen sind zwar möglich, aber nur ein momentaner Zustand unter
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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anderen. Entscheidender ist, daß es Systeme mit einem ständigen Zerfall ihrer gerade erzeugten Elemente zu tun haben (vgl. Kneer/Nassehi 1993, S. 60) und unter diesen Voraussetzungen ihr Reproduktionsmuster und damit ihre Existenz als System wahren müssen. So dynamische Systeme können nicht starr aneinander gekoppelt sein. Sie brauchen flexible Mechanismen, um mit überraschenden Ereignissen in ihrer Umwelt fertig zu werden und sie können sich nicht trivialmaschinell (vgl. Willke 1994, S. 30 ff.) verhalten, die Inputs aus einem anderen System zielgenau in systemeigene Outputs umsetzen. Hiermit sind einige grundlegende Bedingungen genannt, unter denen das Bildungs- und Arbeitssystem aufeinander verwiesen sind. Sie bewegen sich jeweils in eigenen geschlossenen kommunikativen Systemen. Es ist Ausdruck ihrer operativen Einzigartigkeit, daß sie Spezialsemantiken für ihre originären Anliegen entwickelt haben, um die Engflihrung der systemeigenen Kommunikation zu gewährleisten, um sich so gegenüber der Umwelt operativ abzuschließen. Erst damit wird entschieden, was systemrelevant ist und erst von dieser Basis aus sind die Systeme in der Lage, Ereignisse in ihrer Umwelt als relevant zu definieren und aufzunehmen. Ihre operative Geschlossenheit versetzt sie paradoxerweise in die Lage, ihre Umwelt, d. h. andere Systeme zu beobachten und daraus in einem systemeigenen Kommunikations- und Konstruktionsprozeß Informationen für ihre Programme zu gewinnen. "Systemspezifische Kommunikationen sind nicht Resultat externer Ereignisse, sondern Eigenleistungen des Systems auf sie" (Bendel 1993, S. 111). Die systemeigenen Beobachtungskriterien wirken wie "Informationsfilter" und bestimmen, welche Umweltereignisse im System Bedeutung erlangen (Informationen sind). Interdependenzen zwischen den Systemen gibt es nur über den Umweg von selbstproduzierten und selbstgesteuerten Programmen. Das sind unter anderem im Bildungssystem Curricula; im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem Personalentwicklungspläne. Damit wird deutlich, daß die inneren Prozesse und das Verhältnis von Arbeits- und Bildungssystem komplex und kompliziert sind und an jeweils verschiedene Reproduktionsmuster gebunden sind. Da aber eine funktional differenzierte Gesellschaft ohne Zentrum ist, und jedes soziale Teil(System) eine und nur eine hochspezialisierte Leistung vollbringt (Redundanzverzicht), die zugleich von keinem anderen System erbracht wird, sind dezentrale und selbstinterpretative Abstimmung und
16
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Steuerung zwischen den Systemen bei all ihrer Störanfälligkeit unersetzlich. Die Systeme sind unabhängiger und gleichzeitig immer abhängiger voneinander geworden. Das konstitutive Merkmal einer modernen Gesellschaft ist die "Differenz" der Systeme und nicht ihr harmonisches Gleichgewicht. "Friktionen" gehören aber unter diesen komplizierten Bedingungen dazu. Diesen systemtheoretischen Überlegungen für eine funktional differenzierte Gesellschaft, die durch die Ausbildung von sozialen Teilsystemen gekennzeichnet ist, welche sich nur aufgrund ihrer Geschlossenheit in ihren grundsätzlichen Reproduktionsmustern anderen Teilsystemen öffnen können, widersprechen die traditionellen Theorien über den Zusammenhang von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Das Beschäftigungssystem ist für die Bedingungen, unter denen die menschliche Arbeit im Wirtschaftssystem engagiert wird, "entscheidend", weil es hierfür im Wirtschaftssystem als spezialisiertes Subsystem ausdifferenziert worden ist und sich auf die Rekrutierung und Freisetzung von Arbeitskräften für dessen Zwekke spezialisiert hat. Für die hier diskutierte Beziehungsproblematik ist es dann konsequent, sich auf eine enggeführte wirtschaftliche Vorstellung des menschlichen Arbeitsvermögens und seines Nutzens zu beziehen. Wenn im Bildungssystem nun die für die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse notwendigen Qualifikationen mit einem immer größeren sachlichen und zeitlichen Aufwand erzeugt und nur hier noch erzeugt werden können -, und zwar nach prinzipiell systemeigenen Bedingungen, dann kann das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem nur noch indirekt im Sinne seiner Interessen intervenieren. Andernfalls würde das Bildungssystem in seiner Funktionsweise schwer beeinträchtigt werden, auf Kosten und gegen den Sinn der erreichten Systemdifferenzierung. Es wäre ein evolutionärer "Sündenfall" mit katastrophalen Folgen. Viele Beobachter machen sich nicht klar genug, was denn die Folgen von Entdifferenzierung wären: Sicher nicht eine kleine, schöne und vor allem wieder einfachere Welt. Gemessen an der Summe der hier vorgetragenen Systemeigenschaften sind die bekannten Theorien über den Zusammenhang von Bildungs- und Beschäftigungssystem ohne heuristischen Wert (vgl. Baethge/Teichler 1984, S. 206 ff.; Eichmann 1989, S. 23 f f ) . Wir werden das kurz an drei bildungsökonomischen Theorieansätzen verdeutlichen.
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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Die Humankapitaltheorie untersucht Bildung als (wirtschaftliche) Investition in den Menschen. Die Erträge aus Bildungsinvestitionen und dem Einsatz von menschlichem Arbeitsvermögen (Qualifikationen) im Leistungsprozeß werden in ihrem Nutzen kapitaltheoretisch bestimmt. In Kombination und unter Rückgriff auf die neoklassische Preis(gleichgewichts)theorie wird daneben die Abstimmung von Qualifikationsangebot und -nachfrage unter den Axiomen von rationalem Verhalten, Nutzenmaximierung und unendlicher Reaktionsgeschwindigkeit auf Preisänderungen - also wenig komplexen Bedingungen - beschrieben. Der Arbeitsmarkt - auch das ist wiederum ein zu einfaches Bild - wird als Markt zwischen dem Bildungs- und Wirtschaftssystem resp. Beschäftigungssystem angesiedelt, auf dem wie auf allen Märkten knappe Leistungen in Preisen bewertet werden. Erwartungen, Entscheidungen und Handlungen im Wirtschafts- und Bildungssystem sind kausal mit diesem Markt verkoppelt und stellen unmittelbare Reaktionen auf Preisänderungen dar. Beide Systeme sind für Informationen aus ihrer Umwelt, dem Arbeitsmarkt, absolut offen. Die Humankapitaltheorie kann die unterschiedliche Operationsweise von Wirtschafts- und Bildungssystem, ihre unterschiedlichen Leitdifferenzen, mit ihren Analysekriterien nicht erfassen. Sie "beschreibt innerwirtschaftliche Anschlußoperationen" aber nicht Abstimmungs- und Steuerungsprobleme ausdifferenzierter selbstreferentieller sozialer Teilsysteme (vgl. Eichmann 1989, S. 24). Die zweite bildungsökonomische Theorie, der Arbeitskräftebedarfsansatz (manpower requirement approach) ist ein präskriptives Aussagensystem zur Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Das Ziel liegt in der Bestimmung von Kriterien, wie Friktionen vermieden und wie ein Gleichgewicht zwischen qualifikatorisch geschichteten Angebots- und Nachfragestrukturen bei Arbeitskräften erreicht werden kann. Dabei befindet sich das Wirtschaftssystem in der Unabhängigkeitsposition; allein sein Arbeitskräftebedarf, der wirtschaftsintern bestimmt wird, entscheidet über die Entwicklung der Qualifikationsnachfrage am Markt. Das im Bildungssystem erzeugte und bereitgestellte Qualifikationsangebot ist ohne Einfluß auf Art und Umfang des Bedarfs. Die Bildungsplanung ist bei dieser Konstellation bedarfsabhängig. Abstimmung heißt Anpassung an die Anforderungen des Wirtschaftssystems. Die gesellschaftliche Differenzierung weist in diesem Ansatz zwar unterschiedliche Systeme aus, ordnet aber der Wirtschaft und ihrem Be-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
schäftigungssystem - jedenfalls in Bezug auf das Bildungssystem die Rolle eines hierarchisch vorgeordneten Systems zu. Im Gegensatz zu den Annahmen der Systemtheorie handelt es sich beim Wirtschafts- und Beschäftigungssystem im Manpower-Ansatz um hermetisch geschlossene Systeme, beim Bildungssystem hingegen um ein vollkommen offenes System. Vollkommene Offenheit kennzeichnet eine völlige Fremdbestimmung, vollkommene Geschlossenheit hingegen die Form absoluter Selbstbestimmung. So wie der Humankapitalansatz in seiner soziologischen Qualität einer segmentierten Gesellschaftsform zuzuordnen ist, gehört der Manpower-Requirement-Approach in den Kontext einer stratifikatorisch-hierarchischen Gesellschaft. Beide Ansätze sind gesellschaftstheoretisch "unterentwickelt". Das in Reaktion auf den Arbeitskräftebedarfsansatz formulierte Social-Demand-Konzept ging von einem politisch begründeten Bürgerrecht auf Bildung aus. Eine Unterordnung der Bildung unter wirtschaftliche Qualifizierungswünsche und -ziele wurde zugunsten einer weitgehend funktionellen Autonomie, wenn nicht Autarkie des Bildungssystems, abgelehnt. Das Bildungssystem wird als intersystemisch geschlossen angesehen. Das Wirtschaftssystem bleibt in diesem Ansatz seltsam unkonturiert, implizit schwingt im Ansatz des Social Demand mit, daß sich das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem an das Qualifikationsangebot des Bildungssystems mehr oder minder anpassen müsse. Es ist aber eine Überinterpretation, wenn in diesem Ansatz das Wirtschaftssystem als informationell offen bezeichnet wird (vgl. Eichmann 1989, S. 26). Unter den Bedingungen einer in funktionale Teilsysteme gegliederten Gesellschaft verbieten sich so traditionelle Beziehungsmuster wie die in der Bildungsökonomie entwickelten Vorstellungen einer direkten ein- oder gegenseitigen Einflußnahme, der simplen Abbildung und Übernahme von Arbeitsstrukturen als Lernstrukturen, die unterstellte Abhängigkeit des Bildungssystems vom Arbeitssystem oder vice versa, die Geschlossenheit (Unabhängigkeit) des Arbeitssystems gegenüber dem Bildungsystem, aber auch Kongruenzvorstellungen von In- und Outputs zwischen Bildungs- und Arbeitssystem, Gleichgewicht- oder Ungleichgewicht als positive oder negative Zustände zur Beschreibung des Systemverhältnisses. Zwar haben Bildungs- und Arbeitssystem ein vitales Interesse an Qualifizierungsleistungen, aber die Koordinierung dieses Interesses kann we-
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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der einseitig noch direkt geleistet werden. Die Systeme verfugen über eine selbstselektive Koordinationskompetenz, die nicht auf äußere Kausaleinflüsse zurückgeführt werden kann (vgl. Bendel 1993, S. 111). Unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich die gesellschaftlichen Teilsysteme als Folge ihrer Komplexität dezentral entwickeln und steuern müssen, gibt es im Abstimmungsprozeß keine Über- und Unterordnungen - jedenfalls nicht auf die basalen Operationsweisen der Systeme bezogen - noch direkte Inund Outputbeziehungen. Der schwierige Sachverhalt, daß in unserer Gesellschaft die Funktionserfüllung durch Spezialisierung und Ausdifferenzierung von sozialen Teilsystemen gesichert wird, daß Bildungs- und Arbeitssystem ihre Leistungen wie Qualifizierung von Schülern und Produktion von Gütern und Dienstleistungen unter Nutzung menschlicher Arbeit und unter eigenen selbsterzeugten Entscheidungsprämissen und Entscheidungslogiken, in "Binnenräumen" erbringen, wirft besondere Abstimmungsprobleme auf, die nicht auf dem Wege von Systemdurchgriffen sinnvoll gelöst werden können. Die Unterscheidung und Verselbständigung von Bildungs- und Arbeitssystem heißt, daß sich Lernen und Arbeiten in der modernen Gesellschaft in unterschiedlichen sozialen Teilsystemen vollziehen, weil nur so Lernen und Arbeiten sich differenziert und hochspezialisiert, gewissermaßen ungestört von außen vollziehen können. Die Systeme steigern dadurch ihre Leistungsfähigkeit (durch Binnenkomplexität) und bilden gleichzeitig instabile Mechanismen aus (wie die Preise in der Wirtschaft, die Zensuren im Bildungssystem), um überraschende Ereignisse aus ihrer Umwelt (verändertes Konsumverhalten, veränderte Lernmotivation) besser zu absorbieren. Da die Ausbildung von eigenständigen Bildungs- und Arbeitssystemen aber insgesamt Ausdruck gesellschaftlicher Leistungssteigerung ist, müssen sie aufeinander reagieren und muß die Reintegration ihrer Leistungen möglich sein und ein höheres Niveau der Kräftebündelung erreichen als das in den Vorläufergesellschaften denkbar war. Ich will verdeutlichend hinzufügen, daß also trotz aller Friktionen wie sie sich in Begriffen wie Fehl-, Über- und Unterqualifizierung oder Mangel an geeigneten Arbeits- und Ausbildungsplätzen, in der Überakademisierung der Bildung ausdrücken, daß ohne das Bestehen gesonderter Systeme das gesellschaftliche Lei-
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stungsniveau, aber auch das Niveau personaler Bildung sinken müßte. Einfache Entdifferenzierung ist also kein Ausweg. Um es zu wiederholen: Mit der Herausbildung von differenzierten Funktionssystemen gibt es keine gemeinsamen Formeln mehr, jedes Teilsystem operiert nach seinem funktionalen Primat: die Wirtschaft reproduziert Zahlungsfähigkeit, die Wissenschaft wahre Einsichten, die Bildung Leistungsauswahl. Wir stehen vor dem paradoxen Sachverhalt, daß sich mit zunehmender funktionaler Differenzierung die Autonomie der Teilsysteme erhöht, aber auch die wechselseitigen Abhängigkeiten zunehmen, weil das Wirtschafts- und Arbeitssystem darauf angewiesen ist, daß die Qualifizierung und Auslese von geeigneten Absolventen im Bildungssystem auch erfüllt wird. Die Leistungsverteilung zwischen sozialen Systemen hat sich historisch entwickelt: In segmentierten, einfachen Gesellschaften, die sich über gleichartige Segmente wie Stämme, Sippen, Familien gliederten oder in hierarchisch aufgebauten Gesellschaften, in denen ein Supersystem wie die politische Macht der Fürsten die wenigen gesellschaftlichen Teilsysteme normierte und steuerte, war die Trennung von Lernen und Arbeiten gar nicht oder nur in Ansätzen vorhanden. Hier stellte sich auch das Thema eines "Verhältnisses" von Arbeits- und Bildungssystem nicht oder nur in Ansätzen. Abstimmung und Steuerung - und das meint der allgemeinere Begriff des Verhältnisses - vollzogen sich in den primitiven homogen gegliederten (segmentierten) Gesellschaften als Aufgaben und Bereiche einer einheitlichen Lebenspraxis; innerhalb eines "Systems". In der hierarchischen mittelalterlichen und später vorindustriellen Gesellschaft sorgten Religion und Politik für den gemeinsamen Horizont, in den sich die beginnende gesellschaftliche Funktionsteilung zwischen Lernen und Arbeiten noch einband. Es wird auch unmittelbar einsichtig, daß hiermit Leistungsbeschränkungen verbunden waren, die aber angesichts eines spezifischen gesellschaftlichen Leistungsstandes nicht virulent wurden. Das ist aber in unserer Zeit grundsätzlich anders. Die getrennten Funktionssysteme von Arbeiten und Lernen erbringen heute Leistungen, die nur in diesen Systemen mit der Effektivität erzeugt werden können, die für die Selbstreproduktion der Gesellschaft notwendig ist. Dadurch entstehen Schwierigkeiten bei der Abstimmung der in sich autonomen Systeme, weil sie nicht mehr hinreichend füreinander offen sein dürfen, weil sonst das eine Teilsystem in die grundlegende
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Operationsweise, die "Basisstruktur" des anderen Systems einbrechen und es schwer behindern oder zerstören würde. (Zum Beispiel: Im Wirtschaftssystem werden Arbeitsleistungen "gekauft", wenn aber Noten als Ausdruck von Bildungsleistungen in der Schule zu kaufen wären, würde das zum Funktionsverlust des Bildungssystems fuhren.) In diesem Kontext können wir auch der staatlichen Bildungsoder Beschäftigungspolitik keine übergeordnete, direkt eingreifende Funktion mehr zubilligen, weil damit dem politischen System eine Superfunktion zugewiesen wird, die in einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht möglich ist und zur Überschätzung der Funktion der Politik im Verhältnis von Arbeit und Bildung führen muß. Unsere Vorstellung geht daher von einer grundsätzlichen funktionalen Gleichberechtigung der gesellschaftlichen Teilsysteme aus, was aber nicht ausschließt, daß das Wirtschaftssystem in der heutigen Realität nach Dominanz strebt. Solche faktischen Über-/Unterordnungsversuche bedeuten aber nicht, daß damit bereits unmittelbar in die grundlegenden Reproduktionsmuster anderer sozialer Teilsysteme eingegriffen wird und sie damit zerstört werden. So jedenfalls ist der gesellschaftliche "Imperialismus" des Wirtschaftssystems nicht zu verstehen.
1.1.2
Arbeit zwischen Wirtschaftssystem, Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt
Ich gehe davon aus, daß es unter systemtheoretischen Prämissen nicht möglich ist, am Begriff eines Arbeitssystems festzuhalten. Das gilt sowohl für soziale wie auch für psychische Kontexte. Weder der Mensch noch soziale Teilsysteme lassen sich grundlegend als Arbeitssysteme beschreiben. Arbeit ist vielmehr eine Umweltbedingung, die von den Systemen beobachtet und genutzt wird. Für unseren Argumentationszusammenhang rücke ich einen wirtschaftlich beobachteten Arbeitsbegriff und eine wirtschaftlich genutzte Arbeit in den Vordergrund. Arbeit als wirtschaftliches Umweltereignis muß im Über- und Unterordnungszusammenhang von Wirtschaftssystem, Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt beobachtet und bestimmt werden. Natürlich spielt Arbeit auch in anderen sozialen Teilsystemen eine wichtige Rolle. Ohne Arbeit kommen Rechts-, Wissenschafts-, Religions-, Politiksystem und Bildungssystem nicht aus.
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Aber auch hier handelt es sich im Falle der Arbeit um Umweltereignisse. Sie werden jedoch anders als im Wirtschaftssystem beobachtet und kommunikativ in Anspruch genommen. Arbeit wird unter die jeweils geltenden Leitdifferenzen wie Recht/Unrecht, Wahrheit/Unwahrheit subsumiert, und die Produktion von neuen Urteilen oder neuem Wissen definiert den Sinn und die Einordnung von Arbeit in das jeweilige System und dessen Organisationseinheiten. 1.1.2.1
Die Bestimmung der Arbeit im Wirtschafts- und Beschäftigungssystem Das Hauptproblem, das die Systemtheorie Beobachtern im Zusammenhang mit der Bestimmung der Arbeit im Wirtschaftssystem bereitet, liegt darin, daß sie die Arbeit und auch die Dichotomie von Kapital und Arbeit aus ihrer Rolle als "Letzteinheiten" des Wirtschaftssystems verdrängt, so daß sich die Gleichsetzung von Wirtschafts- und Arbeitssystem verbietet. Arbeit ist nicht einmal mehr ein systemimmanenter Faktor, sondern - wie auch die Bedürfnisse von Konsumenten - "eine Umweltbedingung, auf die sich wirtschaftliche Kommunikationen und Entscheidungen richten" (Eichmann 1989, S. 100). Luhmann wirft der neoklassischen Wirtschaftstheorie zu Recht die Überschätzung der Arbeit als originären Produktionsfaktor und als theoretisches Schlüsselelement vor. Außerdem muß der Neoklassik vorgeworfen werden, daß sie zwar in Reaktion auf die historisch neuartige, geldgesteuerte Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems entstanden war, gleichwohl deren Besonderheit nicht zutreffend erfaßt hatte (vgl. Luhmann 1988, S. 44). Mit der Industrialisierung wurde die klassische Theorie der Wirtschaft als Theorie der wirtschaftlichen Produktion angelegt. Die theoretische Reflexion der Produktivitäts- und Wohlstandssteigerung machte die Arbeit zum wichtigsten, wenn nicht einzigen Produktionsfaktor (vgl. Luhmann 1988, S. 44). Die zirkulär geschlossene Rekursivität des Systems wurde nicht in der Geldtheorie, sondern in der Theorie der Produktionsfaktoren zum Ausdruck gebracht. Das heißt, daß man nur solche Faktoren berücksichtigte, deren Bereitstellung und Erneuerung wiederum als Produktion begriffen werden konnte. Letztlich lief so alles auf Arbeit zurück. Geld wurde als Instrument der Verteilung aufgefaßt, und Verteilung ist sekundär zur Produktion (vgl. Luhmann 1988, S. 45). Deshalb kommt es im Rahmen dieses Ansatzes zu Widersprüchen im Begriff der Arbeit, einerseits trägt er die ganze Theoriekonstruktion, ande-
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rerseits kann Arbeit nur als Mitwirkung an der (geldorientierten) Warenproduktion berücksichtigt werden. In den Mittelpunkt seiner Analyse des Wirtschaftssystems stellt Luhmann gegen die traditionellen Ansichten nicht die Funktion der Wirtschaft - die Bedürfnisbefriedigung - oder den Inhalt (die Produktion oder Dienstleistung), sondern die Stabilität der Reproduktionsmuster, die den wirtschaftlichen Zusammenhang aufgrund seines spezifischen Kommunikationscodes als ein spezifisches soziales System auszeichnet (vgl. Bendel 1993, S. 111). Mit Hilfe eines spezifischen Kommunikationscodes (daß für eine Leistung gezahlt oder nicht gezahlt wird) wird ein Kommunikationsvorgang als wirtschaftlich aus einer komplexen Umwelt ausgegrenzt und dient zur Sicherung der Systemidentität, mit der die komplexen Umweltbeziehungen aufrechterhalten werden. Wirtschaft ist daher ein besonderes Kommunikationssystem, dessen Reproduktionsmuster sich als eine Verkettung von Zahlungen unter Verwendung des Mediums Geld auszeichnet (vgl. Luhmann 1988, S. 14). Für unseren Argumentationszusammenhang ist es wichtig, daß der Faktor Arbeit in seiner theoretischen Position durch den Begriff der (wirtschaftlichen) Codierung von Kommunikation ersetzt worden ist. An die Stelle der Arbeit setzt Luhmann die Sicherung von Zahlungsfähigkeit als Codierung und das Geld als Medium wirtschaftlicher Kommunikation. Wirtschaftliche Kommunikation unterliegt einem doppelten Ausdruck von Knappheit. Es gibt danach zwei Knappheitssprachen, die der Güter und die des Geldes. In der modernen Wirtschaft sind alle wirtschaftlichen Operationen gezwungen, sich beider Knappheitssprachen zugleich zu bedienen, nämlich für "Leistungen zu zahlen" (Luhmann 1988, S. 47). Diese Codierung bezieht Arbeit ein, aber die Codierung selbst ist der strukturelle Grund fiir den Erfolg und nicht die Arbeit als solche. Es hat daher keinen Zweck, an einer traditionellen Bestimmung der Wirtschaft durch Arbeit als den ersten und wichtigsten Produktionsfaktor festzuhalten und normativ abzusichern, denn "Begriffe können nur nachbilden und bewußt greifbar machen, was sich in der gesellschaftlichen Evolution als selbständiges Phänomen ausdifferenziert hat" (Luhmann 1991, S. 206). Die Arbeit ist in der Systemtheorie kein konstitutives Element der Wirtschaft mehr. Vielmehr ist sie eine Kategorie, die in ihrer
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ganzen Komplexität in die Umwelt des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems fällt: ein Potential, über das Menschen als psychische, organische und neuronale Systeme verfugen und das im Erziehungsund Bildungssystem nach dessen kommunikativen Regeln ausdifferenziert (sozialisiert und qualifiziert) wird. Arbeit ist deswegen unter systemtheoretischen Bedingungen verschiedenen individuellen (Basis)Systemen zugehörig, die sich allerdings interpenetrieren und sich damit gegenseitig ihre Komplexität zur Verfugung stellen. Durch diese strukturelle Kopplung tritt menschliches Arbeitsvermögen nach außen hin komplex in Erscheinung, als Einheit von "Kopf, Herz und Hand". Eine autopoietische Einheit ist menschliche Arbeit dadurch jedoch nicht, weil Arbeit nicht das Letztelement von Arbeit ist, sondern aus der Verknüpfung der jeweiligen psychischen, neuronalen und organischen Systemelemente "entsteht". Diese Kopplung verhindert zwar eine reduktionistische Nutzung eines der Teilsysteme (nur körperliche oder gedankliche Tätigkeit), erlaubt es aber gleichzeitig, menschliches Arbeitsvermögen im Wirtschaftssystem in unterschiedlichen gedanklichen, psychomotorischen und affektiven Kombinationen zu nutzen. Von daher erscheint mir der Gedanke der Systemtheorie, den Menschen als Einheit aufzulösen, als heuristisch fruchtbar. Die Wirtschaft, die ja nicht am Gesamtkomplex der menschlichen Arbeit (Arbeit als individueller Sinn, als Selbstverwirklichung usw.) interessiert ist, betreibt eine nach ihren Kriterien bestimmte "Sektorauswahl" und Teilverwertung der menschlichen Arbeit. Das geht nicht über einfache Input- oder Kausalbeziehungen, denn Arbeit im Wirtschaftssystem ist kein "menschlich-gedankliches" Vermögen mehr, sondern muß als kommunikative Struktur betrachtet werden. Die Arbeitenden sind kommunikative Akteure, die von den kommunikativen Strukturen erst geschaffen werden und die die kommunikativen Operationen wiederum leiten. Mit Hilfe dieser sozialen Akteursfiktionen (Arbeitsrollen) koppeln sich die wirtschaftlichen Kommunikationen "eng an die psychischen Eigendynamiken der beteiligten Menschen an, ohne aber je mit ihnen zu verschmelzen" (Hutter/Teubner 1994, S. 110). Arbeit als "menschliches" Potential ist und bleibt eine Umweltbedingung, ein für die Wirtschaft komplexes, undurchschaubares Vermögen, auf das sich die selektiven Beobachtungen des Wirtschaftssystems richten. Arbeit ist für das Wirtschaftssystem (lediglich) eine "Beobachtungskategorie" (Baecker 1988, S. 173), die über die Leistungen, die mit ihr poten-
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tiell möglich sind, beobachtet und als Mittel zur Regenerierung von Zahlungsfähigkeit engagiert wird. Dabei "beuten die sozialen Systeme die psychischen Systeme mit Hilfe der Akteursfiktionen auf eine hochselektive Weise für die Zwecke der Wirtschaft ... aus" (Hutter/Teubner 1994, S. 110 f). Die Arbeit wird so zu einer sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit, die von der psychischen Realität der Arbeitsmotive und Arbeitshandlungen der Menschen kategorial zu unterscheiden ist. Die Arbeitsrollen als kommunikative Konstrukte dienen dazu, am menschlichen Leistungsvermögen als einer Umweltbedingung der Wirtschaft zu partizipieren und es hochselektiv im formulierten Rollenkontext zu nutzen. Die Wirtschaft macht sich dabei nur in diesem Rahmen von dem sehr viel komplexeren menschlichen Arbeitspotential abhängig. Und was es punktuell nutzt, das sind keine Gedanken mehr, sondern Kommunikationen oder vereinfacht Handlungen. Auf diese Weise leitet das Wirtschaftssystem "fremde(s) Wasser auf seine Mühlen" (Hutter/Teubner 1994, S. 118). Arbeit ist aber auch eine Beobachtungskategorie des Erziehungs- und Bildungssystems wie auch psychischer (gedanklicher) Systeme, die damit ihre Qualifizierungs- und Sozialisationsprogramme und persönlichen Absichten nach Maßgabe eigener Codierung und Programmierung beobachten und gestalten. Arbeit, wie sie im Wirtschaftssystem beobachtet und genutzt wird, geht hier ein und wirkt sozialisatorisch, bestimmt aber nicht den "bildenden Wert" der Arbeit und ihre absichtsvolle Verwendung im Bildungssystem. Niemand wird aber leugnen, daß die wirtschaftliche Beobachtung und Nutzung von Arbeit bei der faktischen Dominanz des Wirtschaftssystems (ohne, daß es aber funktional "höherwertig" ist) auch im Bildungssystem als Fremdreferenz von überragendem Einfluß ist, bedingt durch die Tatsache, daß Arbeit für die meisten Menschen das wichtigste Mittel zum Erwerb von Zahlungsfähigkeit darstellt und eine soziale Positionierung bedeutet, die sich aber immer wieder wirtschaftlich zweckhaft rechtfertigen muß. Durch die Bestimmung der Arbeit als wirtschaftsbezogene Beobachtungskategorie und als wirtschaftliche Kommunikation wird ihre notwendig vagabundierende Chancensuche nach Zahlung, ihr mobiler Grundcharakter, zutreffend erfaßt. Für die Arbeit gibt es in ihren Anschlüssen keine Sicherheit. Das gleiche gilt aber auch für die Unternehmen selbst. Ob es das Wirtschaftssystem als Ganzes ist und seine
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Subsysteme oder eine Umweltbedingung wie die Arbeit, alle sind von der Autopoiesis der Wirtschaft abhängig. Die gesellschaftlich und bildungstheoretisch bestimmte Kategorie der Arbeit mit ihren vielen Facetten wird dabei - ob wir es wünschen oder nicht - in eine enggeführte, emergente wirtschaftliche Kommunikationskategorie transformiert. Arbeit als humanes, psychisches, kognitives, motivationales, energetisches, gesellschaftliches und kulturelles Potential wird wirtschaftlich reduziert. Den wirtschaftlichen Zwecken, Organisationsabläufen und Zuweisungen unterwirft sich die Arbeit als breiteres menschliches Vermögen natürlich nicht gedanken- und erwartungslos. Sie kann aber ihre (wirtschafts)-kommunikative Qualität nur gewinnen, sich Eintritt in das Wirtschaftssystem verschaffen, wenn sie sich so darstellt, daß sie verstanden werden kann, daß sie Leistungen erzeugen kann, die in Käufen und Verkäufen einen Beitrag zur Sicherung zukünftiger Zahlungsfähigkeit leisten. Die Denkprozesse der Psyche werden dabei vom sozialen Subsystem der Wirtschaft für die systemeigene Sinnproduktion verwendet (vgl. Hutter/Teubner 1994, S. 119). In diesem Kontext ist es (leider) unwichtig, ob jemand aus Selbstachtung, aus sozialer Notwendigkeit arbeiten muß oder will. Aus der notwendigen strukturellen Kopplung ergibt sich aber ein umlaufender gegenseitiger Beobachtungsprozeß, der in den Grenzen und mit den Operationsmodi der jeweiligen Systeme vollzogen wird und hier seine Kristallisationskerne (Arbeitsrolle und Arbeitssozialisation; 2.1) findet. Die selektive wirtschaftliche Inanspruchnahme des menschlichen Arbeitsvermögens wird im Gedankensystem des Menschen psychisch verarbeitet, so wie die menschliche Arbeit kommunikativ über die wirtschaftliche Rolle im Sozialsystem verfügbar wird. Im Menschen fuhrt das Kommunizieren in Arbeitsrollen zu einer Selbstwahrnehmung, die aber bei der operativen Geschlossenheit des Gedankensystems nicht als Input, sondern katalytisch wirkt und im Sinne der Selbstsozialisation der Psyche verarbeitet wird. Für die Arbeit ist das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem das zweifellos wichtigste System, aber dieses System ist eben nur an einem bestimmten Bereich des Arbeitsvermögens interessiert und unterwirft diesen für sich reklamierten Ausschnitt einer weiteren Differenzierung durch Arbeitsteilung und -Zerlegung. Hierin wird ein grundlegendes und erfolgreiches Prinzip systemtheoretischer Betrachtung der Strukturbildung und des Aufbaus von Komplexität
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deutlich: Aus einem komplexen Vermögen aus der Umwelt der Wirtschaft, über das psychische, neuronale und organische Systeme ("Menschen") verfügen, löst die wirtschaftliche Kommunikation ein Teilelement heraus, verringert dadurch Umweltkomplexität für ihre Zwecke, um dann - durch Arbeitsteilung und -Zerlegung - über einen weiteren Reduktionsschritt - eine systeminterne hohe Eigenkomplexität erst möglich zu machen. Wir stehen damit vor der spannungsreichen Tatsache, daß die mit der wirtschaftlich kommunizierten Arbeit in Kombination mit anderen Produktionsfaktoren erzielten differenzierten Leistungen, wirtschaftlich gesehen höchst komplexe Arbeitsleistungen darstellen, von denen aber "nur ein geringer Teil ... innerhalb der Identität einer Person gleichsam >integral< verwirklicht werden kann" (Baecker 1988, S. 175). Arbeit ist nicht einmal fähig, Zahlungsfähigkeit unmittelbar zu regenerieren und damit um ihrer selbst willen rekrutiert zu werden, sondern nur auf dem Umweg über die Kombination mit anderen Produktionsfaktoren. Damit unterliegt sie nicht nur dem basalen Operations- und Erkennungsmuster der Wirtschaft, sondern ist auch von den Leistungsprogrammen und ihren Umsetzungsstrategien komplementär oder substitutiv abhängig. Dieser Sachverhalt macht deutlich, warum Unternehmen kaum bereit sind, qualifizierte Arbeit als Potentialfaktor unter Ausnutzung günstiger Arbeitsmarktlagen anzuwerben und zu "lagern". Die wirtschaftliche Engfuhrung der Arbeit und ihre Teilung heißt allerdings nicht, daß diese Arbeit tendenziell anforderungsarm sein muß oder anreizärmer wird - dem widerspricht der trotz Arbeitsteilung und -Zerlegung steigende Wert qualifizierter Arbeit in einer von Technik und Wissenschaft bestimmten Produktions- und Dienstleistungsweise augenscheinlich, aber selbst hochkomplexes Arbeitsvermögen ist im Wirtschaftssystem nur dann eine systemrelevante Information und kein bedeutungsloses Rauschen, wenn es Geld zu bringen verspricht. "Anschlußlose" Qualifizierung reicht daher weder für psychische noch für soziale Teilsystem aus. Dabei sind die Wirtschaft und die darin eingebetteten Organisationseinheiten der Unternehmen sehr anfällig, wenn der geldliche Regenerierungsprozeß verzögert oder gar unterbrochen wird. Auch aus diesem Grunde ist die Wirtschaft auf schnelle Regenerationsprozesse in kurzfristigen Perioden fixiert. Da qualifizierte Arbeit in Unternehmen oftmals nur mittelfristig Erfolgschancen verspricht, wirkt sich die Divergenz der Zeithorizonte negativ für die Arbeit aus. Die Beweglichkeit des
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Geldes kontrastiert auffällig mit den schwerfälligen Strukturen von Investitionen in Technik und Arbeit, eine Spannung, die eher noch zunehmen wird, je umfangreicher die systeminternen und -externen Vorleistungen auch beim Produktionsfaktor Arbeit werden. 1.1.2.2
Zur Funktion des Arbeitsmarktes für das Wirtschafts- und Bildungssystem Die Wirtschaft beobachtet sich selbst und ihre Umwelt über Märkte: hier gewinnt sie ihre exogenen Informationen. Der Markt und Teilmärkte (Finanz-, Güter-, Arbeitsmärkte) sind im Wirtschaftssystem selbst liegende Beobachtungsfelder, sie stellen eine wirtschaftsinterne Umwelt dar und dürfen nicht als zwischen den Systemen liegende Abstimmungsinstrumente mißverstanden werden. In der Marktbeobachtung liegt eine der Ursachen für die hohe Flexibilität und Reaktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems. Der Markt und damit auch der Arbeitsmarkt als Teilmarkt entstehen allein dadurch, daß das Wirtschaftssystem und damit auch das Beschäftigungssystem als Subsystem seine preisorientierten Informationen vor allem durch Beobachtung von Kommunikationen (Zahlungen/Preise für Leistungen und damit auch für Arbeit) gewinnt, aber nicht in kommunikativen Zusammenhängen selbst (Informationsaustausch untereinander) (vgl. Eichmann 1989, S. 104). Preise sind der Schlüssel des Wirtschaftssystems zur Umwelt und umgekehrt. Das gilt auch für die Arbeit als Umweltfaktor. Sie wird über den Preis als Indikator beobachtet und gewinnt auch nur über den Preis Zugang zum Wirtschaftssystem. Auf dem Arbeitsmarkt wird daher nichts zwischen dem Beschäftigungs- und Bildungssystem "ausgehandelt", werden nicht "intersystemische Interessen" abgeglichen. Das Bildungssystem muß sich in seinen Beobachtungen des Arbeitsmarktes der Perspektive des Wirtschaftssystems unterordnen, d.h. es muß beobachten, wie das Wirtschaftssystem beobachtet oder es würde den Arbeitsmarkt nicht finden. Wenn wir also das Arbeits- oder Qualifikationsangebot mit der Beobachtungskategorie (Schönheit oder Lebenssinn) betrachten, dann befinden wir uns offensichtlich nicht auf dem Arbeitsmarkt. Damit wird deutlich, daß Märkte für nichts anderes als für wirtschaftliche Beobachtung verfügbar sind. Hier wird die Arbeitskraft als Potential beobachtet, dessen Preis der Lohn ist. Die hier gewonnen Informationen (Preise) konditionieren die Prozesse im Beschäftigungssystem (Einstellungen, Entlassungen). Sie sind insofern selbsterzeugt und
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selbstbestimmt, weil sie sich immer nur aus wirtschaftlichem Interesse und wirtschaftlichen Beobachtungs- und Entscheidungskriterien ergeben. Inwieweit Arbeit z.B. einen humanen Kern hat, der auf Selbstverwirklichung zielen kann, ist für wirtschaftliche Beobachtungen (Arbeitsmarkt) oder wirtschaftliche Kommunikationen (Beschäftigungssystem) bloßes, d.h. nicht interpretationsfähiges "Rauschen". Für das Bildungssystem, aber auch für das Beschäftigungssystem gilt, daß die indikatorische Bestimmung der Arbeit über Preise immer mit hohen Informationsverlusten verbunden ist. Gebraucht werden schließlich auch Informationen über Qualifikationen, Feststellungen darüber, wie Über- oder Unterdeckungen bei spezifisch qualifizierten Arbeitskräften auf die Qualifizierungsprozesse im Bildungssystem wirken und wie daraus wiederum Folgeprobleme für das Beschäftigungssystem resultieren. Daher müssen die hochgradig reduktiven Preisbeobachtungen durch zusätzliche Beobachtungen ergänzt werden. Diese sind aber im Organisationssystem Bildung auf wenige Stellen konzentriert. Der Durchfluß der gewonnenen Informationen durch das System ist weder flächendeckend noch in seinen systeminternen Anschlüssen gesichert. Für das Bildungssystem, aber auch die einzelnen psychischen Systeme bleiben daher die Löhne und Gehälter die wichtigsten Informationsparameter für berufliche Karrieren, die für die Bildungsabschlüsse die Grundlage sind und an die Abschlüsse anschließen. Für das Bildungssystem sind insbesondere zwei Aspekte der Arbeitsmarktmechanismen wichtig, in denen Gefährdungen für den Informationswert von ohnehin systemgebundenen Beobachtungen liegen: (1.) die Bepreisung der Arbeit stellt nicht nur in sich eine Einschränkung dar, sondern wird weiter dadurch limitiert, daß zusätzlich Gehälter und Löhne durch Kollektiwereinbarungen wie Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen in ihrer Elastizität und damit in ihrer Aussagefähigkeit nochmals eingeschränkt sind; (2.) aus dem Sachverhalt der kollektiven Bindung ergibt sich außerdem, daß die Lohn- und Gehaltsmechanismen so beeinflußt werden, daß sich in ihnen das Konkurrenz- oder Komplementärverhältnis der Arbeit zu den anderen Produktionsfaktoren nicht mehr angemessen niederschlägt. Lohn und Gehalt oder besser ihre Höhe lädt die Ergänzungs- oder Ersatzfunktion zu Kapital und Technik mit Irritationen auf, die augenblickliche Orientierungen im Zuge künftiger Ent-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Scheidungen schnell gegenstandslos werden läßt, weil es zu schlagartigen Anpassungsreaktionen (Verschiebung von Arbeitsprofilen, Arbeitslosigkeit) kommt und die sich in vorbeugenden Lohnhöhenvariationen nach unten nicht mehr abbilden können. Wenn sich daher Bildungsabschlüsse und Bildungskarrieren an Berufskarrieren über den Indikator "Preis" auf dem Arbeitsmarkt orientieren, dann müssen vom Bildungssystem über die bloße Beobachtung von Löhnen hinaus, Informationen über die nicht mehr im Lohn vermittelten "Kombinationschancen und Substitutionsrisiken" (Baecker 1988, S. 270) im wirtschaftlichen Leistungsprozeß gewonnen werden.
1.1.3
Das Bildungssystem und seine Stellung zur Arbeit
Das Erziehungssystem und sein organisiertes Subsystem - das Bildungssystem - sind aus den oben beschriebenen gesellschaftsstrukturellen Gründen autonom (und nicht deshalb, weil sie eine eigene Idee verwirklichen, für die sie den Entfaltungsraum erst einklagen müssen). Das Problem liegt daher nicht in der Rechtfertigung einer Zweckidee (Eigenständigkeit), sondern in der Ausfüllung eines durch Ausdifferenzierung gewonnenen Spielraums. Wenn wir über Autonomie eines Systems reden, dann müssen wir systemtheoretisch drei Ebenen berücksichtigen: die Funktion (abhängig und rückprojiziert auf das Gesellschaftssystem), die Leistung (die durch die systeminternen Operationen unter Einbeziehung von Fremdreferenzen strukturiert wird, Bezug sind die anderen Teilsysteme, für die die Leistungen erbracht werden) und die Reflexionsebene (das ist die Beziehung auf sich selbst). Alle drei Referenzebenen sind zirkulär, das heißt, daß Umweltbeziehungen sich auf das System zurückwenden können, wie auch jede Selbstbeziehung Umwelt zugänglich halten muß. Wir wollen unsere Überlegungen auf die Leistungsebene des Bildungssystems konzentrieren. Die Leistungen, die vom Bildungssystem für andere soziale Teilsysteme zu erbringen sind, werden unter unterschiedlichen zentralen Begriffen subsumiert wie Bildung, Sozialisation, Qualifikation. Diese Leistungen werden durch strukturelle Kopplung zwischen psychischen Systemen (Lehrer, Schüler) und sozialen Systemen im Bildungssystem (Organisations- und Interaktionssystemen wie Schulen, Klassen, Unterricht) erbracht. Für die Beziehung von Wirtschafts-, Beschäftigungssystem, Arbeits-
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markt und Bildungssystem ist der Begriff der Qualifikation als Repräsentanz von Arbeitsvermögen von größtem Wert. Unter Qualifikation wird die Summe von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen verstanden, die in Schulen oder schulähnlichen Einrichtungen in allgemeinen und beruflichen Lernprozessen vermittelt und angeeignet werden. Qualifikation ist in sofern ein kontingenter (mehrperspektivischer) Begriff, weil damit weder ein trivialmaschineller Zusammenhang von In- und Output bei Lernenden noch ein deterministischer Zusammenhang von Lern- und späterer Anwendungssituation in anderen sozialen Systemen unterstellt wird. Das Wirtschafts- wie auch das Rechts- und Wissenschaftssystem können die notwendigen Bedingungen zu ihrem laufenden Erhalt nicht mehr systemintern sicherstellen und sind auf vorgebildete menschliche Eigenschaften verwiesen, die in zunehmendem Umfang auf (Vor-)Leistungen des Bildungssystems beruhen. Diese Vorleistungen müssen im Zusammenhang mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung direkt oder indirekt Qualifikationen für berufliches Rollenhandeln vermitteln, das durch Kontingenz, Komplexität, Ambiguität und Unsicherheit gekennzeichnet ist. Dieses Rollenhandeln wird durch die systemischen Erwartungen und Regeln, wie sie sich in der betrieblichen Organisation niederschlagen, bestimmt. Hierüber werden auch die Berufseingänge definiert, über die das Beschäftigungs- und Bildungssystem durch den Bezug von Berufseingängen und Bildungsabschlüssen gekoppelt sind. Dieser Zusammenhang geht in die fremdreferentiellen Verweisungen der Systeme (wirtschaftliche Leistungs- und schulische Lernprogramme) ein: ohne daß dadurch allerdings "Sicherheit" erzeugt werden kann. Das Bildungssystem bringt Ergebnisse (Qualifikationen) hervor, deren Wirkungen es - wie auch alle anderen sozialen Teilsysteme in Bezug auf ihre Leistungen - nicht regeln und kontrollieren kann. Sie sind zwangsläufig kontingent und erlauben unterschiedliche Anschlüsse. Das Bildungssystem als autopoietisches, sich selbst reproduzierendes System muß sich, wie das Wirtschaftssystem, auf basale Operationen unverwechselbar stützen, um seine Einheit und Differenz von der Umwelt sowie seine Reproduktion zu sichern. Die Einheit des Systems können wir unter vielen Aspekten konstituieren (vgl. Luhmann 1992, S. 109). Das hängt vom Standpunkt der Beobachter ab. Es hat sich aber in der Systemtheorie im Umfeld Luhmanns Einverständnis darüber gebildet, daß das Letztelement der
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systemspezifischen Kommunikation in sozialer Selektion liegt. An diese basalen Operationen schließt dann der Code des Bildungssystems an. Wie im Wirtschaftssystem, ausgedrückt in dem Gegensatzpaar von "zahlen/nicht zahlen" fungiert auch im Erziehungs- und Bildungssystem ein binärer Code, der sich in der Differenz von "besser/schlechter" auskristallisiert und der alle Operationen in den Horizont der basalen Operation, der Selektion, rückt. Alle kommunikativen Akte wie Zensuren geben, Kritik und Anerkennung, Versetzung und Sitzenbleiben, Gymnasium oder Hauptschule als systeminterne Anschlüsse, sie alle spiegeln Selektion wider. Das System benutzt "einen Selektionscode, um Personen auf bessere oder schlechtere Positionen innerhalb und außerhalb des Systems zu verteilen" (vgl. Luhmann 1992, S. 112). Für das Bildungssystem gilt generell, daß es sich nicht am Arbeitsvermögen für einzelne Personen, sondern am allgemeinen gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Arbeitsvermögen und den darin eingeschlossenen Qualifikationen orientiert, das dann im Hinblick auf einzelne und Gruppen respezifiziert wird. In seiner systeminternen Orientierung ist das Bildungssystem autonom. Diese Autonomie des Bildungssystems darf aber nicht mit der im innerpädagogischen Raum entwickelten "Autonomie der Bildung" ineins gesetzt werden, die eine Übergewichtigkeit der (Selbst-)Reflexionsebene und häufig ihre unzulässige Übertragung auf Funktion und Leistung des Sozialsystems Bildung insgesamt einschloß, anstatt in der Vielfalt der Systemreferenzen Ansätze für konzeptionelle Lösungen zu sehen (vgl. Luhmann/Schorr 1988, S. 35). Es ist nur sinnvoll, auf der Ebene der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion eigene Zielbestimmungen über den Stellenwert der Arbeit, ihren bildenden Wert zu entwikkeln, wenn das in Referenz mit der Funktion des Systems für die Gesamtgesellschaft geschieht (Sozialisation und Selektion) und die für die anderen sozialen Teilsysteme wichtigen Leistungen (Qualifizierung) in diese Betrachtung einbezogen werden. Dabei bleibt natürlich der Kontext des bildungssysteminternen Reproduktionsmusters bestimmend. Einer ökonomischen Bestimmung der Arbeit wird das Bildungssystem daher seine eigene entgegensetzen, weil es gar nicht anders kann. Dennoch kann nur über die Einheit der drei Beziehungsebenen sichergestellt werden, daß ein im Bildungssystem ausgebildetes Arbeitsvermögen (Qualifikationspotential) sich adressieren kann. Das wiederum setzt voraus, daß die Selektionen des Wirtschaftssystems in Bezug auf die Arbeit möglichst klar beobach-
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tet werden müssen, damit das im Bildungssystem ausdifferenzierte Arbeitsvermögen mit seinen eigenen Selektionen an die Selektionen des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems anschließen kann. Differenziertheit der Selektionsmodi auf beiden Seiten vorausgesetzt, ergibt eine reiche Fülle von Kombinationsmöglichkeiten unter Einschluß von Konflikten und Abweichungen. Das Bildungssystem ist im Gegensatz zum Wirtschaftssystem ein organisiertes System, in dem die Subsysteme (Schulen, Schulzweige) durch Organisation vernetzt sind. Die Beziehungen zwischen den Organisationseinheiten werden nicht durch Beobachtung von Märkten wie im (nicht organisierten) Wirtschaftssystem regelmäßig hergestellt, sondern durch Interaktions- und Organisationssysteme, die die Kommunikation im System zwischen den Organisationseinheiten regeln (Dienstwege im staatlichen Schulwesen). Beobachtung nach innen und außen spielt dabei keine kardinale Rolle. Anders als die Wirtschaft, die sich selbst und ihre Umwelt über Preise beobachtet, müßten im durchgängig organisierten öffentlichen Bildungssystem Organisationseinheiten zur Beobachtung des eigenen Systems und Systemumwelt gebildet werden. Deswegen finden (exogene) Arbeitsmarktbeobachtungen nur über einige dafür eingerichtete Stellen im Bildungssystem statt. Das alles ist aber administrativ schwerfällig - auch durch die politischen Interventionen im Bildungssystem verstärkt - und findet nur sehr allgemein in die Curriculumentwicklung Eingang. Verglichen mit der kontinuierlichen Marktbeobachtung in der Wirtschaft mit der raschen Information über Preise, findet im Bildungssystem nur eine diskontinuierliche spezialisierte Beobachtung des Arbeitsmarktes und des internen Systems statt. Der Unterschied zum Wirtschaftssystem wird schlagartig deutlich, wenn wir uns vorstellen, daß die allgemeinbildenden Schulen und Berufsschulen sich ständig untereinander im Hinblick auf Reformen beobachten und aus einer kontinuierlichen exogen gerichteten Arbeitsmarktbeobachtung dezentral Rückschlüsse für die Entwicklung ihrer Lernorganisation ziehen könnten. Faktisch ist aber die nach außen gerichtete Beobachtung des Bildungssystems und die Umsetzung von Informationen in seine Lernprogramme kein kontinuierlicher und gesicherter Prozeß. Das mag für ein organisiertes Sozialsystem überraschen. Denn das Bildungssystem hat für die Kontingenz seiner relevanten Systemumwelten unterschiedliche Organisationsformen (Gymnasien, Berufsschulen,
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Fachoberschulen, Realschulen, Gesamtschulen), die je spezifische Entscheidungsprämissen verkörpern, ausgebildet und damit verschiedene Entscheidungsprogramme entwickelt, die durch Entscheidungen wiederum verändert werden können. Selbst innerhalb einer Organisationsform gibt es verschiedene Entscheidungsprogramme, um interne Prozesse zu regeln und Ereignisse aus der Umwelt, wie Anforderungen an Qualifikationen, zu antizipieren. Trotz dieser Binnendifferenzierung scheint es aber für das Bildungssystem und seine Subsysteme zu gelten, daß seine differenzierten Entscheidungsstrukturen (Prämissen, Programme, Optionen) wenig elastisch sind und daß das System das tatsächliche Verhalten der Organisationsmitglieder (Lehrer, Bildungsplaner) weniger beeinflussen kann als Wirtschaftsunternehmen, weil die Entscheidungsprogramme umständlichen reflexiven Prozeduren unterliegen (sichtbar bei den langatmigen Entscheidungsprozessen zur Veränderung von Schulformen, der Aufnahme neuer Fächer und Konstruktion neuer Curricula) und weil die personale Seite weniger als in der Wirtschaft beeinflußbar ist. Dieser systemspezifische Umstand wirkt sich intersystemisch ungünstig aus und erhöht die Abstimmungsprobleme. Denn Informationen über Berufskarrieren, Löhne und Gehälter, Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitslosigkeit, Informationen über den Ausbildungsstellenmarkt als Teil des Arbeitsmarktes, Ausbildungsberufe, stellen ohnehin beschränkte Anschlußmöglichkeiten dar und werden erst dann zum "Erkennungssignal für Systemzugehörigkeit, für Anschlußfähigkeit, für autopoietische Relevanz" (Luhmann 1992, S. 111), wenn sie als Qualifikationsindikatoren übersetzt und so zu systembestimmten Informationen werden. Berufskarrieren werden erst dann als Qualifikationsstufen beobachtet, die Qualifikationsniveaus repräsentieren und an die so über schulische Qualifikationsprogramme angeschlossen werden kann. Arbeitslosigkeit wird dann systemrelevant, wenn sie als die Negierung von schulischen Qualifikationsangeboten interpretiert und informationell in Lernprogrammen bearbeitet wird. Diese Resonanzfähigkeit ist schnell beschrieben, wird aber in der Praxis nur mühsam gewonnen und gesichert. Generell gilt daher, daß Arbeit und erforderliches Arbeitsvermögen im Bildungssystem als Qualifikation wahrgenommen werden müssen und daß die darauf zielende Qualifizierung durch Selektion dann reagiert, wenn der Kontext Beschäftigung als Qualifikationsprogramm rekombiniert wird. Es gilt aber immer die Einschränkung,
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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daß sich das System dabei nach innen ausrichtet. Fremdreferenz ist nur auf dieser spezifischen Basis denkbar. Wenn daher das Wirtschaftssystem auf das Bildungssystem einwirken will, dann kann das nur in der Spezialsemantik des Bildungssystems, als Intervention auf den Kontext von Qualifikation und Selektion und die in diesem Kontext formulierten Lernprogramme verstanden werden. Die Tiefenstruktur des Systems selbst muß und wird davon unberührt bleiben. Dieses Maß an Abstimmung mag gering erscheinen, aber mehr ist zwischen autopoietischen Systemen prinzipiell nicht denkbar. Auf diesem Grundtatbestand und in diesem schmalen Korridor sind erfolgreiche intersystemische Abstimmungsprozesse, ist "Bildung(s)Ökonomie" denkbar. Aber auch Bildungspolitik, Industriepolitik oder Wirtschaftspolitik gehören in solche intersystemischen Korridore. Wer weitergehende Interventionsmöglichkeiten durch Politik, Recht, Wirtschaft und Bildung erwartet, entwirft Konstruktionen, die an der Eigenkomplexität der Systeme scheitern müssen. Die bisherigen Überlegungen verdeutlichen, daß die Praxis des Bildungssystems als Qualifizierung unter Nutzung eines alle Operationen durchdringenden Selektionsdrucks zu erkennen ist. An diese Praxis koppeln die Reflexionen des Systems über die eigene Autonomie an. Aber es ist angesichts eines komplexen Bewertungshorizonts und eines hohen Individualisierungsgrades in der modernen Gesellschaft nicht möglich, Bildung und Erziehung ausschließlich nach dem Muster gelungen/mißlungen zu strukturieren (vgl. Luhmann 1992, S. 112). Dieses Muster wird durch die "Absicht zu erziehen" (Luhmann 1992, S. 112) strukturell und reflexiv überlagert. Hierin liegt das Symbol, mit dem im Bildungs- und Erziehungssystem Operation mit Operation verknüpft wird (vgl. Luhmann 1992, S. 112). Arbeit wird in diesen Horizont eingestellt. Arbeit ist hier nicht wie im Wirtschaftssystem für die Regenerierung von Zahlungsfähigkeit, für eine Kombinierbarkeit in Produktionsund Dienstleistungsprozessen wichtig, sondern inwieweit sie einen Beitrag, zur Absicht zu erziehen, leistet. Da diese Absicht an die Praxis des Bildungssystems anknüpft, bleibt die (Qualifizierungs-)Leistung für das Wirtschaftssystem (und andere soziale Teilsysteme) unangetastet, der Arbeitsbegriff muß aber im Hinblick auf seine erzieherische Funktion erweitert bestimmt werden. Arbeit muß in ihren vielfältigen gesellschaftlichen und individuellen Funktionen begriffen (-*• 1.3.2.2) und in den Programmen des Systems berücksichtigt werden. Das sind Informationen über die
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Arbeit, die Einführung von Arbeitsformen in die Schulen wie in selbstbestimmten Projekten, Junior- und Übungsfirmen, aber vor allem durch die Umsetzung von Arbeit in qualifikatorische und sozialisatorische Programme und Prozesse. Als pädagogischer Grundsatz sollte gelten, daß Arbeit dann ein menschenwürdiges Tun ist, wenn der Mensch es lernt, seine Fähigkeiten in umfassender Weise auszudrücken, über die Arbeit seinen Platz in der Gesellschaft zu finden und Arbeit mit dem Bewußtsein ihrer menschen- und gesellschaftsstiftenden Funktion zu tun. Nur so kann die Absicht, im Bildungs- und Erziehungssystem zur Arbeit über Arbeit zu erziehen, personen- und themenspezifisch respezifiziert werden. Ein solches Arbeitsverständnis als Bildungsziel ist in der Beobachtung des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems keineswegs problemlos. Damit werden schließlich psychische und soziale Erwartungen konturiert, die in der betrieblichen Arbeitsorganisation als Überschußqualifikation normativ virulent werden könnten.
1.1.4
Ausblick: Arbeitsvermögen als kollaterales Gut
Die Kopplung von Wirtschafts- und Beschäftigungssystem sowie Bildungs- und Erziehungssystem hat durch die Tatsache, daß wirtschaftliche Leistungsprozesse an immer größere qualifikatorische Vorleistungen gebunden sind, eine noch größere Rolle gewonnen. Damit gehen Versuche einher, intersystemische Anschlüsse neu zu durchdenken (vgl. Willke 1994; Eichmann 1989). Eichmann setzt auf die reflexive Steigerung der Beobachtung. "Das beobachtende System kann durch Oszillieren zwischen Selbstbeobachtung und Verstehen sich selbst als Moment in der Umwelt des verstandenen Systems erfahren" ( Eichmann 1989, S. 141). Hiermit trägt Eichmann der Tatsache Rechnung, daß Beobachtung, aber auch Verstehen als kommunikativer Anschlußakt sich nur unter eigenen Systemkriterien und nicht durch simple Explikation fremder Operationsweisen erschließen (vgl. Eichmann 1989, S. 140). Es soll nur kurz daran erinnert werden, daß es sich hierbei um soziale Systemleistungen handelt und nicht um Beobachtungen und das Verstehen psychischer Systeme. Damit wird deutlicher, warum das von Eichmann beschriebene Oszillieren sozialer Teilsysteme ein komplexer Vorgang ist, für den spezielle Semantiken möglicherweise noch geschaffen werden müssen; von den diese Semantik nutzenden Organisationssystemen noch ganz zu schweigen.
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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Willke geht bei seinen theoretischen Überlegungen über intersystemische Kopplungen von einer Neubestimmung des Wirtschaftssystems aus, in dem er einen Wandel in dessen infrastruktureller Basis bestimmt. Wie wir gesehen haben, nimmt die Logik der preisorientierten Zahlungen keine Rücksicht darauf - und sie kann es auch gar nicht daß Menschen arbeiten "wollen" oder Arbeit brauchen oder daß Regionen mangels produktiver Nutzung veröden. Eine selbstreferentiell gebaute Ökonomie sieht hierin nur UmweltIrritationen (vgl. Willke 1994, S. 245). Und es müssen sehr voraussetzungsvolle Bedingungen gegeben sein, damit diese UmweltIrritationen sich in den Beobachtungskriterien umsetzen. Nun scheint es sich aber zu ergeben, daß die im Bildungssystem (Schule, Hochschule) erzeugten Qualifikationspotentiale (Willke nennt sie Wissenspotentiale) nicht mehr ohne weiteres der ökonomischen Beobachtungs- und Selektionslogik folgen. Hochtechnische Produktion und wissens-intensive Dienstleistung können ihre prinzipielle Abhängigkeit von einem Wissen nicht abstreifen, das nach anderen Kriterien und nach einer anderen Logik als der ökonomischen erzeugt wird. Zwar kann dieses Wissen als anwendungsorientierte Forschung in Unternehmen organisiert werden, zwar stellen sich die Leistungen des Labors auch der preisorientierten Konkurrenz, dennoch bleibt, daß die zunehmende Wissensabhängigkeit der ökonomischen Produktion eine Metamorphose der ökonomischen Logik erzwingt. Bei der Arbeit wird die Unterscheidung von einfacher und qualifizierter bzw. hochqualifizierter Arbeit zentral. Die Leistungen mit sehr hoher Wertschöpfung stellen neue Ansprüche an das Arbeitsvermögen und das Fertigkeitsniveau der Arbeitnehmer. Deshalb wird die Qualität von Erziehung, Schulung, Ausbildung, Weiterbildung, Forschung und Wissenschaft noch stärker als bisher das Niveau kollektiver Versorgung und kollektiven Wohlstands mit bestimmen. Das Hochtechnologie-Modell der Wirtschaft setzt eine wissensbasierte Infrastruktur (vgl. Willke 1994, S. 251) in dieser voraus und geht damit von einer erhöhten Abhängigkeit von den Leistungen des Bildungs- und Wissenschaftssystems aus. Die klare Aufteilung von individuellen und kollektiven Gütern ist ins Wanken geraten. Es geht um Regelungen für die Produktion von "kollateralen" Gütern. Es wird immer kostspieliger und voraussetzungsvoller, gerade diese Güter zu produzieren und vor allem sie nicht zu produzieren. Diese Aufgabe überfordert die Logik der Unternehmen
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
ebenso wie die Ökonomie und die traditionellen Interventionsinstrumente des Wohlfahrtsstaates (vgl. Willke 1994, S. 253). Gefragt ist deshalb eine neue Qualität, neue Institutionen und neue Verfahren des Zusammenspiels gesellschaftlicher Akteure aus unterschiedlichen Bereichen (Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Bildung). Dieses Zusammenspiel hat das Ziel einer diskursiven Verständigung über Lösungen, welche die begrenzte Rationalität der Einzelsysteme zugunsten einer immer wieder neu zu verhandelnden Rationalität intra- und intersystemischer Beziehungen überschreitet. Es geht um die Koordination divergierender Teillogiken. Immer mehr Technologien und Produktstrategien gründen auf einer Wissensbasis (Forschung, Entwicklung, aber auch Produktions- und Organisationstechniken), die das Leistungsvermögen auch sehr großer Konzerne überfordert. Gewöhnlich ist das kein Problem: dann erscheint die Technologie nicht auf dem Markt, weil das Unternehmen das Risiko nicht eingehen will. Schwierig wird es aber, wenn ein öffentliches Interesse besteht, weil der soziale Nutzen höher ist als die kollektiven Kosten ihrer Hervorbringung. Die Wissensbasierung bestimmter Technologien erzeugt den Bedarf für eine wissensbasierte Infrastruktur, welche die nicht-ökonomischen, weil qualifikatorischen Bedingungen der ökonomischen Möglichkeit dieser Technologien schafft. In diesen komplizierten Feldern haben direkte Interventionen endgültig ausgespielt. Was die Akteure tun können, ist, füreinander selbstbegrenzende Kontextbedingungen zu schaffen (vgl. Willke 1994, S. 261). Für das Bildungs- und Wissenschaftssystem liegt das Ziel darin, in diesem Kontext eine wissensbasierte Qualifikation zu sichern, zu transferieren und in kontinuierlichen Prozessen der Curriculumrevision neuen Anforderungen anzupassen. Die dafür erforderliche Professionalität und Zeit ist nur unter den gesonderten Bedingungen des Bildungssystems vorhanden.
Zitierte Literatur BAECKER, Dirk (1988): Information und Risiko in der Marktwirtschaft. Frankfurt/M. BAETHGE, Martin/TEICHLER, Ullrich (1984): Bildungssystem und Beschäftigungssystem. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Bd. 5. Stuttgart.
Arbeit im Kontext mit dem Bildungssystem
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BENDEL, Karl (1993): Selbstreferenz, Koordination und gesellschaftliche Steuerung. Zur Theorie der Autopoiesis sozialer Systeme bei Niklas Luhmann. Pfaffenweiler. Berufsbildungsbericht (1994), Hrsg. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Bad Honnef. EICHMANN, Rainer (1989): Diskurs gesellschaftlicher Teilsysteme. Zur Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Wiesbaden. HUTTER, Michael/TEUBNER, Gunther (1994): Der Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen. In: FUCHS, P./GÖBEL, A. (Hrsg.): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft. Frankfurt/M. KNEER, Georg/N AS SEHI, Armin (1993): Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einfuhrung. Stuttgart, Jena. LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. LUHMANN, Niklas (1991 6 ): System und Absicht der Erziehung. In: LUHMANN, N./SCHORR, K. E. (Hrsg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt. LUHMANN, Niklas/SCHORR, Karl Eberhard (1988): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt/M. WILLKE, Helmut (1994): Systemtheorie II. Interventionstheorie, Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme. Stuttgart, Jena.
Weiterführende Literatur EICHMANN, Rainer (1989): Diskurs gesellschaftlicher Teilsysteme. Zur Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem. Wiesbaden. LUHMANN, Niklas (1991^): Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. WILLKE, Helmut (1991^): Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der sozialen Systeme. Stuttgart.
1.2
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen Heinz Dedering
1.2.1
Arbeit in real-historischer Perspektive
41
1.2.2
Anforderungen an einen zeitgemäßen Arbeitsbegriff.
46
1.2.3 1.2.3.1 1.2.3.2
Aktuelle Arbeitsformen Restriktive und komplexe Arbeit Erwerbsarbeit - Eigenarbeit - Gesellschaftsarbeit
48 48 50
1.2.4 1.2.4.1 1.2.4.2
Arbeitssituationen als Grundkategorien der Arbeit Kennzeichnung der Arbeitssituation Allgemeine Phänomenologie der Arbeitssituation
53 53 55
1.2.5
Bewältigung der Arbeitssituation durch Selbstund Mitbestimmung
63
Zitierte Literatur
63
Weiterführende Literatur
66
1.2.1
Arbeit in real-historischer Perspektive
Das Wort Arbeit stammt aus dem gotischen, mittelhochdeutschen, altsächsischen, niederländischen, dänischen Raum und bedeutet ursprünglich Ackerbau, der schwere körperliche Arbeit war und möglichst auf die unterste soziale Schicht delegiert wurde. Aber auch in anderen Kulturen ist Arbeit offenbar mit Mühe, Unrechtsein, Not und Leiden verbunden worden (vgl. Ammen 1993, S. 145). Soweit es um den europäischen Raum geht, ist festzustellen, daß das Phänomen der menschlichen Arbeit in sämtlichen historischen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung zentrale Bedeutung für das Leben der Menschen gehabt hat (vgl. Schneider 1983). Dabei traten jeweils bestimmte Grundtypen von Arbeit hervor, die im folgenden herausgestellt werden, ohne daß die historische Entwicklung der Arbeit detailliert beschrieben wird. Bereits in der Frühzeit prägt die Arbeit das Leben der Jäger, Sammler und Hirten, die zum Zweck der Existenzsicherung auf die Nutzung der sie umgebenden Natur angewiesen sind. Arbeit ist di-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
rekte Auseinandersetzung mit der Natur; sie findet in der Sippe oder Großfamilie statt, in der Produktion und Konsumtion für den Eigenbedarf vereinigt sind (vgl. Ammen 1993, S. 148). Die Natur steht zwar in einem gewissen Überfluß zur Verfügung, so daß die Menschen keineswegs - wie häufig angenommen wird - Hunger leiden müssen; sie kann aber nicht ohne Planung und vorsorgende Tätigkeit (Herstellen von Werkzeugen wie Schaber, Feuersteinklingen oder Faustkeile, Entwickeln von Arbeitsverfahren u.a.) angeeignet werden. Insofern ist die Arbeit wesentlich durch die Verhältnisse der äußeren Natur fremdbestimmt, also keineswegs selbstbestimmte Tätigkeit (vgl. Dikau 1985, S. 25). Dabei erfolgt bereits eine erste Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und Generationen (z.B. gehen die Männer auf Jagd und die Frauen bereiten das Essen und sammeln mit den Kindern Pflanzen) sowie - in einer weiteren Entwicklungsstufe - eine örtliche Spezialisierung auf bestimmte Techniken und ein Tausch von knappen und überzähligen Rohstoffen und Gebrauchsgegenständen. Eine wichtige Aufgabe ist die Verteidigung des Existenzraumes gegenüber den Naturkräften. Dabei entwickelt sich ein eigener Stand, die Schamanen oder Priester, deren Arbeit in der Beschwörung bzw. Besänftigung der Naturkräfte durch übersinnliche Fähigkeiten besteht (vgl. Ammen 1993, S. 149). Damit zeigt sich bereits in dieser frühgeschichtlichen Entwicklungsphase eine Form der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit. Diese Trennung wird im klassischen Altertum mit theoretischer Unterstützung durch die Philosophie (Piaton, Aristoteles) konsequent vollzogen. Genauer: Unter Arbeit (vita activa) wird nur die körperliche Arbeit verstanden, die vor allem (rechtlosen und der Willkür ihrer Besitzer ausgelieferten) Sklaven (animal laborans) aufgezwungen sowie von Tagelöhnern ausgeführt wird, die keine andere Arbeit finden. Demgegenüber ist das freie Werken der Vollbürger (homo faber) sinnstiftende geistige Tätigkeit und in seiner höchsten Form bloße zuschauende Kontemplation (vita contemplativa). Diese ist frei von den Zwängen des Lebensnotwendigen und kann so zuallererst der Pflege und Entfaltung der künstlerischen, kommunikativen und geistigen Vermögen der Gesellschaft dienen (vgl. Guggenberger 1982, S. 70).
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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Da die Arbeit nur um des reinen Lebensunterhaltes willen erfolgt, also dem 'Reich der Notwendigkeit' verpflichtet ist und keinen Zugang zum 'Reich der Freiheit' hat, wird sie sozial und politisch diskriminiert und verachtet (vgl. Dikau 1985, S. 26). Ihr wesentliches Kennzeichen ist die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskraft der Unfreien, und die ihr zugrundeliegenden Bedingungen (lange Arbeitszeiten, hohe Arbeitsintensität, niedriger Lebensstandard der Arbeitenden u.a.) sind auf die wirtschaftlichen Rentabilitätsinteressen der Herrschenden ausgerichtet. Die Sklavenarbeit bildet die Basis für die Wirtschafts- und Sozialstruktur in der griechischen und römischen Antike, die vor allem in der extremen Armut der arbeitenden Bevölkerung und der Vermögenskonzentration bei den Großgrundbesitzern sowie städtischen Produktionsunternehmen zum Ausdruck kommt (vgl. Eggebrecht u.a. 1980, S. 95 ff.). In der Feudalgesellschaft des Mittelalters ist Arbeit in das 'ganze Haus' zum Zweck der Versorgung der in ihm Wohnenden mit knappen Gütern eingebunden (vgl. Dikau 1985, S. 28). Arbeit und Leben bilden eine Einheit, in der die persönliche Abhängigkeit der hörigen Knechte, Mägde, Tagelöhner, Gehilfen u.a. von dem Grund- bzw. Stadtherrn als Charakteristikum hervortritt. Arbeit ist also für die Masse der Bevölkerung abhängige Arbeit (im 9. Jahrhundert gehören 90 % der Bevölkerung des fränkischen Reichs zu den unfreien Schichten (vgl. Eggebrecht u.a. 1980, S. 157)). Dem einzelnen steht jener Spielraum zur Selbstentfaltung zur Verfügung, der ihm durch Gottes Gnade von Geburt an zugewiesen ist. Arbeit ist - wie das Leben generell - entsprechend der göttlichen Weisung entweder Fluch oder Segen, Arbeitszwang oder Arbeitsfreude (vgl. Nölker 1979, S. 13 f f ) . Sie ist göttliches Gebot und wird als Dienst für die gerechte göttliche Weltordnung betrachtet. Die göttliche Weltordnung wird im Diesseits durch die feudalistische Gesellschaftsstruktur und die ständische Berufsordnung repräsentiert (vgl. Dikau 1985, S. 27). Entsprechend existiert eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Ständen und Berufen. Diese ist besonders im städtischen Handwerk fortgeschritten (siehe hierzu Vocke 1959 und 1960). So gibt es - nach dem Plan des Klosters St. Gallen aus dem Jahre 820 (vgl. Braunfels 1969, S. 52 ff.; Eggebrecht u.a. 1980, S. 174) - Nahrungshandwerker (Müller, Bäcker, Fleischer), Kleidungshandwerker (Spinner, Weber, Schneider, Walker, Gerber, Schuhmacher), Holz- und Metallhandwerker (Stellma-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
eher, Schmied, Schwertfeger, Schildmacher), und Bauhandwerker (Zimmerleute, Maurer, Steinmetze). Arbeitsteilung in der Feudalgesellschaft ist jedoch nicht nur Berufsdifferenzierung. Neben den Berufen gibt es ungelernte Tätigkeiten und mit ihnen bereits Formen von Lohnarbeit, z.B. in der Tuchproduktion, im Bauhandwerk und im Bergbau. Insbesondere in der Landwirtschaft entstehen - vor allem mit dem Einsatz neuer Techniken und Organisationsformen (Räderpflug, Nutzung der Wasserkraft, Übergang von der Zweifelder- zur Dreifelderwirtschaft u.a.) und der Ausweitung des Handels - spezialisierte, meist untergeordnete, körperlich schwere Tätigkeiten, z.B. Mäher. Damit ist angedeutet, daß die für die mittelalterliche Gesellschaft häufig angenommene Einheit von Kopf- und Handarbeit keineswegs eine generelle Erscheinungsform ist. Die Überbewertung geistiger Arbeit gegenüber körperlicher Arbeit in der Antike findet auch im Mittelalter ihren Niederschlag, vor allem unter dem Einfluß des heiligen Thomas von Aquino und seiner Wertskala vornehmer und geringer Berufe. Dies geschieht dadurch, daß die Geistesarbeit des Menschen als Voraussetzung für die Verwirklichung der gottgewollten Weltordnung betrachtet wird (vgl. Nölker 1979, S. 15 f.; Dikau 1985, S. 28). Mit der Umwandlung der mittelalterlichen Feudalgesellschaft in die kapitalistische Industriegesellschaft der Neuzeit beginnt die - bis in die Gegenwart reichende - Zentral Stellung der Lohnarbeit. Die Umwandlung setzt zunächst dort ein, wo die Mehrzahl der Bevölkerung lebt - auf dem Land (vgl. Strasser/Traube 1984, S. 135). Hier werden die auf Selbstversorgung ausgerichteten mittelalterlichen Grundherrschaften in Gutswirtschaften umgeformt. Diese verfügen über landwirtschaftliches Großeigentum, so daß sie in der Lage sind, große Mengen für den Fernmarkt zu produzieren. Die teils hörigen, teils freien Bauern sind daraufhin gezwungen, sich als ländliche Lohnarbeiter zu verdingen. Später bleibt den 'Bauern ohne Land' angesichts von Hunger und Not nichts anderes übrig, als in die Fabrik zu gehen (vgl. Michels 1947, S. 61). Aber auch viele selbständige Handwerker müssen im Zuge der Umformung weiter Bereiche des traditionellen Handwerks in Fabrikarbeit aus Konkurrenzgründen ihren Betrieb aufgeben und ein lohnabhängiges Arbeitsverhältnis eingehen. Ergebnis dieser Wandlungen ist die Zerstörung der kleinbetrieblichen, bäuerlich-handwerklichen Arbeitsstruk-
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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turen (vgl. Dikau 1985, S. 31). Das hohe Angebot an Arbeitskräften, insbesondere in der Phase des Entstehens der Manufakturen im 18./19. Jahrhundert führt zur Ausbeutung der Arbeiter und arbeitenden Kinder, zu Arbeitslosigkeit und zur Verelendung großer Teile der Arbeiterschaft (vgl. Ammen 1993, S. 153). Mit der Ausbreitung der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise erfolgt zum einen die Trennung von Produktion und Konsumtion (und damit von primär männlicher Produktions- und primär weiblicher Reproduktionsarbeit) und zum anderen die konsequente Durchsetzung der Arbeitsteilung (siehe hierzu Kap. 1.2.3.1), die Arbeit in reine Erwerbs- bzw. Berufsarbeit verwandelt und hochspezialisierte Tätigkeiten, teilweise einfache, repetitive Teilarbeiten hervorbringt (vgl. Strasser/Traube 1984, S. 137). Für den Arbeiter in der Industriegesellschaft, die den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise folgt, bedeutet dies, daß er seine Arbeit in abhängiger Stellung erbringen muß. Allgemeine Kennzeichen seiner Arbeitssituation sind Eigentumslosigkeit an den Produktionsmitteln und Zwang zum Verkauf seiner Arbeitskraft an einen Unternehmer gegen Lohn (vgl. Eggebrecht u.a. 1980, S. 325). Die Arbeitskraft hat den Charakter einer Ware, die einen Preis hat und 'vermarktet' wird. Arbeit ist ein bloßes Mittel zum Zweck, d.h. es wird gearbeitet, um Geld für den Lebensunterhalt durch Kauf von Gütern und Dienstleistungen zu verdienen. Zwar ist die Arbeit frei wählbar (insoweit Arbeitsplätze zur Verfügung stehen), ansonsten aber vom Unternehmer fremdbestimmt und dessen Rentabilitätsinteresse unterworfen. Dadurch wird sie zu entfremdeter Arbeit; der Lohnarbeiter wird vom Produkt seiner Arbeit, von seiner Tätigkeit, seiner Gattung und von sich selbst entfremdet (vgl. Marx 1973, S. 465 ff.). Dabei hat es von Anfang an nicht an Versuchen gefehlt, die Entfremdung in der Arbeit zu überwinden und einem Begriff von Arbeit im Sinne von Humanisierung zum Durchbruch zu verhelfen (z.B. von John Locke (1632-1704), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und Karl Marx (1818-1883); vgl. Nölker 1979, S. 23 ff.; Famulla 1983, S. 4). Angemerkt sei, daß der Entwicklung des Industriezeitalters durch die "theoretische Verherrlichung der Arbeit" (Guggenberger 1982, S. 71) der Boden bereitet worden ist. Wichtige Impulse sind von der Reformation im 16./17. Jahrhundert, dem Wirtschaftsliberalismus im 18./19. Jahrhundert und dem Taylorismus im 20. Jahr-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
hundert ausgegangen. So ist in der Arbeitsethik von Martin Luther (1483-1546) der Beruf zentraler Lebensinhalt, weil die Mühsal der Berufsarbeit - und zwar aller Berufe gleichermaßen - die Möglichkeit bietet, die Gnade Gottes zu gewinnen (siehe hierzu Windgren 1952). Ebenso gilt für Johannes Calvin (1509-1564) Arbeit als sinnvoller Beitrag zum ästhetischen Leben; die Zuerkennung göttlicher Gnade durch Arbeit ist aber durch die Geburt vorbestimmt (Prädestinationslehre) (siehe hierzu Weber 1965). Adam Smith (1723-1790), der bedeutendste Vertreter der klassischen Nationalökonomie, betrachtet Arbeit und Arbeitsteilung als Quelle allen Reichtums einer Nation (siehe hierzu Smith 1973) und dem Begründer der "Wissenschaftlichen Betriebsführung" Frederick Winslow Taylor (1856-1915) zufolge ist die konsequente Trennung von planender und ausführender Arbeit eine wichtige Voraussetzung zur Steigerung der Arbeitsleistung (siehe hierzu Taylor 1977).
1.2.2
Anforderungen an einen zeitgemäßen Arbeitsbegriff
Die vorangegangene Beschreibung dürfte deutlich gemacht haben, daß es heute nicht um eine grundlegende Neufassung des Arbeitsbegriffes geht, sondern um Besinnung auf dessen ursprüngliche Bedeutung (siehe Dikau 1985, S. 24). Die Geschichte der Arbeit bietet mit ihren verschiedenen Arbeitstypen genügend Ansatzpunkte für einen zukunftsorientierten Begriff von Arbeit. Folgende Punkte bedürfen jedoch besonderer Beachtung: Erstens gilt es, den in der Vergangenheit vorfindbaren "ambivalenten Charakter" (Dikau 1985, S. 24) bzw. die "zwiespältige Deutung" der Arbeit (Nölker 1979, S. 13) aufzunehmen und Arbeit als "Totalität der Lebensumstände" (Bress 1981, S. 9) zu bestimmen. Denn nicht nur die Tätigkeit des homo faber, sondern auch die des animal laborans ist produktive Arbeit, die "Segen" zu stiften vermag (vgl. Arendt 1981, S. 97); je für sich bleiben sie aber unvollständig. Dies verweist auf die Notwendigkeit, Arbeit als Einheit von geistiger und körperlicher Tätigkeit, Denken und Handeln, Planung und Ausführung zu fassen. Zweitens muß das Besondere der Arbeit als fundamentale anthropologische Kategorie mit weitreichender gesellschaftlicher Relevanz deutlich werden. Arbeit ist in ihrer historischen Entwicklung
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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in erster Linie im Sinne von 'Machen', also als Vollzug einer Tätigkeit ("ich arbeite") verstanden worden. Im deutschen Sprachraum wird von Arbeit darüber hinaus auch als Aufgabe bzw. Gegenstand von Tätigkeit ("das ist meine Arbeit") und als Ergebnis einer Tätigkeit ("das ist eine schöne Arbeit") gesprochen (vgl. Ammen 1993, S. 145). In Unterschied zum Spiel oder zur Muße ist Arbeit die planmäßige Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Natur, mit materiellen sowie geistigen Gütern und Dienstleistungen. Mit zunehmender Arbeitsteilung haben Formen kollektiver Arbeit gegenüber Formen individueller Arbeit an Bedeutung gewonnen. Ziel von Arbeit war in sämtlichen historischen Entwicklungsphasen offenbar die Sicherung und Weiterentwicklung der materiellen und geistigen Existenz der Menschen. Arbeit war jedoch nicht nur zweckorientiert, sondern es ging - jedenfalls bei der freien, geistigen Tätigkeit auch um Entfaltung des Menschseins. Aber auch körperliche Arbeit war in unserem Kulturkreis mehr als nur Mühsal und Knechtsein. Wie die Formel "ora et labora" (bete und arbeite) andeutet, wurde Arbeit unter dem Einfluß des Christentums ethisch und moralisch "aufgeladen": Nur wer arbeitet und betet, kann sich vor Gott rechtfertigen. Die inhaltliche Bindung des Arbeitsbegriffes an Gott wurde im Zuge der Säkularisierung der Gesellschaft und der Betrachtung von Arbeit als Produktionsfaktor aufgegeben und damit auch ihre ethische und moralische Aufladung. So wird unter Arbeit heute meist nur noch ein zweckrationales Tätigsein verstanden (vgl. Ammen 1993, S. 146 f.). Drittens ist Arbeit in Verbindung mit ihren strukturellen und normativen Bedingungen und den jeweiligen sozialen Zusammenhängen der Gesellschaft zu sehen und nicht lediglich als isoliertes Arbeitshandeln. Erst dadurch wird die gesellschaftliche Stellung des Arbeitenden deutlich, die maßgeblich für die Wertschätzung der Arbeit ist. So zeigt die Geschichte der Arbeit, daß die Unterscheidung von geistiger und körperlicher Arbeit auf die Stellung des Freien und des Sklaven in der Rangordnung der antiken Gesellschaft zurückzufuhren ist (vgl. Dikau 1985, S. 25). Dabei spielte das Eigentum als Unterschiedskriterium offenbar ein zentrale Rolle: Nur derjenige konnte frei arbeiten, der unter den Bedingungen des Eigentums tätig war, der also die Arbeit selbstbestimmend organisieren und auch über die Arbeitsergebnisse verfugen konnte (vgl. Bress 1981, S. 11). Die andere Arbeit war abhängig, fremdbestimmt, entfremdet, wobei es freilich je nach dem Grad der Trennung von Ar-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
beit und Leben und dem Grad der Arbeitsteilung enorme Unterschiede gab und bis heute gibt. In Anbetracht dieser Feststellungen soll unter Arbeit das körperliche und geistige Tätigsein der Menschen im Sinne eines bewußten und planmäßigen Handelns unter je bestimmten Bedingungen zur Bewältigung ihrer (materiellen und geistigen) Existenzprobleme verstanden werden. Dieser - offene - Begriff von Arbeit erfaßt sämtliche, in der komplexen Arbeitswelt heute vorfindbaren Arbeitsformen.
1.2.3
Aktuelle Arbeitsformen
1.2.3.1 Restriktive und komplexe Arbeit Den Kennzeichen der Restriktivität und Komplexität von Arbeit liegt die Tatsache zugrunde, daß Arbeit unterschiedlich organisiert werden kann. Insbesondere bei Einsatz neuer Techniken (-»• 1.4) bestehen aufgrund ihrer meist hohen Flexibilität arbeitsorganisatorische Gestaltungsspielräume, die entweder stärker im Sinne der traditionellen Arbeitsteilung oder mehr im Sinne einer Arbeitsanreicherung genutzt werden können (z. B. Verlagerung der Programmierung in die Arbeitsvorbereitung oder ihre Übertragung auf den Maschinenbediener). Es hängt also von der Art und Weise der spezifischen Kombination der Arbeitshandlungen ab, ob Arbeit restriktiv oder komplex ist (vgl. hierzu Dedering 1979, S. 250 ff.; ->• 7.3.2). Restriktive Arbeit ist durch "partialisierte Arbeitshandlungen" (Volpert 1974, S. 59), d.h. durch eine Handlungskombination gekennzeichnet, die nur einen Teil der Arbeitsstrukturen umfaßt. Entsprechend weist sie mehr oder weniger begrenzte Handlungsräume mit geringen Möglichkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung und ohne Aspekte der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und Persönlichkeitsentfaltung auf. Demgegenüber ist komplexe Arbeit ganzheitlich organisiert, d.h. sie erstreckt sich auf den Gesamtzusammenhang einer bestimmten Arbeit. Dabei bietet sie dem Arbeitenden die Möglichkeit der Selbst- und Mitbestimmung bei der Planung und Gestaltung der Arbeitsausflihrung und ihrer Bedingungen. Zudem ist sie bedürfnisorientiert, indem sie z.B. zwischenmenschlichen
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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Kontakt erlaubt, und sie ist persönlichkeitsförderlich, insofern sie z.B. Lernmöglichkeiten bietet. Komplexe Arbeit hat also die typischen Kennzeichen restriktiver Arbeit - Monotonie, pausenlose Konzentration, Fremdbestimmung und Kontrolle (vgl. Vilmar/Kißler 1982, S. 60 ff.) - überwunden. Die beiden Kategorien stellen aber nicht zwei voneinander getrennte Tätigkeitsfelder dar, sondern sie bilden im Hinblick auf den Grad der Restriktivität bzw. Komplexität ein Kontinuum, dessen Endpunkte als stark restriktive Arbeit (inhaltlich eng begrenzte, i.d.R. manuell-repetitive und fremdbestimmte Verrichtungen) und hochkomplexe Arbeit (inhaltlich breit ausgerichtete, Denken und Handeln erfordernde, selbstbestimmte Tätigkeit) zu kennzeichnen sind. Zwischen diesen Endpunkten gibt es beliebig viele 'Fälle' von mehr restriktiver und mehr komplexer Arbeit. Dabei kann die einzelne Arbeitstätigkeit sowohl hinsichtlich der technisch-funktionalen (zweckrationalen) also auch hinsichtlich der sozial-kulturellen (kommunikativen) Merkmale restriktiv oder komplex sein. Technischfunktionale Arbeitsmerkmale beziehen sich auf die Planung anhand von Vorgaben, die Realisierung der Planung und die (formallogische) Überprüfung des Realisierungsverfahrens. Sozial-kulturelle Arbeitsmerkmale sind z.B. die Artikulation und Hinterfragung von beruflichen Verhaltenserwartungen, ihre Bestimmung und Verinnerlichung mit dem Ziel der Realisierung humaner Arbeitsverhältnisse. Restriktive Arbeit ist Ausdruck der industriell-arbeitsteiligen Produktionsweise (vgl. Kap. 1.2.1) in ihrer gegenwärtig weitesten Ausformung. Entsprechend ist in der Bundesrepublik Deutschland eine große Mehrheit der Erwerbstätigen (ca. 2/3) in Arbeitsverhältnissen mit mehr oder weniger restriktiven Arbeitsaufgaben tätig. Überwiegend wird restriktive Arbeit von Maschinenarbeitern in der industriellen Produktion und einfachen Angestellten in verschiedenen Wirtschaftszweigen ausgeführt. Von ihnen sind es vor allem Frauen, denen extrem restriktive Arbeitstätigkeiten - mit einfachen Aufgaben, hohen Belastungen, Teilzeitbeschäftigung, geringen Löhnen u.a. - zugemutet werden (siehe hierzu Ostner 1989). Die anderen Erwerbstätigen - Beamte, qualifizierte Angestellte, Handwerker, Landarbeiter - sind teilweise zwar auch mit restriktiven Arbeitsmerkmalen konfrontiert, insgesamt sind ihre Tätigkeiten aber komplexer strukturiert. Komplexe Arbeit im eigentlichen Sinne findet sich hingegen - da sie dem gängigen Verständnis der kapitalistisch-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
industriellen Wirtschaftsweise widerspricht - nur in Randbereichen der Erwerbsarbeit, z.B. in Bildung und Forschung oder bei freien Berufen, z.B. dem Beruf des Arztes oder des Architekten. Ihre eigentliche 'Domäne' liegt außerhalb der Erwerbsarbeit, insbesondere im Bereich der Eigenarbeit (vgl. Kap. 1.2.3.2). In den vergangenen Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland - unter anderem im Rahmen des Humanisierungsprogramms der Bundesregierung (siehe hierzu Pöhler 1979) - mehrere Versuche, durch Maßnahmen zur Arbeitsstrukturierung (Arbeits-
(platz)-wechsel, Aufgabenerweiterung, Aufgabenbereicherung, autonome Arbeitsgruppe; siehe hierzu Vilmar (Hrsg.) 1973, S. 108 ff.) zu komplexeren Arbeitstätigkeiten zu kommen, vor allem in Betrieben der Automobil-, Metall- und Elektroindustrie. Viele dieser Experimente wurden jedoch nicht weiter verfolgt, so daß ihre Erfolge auf Dauer nicht gesichert werden konnten. Immerhin ist heute in manchem Betrieb ein Umdenken in der Arbeitspolitik festzustellen: So gibt es bereits - in den Kernsektoren von Produktion und Verwaltung - Ansätze neuer, auf ganzheitliche Aufgabenzuschnitte gerichtete Arbeitsformen (vgl. Kern/Schumann 1984; Baethge/ Oberbeck 1986). Sie belegen, daß die Betriebe sich nicht mehr einseitig an den Prinzipien tayloristischer Arbeitsorganisation orientieren und komplexe Arbeit inzwischen durchaus als ökonomisch nützlich ansehen. Ob diese Ansätze die Richtung in die Zukunft der Arbeit weisen, ist jedoch eine offene Frage (-• 1.4.4.7). 1.2.3.2 Erwerbsarbeit - Eigenarbeit - Gesellschaftsarbeit In der Bundesrepublik Deutschland wird unter Arbeit in erster Linie die Erwerbsarbeit (Lohnarbeit) verstanden, und zwar die in Form von Berufen organisierte Arbeit im formellen Sektor (Land- und Forstwirtschaft, verarbeitende Industrie und Handwerk, Dienstleistungsgewerbe und staatliche Einrichtungen). Erwerbsarbeit ist geldlich bewertete Arbeit gegen Lohn und als solche unmittelbar auf Gelderwerb gerichtet. Neben der Berufsarbeit, die mit besonderen marktstrategischen Vorteilen (Kombination bestimmter Fähigkeiten, kontinuierliche Beschäftigung u.a.) verbunden ist (vgl. Beck/Brater 1982, S. 208 ff), gehört die sog. Alternativökonomie (alternative Projekte und Betriebe) und die sog. Schattenwirtschaft (Schwarzarbeit, Verkauf selb st gefertigter Gegenstände, Steuerhinterziehung, illegale Leiharbeit und andere Nebentätigkeiten auch krimineller Art, z.B. Waffen- und Drogenhandel) zur Erwerbsarbeit.
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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Erwerbsarbeit als Beruf ist heute nicht mehr primär (körperlichschwere) Industriearbeit, sondern psychisch-belastende Dienstleistungsarbeit (->• 1.4.4.6). In der Bundesrepublik Deutschland ist der Anteil der Erwerbstätigen im tertiären Sektor (Dienstleistungsgewerbe und staatliche Einrichtungen) an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen seit den fünfziger Jahren von 33,6% (1950) auf 43,6% (1970) und auf 55,0% (1987) gestiegen. Gleichzeitig ist die Erwerbstätigkeit im sekundären Sektor (verarbeitende Industrie und Handwerk) von 43,0% (1950) bzw. von 48,9% (1970) auf 41,8% (1987) sowie im primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft) von 23,3% (1950) auf 7,5% (1970) und auf 3,2% (1987) zurückgegangen (vgl. Zahlenbilder 1990). Dabei ist zu berücksichtigen, daß auch im sekundären Sektor mit steigender Tendenz Dienstleistungsarbeit verrichtet wird. Die Tertiarisierung der Erwerbsarbeit ist insbesondere auf das veränderte Konsumverhalten der Bevölkerung zurückzuführen und durch die spezifische Art des technisch-organisatorischen Wandels (Automatisierung der Arbeitsmittel und -verfahren) gefördert worden. Der - qualitative - Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsarbeit war von - quantitativen - Veränderungen in Form von Arbeitszeitverkürzungen bis auf nunmehr 35 Wochenstunden (allerdings erst in wenigen Branchen) und Arbeitsplatzeinsparungen mit der Folge der heute bestehenden Massenarbeitslosigkeit begleitet (vgl. Kap. 1.2.4.2). Dadurch ist das Erwerbssystem in die Krise geraten, und dadurch hat die Erwerbsarbeit einen anderen Stellenwert erhalten: Zwar braucht der Mensch nach wie vor die Erwerbsarbeit, insofern sie - den Tag, die Woche, das Jahr und das ganze Leben einteilt und somit ein Zeiterlebnis erzwingt, - den sozialen Horizont der Arbeitenden über die Familie und den Kreis der Nachbarn und Freunde hinaus erweitert, - zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse notwendig ist, - den Platz des Menschen in der Gesellschaft bestimmt und - ihn durch die regelmäßige, systematische Tätigkeit an die soziale Realität bindet (vgl. Jahoda 1984, S. 12 f.). Damit ist die Sphäre erwerbswirtschaftlicher Arbeit auch von zentraler Bedeutung für die ganze Gesellschaft, zumal sie auf ökonomische Produktion materieller und immaterieller Güter im Kontext von Distribution (d.h. Verteilung der Produktionsmittel und Ar-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
beitskräfte) und Zirkulation (d.h. Verteilung der Produkte) sowie von Konsumtion (d.h. Reproduktion der Arbeitskräfte in Familie und Freizeit) gerichtet ist. Die Erwerbsarbeit hat heute aber nicht mehr die Bedeutung wie in früheren Jahrhunderten, wie sich auch ihre Dominanz gegenüber der Eigen- und Gesellschaftsarbeit relativiert hat (vgl. auch Ammen 1993, S. 156). Zur Eigenarbeit gehören die Hausarbeit (Kochen, Einkaufen, Behördengänge usw.) sowie eine Reihe von Formen der Selbstversorgungswirtschaft (Erziehungsarbeit, Pflegearbeit, Eigenheimbau, Gartenarbeit, do-it-yourself-Aktivitäten u.a.) und der Selbsthilfeökonomie (Eltern-Kind-Gruppen, Krankeninitiativen, psychotherapeutische Gesprächsgruppen u.a.). Diese Tätigkeiten orientieren sich am eigenen Bedarf. Sie zeichnen sich durch gebrauchswertorientierte Güterproduktion und Dienstleistungen aus und sind eigenverantwortlich und eher selbstbestimmt. In der Regel fuhren sie, insbesondere weil der Arbeitende seine Zeit selbst verwalten kann, zu größerer Zufriedenheit als fremdbestimmte Erwerbsarbeit (vgl. Maier 1984, S. 118; Teichert 1985, S. 8 f.). Aber auch Eigenarbeit kann fremdbestimmt sein, insoweit sie notwendig ist und man sich ihr nicht entziehen kann, z.B. bei Erziehungs- und Pflegearbeit. Motive für Eigenarbeit sind in erster Linie fehlende Geldmittel für Handwerksdienste und professionelle Dienstleistungen sowie Spaß am Selbermachen, Freude, etwas Neues zu lernen und Entspannung vom Beruf (vgl. Maier 1984, S. 121). Bei Gesellschafts(Sozial- oder Öffentlichkeits-)arbeit handelt es sich um soziale Dienste wie Aktivitäten in der Kommune, ehrenamtliche Tätigkeiten in Vereinen, Verbänden, politischen Parteien, Bürgerinitiativen u.a. Diese sind auf den sozialen Bedarf der Öffentlichkeit gerichtet und - stärker als selbstbestimmte Eigenarbeit durch das Prinzip der Mitbestimmung im Sinne solidarischer Partizipation bestimmt. Eigen- und Gesellschaftsarbeit bilden den informellen Arbeitssektor. Dieser besteht also aus der Vielfalt der "Alternativen zur Industriearbeit" (siehe als Überblick über die Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen und Realisierungschancen alternativer Arbeit Fieblinger/Schimming 1981, S. 91 ff.; Meyer-Harter 1993, S. 353 ff.), und als solcher weist er eine beachtliche Größe auf: Schätzungen zufolge liegen die im informellen Sektor der alten Bundes-
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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länder im Jahre 1983 geleisteten Arbeitsstunden mit ca. 48 Mrd. höher als die im formellen Sektor mit 44,3 Mrd. (25,1 Mio Erwerbstätige, durchschnittlich 33,2 Stunden/Woche) (vgl. Teichert 1985, S. 7). Die Bedeutung der Arbeit im informellen Sektor ist in letzter Zeit insbesondere durch die Diskussion über das "Ende der Arbeitsgesellschaft" angesichts fehlender Arbeitsplätze im formellen Sektor und der Massenarbeitslosigkeit sowie durch den Wertewandel in der jungen Generation und die Problematisierung der - noch immer primär an das weibliche Geschlecht gebundenen - Hausarbeit (-»• 1.4.4.4) seitens der Frauenbewegung stärker hervorgetreten. Dabei ist deutlich geworden, daß mit dem Rückgang der (Erwerbs-) Arbeitszeit bzw. der Zunahme der arbeitsfreien Zeit neue "Freizeitbedürfnisse" entstehen, die vor allem Dienstleistungsarbeiten nach sich ziehen (vgl. Guggenberger 1982, S. 78): großzügiges Wohnen, modische Kleidung, mehr Unterhaltung, Sport, aufwendigere Freizeitaktivitäten u.a. Solche Arbeiten können meist auch im formellen Sektor erledigt werden, doch im informellen Sektor finden die handelnden Personen oft erst die Voraussetzungen, um dabei ihre Qualifikationen - Phantasie, Spontaneität, Sensibilität u.a. - angemessen einzubringen (vgl. Teichert 1985, S. 9). Deutlicher in das öffentliche Bewußtsein gerückt ist offenbar auch die Tatsache, daß zwischen der bezahlten Arbeit im formellen Sektor und der meist unbezahlten Arbeit im informellen Sektor strukturelle Abhängigkeiten bestehen (vgl. Kap. 1.2.4.2), die es sinnvoll erscheinen lassen, die verschiedenen Arbeitsformen intermediär zu vernetzen (vgl. Effinger 1990, S. 350 ff.) und dafür zu sorgen, daß jeder Bürger im Bereich der Erwerbs-, Eigen- und Gesellschaftsarbeit tätig sein kann (zu den hierzu vorliegenden Konzepten siehe u.a. Huber 1984; Fetscher 1985; Lecher 1986, S. 256 ff.).
1.2.4
Arbeitssituationen als Grundkategorien der Arbeit
1.2.4.1 Kennzeichnung der Arbeitssituation Das Arbeitshandeln ist durch eine Reihe konstitutiver und struktureller Merkmale determiniert, die in ihrer Summe die jeweilige Arbeitssituation definieren. Der Begriff der Arbeitssituation bezeichnet also die Gesamtheit der Bedingungsfaktoren konkreter Arbeit. (Zur Kennzeichnung der Arbeitssituation siehe Dedering 1979, S. 255 ff; Littek 1982, S. 92 ff.). Dabei sind Subjekt- und umweltbezogene Bedingungen zu unterscheiden: Mit subjektbezogenen Be-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
dingungen sind die Voraussetzungen des in der Situation stehenden (individuellen oder kollektiven) Subjekts gemeint, also die Leistungsfähigkeit, Qualifikation, Berufserfahrung, Ansprüche, Erwartungen, Motivation u.a. Zu den umweltbezogenen Bedingungen gehören so unterschiedliche Faktoren wie natürliche Ressourcen, technische Geräte, Entlohnung und Formen der Zusammenarbeit. Zu ihrer Bestimmung ist es zweckmäßig, von den zentralen Momenten der Arbeitssituation auszugehen (vgl. Abb. 1) und nach den Bedingungen in konkreten Arbeitssituationen zu fragen. Die komplexe Arbeitssituation ist durch sämtliche dieser - analytisch relevanten Momente gekennzeichnet. Neben Erwerbsarbeit enthält sie auch Formen der Eigen- und Gesellschaftsarbeit. Eine Arbeitssituation ohne Erwerbsarbeit, in der beispielsweise nur unbezahlte Hausarbeit stattfindet, stellt also eine reduzierte Situation dar. Abb. 1:
Zentrale Momente der Arbeitssituation
Dimensionen der ~~~~->^Arbeitssituation Ebenen •—_____ der Arbeitssituation
sachliche Dimension
ökonomische Dimension
soziale Dimension
Arbeitsplatz
Arbeitsaufgabe
Lohn
Kooperation
Betrieb
Arbeitsumgebung
Beschäftigung
Position
Gesellschaft
Produktivkräfte
Reproduktion
Wirtschafts- und Sozialordnung
Die verschiedenen Arbeitsbedingungen sind in vielfältiger Weise in- und miteinander verankert. Generell ist die Arbeitssituation - wie jede andere Situation auch - als (relativ dauerhafte) Subjekt-Umwelt-Beziehung zu charakterisieren. Da nicht nur die Subjekt-, sondern auch die umweltbezogenen Arbeitsbedingungen weitgehend durch die Interessen der beteiligten Personen bestimmt sind, erhält der Begriff des sozialen Interesses für die Arbeitssituation konstitutive Bedeutung. Dabei ist davon auszugehen, daß die Situationskomponenten 'Subjekt' und 'Umwelt' - wenn auch nicht in jedem Einzelfall, so doch auf Dauer immer wieder - unvereinbar sind und zwischen ihnen Interessengegensätze bestehen, die sich in manifesten und latenten Konflikten äußern. Erfahrungsgemäß ist insbesondere das Verhältnis zwischen abhängig Arbeitenden und Unter-
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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nehmer durch gegensätzliche Interessen (Humanisierungs- versus Rentabilitätsinteresse) und durch Konflikte geprägt. Diese können sich prinzipiell auf sämtliche der in Abb. 1 angegebenen Momente sowie auf alle Arbeitsbedingungen beziehen, wobei freilich die Arbeitgeberinteressen - trotz gewisser Möglichkeiten der Einflußnahme durch die Arbeitnehmer und ihrer Interessenvertreter im Rahmen der gesetzlichen Mitbestimmung - die besseren Durchsetzungschancen haben. Zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bestehen zwar auch harmonische und neutrale Beziehungen; diese sind aber meist begrenzt und kurzfristiger Art, so daß sie nicht als charakteristisch für Arbeitssituationen angesehen werden können. Aufgrund der Diskrepanz zwischen den Interessen des Situationssubjekts und den ihm zur Verfugung stehenden, durch die Umweltbedingungen begrenzten Möglichkeiten ist es vielmehr geboten, die Arbeitssituation als Konfliktsituation zu definieren. 1.2.4.2 Allgemeine Phänomenologie der Arbeitssituation Aufschluß über die - meist 'verborgenen1, nicht unmittelbar einsichtigen - Inhaltsstrukturen von Arbeitssituationen kann durch deren reflektierende und interpretierende Beschreibung anhand der Momente in Abb. 1 gewonnen werden. 1. Die Arbeitssituation ist sachlich (-funktional), besonders durch die zu erfüllende Arbeitsaufgabe und die mit ihr gestellten Arbeitsinhalte gekennzeichnet. Die Arbeitsaufgabe verweist zum einen auf die Qualifikationsanforderungen und zum anderen auf die am Arbeitsplatz auftretenden Belastungen als zentrale Bedingungsfaktoren. * Qualifikationsanforderungen: Die zur Ausführung der Arbeitsaufgabe notwendigen Qualifikationen sind durch die Art der Einzelfünktionen und die Ausstattung des Arbeitsplatzes mit Arbeitsmitteln (Werkzeuge, Maschinen usw.) bestimmt. Das bedeutet, daß eng 'geschnittene' Arbeitsaufgaben und leicht 'handhabbare' Arbeitsmittel geringe Qualifikationsanforderungen stellen und umgekehrt. * Belastungen: Es sind zwei Belastungsfaktoren zu unterscheiden: (1) Belastungen durch die Art der Arbeit, und zwar physische Belastungen (z.B. Schwerarbeit), Umgebungseinflüsse (z.B. Staub oder Gase), psychische Belastungen (z.B. Über- und Unterforderung) und Unfallgefahren und (2) Belastungen durch die Organisation der Arbeit (Schichtarbeit, lange Arbeitszeit, Zeit-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
druck, personale Abhängigkeiten u.a.). Da Arbeitende häufig Mehrfachbelastungen ausgesetzt sind, ergibt sich das reale Ausmaß der Belastungen erst durch Erfassung sämtlicher Belastungsfaktoren. Folgen der Belastungen sind gesundheitliche Beeinträchtigungen und Schäden der Arbeitenden sowie Auswirkungen auf ihre subjektive Verfassung (Minderung der Leistungsfähigkeit, Desinteresse, Resignation u.a.). Dabei sind sie noch einer zusätzlichen Belastung durch die industrielle Produktion ausgesetzt, insofern diese zu Umweltzerstörungen führt und letztlich die Existenz der ganzen Gesellschaft bedrohen und gefährden kann. Arbeitsbelastungen fuhren aber nicht nur zu Gesundheitsverschleiß, sondern bestimmen auch unmittelbar die Qualität der Arbeit (Arbeitsausführung, Verhältnis der Arbeitenden zur Arbeit, Arbeitsergebnis) und - da sie sich restriktiv auf die ganze Lebenssituation des Arbeitenden auswirken - auch die Qualität der Freizeit: Wer bei der Arbeit hohen Belastungen ausgesetzt ist, benötigt auch einen hohen Anteil arbeitsfreier Zeit zur physischen und psychischen Erholung, der für eine aktive Freizeitgestaltung nicht mehr zur Verfügung steht (vgl. Littek 1982, S. 126). 2. Der Arbeitende fuhrt seine Aufgabe in einer bestimmten Arbeitsumgebung durch. Somit sind auch Arbeitsbedingungen wie räumliche Gegebenheiten, technische Ausstattung des Betriebes sowie Art und Struktur des Produktionsprozesses für das Arbeitshandeln von Einfluß. Maßgeblich ist der Grad der Technisierung, in dem bestimmte Produktionsfünktionen von Maschinen und technischen Vorrichtungen ausgeführt werden, denn hiervon hängt das Ausmaß der Verdinglichung des Arbeitenden im Produktionsprozeß ab. Neue, flexible Techniken auf der Basis der Mikroelektronik (CNC-Werkzeugmaschinen, Textautomaten u.a.) und ihre Vernetzung zu bereichsübergreifenden, computergestützten Großsystemen bieten die Möglichkeit, auch komplexe Arbeitsabläufe in Produktion und Verwaltung (CAD, CIM u.a.) auf Maschinen zu übertragen. Zudem sind die verbleibenden Arbeitsaufgaben oft stark technisch ausgerichtet und durch Techniken bestimmt. Dabei schafft die flexible Technik auch die Voraussetzung für die Herstellung von konsumentenbezogenen Qualitätsprodukten in Kleinserien- und auftragsorientierten Fertigungsprozessen, so daß häufige Produktionsumstellungen notwendig werden. Diese Möglichkeiten verweisen
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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darauf, daß auch die Arbeitssituationen der Betroffenen durch flexible Techniken und durch technische Umstellungen bestimmt sind. 3. Die für den Produktionsprozeß notwendigen und verfügbaren gesellschaftlichen Produktivkräfte sind die Gesamtheit der qualifikatorischen Voraussetzungen der Menschen zum Arbeitshandeln, der Entwicklungsgrad der Technik und der Organisationsgrad der Arbeit. Der jeweilige Stand der Produktivkräfte resultiert aus der technisch-organisatorischen Arbeitsteilung und der menschlichen Qualifizierung. Arbeitsteilung besteht auf internationaler, gesellschaftlicher und betrieblicher Ebene. Für die Arbeitssituation ist insbesondere innerbetriebliche Arbeitsteilung von Bedeutung. Diese besteht (in Fortführung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftssektoren, Wirtschaftszweigen und Betrieben sowie zwischen Betrieben und privaten Haushalten) in Form der Abgrenzung von Tätigkeitsarten (Produktionsarbeit, Bürotätigkeit, Kundendienst u.a.) und (im Anschluß an die gesellschaftliche Berufsgliederung) in der Abgrenzung von Einzeltätigkeiten sowie in Form der 'Zerstückelung' (Arbeitszerlegung) von Arbeitstätigkeiten in Teilverrichtungen, die der Arbeiter dauernd wiederholt ("repetitive Teilarbeit"). Innerbetriebliche Arbeitsteilung dient dem Zweck der Produktionssteigerung durch Spezialisierung, Arbeitsintensivierung, einheitliche Leitung, Kontrolle, Disziplinierung und Lohnreduktion. Hingegen zielen die schon erwähnten neuen Produktionskonzepte darauf, Produktionsfortschritte - umgekehrt - durch ganzheitliche Arbeit zu erreichen. Jedenfalls wird mit dem realisierten Grad der Arbeitsteilung (bzw. Arbeitszusammenfassung) über den Gestaltungsspielraum des Arbeitenden entschieden und damit darüber, ob sein Arbeitshandeln mehr restriktiv oder mehr komplex ist (vgl. Kap. 1.2.3.1).
Maßnahmen zur Qualifizierung der Arbeitenden (in Schule, Berufsausbildung und Weiterbildung) zielen auf die Ausstattung mit Qualifikationen (Kenntnissen, Fertigkeiten, Haltungen) zur Bewältigung von Arbeitssituationen und Arbeitshandlungen. Dabei besteht das Problem, daß das ausgebildete Qualifikationspotential oft nicht mit den Qualifikationsanforderungen übereinstimmt: Überschüssige Qualifikationen finden dann keine Verwendung und fehlende Qualifikationen müssen durch Weiterbildungsmaßnahmen nachgerüstet werden. Insofern stellt die Qualifikation des Arbeitnehmers einen
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
wichtigen Bedingungsfaktor für dessen Arbeitshandeln dar. Die Kluft zwischen verfugbaren und verlangten Qualifikationen ist aber nicht nur ein Problem der betrieblichen Personalplanung und Weiterbildung (vgl. Dedering/Feig 1993), sondern vor allem auch der Betroffenen selbst, insofern sie im Zuge des technisch-organisatorischen Wandels immer wieder der Gefahr der Qualifikationsentwertung und der Notwendigkeit der Qualifikationsnachbesserung ausgesetzt sind. Damit ist auch ihr Einkommen gefährdet, denn die erworbene und verlangte Qualifikation ist (neben Faktoren wie Anpassungsfähigkeit des Arbeitenden, Belastungen am Arbeitsplatz, Arbeitsmarktlage, Arbeitszeit, Standort des Betriebes u.a.) eine wichtige Basis der Lohnbemessung. 4. Unter ökonomischem Aspekt ist für die Arbeitssituation zuallererst der Lohn von Belang. Der Arbeitnehmer möchte für seine Arbeitsleistung einen möglichst hohen (und im Vergleich zu den Löhnen seiner Kollegen auch gerechten) Lohn bekommen. Der Arbeitgeber versucht hingegen, die Arbeitskraft möglichst effizient zu nutzen. Damit rückt das Lohn-Leistungs-Verhältnis als Bedingungsmoment des Arbeitshandelns in den Vordergrund. Für dessen Bestimmung stehen verschiedene Lohnformen zur Verfügung, wobei der Leistungslohn (Bindung des Lohnes an die erbrachte Leistung) und der Zeitlohn (Zahlung eines festen Betrages für einen Zeitraum) Grundformen darstellen. Mit der Wahl der Lohnform stellt sich im Betrieb also auch das Problem der Leistungsmessung und -bewertung sowie der Lohneingruppierung. Hierbei hat der Betriebsrat nach § 87 (1) Betriebsverfassungsgesetz ein Mitbestimmungsrecht. Grundlage der betrieblichen Lohngestaltung sind die im Rahmen der Tarifautonomie (§ 9 Abs. 3 GG) von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelten Lohn- und Gehaltstarifverträge mit Mindest(Brutto-)löhnen und Einstufungsmerkmalen für einzelne Lohn- und Gehaltsgruppen sowie Manteltarifverträge, die allgemeine Bestimmungen über die Arbeitsbedingungen vorsehen. 5. Die Sicherung des Lohnes bzw. der Beschäftigung (eines Arbeitsplatzes) spielt für die Arbeiter und Angestellten (die Beamten genießen fast vollkommenen Kündigungsschutz) eine noch größere Rolle als die Höhe des Lohnes (vgl. Vilmar/Kißler 1982, S. 114). Dies ist insofern verständlich, als sich die abhängig Beschäftigten in unserem Wirtschaftssystem Bedingungen gegenüber sehen,
Arbeitshandlungen und Arbeitssituationen
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die für sie eine "doppelte Existenzunsicherheit" (Vilmar/Kißler 1982, S. 111) bedeuten: * Als Arbeitende in einem privatwirtschaftlichen System, in dem immer wieder konjunkturelle und strukturelle Krisen auftreten, sind sie einer strukturimmanenten Unsicherheit ausgesetzt und * als Arbeitende im Betrieb, in dem laufend arbeitssparende Rationalisierungsmaßnahmen durchgeführt werden, hängen sie von den ungewissen Entscheidungen der Produktionsmittelbesitzer und ihrer Manager ab. Angst vor Krisen und Angst vor Arbeitsverlust (Kurzarbeit und Entlassung) sind somit hervortretende Kennzeichen der Arbeitssituation mit privatkapitalistischen Eigentums- und Produktionsbedingungen. Besonders angesichts der andauernden Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und in Europa machen sich viele Arbeitnehmer Sorgen um ihren Arbeitsplatz: Bereits in den siebziger Jahren (wirtschaftliche Rezession nach der ersten Ölkrise 1973) gab es in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 1 Mio. registrierte Erwerbslose, in den achtziger Jahren stieg die Erwerbsarbeitslosigkeit auf über 2,5 Mio. und nunmehr (1996) sind es 4 Mio. Arbeitslose (incl. neue Bundesländer). Prognosen zufolge wird die Massenarbeitslosigkeit bis zum Jahre 2010 aufgrund der Schere zwischen Anstieg der Erwerbsbevölkerung und Sinken des Arbeitskräftebedarfs ein Problem bleiben (vgl. Friedrich 1993, S. 335). Für die Betroffenen ist (Dauer-) Arbeitslosigkeit oft eine existenzbedrohende Realität: Sie führt nicht nur zu Einkommenseinbußen und damit zu Einschränkungen in der Lebensführung, sondern sie kann auch soziale Beeinträchtigungen hervorrufen (Verlust von Kontakten zu Arbeitskollegen, fehlende berufliche Aufstiegsmöglichkeiten u.a.) und sogar die Persönlichkeit zerstören (durch Schuldgefühle, geringes Selbstwertgefühl u.a.). Häufig können Erwerbsarbeitslose ihre Situation nur bewältigen, indem sie auf Formen der Eigen- oder Gesellschaftsarbeit ausweichen. 6. Die im Betrieb und auf tarifVertraglicher Ebene oft heftig geführten Auseinandersetzungen um höhere und sichere Löhne, deren Ergebnisse sich gesamtwirtschaftlich in der Einkommensverteilung zeigen (vgl. Krol 1993, S. 369 ff.), werden erst angesichts der Tatsache verständlich, daß der Lohn von zentraler Bedeutung für die gesellschaftliche Reproduktion ist. Dieser Zusammenhang wird an folgenden Punkten deutlich.
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
* Für den abhängig Beschäftigten ist der Lohn Einkommen und damit - meist die einzige - Grundlage für den Standard seiner Lebensführung (sowie seiner Angehörigen). Zwar konnten die Arbeitnehmerhaushalte der Bundesrepublik Deutschland ihren Lebensstandard im Laufe der letzten 40 Jahre aufgrund von Lohnerhöhungen erheblich steigern (von 1950 bis 1990 ist die Lohnkaufkraft um das 3,5 fache gewachsen; vgl. Albers 1993, S. 76). Gleichwohl sind weitere Einkommensverbesserungen notwendig, und zwar nicht nur für jene Erwerbsgeminderten, Kinderreichen, Frauen, Älteren und Ausländer, die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden, sondern für das Gros der Arbeitnehmer. Sie müssen nämlich ihr verfügbares Einkommen größtenteils für den Grundbedarf (Wohnung, Nahrung und Kleidung) aufwenden, so daß ihre Spielräume für den freien Bedarf gering sind (vgl. Albers 1993, S. 80). Um ihre Lebenshaltung zu verbessern, sehen sich viele Arbeitnehmer heute gezwungen, neben ihrem Beruf Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft (z.B. Schwarzarbeit) und der Selbstversorgungswirtschaft (z.B. Renovierung der Wohnung) zu übernehmen (vgl. Kap. 1.2.3.2). Auch können Arbeitnehmerhaushalte ihren Lebensstandard häufig nur bei zwei Arbeitseinkommen aufrechterhalten, so daß Doppelbelastungen (insbesondere der Frauen) in Beruf und Haushalt auftreten. * Von seinem Lebensstandard hängt es ab, inwieweit der Arbeitnehmer seine im Produktionsprozeß verausgabte Arbeitskraft wiederherstellen kann. Generell ist hierfür das Niveau der Befriedigung aller Lebensbedürfnisse des Arbeitenden von Bedeutung. Erhebliche 'Reproduktionskraft1 dürfte auch der Eigen- und Gesellschaftsarbeit zukommen. Von der Wiederherstellung seiner Arbeitskraft ist nun aber die Frage abhängig, inwieweit der Arbeitnehmer die Arbeitsleistung aufrechterhalten und er sich den Arbeitslohn und einen Arbeitsplatz sichern kann. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur der Arbeitslohn als ein Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zu betrachten, sondern umgekehrt sind auch die Reproduktionsmöglichkeiten ein Mittel zur Lohnerzielung und Beschäftigungssicherung. Die spezifischen Reproduktionsbedingungen eines Arbeitnehmers stellen also zugleich Bedingungen seiner Arbeit dar. * Bestimmend für die Freizeit, die für Reproduktionsmaßnahmen zur Verfügung steht, ist die (tägliche, wöchentliche und jährliche) Arbeitszeit. Die Arbeitszeit ist in der Bundesrepublik von fast 50
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Stunden pro Woche und einer Sechs-Tage-Woche zu Beginn der fünfziger Jahre auf nunmehr weniger als 40 Stunden in der FünfTage-Woche verkürzt worden. Unter Berücksichtigung der arbeitsgebundenen Zeit (unbezahlte Pausen, Arbeitsweg, Zeit für Essen, Waschen und Umkleiden) werden jedoch auch heute noch mehr als zwei Drittel der wachen Tageszeit von der Arbeit bestimmt (vgl. Kap. 1.2.3.2). Insofern hat die Arbeitszeit als Arbeitsbedingung und als Reproduktionsbedingung Bedeutung: Sie bestimmt die Dauer der Arbeit und der Reproduktion. 7. Mit den Momenten der sozialen Dimension sind arbeitsorganisatorische Bedingungen des Arbeitshandelns mit Blick auf die vielfältigen Arbeitsbeziehungen in Betrieb und Gesellschaft angesprochen. Die kooperativen Arbeitsbeziehungen (Kooperation) ergeben sich aus der Tatsache, daß Arbeitsteilung zugleich Arbeitskoordinierung notwendig macht. Dies gilt grundsätzlich sowohl für Einzelarbeits- als auch für Gruppenarbeitsplätze Mit der zugenommenen Bedeutung technischer Arbeitsmittel haben die durch die Technik vermittelten Kooperationsformen zwischen den Arbeitenden ("gefügeartige Kooperation") zugenommen und damit auch das verbindliche Zusammenwirken von Maschine und Mensch (der Mensch als Lückenbüßer), die Verdrängung des Menschen aus der eigentlichen Produktion in die Produktionsumräume, die Beherrschung des Menschen durch die Technik und die Beschränkung der zwischenmenschlichen Kontakte auf formale, systemvermittelte Kommunikation. Demgegenüber sind Formen der direkten und selbstbestimmten Gruppenarbeit ("teamartige Kooperation") zurückgegangen. Neuerdings scheinen sie in der industriellen Produktion jedoch wieder an Bedeutung zu gewinnen. Die Möglichkeiten zur Kommunikation zwischen den Arbeitskollegen sind entscheidend auch von der Komplexität der Arbeit abhängig, d.h. sie sind dort relativ gut, wo die Arbeitsorganisation Handlungs- und Entscheidungsspielräume bietet und wo ohne Zeit- und Leistungsdruck zusammengearbeitet werden kann und wo die Arbeitsorganisation eine gewisse Flexibilität aufweist. Mit der Anwendung der neuen Computertechnologie, die den Übergang von der "punktuellen Rationalisierung" einzelner Arbeitsplätze zur "systemischen Rationalisierung" komplexer Arbeitsabläufe ermöglicht (vgl. Baethge/Oberbeck 1986, S. 26 ff.) verändern sich die engen, mit einem Arbeitsplatz verbundenen Kooperationsbezüge in
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Richtung auf den "betriebsweiten (Littek 1982, S. 120).
Kooperationszusammenhang"
8. Die Arbeitsorganisation findet auch in den betrieblichen Herrschafts- und gesellschaftlichen Machtstrukturen ihren Ausdruck. Diese sind Resultat der Arbeitsteilung, mit der ja neben Kooperation auch soziale Ungleichheit erzeugt und verstärkt wird. Somit ist die Arbeitsorganisation auch Basis für die Position, die der Arbeitende in der Hierarchie des Betriebes und der Schichtung der Gesellschaft einnimmt. Die soziale Geltung (Anerkennung und Selbstrespekt), die der Positionsinhaber in Betrieb und Gesellschaft genießt, ist jedoch weniger von der Position selbst abhängig als vielmehr vom sozialen Status, d.h. von der sozial bewerteten Position. Bedeutsam für das betriebliche Statussystem und die gesellschaftliche PrestigeSchichtung ist vor allem das Ansehen der Berufe, wobei der verlangte Qualifikationsgrad und seine Symbole (Diplom, Meisterbrief u.a.) sowie die Höhe des (vermuteten) Einkommens mit seinen Auswirkungen auf den Lebensstandard (Wohnsituation, Freizeitverhalten usw.) wichtige Bestimmungsgründe für den sozialen Status sind. Die Arbeitssituation ist also auch durch die Position des Arbeitenden bzw. ihre soziale Bewertung charakterisiert und somit ein Bedingungsfaktor des Arbeitshandelns. 9. Die soziale Marktwirtschaft, die in der Bundesrepublik bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung, stellt die Rahmenordnung für das wirtschaftliche Handeln und damit auch für das Arbeitshandeln dar. Sie regelt die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen über den Markt (Wirtschaftsordnung) sowie die sozialen Rechte und Pflichten und die sozialen Sicherungsleistungen, die der Markt nicht garantiert (Sozialordnung). Die soziale Marktwirtschaft soll (Leistungs-)Wettbewerb ermöglichen und sichern (sowie vor ungerechtfertigtem Wettbewerb schützen), das (sozialgebundene) Privateigentum an den Produktionsmitteln (und seine ökonomische Nutzung zur Gewinnerzielung) stützen, den Geldwert stabilisieren (Preisstabilität) und den sozialen Ausgleich anstreben (siehe hierzu May 1993, S. 516 ff.). Die zur Realisierung dieser Prinzipien installierten Institutionen und Gesetze sind größtenteils auch für die Arbeitssituation und das Arbeitshandeln wichtig. Von zentraler Bedeutung hierfür sind die Institutionen des Arbeitsmarktes. Sie regeln nämlich das Zusammentreffen von Arbeitskraftangebot und Arbeitskraftnachfrage auf staatlicher, verbandlicher und betrieblicher Ebene
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aufgrund spezifischer Gesetze (ArbeitsfÖrderungs-, Tarifvertrags-, Mitbestimmungs-, Betriebsverfassungs-, Kündigungsschutzgesetz u.a.) (siehe hierzu Schmid 1993, S. 229 ff.).
1.2.5
Bewältigung der Arbeitssituation durch Selbst- und Mitbestimmung
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß die Arbeitenden zur Bewältigung ihrer Arbeitssituationen über die Fähigkeit der Selbstbestimmung (d.h. zum rational-kritischen Handeln) und der Mitbestimmung (d.h. zur gleichberechtigt-kooperativen Partizipation) verfugen müssen. Dies wird deutlich, wenn man sich den Begriff der Situationsbewältigung vergegenwärtigt. Er meint 1. die Aufklärung des Arbeitenden über seine Arbeitsbedingungen durch Reflexion und Kommunikation (u.a. auch, um seine Arbeitssituation überhaupt aushalten zu können) und - damit verbunden 2. das aktive Handeln des Arbeitenden im Sinne der Humanisierung seiner Arbeitsbedingungen. Dieser Anmerkung liegt die These zugrunde, daß eine 'wirkliche1, also nicht nur scheinbare Bewältigung der Arbeitssituation und der in ihr auftretenden Konflikte nur gelingen kann, wenn sich der Arbeitende mit seinen Arbeitsbedingungen reflexiv und kommunikativ auseinandersetzt und ihre Verbesserung - gemeinsam mit anderen selber in die Hand nimmt. Dies verweist auf eine Vorbereitung auf die Arbeitswelt, die explizit auf Arbeitssituationen bezogen ist.
Zitierte Literatur ALBERS, Hans-Jürgen (1993 2 ): Einkommensverwendung der privaten Haushalte. In: MAY, H. (Hrsg.), Handbuch zur ökonomischen Bildung. München, Wien, S. 67 ff. AMMEN, Alfred (19932): Arbeit - Existenzsicherung und Lebenswert. In: MAY, H. (Hrsg.), Handbuch zur ökonomischen Bildung. München, Wien, S. 143 ff. ARENDT, Hannah (19812): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München.
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
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1.3
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang Ingrid Lisop und Richard Huisinga
1.3.1
Vom sektoralen zum integrativen Zugang zur Arbeitswelt
67
1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2
Technik und Ökonomie im gesellschaftlichen Strukturwandel ...70 Technik 71 Organisation von Arbeit als Gelenkstück zwischen Technik und Wirtschaft 73
1.3.3
Arbeitsbezogene "Dimensionen" der Ökologie
76
1.3.4
Ausblick
78
Zitierte Literatur
79
Weiterführende Literatur
79
1.3.1
Vom sektoralen zum integrativen Zugang zur Arbeitswelt
Der Titel dieses Beitrages legt es möglicherweise nahe, an den Problemkreis "Hinfuhrung zur Berufs- und Arbeitswelt" zu denken (-> 4.2). Ausgelöst durch die Automatisierungsdebatte, ging es dabei in den 50er Jahren um die Zukunft von Berufsarbeit und die Sicherung der Integration von jungen Menschen in das gesellschaftliche Gesamtgefüge. Das Thema "Hinfuhrung zur Berufs- und Arbeitswelt" wurde von zwei Polen her erörtert. Auf der einen Seite sollte die Unübersichtlichkeit des Erwerbslebens und der beruflichen Möglichkeiten samt der zugehörigen Ausbildung transparenter werden. Dies sollte die Berufswahl bzw. die Wahl des Ausbildungsganges erleichtern. Didaktisch wurde dabei ein sektoraler Zugang zur Arbeitswelt gewählt. Er folgte im wesentlichen den großen Bereichen der tradierten, berufsständisch organisierten Arbeit und Ausbildung, nämlich der Hauswirtschaft, dem technisch-gewerblichen Bereich, dem kaufmännisch-verwaltenden Bereich, der Land- und Forstwirtschaft sowie den sozialen Diensten. Diese Bereiche galten als Dimensionen der "Arbeitswelt". Es war in der Pädagogik kein strukturell ganz-
68
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
heitliches Denken bezüglich der Arbeitswelt ausgebildet, und dies zeigte sich außer im sektoralen Denken unter anderem daran, daß trotz des Ausbildungsbereiches Hauswirtschaft und der Politischen Bildung/Sozialkunde/Gesellschaftslehre das Kompetenzspektrum für Erwerbsarbeit, öffentliche Arbeit und private Reproduktionsarbeit nicht als Zusammenhang in den Blick genommen wurde. Die bis heute hin immer wieder erneut auftretenden Diskussionen über Berufsbildung in Stufen, Berufsgrundbildung und Schlüsselqualifikationen sind letztlich nichts anderes als der Ausdruck dafür, daß es der pädagogischen Diskussion nicht gelungen ist, den oben genannten Zusammenhang von gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion curriculumtheoretisch bzw. bildungspolitisch zu fassen. Neben der Hilfe bei der Berufswahl ging es in den 50er Jahren auf der anderen Seite darum, die sogenannte Allgemeinbildung und die Berufsbildung neuartig zu verschränken (-• 6.1). Die Automatisierung hatte nämlich eine lebhafte Diskussion über den zukünftigen Bestand der Berufsstrukturen wie des Bedarfs an konkret menschlicher Arbeit zur Folge. Insofern jedoch die Qualifikationsforschung die anstehenden Fragen nicht beantworten konnte, rückte mehr und mehr die Bedeutung der Allgemeinbildung in den Blick. Mit dem Unterrichtsbereich "Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt", später mit der Arbeitslehre/Polytechnik wurde versucht, so etwas wie eine multifunktionale Grundausbildung zu schaffen. In der Didaktik, vor allem in der Arbeitslehre, tradierte sich jedoch das berufsständisch-sektorale Denken. Ein solches sektorales Denken, das eigentlich schon in den 50er Jahren obsolet geworden war, läßt sich gegenwärtig nur noch sehr bedingt legitimieren (vgl. Huisinga 1990; Huisinga 1992 und Huisinga 1996). Unter dem gegenwärtigen Druck des Strukturwandels stellt sich die Aufgabe einer multifunktionalen oder polyvalenten Grundbildung bzw. Ausbildung historisch neu. Will man sie curricular bzw. didaktisch lösen, dann muß man einerseits vom Strukturwandel aus argumentieren. Andererseits muß man bildungstheoretisch von übergeordneten Zielen des Erziehungs- und Bildungswesens aus denken. Letztere erschöpfen sich aber nicht lediglich in der Qualifikation der Ware Arbeitskraft, sondern sie zielen unseres Erachtens
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 69
darüber hinaus auf die gesamte Entwicklung und Entfaltung des Humanvermögens, die wir Subjektbildung nennen (-• 7.2.2). Deren Ausprägung als konkrete Kompetenz ist darauf verwiesen, daß die Didaktik dreierlei Bildungsprinzipien folgt: 1. Der technischen Bildung, d.h. der Entwicklung und Entfaltung von Kreativität, Produktivität und herstellender Effizienz in allen Bereichen; 2. der historischen Bildung, d.h. der Entwicklung und Entfaltung des Erkennens und Durchschauens von Ursachen-Wirkungsgeftigen im Zeitablauf und in sozialen Zusammenhängen; 3. der ästhetischen Bildung, d.h. der wertenden Formgebung unseres Innen und Außen, des Gegenständlichen und Sozialen. Die genannten Bildungsprinzipien gelten für alle Fächer und für alle Qualifikationen. Damit ist gleichzeitig ausgedrückt, daß der Sinn z.B. technischer Bildung und Qualifikation weder allein aus dem Bereich der Technik gewonnen werden kann noch ausschließlich auf gewerblich-technische Arbeit ausgerichtet ist. Bildung im Dienste der Entwicklung und Entfaltung des Humanvermögens zu sehen, bedeutet nicht, Qualifizierung zu vernachlässigen. Das Ethos der Entwicklung und Entfaltung stellt aber Bildung weder in den Dienst von Sachzwängen noch von scheinbaren Eigengesetzlichkeiten, z.B. von Schulfächern oder Fachgebieten bzw. Wirtschaftssektoren wie Technik, Wirtschaft oder Ökologie. Darüber hinaus ist auch zu bedenken, daß es didaktisch nicht den Unterrichtsstoff an sich gibt. Er wird erst durch die sogenannte methodische Leitfrage generiert, die zwischen den Zielen, der sachstrukturellen und motivationalen Situation der Lernenden und den Lehr-/Lerngegenständen methodisch vermittelt und die den Kern der pädagogischen Professionalität ausmacht. Auch ist die gesellschaftliche Realität, sind die real zu lösenden Probleme nicht so geschnitten, wie das Wissenschaftssystem. Im folgenden geht es demzufolge nicht um curriculumtheoretische Miniaturen zu den Lernbereichen Ökonomie, Ökologie und Technik. Statt dessen wollen wir versuchen, die Verschränkung, die Einheit dieser Bereiche zu beleuchten. Damit soll gezeigt werden, daß sie bis zu einem gewissen
70
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Grade zwar getrennte Phänomenbereiche sind, daß sie aber auf der gleichen Konstitutionslogik basieren und daher in ihrem Wesen gesellschaftliche Projekte sind. An solche Projekte der Gestaltung lassen sich nun erkenntnisleitende Fragen herantragen. Aufgrund der Gliederung unseres Wissenschaftssystems wird dabei in der Regel sektoral oder von Einzeldisziplinen aus operiert. Soweit darüber hinaus interdisziplinär vorgegangen wird, dominiert das Zusammentragen der disziplinaren Einzelergebnisse. Auch steht die interdisziplinäre Arbeit dabei in der Regel vor dem Problem, daß die Erkenntnisfragen disziplinar vorstrukturiert und von daher nur schwer zur Deckung zu bringen sind. Deshalb lassen sich auch die Ergebnisse in vielen Fällen nur mit großen Schwierigkeiten zu einer Einheit integrieren. Bildungspolitisch und qualifikationstheoretisch halten wir ein integratives Denken deshalb für erforderlich, weil über spezifische Einzelqualifikationen hinaus durch Erkenntnis und praktische Kompetenz die Fähigkeit und Bereitschaft entwickelt werden muß, in verschiedenen Bereichen der Erwerbsarbeit, der Eigenarbeit und der öffentlichen Arbeit zu interagieren. Am gesellschaftlichen Strukturwandel, den wir gegenwärtig erleben, sollen nun die entsprechenden didaktischen Erfordernisse wie Möglichkeiten skizziert werden.
1.3.2
Technik und Ökonomie im gesellschaftlichen Strukturwandel
Technik und Ökonomie, erst recht Technik, Ökonomie und Ökologie existieren nur verschränkt und nicht unabhängig voneinander. Sie sind stets durch soziale Kontexte vermittelt und zugleich auf diese verwiesen, und sie durchziehen alle Lebensbereiche. Insofern sind, streng genommen, nicht Technik, Wirtschaft und Ökologie Dimensionen von Arbeit. Als Dimensionen von Arbeit, sei es im Sinne des Wirtschaftens, des Konstruierens und Kombinierens von Artefakten (Technik), sei es im Sinne des Hegens und Pflegens der Natur, sind dagegen die Reproduktion und die erneuernde Gestaltung von Gesellschaft zu sehen. Dies lehren uns besonders die historisch herausgehobenen Phasen des Strukturwandels.
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 71
Allein der technische Wandel, der neben den sozialen Fragen im Rahmen des gegenwärtigen Strukturwandels besondere Beachtung erhält, ist in sich vielfältig. Weil am technischen Wandel die Vergesellschaftungsprozesse und damit die Verschränkung von Technik, Wirtschaft und Ökologie besonders deutlich hervortreten, sei er im folgenden in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Bei der Bestimmung dessen, was als technischer Wandel gelten darf und was nicht, laufen die durch wissenschaftliche Literatur und politische Diskussionen vorgegebenen Pointierungen im Prinzip auf drei große Bereiche hinaus: den Wandel in den Technologien, den Wandel in der Technik, den Wandel im Einsatz der Werkstoffe. 1.3.2.1 Technik Die Zusammenschau von Technologie, Technik und Werkstoffen macht deutlich, daß mit technischem Wandel nicht der bloße Austausch bzw. Ersatz (Modernisierung) von Maschinen, Geräten, Anlagen etc. gemeint ist. Unter Technologie ist hier die wissenschaftliche Produktionsstruktur zu verstehen, wobei drei Arten des Wandel zu differenzieren sind. Als erstes sind die in den Natur- und Technikwissenschaften verwendeten Denkarten, Urteilsweisen, Schlußweisen, Anschauungen, Arbeitsprinzipien und wissenschaftlichen Selbstverständnisse zu nennen. Man könnte sie als gesellschaftlich innovatorischen Rohstoff bezeichnen. Aus ihnen speisen sich die Theorien, die in einer späteren Phase in Technik transformiert werden. Der hier anstehende Wandel verläuft so, daß die im klassischen Sinne als naturwissenschaftlich, technikwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich geltenden Verfahren zu einer Integration tendieren. Es betrifft dies die analytisch-erschließenden und immer stärker in die Mikrostrukturen vordringenden Verfahren einerseits und die auf Ganzheiten zielenden oder von ihnen aus denkenden Methoden andererseits. Methodenfragen haben daher heute eine besonders wichtige, alle Sektoren umschließende Relevanz. Als nächstes ist auf die Beziehung der wissenschaftlichen Disziplinen zueinander hinzuweisen. Der technologische Wandel hat seinen (geistigen) Ort in vielen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen
72
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
(z.B. Physik, Chemie, Mathematik, Biologie, Geologie, Astronomie; technische Mechanik, Strömungslehre, technische Thermodynamik, Elektrotechnik, Metallurgie, Werkstoffkunde, Konstruktionslehre). Die Praxisprobleme sind aber (heute) nicht so geschnitten, wie die wissenschaftlichen Disziplinen eingeteilt sind. Unter dem Gesichtspunkt der schnellen Verwertung der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung entstehen Verwerfungen der Art, daß sich die Koordinierung des Zusammenwirkens der Spezialdisziplinen als Aufgabe und Problem stellt. Es wird unter dem Kürzel Interdisziplinarität verhandelt. Schließlich meint "Wandel in den Technologien" einen Unschärfebereich. Einerseits geht es hier um die Wissensdistribution und -rezeption. War es im 18. Jahrhundert noch möglich, enzyklopädische Beschreibungen der Technologie und Technik zu geben man denke an Diderots "Enzyklopädie", Jacobsen's "Technologisches Wörterbuch" oder Beckmanns "Technologie" - so haben heute Datenbanken diese Funktion übernommen. Die von der Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Fachinformationszentren (FIZ) sind hierfür ein Beleg. Was den Wandel in der Technik betrifft, so wird gemeinhin darunter einerseits verstanden, daß spektakuläre neue Anwendungsfelder wie z.B. Gen-Technik, Bio-Technik, Atom-Technik, MikroElektronik, Opto-Elektkronik oder Mechatronik entstehen. Sie haben übrigens heute längst den Charakter von Marktsegmenten und sogar Wirtschaftsbereichen. Andererseits wird der Blick auf neue Produkte fixiert, wie z.B. Fotosatzgeräte, Scannerkassen, Mikrowellenherde oder er bleibt an Verfahren geheftet wie die Nutzung der Lasertechnik bei Operationen, die Telekommunikation oder die Raumfahrt. Die Realtechnik ist aber gesellschaftlich konkret nur dadurch zu bestimmen, daß man ihre Einbettung in die spezifischen Funktionen von Produktion und Konsumtion sowie in die Situationsspezifik der wirtschaftlichen Realisierung genau erfaßt. Hierzu gehören z.B. der Mechanisierungsgrad, das Automationsniveau, die Baukomponenten und die Produktionsstruktur; ferner Markt, Kosten, Preise, Verteilungsniveau, Ausbildung, Export- und Importabhängigkeit. Will man zu einem orientierenden und zugleich systematischen Überblick über Realtechnik bezüglich Fragen der Arbeits-
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 73
teilung und Erwerbsarbeit gelangen, so muß man auch die funktionellen Gesichtspunkte "Transport", "Wandlung", "Speicherung" bzw. die materiellen Substrate "Stoff 1 , "Energie" und "Information" berücksichtigen (vgl. dazu Ropohl 1979). Die Kombination aus jeweils zwei Größen bezeichnet dann die Realtechnik. Wählt man beispielsweise die Kategorien Transport und Energie, so betrifft die Kombination das real zu lösende technische Problem des Transports von Energie, und zwar in der theorie- und praxisbedeutsamen Spannweite vom Ohmschen Gesetz bis zum Komplex der supraleitenden Werkstoffe und entsprechender Anlagesysteme. Technischer Wandel zeichnet sich aktuell auch durch einen qualitativ und quantitativ riesigen Wandel im Einsatz der Werkstoffe aus. Eine Vorstellung von der Bedeutung der Werkstoffe erhält man, wenn man als Beispiel das seit Jahrtausenden bekannte Material Keramik betrachtet. Funktionell zeichnet es sich, wie bekannt, durch hohe Hitzebeständigkeit aus. Technisch erlangte es daher zunächst in der Raumfahrt größere Bedeutung. Im Zusammenhang mit der sogenannten Ölkrise und den Abgasproblemen von Verbrennungsmotoren wurde es auch für die Automobilherstellung interessant. Wäre man nämlich in der Lage, die herkömmlichen metallurgischen Motorblöcke durch hochgesinterte Keramik zu ersetzen, dann ließe sich als energetischer Input auch Wasserstoff verwenden. Die Reichweite einer solchen Veränderung durch Werkstoff würde sich im gesamten System des Tankstellennetzes, in der Oberflächenbeschaffenheit von Straßen oder aber in den Sicherheitsproblemen hochwirksamer Verbrennungsakte zeigen, wobei Sicherheit bis ins Verkehrsverhalten der Bürgerinnen und Bürger und bis ins Versicherungssystem hineinreicht. Man erkennt bereits an dieser knappen Skizzierung den gesamtgesellschaftlichen Charakter des scheinbar nur technischen Wandels. Dies zeigt uns auch die neuere sozialwissenschaftliche Technikfolgen und -geneseforschung. 1.3.2.2
Organisation von Arbeit als Gelenkstück zwischen Technik und Wirtschaft Der Strukturwandel speist sich nun nicht aus dem technischen Wandel allein, sondern aus dem Zusammenwachsen von technischem Wandel und Wandel in der Organisation von Arbeit. Dieser Prozeß aber ist nichts anderes als die Neuorganisation der Mensch-NaturDialektik.
74
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Die neuen Formen der gesellschaftlichen Arbeit betreffen die Arbeitsteilung und -Verteilung sowie die Arbeitsorganisation. Die bekanntesten Formen und Einheiten dieser neuen Organisation von Arbeit sind - CIM-Systeme (Computer integrated Manufacturing) in der Produktion, wozu die BDE (Betriebsdatenerfassung) und die Flexiblen Fertigungssysteme gehören - heute gern unter dem Schlagwort Lean Production erörtert; - Warenwirtschaftssysteme im Bereich der Warendistribution; - POS (Point of sale) und Electronik-Banking-Systeme im Bereich des Geldwesens und des internationalen Kapitalmarktes; - Systeme der Allfinanz im Versicherungswesen; - Telematik im Sektor von Nachrichten- und Informationsverarbeitung sowie -Übermittlung; - Neue Lern- und Bildungsverbünde. Hinter diesen Begriffen stehen weitreichende Veränderungen des Systems und der Organisation der Arbeit, die sich durch die sogenannte Vernetzung über die Grenzen von Betrieben bzw. Unternehmungen hinaus erstrecken. Auch muß der technische Wandel selbst ja produziert werden, weshalb dafür volkswirtschaftlich immer mehr intellektuelle und materielle Ressourcen bereitgestellt werden müssen, die wiederum auf immer komplexere bzw. differenziertere Weise für die betrieblichen Interessen zu koordinieren sind. Insgesamt spricht man daher auch von der Vernetzung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche. Eine neue, komplexere Organisation gesellschaftlicher Arbeit als Ganzes entsteht. Die Prinzipien oder Trends, die sich in diesem Zusammenhang andeuten und für Bildungsfragen bedeutsam erscheinen, lassen sich wie folgt benennen: a) Dynamik ist Konstitutionsprinzip. Die neuen Fertigungsstrukturen entlassen in zunehmendem Maße das Phänomen Beruf, weil die Qualifikationsanforderungen übergreifender und allgemeiner geworden sind. Tendenziell unendliche Kombinationsmöglichkeiten sind realisierbar.
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 75
Die neue Produktionsphilosophie entläßt das tayloristische Denkmodell zugunsten dessen, was als vernetzte Produktion bezeichnet wird. Daraus resultiert die Herausforderung, das Verhältnis von Arbeit und Beruf unter anderem dadurch neu zu bestimmen, daß die strikte Abgrenzung von technischen, kaufmännisch-verwaltenden, ökologischen, sozialen u.a. Qualifikationen aufgehoben und die Relationierungen neu bedacht werden. Produktionsmeister z.B. müssen ebenso wie Handwerksmeister kaufmännische Kenntnisse besitzen und die verschiedenen Kommunikationstechniken ebenso beherrschen, wie Schulleiter über Managementtechniken verfugen müssen. b) Auf allen Hierarchieebenen ist Autonomie verlangt. Durch die Entkopplung der Maschinenlaufzeiten von der Arbeitszeit einerseits und die informationstechnische Verfügbarkeit der Produktion andererseits erhöht sich die Fungibilität der in der Produktion arbeitenden Menschen. Die Erziehung zur Autonomie steht so vor einer völlig neuartig dimensionierten Aufgabe. c) Interdisziplinarität und Verwissenschaftlichung werden unabweisbar. Wie schon gesagt, sind die wirklich drängenden Probleme im öffentlichen Leben und in der privaten Produktion heutzutage nicht so wie die wissenschaftlichen Disziplinen eingeteilt. Sie liegen quer zu den gängigen Einteilungen. Durch die Integration immer weiterer Funktionsbereiche entsteht so der Zwang zur Interdisziplinarität. Diese - neue - Interdisziplinarität bündelt sich realgesellschaftlich in dem, was man die neuen Konstitutionslogiken nennt. Hierzu gehören: - Neue Verteilungslogik (Warenwirtschaftssysteme, Arbeitsmärkte), - Neue Produktionsrationalität (Flexible Fertigungssysteme), - Neue Zahlungs- und Geldrationalität (Electronic Banking), - Neue Identifikationsrationalität (Benummerungssysteme), - Neue Kommunikationsrationalität (Informationssysteme, Sprachsysteme), - Neue Zeitrationalität (Zeitsysteme, Leiharbeit etc.), - Neue Kommunalkomplexität (z.B. Wissenschaftsstadt Ulm, Umlandverbünde),
76
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
- Neue Ausbildungsrationalität Schule).
(Schulmanagement,
Freisetzung
In den Gesellschaftswissenschaften spricht man davon, daß die technisch-ökonomischen Prozesse der Umstrukturierung Freisetzungen bewirken. Damit ist aber nicht schlechthin die Freisetzung als Arbeitslosigkeit gemeint. Das Problem liegt tiefer und meint Fragen der Identitätsgewinnung und -festigung bzw. des Identitätsverlustes, welches sich als ein gesellschaftspolitisches wie individuelles Problem ersten Ranges offenbart, wie gerade die Suche nach der Corporate Identity belegt. Hinter ihr steckt ja mehr als die Suche nach vordergründigem Image. Zwei zentrale Tendenzen der Freisetzung lassen sich ausmachen: - Vorbürgerliche Traditionsbestände, in die u.a. der staatsbürgerliche und familiale Privatismus eingebettet sind, werden nicht generierbar abgebaut; - der Kernbestand der bürgerlichen Ideologie, Besitzstandsindividualismus und Leistungsorientierung, wird durch die Veränderung der Sozialstruktur "untergraben". Die Erosion des vorbürgerlichen wie der bürgerlichen Traditionsbestände, Werte, Berufsstrukturen, Instanzen und Organisationsformen verlangt neue Orientierungen. Sie gelingen nur, wenn stets Teile und Ganzes korreliert werden und wenn aus dem dynamischen Prozeß von Freisetzung und neuer gesellschaftlicher Formgebung heraus gedacht wird. Solches erscheint uns als das zentrale didaktische und curriculare Problem der Gegenwart.
1.3.3
Arbeitsbezogene "Dimensionen" der Ökologie
Betrachtet man nun den "Bereich Ökologie", so steht man zunächst vor dem Problem, daß dieser nicht wie z.B. Ökonomie, Technik oder auch Hauswirtschaft ein zusammengehöriger Sektor berufsförmig organisierter Arbeit ist. Ökologie ist unserer Auffassung nach eine Leitmaxime gesellschaftlich-praktischen Handelns einerseits und ein besonderes Erkenntnisprinzip der Mensch-Natur-Dialektik andererseits. Auf Bildung bezogen hat Ökologie somit eine Dimension von Wissen und Können und eine ethische des Entscheidens. Bei dieser Sicht von Ökologie wird gleichzeitig deut-
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 77
lieh, daß es in der Curriculumtheorie und Didaktik zwei diametral entgegengesetzte Positionen gibt. Die eine, die wir objektorientiert nennen, entwickelt Wissens-, Qualifikations-, aber auch Verstehenskataloge primär entlang disziplinar geordneten Wissens in bezug auf abgegrenzte Realphänomene oder wissenschaftliche Fragen. Die subjektorientierte Position dagegen denkt einerseits im Hinblick auf die Entwicklung und Entfaltung des Humanvermögens in seiner Gänze, andererseits im Hinblick auf gesellschaftliche Projekte bzw. Aufgaben im historischen Reproduktions- und Veränderungsprozeß. An der Entwicklung der ökologischen Fragen kann man die Subjekt- und objektorientierte Position von Didaktik bzw. von Aus- und Weiterbildung gut nachvollziehen. Die ökologische Fragestellung industrieller Gesellschaften wird erstmals mit Vehemenz in den 50er Jahren aufgeworfen. Vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika erregt das Buch von Rachel Carson "The Silent Spring" (Carson 1981) große Aufmerksamkeit. Es thematisiert die schleichende Vergiftung der Nahrungsmittelkette In den 60er Jahren wird vor allem die mögliche zerstörerische Entwicklungslogik technischer Großsysteme erörtert. Ivan Illich (Illich 1973) stellt den Großsystemen die Idee einer konvivialen, d.h. einer mit den Lebenswelten verbundenen, überschaubaren und unschädlichen Technik gegenüber. In den 70er Jahren wird Ökologie ein Thema der Politik. Das erste Umweltgutachten der Bundesrepublik Deutschland erscheint 1974. Es betrachtet die Gefahrdungen im Sinne der Ursachenund Folgenlogik und betrachtet neben den "Grundbereichen" Luft, Lärm, Wasser, Boden, Lebensmittel, Abfall, Biozide und Chemikalien "komplexe Bereiche" wie Naturschutz und Landschaftspflege, Umweltschutz und Energie sowie als "sonstige Bereiche" wirtschaftliche, rechtliche und planerische Probleme. Damit wird einerseits die Komplexität von Ökologie sichtbar; andererseits zeigt die Gliederung der Bereiche, daß die Verkettungs- und Verschränkungslogik Erkenntnisprobleme aufwirft.
78
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
In den 80er Jahren werden vor allem die Aspekte von (Natur)katastrophen (z.B. Betriebsunfälle, Tankerunglücke, Ozonloch, Klimaveränderungen) hervorgehoben. Wegen des Umfangs der Katastrophen wird die Ethik der Verantwortung (vgl. Jonas 1979) zum Angelpunkt politischer wie pädagogischer Überlegungen. Zu Technik und Ökonomie in Beziehung gesetzt, taucht die Ressourcenfrage auf, welche die ökonomische Kategorie des Sparens unter dem Gesichtspunkt des Recyclierens und Regenerierens ganz neuartig stellt. Damit erhält auch der Gesichtspunkt der Effizienz einen neuen Sinn. Es muß auch gesehen werden, daß nicht nur eine neue ökonomische Grundsatz- und Wertdebatte entsteht, sondern daß sich auch Umweltmärkte ausbreiten und eine darauf bezogene neue Großindustrie entsteht. So gibt es in der Bundesrepublik mehr als 20 Aktiengesellschaften, die Umwelttechnik in ihrem Leistungsprogramm anbieten. Der Umsatz auf den Umwelt(schutz)märkten erreicht hohe Milliardenbeträge. Insgesamt zeigt sich, daß Ökologie, wissenschaftlich betrachtet, Fragen der Biologie, der Chemie, der Ökonomie, der Technologie, der Medizin, des Rechts, der Ethik - kurz Fragen aus fast allen Wissenschaftsbereichen integriert. Damit ist von Bildung und Qualifikation her gesehen das Thema der Allgemeinbildung bzw. didaktisch das der Exemplarik aufgeworfen, will man nicht in der disziplinaren Stoffülle ersticken.
1.3.4
Ausblick
Aus gesellschaftspolitischer Sicht gerät Ökologie unseres Erachtens in eine Sackgasse, wenn die Fragen von Bildung und Qualifikation primär vom Beruflichen her gedacht werden. Denkt man an Aufgaben, wie z.B. Lärm-, Wasser- oder Bodenschutz, dann scheinen neue Berufe in diesem Feld folgerichtig zu sein. Man muß aber auch sehen, daß damit lediglich eine Folgenbeseitigungs-Strategie betrieben wird. Die gesellschaftlichen Ursachen dagegen bleiben eher tabuisiert. Wir möchten damit auch herausstellen, daß Ökologie statt berufliche eher gesellschaftliche "Orte" hat, vornehmlich in Betrieben und dort wiederum in der Verschränkung von konkreten Pro-
Technik, Ökonomie und Ökologie im arbeitsweltlichen Zusammenhang 79
zessen, Materialien und Verfahrenstechniken. Nur sehr indirekt kommt hier der Berufsbezug zum Tragen. Verläßt man den konkreten Betrieb, gelangen volkswirtschaftliche Strukturkomponenten in den Blick: s o z.B. Versorgung und Entsorgung, Lagerung und Transport, Finanzierung und Haftung. Hierbei wird besonders deutlich, daß es nicht um Berufe geht, sondern um Werte, Rechtsvorschriften und gesamtökonomische Regulierung. Insgesamt schließen sich an die Lösung der ökologischen Probleme all diejenigen Fragen an, die nach einer insgesamt neuen Bildung der Allgemeinheit suchen und zwar im Sinne handlungsorientierter Demokratie.
Zitierte L i t e r a t u r CARSON, Rachel (1981): The Silent Spring. Dt. Übersetzung: Der stumme Frühling. München. HUISINGA, Richard (1990): Dienstleistungsgesellschaft und Strukturwandel der Ausbildung. Frankfurt/M.. HUISINGA, Richard (1992): Schlüsselqualifikation und Exemplarik. Genese und Stellenwert. In: PÄTZOLD, G. (Hrsg.): Handlungsorientierung in der beruflichen Bildung. Frankfurt, S.79-95. HUISINGA, Richard (1996): Theorien und gesellschaftliche Praxis technischer Entwicklung - Soziale Verschränkungen in modernen Technisierungsprozessen. Berlin. ILLICH, Ivan (1973): Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Hamburg. JONAS, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt. ROPOHL, Günter (1979): Eine Systemtheorie der Technik. München, Wien.
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80
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
ROPOHL, Günter (1985): Die unvollkommene Technik. Frankfurt/M. SCHLOSSER, Horst Dieter (Hrsg.) (1994): Gesellschaft Macht Technik. Vorlesungen zur Technikgenese. Frankfurt/M.
1.4
Die Arbeitswelt im Umbruch Gerd-E. Famulla
1.4.1
Zur Modernisierung von Arbeit und Gesellschaft
81
1.4.2
Die ökonomisierung der Arbeit: Ideen- und realgeschichtliche Wurzeln
83
1.4.3
Der Abschied vom "Normalarbeitsverhältnis"
86
1.4.4 1.4.4.1 1.4.4.2 1.4.4.3 1.4.4.4 1.4.4.5 1.4.4.6 1.4.4.7 1.4.4.8 1.4.4.9
Empirische Problemlagen von Arbeit und Beruf Wohlstand ohne Arbeit? Flexibilisierung der Beschäftigung - Cui bono? Qualifikationsrisiken - Ende der Facharbeit? Erwerbsarbeit und Hausarbeit - Frauenarbeit? Macht Arbeit krank? Hoffnung auf Arbeit im Dienstleistungsbereich? Traditionelle, Neue oder Schlanke Produktionskonzepte? Einstellung zu Arbeit und Beruf - Ja, aber Arbeiten für die Umwelt?
89 89 90 90 91 92 92 93 94 96
1.4.5
Arbeitspolitische Perspektiven im Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie
Zitierte Literatur Weiterführende Literatur
1.4.1
97 99 102
Zur Modernisierung von Arbeit und Gesellschaft
Aus guten Gründen ist die These vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" wieder in den Hintergrund gerückt und hat der tragfähigeren These vom Struktur- oder Systemwandel der Arbeit Platz gemacht. Zwar ist bereits seit Mitte der siebziger Jahre ein Ende der Vollbeschäftigungsära in der Bundesrepublik festzustellen, doch hat sich weder die Abhängigkeit des einzelnen von der Erwerbsarbeit und dem Erwerbseinkommen oder dessen leistungsbezogenen Substituten gemindert, noch ist die Arbeitsorientierung im Bewußtsein der Bevölkerung gesunken. Die im Kontext der Debatte um das "Ende der Arbeitsgesellschaft" (vgl. Offe 1984) verzeichneten Symptome verweisen insofern eher auf eine differenzierte Einstellung zur Erwerbsarbeit und die sie regulierende Ökonomie. Es sind,
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
wie im einzelnen in diesem Beitrag zu zeigen sein wird, Symptome für das Erreichen und teilweise Überschreiten von Grenzen des Ökonomisierungsprozesses, dem die Gesellschaft seit Beginn der Moderne unterworfen ist und dessen Dreh- und Angelpunkt noch immer die in den Unternehmen der Marktwirtschaft eingesetzte Arbeitskraft ist. Zwar wird heute bereits das Ende der Moderne und das Zeitalter der Postmoderne wie auch das Zeitalter der postindustriellen Gesellschaft, der Freizeitgesellschaft und auch Erlebnisgesellschaft diskutiert, doch der Prozeß der Modernisierung von Gesellschaft, verstanden als vor allem ökonomisch motivierter und zunehmend alle Lebensbereiche erfassender Rationalisierungsprozeß, ist durchaus nicht zu Ende. Zu Ende geht allenfalls die Möglichkeit, seine Ambivalenzen und Paradoxien zu leugnen und die mit ihm einhergehenden Zerstörungen zu übersehen oder diese sogar in Fortschritte umzuinterpretieren. Heute verliert das ökonomisch bestimmte Wohlstandskonzept der Industrieländer, gewissermaßen das Prunkstück der Modernisierung, in dem Maße an Attraktivität, in dem sich seine sozialen und ökologischen Folgeschäden nicht mehr in Form von höherem Einkommen und Konsum kompensieren oder folgenlos auf unbeteiligte Dritte übertragen lassen. Die sozialen und ökologischen Kosten des Industriesystems wachsen schneller als der Wohlstand zunimmt und hinter dem Sozialprodukt verbergen sich kaum mehr bezahlbare Hypotheken für die kommenden Generationen. Immerhin, seitdem sich auch Ökonomen der sozialökologischen Frage angenommen haben und die jährlich wachsenden Umweltschäden des Wirtschaftens ermitteln (das Heidelberger Umweltund Prognose-Institut errechnete für das Jahr 1989 einen Betrag von 475,5 Mrd. DM, was circa 21% des Bruttosozialprodukts ausmacht; vgl. UPI 1993), dringen die kompensatorische wie hypothekarische Fiktion des traditionellen Wohlstandskonzepts deutlicher ins öffentliche Bewußtsein (vgl. näher hierzu Famulla 1992). Das heißt: Gegenüber der bisherigen Instrumentalisierung von Mensch und Natur zugunsten eines vermeintlich höheren Wohlstands beginnt auch das - durchaus eigennützige Überlebensinteresse am Eigenwert des Arbeitsinhalts zu wachsen (Stichworte: "Technikfolgenabschätzung", "neue Produktionskonzepte", "Umweltverträglichkeitsprüfung", "Ökobilanz", "Produktlinienanalyse", "Produktmitbestimmung"). Erhoben wird die Forderung nach einer öko-
Die Arbeitswelt im Umbruch
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nomisch-ökologischen Modernisierung der Produktion (vgl. Jänicke 1988) oder - noch weitergehend - nach einer "strukturellen Ökologisierung der Gesellschaft" (Prittwitz 1988). Darunter ist nicht schon ein fertiges gesellschaftspolitisches Konzept zu verstehen, sondern zunächst nur eine veränderte Blickrichtung oder Perspektive, bei der der soziale und stofflich-energetische Inhalt der Produktion beziehungsweise der Arbeit nicht mehr ohne weiteres den Fiktionen des traditionellen Wohlstandskonzeptes geopfert wird. Ausgangspunkt für eine Modernisierung können heute nicht mehr die ökonomisch-technische und die soziale Dimension der Erwerbsarbeit allein sein. Vielmehr gilt es, von einer grundsätzlichen Revisionsbedürftigkeit des Wohlstandskonzepts der westlichen Industrieländer auszugehen und angesichts der ökologischen Problemlagen die Verengungen und Unzulänglichkeiten der auf Wohlstandsmehrung wie auch auf Emanzipation von Herrschaft allein gegründeten Arbeits- und Berufskonzepte wahrzunehmen. Obwohl wirtschaftlicher Wohlstand, politische Freiheit und soziale Emanzipation, die bewegenden Fragen des 18. und 19. Jahrhunderts, zumal in globaler Perspektive durchaus nicht verwirklicht sind, schiebt sich heute mehr und mehr die ökologische Frage, die Frage des 20. - und mehr noch des 21. - Jahrhunderts, in den Vordergrund und verlangt nach einer Neubestimmung und Gewichtung der ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Problemlagen in Arbeit und Gesellschaft.
1.4.2
Die Ökonomisierung der Arbeit: Ideen- und realgeschichtliche Wurzeln
Wie gesagt, ist der tiefgreifende Prozeß der Ökonomisierung der Gesellschaft - einer Orientierung am Wirtschaftlichkeitskalkül in allen Lebensbereichen wie Politik, Gesundheitswesen, Bildung, Freizeit, Haushalt - noch nicht zu Ende, auch wenn sich heute seine sozialen und ökologischen Grenzen deutlicher abzeichnen und - zumal im Bereich von Arbeit und Beruf - die Politikabhängigkeit dieser Grenzen spürbarer wird. Zu berücksichtigen ist, daß das ökonomische Rationalitätskalkül - und verbunden damit vor allem die Ökonomisierung der Arbeit - weitreichende historische Wurzeln hat ( - • 1.2.1), die bei einem Wandel des Verhältnisses von ökonomi-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
scher Rationalisierungslogik und Arbeitsinhalt besonders spürbar werden. Adam Smith sah in seinem 1776 erschienenem Buch "The Wealth of Nations" (vgl. Smith 1974) in der produktiven Arbeit und in der Arbeitsteilung die eigentlichen Quellen des Volkswohlstands. Auch Karl Marx' Kritik der Politischen Ökonomie richtete sich rund hundert Jahre später weniger gegen die im Kapitalismus maßgeblich betriebene Steigerung der Produktivkraft der Arbeit ("das historische Verdienst des Kapitals"), sondern vielmehr gegen die historische Form der Arbeit, die Lohnarbeit. Frederik Winslow Taylor entwickelte um 1900 systematische Arbeitsstudien ("the one best way") und Lohnanreizsysteme mit dem Ziel der Steigerung der Arbeitsproduktivität (Taylor 1913). In Taylors Prinzipien steckt wenn auch vielfach kritisiert, modifiziert und ergänzt (vgl. Spitzley 1980) - das bis heute wirksame Versprechen, daß die immer weitere Produktivitätssteigerung der Arbeit allen zugute kommen werde. An dieses Versprechen knüpft sich auch die Erwartung, daß die während der Arbeitszeit durch immer stärkere Verdichtung der Arbeit erlittenen Einbußen an Lebensqualität schließlich durch mehr Lohn oder mehr Konsum kompensiert werden können. Der zweckrational handelnde, seinen Nutzen maximierende "Wirtschaftsmensch" ist das Menschenbild, in dem sich nicht nur wissenschaftlich der Idealtypus einer ganzen Epoche ausdrückt. Dieser "Wirtschaftsmensch" hat ein instrumentelles Verhältnis zur Welt. Sie ist für ihn bloßes Mittel oder ein Produktionsfaktor bei der Verfolgung seiner Ziele. Da er - idealtypisch universell gesehen aber auch selbst die Rolle eines Produktionsfaktors ("Arbeit") spielt, sucht er seine Instrumentalisierung so gut und so lange es geht durch mehr Geld ("Arbeitslohn") und höheren Konsum zu kompensieren. Entscheidend ist, daß sich mit der Verwandlung von Mensch und Natur in Produktionsfaktoren zugleich der ökonomische Rationalitätsmaßstab wie überhaupt die ökonomische Sphäre verselbständigt und aus lebenspraktischen Kriterien wie aus sozialen Kontexten herausgelöst hat. Produktion und Produktivität werden nicht mehr qualitativ oder am "Maßstab des guten Lebens" orientiert, sondern an Gewinn und Wirtschaftswachstum (vgl. Ulrich 1987). André Gorz spricht hier zutreffend von der "grenzenlosen Anstrengung jedes einzelnen, um die anderen zu überholen..." (Gorz 1989, S. 163).
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Wie der Mensch in die Rolle eines "Produktionsfaktors Arbeit" hineinwuchs, beschreibt der Wirtschaftsanthropologe Karl Polanyi in seiner Untersuchung ("The Great Transformation", 1944/78) über die Herausbildung des marktwirtschaftlichen Systems seit der Zeit des Merkantilismus. Deutlich wird hier: die Abkopplung des Marktsystems ist kein Resultat quasi-natürlicher Ausdehnung der lokalen Märkte, sondern politisches Ergebnis der sich durchsetzenden ökonomischen Interessen der Groß- und Außenhandelskaufleute. Im einzelnen ging der Übergang in die Marktgesellschaft einher mit folgenden Entwicklungen (vgl. Polanyi 1944/78 und Ulrich 1987): -
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Abschaffung der lokalen Märkte mit ihren traditionellen Marktreglementierungen und der Schaffung von "modernen", großräumigen, ökonomisch effizienteren Konkurrenzmärkten; zunehmende Durchsetzung der Preismechanik des freien Marktes gegenüber der traditionellen Wirtschaftsethik und der Frage nach dem gerechten Preis; Zurückweichen der Frage nach dem lebenspraktischen Sinn der Güter und ihrem Gebrauchswert hinter das formale Wirtschaftlichkeitskalkül, d.h. die ökonomische Rationalität löste sich von der lebenspraktischen Vernunft; Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten; Zurücktreten des "Eigenwerts aller Produktionsfaktoren", sei es der persönlichkeitsbildende und soziale Eigenwert sinnvoller Arbeit oder der ökologische und ästhetische Eigenwert der beanspruchten natürlichen Ressourcen, die im kaufmännischen Kalkül nicht weiter berücksichtigt werden (vgl. Ulrich 1987, S. 94). Durchsetzung des "erwerbswirtschaftlichen Prinzips" zum alleinigen Maßstab ökonomischer Vernunft; Schaffung freier Märkte nicht nur für echte Handelswaren, sondern auch für die "Produktionsfaktoren" Arbeit, Boden, Kapital (Warenfiktion). Polanyi: "Der entscheidende Schritt war dies: Arbeit und Boden wurden in Waren verwandelt, das heißt, sie wurden behandelt, als wären sie für den Verkauf produziert. Selbstverständlich waren sie in Wirklichkeit keine Waren, da sie j a auch nicht produziert wurden (der Boden), oder wenn doch, so nicht zum Zweck des Verkaufs (die Arbeit). Und doch war noch nie zuvor eine wirkungsvollere Fiktion ersonnen worden... In allen den Anthropologen und Historikern bekannten Gesell-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Schäften waren Märkte auf Waren im engeren Sinne des Wortes beschränkt. Die Marktwirtschaft schuf somit einen neuen Gesellschaftstypus. Das ökonomische bzw. produktive System wurde darin einem selbsttätigen Apparat überantwortet. Ein institutioneller Mechanismus beherrschte die Menschen in ihren Alltagsbeschäftigungen ebenso wie die natürlichen Ressourcen... Auf diese Weise entstand eine "ökonomische Sphäre", die sich von anderen Bereichen der Gesellschaft scharf abgrenzte... Als Ergebnis dessen wurde der Marktmechanismus bestimmend für das Leben der Gesamtgesellschaft" (Polanyi 1979, S. 131 ff.). Daß der Marktmechanismus und mit ihm die Verwandlung von Mensch und Natur in Produktionsfaktoren sich historisch durchsetzte und bis heute sich weiter durchsetzt, mit dem einzigen Zweck der Steigerung ihrer ökonomischen, in Geld meßbaren Ergiebigkeit, das ist im Kern der Prozeß der Ökonomisierung. Dieser Prozeß ist heute sehr weit fortgeschritten, wir bewegen uns an seiner Grenze, zum Teil haben wir sie bereits irreversibel überschritten.
1.4.3
Der Abschied vom Normalarbeitsverhältnis
Das Sozialmodell abhängiger Arbeit, auf das hin sich bislang die der ökonomischen Instrumentalisierung der Arbeit zugehörige Kompensationspolitik zwischen Kapital und Arbeit orientiert, wird unter dem Begriff "Normalarbeitsverhältnis" gefaßt (vgl. Mückenberger 1985). Gegenüber dem Urzustand einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich die Anbieter von Arbeitskraft ohne Arbeitsvertrag und Arbeitsschutz in einem "total flexiblen arbeitsrechtlichen Grundverhältnis" befanden (vgl. Mückenberger 1985, S. 431), enthält das Modell des Normalarbeitsverhältnisses soziale Sicherheiten und Standardisierungen. "Seine historische Leistung besteht darin, in die durch Flexibilität begründete Unsicherheit, Unordnung und Unruhe der Lohnarbeiterexistenz ... Korsettstangen von Gewißheit, Voraussehbarkeit und Frieden einzuziehen" (Mückenberger 1985, S. 431). In Anlehnung an Offe (1984), Beck (1986), Mückenberger (1985) und Schudlich (1987) lassen sich folgende Elemente des Normalarbeitsverhältnisses bestimmen: - abhängige Erwerbsarbeit als Existenzgrundlage,
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-
Einbindung in ein System arbeits- und sozialrechtlicher Schutzbestimmungen, - auf Kontinuität angelegte Berufsbiographie mit Aus- und Weiterbildung und Karrierechancen, - Konzentration des Arbeitsverhältnisses auf einen Arbeitsplatz und Arbeitgeber, - Geschlechterrollentrennung bei der Zuweisung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Hausarbeit, - Vertretung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen durch Großverbände, die Arbeitsentgelte und -Zeiten regeln. Diese "Elemente", die insbesondere hinsichtlich der Schutzbestimmungen, sozialen Sicherheit und Berufschancen nie umfassend verwirklicht werden konnten und insofern "herrschende Fiktion" blieben (Mückenberger), sind heute durch eine Phase der Re-Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gefährdet. Einer umstandslosen gesellschaftspolitischen Orientierung auf den Erhalt und die weitere Durchsetzung des Normalarbeitsverhältnisses stehen heute zumindest zwei Positionen mit ganz unterschiedlichen Begründungen entgegen: a) Aus konservativer sozial- und wirtschaftspolitischer Position wird der erreichte Stand tarif- und sozialrechtlicher Schutzbestimmungen bereits als zu weitgehend und als beschäftigungshemmend beurteilt. Rudolph (1988) stellt nahezu die gesamten Elemente des Normalarbeitsverhältnisses in Frage, wenn er ein "Recht auf volle Freiheit beim Abschluß des Arbeitsvertrages, ohne Rücksicht auf den Tarifvertrag" fordert: "Der Arbeitslose könnte sich also um eine Tätigkeit bewerben mit einem Lohn zum Beispiel um zehn oder zwanzig Prozent unter dem Satz des Kollektivvertrages. Er könnte auf Nebenleistungen des Arbeitgebers wie bezahlten Urlaub oder Ruhegeld verzichten. Er mag sich bereit finden, jedwede ihm zugewiesene Arbeit zu übernehmen, auch wenn sie nicht zu seinem Beruf gehört oder wenn sie nach gewerkschaftlichen Abgrenzungen anderen vorbehalten sein soll. Es müßte zulässig sein, daß er für seine Person zeitweilig auf gesetzliche Schutzbestimmungen wie Kündigungsschutz oder auf Lohnfortzahlung bei Krankheit verzichtet (Rudolph 1988). Mit diesem Vorschlag einer Re-Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse verbindet sich - ganz im Sinne einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik - die Hoffnung auf positive Beschäfti-
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
gungswirkungen durch Senkung der Arbeitskosten für die Unternehmen. b) Die zweite Position geht in die entgegengesetzte Richtung. Sie schätzt den erreichten Stand arbeits- und sozialpolitischer Absicherung des einzelnen nicht nur als zu gering und zudem noch gefährdet ein, sondern beurteilt den "kompensatorischen Weg" als prinzipiell nicht erfolgversprechend und geht insofern über das Normalarbeitsverhältnis hinaus. Sie will dessen diskriminierende Wirkungen auf bestimmte Beschäftigungsgruppen und Nichterwerbstätige durch Schaffung einer allgemeinen sozialen Grund Sicherung (vgl. u.a. Opielka 1989) und vermittels einer stärkeren Hervorhebung arbeitsinhaltlicher Aspekte positiv überwinden. Ein bloßes Festhalten am Normalarbeitsverhältnis verfestigt aus dieser Perspektive jedenfalls nicht nur den alten Mechanismus von ökonomisch determinierter Instrumentalisierung der Arbiet und kompensatorischer Arbeitspolitik; es ignoriert zugleich die wachsenden arbeitsinhaltlichen Anforderungen wie zum Beispiel ökologische Erfordernisse und Autonomieansprüche der Subjekte, wozu wesentlich die Aufhebung der Ungleichverteilung gesellschaftlicher Arbeit zwischen den Geschlechtern gehört. Für Mückenberger sind als Antwort auf den "unvermeidlichen Niedergang des Normalarbeitsverhältnisses ... schrittweise sozialpolitische Sicherungen einzuziehen, die schon Elemente eines heraufkommenden Neuarrangements gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion darstellen und/oder vorwegnehmen" (Mückenberger 1985, S. 431). Der im Zuge dieser Strukturveränderungen sich herausbildende neue Facharbeiter- und Facharbeiterinnen-Typus, der stärker arbeitsinhaltlich sowie betriebs- und arbeitsplatzorientiert ist, stellt auch für die traditionelle gewerkschaftliche Interessenorganisation und -Vertretung eine zentrale Herausforderung dar (vgl. Feldhoff 1988).
Die Arbeitswelt im Umbruch
1.4.4
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Empirische Problemlagen von Arbeit und Beruf
Der folgende geraffte Überblick über empirische Problemlagen von Arbeit und Beruf sowie der traditionellen Arbeitspolitik; soll zeigen, wie weit die Ökonomisierung in diesem Bereich bereits fortgeschritten ist und sich von der "herrschenden Fiktion" des Normalarbeitsverhältnisses schon wieder entfernt. Die Zusammenstellung ist weder umfassend noch gewichtend. Sie soll allein das Spektrum der Probleme verdeutlichen, die mit dem Ökonomisierungsprozeß der Arbeit einhergehen und die bislang überwiegend durch eine kompensatorische Politik zu regeln versucht wurden: 1.4.4.1 Wohlstand ohne Arbeit? These: Die anhaltend hohe Erwerbslosigkeit ist weder durch hohes Wirtschaftswachstum noch durch eine hohe Mobilitätsbereitschaft der Erwerbslosen, sondern nur durch Umverteilung der Erwerbsarbeit zu überwinden. Im Juni 1994 waren in Deutschland 3,6 Millionen Menschen als arbeitslos gemeldet. In den neuen Bundesländern hat von 1990 bis 1992 ein Beschäftigungsabbau von über 4 Millionen Arbeitsplätzen stattgefunden; im Frühjahr 1992 sind hier nach einer Umfrage "43% aller Haushalte von mindestens einem Fall von Erwerbslosigkeit, Kurzarbeit oder Teilnahme an einer Arbeitsmarktmaßnahme betroffen" (vgl. FriedrichAViedemeyer 1994, S. 10). Die Zahl der Dauerarbeitslosen, das heißt derjenigen, die mehr als ein Jahr ohne bezahlte Arbeit sind, wird auf mehr als ein Viertel, also auf über eine Million geschätzt (vgl. FriedrichAViedemeyer 1994, S. 26 f.). Zusammengenommen (Arbeitslose, stille Reserve, Teilnahme an Umschulung und Fortbildung, Vorruhestand) gibt es im Jahre 1994 in Deutschland einen Fehlbestand von 6,6 Millionen Arbeitsplätzen. Prognosen zum Arbeitsmarkt lassen auch noch bei hohen Wachstumsraten des Sozialprodukts bis zum Jahr 2000 Erwerbslosigkeit in Millionenhöhe erkennen (vgl. MatAB 1, 1988). Eine wesentliche Ursache für die "Freisetzung von Arbeitskraft" liegt in der Entwicklung der Arbeitsproduktivität ("Wohlstand ohne Arbeit"). Um Waren und Dienstleistungen im Wert von einer Million DM (zu Preisen von 1985) hervorzubringen, waren 1955 noch 39 Erwerbstätige, bereits 1985 nur 14 Erwerbstätige erforderlich.
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
1.4.4.2 Flexibilisierung der Beschäftigung - Cui bono? These: Seit den siebziger Jahren wird in der Bundesrepublik der Übergang von einem standardisierten System lebenslanger Ganztagsarbeit im Betrieb zu einem System pluralisierter, flexibler, dezentraler Beschäftigung vollzogen (vgl. Beck 1986, S. 222 ff.). Betriebsindividuelle ökonomische Ziele (zum Beispiel Kapazitätsauslastung) stehen im Konflikt mit Kriterien einer "sozialverträglichen Arbeitszeitgestaltung" (Seifert 1989). Das 1985 verabschiedete und 1990 sowie 1994 verlängerte "Beschäftigungsförderungsgesetz" gestattet die Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachliche Begründung auf 18 Monate. Weiterhin sind etwa ein Drittel der neuen Arbeitsverhältnisse Teilzeitjobs, vor allem im Dienstleistungsbereich; 1991 gab es in Deutschland 5,1 Millionen Teilzeitbeschäftigte, davon 93 Prozent Frauen (vgl. Friedrich/Wiedemeyer 1994, S. 160 ff). Vielfältige Formen der Entkoppelung von Betriebs- und Arbeitszeiten nehmen zu. Der derzeitige Wirtschaftsminister Rexrodt schlägt vor (Pressemitteilung Juli 1994), die Arbeitszeiten nur noch betriebsindividuell und nicht mehr tarifVertraglich regeln zu lassen. Die Gewerkschaften bestreiten positive Beschäftigungswirkungen dieser Maßnahme. 1.4.4.3 Qualifikationsrisiken - Ende der Facharbeit These: Berufliche Qualifizierung wird immer notwendiger zum Einstieg ins Erwerbsleben, sie garantiert jedoch immer weniger einen sicheren Arbeitsplatz ("Qualifikationsparadox"; vgl. Mertens 1984). Die Berufsform der Arbeit wird künftig nur über besondere inhaltliche Kompetenzen ("Schlüsselkompetenzen"; vgl. Famulla 1993) der Subjekte noch zu legitimieren sein. Nach einer IAB/Prognos-Projektion (vgl. IAB/Prognos 1989) wird sich von 1985 bis 2010 das Anforderungsprofil bei den Erwerbstätigen zu Lasten der einfachen Tätigkeiten (von 28 Prozent auf 18 Prozent) und zugunsten der höherqualifizierten Tätigkeiten (von 28 auf 39 Prozent) verändern. Die mittelqualifizierten Tätigkeiten werden in etwa gleichbleiben (45 Prozent auf 43 Prozent). Aufgrund des wesentlich betriebswirtschaftlich bestimmten Ausbildungsplatzangebots werden trotz Bildungsexpansion und genereller Höherqualifizierung bis zum Jahr 2000 von den dann unter 40jährigen in den alten Ländern der Bundesrepublik mindestens 2,5 Millionen Menschen ohne beruflichen Abschluß geblieben sein (vgl.
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Klemm 1989, S. 111 f.). Nach einer DGB-Studie gibt es ebenfalls in den "alten Ländern" 4,5 Millionen Beschäftigte, die als Facharbeiter und Facharbeiterinnen eingestuft sind und 1,3 Millionen Lohnabhängige mit Fachausbildung, die als Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen tätig sind (vgl. DGB 1989). Berufs- und Tätigkeitsstruktur entwickeln sich weiter auseinander - mit der Folge, daß bisher wesentliche Berufsmerkmale wie Status, Identität, Aufstiegschancen und Einkommen gegenüber anderen Kriterien wie Zugehörigkeit zu einem bestimmten Betrieb, Zusatzqualifikationen, Fremdsprachenund EDV-Kenntnisse in den Hintergrund treten. Zudem ist eine Verdrängung des Facharbeiterberufs durch den Ingenieurberuf zu erwarten. "Die Facharbeiterposition gerät in Gefahr, weiter an Attraktivität zu verlieren... (und) damit eine deutsche Spezialität - unsere Facharbeiterkultur" (Stooß 1989, S. 222). 1.4.4.4 Erwerbsarbeit und Hausarbeit - Frauenarbeit? These: Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit und Verbesserungen der Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse von Frauen haben die soziale Ungleichheit der Geschlechter in Arbeit und Beruf nicht wesentlich verändert (->• 2.1.4). Ökonomische Rationalitätsziele der Betriebe und soziale Machtfragen der Geschlechter, basierend auf der ungleichen Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit (Erwerbs- und Hausarbeit) zuungunsten der Frauen, sind gerade in diesem Bereich aufs Engste verzahnt. Die Frauenerwerbsbeteiligung beträgt in den Ländern der alten Bundesrepublik 53,1%, in der DDR betrug sie 84% (Italien: 41,9%, Schweden: 77,9%; vgl. Engelen-Kefer 1989, S. 4). 46% der 25- bis 45jährigen Frauen mit Kindern in den "alten Ländern" sind erwerbstätig; 2,3 Millionen Frauen streben eine erneute Erwerbstätigkeit an (vgl. BMJFF 1989). Frauen sind mehr als Männer von Arbeitslosigkeit betroffen. In den alten Bundesländern beträgt ihr Anteil fast 50%, obwohl ihr Anteil an der Erwerbstätigkeit nur 39% beträgt; in den neuen Bundesländern betrug die Arbeitslosenquote der Frauen 21,5%, die der Männer 11%; fast zwei Drittel aller Arbeitslosen waren Frauen (vgl. Friedrich/Wiedemeyer 1994, S. 30 f.). 1982 gab es zum erstenmal mehr erwerbstätige Männer als Frauen ohne berufliche Ausbildung; Frauen sind erheblich weniger als Männer ausbildungsadäquat beschäftigt (vgl. Volkholz 1988). Die Sonderstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt besteht in:
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Einkommens- und Lohndiskriminierung, Ausübung von Erwerbstätigkeiten mit unzureichender sozialversicherungsrechtlicher Absicherung, häufiger ausbildungsfremder Beschäftigung, häufigem Betriebswechsel, größerem Beschäftigungsrisiko, geringen Weiterbildungs- und innerbetrieblichen Aufstiegschancen (vgl. Gensior/Metz-Göckel 1989). 1.4.4.5 Macht Arbeit krank? These: Aufgrund tradierter arbeitsmedizinischer Sichtweisen und der Überwälzung steigender Kosten des Gesundheitswesens - als betriebsexterne Kosten - auf die Gesellschaft werden arbeitsbedingte Erkrankungen weder zureichend erfaßt noch ihre Ursachen wirksam beseitigt (vgl. Müller 1985). Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz erreichen nur etwa ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesund das Rentenalter; ein Drittel stirbt vorher, ein Drittel wird vor Erreichen der Altersgrenze berufsunfähig; die jährlichen gesellschaftlichen Folgekosten durch Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen belaufen sich auf 88 Milliarden DM (vgl. Preiser/Schräder 1984). Nach einer Untersuchung des Bundesverbandes der Betrieb skrankenkassen, bei der die Krankheitsdaten von 4,3 Millionen Mitgliedern zwischen 1986 und 1990 ausgewertet wurden, nahm die Zahl der Krankheitsfälle, die zu Arbeitsunfähigkeit führten, in diesem Zeitraum um 8% zu; die psychischen Krankheiten stiegen im gleichen Zeitraum um das Dreifache. Durch die Zuweisung der medizinischen Rehabilitation an die Rentenversicherung "wurde der für die Frühinvalidität entscheidende Verursachungsbereich, die arbeitsbedingten chronischen Erkrankungen, die nicht zu den Berufskrankheiten zählen, aus dem betrieblichen Arbeitsschutz ausgeklammert" (v. Ferber 1985). Nach ernstzunehmenden Schätzungen steht jede dritte Krebserkrankung mit den Arbeitsbedingungen in Zusammenhang (vgl. Michelsen 1984). 1.4.4.6 Hoffnung auf Arbeit im Dienstleistungsbereich? These: Der in allen westlichen Industrieländern zu beobachtende Trend zur Ausdehnung des Dienstleistungsbereichs ("Tertiarisierung") mindert nicht die sozialen Risiken in Arbeit und Beruf. Auch wenn die Erhebungskonzepte teilweise umstritten sind, kann von einer deutlichen Zunahme des Dienstleistungsbereichs und
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auch der Dienstleistungstätigkeiten in den letzten 20 Jahren in allen westlichen Industriegesellschaften ausgegangen werden. Nach der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gemeinsam mit dem Umfrageinstitut Prognos durchgeführten Untersuchung "Die Zukunft der Arbeitslandschaft" (vgl. IAB/Prognos 1985) wird sich die Zahl der Beschäftigten im Dienstleistungssektor (ohne Verkehr und Handel) in den alten Bundesländern von 1990 bis zum Jahr 2000 um 1 Million auf dann etwa 10 Millionen erhöhen. Mittelfristig wird mit einer Zunahme produktionsbezogener Dienstleistungen (zum Beispiel Marketing, Software-Entwicklung), langfristig mit einer Zunahme personenbezogener (unter anderem sozialpflegerischer) Dienstleistungen gerechnet. Die "Tertiarisierungsthese", nach der auch im warenproduzierenden Bereich die Dienstleistungstätigkeiten erheblich zugenommen haben und nach der in den Dienstleistungsbereichen eine deutliche Tendenz von manuellen Tätigkeiten hin zu intellektuell anspruchsvoller "tertiärer" Arbeit besteht, läßt sich nicht bestätigen (vgl. RWI 1987). Festzustellen ist weiterhin, daß im Dienstleistungsbereich eine erhebliche Zahl von Teilzeitarbeitsverhältnissen, überwiegend von Frauen, eingegangen wird. 1.4.4.7
Traditionelle, Neue oder Schlanke Produktionskonzepte? These: Die Veränderung der Grundmuster industrieller Arbeitsorganisation seit Taylor dient vorwiegend der produktivitätsorientierten Erschließung weiterer Leistungsreserven. Kennzeichen der traditionellen Form der Arbeitsorganisation (Taylor 1913) war die systematische ("wissenschaftlich begründete") Zerlegung der Arbeit zum Zwecke ihrer Produktivitätssteigerung, insbesondere die Trennung von dispositiver und ausführender Arbeit und die möglichst weitgehende Kontrolle des Managements über den Arbeitsprozeß (vgl. auch Bravermann 1977). Kern und Schumann stellten in ihren Untersuchungen (vgl. Kern/ Schumann 1984; 7.3.3) deutliche Anzeichen für das Streben des Managements nach neuen Kombinationen von Arbeit und Technik fest, bei denen Kreativität und Qualifikation der Facharbeit wieder eine stärkere Rolle spielen. Die Gründe für die neuen Managementkonzepte lagen in dem OfFenbarwerden einer sinkenden Effizienz immer weiterer Zerlegung der Arbeit in Einzelverrichtungen und deren Technisierung und Automatisierung ("technikzentrierter Pfad
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der Produktion"; vgl. Brödner 1986). Für die "neuen Produktionskonzepte" waren und sind dann vor allem solche Beschäftigten gefragt, die über ein umfangreiches Produktionswissen verfugen, Verantwortungsbereitschaft und Flexibilität zeigen, und den Produktionserfordernissen (kontinuierlicher Produktionsablauf) erfolgreich begegnen können. In dieser Tendenz zur Reprofessionalisierung der Arbeit wird heute der Ansatz zu einem (west-)europäischen Produktionskonzept gesehen, das sich gegenüber der zentralisierten Massenfertigung in den USA und Japan durch einen humaneren Umgang mit der Arbeit unterscheiden könnte. Allerdings sahen Kern und Schumann nur bei einer Minderheit, den "Rationalisierungsgewinnern", Entwicklungen zu einem ganzheitlichen Charakter der Arbeit und zu einer Requalifizierung der Berufstätigen, zumal mit durchaus widersprüchlichen Anforderungen und Belastungen. Ihre Tätigkeit "... scheint qualifiziert und belastend, autonom und verdichtet..." (Kern/Schumann 1984, S. 99). Die Diskussion um Neue Produktionskonzepte wird heute zunehmend abgelöst von der Diskussion um Lean Production oder Schlanke Produktion. Ausgangspunkt war die sogenannte MITStudie (vgl. Womack u.a. 1991). Der zentrale Gedanke dieser Studie besteht darin, daß sich im Konzept der Schlanken Produktion die Vorteile der handwerklichen Produktion mit denen der Massenproduktion verbinden lassen, ohne daß die Beschränkungen beider Produktionsweisen wirksam werden. Stand bei der tayloristischen Arbeitsteilung das Arbeitstempo auf Kosten von Qualität und Arbeitsinhalt im Vordergrund, so zielt Lean Production auf eine Kombination von hochflexiblen, automatisierten Maschinensystemen und Gruppenarbeit (vgl. Witthaus 1994). Doch auch hier steht die Ökonomisierung der Arbeit im Vordergrund. Gegenüber den früheren Programmen zur Humanisierung der Arbeit, wo es um gewerkschaftliche Forderungen wie "mehr Selbstbestimmung, bessere Arbeitsinhalte, höhere Qualifikation, bessere Arbeitsbedingungen und bessere Sozialleistungen ging", besteht die heutige Zielsetzung des Managements in "Verbesserung der Effizienz der Arbeit: höhere Produktivität, höhere Flexibilität, bessere Anlagennutzung, bessere Qualität und Kostenreduzierung" (Roth 1993, S. 15). 1.4.4.8 Einstellung zu Arbeit und Beruf: Ja, aber ... These: Das arbeitsinhaltliche Interesse steigt mit höherem Ausbildungsniveau und besserer Qualität der Arbeitsbedingungen.
Die Arbeitswelt im Umbruch
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Festzustellen ist, daß mit dem aus ökonomischen Effizienzgründen vorangetriebenen Prozeß der Neuschneidung von Arbeitsplätzen und - teilweise damit verbunden - höherer Verantwortung und vergrößertem Arbeitsinhalt ein steigendes Interesse der Menschen am Inhalt ihrer Arbeit korrespondiert. Es wird durchaus nicht der privatistische Rückzug aus der Erwerbsarbeit angestrebt, sondern die Suche nach Selbstverwirklichung in ihr. Baethge spricht hier von "normativer Subjektivierung" und meint damit das "Geltendmachen persönlicher Ansprüche, Vorstellungen und Forderungen in der Arbeit..." (Baethge 1991, S. 273). Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, daß in vielfältigen Jugendstudien zur Einstellung von Arbeit und Beruf gegenüber der Nachkriegsgeneration ein durchaus relativiertes Verhältnis zur Erwerbsarbeit bis hin zu einer dezidiert vertretenen Position der Arbeitsverweigerung gegenüber dem System der Lohnarbeit registriert werden kann (vgl. hierzu May/Schruth 1988). Denn Freizeit und Familie sind bedeutsamer geworden, auch ist das Interesse an Selbstentfaltung gestiegen - aber dieses Interesse wird für die übergroße Mehrheit der Jugendlichen durchaus in der Erwerbsarbeit zu befriedigen gesucht. Ein Gutachten des Deutschen Jugendinstituts (vgl. Bertram u.a. 1991) über "Lebensentwürfe von Jugendlichen" bestätigt, daß Jugendliche, insgesamt gesehen, am Bildungs- und Arbeitsinhalt sehr interessiert sind und eine hohe Leistungsbereitschaft und Motivation zeigen. Bedeutsam ist zudem das Ergebnis, daß arbeitsinhaltliche Interessen von Jugendlichen mit höherem Ausbildungsniveau und Qualität der Arbeitsbedingungen steigen. Allerdings kann auch den "unteren Berufsgruppen" das Bedürfnis nach Selbständigkeit und Verantwortung am Arbeitsplatz nicht einfach abgesprochen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß dieses Bedürfnis noch nicht mit den derzeitigen Arbeitsstrukturen korrespondiert (vgl. Flodell 1985). "Dort aber, wo die neuen Ansprüche der Arbeitnehmer erfüllt werden, zeigen die empirischen Daten ein Arbeitsengagement, das wenig zu wünschen übrig läßt" (vgl. Flodell u.a. 1984). Eine sozial-ökologische Modernisierung der Gesellschaft erfordert demnach nicht nur eine qualifizierte Ausbildung für alle, sondern auch die Bereitstellung von inhaltlich anspruchsvollen Arbeitsplätzen.
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1.4.4.9
Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
Arbeiten für die Umwelt?
These: Jeder Arbeitsplatz ist nicht nur von Umweltgefahrdungen betroffen, sondern bietet auch Verhaltensspielräume, die für umweltverträgliches Handeln genutzt werden können. Umweltbelastungen entstehen nicht allein bei der Herstellung von Produkten, sondern in jeder Phase ihres Lebenszyklusses bei der Beschaffung, Verarbeitung/Herstellung, Verteilung, Anwendung und bei der Beseitigung. Betroffen können beispielsweise sein: nicht erneuerbare Rohstoffe und Energien, die Umwelt (Luft, Boden, Gewässer, Pflanzen) und die Gesundheit des Menschen (vgl. Kreibich 1994). "Über die meisten chemischen Stoffe (95 vH) liegen keine Untersuchungen der ökologischen und gesundheitlichen Wirkungen vor...; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt inzwischen 70 bis 90vH aller Krebserkrankungen auf Umwelt-Einflüsse, insbesondere auf Umwelt-Chemikalien zurück" (Roth 1989). Die berufliche Interessenpolitik (Arbeitsplatzsicherung, Lohnpolitik, Arbeitszeitregelung, Berechtigungswesen) ist heute nicht weniger wichtig geworden, doch wird die Verschränkung des ökonomischen mit dem ökologischen Interesse zunehmend deutlich. Höheres Einkommen ist ohne gesunde Luft, sauberes Wasser, sichere Energie und gesundheitsverträgliche Arbeitsbedingungen nichts wert. Diese Erkenntnis beginnt auch bei Unternehmensleitungen wie bei Gewerkschaften Fuß zu fassen. Zunehmend wichtig für eine ökologisch bewußte Arbeits- und Berufspraxis sind Fachkenntnisse und politische Handlungsfähigkeit, die sich im Spannungsfeld von Ökologie und Ökonomie bewähren müssen. Bei Facharbeiterinnen und Facharbeitern gibt es ein wachsendes Interesse am Umweltschutz; jeder vierte plädiert für den Vorrang des Umweltschutzes gegenüber dem Erhalt von Arbeitsplätzen, und "mehr als drei Viertel wollen die Erhaltung der Arbeitsplätze zumindest nicht zu Lasten des Umweltschutzes gehen lassen" (Heine/ Mautz 1989). Mittlerweile sind 680.000 Beschäftigte im Breich des Umweltschutzes tätig, davon 400.000 im produzierenden Gewerbe im Bereich Umwelttechnik (vgl. BMU 1994). Umweltbewußte Unternehmer haben die Bedeutung des globalen Erhalts der natürlichen Produktionsvoraussetzungen für ihre Unternehmen entdeckt und mit der Entwicklung und Anwendung von Instrumenten zur ökologischen Unternehmenspolitik begonnen (vgl. Winter 1987; Schmidhei-
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ny 1992). Die Checkliste "Arbeitsbedingungen" bei Winter enthält beispielsweise zahlreiche Vorschläge zur Gestaltung der Arbeitsumgebung wie auch arbeitsinhaltliche Grundregeln betreffend Kontrollmöglichkeiten und Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Planungs- und Entscheidungsvorgängen (vgl. Winter 1987, S. 123 ff.). In der beruflichen Umweltbildung beginnt sich ein weiter gefaßtes Verständnis ökologischen Lernens abzuzeichnen, das vor allem auf die Entwicklung der beruflichen Handlungsfähigkeit setzt (vgl. Nitschke 1991).
1.4.5
Arbeitspolitische Perspektiven im Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie
Perspektivisch bestehen zur Bewältigung der hier skizzierten "Problemlagen der Arbeit an den Grenzen der Ökonomisierung" prinzipiell drei arbeitspolitische Handlungsalternativen. Es besteht erstens die Möglichkeit der Fortsetzung einer Ökonomisierung der Arbeit verbunden mit höheren sozialen Kosten (kompensatorische Arbeitspolitik). In Bezug auf die Beschäftigten hieße das gegebenenfalls Erhöhung der Zulagen bei höheren Belastungen, beispielsweise Schichtarbeit, wobei die höheren Lohnkosten durch Einsparung bei den Kapitalkosten der Betriebe (höherer Auslastungsgrad) und die höheren Krankheitskosten durch Beitragserhöhungen für die Allgemeinheit aufgefangen werden müßten. Im Hinblick auf die Gefährdungen der Umwelt kann der einzelne Betrieb so lange umweltschädigende Produktionsverfahren anwenden (etwa Pestizid-Einsatz und Stickstoffdüngung in der Landwirtschaft; Dünnsäure in den Rhein oder die Nordsee), wie die Folgekosten von anderen (der Gesellschaft) übernommen werden und seine eigene Gewinnsituation langfristig positiv bleibt. Dieser Weg fortschreitender Ökonomisierung, verbunden mit höheren Arbeitsbelastungen und Umweltzerstörungen, dürfte auch bei optimistischer Einschätzung sozial- und umweltkritischer Gegenbewegungen und staatlicher Maßnahmen - wegen der vergleichsweise oft späten Wirkung auf die einzelbetriebliche Kostensituation - noch für längere Zeit der dominierende bleiben. Zweitens gibt es Versuche, die "Schnittmenge" zwischen ökonomischer Rationalität und sozial- und umweltverträglicher Arbeit zu
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
nutzen und zu vergrößern (sozialtechnologische Arbeitspolitik). Dieser Weg dürfte heute für Produktion und Verwaltung der attraktivste sein, wenn es tatsächlich gelingt, gleichermaßen ökonomische Effizienzkriterien und Autonomie- oder Mitwirkungsansprüche der Beschäftigten bei der Arbeitsgestaltung sowie ökologische Belange zu berücksichtigen. In einer Reihe von Unternehmen dürften die hierzu bestehenden Handlungsmöglichkeiten durchaus nicht ausgeschöpft sein, und die mangelnde Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte (Partizipation, Qualifikation) wie ökologischer Belange scheint oftmals nur auf fehlende Informationen rückfuhrbar zu sein. "Neue Produktionskonzepte" und "Lean Production" werden dann stärker auf die ökologische Dimension zugeschnitten, wenn dies kostenneutral oder gar kostensenkend erfolgen kann. Das Interesse vor allem der Unternehmensleitungen an solchen betriebspolitischen Maßnahmen ist verständlich, wenn in ihnen die postulierte "Vereinbarkeit von Wirtschaftlichkeit, Humanisierung und Ökologie" sich bestätigt und die gleichzeitige Einfuhrung aller drei Ziele ohne Interessenkonflikte und Aufwerfen von Machtfragen möglich ist. Dieses Harmoniebedürfnis kann aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gravierende soziale wie ökologische Problembereiche der Berufsarbeit auch außerhalb der "Schnittmenge" dieser drei Ziele liegen. Sie sind mit Interessengegensätzen verbunden und legen zum Teil weitergehende, politische Lösungen nahe, die über den kurzbis mittelfristigen Horizont einzelbetrieblicher Wirtschaftlichkeit weit hinausgehen. Schließlich bleibt als dritte Entscheidungs- oder Verhaltensvariante das politische Insistieren von betrieblichen (Managern und Belegschaftsmitgliedern) und außerbetrieblichen (Bürgerinitiativen) Akteuren auf sozial- und umweltverträglicher Arbeit unter Inkaufnahme von Einbußen beim Einkommen und Orientierung auf eher qualitativen Konsum (sozialökologische Arbeits- und Konsumpolitik). Wird bei Gefährdungen von Mensch und Umwelt durch betriebliche Produktionsverfahren beispielsweise von Belegschaftsinitiativen auf unmittelbare Beseitigung der Ursachen gedrängt, rüttelt das insofern an den Grundlagen der auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft, als diese bislang keine Mitbestimmung bei den Produktionsentscheidungen vorsieht. Gesellschaftspolitisch gesehen steht in der Art des Umgangs mit Umweltgefährdungen die Praxis der parlamentarischen Demokratie auf dem Prüfstand. So ist - als Resultat umweltpolitischer Initiativen - ein
Die Arbeitswelt im Umbruch
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politischer Maßnahmenkatalog (Gesetze, Verordnungen, Abgaben, Öko-Steuern) zwar notwendig zur Schaffung gleicher Produktionsvoraussetzungen in der Konkurrenzwirtschaft, zur Verhinderung von Gefährdungen des Menschen und der Natur kommen diese Maßnahmen aber in der Regel zu spät und sind zudem häufig mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Eine wirksamere umweltorientierte (Arbeits-)Politik, scheint auch mit den jüngsten Vorschlägen zur Anwendung von "Mediationsverfahren" noch nicht gefunden (vgl. Keller/Poferl 1994). Fazit: Der dritte (sozial-ökologische) Weg der "Umweltakteure" scheint angesichts der sozialen und ökologischen Problemlagen in Arbeit und Beruf der wirksamste, wenn auch ökonomisch und politisch s c h w i e r i g s t e u n d brisanteste; der z w e i t e
(sozial-technologi-
sche) Weg - die Suche nach der "Schnittmenge" - erscheint zwar als machbar und fortschrittlich, bleibt aber halbherzig, da er soziale und ökologische Ziele nur dort verfolgt, wo die ökonomische Rationalität nicht in Frage gestellt wird; der erste (ökonomisch-kompensatorische) Weg einer weiteren Ökonomisierung und Instrumentalisierung von Mensch und Natur erscheint wegen des damit immer noch verbundenen relativ hohen Lebensstandards für die jetzt lebende Generation in den westlichen Industrieländern zwar als der ökonomisch erfolgreichste, aber im Hinblick auf den langfristigen globalen Erhalt der Arbeits- und Lebensbedingungen auch als der gefährlichste. Für eine "dauerhafte Entwicklung" wird entscheidend sein, ob es gelingt, im Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie eine deutlichere Gewichtsverlagerung zugunsten eines sozial- und umweltverträglichen Arbeitsinhaltes zu bewirken.
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
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Die Arbeitswelt im Umbruch
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Die Arbeitswelt als Gegenstand der arbeitsorientierten Bildung
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Die Arbeitswelt im Umbruch
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2.
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
2.1
Sozialisation und Arbeit Hannelore Faulstich-Wieland
2.1.1
Anfange der beruflichen Sozialisationsforschung
107
2.1.2
Persönlichkeitsfördernde Arbeitsgestaltung
113
2.1.3
Persönlichkeitsentwicklung junger Facharbeiter
115
2.1.4
Doppelte Vergesellschaftung von Frauen
119
2.1.5
Perspektive: Doppelte Sozialisation Erwachsener
122
Zitierte Literatur
124
Weiterfuhrende Literatur
127
2.1.1
Anfänge der beruflichen Sozialisationsforschung
In den deutschsprachigen Sozialwissenschaften gab es Anfang der 60er Jahre eine erste Auseinandersetzung mit Sozialisationskonzepten, die auch den Bereich von Arbeit und Beruf einbezog. In einem von Theodor Scharmann 1966 herausgegebenen Band "Schule und Beruf als Sozialisationsfaktoren" wurde eine Begriffsklärung vorgenommen, die Sozialisation als soziale Prägung im Blick auf Rollen, Enkulturation als Selbstentfaltung bzw. -Verwirklichung der Person und Personalisation als Dynamik der Persönlichkeit definierte. Sozialisation wurde als "Vorgänge im Rahmen der sozial-individualen Integration verstanden, welche, das natürliche Reifen und Werden des Individuums zeitlebens begleitend, seine mehr oder minder spontane und unwillkürliche Anpassung an die Normen, Verhaltensregelungen, Techniken usw. seiner jeweiligen Umwelt bewirken" (Scharmann 1966, S. 38). Entscheidend für diese Sichtweise ist, daß einerseits gesellschaftliche Anpassungszwänge gesehen werden, denen andererseits psychische Strukturen gegenüberstehen, die unbeeinflußt davon bleiben (vgl. Scharmann 1966, S. 4) und schließlich das Individuum als beide Komponenten in Einklang bringende Persönlichkeit aufgefaßt wird. Bezogen auf den Beruf als Sozialisationsfaktor konstatiert Friedrich Fürstenberg:
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
"Ohne Konflikte ist in einer pluralistischen Wertewelt keine Reifung des Menschen, keine Selbstfindung möglich, wie andererseits aber auch jede Konfliktsituation die Möglichkeit des Scheiterns in sich birgt. Ziel dieser Ausfuhrungen war es zu zeigen, wie sehr das persönliche Berufsleben, ja Berufsschicksal dort, wo es konfliktgeladen erscheint, in das Koordinatensystem überindividueller Normenstrukturen eingebettet ist. Gerade beim Eintritt in das Berufsleben zeigt sich, daß das Individuum weitgehend die Schaubühne der Hintergrundspannungen zwischen den sozialen Objektivationen unserer Gesellschaft ist, daß aber auch nur das Individuum durch seine eigenste, persönliche Leistung das komplexe Gefiige einander überlagernder, sich gegenseitig verstärkender oder abschwächender Verhaltensanforderungen zur Lebensform zu integrieren, zum unverwechselbaren, unveräußerlichen Schicksal auszuformen vermag" (Fürstenberg 1966, S. 202f). Der sich in diesem Ansatz zeigende Streit um das Verhältnis von biologisch gegenüber sozial und kulturell bestimmten Anteilen in der Entwicklung des Menschen bestimmte auch die generelle Sozialisationsdebatte. Mit dem Begriff "Sozialisation" sollte gerade eine Abgrenzung von biologistischen und entwicklungspsychologischen Sichtweisen bestimmt werden. Ihre Anstöße kamen vor allem aus der Soziologie und der Politischen Ökonomie (vgl. HagemannWhite / Wolff 1975, Schumann / Korff / Schumann 1976, Leithäuser / Heinz 1976). Erstaunlicherweise läßt sich aber feststellen, daß dabei der Bereich der Arbeits- und Berufswelt nur unter einer speziellen Sichtweise in den Blick kam: Als Bestimmungsmoment des kapitalistischen Systems, das Einfluß nimmt auf familial schichtspezifisch unterschiedlich verlaufende Sozialisationsprozesse1 bzw. das eine Einübung der Menschen in diese Gesellschaftsformation erzwingt (vgl. z.B. Heinz 1976). Nicht von marxistischen Ansätzen ausgehende Sozialisationsbearbeitungen ließen den Erwerbsbereich ganz außer acht: So beinhalten die von Heinz Walter 1973 herausgegebenen drei Bände zur Sozialisationsforschung
So behandeln z.B. Frederick F. Abrahams und Ingrid N. Sommerkom in ihrem Beilrag in dem von Klaus Hurrelmann 1976 herausgegebenen Band "Sozialisation und Lebenslauf' die Arbeitswelt, aber nur unter dem Gesichtspunkt des Einflusses der "Sozialisationserfahrungen der Eltem am Arbeitsplatz" auf die innerfamilialen Erziehungsprozesse. Sie stützen sich dabei vor allem auf die international wegweisenden Forschungen von Melvin L. Kohn über den Zusammenhang von Arbeitserfahrungen, Werthaltungen und Erziehungsverhalten (vgl. dazu auch Faulstich / FaulstichWieland 1975).
Sozialisation und Arbeit
109
überhaupt keine Aussagen zur beruflichen Sozialisation. Selbst im zweiten Band, in dem es um Sozialisationsinstanzen geht, werden nach der Behandlung der primären Sozialisation und der Sozialisation in Vorschule und Schule unter "weitere Sozialisationsinstanzen" keineswegs Arbeit und Erwerb, sondern Spiel und Sport, Massenmedien und Militär, Polizei, Gefängnis genannt. Betrachtet man die heutigen Aufarbeitungen von Sozialisationsprozessen, so setzt sich diese Tendenz, den Erwerbssektor außen vor zu lassen und Sozialisation auf Familie und Schule bzw. auf Kindheit und Jugend zu beschränken, fort (vgl. z.B. Geulen 1989, Tillmann 1989, Hurrelmann 1989, der allerdings immerhin gute drei Seiten auf das Thema "berufliche Sozialisation" verwendet). In der Psychologie gab es in den siebziger Jahren allerdings Ansätze, arbeitswissenschaftliche Fragestellungen auch als sozialisationsrelevante zu betrachten. So definiert Walter Volpert 1975 in seinem mit Peter Groskurth zusammen verfaßten Buch "Lohnarbeitspsychologie" die Arbeitswissenschaft (auch) als "Wissenschaft von der beruflichen Sozialisation" (Groskurth / Volpert 1975, S. 8). Entscheidend sowohl für eine andere Betrachtung der Arbeitswissenschaft wie für ihre Bedeutung als herrschaftskritische Wissenschaft sei die Überwindung der Vorstellung der "bürgerlichen Arbeitswissenschaft", sie untersuche "Arbeit schlechthin". Stattdessen müsse sie sich klarmachen, daß es um eine spezifische, gesellschaftlich gewordene Form von Arbeit, nämlich um Lohnarbeit im Kapitalismus gehe. Volpert entwickelt dann ein Sozialisationskonzept des Lohnarbeiters, das durch partialisiertes Lernen und partialisiertes Handeln gekennzeichnet sei: "Partialisiertes Lernen und partialisiertes Handeln sind zwei Aspekte desselben Tatbestandes: einer von Grund auf blockierten, gesellschaftlich unmöglich gemachten Aneignung der entwickelten Fähigkeiten des Menschen als Gattungswesen... Der Lohnarbeiter ist darin einzuüben, in sich wiederholenden Situationen starren Verhaltensvorschriften zu genügen, die sich nicht aus Sachanforderungen begründen, sondern aus einer unmittelbar gegenübertretenden Macht, und welchen er nicht aus sachlichem und längerfristigem Interesse gegenübertritt; welche er vielmehr erfüllen muß, um einer Bestrafung, einer Verletzung elementarer Bedürfnisse zu entgehen. Sozialisation des Proletariers im Kapitalismus bedeutet also Entwicklung partialisierter Handlungssysteme und damit systematische
110
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Erzeugung reduzierter Handlungskompetenz und reduzierter Handlungsmotivation" (Groskurth / Volpert 1975, S. 172). Im 1979 von Peter Groskurth herausgegebenen Band "Arbeit und Persönlichkeit" wird dieses Konzept noch weiter entfaltet. Peter Groskurth definiert berufliche Sozialisation als den "permanenten Prozeß der Ausbildung von Persönlichkeitsstrukturen in der Auseinandersetzung mit den sich aus dem Produktionsprozeß ableitenden (zum Teil widersprüchlichen) Anforderungen" (Groskurth 1979, S. 10). Die Widersprüchlichkeit des Produktionsprozesses - die Entfremdung, wie Karl Marx sie definierte einerseits und die "Liebe zur Arbeit", wie Lucien Sève sie herausarbeitete andererseits - wurde in den Diskussionen der 70er Jahre häufig verkürzt auf die alles bestimmende "Gleichgültigkeit des Lohnarbeiters", der seitens der Pädagogik bzw. der politischen Bildung mit Aufklärung über das richtige Bewußtsein zu begegnen wäre. Georg Kärtner und Hans Rudolf Leu charakterisieren dies rückblickend als Glauben an die Mächtigkeit von Bildung: "Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Diskussion in den siebziger Jahren geprägt war von der Vorstellung, daß im Verlauf der beruflichen Sozialisation mittels geeigneter pädagogischer Interventionen den Auszubildenden kritische Einsichten in den gesellschaftlichen Kontext und die darin bestehenden Benachteiligungen zu vermitteln sind und daß sie dadurch veranlaßt werden, im Sinne ihrer Interessen und zugleich im Sinne einer Erweiterung von Chancengleichheit und Demokratisierung aktiv zu werden. Das, was am Subjekt interessierte und von dem sowohl eine gesellschaftliche als auch individuelle Entwicklung abzuhängen schien, waren abgesehen von den als Mindestvoraussetzung unterstellten fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten insbesondere soziale, kommunikative oder kritische 'Kompetenzen', aufgrund derer diese Entwicklung vorangetrieben werden sollte. Daß über ihre Vermittlung entscheidend auf den gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsprozeß Einfluß genommen werden könne, macht das aus, was wir als Glauben an die politische Mächtigkeit von Bildungsprozessen bezeichnen" (Kärtner/Leu 1988, S. 124). Vor allem betriebliche Rationalisierungsprozesse zeigten, daß die Zusammenhänge der beruflichen Sozialisation so einfach nicht lagen: Empirische Studien zur Einfuhrung neuer Technologien in der
Sozialisation und Arbeit
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Druck-, Elektro-, Automobil- und keramischen Industrie sowie im Maschinenbau ergaben, "daß Arbeiter auf betriebliche Umstellungsmaßnahmen, die ihre berufliche und betriebliche Existenz betreffen, in einer Weise reagieren, die sehr stark von den Identitätsvorstellungen des Betroffenen, seiner Eigenverantwortlichkeit, seinem sozialen und regionalen Hintergrund geprägt werden und weit weniger von objektiv (z.B. durch das Lohnarbeitsverhältnis) bestimmten Interessenlagen und Verhaltensweisen, als dies bislang oft angenommen wurde" (Bolte 1988, S. 21). Bereits in dem oben erwähnten Band "Arbeit und Persönlichkeit" zeichneten sich aber auch schon differenziertere Sichtweisen ab: So wurde betont, daß ein Phasenkonzept von Sozialisation zu kurz greift, weil berufliche Positionen soziale Lagen bestimmen, die wiederum mitentscheiden, wie familiale und schulische Sozialisationsprozesse ablaufen. Weiterhin wurde deutlich gemacht, daß eigentlich nicht von einem Abschluß der Sozialisation gesprochen werden kann, Sozialisationsprozesse vielmehr "lebenslang" verlaufen. Entsprechend dieser Differenzierung schlägt Walter R. Heinz in seinem Überblicksartikel zur beruflichen Sozialisation im von Klaus Hurrelmann und Dieter Ulich 1980 herausgegebenen "Handbuch der Sozialisationsforschung" zwei aufeinander zu beziehende Perspektiven für die Bearbeitung von (beruflichen) Sozialisationsprozessen vor: "1. Die klassenbedingte und schichtspezifische Sozialisation in Familie und Schule, die die Aneignung von Basisqualifikationen für bestimmte Berufsfelder fördert bzw. begrenzt und damit zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit beiträgt und in die Berufswahl, d.h. Berufsfindung unter dem Diktat des Arbeitsmarktes einmündet. 2. Die im Arbeitsprozeß in bestimmten Arbeitsorganisationen und Betriebshierarchien gemachten Erfahrungen, die das Verhältnis des Arbeitenden gegenüber Arbeitsinhalt, -bedingungen und -resultaten konkretisieren und im gesamten (biographischen und aktuellen) Lebenszusammenhang bewußtseinsbildende, persönlichkeitsfördernde, aber auch persönlichkeitsdeformierende Auswirkungen besitzen können" (Heinz 1980, S. 4 9 9 f ) . In der Folgezeit wurde der beruflichen und betrieblichen Sozialisation größere Aufmerksamkeit geschenkt: Auf dem Regensburger
112
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 1982 fand ein eigenes Symposion zur "Sozialisation durch den heimlichen Lehrplan des Betriebes" statt (vgl. Beiheft 3 der Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik). Arno Bamme, Eggert Holling und Wolfgang Lempert versuchten 1983 Aspekte und Phasen der beruflichen Sozialisation in einem Schema zu verdeutlichen (vgl. Abb. 1). Sie unterscheiden zum einen die in Elternhaus und Schule stattfindende "Sozialisation für den Ber u f ' von der "Sozialisation durch den Beruf', die wiederum differenziert wird nach der Sozialisation in den Beruf in Form der Berufsausbildung und der Sozialisation im Beruf während der Erwerbstätigkeit. Die allgemeinste Form von Sozialisation stellt nach Ansicht der Autoren die Herausbildung des Sozialcharakters des Lohnarbeiters dar. Sie wird im Elternhaus vorgeprägt, in der Schule entscheidend geprägt und in beruflicher Bildung und Erwerbstätigkeit weiter verstärkt. Schichtspezifische Persönlichkeitsstrukturen erfahren ihre besondere Ausprägung in Elternhaus und Schule ebenso wie die geschlechtsspezifische Persönlichkeitsstruktur von Männern. Die Persönlichkeitsstruktur von Frauen wird nach Auffassung der Autoren offenbar nur in der Familie geprägt und in der Schule weiter verstärkt, nicht jedoch mehr in der Erwerbstätigkeit. Ein beruflicher Habitus wird nur in beruflicher Ausbildung und Erwerbsarbeit entwickelt. Schematisierungen implizieren notwendigerweise immer ein Stück weit Vereinfachungen, die Charakterisierung der weiblichen Persönlichkeitsstruktur in diesem Schema läßt darüber hinaus vermuten, daß es insgesamt noch zu simpel bleibt. Im folgenden sollen deshalb auch nicht die anhand des Schemas identifizierbaren Felder betrachtet werden, vielmehr sollen drei Aspekte herausgegriffen werden, die meines Erachtens relevante Erkenntnisse für den heutigen Stand der Sozialisationsforschung im Zusammenhang mit Arbeit und Beruf bringen: Zum einen sind das Entwicklungen vor allem der Arbeitspsychologie, die aus den Begleitungen von Humanisierungsund Rationalisierungsprojekten einen Paradigmenwechsel für die Arbeitsgestaltung nahelegen; zum anderen sind dies die interaktionistische Sozialisationsforschung, wie Lempert u.a. sie in ihrer Längsschnittstudie entwickelt haben, die komplexere Zusammenhänge von beruflichen Bedingungen und Persönlichkeitsentwicklung aufzeigt; schließlich sind es die Forschungsansätze der Frauenfor-
113
Sozialisation und Arbeit
schung, die zeigen, daß Erwerbsarbeit nicht adäquat erfaßt wird, wenn der Reproduktionsbereich aus dem Blick bleibt. Abb. 1:
Aspekte und Phasen der beruflichen Sozialisation Sozalisation für den Beruf
Elternhaus
Schule
Sozialisation durch den Beruf Berufsausbildung (Sozialisation für den Beruf)
Erwerbstätigkeit (Sozialisation im Beruf)
Sozialcharakter des Lohnarbeiters schichtspezifische Persönlichkeitsstruktur männlich geschlechtsspezifische Persönlichkeitsstruktur weiblich beruflicher Habitus
noch nicht entwickelt oder nicht mehr verstärkt vorgeprägt entscheidend geprägt Willi! VL-l 1.2.4) ist notwendig. Man muß sich dazu klarmachen, wie das menschliche Arbeitsvermögen im Zusammenhang technischer und sozialer Faktoren im Rahmen betrieblicher Güter- und Dienstleistungsproduktion einbezogen ist. Grundsätzlich können betriebliche Rationalisierungsstrategien an drei Teilbereichen ansetzen: der Technik, der Organisation und dem Personal. Die Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen sind zunächst veränderte Anforderungen an ihre Qualifikation. Mit Qualifikation wird dabei ein Entsprechungsverhältnis von individuellen, körperlichen und geistigen Voraussetzungen der Arbeitskräfte und technisch-organisatorischen Arbeitsbedingungen verstanden. Qualifikation umfaßt diejenigen persönlichen Kompetenzen und Motivationen, welche arbeitsbezogen sind (vgl. dazu Faulstich / Faulstich-Wieland 1988). Bei betrieblichen Veränderungen wird häufig der Zusammenhang der drei Bereiche Technik, Organisation und Personal nicht berücksichtigt. Walter Volpert beschreibt die vorzufindenden Strategien vielmehr so: "Die Geschäftsleitung wird eines Problems gewahr - sei es eines akuten oder eines der stets akuten wie des Kostendrucks oder der ungenügenden Effizienz betrieblicher Abläufe. Dann kommt man zur Überzeugung, daß der Einsatz neuer technischer Mittel, etwa der Datenverarbeitung, das Problem lösen kann. Diese Überzeugung kommt keineswegs immer rational zustande: Man will technisch auf dem neuesten Stand bleiben, läßt sich von Werbeversprechungen beeinflussen, glaubt zu hören, daß etwas im Betrieb 'nach EDV schreit' usw. Exakte Wirtschaftlichkeitsberechnungen werden selten angestellt; die Einfuhrungskosten der neuen Systeme werden meist unterschätzt, manchmal um den Faktor Hundert; unerwünschte Nebenfolgen - etwa negative Reaktionen der Kunden und Käufer werden ebenfalls wenig bedacht. Erst nachdem die Entscheidung gefallen ist, jenes Problem durch diese Technik lösen zu wollen, besinnt man sich darauf, daß laut Unternehmensphilosophie 'der Mensch im Mittelpunkt' stehe etc. Im günstigsten Fall beginnt man dann, an Humanisierung der Arbeit, Partizipation, Qualifizierungsmaßnahmen usw. zu denken.
Sozialisation und Arbeit
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Aber auch dieser günstigste Fall ist sehr viel mehr eine 'technische' als eine 'sozio-technische' Lösung ... Dieser Ablauf bringt es zudem fast zwangsläufig mit sich, daß der Partizipation das Odium der Manipulation und der Qualifizierung der Geruch eines nur kurzfristigen und höchst beschränkten Anpassungsversuches anhängt" (Volpert 1987, S. 250f). Erst allmählich setzt sich in der Technikdiskussion die Einsicht durch, daß gerade die neuen Technologien Gestaltungsmöglichkeiten bieten können und statt das Arbeitsvermögen als nachgeordnete Größe hinter Technik und Organisation zu begreifen, seiner Entwicklung vorrangig Aufmerksamkeit zu schenken erlaubt. Es ist möglich, auszugehen von den Bedürfnissen der Arbeitenden und zu fragen nach den Möglichkeitsbedingungen der Entwicklung der Persönlichkeit im Arbeitszusammenhang. Leitlinie dazu ist die Gestaltung persönlichkeitsfördernder Arbeitsstrukturen (Ulich 1978). Für die Arbeitswissenschaft heißt dies, nicht primär an Einzelaspekten eines Arbeitsplatzes anzusetzen, sondern an der Entwicklung eines "integrierten theoretischen und methodischen Konzepts für die Verbindung von partizipativer Arbeitsgestaltung und Qualifizierung" zu arbeiten (Volpert 1987, S. 244). Ansätze dazu liegen auch im internationalen Rahmen vor (vgl. ZSE Heft 4 1987). Eine analoge Entwicklung der Berücksichtigung von ganzheitlichen, auf "Persönlichkeitsbildung" bezogenen Diskussionen findet sich auch in der Berufspädagogik (vgl. Bojanowski u.a. 1991).
2.1.3
Persönlichkeitsentwicklung j unger Facharbeiter
Einen von einem anderen Zugang her kommenden Versuch, Bausteine zu einem solchen integrativen Konzept zu liefern, finden wir in der Längsschnittstudie "Persönlichkeitsentwicklung in Facharbeiterbiographien", die Ernst-H. Hoff, Wolfgang Lempert und Lothar Lappe durchgeführt haben. Begleitet wurden 21 junge Industriefacharbeiter aus drei Westberliner Großbetrieben, die Dreher, Fräser, Werkzeugmacher oder Maschinenschlosser gelernt hatten und ihre Abschlußprüfung 1977 bestanden hatten. 1980 wurden diese jungen Männer - damals durchschnittlich 23 Jahre alt - das erste Mal interviewt. Über einen Zeitraum von sieben Jahren bis 1987 wurden sie in regelmäßigen
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Abständen von einigen Monaten und bei biographisch relevanten Veränderungen jeweils erneut befragt. Im ersten Interview ging es auch um die retrospektiv darzustellende Zeit der frühen Kindheit, der Schul- und Lehrzeit sowie der ersten Erwerbsjahre. Erfaßt wurden - danach dann synchron - sowohl Aus- bzw. Fortbildung, Arbeit und Privatleben. Als "Gegenstände" der Biographie wurden folgende Aspekte berücksichtigt: - Restriktionen versus Handlungsspielräume, - Emotionale Zuwendung und soziale Anerkennung, - Kommunikation und Kooperation, - Soziale Probleme und Konflikte, - Verantwortung für die eigene Person und für andere, - Information über soziale Folgen individuellen Verhaltens, - Orientierungskrise, - Verantwortung für Sachen. Die erfaßten Persönlichkeitsbereiche betrafen die Vorstellungsmuster zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, das Kontrollbewußtsein und die moralische Urteilsfähigkeit (vgl. Hoff u.a. 1991, S.29). Zur Begründung dieser Auswahl heißt es: "Wir betrachten die integrative Sicht des Lebens in wichtigen Umweltbereichen, d.h. eine umfassende Synopse von Arbeit und Freizeit, die realistische Einschätzung objektiver Handlungsmöglichkeiten und Restriktionen, d.h. ein interaktionistisches Kontrollbewußtsein sowie die Kompetenz, für soziale Konflikte allgemein zustimmungswürdige Lösungen vorzuschlagen und zu begründen, d.h. postkonventionelle moralische Orientierungen, nicht nur als wesentliche Momente rationaler Selbst- und Weltsicht und autonomer Handlungsfähigkeit, sondern wir sehen in diesen psychischen Potentialen auch wichtige subjektive Voraussetzungen für eine aufgeklärte politische Beteiligung, für ein verantwortliches Wirtschaften und für ein solidarisches Zusammenleben in komplexen Gesellschaften" (Hoff u.a. 1991, S. 21). Als wichtigste Ergebnisse der Studie stellen die Autoren heraus, daß die jungen Facharbeiter auch im Erwachsenenleben noch deutliche Veränderungsprozesse in ihrer Persönlichkeit vollzogen haben. Das Verhältnis von Arbeit und Freizeit wurde weitgehend von den Befragten als sich gegenseitig beeinflussend angesehen. Die
Sozialisation und Arbeit
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Autoren allerdings neigen dazu, den Einfluß der Arbeit höher zu veranschlagen: "Wir jedenfalls meinen, daß der 'lange Arm' mehr oder weniger in unser aller Privatleben eingreift, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Von unserer Arbeit leben wir, sie bestimmt unsere Zeiteinteilung, beeinflußt unsere Denkweise, unsere Gefühlsbestimmungen und oft auch unsere privaten Beschäftigungen und Kontakte. Außerdem sind wir im Betrieb keine völlig anderen Menschen als im Privatbereich" (Lappe u.a. 1991, S. 64). Die Ausprägung des Kontrollbewußtseins hängt deutlich davon ab, welche Erfahrungen die Männer gemacht und ob sie diese als von ihnen selbst beeinflußbar wahrgenommen hatten oder nicht. "D.h., unvorhersehbare Geschehnisse bedingten, wenn sie gehäuft auftraten oder schwerwiegende Folgen hatten, tatsächlich den Glauben an den Zufall, wiederholte Erfolgserlebnisse stärkten das Vertrauen auf die eigene Kraft usw." (Lappe u.a. 1991, S. 64f). Die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit geht von selbstbezogenem über gemeinschaftsbezogenes zu ausgleichendem Denken. Dabei spielen wiederum die gemachten Erfahrungen eine Rolle für die Art des vorfindbaren Bewußtseins: "Wer unter Bedingungen aufwächst, arbeitet und lebt, in denen Unterdrückung, Konkurrenz und Rivalität sowie Lieblosigkeit, Ablehnung und mangelndes Verantwortungsbewußtsein vorherrschen, kann nur wenig Verständnis für andere Menschen entwickeln. Er wird sich auch noch als Erwachsener stets selbst der nächste sein, im Denken und im Handeln. Wer dagegen von vornherein und fortgesetzt eher Unterstützung, Mitgefühl, Zuwendung und Anerkennung erfährt und vor diesem Hintergrund auf die Folgen aufmerksam gemacht wird, die sein Tun und Lassen für seine Mitmenschen hat, wird sich auch selbst zunehmend anderen zuwenden, ihnen helfen, auf ihr Wohlergehen, ihre gerechte und respektvolle Behandlung achten - wenn nicht schon als Kind, dann doch spätestens im Jugendalter" (Lappe u.a. 1991, S. 66).
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Reflexion und Handeln
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denz zur passiven Lageorientierung bei wiederholtem Erleben von unkontrollierbaren Ergebnissen. Bleibt dagegen die Handlungskontrolle beim Lernenden, ist die Chance der Handlungsorientierung größer. Situative Gegebenheiten wie Unkontrollierbarkeit von Ergebnissen durch Lernende oder Anweisungen, die Druck zum Ausfuhren irgendwelcher Handlungen darstellen, verstärken die Tendenz zur Lageorientierung. Eine sehr praktische Konsequenz dieser Theorie wäre, einem Lernenden die Erfahrung zu ermöglichen, daß das Nachdenken über Veränderungen in den eigenen Bemühungen hilfreicher sein kann als das Grübeln über den gegenwärtigen Zustand und seine Ursachen. Menschen sind nicht mehr hilflos, wenn sie sich nicht mehr hilflos fühlen! Wenn man die Überlegungen wieder bündelt zu alltagsrelevanten Konsequenzen, geht es um das sog. dritte Curriculum (neben dem Curriculum der Lerninhalte und dem Curriculum sozialen Lernens, von dem unten noch die Rede sein wird), das man überschreiben kann mit dem Titel "Das Lernen lernen". Eine Übersicht soll die dafür zu benennenden Lehr-/Lernaufgaben aufzeigen (vgl. Abb. 3). 2.2.2.3 Kommunikation und Kooperation Individuen konstituieren ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl wesentlich über die sozialen Beziehungen, in denen sie stehen und die ihnen Chancen oder Versagungen ermöglichen/aufladen. Die Qualität der Kommunikations- und Kooperationsstandards ist daher nicht nur für die Effektivität der Arbeitsprozesse und -ergebnisse interessant, sie ist für das Individuum die entscheidende Grundlage, individuelle und soziale Identität zu gewinnen. An folgenden Kriteriensätzen entlang kann diese Qualität näher bestimmt werden: Erster Kriteriensatz: Beziehungsstrukturen Da in der Schule heute Vermittlungsdidaktik und Anstaltsrecht vorherrschen, kommen veränderte Beziehungsstrukturen zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern nur schwer zur Geltung. Schnell sind die alten Muster wieder vorherrschend: Die einen sind die, die den Ton und die Aufträge vorgeben, die anderen sind die, die entsprechend zu reagieren haben. Wenn tendenziell Beziehungsstrukturen angestrebt werden können, die eine Subjekt-Subjekt-Beziehung zum Inhalt haben, wäre die Überprüfung des Alltags an folgenden Kriterien möglich:
138
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
- Gegenseitigkeit:
Die Beziehungen sind auf Symmetrie und Gleichheit angelegt.
- Einfühlungsvermögen:
Jeder versucht, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, diese zu verstehen.
- Einwirkungsfähigkeit:
Jeder hat das Recht, verantwortlich auf die Lehr-/Lernsituation einzuwirken.
Anerkennungsbereitschaft: Jeder ist bereit, Verabredungen und Anforderungen anzuerkennen und mitzutragen. - Transparenz:
Lernziele und -inhalte sind verständlich und begründet.
- Nachvollziehbarkeit:
Die Anforderungen an beide Seiten sind nachvollziehbar und verstehbar, im günstigen Fall akzeptierbar.
- Veränderbarkeit:
Sie sind aber auch veränderbar, von den Interessen und Bedürfnissen her.
Relevanz:
Die Bedeutsamkeit kurzfristig wie langfristig ist gegeben bzw. sie wird immer argumentativ hergestellt.
Wenn man diese Kriterien auf den Schulalltag auslegt, merkt man sofort, wie schwer sie zu realisieren sind. Sie basieren alle auf der Grundvorstellung, daß eine Balance möglich ist zwischen Pflichten und Freiheiten, zwischen Rechten und Pflichten, zwischen Nehmen und Geben, zwischen Individualität und Gemeinsamkeit. Wer immer nur Rechte in Anspruch nehmen wollte, würde vergessen, daß er um aushaltbarer Verhältnisse wegen auch Pflichten übernehmen muß. Wer immer nur seine Individualität pflegen wollte, muß zur Kenntnis nehmen, daß Gemeinsames dabei schnell verlorengeht. Wer nur von sich her denkt, kann den anderen nicht mehr verstehen. Wer
139
Reflexion und Handeln
sich nicht auf Verabredungen einlassen kann, macht erfreuliche und positive Leistungserlebnisse schwer möglich. Umgekehrt gilt: Wenn die Anforderungen, die die Schule stellt, nicht transparent sind, kann man schwer Sinn in ihnen finden. Wenn Normen nicht nachvollziehbar sind, kann man sie im Grunde nicht mittragen. Zweiter Kriteriensatz: Klima, Arbeitsmodi und -tempi In der konkreten Gestaltung von Beziehungsverhältnissen geht es um Klima und Atmosphäre, um Arbeitsmodi und -tempi, die hilfreich oder weniger hilfreich sein können. Orientierungspunkte ergeben sich dafür in folgenden Kriterien: Atmosphärische Gegebenheiten Positiv -
Welche Arbeitszufriedenheit herrscht bei Lehrer-/innen und Schüler/-innen vor?
-
Sind die Beziehungen im Alltag kooperativ und verständnisvoll?
-
Hält man sich gern in der Schule auf, auch über die Pflichtzeiten hinaus?
-
Sind Zuversicht und Freundlichkeit bestimmte Größen im Schulalltag?
-
Hat jeder genug Zeit für den anderen?
-
Kann sich jeder genügend einbringen?
-
Werden Probleme und Konflikte fair und offen ausgetragen?
-
Wird Neues gut erklärt und dargestellt?
-
Kann man ohne negative Konsequenzen nachfragen?
-
Bekommt man genügend Zeit, um Neues zu verarbeiten, zu wiederholen, sich selbst anzueignen?
Mittel
Negativ
140
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
-
Ist der Unterricht in der Regel interessant und bereichernd?
-
Macht die Lernarbeit in der Regel Sinn?
-
Ist genügend Raum für Kooperation?
-
Wechseln die Methoden immer wieder, damit das Lernen Spaß macht?
Dritter K r i t e r i e n s a t z : L e r n e n als gesellschaftlich-politisches Handeln A u f k l ä r e r i s c h e D i d a k t i k thematisiert K o o p e r a t i o n s f o r m e n , die selbständiges E r f o r s c h e n , Aufklären, B e w e g e n u n d V e r ä n d e r n ermöglichen, also H a n d e l n u n d Reflexion verbinden. D i e G r u n d m ö g l i c h keiten d a f ü r sind:
Erforschen Vorgehensweisen dienen der eigenständigen Erforschung von Sachverhalten, Einstellungen und Gewohnheiten 1. Recherchieren
- z.B. Freizeitaktivitäten erkunden - z.B. um Auskunft über Aktivitäten von Greenpeace nachsuchen
2. Untersuchen
- z.B. Verkehr in der Nähe der Schule genauer erheben - z.B. Waldschäden mit dem Förster feststellen
3. Befragen
- z.B. Menschen nach Einstellungen zur Unterstützung der östlichen Bundesländer befragen - z.B. Gemeinden nach der Unterbringung ausländischer Bürger befragen
Informieren/Aufklären Vorgehensweisen zielen auf Aufklärungsaktivitäten in der Schule und der Öffentlichkeit 4. Dokumentieren
- z.B. Haushalt der Gemeinde unter dem Aspekt der Schulförderung - z.B. Belastung durch Hausaufgaben in den verschiedenen Schuljahren
Reflexion und Handeln
5. Mitteilen
- z.B. Verbesserungen im Verkehrsverhalten - z.B. Einsparungen im Energieverbrauch
6. Kampagne
- z.B. für Ausbau der Schule werben - z.B. für Hilfsaktionen für Kinder in Eritrea werben
141
Bewegen/Verändern Vorgehensweisen zielen auf Veränderungen in der Schule/im gesellschaftlichen Umfeld 7. Demonstrieren
- z.B. gegen Umweltsünder demonstrieren - z.B. gegen Unterrichtsausfall demonstrieren
8. Aktionen
- z.B. sauberer Stadtwald (Sammeln von Müll) - z.B. Blutspendeaktion in der Schule
9. Alltagsverhalten - z.B. Verhalten im Schulbus ändern - z.B. differenzierte Müllbeseitigung zu Hause
2.2.2.4 Lernen mit Sinn Die Konstituierung von Sinn ist das dringendste Anliegen. Sinn ist für Lern- und Ausbildungsverhältnisse häufig eine Mangelkategorie, da Ältere, Kompetente, Wissende diesen nicht als vermittlungsnotwendig ansehen. Er erscheint als gegeben. Dies ist aber auf der "anderen Seite" so nicht der Fall. Wenn Sinn das konstituierende Moment des Lernens ist, muß man auf die unten angeführten vier Grundmöglichkeiten rekurrieren. Das Problem Schule und Unterricht haben eine scheinbar so selbstverständliche Existenzberechtigung, daß man nach ihrem Sinn in der Regel nicht mehr zu fragen braucht. Die Klientel ist durch Schulpflicht gezwungen, zu erscheinen (Schüler haben keine Alternative); die Lehrer/-innen können nach ihrem Geschmack den täglichen Unterricht halten, ohne daß Begründungszwang gegeben wäre. Diese Gegebenheiten haben nach meiner Beobachtung zwei Folgen: 1. Die Kategorie "Sinn" ist nicht mehr konstituierend für Schule, im Gegenteil; der tägliche, monatliche, jährliche Moloch "Unterricht" zwingt dazu, seinen unstillbaren Hunger nach Inhalten zu füllen. Oder man hat ein Unterrichtswerk, das einen treibt und nach dessen Sinn man nicht mehr zu fragen braucht.
142
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
2. Die Kategorie "Methodik" muß nicht übermäßig üppig bedacht werden, da die Schüler ohnehin mitmachen müssen. Tun sie es nicht, wird sich dies in Zeugnissen niederschlagen. Bei einer freiwillig kommenden Klientel wäre dies anders. So läuft der Alltag in festen Ritualen ab (Fächer, Stunden, verschiedene Lehrer/-innen), ohne daß noch viel nach dem zugrundeliegenden Sinn gefragt werden muß. Das Ergebnis ist häufig sinnentleerter Alltag. Falls nach Sinn gefragt wird, kommen die bekannten Antworten: "Man braucht heute einen guten Schulabschluß", "Schule ist für Deine Zukunft wichtig", "Mach uns bloß keinen Kummer". Die folgende Überlegung vernachlässigt die Methodenfrage und geht der Frage nach, wie sich "Sinn" als Bedeutung, Wichtigkeit ("das macht Sinn") von etwas für jemand im menschlichen Leben eigentlich konstituiert, um damit einer Kategorie wieder auf die Spur zu kommen, die anstelle der Ersatzkategorie "Motivation" (im Sinne von "jemanden für etwas motivieren") Lernen in einer fundamentaleren Weise begründen könnte. Es kann sich dabei nur um erste Skizzierungen handeln. - Die Grundmöglichkeiten 1. Sinn ist gegeben, wenn ich subjektiv etwas flir wichtig halte, weil es für mich existenznotwendig ist (subjektive Sinnvergewisserung). Dies ist wohl der ursprüngliche Ansatz. Wenn ich Hunger habe, ist es für mich lebenswichtig, etwas zu essen zu finden. Soweit mir mein Leben nicht gleichgültig ist, werde ich zu lernen versuchen, mir Nahrung zu beschaffen. Wenn ich Informationen benötige, macht es Sinn, sich das Lesen anzueignen, um an Informationen selbständig heranzukommen. Die Lebensbedeutsamkeit ist in wesentlicher Weise sinnkonstituierend, wie es Freire immer wieder deutlich gemacht hat. Für die Schule ist freilich festzustellen, daß einerseits lebensbedeutsame Inhalte wenig berücksichtigt werden, andererseits die Kinder- und Jugendzeit in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen so stark aus den tatsächlichen Lebensbereichen ausgegrenzt worden ist, daß es geradezu ein konstitutives Merkmal von Schule geworden ist, Lernanliegen und -inhalte künstlich und lebensfern zu halten (Lernen auf Vorrat). Damit kann Lernarbeit häufig an subjektiv bedeutsame und auf diese Weise sinnvolle Anliegen nicht anknüpfen.
Reflexion und Handeln
143
2. Sinn ist gegeben, wenn ich mich mit etwas befassen muß, was andere betrifft oder allgemeiner ein gesellschaftliches Problem ist (soziale/gesellschaftliche Sinnkonstituierung). Kinder, Jugendliche, Erwachsene sind in ihrer Existenz immer auf andere Menschen und auf ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse bezogen. Dabei ergeben sich immer wieder Sachverhalte, die wichtig, bedeutsam sind. Da wird Arbeitslosigkeit zu Hause z.B. bedrängend und bedarf der gesprächsweisen, informatorischen oder praktischen Bearbeitung. Umweltschäden machen betroffen und fuhren zu einer Bearbeitung, die man für wichtig erachtet und zur Sprache bringt.. Es macht dann Sinn, sich genauer damit zu befassen. Aber deutlich wird hier auch, daß soziale/gesellschaftliche Fragen nicht von selbst wichtig werden. Wenn es Sinn macht, sich an solchen Inhalten zu engagieren, ist dies in aller Regel durch andere sinnvoll geworden, durch deren Engagement, Interesse, Darstellung. So ist man ganz schnell bei der Feststellung, daß Sinn in aller Regel kommunikativ vermittelt oder eben nicht vorhanden ist. 3. Sinn ist gegeben, wenn mir etwas wichtig gemacht wird (kommunikative Sinnvermittlung). Hier sind drei Varianten zu unterscheiden. Sie machen zusammen die große Chance der kommunikativ vermittelten Sinnkonstituierung aus. * Das Engagement und Interesse eines Menschen (Lehrers/Lehrerin) erschließen mir Sinn (personale Sinnvermittlung). Die Bildungserlebnisse, die zum Inhalt haben, daß einem ein Lehrer/eine Lehrerin Mathematik wichtig und interessant gemacht hat, womöglich sogar Grammatik, sind wohl relativ selten. Und doch haben sie jeden Tag ihre Chance. Wenn ein Mensch mit seiner Person, seinem Wissen, seiner Erklärungskompetenz für etwas steht, zu etwas anregt, ein Beispiel gibt, können wohl immer noch Schlüsselerlebnisse möglich werden. Wenn man merkt, wie jemand seinen Glauben lebt, wie er sein Leben und Verhalten nach ihm ausrichtet, kann Nachdenklichkeit, Orientierung, vielleicht sogar Nachahmung entstehen. Von Schülern wird immer wieder beklagt, daß ihre Lehrer/-in ja nicht einmal selbst ihre Fächer für wichtig halten würden, wieso sollten sie es eigentlich tun? Die Auffassung vom Lehrer/von der Lehrerin als Fachwissenschaftler, als Moderator von Lernprozessen hat das Verständnis der Lehrerrolle in den Hintergrund treten lassen, daß 'für eine Sache stehen' womöglich eine ganz wichtige Rolle spielt.
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Gemeint sind hier nicht die Fehlformen der Indoktrination und der unreflektierten Sachkompetenz. Gemeint ist, daß ich als Lernender an einem anderen Physik oder Chemie so lernen kann, daß sich mir der Sinn dafür erschließt. * Begründung und Erläuterung erschließen mir Sinn (kognitive Sinnvermittlung). Wer sich scheut, gewissermaßen "mit dem Herzen" Latein zu lehren, und dafür gäbe es sicher auch gute Gründe, hat immerhin die Chance der kognitiv bestimmten Sinnvermittlung. Gemeint ist damit die ständige Praxis, Unterrichtsanliegen, Unterrichtseinheiten, Unterrichtsplanungen z.B. für ein Vierteljahr offenzulegen, die Begründung für ihre Verfolgung darzustellen und damit Transparenz und Sinn zu schaffen. Für Schüler ist Unterricht häufig eine Art Geheimnis, dem man sich auszusetzen hat, ohne daß man weiß, warum und wieso. Wenn man davon ausgeht, daß für Lehrer/innen Sinn immer gegeben ist - wie wollten sie sonst Unterricht verantwortlich durchführen? -, bedürfte es einfach der Explikation dieses Sinnes, um Schülern das Erlebnis zu verschaffen, daß in der gemeinsamen Lernarbeit tatsächlich Sinn steckt. Die von mir in anderem Zusammenhang als Unterrichtskonzept entwickelte Metakommunikation wäre die Praxis, über Sinn, Begründung, Entfaltung des Geplanten der Lernarbeit eine neue Dimension zu geben. Wenn man statt Willkür und Zufälligkeit Konzept und Plan erkennen kann, ist jedenfalls eine größere Chance gegeben, mit Sinn zu lernen. * Handlungszusammenhänge, in die ich verwickelt bin, machen mir etwas wichtig (handlungsorientierte Sinnvermittlung). Der eigentliche Sinn des derzeit verbreitet diskutierten handlungsorientierten Unterrichts liegt darin, sich in einen entwickelten Handlungsund Sinnzusammenhang mit seiner ganzen Person einzubringen, sowohl die Planung als auch die Durchführung und Analyse des Ergebnisses wie des Arbeitsprozesses mitzubedenken, mitzugestalten, mitzuverantworten. In dem Maße, in dem ich für eine Arbeit mitverantwortlich bin, werde ich sie mittragen, werde ich sie mit Sinn besetzen. In einem Projekt über das Thema "Ausländische Bürger unter uns" wird auch etwas wichtig, was isoliert vielleicht uninteressant wäre, z.B. Interviewtechnik, die ich brauche, um über Meinungen, Einstellungen, Gegebenheiten etwas herauszubekommen. D.h., der entwickelte Handlungszusammenhang hat Sogcharakter für weitere Lernanliegen. Wenn man anderen etwas darstellen möchte, werden sprachliche und bildliche Darstellungsmodi wichtig. Der Be-
Reflexion und Handeln
145
rieht, das Referat, sonst ungeliebte Pflichtübungen, bekommen plötzlich Sinn und Bedeutung. Handlungszusammenhänge beinhalten für sich genommen schon mehr Möglichkeiten, etwas für sich Sinnvolles zu übernehmen und zu bearbeiten. In kleinerem Rahmen ist der wahldifferenzierte Unterricht ebenfalls ein Unterrichtsangebot, bei dem man für sich etwas Wichtiges finden und damit sinnvoll lernen kann. In der Strukturierungsphase wird das Thema im Überblick entwickelt, es werden Arbeits- und Themenschwerpunkte herausgearbeitet, so daß man als Schüler in der Wahl- und Arbeitsphase sein Thema bestimmen und bearbeiten kann. Da man in der Vermittlungs- und Reflexionsphase sein Ergebnis darstellen muß mit der Chance der positiven, auch der nicht so positiven Resonanz, steht man für den Sinn, den die eigene Arbeit kennzeichnet. 4. Sinn konstituiere ich selbst, finde ich selbst (individuelle Sinnkonstituierung). Zu den grundlegenden Bildungserlebnissen gehört es sicher, für eigene Initiativen, Arbeiten selbst den Sinn zu definieren. Wenn man immer nur Lernaufträge ausführen müßte, käme man nie dazu, selbst etwas für wichtig zu halten und es entsprechend zu rechtfertigen. Zur Personwerdung gehört es, gegen Konventionen, Routinen, fremdbestimmte Regelungen eigene Wichtigkeiten, Bedeutsamkeiten, Sinnzusammenhänge zu entwickeln. Dies können Erwachsene generell und die Schulen speziell nur sehr schwer anerkennen. Im Zweifelsfall ist das, was ein Schüler für wichtig hält, irrelevant. Man kann es daher nur sehr begrenzt akzeptieren. Freie Arbeit, Wochenplanarbeit, die Wahl von Arbeitsgemeinschaften, Studien neben dem Unterricht (Monats-, Jahresarbeiten), all diese selbstbestimmteren Lernansätze fristen daher in der Schule ein Schattendasein. Die Reform der reformierten Sekundarstufe II ist im letzten Ausdruck des Mißtrauens gegenüber Wahl-, Selbstbestimmungs-, Sinnfindungsmöglichkeiten für Schüler. Das teilweise individualisierte Curriculum ist von den Gebildeten nicht akzeptierbar, weil es Bildungsbemühungen unkonventionell gestalten könnte. Da Geduld auch nicht vorhanden ist, sind Vorschriften und Vorgaben das probate Mittel, Lernen vorzuschreiben und damit individuelle Sinnfindung zu verhindern.
146
2.2.3
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Schluß: Reflexion und Handeln statt Nürnberger Trichter
Die vorstehenden Ausfuhrungen müßten deutlich gemacht haben, daß die zentralen Begriffe Reflexion und Handeln dem bisherigen Zentralbegriff "Vermittlung" einen anderen Stellenwert geben. Er soll nicht abgelöst werden, aber er gerät im Rahmen einer aufklärerischen Didaktik ins Fadenkreuz von Überlegungen, die Lernen als reflexives Handeln anders begründen. Reflexionen (Metaunterricht) sollen einerseits Sinn schaffen, andererseits als Begleitmoment von Handlungsprozessen deren verantwortliche Steuerung übernehmen. Nicht zuletzt ist auch das jeweilige Ergebnis kritisch zu reflektieren. Lernen als Handeln meint, die eigenen Arbeitsbemühungen in die eigene Hand zu nehmen und deren Aktivitäten eine andere Qualität zu geben. Sie werden in dem Maß an Niveau gewinnen, wie Kommunikation und Kooperation zentrale Momente sind. Wenn diese produktiv werden, wird sich auch das Individuum seines Selbst gewahr werden. Selbstkonzept und Selbsteuerung sind immer zentrale Anliegen von Lernbemühungen. Alle Organisationsbemühungen haben schließlich nur die Funktion des Initiierens, Begleitens/Steuerns zu Ergebnissen hin. Gelingt die Integration der Elemente einer aufklärerischen Didaktik, ist der "Nürnberger Trichter" abgelöst. Er steht als Metapher für unreflektierte Vermittlung und Rezeption. Lernen ist im Grundverständnis Aufklärung über die Welt und deren Wissensbestände. Dieses wiederzugewinnen, muß das Grundanliegen sein!
Zitierte Literatur BÖNSCH, Manfred (1993 2 ): Üben und wiederholen im Unterricht. München. FREY, Karl (1982): Die Projektmethode. Weinheim, Basel. GUDJONS, Herbert (1986): Handlungsorientiert lehren und lernen. Bad Heilbrunn. HECKHAUSEN, Herbert (1963): Hoffnung und Furcht in der Leistungsmotivation. Meisenheim. HECKHAUSEN, Herbert (1980): Motivation und Handeln. Berlin. KÜHL, Julius (1983): Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Heidelberg. KÜHL, Julius (1984): Tatsächliche phänomenale Hilflosigkeit: Vermittlung von Leistungsdefiziten nach massiver Mißerfolgsinduktion. In: WEINERT, F.E./ KLUGE, R.H. (Hrsg.): Metakognition, Motivation und Lernen. Stuttgart.
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147
MEYER, Hilbert L. (1980): Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung. Königstein/Ts. WEINERT, Franz E. (1984): Metakognition und Motivation als Determinanten der Lerneffektivität: Einführung und Überblick. In: WEINERT, F.E./ KLUGE, R.H. (Hrsg.): Metakognition, Motivation und Lernen. Stuttgart.
Weiterführende Literatur AEBLI, Hans (19766); Psychologische Didaktik. Stuttgart. BASTIAN, Johannes/GUDJONS, Herbert (Hrsg.) (1986): Das Projektbuch. Hamburg. BÖNSCH, Manfred (1986): Lernökologie. Essen, BÖNSCH, Manfred (1990): Schule verbessern. Hannover. BÖNSCH, Manfred (19933): Schüler aktivieren. Hannover. BÖNSCH, Manfred (19952): Variable Lernwege. Paderborn. BOHNSACK, Fritz (Hrsg.) (1984): Sinnlosigkeit und Sinnperspektive, Frankfurt/M.. FAUSER, Peter/FINTELMANN, Klaus Jürgen/FLITNER, Andreas (Hrsg.) (19912): Lernen mit Kopf und Hand. Weinheim, Basel. MEYER, Hilbert (1987): Unterrichtsmethoden. 2. Bd. Frankfurt/M..
2.3
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht Hannelore Faulstich-Wieland
2.3.1
Einleitung
149
2.3.2
Die Geschlechterfrage in den Lehrplänen des arbeitsorientierten Unterrichts
151
Die Geschlechterfrage in Vorschlägen zum arbeitsorientierten Unterricht - am Beispiel der Zeitschrift "arbeiten + lernen"
154
2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2
Geschlechterdifferenzen im arbeitsorientierten Unterricht Einstellungen zum Technikunterricht Berufs- und Lebensperspektiven von Mädchen und Jungen
156 156 160
2.3.5
Perspektiven für einen koedukativen arbeitsorientierten Unterricht
163
2.3.3
Zitierte Literatur
164
Weiterführende Literatur
166
2.3.1
Einleitung
1955 hat der Ausschuß für Mädchenbildung im Deutschen Philologenverband Koedukation definiert als "eine bewußt und grundsätzlich vorgenommene gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, also ein pädagogisches Prinzip" (abgedruckt in: Pfister 1989, S. 243). Er schaltete sich damit ein in die seit dem letzten Jahrhundert immer wieder geführte Diskussion darum, ob Mädchen und Jungen gemeinsam eine Schule besuchen sollten. In der Realität waren die damaligen Volksschulen und die Realschulen überwiegend bereits koedukativ, während im Gymnasialbereich häufig noch nach Jungen und Mädchen getrennte Schulen existierten. Erst in den 70er Jahren wurden auch in der gymnasialen Bildung die Schulen für beide Geschlechter geöffnet, wobei ein umfassender Überblick darüber, wieviel Schulen zu welchen Zeiten koedukativ oder monoedukativ waren bzw. noch sind, nicht existiert (vgl. für Rheinland Pfalz: Kraul / Wirrer 1993). Die Tatsache, daß Schulen koedukativ geführt wurden, bedeutete allerdings weder, daß Mädchen und Jun-
150
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
gen in allen Fächern zusammen waren, noch daß sie die gleiche Bildung erhielten. Bis weit in die 60er Jahre hinein enthielten die Lehrpläne Formulierungen, die explizit auf die Besonderheiten einer Mädchenbildung Bezug nahmen (vgl. Hagenmaier 1969). Die Stundenverteilung war ebenfalls bis in die 60er Jahre hinein in den Volksschulen und zum Teil auch in den Realschulen unterschiedlich für Mädchen und Jungen. Mädchen erhielten Handarbeit und Hauswirtschaft, während Jungen in dieser Zeit in erster Linie Werkunterricht, zum Teil aber auch Mathematik-, Physik- und Chemieunterricht bekamen. Damit waren im allgemeinbildenden Schulwesen gerade jene Fächer explizit von der Koedukation ausgenommen, die zum Kern- (bzw. Integrations-)bereich des in den 60er Jahren initierten Arbeitslehreunterrichts wurden (-• 4.2.2.2). Mit der pragmatischen Einfuhrung der Koedukation als "normaler" Schulform verschwanden auch die für Mädchen und Jungen unterschiedlichen Stundentafeln, wurden die verschiedenen Fächer des arbeitsorientierten Unterrichts koedukativ. Dies bedeutete jedoch keineswegs, daß Koedukation im Sinne des obigen Zitats als "pädagogisches Prinzip" realisiert wurde. Die seit Anfang der 80er Jahre geführte neue Koedukationsdiskussion und die mit ihr verbundenen Berichte und Untersuchungen zeigen vielmehr, daß häufig Koedukation eigentlich nur Koinstruktion - gemeinsame Anwesenheit von Mädchen und Jungen im Klassenzimmer - ist. Das entscheidende Problem dabei ist die entstehende Benachteiligung für Mädchen, denen subtil trotz formaler Gleichberechtigung die Nachrangigkeit ihres Geschlechts vermittelt wird (vgl. für die Aufarbeitung der Koedukationsdiskussion: Faulstich-Wieland 1991). In diesem Beitrag soll analysiert werden, wie Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht realisiert wird, d.h. auch, ob und in welcher Form Interessen von Mädchen berücksichtigt oder vernachlässigt werden. Dies soll in folgenden Schritten erfolgen: Zunächst wird gefragt, ob und in welcher Form in den Lehrplänen des arbeitsorientierten Unterrichts der Geschlechterproblematik Aufmerksamkeit zuteil wird. Als zweiter Schritt wird zu untersuchen sein, wie Unterrichtsvorschläge mit der Geschlechterfrage umgehen. Dies soll - mehr stichprobenhaft und exemplarisch - an der Zeitschrift "arbeiten + lernen" - vorgenommen werden. Beide Analysen werden zeigen, daß eine weitgehend "geschlechtsneutrale" Behandlung relevanter Themen erfolgt - die damit implizit einen Jungen- bzw. Männerbias aufweist - und "Frauenfragen" jeweils als Besonderheiten abgehandelt wer-
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
151
den, so daß schwerlich Perspektiven eines veränderten Geschlechterverhältnisses - und damit auch nur schwer Koedukation als Prinzip - anvisiert oder gar realisiert werden. In einem dritten Schritt soll daher gefragt werden, welche Differenzen zwischen den Geschlechtern vorfindbar sind. Diese Darstellung wird sich beschränken müssen auf jene Bereiche, die besondere inhaltliche Relevanz für den arbeitsorientierten Unterricht haben 1 . Dazu gehören die unterschiedlichen Einstellungen zum Technikunterricht sowie die Berufs* und Lebensperspektiven. Abschließend wird dann zu fragen sein, wie eine Berücksichtigung dieser Differenzen im koedukativen Unterricht möglich gemacht werden sollte.
2.3.2
Die Geschlechterfrage in den Lehrplänen des arbeitsorientierten Unterrichts
In der Grundschule läßt sich der Sachkundeunterricht (-»• 4.1) zu jenen Fächern» rechnen, in denen auch eine altersangemessene "Einführung in die Arbeits- und Wirtschaftswelt" geleistet werden soll, in dem Aspekte von Arbeit dort besprochen werden. Die von Franz-Josef Kaiser im 1980 von Leo Roth herausgegebenen Handlexikon zur Didaktik der Schulfächer vorgenommene Darstellung des Sachkundeunterrichts zeigt, daß die in den Lehrplänen festgelegten Themenbereiche des öfteren zugleich Geschlechterstereotype vermitteln. Insbesondere läßt sich dies am bayerischen Lehrplan zeigen, in dem die Lehraufgaben für die 1. Klasse folgendermaßen bestimmt werden: "Bedürfhisse und Arbeiten in der Familie In der Familie arbeiten wir füreinander (Mutter bäckt einen Kuchen - Mutter hat viele Berufe). Einige aus der Familie arbeiten für fremde Menschen (Vater geht zum Geldverdienen)" (Kaiser 1980, S. 98). Ein hier nicht gesondert aufgegriffenes Problem stellt die in den meisten Bundesländern vorfindbare Verankerung von arbeitsorientiertem Unterricht im Wahlpflichtbereich sowie ihr weitgehendes Fehlen im Gymnasialbereich dar: Diese Tatsachen haben auch Konsequenzen für die Koedukation, weil sie die Teilhabe von Mädchen deutlich verringern - Mädchen wählen z.B. im Realschulbereich eher die mit dem arbeitsorientierten Unterricht konkurrierenden sprachlichen Fächer, die ihnen die Optionen zum späteren Oberwechseln auf das Gymnasium offenhalten und sie sind zu größeren Anteilen im Gymnasium vertreten als Jungen. Ilse Schütte fordert deshalb für einen tatsächlich koedukativen Unterricht u.a. "die durchgängige Verankerung von Technikunterricht im Pflichtbereich der Sekundarstufe I aller Schultypen", "um sicherzustellen, daß Mädchen überhaupt in nennenswertem Umfang an einer technischen Allgemeinbildung teilhaben" (Schütte 1988, S. 256).
152
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Für die Sekundarstufe I hat Horst Ziefuß eine Zusammenstellung und Analyse der Lehrpläne in den westlichen Bundesländern vorgenommen 2 (-»• 4.2.3). Alle Lehrpläne weisen einen starken berufspropädeutischen Hang auf und beanspruchen, Berufswahlorientierungen zu vermitteln. Ebenfalls in allen Lehrplänen kommt der Gegenstandsbereich Hauswirtschaft vor, während Technik in einer Reihe von Bundesländern noch primär als Werken ausgelegt ist. Nach Ziefuß wird in allen Lehrplänen ein Votum für die Koedukation abgegeben. Allerdings müssen die Schülerinnen und Schüler in Rheinland-Pfalz im 7. Jahrgang zwischen Technik und Haushalt wählen, was im allgemeinen zu einer weitgehenden Aufhebung der Koedukation fuhrt 3 . "Uns ist bekannt, daß Jungen überwiegend den Bereich 'Technik', Mädchen hingegen den Bereich 'Haushalt' wählen. Damit wird das Ziel des Ausgleichs zwischen den Geschlechtern (die Verbesserung der Sozialkompetenz der Jungen und die Stärkung der technischen Kompetenz der Mädchen) unterlaufen" (Ziefuß 1992, S. 143). Das Saarland hatte eine ähnliche Regelung, die jedoch gerade wegen der geschlechtsspezifisch verlaufenen Wahlen zugunsten eines rollierenden Verfahrens aufgegeben wurde. Hamburg weist dem Aspekt "Doppelbelastung der Frau" im Themenbereich Haushalt / Textiles Werken eine zentrale Stelle zu. In den Themenlisten für die einzelnen Themenbereiche finden wir drei Aspekte, die auf die besondere Situation von Frauen Bezug nehmen: - "Ungleich verteilte Zugangschancen für Frauen, Jugendliche, ältere Arbeitnehmer (Segmentierungsprobleme)" wird als Themenbereich in den Lehrplänen von Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen genannt; In den neuen Bundesländern wird mit der Anpassung an westliche Verhältnisse weitgehend die Chance verspielt, Koedukation zu reflektieren (vgl. Faulstich-Wieland 1993). Für den arbeitsorientierten Unterricht hat man verstärkt den Eindruck, daß es um eine Absage an die bisherige polytechnische Bildungskonzeption und eine Anpassung an den arbeitsorientierten Unterricht des Westens geht, wenn man die Empfehlungen "Zur Entwicklung des Unterrichtsbereichs "Arbeit - Wirtschaft - Technik" in den allgemeinbildenden Schulen" der Bundesarbeitsgemeinschaft Schule, Wirtschaft von 1993 betrachtet. Gabriele Gehlen zitiert in ihrer Dissertation über "Geschlechtsspezifisches Arbeits- und Sozialverhalten in seinen Auswirkungen auf die Durchführung des Arbeitslehre-Unterrichts" eine Befragung von Lehrkräften zur Koedukation in der Arbeitslehre. Danach findet sich, daß Koedukation kein völlig akzeptierter Grundsatz für die Arbeitslehre ist, wobei deutliche Länderunterschiede festzustellen waren: Lehrer aus Rheinland-Pfalz stimmten mit nur 45,9% einer koedukativen Gestaltung des Unterrichts zu, aus Bayern waren es 59,1%, aus dem Saarland 63,3%, aus Baden-Württemberg 64,2%. Auch waren deutliche Unterschiede zwischen Lehrerinnen und Lehrern sowie zwischen jüngeren und älteren Lehrkräften festzustellen: Lehrerinnen stimmten mit 82,7%, Lehrer mit 71,2%, jüngere Lehrkräfte bis 30 Jahren mit 85,4%, ältere mit 65,5% für Koedukation (vgl. Gehlen 1988, S. 285f.)
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
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- die Frauenrolle in Industrie, Handel und Verwaltung wird in Berlin, Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen thematisiert; - eine Darstellung des Verhältnisses Hausarbeit / Erwerbsarbeit (Doppelbelastung der Frau) finden wir in den Themenlisten von Berlin, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (alle Angaben aus Ziefuß 1992, Tabelle 5.13.2). Je neuer Lehrpläne sind, umso eher greifen sie geschlechtsspezifische Themen auf (vgl. Ziefuß 1992, S. 145). Dies läßt sich explizit am Entwurf des Rahmenplans Arbeitslehre für das 7.-10. Schuljahr des Hessischen Kultusministeriums vom November 1993 aufzeigen. Unter den Aufgaben und Zielen des Faches Arbeitslehre im allgemeinen Teil wird zunächst einmal konstatiert, daß "für Männer und Frauen die Arbeit eine der wichtigsten Formen der Teilnahme am gesamtgesellschaftlichen Geschehen" ist. Dieses wird dann nicht nur für die Erwerbsarbeit, sondern ebenso für andere Formen von Arbeit bestimmt: "Das betrifft sowohl die bezahlte Arbeit, also die Erwerbsarbeit, als auch die unbezahlte Arbeit, also z.B. die im privaten Haushalt, bei der Erziehung der eigenen Kinder, in selbstverwalteten Organisationen oder als ehrenamtliche Tätigkeit geleistete Eigenarbeit" (Rahmenplan 1993, S. 1). Unter den Aufgaben wird dann unter anderem festgelegt, daß das Fach Arbeitslehre die Schülerinnen und Schüler "über die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Männer und Frauen arbeiten, unterrichten" solle (Rahmenplan 1993, S. 1). Auch im Blick auf den Beitrag der Arbeitslehre zur Vorbereitung der Berufswahl wird noch einmal das Geschlechterverhältnis erwähnt: "Besondere Aufmerksamkeit ist dabei auf geschlechtsspezifische Sozialisations- und Arbeitsbedingungen zu richten, da sich die Berufswahl der Jugendlichen, vor allem der Mädchen, noch immer auf ein zu enges Spektrum von Berufen konzentriert" (Rahmenplan 1993, S. 1). Die zu vermittelnden Qualifikationen unterteilt der Rahmenplan in Kenntnisse und Einsichten, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Einstellungen, Verhaltensbereitschaften, Wertentscheidungen. Unter den Kenntnissen und Einsichten wird als Sachverhalt genannt: "Die unterschiedliche Lage von Männern und Frauen in der Arbeitswelt und die Spannungen und Belastungen, die sich daraus insbesondere für Frauen ergeben" (Rahmenplan 1993, S. 2). Die Inhalte des Faches Arbeitslehre sind nach 4 Bereichen gegliedert, die jeweils einer Jahrgangsstufe zugeordnet werden. In der Jahrgangsstufe 7 geht es um "Arbeit in der Lebensumwelt", in 8 um "Arbeit und Technik", in 9 um "Arbeit und
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Beruf' und in 10 um "Arbeit und Wirtschaft". Im Bereich "Arbeit und Beruf' wird dann noch einmal explizit auf die unterschiedliche Lage von Männern und Frauen in der Berufs- und Arbeitswelt verwiesen (vgl. Rahmenplan 1993, S. 10). Der Rahmenplan beinhaltet zu den verschiedenen Themen jeweils Themenblätter, die verbindlich festgelegte Leminhalte und wesentliche Fragestellungen des Themas auflisten. Bei diesen Themenblättern finden wir an drei Stellen Bezugnahmen auf geschlechterrelevante Aspekte: Für die Jahrgangsstufe 7 zum Themenbereich Menschen bei der Arbeit wird die Doppelbelastung durch Arbeit und Haushalt erwähnt (vgl. Rahmenplan 1993, S. 16), für die Jahrgangsstufe 8 wird zum Themenbereich Werkzeuge und Maschinen genannt: "Die technische Entwicklung verändert die Berufs- und Rollenbilder von Frau und Mann" (Rahmenplan 1993, S. 19); für die Jahrgangsstufe 9 wird zum Themenbereich Berufswahl und Berufswegplanung das geschlechtsspezifische Wahlverhalten - Mädchen in "Männerberufen" aufgelistet (vgl. Rahmenplan 1993, S. 24). Insgesamt läßt die Sichtung der Lehrpläne deutlich werden, daß insbesondere in neueren Entwürfen auf Geschlechterverhältnisse eingegangen wird, dies jedoch im allgemeinen in einer eher reduzierten Form geschieht, nämlich einerseits im Blick auf Berufswahlprobleme - und hier mit der Zielrichtung, Mädchen zu gewerblich technischen Berufswahlen zu motivieren - andererseits im Blick auf die Doppelbelastung von Frauen durch Erwerbs- und Hausarbeit. Hessen ist das einzige Land, das bei der Behandlung von Technik Geschlechterfragen explizit erwähnt. Aus keinem der Pläne ist erkennbar, wie eine Veränderung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aussehen könnte oder sollte.
2.3.3
Die Geschlechterfrage in Vorschlägen zum arbeitsorientierten Unterricht - am Beispiel der Zeitschrift "arbeiten + lernen"
Die Zeitschrift "arbeiten + lernen" erschien von 1979 bis 1990 mit 1979 drei, 1980 neun, ab 1981 zunächst sechs, später fünf Heften pro Jahr 4 . Jedes Heft hat ein Schwerpunktthema, zu dem ein Basisartikel als Einfuhrung und eine Reihe von Unterrichtsbeispielen Ab 1991 teilte sich die Zeitschrift in zwei: "arbeiten + lernen Technik" und "arbeiten + lernen Wirtschaft"
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
155
sowie Materialhinweisen gehören. In der Zeit von 1979 bis 1990 hat es nur zweimal ein Heft gegeben, das im Schwerpunkt Geschlechteraspekte aufgriff: Heft 7 im April 1980 hatte den Schwerpunkt "Frauen und Beruf', Heft 63 im Juni 1989 widmete sich dem Thema "Mädchen, Technik und Computer". Darüber hinaus finden wir folgende Artikel zu "Frauenfragen": Heft 2/1979: Beate Krönde: Schickt die Frauen doch zurück an den Kochtopf] Heft 14/1981: Barbara Rohr: Von Frauen, die sich gewehrt haben Heft 22/1982: Lothar Müller-Kohlenberg / Ulrike Brand: Für Jungen der Beruf - für Mädchen Familie und Haushalt? Heft 22/1982: Richard von Bardeleben: Mädchen in technischen Berufen Heft 23/1982: Volker Teichert: Lohn- und Einkommensdiskriminierung von Frauen. Heft 28/1983: Charlotte Kerner: Mädchen - naturwissenschaftlich doch das schwache Geschlecht? Heft 32/1984: Hans Hartmut Karg: Arbeitsplatz: Verkäuferin Heft 38/1985: Hannelore Faulstich-Wieland: Rationalisierungseffekte neuer Technologien an Frauenarbeitsplätzen Heft 46/1986: Jürgen Müsel: Akkordarbeiterinnen - eine gezielte Arbeitsplatzerkundung Heft 53/1987: Volker Teichert: Umschulung von Frauen Heft 56/1988: Sibylle Flöter: Mädchen in gewerblich-technischen Berufen Heft 65/1989: Monika Wolff: Kontaktstelle zur Förderung von Frauen in gewerblich-technischen Berufen Heft 67/1990: Doris Lemmermöhle-Thüsing: Projekt 'Mädchen und Berufsfindung'. Diese Auflistung zeigt zunächst einmal, daß die Bearbeitung von Mädchen und Frauen betreffenden Aspekten mit durchschnittlich einem Artikel pro Jahr und zwei Schwerpunktheften in 11 Jahren keineswegs im Vordergrund steht. Dieses Ergebnis ließe sich deutlich korrigieren, wenn "Geschlechterfragen" integriert behandelt würden, d.h. in allen Beiträgen, in denen Differenzierungen nach Geschlechtern sinnvoll und möglich wären, diese auch dargestellt würden. In einem zweiten Schritt haben wir deshalb die Hefte daraufhin noch einmal durchgeschaut und dabei nahezu durchgängig Fehlanzeigen registrieren müssen.
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Insofern muß leider konstatiert werden, daß Unterrichtsvorschläge und praxisorientierte Analysen keine adäquate Bearbeitung des Geschlechterverhältnisses vornehmen und Lehrerinnen und Lehrer kaum Hilfen für einen bewußt koedukativen Unterricht erhalten. Ihr Blick wird in keiner Weise dafür geschärft, Differenzen überhaupt wahrzunehmen, geschweige sie zu analysieren, zu bewerten und Veränderungsperspektiven zu entwickeln.
2.3.4
Geschlechterdifferenzen im arbeitsorientierten Unterricht
Nachdem die Koedukation erneut in die Diskussion gekommen war, wurden insbesondere von Frauenforscherinnen Untersuchungen durchgeführt, die sich mit dem Verhalten von Mädchen / Frauen und Jungen / Männern sowie mit dem Verhältnis der Geschlechter befaßten. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von entsprechenden Berichten, die hier darzustellen den Platz des Beitrages völlig sprengen würden (vgl. Faulstich-Wieland 1995). Im folgenden sollen deshalb nur ausgewählte Arbeiten aufgegriffen werden, die besonders auf die beiden Aspekte arbeitsorientierter Bildung - Technik und Berufsorientierung - Bezug nehmen. 2.3.4.1 Einstellungen zum Technikunterricht Die insbesondere in den Lehrplänen deutlich werdende Fokussierung auf die notwendige Motivierung von Mädchen zu technischen Berufen unterstellt, daß die geringe Teilhabe von Frauen an technischen Berufen in dem zu gering entwickelten Technikinteresse von Mädchen und Frauen läge. Eine solche Argumentation greift jedoch zu kurz, weil sie die Interessen der Mädchen nicht differenziert genug analysiert (-> 4.3.4). Drei Punkte sind wesentlich, sich hierfür klarzumachen: 1. finden wir Interesse an Technikkompetenz auch bei Mädchen, dem die Schule keineswegs entspricht. 2. interessieren sich viele Mädchen zugleich für andere Dinge und 3. verbinden viele Mädchen eine Beschäftigung mit Technik zugleich mit einer Berücksichtigung sozialer Momente. In einer im Auftrag des B M B W von Infratest durchgeführten Untersuchung zum Verhältnis von Jugendlichen zur Technik bei 1718jährigen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sowie bei Auszubildenden zeigte sich, daß Mädchen sehr wohl an technischer Kom-
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
157
petenz interessiert sind: 48% der Befragten hatten dem Item "wie etwas technisch funktioniert, das hat mich eigentlich schon immer interessiert" und 68% dem Item "ich habe mir schon oft gewünscht, von Technik mehr zu verstehen" zugestimmt (BMBW 1982, S. 3 IM). Der Wunsch nach Technikkompetenz wurde auch nicht vom Interesse an Technik bestimmt: auch die Desinteressierten würden gerne mehr von Technik verstehen. Die Schule leistet diese Kompetenzbildung jedoch offensichtlich nicht. Die Autorinnen und Autoren der BMBW-Studie fragten die Jugendlichen, ob man ihrer Meinung nach in der Schule genug über Technik erfahre. Drei Viertel der Jugendlichen verneinte dies, wobei Mädchen sich noch kritischer über die Schule äußerten als Jungen und die stärkste Kritik von den technisch besonders interessierten Mädchen kam (vgl. BMBW 1982, S. 60). In vielen Fällen wurde im schulischen Unterricht zunächst überhaupt kein Bezug zu Technik und technischen Fragen gesehen, erst bei Nachfragen und Ausweiten der Fragestellung auf Naturwissenschaften gaben die Jugendlichen an, dort Kenntnisse vermittelt bekommen zu haben. Dabei scheint die Schule jedoch im wesentlichen nur eine Förderung bereits bestehender Interessen und nicht die Weckung von technischem Interesse zu leisten. Sowohl die wenig wie die stark technikinteressierten Mädchen gaben zu geringeren Anteilen als Jungen an, durch den Unterricht zu einer weitergehenden Beschäftigung mit technischen Fragen angeregt worden zu sein (vgl. BMBW 1982, S. 63M). Die Defizite der technischen Bildung sahen die Jugendlichen vor allem darin, daß ihnen zu wenige praktische Fertigkeiten vermittelt und sie zu wenig über Nutzen und Gefahren von Technik informiert werden. Zu diesen beiden Gebieten äußerten alle Jugendlichen, Technikdesinteressierte wie interessierte, Mädchen z.T. noch stärker als Jungen, unbefriedigte oder weitergehende Lerninteressen (vgl. BMBW, S. 73). Das nicht Aufgreifen von durchaus vorhandenen Interessen ist jedoch nur der eine Aspekt. Hinzu kommt, daß mit Technikinteressiertheit in der Regel auch eine Konzentration auf Technik und damit ein zeitlicher Anspruch gefordert ist, den Mädchen und Frauen nicht zu geben bereit sind. Aus verschiedenen Untersuchungen geht hervor, daß Jungen bzw. Männer, die sich für Naturwissenschaften und Technik interessieren, ihr Interesse voll darauf konzentrieren. Bei Mädchen und Frauen, die ebenfalls Interesse an naturwissenschaftlichen oder technischen Bereichen äußern, finden wir eine derartige Konzentration weniger (vgl. BMBW 1982; Skiorz-
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
Weiner 1989; Sinhart-Pallin 1990). Dieter Sinhart-Pallin verweist darauf, daß Mädchen und Frauen "sich häufig einfach nicht so ingenieurhaft und bastelnd mit Technik beschäftigen" wollen "wie Jungen und Männer ... sie füllen ihr Leben gewollt anders aus: politisch, sozial, ästhetisch, philosophisch, praktisch" (Sinhart-Pallin 1990, S. 32). Der dritte Punkt bezieht sich auf die Verbindung von sozialen Momenten mit technischen Inhalten. In einer Zusammenstellung internationaler Untersuchungen zeigen Di Bentley und Mike Watts auf, daß Mädchen Naturwissenschaft und Technik als Bereiche wahrnehmen, die helfen sollen, Antwort auf gesellschaftliche Probleme zu finden, um Lebensqualität zu verbessern. D.h. Mädchen tun sich mit dem vorherrschenden Bild insbesondere der Naturwissenschaften als unpersönliches Verfolgen korrekter Lösungen sehr schwer (vgl. Bentley / Watts 1987, S. 323). Astrid Kaiser hat für den Grundschulbereich in ihrem Forschungsprojekt über Fabrikbilder sehr eindrücklich deutlich machen können, daß Mädchen Fabriken in erster Linie als sozialen Lebensraum darstellen, während Jungen sie primär als technische Konstruktionen betrachten, in denen Menschen quasi gar nicht vorkommen (vgl. Kaiser 1991 5 ). Die pädagogischen Konzeptionen eines arbeitsorientierten Unterrichts, die auf ein Technikinteresse zielen, werden den Interessen der Mädchen an Technik nicht gerecht. Sie stützen eine Technikzentriertheit als Verengung auf Technik weit mehr, als daß sie Differenziertheit und Mehrdimensionalität, "in dem Technik eine nebenoder nachgeordnete Rolle spielt" (Sinhart-Pallin 1990, S. 156) fördern würden. Allerdings muß man deutlich sagen, daß selbst eine andere Orientierung des Technikunterrichts in Form einer Berücksichtigung der genannten Interessen von Mädchen und Frauen allein vermutlich nicht ausreichen würde, wenn sie nicht zugleich mit einer expliziten Reflexion über Geschlechterverhältnisse einhergehen würde. Die weitgehend unhinterfragte Verbindung von Technik mit Männlichkeit in unserer Gesellschaft erlaubt den Jungen und Männern selbstverständliche Identifikationsformen, während sie Mädchen und Frauen außerhalb dieser Identifikationsmöglichkeiten mit Technik stellt. Interesse und Kompetenz von Mädchen oder Frauen Vgl. auch den Beitrag von Katrin Appel: Jungen und Mädchen bauen eine Stadt - und lernen voneinander, indem die Autorin eine ähnlich eindrucksvolle unterschiedliche Herangehensweise an eine technische Aufgabe beschreibt wie Astrid Kaiser (vgl. Appel 1993).
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
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an und für technische Dinge wird keineswegs selbstverständlich akzeptiert, sondern erregt in jedem Fall Aufmerksamkeit. Nicht selten wird solche Aufmerksamkeit dann gekoppelt mit üblichen Weiblichkeitsvorstellungen, d.h. Frauen, die sich für Technik interessieren, werden als "trotzdem attraktiv" oder aber als "deshalb unattraktiv" bezeichnet, was beides eine gehörige Portion von Selbstbewußtsein im Umgang mit derartigen Etikettierungen voraussetzt. Wie verbreitet diese Zuschreibungen sind, läßt sich an unserem Projekt "Koedukation aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern" exemplarisch zeigen (vgl. Horstkemper/Faulstich-Wieland 1995): Von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II wird die Meinung vertreten, Differenzen in den Interessen und Leistungen seien individuell und hätten nichts prinzipiell mit dem Geschlecht zu tun. Ausnahmen finden wir nur für einen Bereich: Eine geradezu unbefangene Zustimmung zu Geschlechterdifferenzen finden wir bezogen auf die Fächer Werken / Technik und Textil. Im Grundschulbereich empfinden sich die Mädchen als die Kompetenten in Textil und sehen darin offensichtlich auch eine Chance für Anerkennung durch Jungen: "Manche Jungen fühlen sich als die Größten. Wirklich sind es nur Anfänger. Doch in Textil sind sie ganz kleinlaut" (130 6 ). Von Grundschülern werden durchaus auch die Fähigkeiten der Mädchen in diesem Bereich anerkannt. So schreibt z.B. ein Junge: "Wenn wir uns verhäkelt haben, gehen wir zu den Mädchen" (120). Im Hauptschulbereich, in dem das Fach Technik zum normalen Lehrplan gehört, gilt es ebenso wie Textil und Hauswirtschaft den Schülern und Schülerinnen als geschlechtstypisch. Dies zeigt sich darin, daß eine Reihe der Schülerinnen und Schüler befürchten, entsprechende Bildungsangebote könnten bei getrenntem Unterricht wegfallen. Bezogen auf die koedukative Unterrichtssituation beschreiben sie sie als gegenseitige Hilfe: So betont ein Hauptschüler aus dem 8. Jahrgang "Wir helfen uns auch, so wie in Textil, da helfen uns die Mädchen, in Technik helfen wir den Mädchen" (381). Ein Neuntklässler der Hauptschule bestätigt das: "Bei dem Fach Technik oder Werken fragen die meisten Jungen bei den Mädchen nach, ob sie ihnen denn mal helfen können, wie z.B. beim Sägen, Hobeln" (435). Umgekehrt fordern die Hauptschülerinnen diese Hilfe auch: "In Fächern wie z.B. Technik, Werken usw. können die Jungs behilflich sein" (405) oder wie folgende Hauptschülerin sich ausdrückt: "Aber in den Fächern wie Technik, da braucht man einfach Jungs, manchmal müs-
Die Nummern beziehen sich auf den jeweiligen Aufsatz.
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
sen wir sägen oder auch was anderes, und die Jungs machen das für uns" (406). Ebensowenig wie die inhaltliche und didaktische Ausrichtung des arbeitsorientierten Unterrichts im Technikbereich scheint auch die auf praktisches Tun orientierte Unterrichtung keine Veränderung vorheriger Sozialisationserfahrungen, sondern weit eher eine Stabilisierung bestehender Geschlechterverhältnisse zu bewirken. 2.3.4.2
Berufs- und Lebensperspektiven von Mädchen und Jungen Bereits im vorhergehenden Abschnitt sind wir auf die Interessen von Mädchen an Technik eingegangen. Dies soll nun hier nochmals unter dem Aspekt der Berufswahlorientierung aufgegriffen werden. Wie bereits gesagt, fordern die Lehrpläne - soweit sie überhaupt Aussagen zum Geschlechterverhältnis machen - eine Hinterfragung der Berufswünsche von Mädchen, eine Motivierung der Mädchen für gewerblich-technische Berufe. Zieht man die verfugbaren Statistiken heran, so zeigen diese zum einen, daß tatsächlich in den letzten 15 Jahren hier Veränderungen erfolgt sind. Wir können eine Steigerung der Zahl der Bewerberinnen um Fertigungsberufe sowie um technische Berufe (allerdings mit Schwankungen) und einen Rückgang der Bewerber für Fertigungsberufe zugunsten eines deutlichen Anstiegs derjenigen für Dienstleistungsberufe erkennen (vgl. Tabelle 1). Zum anderen zeigen die Statistiken aber auch, daß schon immer sowohl mehr Mädchen wie mehr Jungen in traditionelle Bereiche einmündeten als dies wollten und weniger Mädchen in Fertigungsberufe sowie weniger Jungen in Dienstleistungsberufe als dies wünschten (vgl. Tabelle 2; siehe auch Faulstich-Wieland 1985). Ein zweiter Aspekt, auf den die Lehrpläne abheben, ist die "Doppelbelastung der Frau". Alle Untersuchungen des letzten Jahrzehnts zu Berufswünschen und Berufsorientierung von Mädchen und Jungen zeigen übereinstimmend folgende Ergebnisse (vgl. Faulstich-Wieland / Horstkemper 1985; Heinz u.a. 1985; Lemmermöhle-Thüsing 1991; Schimmel / Glumpler 1992; Zolg 1992; Glumpier 1993): Mädchen haben keineswegs in jungen Jahren ein eingeschränktes Spektrum an Berufswünschen, sondern sehen sich durchaus auch in "Männerberufen". Erst mit zunehmendem Näher-
161
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht T a b . 1:
B e w e r b e r i n n e n u n d B e w e r b e r für B e r u f s a u s b i l dungsstellen nach Vermittlungswunsch
Jahr Bewerberinnen Zahl der Bew. Fertigungsberufe Dienstleistungsber. Technische Berufe übrige Berufe Bewerber Zahl der Bew. Fertigungsberufe Dienstleistungsber. Technische Berufe übrige Berufe
1977/78
1985/86
1990/91
1992/93
237309 8,8 % 84,7 % 3,5 % 3,0 %
365025 12,3 % 80,9 % 3,0 % 3,9 %
210368 13,3 % 78,8 % 5,2 % 2,7 %
205908 12,1 % 80,6 % 4,8 % 2,5 %
208323 68,9 % 25,1 % 3,6 % 2,4 %
274406 63,9 % 30,0 % 2,8 % 3,2 %
208893 61,1 % 32,6 % 4,5 % 1,8 %
218234 59,0 % 34,5 % 4,9 % 1,7 %
Quelle: für 1977/78 und 1990/91: Schober / Tessaring 1993, S. 17; für 1985/86: Berufsberatung 1985/86; für 1992/93: Berufsberatung 1992/93
T a b . 2:
Auszubildende nach Berufsabschnitten
Jahr
1980
1985
weibliche Azubis Zahl in Tausend Fertigungsberufe Dienstleistungsberufe Technische Berufe übrige Berufe
655 9,3 % 85,0 % 3,5% 2,2%
744 10,6 83,2 3,5 2,7
% % % %
630 11,3% 82,4 % 2,4 % 2,4 %
1088 74,6 19,0 2,1 4,2
% % % %
847 73,3 % 21,7% 2,3 % 2,6 %
männliche Azubis Zahl in Tausend Fertigungsberufe Dienstleistungsberufe Technische Berufe übrige Berufe
1060 76,7 16,9 2,1 4,1
% % % %
1990
Quelle: Schober/Tessaring 1993, S. 17. r ü c k e n d e s realen "Wahlzeitpunktes" passen sie ihre W ü n s c h e den Realitäten des A u s b i l d u n g s m a r k t e s an. W e r t legen sie allerdings darauf, mit M e n s c h e n ( o d e r auch mit Tieren) zu tun zu h a b e n u n d eine Nützlichkeit ihres B e r u f e s f ü r die Allgemeinheit sehen z u k ö n nen. D e s w e i t e r e n orientieren sie sich an k o n k r e t e n Arbeitsinhalten u n d legen w e n i g e r W e r t auf Karriere und h o h e n Verdienst. J u n g e n
162
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
dagegen betonen diese letzten beiden Momente wesentlich stärker und bevorzugen deutlich "Männerberufe", die mit Technik und "machen" zu tun haben. In offenen Aufsätzen z.B. zu einem "Tag in meinem späteren Leben" thematisieren Mädchen häufig auch die Verbindung von Berufs- und Familienleben, während Jungen seltener Familiendetails beschreiben. In anderen Erhebungsverfahren zeigt sich jedoch, daß beide Geschlechter sowohl familien- wie berufsorientiert sind. Partnerschaftliche Verhaltensweisen sind - dies ergab auch die neue Shell-Jugendstudie - Konsens bei den jungen Leuten (vgl. Jugendwerk ... 92, 1992, Bd. 1, Bd. 2). Allerdings werden sie von Mädchen doch deutlicher eingefordert, sind Jungen weit eher noch bereit, sogar bei "chauvinistischen Thesen" zuzustimmen: Ein Drittel der Jungen stimmte in der IBM-Jugendstudie 92 dem Item zu "wenn die Arbeitsplätze knapp werden, gehören Frauen wieder ins Heim und an den Herd" (Institut für empirische Psychologie 1992, S. 103). Auch antizipieren nur die Mädchen die aus einer Verbindung von Familie und Beruf entstehenden Probleme, während Jungen - entsprechend des vorherrschenden Männlichkeitsbildes - diese Verbindung für sich als problemlos sehen und davon ausgehen, daß ihre zukünftige Frau für die Kinder zuständig sei. Ein arbeitsorientierter Unterricht, der Mädchen - und auch Jungen angemessen wäre, müßte statt die "Doppelbelastung der Frau" zum Thema zu machen, die Berufsorientierung der Mädchen positiv wenden, eine andere "Lesart" ihrer Orientierungen vornehmen, wie Doris Lemmermöhle-Thüsing dies formuliert: "Wir brauchen eine andere Lesart der Orientierungen und Sichtweisen von Mädchen. All zu oft werden - gerade auch von denen, denen die ökonomische Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Frauen wichtig ist - die Orientierungen und Interessen der Mädchen entweder nicht zur Kenntnis genommen oder als traditionell oder familienorientiert gewertet. Aber liegen in den Äußerungen der Mädchen nicht auch kritische Handlungspotentiale, lassen sie sich nicht auch ganz anders lesen? Z.B. - als Absage an eine Mütterlichkeitsideologie, die von Frauen mit Kindern einen vollständigen Verzicht auf Erwerbsarbeit verlangt; - als Abgrenzung gegenüber dem als Norm gesetzten männlichen Erwerbsarbeitsmodell mit der Gefahr der Austauschbarkeit und Vereinseitigung im Beruf; - als Kritik an einer Organisation von Erwerbsarbeit, die sich nur an ökonomischen Kriterien orientiert und Aufstieg und Erfolg nur
Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
163
denjenigen ermöglicht, die sich voll dem Leistungsprinzip der Arbeitsgesellschaft unterwerfen; - als Anspruch sowohl an befriedigende Erwerbsarbeit und die Erfüllung außerhalb dieser Arbeit liegender Interessen? Eine solche Lesart wird den ambivalenten Erfahrungen und der widersprüchlichen Situation der Mädchen gerecht, ohne ihnen einseitig traditionelle Orientierungen zu unterstellen und ohne sie einseitig an Männlichkeitsnormen zu messen. Neben Anpassungsmomenten wird so auch das Widerstandspotential in den Äußerungen der Mädchen sichtbar, ihre Suche nach dem eigenen Weg zwischen erworbenen Orientierungen und Rollenzuweisungen, zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und strukturellen Bedingungen" (LemmermöhleThüsing, 1991, S. 38f).
2.3.5
Perspektiven für einen koedukativen arbeitsorientierten Unterricht
Vergegenwärtigt man sich die bisherigen Ausführungen noch einmal, so zeigen sie für den arbeitsorientierten Unterricht das gleiche Ergebnis wie für die koedukative Schulsituation insgesamt: Wir haben es eher mit Koinstruktion zu tun und mit einer - möglicherweise noch schärfer als in anderen Schulfächern vorfindbaren deutlichen Orientierung an Jungeninteressen bzw. einer Vernachlässigung von Mädcheninteressen, die bestenfalls als "Sonderaspekte" behandelt werden. Für eine Veränderung wären folglich die Inhalte zu durchforsten und von ihren "geschlechtsspezifischen Vereinseitigungen" (Schütte 1988, S. 257) zu befreien. Dies betrifft zunächst einmal die Reflexion darüber, welche geschlechterbezogenen Aspekte zu beachten sind 7 . Eine Veränderung müßte dann auch gerade für den Technikunterricht - die sozialen Dimensionen technischer Gegenstände und Bereich einbeziehen. In den didaktischen Ansätzen zum historisch-genetischen Lernen sind hier sehr fruchtbare Ansätze zu finden. Schließlich wären sowohl die von Schülerinnen wie von Schülern eingebrachten unterschiedlichen Zugänge wie sie für den Grundschulbereich und die Berufsorientierung gezeigt wurden - aufzugreifen und in ihrer einander ergänzenden Funktion zu bearbeiten. So könnte auch dem "heimlichen Lehrplan" n
Z.B. bei der Geschichte der Technik sowohl die Rolle von Frauen und Männern wie die für die Geschlechter unterschiedlich affinen Technikbereiche zu behandeln; oder in ökonomischen Betrachtungen den Reproduktionsbereich überhaupt einzubeziehen und dabei die ungleiche Verteilung der dort anfallenden Arbeiten auf die Geschlechter zu beachten.
164
Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
des arbeitsorientierten Unterrichts, nach dem die Mädchen durch die subtil erfolgende Orientierung an den Jungen als die defizitären erscheinen - entgegengewirkt werden. D i e s gilt nicht zuletzt auch für die Interaktionen im Unterricht und die sozialen Verhaltensweisen v o n Mädchen und Jungen. Für beide müssen Lehrerinnen und Lehrer wesentlich sensibler in der Wahrnehmung werden, u m dann auch ihre B e d e u t u n g reflektieren und unerwünschtes Verhalten abbauen zu können. Maßstab dabei sollte die Gleichwertigkeit der G e schlechter sein: Die vielfältigen und oftmals subtilen Abwertungen des weiblichen Geschlechts müssen aufhören und die Verfestigung der vorherrschenden Geschlechterhierarchie ist abzubauen. U m dies zu erreichen, ist eine bewußte Orientierung an den Mädchen ein hervorragender Weg.
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Koedukation im arbeitsorientierten Unterricht
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Zum Lernerbezug der arbeitsorientierten Bildung
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3.
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
3.1
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens Wilfried Gabriel und Peter Schneider
3.1.1
Begriffliche Bestimmungen: was sind Lernorte ?
169
3.1.2
Allgemeine und berufliche Lernorte
171
3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2
Ansätze einer Theorie der Lernorte Der Lernortansatz des Deutschen Bildungsrates Lernorte unter dem Aspekt des Lernprozesses
176 176 177
3.1.4 3.1.4.1 3.1.4.2
Ein methodischer Neuansatz: Das Beispiel KoKoSS Anforderungen an Ausbilder-Teams Lernortkooperation als Aufgabe von Teams in der Berufsausbildung
179 181
Pädagogische Perspektiven
184
3.1.5
183
Zitierte Literatur
186
Weiterfuhrende Literatur
187
3.1.1
Begriffliche Bestimmungen: was sind Lernorte ?
Der Mensch wird nur durch Lernen Mensch. Lernen vollzieht sich dann, wenn der Mensch zufällige oder absichtsvoll herbeigeführte Erfahrungen so verarbeitet, daß sie zu eigenen Erkenntnissen und Fähigkeiten fuhren, die sein künftiges Verhalten bestimmen können. Dabei kann im Prinzip in jeder Lebenssituation etwas gelernt werden. Der Ausdruck "Lernort" bezeichnet zunächst einen Ort, an dem ganz bestimmte Erfahrungen gemacht werden können, die es zu verarbeiten gilt. In den einfachen Kulturen der Frühzeit benötigte der Mensch kaum besondere "Orte" des Lernens, um eine handlungskompetente Persönlichkeit in seiner Gesellschaft zu werden. Das Leben in Familie, Sippe und Volksstamm stellte unmittelbare Anforderungen und Arbeitsaufgaben, die zumeist ohne umfangreiche theoretische Kenntnisse und langwierige Unterweisungen zu bewältigen waren. Dem einzelnen wurden alltäglich genügend konkrete Lern-Erfahrungen geboten, die es ihm ermöglichten, den ihm zugewiesenen
170
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Platz in der jeweiligen Gesellschaft zu finden und auszufüllen. Gelernt wurde entweder durch ritualisierte Übungen oder durch Imitatio und aktives Mittun. Je reichhaltiger und größer die Erfahrungsbereiche und deren Verarbeitung im Rahmen der jeweils anerkannten Normen, desto mehr wurde die entsprechende Persönlichkeit geschätzt und geachtet. Das Lernen aus eigener Erfahrung ist die älteste Lernform und wird seit jeher als besonders persönlichkeitsbildend angesehen. In unserer komplexen, auf Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft reicht dieses situative oder funktionale Lernen bei weitem nicht mehr aus. In der durch Kultur, Technik und Wirtschaft mannigfaltig geprägten Lebenswirklichkeit kann die humane und ökonomische Existenz des Menschen und die Weiterentwicklung des sozialen Ganzen nicht mehr allein durch situatives Lernen gesichert werden. Damit der einzelne sich orientieren, selbständig handeln und seinen Platz in der Gesellschaft, d.h. unter anderem sein berufliches Tätigkeitsfeld finden kann, bedarf es eines zielgerichteten Lernens mit einer professionellen Führung über längere Zeiträume. Zur Organisation dieses Lernens sind entweder eigene Institutionen geschaffen (z.B. Schule, Lehrwerkstatt), die einzig und allein dem Zweck dienen, bestimmte Grundlagen und Fähigkeiten zu vermitteln, die anderswo benötigt werden, oder es werden Möglichkeiten bereitgestellt, daß das Lernen in besonderen und pädagogisch ausgewählten Bereichen des realen Lebens (Arbeitsplatz, Betriebspraktika, Exkursionen etc.) stattfinden kann. Entsprechend gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen "Lernorten", die aufgesucht werden können, um ein jeweils spezifisches Lernangebot wahrzunehmen. Damit ein zielgerichtetes Lernen aber zu qualifizierten Abschlüssen führen kann, müssen die verschiedenen Lernorte im Rahmen des Bildungssystem gesetzlich verankert sein. Präziser gefaßt ist also unter dem Ausdruck "Lernort" eine gesetzlich anerkannte Einrichtung innerhalb des öffentlichen Bildungswesens zu verstehen, die Lernangebote organisiert. Die Einrichtung kann dabei auch in privater Trägerschaft stehen. Nach den begrifflichen Definitionen des Deutschen Bildungsrates (vgl. Deutscher Bildungsrat 1974, S.17 ff.; Pätzold 1983, S.400) unterscheiden sich Lernorte nicht nur dadurch, daß sie lokal und rechtlich eigenständige Einheiten sind, sondern ihnen kommt bei der Vermittlung allgemeiner und beruflicher
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
171
Qualifikationen eine jeweils besondere pädagogische Funktion mit einer entsprechenden methodisch-didaktischen Konzeption zu. Die Pluralität der Lernorte wird also ausdrücklich gewollt und hervorgehoben. Die Vorstellungen des Deutschen Bildungsrates zielten dabei auf ein umfassendes "Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen" (-»• 6.1), daß die Organisation des Lernens nicht mehr allein aus der Tradition der einzelnen Lernorte heraus legitimieren, sondern aus den Anforderungen der Lernprozesse selbst begründen sollte.
3.1.2
Allgemeine und berufliche Lernorte
Die aktuelle Diskussion um die Lernorte im allgemeinbildenden Bereich sind durch die Suche nach einer "Neuen Allgemeinbildung" geprägt. Trotz oder gerade wegen des gesellschaftlichen Wandels und der sich daraus ergebenden Probleme wird dem Bildungsbegriff eine erneute und bleibende Aktualität zugesprochen (vgl. Wehnes 1991, S. 256 f.). Nach dem Versuch, "Bildung" ganz abzuschaffen und durch "Qualifikationen" zu ersetzen (vgl. z. B. Baethge 1974), hat der Bildungsbegriff wieder Konjunktur. Während Menze noch Anfang der siebziger Jahre meinte, daß "die Chance, in der Gegenwart noch ein umfassendes, inhaltlich ausgeführtes System der Bildung" zu konzipieren, mehr als fragwürdig und somit "eine Theorie der Bildung vorerst ... unmöglich" sei (Menze 1970, S. 181), haben sich wieder die Stimmen gemehrt, die glauben, "daß die Kategorie der Bildung bei vielen weder an Glaubwürdigkeit noch an Überzeugung verloren hat" (Pleines 1978, S. 8). Für Klafki ist Bildung nach wie vor ein "zentrierendes und übergeordnetes Orientierungs- und Beurteilungskriterium für alle pädagogischen Einzelmaßnahmen" (Klafki 1985, S. 33). In seinen "Neuen Studien zur Bildungstheorie und Didaktik" (1985) sieht er eine Neukonzeption allerdings nur in Richtung der Aufhebung "der schematischen Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung ... von theoretischer Bildung und sog. praktischer Ausbildung ... von geistiger und körperlicher Arbeit" (Klafki 1985, S. 28). Für den Bereich der beruflichen Bildung gewinnt der Begriff Bildung gegenüber dem Alleinvertretungsanspruch des Qualifikations-
172
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
begriffs u. a. aus folgenden Gesichtspunkten zunehmend an Bedeutung (vgl. Schneider 1991, S. 52 f): -
Erstens ist deutlich, daß die in der Berufsausbildung erworbenen beruflichen Qualifikationen vielfach mit der späteren beruflichen Tätigkeit in der Arbeitswelt kaum kongruieren. Die Berufsausbildung vermittelt zunehmend einen "Einstiegsberuf'; viele Facharbeiter werden im Verlauf ihrer Berufsbiographie später ausbildungsfremd tätig. - Zweitens gilt, daß die für ein Berufsfeld benötigten Qualifikationen, wie am Beispiel der Neuen Technologien besonders deutlich, einer ständigen Veränderung unterliegen. Gerade in diesem Bereich nimmt die "Halbwertzeit" des Wissensverfalls ständig ab; unter Umständen sind die in der Berufsausbildung vermittelten Qualifikationen bereits nach einem halben Jahrzehnt nur noch teilweise relevant. - Drittens wird eingewendet, daß die Arbeitswelt nur ein Bereich von komplexen Lebensverhältnissen ist, die sich in unserer modernen Gesellschaft ständig ändern. Das Bildungswesen müsse hier umfassend auf den dynamischen Wandel vorbereiten und um dies zu können, sei "Bildung" geeigneter als "Qualifikation". Für die Diskussion um die Lernorte des arbeitsweltbezogenen Lernens im allgemeinbildenden Bereich ergeben sich damit wichtige Gesichtspunkte zur Konkretisierung der Aufgaben. Ein neues Verständnis von Allgemeinbildung muß auf eine allseitige, auf Selbständigkeit ausgelegte Persönlichkeitsentwicklung zielen, da in einer fluktuierenden Welt ohne sinnhafte Orientierungssicherheit immer mehr Menschen ihr Recht auf Selbstverwirklichung und eigener Verantwortung einfordern. Eben deshalb muß eine neue Allgemeinbildung das arbeitsbezogene Lernen und die berufliche Bildung einbeziehen, weil sich daran das Finden eines eigenen Standortes und die Übernahme von Verantwortlichkeiten im gesellschaftlichen Umfeld exemplarisch konkretisieren. Folgt man Klafkis weitgespannten "Konturen eines neuen Allgemeinbildungskonzeptes" (Klafki 1985), so lassen sich die vielfältigen Ansätze im allgemeinbildenden Bereich systematisieren. Die Bildungsinhalte sollen nach Klafki nicht zu "Schulstoff 1 ' verkommen, sondern als "Schlüsselprobleme" unserer Gesellschaft so vermittelt werden, daß Handlungserfahrungen ermöglicht werden.
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
173
Unter solchen Schlüsselproblemen versteht Klafki z.B. die Friedensfrage, die Umweltfrage, soziale Ungleichheit, Probleme der "Entwicklungsländer", Arbeit, alternative Lebensformen, das Ausländerproblem etc. Diese Probleme (und nicht deren "Lösungen") sollen auf den verschiedenen Stufen des Bildungsganges so vermittelt werden, daß "jeder junge Mensch und jeder Erwachsene mindestens in eines solcher Zentralprobleme - im Sinne exemplarischen, gründlichen, verstehenden bzw. entdeckenden Lernens - eingedrungen" ist (Klafki 1985, S. 21 f). Für die Lernortdiskussion läßt sich daraus folgern, daß solche Schlüsselprobleme entweder in geeigneter Form in die Schule "hereingeholt" bzw. in den bestehenden Unterricht integriert oder entsprechende "Schlüssel-Lernorte" mit den Schülern aufgesucht werden müssen. Dies kann in Form eines freien, auf eigener, von Lehrern angeregter Initiative beruhenden Lernens oder durch ein gebundenes Lernen an geeigneten Lernorten geschehen. Solche Lernorte können z.B. im Hinblick auf ein arbeitsweltbezogenes Lernen sein: -
-
Praktisches Lernen (-> 4.5) in schuleigenen Werkstätten oder im Zusammenhang mit Betrieben in Form von Projektarbeiten, Betriebspraktika (->• 4.6) zur Erkundung beruflicher Arbeitsfelder, Ökologische Projekte (-• 3.2.2.2), um handlungsbezogene Erfahrungen zur Umweltfrage zu erleben; ein geeigneter Lernort könnte hier ein schuleigener "Schülerhof' sein, indem altersspezifisch unterschiedliche Projekte gestaltet werden, wie dies z.B. an der freien Waldorfschule Schloß Hamborn praktiziert wird, Krankenhauspraktika, um elementare soziale Erfahrungen zu machen und aufzuarbeiten, Multikulturelle Projekte in Kooperation mit Ausländerinitiativen, Formen kreativen Lernens und Gestaltens, wie z.B. Theaterauffuhrungen von und für Schüler.
Der wohl bedeutendste Bereich des arbeitsbezogenen Lernens ist die berufliche Erstausbildung. Diese vollzieht sich in der Bundesrepublik Deutschland vornehmlich im Rahmen des "dualen Systems". Dabei sind zunächst die beiden Lernorte Betrieb und Berufsschule gemeint. Tatsächlich ist dieses Verständnis aber zu kurz gegriffen, da die "Dualität" nur den Aspekt der Zweiteilung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten betont. Aufgrund der gegenwärtigen
174
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Verfassungslage ist der Bund für die betriebliche Berufsausbildung zuständig, während die Länder entsprechend dem förderativen Aufbau der Bundesrepublik den schulischen Teil der Berufsausbildung regeln. Das duale System bezeichnet also die zeitliche und fachliche Verbindung der vorwiegend fachpraktisch orientierten Ausbildung in einem Betrieb oder einer überbetrieblichen Ausbildungstätte mit dem eher fachtheoretisch orientierten Unterricht der (Teilzeit-) Berufsschule, der in der Regel an ein bis zwei Tagen acht bis zwölf Unterrichtsstunden umfaßt. Innerhalb dieses Systems können unterschiedliche Lernorte beschrieben werden, die eine jeweils eigene berufspädagogische Aufgabe haben und je nach Ausbildungsberuf unterschiedlich zu gewichten sind: * Lernort: betrieblicher Arbeitsplatz An einem betrieblichen Arbeitsplatz verbringt der Jugendliche im dualen System den größten Teil seiner Ausbildungszeit. Der fachpraktischen Unterweisung "vor Ort", in dessen Nähe das Lehrgespräch stattfindet, wird entsprechend eine zentrale Bedeutung für die spätere Berufstätigkeit beigemessen. (Die Konzeption der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates spricht zwar vom Lernort Betrieb statt vom Lernort betrieblicher Ausbildungsplatz, versteht darunter aber Produktions- und Dienstleistungsbetriebe sowie Verwaltungen, die "vorwiegend am Arbeitsplatz Lernangebote für Lernende in der Sekundarstufe II machen". Auf diese begriffliche Inkonsistenz hat bereits Münch hingewiesen (vgl. Münch 1977, S. 181)). * Lernort: Lehrwerkstatt In der Lehrwerkstatt werden praktische Aufgaben gestellt und praktische Lerninhalte in einem gegliederten und systematischen Zusammenhang vermittelt, die weder am Arbeitsplatz in der Produktion noch in der Schule einen Platz haben. Die Auszubildenden sollen hier zunächst technische Grundfertigkeiten erwerben, die sie später an komplexeren Aufgabenstellungen vertiefen können. * Lernort: Berufsschule Dem Lernort Schule kommt in allen Bildungsgängen eine zentrale Rolle zu, gleichwohl seine Leistungsfähigkeit kritisch gesehen wird. So ist bereits dem Deutschen Bildungsrat die Schule als einziger
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
175
Lernort "auch für die Bildungsgänge fragwürdig geworden, die bisher rein schulisch durchgeführt worden sind" (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 69). Speziell der Berufsschule wird jedoch rechtlich eine große Unabhängigkeit von der betrieblichen Ausbildung eingeräumt, da sie drei Funktionen erfüllen soll: - die Vermittlung der für den Beruf erforderlichen theoretischen Fähigkeiten und Kompetenzen; - eine den jeweiligen Lernvoraussetzungen und Lernmotivationen entsprechende Vermittlung und Sicherstellung von individuellen und sozialen Fähigkeiten, um an dem kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Gesellschaft aktiv teilnehmen zu können und - die Aufarbeitung und Reflexion der an anderen Lernorten gewonnenen Erfahrungen. * Lernort: überbetriebliche Ausbildungsstätte Überbetriebliche Ausbildungsstätten haben den Zweck, die Ausbildung einzelner Betriebe zu ergänzen, wenn diese bestimmte Ausbildungsinhalte nicht selbst anbieten können. Entsprechend differenziert können die Aufgaben und Lernangebote von überbetrieblichen Ausbildungstätten ausfallen (vgl. Michelsen 1977, S. 141). So sollen sie z.B. - das Qualitätsniveau der Berufsbildung durch Ergänzung der betrieblichen Ausbildung sichern; - unterschiedliche Ausbildungstandards einzelner Betriebe durch die Vermittlung berufsfeldbezogener Techniken ausgleichen; - theoretisch weniger begabten Jugendlichen durch Fördermaßnahmen zum Erwerb der Berufsreife die berufliche Eingliederung ermöglichen. Üblicherweise wird der Lernort überbetriebliche Ausbildungstätte im Anschluß an den Deutschen Bildungsrat als besondere Form der betrieblichen Lehrwerkstatt interpretiert (vgl. z.B. Pätzold 1983, S.400). Sieht man von den bildungspolitischen Implikationen mit unterschiedlichen Interessenlagen ab und geht pragmatisch von der Lernortdefinition aus, so scheint es uns dennoch sinnvoll, unter Berücksichtigung der zunehmenden Bedeutung von Berufsbildungsund Berufsförderungswerken (als Beispiel überbetrieblicher Ausbildungsstätten) sowie überbetrieblicher Ausbildungsstätten für das Handwerk hier von einem Lernort zu sprechen, da überbetriebliche Ausbildungstätten eigene und zum Teil komplexe Einheiten sind, die
176
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Lernangebote mit einem spezifischen berufspädagogischen Auftrag organisieren. * Weitere Lernorte Neben diesen wichtigen Lernorten gibt es weitere Lernorte, die in der Diskussion sind, in der Berufsausbildung aber keine durchgängig tragende, sondern entweder eine berufsspezifische oder nur flankierende Rolle spielen. So hat der Deutsche Bildungsrat neben Schule, Betrieb und Lehrwerkstatt das Studio als neuen Lernort vorgeschlagen. Hier sollen kreatives, ästhetisches und soziales Lernen gefördert werden, wobei jedoch keine eigene "anerkannte Einrichtung" genannt wird, die solche Lernangebote organisiert (vgl. Münch 1977, S.181). In der Diskussion ist neuerdings der Lernort "Übungsfirma" - vor allem im kaufmännischen Bereich -, wo Verwaltungsvorgänge in einem Modell betrieblicher Realität simuliert werden. Im Verlauf der Ausbildung können die Auszubildenden verschiedene Positionen einnehmen und so klare Vorstellungen vom Zusammenspiel verschiedener Verwaltungsbereiche entwickeln.
3.1.3
Ansätze einer Theorie der Lernorte
3.1.3.1 Der Lernortansatz des Deutschen Bildungsrates Der Deutsche Bildungsrat zielte mit seinen Empfehlungen "Zur Neuordnung der Sekundarstufe II"(Deutscher Bildungsrat 1974) auf eine "Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen". Die Entwicklung von individueller, sozialer und beruflicher Handlungskompetenz sollte sich nicht auf getrennten Ebenen vollziehen. Bildungsprozesse sollten in einem gesamthaften Verbund mit pluralen Lernorten organisiert werden. Damit war ein Thema angeschlagen, was Berufsbildungstheoretiker schon seit langem und zum Teil sehr kontrovers beschäftigt: die Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung. Immer wieder sind Ansätze gemacht worden, die Einseitigkeiten und sozialen Ungerechtigkeiten, die mit der Trennung von rein theoretisch-wissenschaftsorientiertem und praktisch-ökonomisch orientiertem Lernen zusammenhängen, zu überwinden. Seit Georg Kerschensteiner, Alois Fischer und Eduard Spranger sind dabei die pädagogischen Aspekte der unterschiedlichen Lernorte mit ihren jeweiligen Voraussetzungen und den Möglichkeiten wechselseitiger Ergänzung verschieden gewichtet und diskutiert worden. Zwar haben die Aussagen der Berufsbildungstheoretiker und die
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
177
Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates die reale Trennung zwischen der allgemeinen und beruflichen Bildung bisher nicht überwinden können, aber sie haben das Bewußtsein für die Notwendigkeit ihrer Verknüpfung wachgehalten. Theoretisch zumindest wird die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt. Es geht um eine größtmögliche Offenheit des Bildungssystems und eine enge Verzahnung der Bereiche. Gefordert sind Konzepte, welche individuelle Bildungsgänge ermöglichen, die sowohl den Anforderungen einer qualifizierenden Ausbildung als auch den Bildungsbedürfnissen und -wünschen der Lernenden gerecht werden. Es müssen Formen der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Lernorten entwickelt werden, die dies erlauben. In jüngster Zeit hat die Diskussion einen neuen Akzent erhalten: das "Lernende Unternehmen" (->• 5.2.1) als ein ökonomischer Ansatz, der das "Humankapital" als wesentlichen Innovationsträger entdeckt hat, beginnt, Lernen und Bildung, Denken und Handeln als ganzheitliche Prozesse neu zu bestimmen. Intensiviert wurde diese Entwicklung durch die Neuordnung der Berufe ( - • 5.2.1). 3.1.3.2 Lernorte unter dem Aspekt des Lernprozesses Die Lernort-Diskussion kam im Anschluß an die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates in Gang und wirkt bis heute in der berufspädagogischen Theoriebildung nach. Ohne hier die einzelnen theoretischen Vorstellungen differenziert darstellen zu können, lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: * eine funktionalistisch orientierte Richtung; diese geht von den spezifisch didaktischen Eigenschaften der einzelnen Lernorte aus und versucht, die beruflichen Lernprozesse auf ein vorgegebenes Lernzielsystem hin zu optimieren.(z.B. Münch/Kath 1973); und * eine reformorientierte Richtung; diese geht von den Qualifikationsinteressen der Jugendlichen aus und zielt auf die Integration allgemeiner und beruflicher Bildung in einem staatlich kontrollierten Bereich der Sekundarstufe II (z.B. Kleinbeck/Lempert 1974). Die eingangs definierten Lernorte sind im Anschluß an diese Diskussion und unter dem Aspekt der Organisation der Lernangebote formuliert worden. Betrachtet man die Lernorte unter dem Aspekt
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Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
der Lernprozesse, so lassen sich im Prinzip zwei polare Typen von Lernorten beschreiben: -
Eine Form ergibt sich durch das situative Lernen: Gelernt wird im und durch den praktischen Lebensvollzug am Arbeitsplatz. Das lernende Subjekt begibt sich in einen realen Arbeitsprozeß, der im Prinzip auch ohne seine Anwesenheit abläuft. Die pädagogischen Fragen richten sich dabei auf die notwendigen Voraussetzungen bzw. Qualifikationen, den richtigen Zeitpunkt und die Reihenfolge bzw. Auswahl von Arbeitsprozessen, in und mit denen der Jugendliche etwas lernen soll. - Die polar entgegengesetzte Form ist die, wo alle Lernprozesse so organisiert sind, daß sie einzig und allein das lernende Subjekt meinen. Das Lernen ist rein subjektorientiert, auf die Entwicklung und die Bedürfnisse des Lernenden bezogen und vollzieht sich immer in einem "schulischen" Bereich. Schule ohne ein lernendes Subjekt ist sinnlos. Sie bleibt aber nur dann ein effektiver Lernort, wenn das lernende Subjekt den Bezug des eigenen Lernens zur realen Lebenswelt selbst herstellen kann. Das Problem der "Verschulung" des Lernens ist also eigentlich kein organisatorisches Problem, sondern eine Frage des Curriculums. Schule als Ort eines subjektorientierten Lernens ist sinnvoll und effektiv, wenn die Inhalte methodisch so nahegebracht werden, daß sie handlungsleitend wirken.
Ein vermittelndes Drittes ist in der Berufsausbildung der Lernort Lehrwerkstatt, der sowohl an den Bedürfnissen der Lernenden als auch an der betrieblichen Praxis orientiert ist. Alle weiteren Lernorte können dann von den pädagogischen Prozessen her als Mischformen von "schulischem", subjektorientiertem und praktisch-arbeitsweltorientiertem Lernen interpretiert werden (vgl. Abb. 1). Abb. 1:
Der Zusammenhang von Schule, Lehrwerkstatt und Betrieb Beruf
Individuum
Schule
Fach
Lehrwerkstatt Lehrgang
Methodik Didaktik
Betrieb Arbeitsplatzorientiertes Lernen
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
179
Wenn also die Lehrwerkstatt systematisch das beruflich-praktische Lernen ermöglichen soll, der Betrieb das Lernen im Ernstfall und die Schule die allgemeinen, theoretischen und fachlichen Grundlagen vermitteln soll, dann erhebt sich das Problem, wie dies eine pädagogisch wirksame Gesamtheit ergibt. Damit für den Auszubildenden ein ganzheitliches Lernen ermöglicht wird, ist zwischen den Lernorten eine kontinuierliche fachliche und pädagogische Abstimmung erforderlich. Die Konsequenz wäre, daß Lehrer und Ausbilder sich regelmäßig treffen, um sich fachlich abzusprechen; wir nennen dies didaktische Koordination. Ebenso notwendig ist es, sich auch über den Lernfortschritt des Auszubildenden konkret zu beraten, damit gezielte Hilfestellung gegeben werden kann; man könnte dies pädagogische Kooperation nennen. Im folgenden soll hierzu ein konkretes Modell vorgestellt werden.
3.1.4
Ein methodischer Neuansatz: Das Beispiel KoKoSS
Das Konzept der "kontinuierlichen und kooperativen Selbstqualifizierung und Selbstorganisation" (KoKoSS) ist in direktem Zusammenhang mit der Neuorientierung der Berufsausbildung (1987) entwickelt worden. Es ist aus der Einsicht entstanden, daß eine aktiv ergriffene Reform der beruflichen Bildung nur dann auf den richtigen Weg kommt, wenn damit eine Qualifizierung des Personals in der beruflichen Bildung verbunden ist. Der neue Qualifizierungsauftrag, der darauf ausgerichtet ist, den Auszubildenden zu einem selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Handeln zu befähigen, kann nur eingelöst werden, wenn die Berufspädagogen (Ausbilder und Lehrer) eine entsprechende Ausbildungskompetenz aufbauen. In diesem Sinne ist das Konzept als Qualifizierungskonzept des Ausbildungspersonals im Rahmen einer Modellversuchsreihe zur betrieblichen Berufsausbildung des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BIBB), Berlin, entwickelt und erprobt worden. Als Träger sind an dem Modellversuch beteiligt: - die Klöckner-Stahl GmbH, Bremen - das Technologie- und Berufsbildungszentrum (TBZ), Paderborn - die Volkswagen AG, Wolfsburg. Die wissenschaftliche Begleitung wurde vom Lehr- und Forschungsbereich Berufspädagogik an der Universität - GH - Paderborn durchgeführt, (vgl. Schneider u.a. 1994). Das Konzept ist also nicht am theoretischen Reißbrett entworfen, sondern in der Praxis ent-
180
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
wickelt worden. Es versucht, Antworten auf verschiedene Fragekomplexe zu geben; z. B.: Wie können die Berufspädagogen so weitergebildet werden, daß - dies arbeitsplatzbezogen geschieht, - dies an dem konkreten Bedarf des Unternehmens orientiert ist, - die persönlichen Bedürfnisse zufriedengestellt werden können und - dies möglichst selbständig für den Einzelnen und effizient für das Unternehmen organisiert wird? Wie kann die Berufsausbildung - um die Jugendlichen herum organisiert werden, - ständig an den sich ändernden Arbeitsmarkt angepaßt werden, - effizienter gestaltet werden und - die Qualität ihrer Ausbildung kontinuierlich überprüfen? Im weitesten Sinne versteht sich KoKoSS als ein Personal- und Organisationsentwicklungskonzept in der Berufsausbildung. Die Grundfigur besteht dabei in der Verschränkung von Lernen und Arbeiten. Es versucht, die individuelle Förderung mit fachlicher Qualifizierung und mit kooperativen Formen der Arbeitsorganisation zu verbinden. Wie geschieht dies nun konkret? Im Rahmen der Berufsausbildung der genannten Träger sind die Berufspädagogen zu Teams zusammengefaßt worden, wobei je nach Einrichtung diese Teams unterschiedlich zusammengesetzt und mit unterschiedlichen Aufgaben betreut worden sind. Diese Teams sind in der Regel von ihrer personellen Zusammensetzung her stabil und ihre Teilnehmer haben in der Berufsausbildung gemeinsame Aufgaben. Für diese Teams sind regelmäßige (in der Regel wöchentliche) Teamkonferenzen eingerichtet, die während der Arbeitszeit stattfinden. Um in diesen Konferenzen effizient arbeiten zu können, sind die Mitarbeiter im Rahmen der Modellversuche qualifiziert worden, indem ihnen geeignete Konferenztechniken, Regeln, Problemlösungsverfahren etc. vermittelt wurden. Die Konferenz ist das wesentlichste Instrument des Konzeptes und der Ort, wo das Arbeiten und Lernen der Mitglieder miteinander verbunden werden, um hierdurch eine neue Qualität der Berufsausbildung zu erreichen. Diese Konferenzen gliedern sich in zwei Teile (in der Regel jeweils 45-60 Min.). Eine Einheit dient der kontinuierlichen Weiterbildung (Selbstqualifizierung) der Berufspädagogen. Die zweite Einheit dient den kooperativen und selbstorganisierten Arbeitsbesprechungen (vgl. Abb. 2).
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
Abb. 2:
Teamkonferenzen zur Verbindung von und Lernen
181
Arbeiten
Kontinuierliche Selbstqualifizierung
Arbeitsorganisation
z.B.
z.B.
- Entwicklung des Jugendlichen
- Informationsaustausch
- Motivation
- methodisch-didaktische Konzeption
- Gruppenpädagogik
- Planung und Reflexion
- Neue Ausbildungsmethoden
der wöchentlichen Arbeit
- Lernmedien
- Probleme aus der Praxis
- Fallbesprechungen
- Kooperation zwischen Berufsschule und Betrieb
3.1.4.1 Anforderungen an Ausbilder-Teams Es geht bei der Bildung von Teams in der Berufsausbildung darum, alle an der Ausbildung Beteiligten um ihren gemeinsamen Bezugspunkt, der optimalen Förderung der Auszubildenden, zusammenzufuhren. Daran müssen sich Ziele, Aufgaben und Handeln von Ausbilder-Teams orientieren, (vgl. Gabriel/Schneider 1996). An Berufsausbilder werden vielfältige Anforderungen gestellt. Sie müssen gesetzliche Vorgaben und Ordnungsmittel mit den Bedingungen und Erwartungen des Unternehmens in Einklang bringen, müssen auf die unterschiedlichen Charaktere, Motivationen und Fähigkeiten der Auszubildenden mit den geeigneten pädagogischen Mitteln reagieren. Sie müssen Erwartungen von Eltern berücksichtigen, Kontakt zur Berufsschule halten, und nicht zuletzt müssen sie alltäglich eine Unmenge von Kleinigkeiten regeln, damit die Ausbildung nicht zusammenbricht. Für diese vielen Anforderungen haben sich unterschiedliche Arbeitsformen und Bewältigungsstrategien entwickelt, die meist dreierlei gemeinsam haben: * Grundsätzlichere Entscheidungen und Weichenstellungen sowie viele Außenkontakte bleiben in der Hand der übergeordneten Abteilungsleitung. * In der konkreten Arbeit und bei pädagogischen Problemen ist der Ausbilder Einzelkämpfer. * Koordination zwischen den Ausbildern beschränkt sich auf organisatorische Fragen.
182
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Mit solchen Arbeitsformen ist eine optimale Betreuung und Förderung von Auszubildenden nicht möglich, da sie wesentliche gemeinsame Aufgaben von Ausbildern dem Einzelnen oder der Führungsebene überlassen. Kooperation im Ausbilderteam muß sich demgegenüber an folgenden Aufgaben orientieren: * Methodisch-didaktische Koordination Sind mehrere Personen an der Ausbildung beteiligt, müssen sie Lerninhalte und Lernformen auswählen, aufeinander aufbauen und gestalten. Die Vorgaben aus Ausbildungsrahmenplan und betrieblichen Ausbildungsplänen bilden dafür nur die Grundlage, die ständig der aktuellen Situation angepaßt und mit Leben gefüllt werden müssen. Diese Aufgaben können weder vom Leitungspersonal wahrgenommen werden, dem dafür der Einblick fehlt, genausowenig wie jeder Ausbilder sich nur um sein Fachgebiet kümmern kann. Daher muß das Team Ausbildungs- und Versetzungspläne koordinieren, geeignete Ausbildungsmethoden aufeinander abstimmen, Erfahrungen mit Methoden und Ausbildungsmitteln austauschen, Lehrgänge abgleichen, die Kooperation mit der Berufsschule sicherstellen u.v.m. * Koordination der Lernorte Ausbildung findet an immer mehr Lernorten im Unternehmen statt; in Zukunft wird dezentrales, arbeitsplatznahes Lernen noch mehr Gewicht bekommen. Die inhaltliche und zeitliche Aufteilung auf die einzelnen Lernorte müssen koordiniert, Lernmöglichkeiten in betrieblichen Ernstsituationen aufgespürt, neue Lernorte erschlossen und in Ausbildungspläne eingearbeitet werden. Dies geht nur, wenn alle Beteiligten regelmäßig zusammenkommen und aus einer Aneinanderreihung isolierter Lernabschnitte eine gemeinsame Ausbildung wird, die alle Lernmöglichkeiten für Jugendliche ausschöpft. * Individuelle Förderung Um jeden Auszubildenden gemäß seiner persönlichen Entwicklung beurteilen und fördern zu können, sollten alle Ausbilder regelmäßig ihre Erfahrungen zusammentragen und sich ein gemeinsames Bild vom Ausbildungsstand des Auszubildenden, von seinen Stärken und Schwächen machen. Durch solch eine "Auszubildendenbesprechung" können Erfahrungen mit dem Auszubildenden ausgetauscht werden und in eine gemeinsame Beurteilung eingehen. Fördermaß-
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
183
nahmen werden so von allen getragen und können von mehreren Ausbildern an mehreren Lernorten angewandt werden. * Gestaltung des Arbeits-/Verantwortungsbereiches Ein regelmäßiger Austausch von Informationen im Ausbilderteam ermöglicht notwendige Koordination und gemeinsame Lösungen kleiner bis gravierender Probleme. Dies reicht von Urlaubs-/Krankheitsvertretungen über die Organisation von Prüfungen bis zu personellen Veränderungen. Der Verantwortungsbereich des Teams sollte sich dabei kontinuierlich erweitern, so daß die Teams Aufgaben bewältigen und Entscheidungen treffen in Bereichen, die bisher der Führung vorbehalten war. * Kontinuierliche Selbstqualifizierung Die Bewältigung der genannten Anforderungen und die Erlangung umfassender Ausbildungskompetenz erfordern kontinuierliche Qualifizierung. Der Qualifizierungsbedarf muß sich an den Erfahrungen und Problemen der Ausbildung orientieren und sollte gemeinsam ermittelt werden. Selbstqualifizierung kann dann rationell nach dem Multiplikatorenkonzept oder in anderer geeigneter Form erfolgen. Selbstqualifizierung ist somit eine Aufgabe des Teams und nicht mehr nur individuelle Verpflichtung des einzelnen Mitarbeiters. 3.1.4.2
Lernortkooperation als Aufgabe von Teams in der Berufsausbildung In der Modellversuchs-Konzeption bei der Klöckner Stahl (Bremen) war die Einbeziehung der Berufsschule ein besonderer Schwerpunkt, um exemplarisch die methodisch-didaktische Koordination zwischen den Lernorten Schule und Unternehmen zu erproben. Die Einbeziehung erfolgte über die Teilnahme von je einem Berufsschullehrer an den regelmäßigen Teamkonferenzen der Ausbilder und den jährlichen Teamseminaren. Auch vor dem Modellversuch gab es einen Austausch zwischen Ausbildern und Lehrern über den Ausbildungsstand der Jugendlichen. Dieser Kontakt war jedoch sporadisch. Die Integration der Berufsschullehrer in den Modellversuch wurde von Lehrern und Ausbildern intensiv genutzt. Nach Aussagen beider Gruppen (vgl. Ehrlich/Heier 1994) wurde das Bewußtsein für die Ausbildungsrealität des jeweils anderen Lernortes entschieden erweitert und die eigene Ausbildungstätigkeit angeregt. So sind von den Lehrern Rahmenlehr- und StoffVerteilungspläne
184
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
und die Probleme bei deren Umsetzung im Team vorgestellt worden, die Ausbilder haben andererseits den Lehrern die Umsetzung der Ausbildungsrahmenpläne nähergebracht. Lernschwierigkeiten der Auszubildenden, die gemeinsam betreut wurden, wurden auf den Teamkonferenzen angesprochen und Möglichkeiten von Förderungen gemeinsam überlegt. Während der gesamten Laufzeit des Modellversuches (1989-1994) haben die Berufsschullehrer kontinuierlich an den Teamkonferenzen teilgenommen und in Absprache mit der Schulbehörde soll dies auch über den Modellversuch hinaus beibehalten werden. In der Modellversuchsevaluation ist diese Kooperation der Lernorte außerordentlich positiv von allen Beteiligten bewertet worden.
3.1.5
Pädagogische Perspektiven
Der dem Modellversuch KoKoSS zugrundeliegende und von seinen organisatorischen Bedingungen geforderte pädagogische Ansatz versteht berufliche Bildung zugleich als Persönlichkeitsentwicklung (-• 5.2). Denn eine Persönlichkeit ohne Beruf, d.h. ohne ein gesellschaftlich anerkanntes Tätigkeitsfeld, ist in unserer modernen Gesellschaft kaum handlungsfähig. (Womit nicht gesagt ist, daß eine Persönlichkeit ein und denselben Beruf ein Leben lang ausüben sollte). Denkt man sich unter dem Begriff der "Person" den ursprünglichen Doppelbezug von Innerem und Äußerem, von individuellem Eigensein und öffentlicher Darstellung, von unverwechselbarem Selbstsein und sozialer Verbundenheit - wie er in der etymologischen Bedeutung des Wortes "Person" aus dem lateinischen "persona" = Maske, Rolle des Schauspielers" anklingt, aber auch in dem Querbezug zum griechischen "prosopon" = "Antlitz, das einer als sein eigenes zeigt" - so sei die geforderte Pädagogik in diesem Sinne als eine personale Berufspädagogik bezeichnet, (vgl. Gabriel 1995). Mittelpunkt und Ziel einer personalen (Berufs-) Pädagogik ist also die mündige und (beruflich) handlungskompetente Person bzw. die sich im sozialen Zusammenhang entwickelnde Persönlichkeit. Nach dem bisher Gesagten kann die Entwicklung entsprechender Grundlagen und Konzepte nur auf der Basis einer anthropologischen Fundierung geschehen.
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
185
Eine solche personale Berufspädagogik muß über ein "ganzheitliches Kompetenzmodell" verfugen und hiermit inhaltliche Aussagen zur Entwicklung einer personalen Kompetenz machen, die in verallgemeinerter Form - besonders in drei Binnenbereichen zum Tragen kommt: - Im Umgang mit der gegenständlichen Welt, konkretisiert an fachlichen Aufgaben und in gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern (Sachkompetenz); - im Umgang mit anderen Menschen und dem Verhalten im sozialen Gefuge insgesamt (Sozialkompetenz); - im Umgang des einzelnen mit sich selbst und in der Entfaltung seiner individuellen Bezüge zum jeweiligen übergeordneten Ganzen (individuelle Kompetenz). Deutlich ist, daß diese Bereiche nicht isoliert für sich, sondern in einem dynamischen Wechselverhältnis bestimmt werden müssen. Was ist damit erreicht? Erstens ist die Möglichkeit eröffnet, die Qualifikationsanforderungen der sich wandelnden Arbeitswelt unter ein allgemeines Orientierungsschema zu integrieren und zuzüglich in die Optik einer anthropologischen Basis zu fassen. Zweitens ergibt sich die Möglichkeit, die Forderung, Qualifikationen selbst als Kompetenz zu vermitteln, mit Hilfe eines handhabbaren begrifflichen Instrumentes einzulösen, denn der Qualifizierungsauftrag ist darauf gerichtet, den Auszubildenden zu einem selbständigen und selbstverantwortlichen Handeln zu befähigen. Das bedeutet, daß sich die mit der fachberuflichen Ausbildung zu verbindenden Qualifikationen auf drei Forderungen summieren: - Auszubildende sollen befähigt werden, ihr eigenes Handeln zum Gegenstand kritischen Erkennens zu machen sowie von eigener Erkenntnis geleitet zu handeln. Damit geht es um das methodische Prinzip, alle Kenntnisse tätigkeitsbezogen zu vermitteln und alle Tätigkeiten theoriegeleitet zu üben, um damit Fachkompetenz auszubilden. - Auszubildende sollen in hohem Maße selbständig werden, aber zugleich auch die Fähigkeit erlangen, mit anderen selbständig Handelnden im Team zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grunde gilt das methodische Prinzip, daß alles individuelle Lernen im Zusammenhang eines Gruppenprozesses erfolgen muß, um Sozialkompetenz zu veranlagen.
186
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
-
Auszubildende sollen lernen, ihr Wissen und Können immer wieder neu in Frage zu stellen, zu verändern und zu erweitern; auch diese berufliche Lernfähigkeit muß als Kompetenz erworben werden. Es gehört zu den Kernfragen, wie ein solches selbständiges Lernen als Grundlage einer Individualkompetenz von jedem Auszubildenden erlangt werden kann. Damit kommt die personale Ganzheit des Jugendlichen auch in der Berufsausbildung als Zielvorgabe ins Visier. Für jede einzelne Ausbildungsmaßnahme ist dann zu fragen, inwieweit sie zur Förderung fachlicher, sozialer und individueller Kompetenz kontrolliert, koordiniert und integriert werden kann. Im Hinblick auf die Entfaltung und Stabilisierung eines lebenslangen Lernens muß eine personale Pädagogik aber auch Aspekte der Weiterbildung umfassen. Damit ist zugleich ersichtlich, daß der geforderte ganzheitliche Ansatz nicht allein durch eine statische Betrachtung eingelöst werden kann, sondern daß er auf die jeweilige konkrete biographische Situation bezogen werden muß. Auf der organisatorischen Ebene muß eine personale Berufspädagogik flexible Instrumente bereitstellen, um eine Prozessualisierung von Bildungsverläufen im Rahmen der institutionellen Gegebenheiten zu ermöglichen.
Zitierte Literatur BAETHGE, Martin (1974): Bildungsreform und gesellschaftliche Arbeitsplatzstruktur. In: CRUSIUS, R. u.a. (Hrsg.): Berufsausbildung. Reformpolitik in der Sackgasse? Reinbek b. Hamburg, S. 135-143. DEUTSCHER BILDUNGSRAT (Hrsg.) (1974): Zur Neuordnung der Sekundarstufe II. Konzept für eine Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen. Empfehlungen der Bildungskommisssion, Stuttgart 1974. GABRIEL, Wilfried (1995): Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft, Frankfurt/M. GABRIEL, Wilfried/SCHNEEDER, Peter (1996): Lernen und Arbeiten im Team - Handbuch für Personalentwicklung und Organisationsgestaltung. Berlin. EHRLICH, Klaus/HEEER, Joachim (1994): Arbeiten und Lernen im Ausbilderteam. Abschlußbericht über den Modellversuch "KoKoSS" bei der Klöckner Stahl GmbH, Bremen. KLAFKI, Wolfgang (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim.
Lernorte des arbeitsbezogenen Lernens
187
KLEINBECK, Ulrich/LEMPERT, Wolfgang (1974): Die Bedeutung verschiedener Lernorte in der beruflichen Bildung. Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates. Stuttgart. MENZE, Clemens (1970): Bildung. Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München, 134 ff. MICHELSEN, Uwe Andreas (1977): Die überbetriebliche Ausbildungsstätte ein Dritter Lernort. In: MÜNCH, J. (Hrsg.): Lernen - aber wo? Der Lernort als pädagogisches und lernorganisatorisches Problem. Trier. MÜNCH, Joachim (Hrsg.) (1977): Lernen - aber wo? Der Lernort als pädagogisches und lernorganisatorisches Problem. Trier. MÜNCH, Joachim./ KATH, F. Mosche (1973): Zur Phänomenologie und Theorie des Arbeitsplatzes als Lernort. In: Zeitschrift für Berufsforschung, H. 2. PÄTZOLD, Günther (1983): Lernorte. In: Enzyklopädie der Erziehungswissenschaft (hrsg. v. D. Lenzen) Bd. 9.2., Stuttgart. PLEINES, S. (1978): Bildungstheorien. Probleme und Positionen. Freiburg. SCHNEIDER, Peter (1991): Berufsbildung als Allgemeinbildung. In: MEYERDOHM, P./SCHNEIDER, P. (Hrsg.): Berufliche Bildung im lernenden Unternehmen. Neue Wege zur beruflichen Qualifizierung. Stuttgart. SCHNEIDER, Peter u.a. (1994): Lernen und Arbeiten im Team - Selbstqualifikation und Selbstorganistion für Ausbilderinnen und Ausbilder. Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Modellversuch "KoKoSS", Berlin. WEHNES, Franz-Josef (1991): Theorien der Bildung - Bildung als historisches und aktuelles Problem. In: ROTH, L. (Hrsg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. München, S. 256-270.
Weiterführende Literatur MEYER-DOHM, Peter/SCHNEIDER, Peter (Hrsg.) (1991): Berufliche Bildung im lernenden Unternehmen. Neue Wege zur beruflichen Qualifizierung. Stuttgart. PÄTZOLD, Günther (1983): Lernorte. In: Enzyklopädie der Erziehungswissenschaft (hrsg. v. D. Lenzen), Bd. 9.2. Stuttgart. SCHNEIDER, Peter u.a. (1994): Lernen und Arbeiten im Team. Selbstqualifikation und Selbstorganisation für Ausbilderinnen und Ausbilder. Abschlußbericht der Wissenschaftlichen Begleitung zum Modellversuch "KoKoSS". Berlin.
3.2
Unterrichtsverfahren Manfred Bönsch
3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4
Die Konzeptionalisierung von Unterricht Definition der Unterrichtsmethode Historische Befunde Systematischer Aufriß in problematisierender Absicht Perspektiven
189 189 189 190 194
3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3
Detailliertere Darstellung Konventionelle Unterrichtsverfahren Alternative Unterrichtsverfahren Ansätze einer Autodidaktik
195 195 201 206
Zitierte Literatur
207
Weiterführende Literatur
207
3.2.1
Die Konzeptionalisierung von Unterricht
3.2.1.1 Definition der Unterrichtsmethode Das Wort Methode kommt aus dem Griechischen und bedeutet Weg, Verfahren. Unterrichtsmethoden sind also planmäßig und zielgerichtet gestaltete Wege des Unterrichtens. Wenn man Unterricht als eine Veranstaltung versteht, die bei Lernenden Lernen anregen, steuern und zu einem Ergebnis hinfuhren will, so sind Unterrichtsmethoden geplante und angebotene Lernwege. Sie sind immer dann notwendig, wenn es eine Gesellschaft als notwendig ansieht, Lernen institutionell zu sichern und für eine definierte Zahl von Schülerinnen und Schüler eine bestimmte Menge von Lerninhalten in einer begrenzten Zeit zu vermitteln. 3.2.1.2 Historische Befunde In der Geschichte des didaktischen Denkens herrscht der Vermittlungsgedanke vor. Stufentheorien bzw. Artikulationsschemata sind dominant. Schon Comenius (1592-1670) entwickelte eine Stufentheorie. Herbart (1776-1841) und die Herbartianer prägten das Stufendenken entscheidend aus (Vorbereitung - Darbietung Verknüpfung - Zusammenfassung - Anwendung). Obwohl Unterricht immer erziehende Funktionen haben sollte - durch geeignete "Vorstellungsmassen" sei auf das Wollen einzuwirken kam mit der
190
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Reformpädagogik im 20. Jahrhundert das Wort von der Tyrannei der Formalstufen auf. Die Methode der freien geistigen Arbeit (Gaudig, 1860-1923)und der Projektgedanke (Dewey, 1859-1952) markieren neue methodische Repertoires. Nach dem zweiten Weltkrieg beherrschten zunächst Unterrichtslehren die Methodendiskussion. In gewissem Sinn epochemachend war dann die sog. Berliner Didaktik, die 1965 erschien und mit sechs Strukturmomenten (anthropogene und sozialkulturelle Voraussetzungen, Intentionen, Thematik, Methode und Medien) und ihrer Interdependenz das gedankliche Netz neu spannte (vgl. Heimann u.a. 1965). Problematisch ist bis heute, daß die empirische Forschung über die Konstruktion und Effektivität von Unterrichtsmethoden einerseits Defizite aufweist und andererseits hinsichtlich ihrer Befunde heterogen ist. Angesichts des Handlungsdruckes in den Schulen besteht die Gefahr, daß Angebote verwendbarer Art am ehesten Interesse finden (vgl. Meyer 1987), die Reflexion über die Implikationen methodischer Konstruktionen aber zu kurz kommt. 3.2.1.3
Systematischer Aufriß in problematisierender Absicht Wer sich mit Unterrichtsmethoden befaßt, muß sich das thematische Feld gemäß Abb. 1 abstecken. 1. Lehrmethoden Eine erste Gruppe von Unterrichtsmethoden kann mit dem Terminus 'Lehrmethoden' erfaßt werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Zielorientierung (Vermittlung von für wichtig gehaltenen Wissens- und Fertigkeitsbeständen), die Auswahl der Inhalte und Inszenierung der Lehr-Lern-Prozesse von Lehrerinnen und Lehrern übernommen, also geplant, realisiert und kontrolliert werden. Lernende sind Rezipienten, die in unterschiedlicher Weise auf Vermittlungssequenzen, Lernaufforderungen zu reagieren haben. Die Implikationen dieses Lehr-Lern-Musters sind im Grunde rigide: Da sind Lehrerinnen bzw. Lehrer, die wissen, was zu lernen ist; sie bereiten den Lernstoff nach Maßgabe ihres Wissens auf, der Stoff ist in einer bestimmten Zeit zu bearbeiten; der Erfolg der Aufnahme, Speicherung und Wiedergabe des zu Lernenden wird schnell kontrolliert und bewertet. Zielorientierung, Stofforientierung, Effektivität, Planorientierung, Lernen als Rezeption sind die maßgebenden Konstruktionselemente. Dieses Lehrkonzept realisiert sich über die klassische Trias Vortragen, Vormachen, Vorfuhren (vgl. Bönsch 1993),
Unterrichtsverfahren
191
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c1 4.2.2.1). Drei Varianten lassen sich unterscheiden: * Begleitendes Lernen (concomitant learning) Die Lernenden in der Krankenpflegeausbildung z.B. erfahren ihre Einweisung durch die Stationsschwester, sie lernen den Aufgaben-
200
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
bereich kennen, werden zunächst über Zubringertätigkeiten und später über die selbständige Ausführung einzelner pflegerischer Handlungen bzw. komplexer Tätigkeiten selber aktiv.
1. 2. 3.
4.
Dieses Lernen ist dadurch gekennzeichnet, daß es schnell an die Praxis heranführt, äußerst vielfältige Eindrücke vermittelt, durch eine gewisse Zufälligkeit der anfallenden Arbeiten gekennzeichnet ist (das Kennenlernen des Arbeitsbereiches mit seinen pflegerischen und therapeutischen Aufgaben hängt ab vom Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein bestimmter Krankheitsbilder der Patienten). Die Konkretheit der Aufgabenstellung kann die Arbeit interessant und abwechslungsreich verlaufen lassen. Leider ergeben sich für die Lernenden in der Krankenpflegeausbildung didaktisch gesehen öfter unökonomisches und unkontrolliertes Lernen.
* Beobachtendes Lernen (observational learning) Dieses Lernen besteht darin, daß der Lernende beobachtet, wie eine andere Person die von ihm zu lernende Fähigkeit ausführt. Während der Beobachtung entstehen Folgen von Eindrücken, welche miteinander assoziiert und integriert werden. Diese Reizabfolgen werden gespeichert. Der Beobachtende hält sich in seinem späteren imitativen Verhalten an die von ihm erinnerten Sinneseindrücke. Wichtig ist weiterhin, daß sich der Lehrende und die Lernenden Verbalisierungen zunutze machen können. Stehen dem Lernenden verbale Bezeichnungen zur Verfügung, so kann er das von ihm zu realisierende Verhalten, das er zunächst durch das Vorbild gezeigt bekommt, beschreiben und daraus Hinweise für die Steuerung des eigenen Verhaltens beziehen. * Simulationsgebundenes Lernen (simulating learning) Didaktisch noch stärker aufbereitet werden kann das Lernen, wenn es in sogenannten Simulationsmodellen realisiert wird. Was ist damit gemeint? In der beruflichen Ausbildung gibt es verschiedene Beispiele: der Lehrkindergarten, das Lehrrestaurant, die Lehrwerkstatt, das Übungskontor, die Scheinfirma, der Übungsraum für die Krankenpflegeausbildung, der Flugsimulator u.a.m. (-» 3.1.1). Auch die allgemeinbildende Schule schafft sich gelegentlich Modellwirklichkeiten", um das Lernen realitätsnäher zu gestalten; man denke z.B.
Unterrichtsverfahren
201
an den Schulverkehrsgarten, an botanische Schulgärten, an das Planspiel in der Arbeitslehre (->4.2). In der Simulation werden situative Gegebenheiten und Verhältnisse der Wirklichkeit vorgetäuscht, um realitätsnahes Lernen zu ermöglichen. Der Prototyp einer Simulation ist immer wieder der Flugsimulator, der eine Flugzeugkanzel darstellt. 3.2.2.2 Alternative Unterrichtsverfahren Heute bekommen zunehmend Unterrichtsverfahren Bedeutung, die anders als die konventionellen Unterrichtsmethoden ihren Schwerpunkt nicht in der Vermittlung von relativ klar beschreibbaren Wissens- und Fertigkeitsbeständen haben, sondern in der Rekonstitution von Lernausgangslagen in Fragen, Problemen, Ungeklärtem. Demzufolge verstehen sie Lernprozesse als Er- und Bearbeitung, als Entdecken und Forschen, als Simulation von Realität oder gar die Realität als Lernort. Das Lernen bekommt damit eine andere Qualität, es wird komplexer und handlungsorientierter. 1. Projektarbeit Projektarbeit ist die kommunikativ-kooperative Variante selbständigen Lernens. Am Anfang steht eine Projektinitiative (ein außerschulisches Anliegen, z.B. Verkehrsberuhigung im Schulbezirk, ein innerschulisches Anliegen, z.B. Verschönerung der Klassenräume, ein innergruppales Anliegen, z.B. wir organisieren uns das Lernen interessanter, ein fachliches Anliegen, z.B. Umweltprobleme in den Naturwissenschaften). Wichtig ist dann die Erarbeitung eines Projektplans in der Projektgruppe. Erst danach kommt es zur Projektbearbeitung (der gemeinsame Plan ist quasi der Arbeitsvertrag, an den alle gebunden sind). Das Projektergebnis (-produkt) kann gezeigt werden (der Orts-/Stadtteilöffentlichkeit, den Eltern, anderen Schülern in einer Dokumentation, in einer Ausstellung, in einem Video, mit einer Wandzeitung, in Gestalt eines Produkts. Für die Durchführung sind sog. Metainteraktionen wichtig: Zwischenbilanzen, Reflexion der Zusammenarbeit, Besprechung von Kommunikationsund Kooperationsproblemen (vgl. Abb. 6; 2.2.2.1).
202
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Abb. 6:
Idealtypischer Verlauf des Projektes Projektplanung
Projektinitiative
— »
—*
Metainteraktionen
—>
Projektbearbeitungen
als gemeinsames Anliegen
t
Reflexion
t Projektprodukt
2. Forschend-entdeckendes Lernen In schulpädagogischen Handbüchern taucht das Stichwort forschend-entdeckendes Lernen bisher kaum auf. Und doch gilt forschend-entdeckendes Lernen als eine Art Königsweg! Charakteristisch ftir dieses Lernen ist, daß Ausgänge, Anlässe, Anregungen eine Informationsbasis und gleichzeitig die didaktischen Qualitäten des Ungeklärten, Ungewissen, Verworrenen, Überraschenden, Befremdlichen, Rätselhaften, Widerspruchsvollen schaffen. Problemhaltige Situationen, Materialkonstellationen, Realitäten wecken Interesse, kognitive Dissonanzen, die zu Befriedigung/Bearbeitung und zur Auflösung drängen (zum methodischen Design des forschenden und entdeckenden Lernens siehe Abb. 7). 3. Erkundung Mit dem Terminus 'Erkundung' wird eine Methode bezeichnet, die dem Lernen Lebensnähe geben will. Man geht aus der Schule hinaus, um in der Arbeits- und Lebenswelt Wissen und Erkenntnisse zu gewinnen. Die Ziegelei, die Hafenanlage, das Chemiewerk, die Bäkkerei, der Supermarkt, die Verwaltung, Polizei und Feuerwehr u.a.m. werden aufgesucht, um Produktions- und Ablaufprozesse, Arbeitsorganisation und -belastung, Technik und Ökonomie, Soziales und Ökologisches 'vor Ort' zu erkunden. Die Umwelt als Lernort - das ist das Motto. Freilich bedarf auch die Erkundung einer Methodik, damit sie wirklich zum Lernen fuhrt und nicht zu einer Art 'Betriebstourismus' verkommt. Insofern ist eine Erkundung in aller Regel eine Aspekterkundung, nicht eine Totalerkundung (zum methodischen Design der Erkundung siehe Abb. 8).
Unterrichtsverfahren
203
204
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Abb. 8:
Methodisches Design der Erkundung
Vorbereitung anaßnahmen des Lehrers/der Lehrerin
Die unienichtliche
Die Durchführung
Die Ausweitung
Vorbereitung
einer Erkundung
der Erkundung
- Langfristige Fertigkeiten
• Kurze Einführung
- Freies Berichten
Absprachen mit dem
(Protokoll. Skizzen. Itter-
- Rundgang
- Sammeln und
Betrieb (Ablauf-, Infar-
viewiechnik u.a.m)
• Beobachtung»-
Zusammentragen
mationsphasen,
- Oberblick und Detail
erledigungen
- Aufbereitung und
Gruppengröüe, Beob-
- Erkundungsauigaben
- Interviews sammeln
achtungBaspekte,
• Eigenversuche
- Arbeitsteiliges
Eigene Informationen
z.B. Brotbacken
-Schwerpunkte)
Systematiaerung - Dokumentation
Erkunden
und Präsentation
- Verabredungen (Verhaltensregeln u.a.m.)
4. Praktikum Das Praktikum (-• 4.6) als Lernveranstaltung geht noch einen Schritt weiter. Über den punktuellen Zugriff hinaus intendiert es das 'Eintauchen' in eine Wirklichkeit zum Zweck intensiveren und lebensnäheren Lernens. Erst der andauernde Praxisbezug sichere wirkliche Erfahrungen und Erkenntnisse, ist die Maxime. Primärerfahrungen statt sekundärer Vermittlung sind die eigentliche Intention. Im unsensationellen Mitmachen "vor Ort" können Anforderungen, Belastungen, Ernstsituationen und reale Arbeitsprozesse am besten kennengelernt werden. Die Schicht einer Krankenschwester ungeschminkt mitzumachen, schafft Erlebnisse, die keine Beschreibung auch nur annähernd vermitteln kann. Freilich muß auch das Praktikum als Lernveranstaltung eine Struktur finden, die zwischen bloßer Arbeitskraftausbeutung und unreflektiertem Eintauchen in fremde Welten Lernen sichert. Abb. 9:
Verlaufsmodell des Praktikums
Vorbereitungsnaßnahmen Die Durchführung des Praktikums als TagesDie unienichtliche Vor-
praktikum. Blockprakti-
bereitung des Praktikums
kum, Hospitation
1 • Absprachen zwischen
i1 r« - Verstellung der Pialaikums-
1
Schulaufracht und Be-
1
1
1
trieben. Eltern
1
1 - Konzipierung der
1
i
Auswertung des
1 - Beobachtungs-
1
1 - Wechselseitiges
1
i
1
|
| - intendierte "Arbeitsplätze"
1
1 - Mitmachaktivitflten
.
| • Ausweitung der
1 - Veneilung nach taeresse
1
|
1
- Verhaltensverabredungoi
1
|
Einsätze
stellen
phasen - selbäändigere Arbeiten
1 Notizen
1 - Systematiaerung und
|
| - Berichts- und
i
' - Sonderatuationeit
1
'
1
|
|
1
1i
i
1
Protokollformen
1 1 1 1 1 1
LemweikaaU z.B.
1 1 1 1
Berichten
|
1
Ergänzung - Dokumentation und
! L
Präsentation
205
Unterrichtsverfahren
Deutlich wird wie bei der Erkundung auch schon, daß das Ablaufschema seine 'didaktische Ladung' nur bekommt, wenn Vorbereitung, Durchfuhrung und Auswertung entsprechend gründlich betrieben werden (vgl. Abb. 9). Die Komplexität der Lernsituation bedarf einer Entsprechung im methodischen Detail, sonst kommt es schnell zu fragwürdigen Unternehmungen. 5. Rollenspiel Das Rollenspiel als Unterrichtsverfahren kann in die Gruppe der Simulationsverfahren eingeordnet werden. Rollen aus sozialen Realitäten (Vater-Sohn, Käufer-Verkäufer, Arbeitnehmer-Arbeitgeber, Bürger-Polizist, Arzt-Patient u.a.m.) werden im Schutz der Spielsituation nachgeahmt, aber auch verändernd erprobt. Die didaktischen Chancen liegen darin, daß in der handlungsorientierten Darstellung (eine konkrete Situation ist zu gestalten) ein Verhalten besser als in der Besprechung wiedergegeben werden kann, daß besser als in der Realität Falsches bzw. Für-falsch-gehaltenes deutlich gemacht werden kann, daß man Alternativen ohne Sanktionen ausprobieren kann. Insofern ist das Rollenspiel eine Möglichkeit, über Anpassungszwänge/Unterwerfungsnotwendigkeiten hinaus im Probehandeln alternative/emanzipatorische Verhaltensrepertoires zu lernen. Damit ist das bloße Imitationsspiel nicht der eigentliche Zielpunkt. Das Rollenspiel ist eher Verhaltenstraining. Sieht man es unter dieser Intention, wird seine methodische Struktur anspruchsvoll (vgl. Abb. 10).
Abb. 10:
Methodische Struktur des Rollenspiels
3 Metflehene
Sinn menschlichen Verhältnis + Zusammenlebens
2. Metaebene
Verwendete Darstellungs- und Aktionsmodi ?
1. Metaebene
Wo ist das Problem ?
Spiel ebene
Motivation und Planung - Anlässe • Probleme - Rollen - Szenen
->
I 3 >
Wie wird es
Sind unsere Intentionen
gelöst/bearbeitet ?
realisiert worden ?
Aktionsphase
Reflexionsphase
Durchführung des Spiels, Realisation der Szene
- Analyse und Bewertung der Szene, der Rollen - Spiel Varianten - Verhaltensaltemativen
206
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Man kann aus dem Strukturschema erkennen, daß über das reine Spielen hinaus das Grundanliegen zwischenmenschlicher Kommunikation im Prinzip in allen denkbaren Situationen thematisiert werden kann. Insofern ist das Rollenspiel ein Unterrichtsverfahren, das primär auf Prozesse sozialen Lernens abzielt (vgl. Bönsch 1994). 3.2.2.3 Ansätze einer Autodidaktik Unterrichtsverfahren sind im Prinzip Anregungsstrukturen für das Lernen von Individuen. Nur im glücklichen und seltenen Fall werden Unterricht und individuelles Lernen synchron laufen. Das bedeutet, daß es zu den zentralen Anliegen von Unterricht gehört, im Sinne einer Autodidaktik (Organisation des eigenverantwortlichen und selbständigen Lernens) Lernstrategien und Lern- und Arbeitstechniken zu vermitteln, die es ermöglichen, das Lernen zunehmend in die eigene Hand zu nehmen. Das sog. dritte Curriculum (das Lernen lehren) muß neben das erste (die Unterrichtsinhalte) und das zweite (der heimliche Lehrplan der Regeln und Routinen, Konventionen und Disziplinierungen) treten. Bei dem gegenwärtigen Stand der didaktischen Diskussion kann man zwei Ansätze benennen. 1. Metaunterricht Metaunterricht meint die Bemühungen, Unterricht in seinen Ansprüchen transparent und nachvollziehbar zu machen sowie ein eigenständiges Verhältnis zu den Anforderungen und gewährten Freiheiten zu entwickeln. Wenn die Planung aufgedeckt wird, kann man sie mittragen oder auch Alternativen entwickeln. Wenn Verfahren transparent sind, kann man sich auf sie einstellen. Wenn Leistungskontrollen angesagt und im Anspruch definiert werden, kann man sich selbständig darauf vorbereiten. Wenn man Unterricht als die zentrale Handlungsebene ansieht, bedeutet die Explikation der Metaebene die ständig mögliche Reflexion und Mitgestaltung der Lernarbeit. 2. Lernstrategien Die Entwicklung von Lernstrategien (Lernen beim Zuhören, Lernen im Gespräch, Projektlernen, Fehlerminimierung, Schüler helfen Schülern, planvoll üben und wiederholen u.a.m.) bedeutet für den Lernenden, ein Repertoire in die Hand zu bekommen, mit dem er aus der Lageorientierung (ich bin ein Versager) herauskommt zu einer Handlungsorientierung (ich will mal sehen, ob ich das nicht
Unterrichtsverfahren
207
packe!) hin, die für sein Selbstkonzept von außerordentlicher Bedeutung ist (näheres siehe bei Bönsch 1993).
Zitierte Literatur BECKER, Georg E. (19936): Durchführung von Unterricht. Weinheim Basel. BÖNSCH, Manfred (19933): Schüler aktivieren. Hannover. BÖNSCH, Manfred (1994): Soziales Lernen in der Schule. Weinheim. BÖNSCH, Manfred (19952): Variable Lernwege. Paderborn. DUNCKER, Karl (1966): Zur Psychologie des produktiven Denkens. Berlin, Heidelberg, New York. HEIMANN, Paul/OTTO, Gunter/SCHULZ, Wolfgang (1965): Unterricht Analyse und Planung. Hannover. MEYER, Hilbert (1987): Unterrichtsmethoden. 2. Bde. Frankfurt/M.. SCHOLZ, Franz (1980): Problemlösender Unterricht. Essen.
Weiterführende Literatur BÖNSCH, Manfred (1986): Unterrichtskonzepte,. Baltmannsweiler. EINSIEDLER, Wolfgang (1981): Lehrmethoden. München. MEYER, Hilbert (1987): Unterrichtsmethoden. 2. Bde. Frankfurt/M.. TERHART, Ewald (1989): Lehr-Lern-Methoden. Weinheim.
3.3
Unterrichtsplanung, -durchführung und -kontrolle Manfred Bönsch
3.3.1
Definition von Unterricht
209
3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4
Unterrichtskonzepte Die Vermittlung Das Arrangement Die Programmierung Kommunikatives und offenes Lernen
210 210 210 211 211
3.3.3
Die Planung von Unterricht
212
3.3.4
Die Durchführung von Unterricht
218
3.3.5 3.3.5.1 3.3.5.2 3.3.5.3 3.3.5.4
Kontrolle des Unterrichts (Unterrichtsanalyse) Planungsadäquanz Effektivitätskontrollen Befindlichkeitsrückmeldungen Inhaltsanalyse
220 220 221 223 224
3.3.6
Schluß
225
Zitierte Literatur
226
Weiterfuhrende Literatur
226
3.3.1
Definition von Unterricht
Unterricht ist eine Veranstaltung, die bei Lernenden Lernen bewirken soll (-• 2.2.2). Diese Definition ist für die folgenden Ausfuhrungen quasi der archimedische Punkt. Sie bedeutet, daß alle Planungs-, Realisierungs- und Überprüfungsaktivitäten darauf abgestellt sein müssen, Lernen bei Individuen zu initiieren, zu steuern und den Erfolg festzustellen. Ausgeschlossen sind Auffassungen, nach denen es primär um die Vermittlung von Unterrichtsinhalten geht oder nach denen sich ein Lehrender "produziert". Alle Bemühungen der Vermittlung (inhalts- oder personenorientiert) gewinnen ihre Legitimation nur in bezug auf die damit realisierten Lernprozesse.
210
3.3.2
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Unterrichtskonzepte
3.3.2.1 Die Vermittlung Da der Mensch wesenhaft darauf angelegt ist, lernen zu müssen, um existieren zu können, finden wir überall, wo Menschen miteinander leben, die Lehre. Ältere, Fähigere übernehmen es, den "Nachwuchs' fähig zu machen, das Leben zu meistern. Der Könner, der Wissende, der Meister übernimmt die Lehrfunktion. "Er hilft dem Lernenden durch Vormachen oder Zeigen, durch eine Belehrung, die der Augenblick erfordert, oder durch klärende Antworten auf Fragen; das sind die Grundformen der Lehre". Wenn der Meister die Rolle des 'Vermittlers' oder die des 'guten Beispiels' übernimmt, haben wir ein erstes Verständnis des Lehrens gefunden: Etwas Vorgegebenes ist weiterzugeben. Diese Vorstellung impliziert die Auffassung vom Lehrenden als dem Wissenden, die Auffassung vom Lehren als dem Weitergeben, dem Vermitteln des systematisch Geordneten. Wir können diese Lehrtätigkeiten rubrizieren mit dem Begriff der 'systematischen Informationsdarbietung', mit dem folgendes Verständnis vom Lernen korrespondiert: Lernen heißt übernehmen, nachmachen, einprägen. Das Vortragen, Vormachen, Vorfuhren sind die drei Grundformen (->3.2.1.1). 3.3.2.2 Das Arrangement Eine andere Auffassung von Lehren ergibt sich, wenn Lernen auch heißen kann: Auseinandersetzen mit Sachverhalten, Versuchen, Probieren, Nachentdecken und Nacherfinden, Selbst-Erarbeiten, wenn der Einsatz von Medien (Film, Funk, Fernsehen, Schallplatten, Bücher, Programme usw.) den Lehrer weitgehend von der Aufgabe des Informators entlasten kann. Vorrangig hat der Lehrer dann die Funktionen des Lernplaners, des Dramaturgs, des Moderators, des Arrangeurs, des Kommunikators wahrzunehmen. Dynamische und variabel organisierte Unterrichtsprozesse, in denen Informationen, Problemstellungen, Sachimpulse, Vorhaben, operative Unterrichtsteile (der Versuch, die Erkundung, der Umgang mit etwas, Lernspiele, Sachbegegnungen, Mediendarstellungen), dramatisierende Lernaufgaben (sprachliche und szenische) vorkommen, provozieren Lernaktivitäten mannigfacher Art.
Unterrichtsplanung, -durchfuhrung und -kontrolle
211
3.3.2.3 Die Programmierung Mit der Erörterung von Programmen sind wir bei einer Unterrichtsstruktur, die zielerreichendes Lernen für alle sicherstellen möchte. Es gilt im folgenden, diese etwas allgemeiner zu zeichnen. Die psychologische oder allgemeine anthropologische Grundannahme ist, daß etwa 90 % aller Schüler die gesteckten Lernziele erreichen würden, wenn der Unterricht nur entsprechend anregend, variabel und einfallsreich gestaltet wäre. Die Objektivierung des Lernens kann durch die Beachtung des Absicht-Weg-Mittel-Zusammenhanges (vgl. Flechsig 1969) vorangetrieben werden. Die Programmierung des Lernens oder die Entwicklung von Lehralgorithmen sind zur Verfügung stehende Methoden. Die Programmierung ist bekannt. Als Algorithmus ist eine genaue Reihenfolge von Operationen anzusehen, die es ermöglicht, alle Aufgaben eines bestimmten Typus zu lösen. 3.3.2.4 Kommunikatives und offenes Lernen Kommunikative Didaktik, die den Sinn für Lernbemühungen in der Lerngemeinschaft begründet sehen möchte, die Verabredung, Interessen- und Bedürfnisartikulation zu Ausgangspunkten schulischen Lernens macht, über den Lehrer das gesellschaftlich Notwendige einbringt und dann die Planung, Durchführung und Auswertung allgemeiner individueller Lernprozesse zum Anliegen der jeweils Beteiligten macht, muß Didaktik zunächst als Planungsdidaktik verstehen. Gesichtspunkte einer Planungsdidaktik sind: - Ein Kreis von Lehrenden und Lernenden schafft sich Modelle der Zusammenarbeit, nach der die Tagesarbeit bedacht, geplant, durchgeführt und ausgewertet werden kann. - Ist mit Modellen der Zusammenarbeit von allem der Stil der Kommunikation und der Kooperation gemeint, müssen in der jeweiligen Schule brauchbare Organisationsrahmen geschaffen werden, da Lernen als kommunikatives Geschehen sonst schnell an institutionelle Grenzen stößt. - Noch wichtiger wird die gemeinsame Entwicklung von Bedürfnissen und Interessen sein, die zudem in Übereinstimmung mit über die amtlichen Richtlinien vermittelten gesellschaftlichen Anforderungen gebracht werden müssen. Im Idealfall entsteht ein gemeinsames Problembewußtsein, um daraus die Planungsintentionen zu gewinnen.
212
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
- Die Erarbeitung von Curricula als Verbindung von verordneten und selbstgefundenen Intentionen und Inhalten wäre ein nächster Schritt, der natürlich zeitintensiv ist. - Konkrete Planung einzelner Unterrichtsvorhaben und Lernsequenzen, Verabredung in kleineren Gruppen wären nächste Schritte, die Schülern ermöglicht werden müßten im Rahmen planungsdidaktischer Bemühungen. - Die Vermittlung der Fähigkeit, einen selbst aufgestellten Plan konsequent zu verfolgen, auch wenn dies Mühe bereitet, die kommunikative Kompetenz zur Sicherung gemeinsamer Arbeit wären weitere zu schaffende Voraussetzungen. - Schließlich ginge es um die selbstgesteuerte Lernarbeit mit all ihren unsensationellen Seiten und schlichten Mühen. Diese sich abwechslungsreich zu machen und sie konsequent zu verfolgen, muß wohl auch gelernt werden.
3.3.3
Die Planung von Unterricht
Unterrichtstheorie wird zur Lerntheorie selbst, wenn es unmittelbar um die Lernplanung geht. Ohne Frage ist eine der wichtigen Aufgaben der öffentlichen Schule, Lernen so zu organisieren, daß es effektiv ist, das heißt, daß es in kürzester Zeit die größte Änderung im Schülerverhalten erreicht. Die Mehrzahl der vorhandenen Unterrichtslehren beachtet diese Aufgabe wenig oder gar nicht. In Anlehnung an Gagné läßt sich für eine moderne Unterrichtstheorie das Entscheidungssystem in Abb. 1 aufstellen (vgl. Abb. 1). Die öffentliche Schule einer demokratischen Leistungsgesellschaft muß von dieser ihre Ziele bekommen. Die Curriculumentwicklung wird Strategien zu entwickeln haben, um die notwendigen Qualifikationen für eine Lebensbewältigung festzustellen, andererseits aber auch Erziehungsziele eben dieser Gesellschaft zu artikulieren, die gegen bestimmte Trends gerichtet sind und zu einer Veränderung gegenwärtiger Verhältnisse fuhren sollen. Auf keinen Fall kann sich Schule als autonomer Raum verstehen, in dem der einzelne Lehrer seinen mehr oder weniger zufälligen pädagogischen Überzeugungen huldigt. Die Schule ist ein Dienstleistungsbetrieb mit dem Auftrag, gesellschaftliche Zielvorstellungen in eine entsprechende Schulwirklichkeit umzusetzen.
Unterrichtsplanung, -durchfuhrung und -kontrolle
Abb. 1:
213
Entscheidungssystem für die Planung und Durchführung von Unterricht
Quelle: Gagné 1970
Gagné hat uns auf die Lernstruktur der Lernbereiche (Unterrichtsfächer oder überfachliche Lernbereiche) und ihre entsprechende Berücksichtigung bei der Organisation des Lernens aufmerksam gemacht. Auskünfte über die Könnens- und Kenntnishierarchien der
214
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
einzelnen Fächer schulden uns die Fachdidaktiker noch weitgehend. Nach ihrer Feststellung und der Voraussetzungsprüfung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, geht es um die Lernplanung im engeren Sinne. Zu den skizzierten Schritten einige Ausfuhrungen: * Zur Formulierung der Lernziele Das von den Berliner Didaktikern (vgl. Heimann u.a. 1970) klar hervorgehobene Strukturmoment 'Intentionalität' hat die Frage nach den Zielen des Unterrichts zwar berücksichtigt, aber doch in zweierlei Hinsicht in einem vorläufigen Stadium der Klärung belassen. Schulz geht es um die Intentionen, die der Unterrichtende verfolgt (vgl. Schulz 1970). Mager hat uns demgegenüber einen entscheidenen Schritt weitergebracht, indem er nicht die Intentionen des Lehrenden formulieren will, sondern die Lernziele für die Lernenden (Mager 1969). Und diese müssen folgende Bedingungen erfüllen: 1. Ein Lernziel soll das gewünschte Endverhalten beschreiben in der Weise, daß es sagt, was der Lernende tun muß, um zu zeigen, daß er das Lernziel erreicht hat. 2. Zusätzlich sind die Bedingungen anzugeben, unter denen das Verhalten geäußert werden soll (was dem Lernenden zur Verfugung gestellt wird und/oder was er nicht benutzen darf und welche anderen Einschränkungen gelten). 3. Schließlich ist der Beurteilungsmaßstab für das als ausreichend bezeichnete Verhalten anzugeben (zeitliche Begrenzung für eine Leistung; Mindestzahl von Antworten). Die Strenge der Forderung nach der Formulierung solcher Lernziele wird den Unterricht ganz allgemein auf ein neues Niveau der durch Rationalität bestimmten Planung heben. Darüber ist man sich schnell klar, sobald man selbst einige Versuche in dieser Richtung unternommen hat. Parallel dazu wird es dann aber auch notwendig, die Ziele in einen Zusammenhang, und das ist die Lernstruktur einzelner Lernbereiche, zu bringen, damit sinnvoll vorgegangen werden kann. Das von Schulz vorgestellte Schema der Intentionen (gegenüber der ersten Tabelle der Ordnungsbegriffe verbessert) gibt eine Hierarchie der Intentionen wieder, die, abgehoben von jedem konkreten Lernbereich und begrifflich durchaus nicht eindeutig entwik-
Unterrichtsplanung, -durchführung und -kontrolle .
215
kelt, gegenüber den Ansätzen von Gagné entscheidende Nachteile hat. * Motivation der Lernenden Die nächsten Überlegungen gehen den Weg weiter, Unterricht immer von dem zu initiierenden Lernen her zu sehen. So erscheint es gut, nicht nur von den möglichen Anfangssituationen her den Beginn des Lernens gestalten zu wollen, sondern unter dem Gesichtspunkt der Motivation des Lernenden. Wenn man die bloß unterrichtstechnische Betrachtung durch die Beachtung der Motivation ersetzt, wird der Sachverhalt außerordentlich komplex. Mit Motivation meint man alle Bedingungen, welche die Aktivität eines Organismus ankurbeln und die Variation dieser Aktivität nach Richtung, Quantität und Intensität bestimmen. So wie die Motivation als Schlüsselproblem des schulischen Lernens aufgefaßt werden kann, so ist sie ebenso eine Bedingung wie auch die Folge eines Lernens. Diese Feststellung ist außerordentlich bedeutsam für den Lehrer im Schulalltag. Angesichts der ungeheuren Zahl von Unterrichtsstunden und einem häufig mit zunehmender Schulzeit abnehmenden Interesse am Unterricht müßte er verzweifeln, wenn es nicht Möglichkeiten gäbe, Motivation zu lernen. Skowronek hat neben den sog. extrinsischen Motivierungen (Lob und Strafe, Streben nach guten Noten, Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, Vermeidung von sozialer Mißbilligung usw.) besonders die sog. intrinsische Motivation betont und dabei die Grundmöglichkeiten Berlynes referiert (vgl. Skowronek 1969; Skowronek 1970). Wichtig ist, daß es gelingt, die Komplexität der Bedingungsfaktoren zu analysieren (positives Eltern-Kinder-Verhältnis, der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Leistungsmotivation, zwischen Lernmotivation und Schulerfahrungen, zwischen Lernbereitschaft und Rollenvorstellungen, das Zusammenwirken von überdauernder Motivation und situativen, aktuellen Anregungen). Dieses Bemühen führt immer wieder zu den sozio-kulturellen und individuellen Voraussetzungen jeden Unterrichts. * Auswahl der dem Lernziel, der Lernart und den Lernenden entsprechenden Lernbedingungen und Lernhilfen Ältere Unterrichtslehren meinen mit der Festlegung des Unterrichtsverlaufs und dem Einsatz von Medien das, was die Berliner Didaktik mit den Strukturmomenten 'Methodik' und 'Medien' bezeichnet, und
216
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
was unter Berücksichtigung lernpsychologischer Befunde exakter die Auswahl der dem Lernziel, der Lernart und den Lernenden entsprechenden Lernbedingungen und -hilfen genannt werden sollte. Lernziel und Lernart determinieren die Lernbedingungen (die Unterrichtsgestaltung). Reiz-Reaktions-Lernen und sprachliche Kettenbildungen erfordern eine andere Unterrichtssituation als das Regellernen und das Problemlösen. Das bedeutet nichts anderes, als daß in Zukunft die Kapitel 'Methodik' und 'Medien' von Unterrichtslehren nicht mehr in verallgemeinert-systematisierender Weise dargestellt werden können. Sie müssen in den von Flechsig geforderten Zusammenhang von Absicht und Mitteln zurückgeholt werden. Mit dem Verständnis des Lernens werden wir uns auch von dem immer noch überwiegend praktizierten Frontalunterricht lösen können und die Lemberatung (tutoring session) als eine Hauptaufgabe des Lehrers ansehen können. Individuelles Lernen mit Hülfe von Programmen und Arbeitsmittelsystemen, Partner- und Gruppenarbeiten werden stärker in Erscheinung treten können. * Die Überprüfung der unmittelbaren Lernergebnisse Zur Lenkung des Lernens gehört die Überprüfung der erlernten Fähigkeiten. Zum einen stellt eine richtig durchgeführte Überprüfung eine wichtige Quelle von Rückmeldung für den Lernenden dar und ist deshalb sehr eng mit dem Lernprozeß selbst verbunden. Zum anderen bedeutet die Nötigung, einen systematischen Unterrichtsgang zu planen, in dem verschiedene Leistungen aufeinander aufbauen, daß die Aneignung jeder Leistungsform sorgfältig überprüft sein muß, bevor der Lernende den nächsten Schritt tut. Überprüfung der unmittelbaren Lernergebnisse heißt dabei, daß ein Test das Maß feststellt, mit dem der Lernende das definierte Ziel, von dem die Unterrichtsplanung ausging, erreicht hat. Sog. kriteriumsbezogene Tests müssen also im Unterschied zu sog. normbezogenen Tests entwickelt werden. Letzteren geht es nur um die Feststellung der Streuung von Werten in einer Testgruppe, um das Ausmaß individueller Unterschiede. Entgegen einer langen Tradition sollte es also in Zukunft bei Lernüberprüfungen darum gehen, die Leistung eines einzelnen Schülers mit dem Maßstab zu vergleichen, der das definierte Lernziel repräsentiert. Negative Ergebnisse fuhren nicht zu einer schlech-
Unterrichtsplanung, -durchfïihrung und -kontrolle
217
ten Bewertung, sondern zu der Aufforderung, in demselben Gebiet weiterzulernen, bevor fortgeschritten wird. * Der Transfer von Wissen und die Überprüfung der Generalisierbarkeit von Wissen Erworbenes Wissen muß genutzt werden, wenn es nicht wieder verloren gehen soll. Geht es in einer ersten Stufe um Einüben und Einprägen und dem Zur-Verfugung-Stellen des Gelernten, muß der Unterricht dann den Transfer lehren. Neue Situationen und Aufgaben müssen die Schüler zur Anwendung von Gesetzen, Regeln, Fertigkeiten, Wissen veranlassen. In Diskussionen, Problemlösungsaufgaben können Beziehungen zwischen verschiedenen Wissenskategorien geknüpft werden. Die Lernplanung muß auf mehrfache Weise dieser Aufgabe der Sicherung von Lernergebnissen und des Transfers von Gelerntem zu entsprechen versuchen: In der Verfolgung einer systematisch aufgebauten Lernzielreihe werden die 'einfachen' Lernergebnisse immer die Voraussetzung für komplexere Lernaufgaben sein. Verschiedene Formen immanenter Wiederholung sichern den Bestand erworbenen Könnens und Wissens. Spezielle Veranstaltungen können auf dritte Weise diesem Anliegen dienen. Gagné fordert auch hier wieder die Überprüfung der Generalisierbarkeit des Wissens. Und er verweist auf die von Bloom und seinen Mitarbeitern entwickelte Methode der Messung des Kenntnistransfers. Dabei kann man die Breite der Generalisierbarkeit einer erlernten Regel z.B. prüfen oder man prüft, ob der Schüler neue Regeln höherer Ordnung bilden kann. Für beide Wege haben Bloom und seine Mitarbeiter auf Kenntnisübertragung bezogene Lernziele unter folgenden Überschriften entwickelt: Begreifen, Anwenden, Analyse, Synthese und Bewertung. Jede dieser Arten von Generalisierbarkeit ist definiert und für jede sind TestItems angeführt (vgl. Bloom u.a. 1956). Während die vorstehenden Ausfuhrungen sich konsequent auf einen lernzielorientierten Unterricht beziehen - dies ist für die große Zahl von Unterrichtsstunden auch das entsprechende Planungsschema -, so stellt sich für den sog. offenen Unterricht, der sich stärker an den Interessen von Lernenden orientiert, der Planungsansatz anders dar (vgl. Abb. 2). Hierauf kann hier aus Raumgründen nicht näher eingegangen werden.
218
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Abb. 2:
Planungsschema für offenen Unterricht
3.3.4
Die Durchführung von Unterricht
Die Durchfuhrung von Unterricht hat sich prinzipiell am vollständigen Lernprozeß zu orientieren, wie er aus der Lernpsychologie vorgegeben wird (vgl. Abb. 3 und Abb. 4).
Abb. 3:
Ganzheitlicher Lernprozeß
Unterrichtsplanung, -durchfuhrung und -kontrolle
Abb. 4:
219
Unterrichtliche Umsetzung des ganzheitlichen Lernprozesses
Eingangs phase
Erarbeitun g sphase
Sicherungsphase
Motivation
Nichtwissen > Erarbeiten
Behalten
- überdauernde
Nichtverstehen > Erklären
Üben
Motiviertheit
Nichtkönnen > Probieren
Anwenden
Nichtakzept. > Liberzeugen
Ubertragen
- Situative Anregungen
Ausüben
(Medien, Probleme u.a.m.)
Das in Abb. 4 enthaltene Grundschema kann vielerlei Variationen je nach verfolgtem Unterrichtskonzept haben (vgl. Abb. 5 bis Abb. 8).
Abb. 5:
Phasen des lernzielorientierten Unterrichts
Abb. 6:
Phasen des problemorientierten Unterrichts
Problemstellung
Problemlösungs-
Problemlösung
versuche Analyse eines Sach-
Probieren
Ergebnisfindung
verhaltes, Herstellung
Interpretieren
genauere Kenntnis
eines Gegenstandes,
Operieren
Produkt
Vollzug einer Fertig-
Experimentieren
Können
keit, Bewältigung
Herstellen u.a.m.
Handeln
einer Situation u.a.m.
Abb. 7:
Phasen des 'wahldifferenzierten Unterrichts'
Strukturiemngsphase
- Gnmdiiiformationen - Ausgliederung von Teilthemen - Arbeitsvorschläge
Di fferenzierungsphase Wahlphase
Arbeitsphase
- Teilthemen
- Arbeitsplan
wählen - Gruppen bilden Arbeitsmöglichkeiten erörtern
erstellen
Vermittlungs- und Reflexionsphase - Ergebnisse den anderen vorstellen
- Bearbeitung
- Gesamtergebnisse finden
- Ergebnis-
- Reflexion der Arbeit
findung
(Intensität, Kooperation...)
220
Abb. 8:
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Phasen des projektorientierten Unterrichts
Man kann erkennen, daß die zentralen Anliegen der Lernprozeßgestaltung immer wiederkehren, daß sie je nach Unterrichtskonzept unterschiedliche 'didaktische Ladungen' bekommen. Die Lehraktivitäten wie die Lernmöglichkeiten ergeben sich nach der jeweiligen Vorlaufskonfiguration. Im stark lehrerorientierten Unterricht sind Lehraktivitäten des Vortragens, Vormachens, Vorführens, der Lenkung und Steuerung, auch der Disziplinierung häufiger. Bei eher schülerorientiertem Unterricht sind Lehraktivitäten des Vorschlagens, Beratens, Strukturierens, Informierens, Helfens stärker gefragt. Die Lernmöglichkeiten und damit auch Lernchancen variieren von der Rezeption des Vermittelten bis zur eigenständigen Erarbeitung. Die Beziehungsdimension changiert entsprechend: vom Ruhigsitzen und Zuhören bis zu vielfältigen Aktivitäten des Kommunizierens und Kooperierens.
3.3.5
Kontrolle des Unterrichts (Unterrichtsanalyse)
Eine vernachlässigte Dimension der Unterrichtsgestaltung ist die Kontrolle des Unterrichts. Sie ist hier nicht nur als Leistungsbeurteilung gemeint. Vier Punkte seien dazu ausgeführt. 3.3.5.1 Planungsadäquanz Für den Lehrer bzw. die Lehrerin ist der Vergleich von Planung und Realisierung ein wichtiger Analysepunkt. Wenn man die Planung als das "wünschenswerte Soll" ansieht, ist es nach jeder Unterrichtsstunde interessant zu fragen: Was hat die entsprechende Realisierung verhindert, warum sind welche Phasen anders gelaufen, wo war die Planung an den Schülerinnen und Schülern vorbeikonzipiert und warum? Die Antworten sind für den weiteren Unterricht wichtig-
Unterrichtsplanung, -durchführung und -kontrolle
221
3.3.5.2 Effektivitätskontrollen Da Unterricht zu Lernerfolgen fuhren will, sind Lernerfolgskontrollen wichtig, um genauer festzustellen, ob die Unterrichts-/Lernziele erreicht worden sind oder nicht. Aber das Problem ist komplexer! Eine unmittelbare Folge diffuser oder überhaupt fehlender Zielvorstellungen ist die inzwischen nicht mehr nur in Fachkreisen diskutierte Unzulänglichkeit der Leistungsmessung und -beurteilung in der Schule. Man denke an die Aufsatzbeurteilung! Ein und derselbe Aufsatz wird von verschiedenen Lehrern unter Umständen mit den Noten 'sehr gut' bis 'ungenügend' beurteilt, die herkömmlichen Klassenarbeiten haben häufig nur einen losen, jedenfalls nicht genau belegbaren Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Unterricht. Ein ganzes Bündel von verfälschenden Faktoren bestimmt die herkömmliche schulische Leistungsmessung und -beurteilung. Wenn die Schule nach wie vor Berechtigungen vergeben muß und wenn das, was der Einzelne in der Schule leistet, als Kriterium für diese Berechtigung herangezogen werden soll, müssen exakt zu beschreibende Leistungen erreicht werden können, dürfen leistungsfremde Gesichtspunkte das Ergebnis der Leistungsprüfungen so wenig wie möglich beeinflussen. Je mehr also auf Leistung als Kriterium für die Bewertung des Schülers und somit für die Vergabe von Berechtigungen Wert gelegt wird, desto mehr muß das Interesse an objektivierten Verfahren zur Leistungskontrolle steigen. Volloperationalisierte Lernziele bilden nun eine ausgezeichnete Hilfe für objektivierte Leistungsmessungen, da sie in operationalisierter Form das geforderte Verfahren mit der Angabe des Bewertungsmaßstabes exakt benennen. An einem Beispiel soll das einmal schrittweise erläutert werden. Mager sagt: - Mit einem Lernziel wird das beabsichtigte Ergebnis beschrieben. - Ein Lernziel ist in dem Maße brauchbar, wie es dem Leser das erwartete Endverhalten beschreibt oder definiert. - Das Endverhalten ist definiert durch die Bestimmung und Bezeichnung des beobachtbaren Verhaltens, das als Zeichen dafür gelten kann, daß der Lernende das Lernziel erreicht hat; durch die Bedingungen, unter denen das Verhalten geäußert werden soll (was wird dem Lernenden zur Verfügung gestellt, was darf er, was darf er nicht benutzen usw.); durch den Beurteilungsmaßstab für das als ausreichend geltende Verhalten.
222
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Das folgende Beispiel zeigt die schrittweise Berücksichtigung der Magerschen Kriterien bei einer Lernzielformulierung: 1. Die Schüler sollen das schriftliche Malnehmen lernen. Hier ist wohl eine Zielangabe gemacht, aber es ist nichts hinsichtlich der drei Magerschen Kriterien gesagt. 2. Die Aufgabe der Art 1635 x 346 = ? ausrechnen können. Nun wird schon deutlich, welcher Art die Aufgaben sein sollen. Am Ergebnis, das mir ein Schüler vorlegt, kann ich erkennen, ob er das Lernziel erreicht hat, es fehlen aber noch die Angaben der Bedingungen und des Beurteilungsmaßstabes. 3. Die Schüler sollen fünf Aufgaben von der Art 1635 x 346 = ? in zehn Minuten ausrechnen können. Das Lernziel gilt als erreicht, wenn die Schüler fünf Aufgaben der angegebenen Art in der angegebenen Zeit ausrechnen können. Der Beurteilungsmaßstab ist durch Aufgabenart und -zahl wie Lösungszeit fixiert. Nun ist noch eine Präzisierung notwendig. 4. Jeder Schüler soll fünf Aufgaben von der Art "1636 x 346 = ? in zehn Minuten allein ausrechnen können. Partnerarbeit oder die Benutzung irgendwelcher Hilfsmittel (z.B. Einmaleinstabelle) sind nicht zulässig. Jetzt sind auch die Bedingungen genannt; man kann von einem volloperationalisierten Lernziel sprechen. Zurück zum Thema! Wenn es gelingt, die Intentionen, die man als Lehrer hat, in einem Kanon von operationalisierten Lernzielen zu beschreiben, hat man praktisch auch den Schritt zur objektivierten Leistungsmessung vollzogen; hat man einen informellen Test (IT) konstruiert. Unter einem informellen Test (Lehrertest, classroom test, teacher made test) verstehen wir eine nach bestimmten Kriterien auf objektive Auswertbarkeit angelegte Probearbeit für ausgewählte Gebiete eines Unterrichtsfaches mit definierter Zielsetzung. Die Testkonstruktion ist ein integraler Bestandteil der Unterrichtsantizipation. Unter dem Gesichtspunkt lernzielorientierten Unterrichts könnte man auch schlichter von Lernerfolgskontrollen sprechen. In der Regel wird man die operationalisierten Lernziele in einen entsprechenden Aufgabenkanon umsetzen müssen. Beim obigen Beispiel wären die Aufgaben aufzuführen, vielleicht könnte man acht oder zehn angeben, um noch eine Auswahl zuzulassen. Bei schülerorientierten Unterrichts- und Lernkonzepten stellen sich Lernerfolgs-ZEffektivitätskontrollen noch ganz anders dar. Sie müssen sich auf Leistungen beziehen, die in den herkömmlichen Ra-
Unterrichtsplanung, -durchfuhrung und -kontrolle
223
stern gar nicht auftauchen. Auch dies sei an einem Beispiel aufgezeigt (vgl. Abb. 9).
Abb. 9:
Beispiel einer Lernerfolgs-/Effektivitätskontrolle bei schülerorientiertem Unterricht
Kriterien Aufgabenerledigung bei vorgegebenen Aufgaben PlanungstAtigkeiten Initiativsein (Phantasie entwickeln) Strukturieren
sehr gut
Beurteilungsgesichtspunkte mittelstark entwickelt
schwach vorhanden
Plan entwickeln Realisierungsaktivitäten Arbeiten nach Plan (Planeinhaltung) Zeitorientiening Kooperationskompetenzen Helfen Vermitteln in schwierigen sozialen Situationen Austausch Ausführen Herstellen Arbeitstechniken einsetzen Produktaualitäten Arbeitsergebnis sichern Qualität des Arbeitsproduktes Vorstellung vor anderen
3.3.5.3 Befindlichkeitsrückmeldungen In der konventionellen Didaktik ist die Beziehungsdimension in aller Regel vernachlässigt worden. Befindlichkeiten von Schülern (Angst, Spaß, Streß, Außenseiterdasein, Anerkennung, Wahrgenommenwerden u.a.m.) spielen dann keine große Rolle, da die Inhalts- und die Verlaufsdimension von Unterricht im Vordergrund stehen. Das ist bis heute ein Didaktikproblem. Da aber jeder nur insoweit erfolgreich wird lernen können, als er seine individuellen Befindlichkeiten und sozialen Resonanzen in bezug auf seine Person positiv gestalten
224
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
kann bzw. entsprechende Hilfen dafür bekommt, sind Befindlichkeitsrückmeldungen für einen erfolgreichen Unterricht sehr wichtig. Eine Möglichkeit ist in Abb. 10 angegeben (vgl. Abb. 10).
Abb. 10:
Beziehungsqualitäten des Unterrichts gut
mittel
schlecht
1. Wie fühle ich mich in der Gruppe/Klasse? 2. Wie weit waren die Ziele heute klar? 3. Wie arbeitete die Gruppe/Klasse? 4. Wird nur über Sachinhalte gearbeitet oder wird auch etwas für die Beziehungen getan? 5. Sind die Mitglieder nur darauf aus, Punkte für sich zu sammeln? 6. Werden abweichende Ansichten genügend gehört? 7. Fühle ich mich der Mehrzahl der Teilnehmer gegenüber frei und offen? 8. Kann ich mich mit der Gruppe/Klasse identifizieren? 9. Bekam ich Hilfe, wie ich sie gebraucht hätte? 10. Welche Mitwirkung war mir in der Gruppe/Klasse heute möglich? 11. Was halte ich im Augenblick von der Gruppe/Klasse? 12. Wie geht der Lehrer/die Lehrerin mit der Gruppe/Klasse um?
3.3.5.4 Inhaltsanalyse Aufgrund differenzierter Entwicklungen in der Methodik des Unterrichts ist ein Problem aufgetaucht, das in der allgemeindidaktischen Diskussion noch wenig beachtet wird: Ist die systematische Vermittlung von Inhalten gesichert oder lernt eine Schülerin oder ein Schüler im Laufe der Schuljahre viele Details, aber keine Strukturen? Welche Inhaltsbereiche treten auf, welche nicht? Wie ist die Informationsdichte von Unterricht? Welches sind die expliziten (die offiziell behandelten) Inhaltsklassen, wie steht es mit den sog. im-
Unterrichtsplanung, -durchfüihrung und -kontrolle
225
pliziten Inhalten (mittransportierte Inhalte, etwa über Geschlechterrollen, die "normale" Familie u.a.m.)? Wie steht es mit dem Informationswert von Unterricht und dem Zeitaufwand für die Bearbeitung von Inhalten? Der Sinn von Unterricht hängt von einer positiven Beantwortung der Fragen ab. Auf der Seite der Lernenden hängt der Lernerfolg weitgehend von der Beantwortung der Fragen ab. Einmal betrifft dies den Lerngewinn (was habe ich heute mitgenommen?), zum anderen hängt der Schwierigkeitsgrad von Unterricht stark von den Antworten ab: Werden zu viele Informationen gegeben, wird irgendwann die Speicherung schwierig. Verlangt der Unterricht zu hohe kognitive Leistungen, steigt die Gefahr der Überforderung. Die Art der Vermittlung bzw. selbständigen Aneignung steht in einer unmittelbaren Wechselwirkung mit der Struktur und Dichte der Informationen. Die Kontrolle des Unterrichts unter diesen Fragestellungen ist ein dringendes Desiderat der Unterrichtsanalyse. Der Sachverhalt verkompliziert sich noch dadurch, daß man für Unterricht zwischen der sog. Objektsprache, der Verständigungssprache und dem Sprechen über Unterricht unterscheiden muß: Die Objektsprache dient der Kommunikation zwischen Lehrerin oder Lehrer und Schülerin oder Schüler über den Unterrichtsgegenstand. Die Verständigungssprache ist eine Metasprache, die benutzt wird, über das Unterrichtsverhalten zu sprechen, das objektbezogene Sprechen zu begründen und zu erläutern. Das Sprechen über Unterricht konstituiert eine weitere Metaebene, auf der über die Veranstaltung 'Unterricht' in ihrem Sinn und in ihrer Gesamtanlage gesprochen wird. Dies ist vielleicht die bisher am wenigsten genutzte Ebene. Wie kompliziert diese Thematik ist, sei an dem Strategieschema in Abb. 11 aufgezeigt (vgl. Abb. 11).
3.3.6
Schluß
Die wissenschaftliche Literatur über Unterricht ist Legion! Konzepte liegen in beachtlicher Variation vor. Planung und Durchführung von Unterricht ist demzufolge begründet und differenziert zu betreiben. Die Kontrolle des Unterrichts unter der Fragestellung, welche Prozesse da eigentlich realiter ablaufen, ist längst noch nicht befriedigend gelöst. Bis zu einer Verbesserung der Situation wird
226
Die Lernorganisation in der arbeitsorientierten Bildung
Abb. 11:
Strategieschema zur Inhaltsanalyse von Unterricht
Explizite
Informationswert
Inhflltsklasaen
für Adressaten
- Fächer
Inhaltspräsentation .
• Unterrichtseinheiten - Stundeninhalte
Implizite Inhalts klagen
- Verständlichkeit Modi z.B.
Dichte der
- Aufschlüsselung
Vortrag,
Informationen
- Speicherungs-,
Medien
(Zahl der Infor-
Erarbeitung
mationen pro
Erwartete kognitive Leis-
- Ideologien
tungen bei Adressaten
- Gefahr von Didaktische Modifikationen
(nationales, internatio-
- Bedeutung der Methode
nales Denken; Geschlech-
- Aufbereitungen: Einkleidtingen,
terstereotypien; Konservational ismen)
Verstehenschancen
Zeiteinheit)
- Weltanschauungen
Indoktrinierungen
- Neuheit
Verpackung - Struktur und Beispiel
- Informationen aufnehmen - Begriffe verstehen - Sinnzusammenhänge realisieren - Strukturen erkennen
daher die häufige Verwunderung darüber, daß trotz guten Eindrucks doch so wenig als Ergebnis herauskommt, noch anhalten!
Zitierte Literatur BLOOM, Benjamin S. u.a. (Hrsg.): (1956): Taxonomy of educational objectives. New York. FLECHSIG, Karl-Heinz (1969): Die technologische Wendung in der Didaktik. Konstanz. GAGNÉ, Robert M. (19702): Die Bedingungen des menschlichen Lernens. Hannover. HEIMANN, Paul/OTTO, Gunter/SCHULZ, Wolfgang (19705): Unterricht Analyse und Planung. Hannover. MAGER, Robert F. (19694): Lernziele und programmierter Unterricht. Berlin, Weinheim, Düsseldorf. SCHULZ, Wolfgang (19705): Unterricht - Analyse und Planung. In: HEIMANN, P. u.a.: Unterricht - Analyse und Planung. Hannover. SKOWRONEK, Helmut (1969): Lernen und Lernfähigkeit. München. SKOWRONEK, Helmut (19702): Psychologische Grundlagen einer Didaktik der Denkerziehung. Hannover.
Weiterführende Literatur AEBLI, Hans (197710): Grundformen des Lehrens. Stuttgart. BACHMAIR, Gerd (19773): Unterrichtsanalyse. Weinheim, Basel.
Unterrichtsplanung, -durchfuhrung und -kontrolle
227
BÖNSCH, Manfred (1977): Unterrichtsvorbereitung, München. BÖNSCH, Manfred (1981): Moderne Unterrichtsgestaltung. München. BÖNSCH, Manfred (1986): Unterrichtskonzepte. Baltmannsweiler. BÖNSCH, Manfred (19952): Variable Lernwege,. Paderborn. PETERSSEN, Wilhelm A. (19823): Handbuch Unterrichtsplanung. Grundfragen, Modelle, Stufen, Dimensionen. München.
Zweiter Teil Curriculare und didaktische Ansätze
Arbeitsbezogenes Lernen in allgemeinbildenden Schule
4.1
Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule Astrid Kaiser
4.1.1
Einleitung
4.1.2
Historische Vorläufer aus der Anschauungspädagogik
233
des 19. Jahrhunderts
234
4.1.3
Arbeitswelt in der Reformpädagogik
238
4.1.4
Impulse der Arbeitslehrediskussion der späten 60er Jahre ftir den Sachunterricht
244
4.1.5
Sachunterrichtsthema "Arbeitswelt" in den 70er Jahren
245
4.1.6
Lernvoraussetzungen von Grundschulkindern für das Themenfeld Arbeitswelt im Sachunterricht
246
Zur Bedeutung des Themenfeldes Arbeitswelt in neueren didaktischen Konzeptionen für den Sachunterricht
247
4.1.7
Zitierte Literatur
250
Weiterfuhrende Literatur
252
4.1.1
Einleitung
Von der gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeitswelt her betrachtet ist zu erwarten, daß die Arbeitswelt im "allgemeinbildenden Unterricht" - wie Jeziorsky (vgl. W. Jeziorsky 1948) den Sachunterricht bezeichnete - einen hohen Stellenwert einnimmt. Auch die zeitweilig synonym verwendete Bezeichnung Sach- und Weltkunde (vgl. Lichtenstein-Rother 1968) scheint schon ein Präjudiz für einen hohen Stellenwert der Arbeitswelt als Inhalt im Sachunterricht zu sein. Denn die Arbeitswelt hat allgemein ftir die Lebenswirklichkeit von Kindern in mehrfacher Hinsicht Bedeutung: -
Arbeitswelt als ein indirektes Erfahrungsfeld - vermittelt durch die Erfahrungen der nahestehenden Erwachsenen, - Arbeitswelt als Komplement zu der eigenen Nutzung von Dienstleistungen,
234
-
Axbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Arbeitswelt als notwendige Entstehensbedingung der alltäglich genutzten Produkte.
"Um die Kinder auf die Bewältigung ihrer Lebenswirklichkeit vorzubereiten, dürfen .. diese Erfahrungs- und Handlungsräume (von Arbeit und Produktion) nicht ausgeklammert werden" (Oberliesen 1987, S. 7). Tatsächlich hat sich aber die Arbeitswelt als Inhalt und Methode des Sachunterrichts erst sehr spät durchgesetzt. Die historische Entwicklung des Sachunterrichts zeigt einen sehr komplexen Prozeß bis hin zur Herausbildung von "Arbeitswelt" als anerkanntem Unterrichtsinhalt für den allgemeinbildenden Unterricht der ersten Schuljahre.
4.1.2
Historische Vorläufer aus der agogik des 19. Jahrhunderts
Anschauungspäd-
Sachunterricht ist eine historisch relativ neue Bezeichnung für ein Schulfach, das auf vielfältige historische Vorläufer zurückblickt. Insbesondere der Anschauungsunterricht für die ersten Schuljahre im 19. Jahrhundert kann als einer der ersten Vorläufer gewertet werden, weil er im Gefolge Pestalozzis mit dem Anspruch einer elementaren Vorbereitung auf die Wirklichkeit vertreten wurde. Er wurde häufig auch explizit von den bis dahin vorherrschenden, an religiöser Unterweisung oder sprachlich-grammatikalischer klassischer Bildung orientierten Unterrichtskonzepten als innovativ und realitätsorientiert abgegrenzt. Von einem derartigen didaktischen Programm wäre zu erwarten, daß im Jahrhundert der Industrialisierung und folgenden gravierenden sozialen Umwälzungen auch die Arbeitswelt gegenüber Latein, Religion und Griechisch einen zentralen didaktischen Stellenwert erlangt hat. Das Konzept der Anschauungsdidaktik, das auf Comenius, Ratke, Pestalozzi und Francke zurückzufuhren ist, hat im vorigen Jahrhundert als Prinzip progressiv orientierten Realien-/Sachunterrichts aber erst nach langen Auseinandersetzungen und bedeutsamen Rückschlägen (wie mit den Stiehl'schen Regulativen) - nicht nur auf den Anschauungsunterricht der ersten beiden Schuljahre beschränkt - hohe Anerkennung und Rezeption gefunden. Diesterweg und Harnisch können als Wegbereiter einer universalistisch orientierten Anschauungs- und Heimatkundedidaktik verstanden werden, die
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eine elementare Weltkunde (vgl. Harnisch 1839, S. 423) - vor allem für höhere Schulklassen konkretisiert - forderten. Als Gegenbewegung dazu gab es restaurative Bestrebungen, die zum Teil wie die Stiehl'schen Regulative von 1854 in Preußen Anschauungsunterricht gänzlich zu verbieten versuchten (vgl. Armstroff 1891, S. 17). Erst über die Allgemeinen Bestimmungen von 1872 wurde der Realienunterricht in Preußen wieder eingeführt. Trotz einiger weltkundlicher Impulse - auch von Diesterweg und Harnisch inhaltlich primär als Erdkunde oder Himmelskunde verstanden - weist die Mehrheit aller sich progressiv verstehenden didaktischen Konzepte von Anschauungsunterricht und Heimatkunde des vorigen Jahrhunderts aber eine deutliche Dominanz nahräumlich-geographischer oder allenfalls nahräumlich-biologischer Inhalte auf. Räumlich ausgerichtete didaktische Entscheidungsraster nach dem Muster sich vergrößernder konzentrischer Kreise müssen Arbeit, die als soziales Handeln keine derartigen räumlichen Entwicklungsschritte ermöglicht, aus dem Blickfeld verlieren oder sie deskriptiv reduzieren. Im Zuge der Herausbildung sozialwissenschaftlicher Perspektiven in der Wissenschaftsentwicklung, wie z.B. der Sozialgeographie von Ernst Friedrich wurden aber auch vereinzelt auf soziale Fragen ausgerichtete didaktische Konzepte entwickelt (vgl. H. Schernikau 1981). Friedrich betonte, "daß doch allem Wirtschaften nichts anderes zugrunde liegt als weniger oder mehr überlegte, bewußte Einflußnahme des Menschen auf die Natur und ihre Stoffe. ... Immer handelt es sich um ein gestaltendes, wirkendes Subjekt, und das ist der Mensch, und um Objekte seiner Tätigkeit, und das sind Naturdinge und Naturverhältnisse" (Friedrich 1911, S. 2). Erst gegen Ende des Jahrhunderts der Industrialisierung tauchten auch didaktische Konzepte von Anschauungsunterricht und Heimatkunde auf, die sich didaktisch auf die Arbeitswelt beziehen. Einer der ersten Vertreter explizit sozialwissenschaftlich orientierter Didaktik war Otto Wilhelm Beyer, der bereits 1885 den zentralen Stellenwert der (Berufs-)Arbeit für die Verwirklichung der menschlichen Persönlichkeit und der "gesellschaftlichen Ideen" (Beyer 1885, S. 6) betonte und daraus didaktische Konsequenzen für den Heimatkundeunterricht, der den einzelnen zu einer bestimmten Berufstätigkeit "innerhalb dieses allgemeinen Menschenberufs" (Beyer
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
1885, S. 6) vorbereiten sollte, zu ziehen versuchte. Die dabei neu eröffneten sozialwissenschaftlich-didaktischen Dimensionen erschließen erstmals prinzipiell auch die Möglichkeit, Probleme von Arbeit systematisch in den Heimatkundeunterricht aufzunehmen. Ein vergleichbarer Versuch früher sozialwissenschaftlicher Heimatkundedidaktik war August Tecklenburgs Plan einer geschichtlichen Heimatkunde (vgl. Eckhardt 1925, S. 53 ff ): A B BI B B B B B B B B B
II II A II B III IV IV A IVB V VI
Naturverhältnisse Menschenleben Anthropologisch-ethnologische Verhältnisse (Funde, Ortsnamen, Bevölkerungsgruppen) Ortsentstehung und Ortsgeschichte Entstehung der Ortschaften Orts- und Heimatgeschichte Staatliche Verhältnisse Wirtschaftsleben Produktion Verkehr Bevölkerungsstatistik Geistige Kultur
Hier wird bereits deutlich, daß trotz weniger subjektiver Elemente dennoch bereits dem Menschenleben und ökonomischen Beziehungen ein hoher didaktischer Stellenwert zugeordnet wird. Auch in der Kulturkunde G. Klemms werden Stoffe vorgeschlagen, die einige soziale Bezüge aufweisen können: "Das Haus als Schutzstätte, Die Straße, Die Brücke, Markt und Rathaus, Schutz dem Hab und Gut, Das Geld, Die öffentliche Sicherheit, Die Eisenbahn" (Klemm 1921, S. 18 f.). Da er im herbatianischen Verständnis eine Analogie von Kinderentwicklung und Kulturgeschichte sah, legte er besonders viel Wert auf die Urzeit als Unterrichtsgegenstand. Dementsprechend werden - insbesondere im "Lehrplan" für das 3. Schuljahr - viele "Haus"- bzw. "Berufs"arbeiten vorgeschlagen: "Lebensformen unsrer Vorfahren in der Urzeit. Die Nahrungssuche der Sammler. Die Hungergemeinschaft. Das Feuer. Die Feuererzeugung einst. Feuerstelle. Feuerkultus. Heiße Steine zum Sieden. Siedelung. Ansiedelung. Die Gefäße. Der Topf. Mittel zum Graben, Abschlagen, Zerschlagen. Die Hände. Die ersten Werkzeuge. Steinzeit. Wilde Pferde, Rinder, Ziegen, Schafe. ... Das Erle-
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gen. Die Horde und die gegenseitige Hilfe. Die Werkzeuge als Waffen. Das Zähmen des Hundes ... Tierkultur. Schutz vor der Kälte. Pfahlbau- und Bronzezeit. Erste Eisenzeit" (Klemm 1921, S. 23). Auch wenn der Darstellung von Kulten mehr Gewicht beigemessen wird als sozialen Problemen, so sind diese in Klemms Kulturdidaktik wenigstens schon angelegt. Er selbst begründet seine Inhaltsauswahl nicht im Sinne des kritischen Begreifens der Wirklichkeit, sondern mit eher affirmativen Intentionen, die gerade Widersprüche und individuell verschiedene Beurteilungen ausschließen: "Die mangelnde Erfahrung von den ursprünglichsten Mühen, die fehlende Kenntnis von dem Werden der einfachsten und müßigsten Dinge verhindert die Dankbarkeit, Zufriedenheit und Lebensfreude, in die derjenige versetzt wird, der hinter den alltäglichen Dingen das Ringen der Vorfahren erkennt, die Kümmernisse derer, die im Kampfe gegen Mangel, Schwierigkeiten und Gefahren Hilfsmittel erfanden" (Klemm 1964, S. 53). Die ersten Ansätze zur Integration der Thematik Arbeit in Anschauungs- und Heimatkundeunterricht erfolgten also mit Auflösung der klaren geographischen Orientierung aus der Sozialgeographie, Geschichte und Kulturkunde. Das Konzept des Herbartianers Dörpfeld (vgl. Dörpfeld 1889) geht inhaltlich über die bisher dargestellten didaktischen Kriterien hinaus. Er fordert eine deutlich subjektnahe und elementare Gesellschaftskunde für die - weit über das Grundschulalter hinausgehende - "Sachkunde", zu der er Naturkunde, Menschenleben in Vergangenheit und Gegenwart sowie Religion zählt (vgl. Dörpfeld 1889, S. 79). Den sachunterrichtlichen Fächern schreibt er in Abgrenzung zu traditionellen - vor allem formal-sprachbildenden - didaktischen Konzepten einen zentralen inhaltlichen Stellenwert als "Basis der übrigen Fächer" und "allgemeinbildend" (Dörpfeld 1889, S. 80) zu. Wichtig ist ihm, daß keine inhaltlichen Vereinseitigungen entstehen, sondern daß curricular alle drei Bereiche der Sachkunde vertreten sind (vgl. Dörpfeld 1889, S. 99): "Sind die sachunterrichtlichen Fächer nicht alle drei (Naturkunde, Menschenleben, Religion) vertreten, so leiden auch die anderen darunter, und die Bildung bleibt wesentlich unvollständig" (Dörpfeld 1889, S. 80). Das Inhaltsspektrum Dörpfelds unterscheidet sich deutlich von dem zu der Zeit verbreiteten geographisch-objektivierenden, durch Einführung von auch heute noch nicht generell akzeptierten Bereichen wie psychologische, ethnographische ("Lebensweise und Sitten"), soziokulturelle und arbeitskundliche Inhalte (vgl. Dörpfeld 1889, S. 113). Ein zen-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
trales didaktisches Strukturierungskriterium seiner Sachkunde sind die von ihm unterschiedenen "sechs Klassen der Arbeit", in denen nach seiner Aufteilung die Menschen geschichtlich ihr Leben gestaltet haben. Diesen sechs Klassen ordnet der Autor sechs allgemeine Bedürfnisse ("für Landesschutz, Rechtsschutz, Wohlstand, Gesundheit, Bildung und Seelenheil") zu (vgl. Dörpfeld 1889, S. 111) und versucht, ihre gesellschaftliche Verallgemeinerung unter dem 4. Themenkreis, "Die Gesellschaften", unterrichtlich zu vermitteln (vgl. Dörpfeld 1889, S. 104). Er unterscheidet sich mit dieser zentralen didaktischen Orientierung an der Arbeitswelt deutlich von den Herbartianern, die zu der Zeit in fast allen Lehrerseminaren führend waren und die einen jeweils variierten Kanon an Märchen zum Angelpunkt ihrer Unterrichtsplanungen erklärt hatten. In dieser Märchenwelt war der gegenständliche Horizont von Arbeit sachgemäß reduziert auf ländliche frühfeudale Betätigungen: die Mutter spinnt, webt, sammelt Holz, sortiert Linsen; als Berufe treten - wenn überhaupt - König/in, Müller/in, Gastwirt, Tischler, Waldarbeiter/in, Spinnerin, Fee, Koch/Köchin, Jäger u.ä. auf, die in ihrer Isolierung und fiktional-symbolischen Funktion wenig Wirklichkeitsaufklärung zu leisten vermögen.
4.1.3
Arbeitswelt in der Reformpädagogik
Erst mit der Jahrhundertwende tauchte die Thematik "Arbeit" auch als Etikett für didaktische Konzepte auf. Die 1901 schon in zweiter Auflage erschienene Arbeitskunde Richard Seyferts kann als erste Sachunterrichtskonzeption mit der Kategorie Arbeit als didaktischem Kern bezeichnet werden. Richard Seyfert gab in seiner "Arbeitskunde" Gegenständen aus dem Hausarbeitskomplex, Ernährung und Kleidung, einen herausragenden Stellenwert (vgl. Seyfert 1954, S. 95 ff.). Er schlug vor, an diese thematisch strukturierenden Zentren komplexe natur- und sozialwissenschaftliche Lernerfahrungen zu knüpfen, denn nach seiner Auffassung lassen sich an der Arbeit auch alle weiteren Lernprozesse und Erkenntnisse entwickeln. Seyfert verband mit dieser Arbeitspädagogik aber nicht nur inhaltlich-expansive Vorstellungen, sondern auch - wie später Kerschensteiner - die Vermittlung eigener Anpassungs- und Subordinationsnormen: "Werktätige Arbeit ist ein
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wichtiges soziales Erziehungsmittel. Es wird viel dazu beitragen, was gar nötig ist, den Sinn fiir Einfachheit und Anspruchslosigkeit wieder in unserer Kinderwelt zu wecken" (Seyfert 1954, S. 88). Sein Konzept erschöpft sich aber keineswegs in affirmativer Einordnung. So forderte er für den Unterricht methodische Schritte, die zu selbständiger geistiger Tätigkeit veranlassen und sich "auf ganze Zusammenhänge beziehen" (Seyfert 1954, S. 67). So hat er am Beispiel 'Kleidung' Fragen wie "Von (der) Hausindustrie zum Fabrikbetrieb', 'Nutzen der Kleidung', 'Wäsche', 'chemische Versuche zur Fleckentfernung' für den Unterricht aufgeworfen und eine Verbindung zwischen privaten Erfahrungen und darin eingeschlossenen naturwissenschaftlich-gesellschaftlichen Problemen angebahnt. Ahnlich ist er auch bei anderen Themen, wie Papierfabrik oder Ernährung mit Themenaspekten wie Einkaufen, Waage, Elastizität, Schlachthof, Kühlung, Resteverwertung, Abschäumen der Suppe, Bestandteile der Lebensmittel, Düngemittel, Brot oder Gärteig vorgegangen (vgl. Seyfert 1954, S. 63 ff.). Entscheidend an Seyferts Didaktik ist aber, daß sie nicht nur ein komplexes Bild von den Lerninhalten entwirft, sondern daß er damit auch eine dialektische Verbindung von gegenwärtigen Lebenserfahrungen und Qualifizierung für das zukünftige Leben schafft (vgl. Klafki 1964, S. 428). Diesen hohen inhaltlichen Anspruch versucht er nicht durch bloße Erhöhung der kognitiven Anforderungen zu erreichen, sondern indem er methodisch Arbeitstätigkeiten der Schülerinnen und Schüler dafür einsetzt, daß sie die entsprechende Arbeit (z.B. Hausbau) auch tatsächlich begreifen. Er repräsentiert auch die Wende hin zur Arbeitspädagogik als Methode, wenn er fordert, daß die Lernenden "durch Arbeit zu Arbeit erzogen" werden sollen (Seyfert 1954, S. 94). Aber nicht nur die herbartianisch beeinflußten Praxisanleitungen, sondern auch die preußischen Richtlinien von 1921 sehen fiir das neu eingeführte Fach Heimatkunde vorwiegend die tradierten Gegenstände aus der näheren räumlichen Erfahrungswelt des Kindes vor: "Haus, Hof, Garten, Wiese, Wald, Schulhof, Straße, Hain, Feld, Wald, häusliches und Schulleben, Arbeit im Haus, im Handwerk, Gewerbe, Landwirtschaft, Gartenbau ... Pflanzen und Tiere der Heimat... Sagen und Überlieferungen" (Beck/Claussen 1979, S. 31). Interessant für die Problemstellung 'Arbeitswelt' ist, daß beim Thema 'Haus' die Arbeit erstmals zum offiziell geforderten Bildungsinhalt deklariert wurde.
240
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Der Bremer Reformpädagoge Heinrich Scharrelmann erklärte das "Leben" generell zum Zentrum didaktischer Überlegungen: "Das Leben ist der beste Lehrplan, ganz ohne Frage" (Scharrelmann 1912, S. 183). Er überschätzte jedoch die pädagogische Wirkung der bloßen Realsituation und die Durchschaubarkeit von Objekten, wenn er etwa behauptete, "die rationellsten physikalischen Kenntnisse können nur auf der Straße und in der Fabrik gewonnen werden" (Scharrelmann 1912, S. 232). Fritz Gansberg begründete seine sozial ausgerichteten didaktischen Vorstellungen vorwiegend mit dem Verweis auf die tatsächlichen gesellschaftlichen Erfahrungen der Kinder: "Für unsere Stadtkinder ... ist die Menschenkunde mit ihren sozialen, sittlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und technischen Fragen viel wichtiger, vertrauter, aufregender, geheimnisvoller und lebensvoller" (Gansberg 1905). In seinen "Streifzügen" entwickelte er dementsprechend eine schon recht komplexe Kultur-, Sozial- und Lebenskunde, die im alltäglichen Leben der Kinder wurzeln soll und demzufolge den Unterricht anregend gestalten könne. Gansberg verallgemeinerte seine Forderung nach sozialen Lerninhalten bildungstheoretisch: "Wir treiben mithin echteste Menschenbildung und Geisteserziehung, wenn wir .. Tag für Tag vor den Augen der Kinder bunte, reichbelebte, rein persönliche Bilder aus der Menschenwelt entwerfen, und wenn wir .. so langsam, so Stück für Stück und Strich für Strich an diesen Bildern arbeiten, daß die Klasse ganz von selbst mit gleichartigen Beiträgen in unsere Arbeit sich einfügt" (Gansberg 1905, S. 7). In diesen allgemeinen bildungstheoretischen Aussagen wird - entgegen häufiger Rezeption - deutlich, daß Gansberg keineswegs "nur" die Interessen der Kinder im Blick hat, sondern gleichzeitig die wesentlichen gesellschaftlichen Inhalte vermitteln will: "Wir wollen also in unseren Lebensbildern auf die allgemeinen und wesentlichen Grundlagen unserer Kultur verweisen, während der alte Unterricht oft genug in tausend Einzelheiten und Zufälligkeiten stecken blieb, deren Bedeutung von den Kindern gar nicht erkannt wurde" (Gansberg 1905. S. 7). Als Folge dieser Theorie werden viele subjektnahe und gleichzeitig auf wichtige gesellschaftliche Probleme bezogene Erzählungen für den Unterricht empfohlen: z.B.: Straßenbahn, Arbeitslos, Bahnhof, Fahrrad, Zoll, Feuerwehr, Obdachlos, Gericht, Windmühle im Sturm,
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Dampfschiff, Plätteisen oder Reise in den Hümmel (vgl. Gansberg 1905, S. 230 f.). Trotz aller interessanten inhaltlichen Aspekte bleibt die Pädagogik von Gansberg und Scharrelmann auf die methodischen Formen der Lehrererzählung und des Klassengesprächs beschränkt. Sie fallen insofern hinter Seyfert zurück, der Arbeit als Inhalt und Methode für wichtig erachtete. Die meisten reformpädagogischen Unterrichtsvorschläge zur Berufsarbeit bleiben trotz der darin angelegten sozialen Thematik bei mehr räumlich-deskriptiven Lerndimensionen stehen, wie hier an einem Beispiel der besonders progressiv geltenden und besonders auf soziale Inhalte ausgerichteten Leipziger Reformklassen gezeigt werden soll: Zum Unterrichtsthema "Der Briefträger" wurden unterrichtliche Bearbeitungsvorschläge gemacht wie "Bis morgen seht ihr euch den Briefträger aber genau an. ... Was der Briefträger zu tun hat. Tasche und Mütze" ... Klebarbeit ... "Der Briefkasten wird entleert. Wir sind am Briefkasten gewesen... Briefkasten geformt, Postauto gemalt" (Schwartz 1977, S. 91 f.). Im Rahmen der reformpädagogischen Entwicklung spielte der Arbeitsunterricht eine zentrale Rolle. Dem Arbeitsunterricht - zumeist als spezielles Fach gefordert - wurde oft die Funktion eines inhaltlich zentralen Bereichs, vergleichbar mit einem Thema im Projektunterricht, zugeordnet: "Der Arbeitsunterricht darf nicht ein den übrigen Fächern angeklebtes Unterrichtsfach sein. Von ihm müssen die Stoffe des Gesinnungsunterrichts, der Heimatkunde und des Rechenunterrichts in gleicher Weise durchdrungen werden" (Troll 1922, S. 3 f.). Schaffen, Handeln und praktisches Lernen wurden dabei als zentrale Kategorien verwendet. Die Konzepte von Arbeitsunterricht beziehen sich häufig nicht auf konkrete gesellschaftliche Arbeit als Inhalt, sondern auf tätige Methoden des Lernens: "Selbsterleben und Selbsterarbeiten, das sind die beiden Angelpunkte des modernen Unterrichtsverfahrens, das man als Arbeitsunterricht zu bezeichnen pflegt" (Brinkmann 1955, S. 8). Andere Konzepte des Arbeitsunterrichts beziehen sich jedoch auch auf Arbeit als konkretem Lerninhalt. Besonders Georg Kerschensteiner (-* 4.2.2.1) ist es gelungen, das Lernen von Arbeit durch Arbeit zu vermitteln und die wechselseitige Beziehung von
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Lerninhalt und -methode zu begreifen. Kerschensteiner sah sehr deutlich Differenzen zwischen Arbeit und pädagogischer Arbeit. Damit stand er im Gegensatz zu manchen radikalen Vertretern der Arbeitsschule (z.B. Paul Oestreich), die keine Grenzen mehr zwischen produktivem Leben und Lernen sehen wollten und "auch das Erwachsenenleben möglichst unverkürzt im Raum der Erziehung zur Geltung kommen lassen wollen" (Klafki 1964, S. 213 f.). Kerschensteiner unterschied weiterhin Arbeit im körperlichen Sinne, Arbeit im geistigen Sinne, deren "Zweck in der Gestaltung von Bewußtseinsinhalten (liegt)" und Arbeit im pädagogischen Sinne, "die ihren Zweck in der Herbeiführung und Durchfuhrung einer immer vollendeteren sachlichen, d.h. objektiven seelischen Einstellung hat, sei es in der Gestaltung der Bewußtseinsinhalte an sich, sei es in der Verwirklichung des gestalteten Bewußtseins in der Außenwelt" (Kerschensteiner 1925, S. 76). Für ihn ist pädagogische Arbeit immer auch verbunden mit geistiger Planung und Reflexion, Arbeit allein wird nicht schon als bildend angesehen: "Eine manuelle Betätigung mag mit noch so viel Interesse, Eifer, Anstrengung, Übung verbunden sein, Arbeit im pädagogischen Sinn kann sie erst werden, wenn sie Ausfluß einer geistigen Vorarbeit ist, die schon in dieser Vorarbeit zu einem bündigen Abschluß kommt" (Kerschensteiner 1925, S. 43). Seine Definition pädagogischer Arbeit bleibt aber deutlich auf materielle Arbeit beschränkt, wenn er den pädagogischen Wert als "um so größer (einschätzt,) je mehr das Ergebnis der Arbeit es ermöglicht, daß der Arbeitende am Arbeitsprodukt selbst erkennt, wie weit er bei seiner Herstellung sachlich eingestellt war" (Kerschensteiner 1925, S. 73). Er sah im Arbeitsunterricht nicht primär ein Mittel zur DenkfÖrderung, sondern vor allem einen neuen Ansatz erziehenden Unterrichts, bei dem die realen Erfahrungen der Lernenden die entscheidenden Momente des Lernens sind und in vielfältiger Weise die Sozialerziehung der Kinder vorantreiben. Dementsprechend erwartete er, daß die Kinder "gemeinsamen Erfolg und Mißerfolg (erfahren), lernen, gemeinsame Schaffensfreude und gemeinsame Enttäuschungen (zu) empfinden. ... Hier tritt die Leistung des einzelnen nicht hervor aus der Gesamtleistung; hier entwickelt sich am besten das Gefühl der Verantwortlichkeit für das eigene Tun. ... Hier lernt der einzelne sich unterordnen unter andere, hier lernt er schwächere und weniger begabte Mitschüler unterstützen, hier lernt er zum ersten Male verstehen, daß die eigenen, wohlverstandenen Interessen in
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den Interessen der Gesamtheit aufgehen können und sollen" (Kerschensteiner 1925, S. 70). Als weitere Erziehungsresultate des Arbeitsunterrichts erwartet er: Hingabe und Selbstbeherrschung, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Fleiß und Ausdauer, "berufliche Tüchtigkeit und Arbeitsfreudigkeit" (Kerschensteiner 1925, S. 17). Gerade die soziale Form von Arbeitsunterricht zählt er zu ihren besonderen Vorzügen gegenüber Anschauungsunterricht (vgl. Kerschensteiner 1925, S. 69). In der Konzeption Kerschensteiners sind dabei immer zwei Seiten angesprochen: der stärker betonte Erwerb von Tugenden, die als prozeßunabhängige Qualifikationen auch der besseren Ausbeutbarkeit aller lohnabhängigen Arbeitenden bedeuten können, und die individuell bereichernden Sozialerfahrungen, wie sie mit der Vorstellung eines "eigenen kleinen Gemeinwesens der Klasse" zur Organisierung der praktischen Arbeit anklingen (vgl. Kerschensteiner 1925, S. 103). Ziele der Unterordnung - und sei es, "den Willen bedingungslos dem Gesetz der Sache unterwerfen" (Kerschensteiner 1925, S. VII) - haben bei ihm deutlich das Übergewicht. Kerschensteiner sieht den zentralen Schulzweck darin, die zukünftigen Staatsbürger heranzubilden. Diese deutliche Zukunftsorientierung steht konträr zu der bei Gansberg so deutlich artikulierten Gegenwartsorientierung. Staatsbürgerliche Erziehung begreift Kerschensteiner zwar nicht nationalistisch eng, aber ausgesprochen ideologisch, indem er innere Gegensätze zugunsten eines funktionierenden Ganzen, das per se die Unterdrückung schwächerer Gruppierungen bedeutet, hintanstellt: "Erziehen wir gute Staatsbürger, so erziehen wir stets auch gute Weltbürger, und je größer der soziale Körper, je mannigfaltigere Sonderinteressen zueinander ins Gleichgewicht zu bringen sind, desto mehr wird mit der Staatsidee zugleich die Humanitätsidee notwendig gefördert" (Kerschensteiner 1925, S. 13). Auch wenn die gesellschaftspolitischen Normen Kerschensteiners unter der Perspektive der Demokratisierung außerordentlich kontraproduktiv sind, hat er dabei pädagogisch einen wichtigen Schritt geleistet, nämlich Arbeit als persönlichkeitsbildenden Inhalt zu sehen und Arbeit gleichzeitig dazu als Methode als unabdingbar zu fordern (vgl. Klafki 1964, S. 213). In dieser Hinsicht hat die stärker unterrichtsmethodisch orientierte Reformpädagogik gerade hinsichtlich
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
des Themenbereiches Arbeit in zweifacher Hinsicht eine wichtige didaktische Wende herbeigeführt: - das Thema selbst wurde zu einem stärker rezipierten Inhalt in den didaktischen Überlegungen und - Arbeiten wurde im Kontext der Diskussion um Arbeitsschule/Arbeitsunterricht/Arbeitspädagogik zu einer wichtigen allgemeinen Kategorie des Unterrichtsprozesses erklärt. Zum Teil wurden - wie bei Kerschensteiner - auch die Wechselwirkungen dieser beiden Seiten gesehen, indem Arbeiten als Methode zu einer wichtigen Bedingung von Arbeit als Unterrichtsinhalt betrachtet wurde.
4.1.4
Impulse der Arbeitslehrediskussion der späten 60er Jahre für den Sachunterricht
Die Heimatkundedidaktik nach 1945 setzte weitgehend die reduzierte Wirklichkeitssicht der frühen Heimatkunde fort, indem sie sich rückwärtsgewandt-romantisch am Landleben orientierte. Industrie und Arbeitswelt waren innerhalb der heimatkundedidaktischen Diskussion kein Thema. Im Laufe der 60er Jahre erhielt die Heimatkunde jedoch zunehmend sachkundliche Anregungen. Verstärkt wurden Themen aus Dienstleistung und Handwerk wie Feuerwehr, Post, Tischlerei, Bäkkerei und Gärtnerei in praxisanleitenden Handbüchern vorgestellt (vgl. Karnick 1958; Lichtenstein-Rother 1969, S. 1 ff). Während in den späten 60er Jahren die "realistische Wende in der Pädagogik" (Heinrich Roth) nicht nur in den Methoden, sondern auch in einer Expansion des didaktischen Feldes ihren Ausdruck fand und eine generelle Diskussion um die Arbeitslehre einsetzte (vgl. Klafki 1970), hat dies zunächst auf den Sachunterricht in der Primarstufe - im deutlichen Kontrast zu den curricularen Umstrukturierungen im Sekundarschulbereich - wenig Auswirkungen gezeigt. Dieser blieb thematisch weitgehend noch auf ländlich-vorindustrielle Inhalte konzentriert. Gleichwohl hat die Arbeitslehrediskussion (-»• 4.2.2.2) als Teil der allgemeinen Curriculumdiskussion letztlich eine veränderte Sicht auf notwendige Inhalte auch in der Primarstufendidaktik hervorgebracht. Sichtbares Zeichen für diesen Wandel war die Forderung des Deutschen Bildungsrates im Struk-
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Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule
turplan für das Bildungswesen nach Modernisierung der Inhalte auch des Sachunterrichts (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970).
4.1.5
Sachunterrichtsthema Jahren
"Arbeitswelt"
in den
70er
Aus verschiedenen Impulsen heraus begann zu Beginn der 70er Jahre auch das Themenfeld 'Arbeitswelt' mehr Gewicht im Sachunterricht zu bekommen. Dies geschah nicht als Ausdruck eines Diskussionszusammenhanges, sondern auf recht verschiedenen Wegen. 1. Über die Neuformulierung von Richtlinien In mehreren Bundesländern wurde bei der Neuformulierung von Richtlinien für den Sachunterricht dem Thema Arbeitswelt explizit mehr Bedeutung zugemessen. Dies geschah jedoch aus verschiedenen Ansätzen. In Nordrhein-Westfalen wurde beispielsweise eine erweiterte Bezugsfachgliederung mit Arbeit/Wirtschaft in die Richtlinien aufgenommen; wegen der fachorientierten Gliederung der Richtlinien von 1973 wurde auch der Ökonomie (Konsumökonomie und Arbeitsökonomie) ein wichtiger Stellenwert zugewiesen. In Hessen wurden zeitgleich Rahmenrichtlinien für den Sachunterricht/Gesellschaftslehre entwickelt, in denen der Erfahrungsbereich "Etwas herstellen/Geld verdienen - arbeiten" einer von fünf Erfahrungsbereichen wurde. 2. Über publizierte Unterrichtseinheiten Gerade der Erfahrungsbereich 'Arbeiten' galt als ein besonders fortschrittlicher Inhaltsbereich bei jungen Lehrkräften, die - von der Studentenbewegung geprägt - nach pädagogischen Möglichkeiten zur Demokratisierung der Gesellschaft und zur Solidarisierung mit unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen suchten. So kam in der informellen Literatur, etwa von gewerkschaftlich-orientierten Junglehrergruppen (Unterrichtseinheitenreihe "Basis" des Kasseler AJLE) oder von sich politisch links definierenden Lehrergruppen (Reihe "Roter Pauker" des Sozialistischen Büros) wie auch in von Verlagen (z.B. Hirschgraben Verlag, Reihe: Unterrichtsbeispiele zur politischen Bildung in der Grundschule) publizierten "neuen" Unterrichtseinheiten, die Arbeitswelt als Unterrichtsinhalt besonders häufig vor. Auch die erste (und einzige) Buchveröffentlichung einer Unterrichtseinheit für die Grundschule in einer damals vieldiskutierten
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Reihe kritischer Erziehungswissenschaft wurde zum Thema Arbeit verfaßt (vgl. Behrens 1974). Über eine Unterrichtseinheit zum Projekt Arbeit (vgl. Böttiger 1972 u.a.), in dem Fließfertigung planspielartig simuliert wurde - ein methodischer Ansatz, der mittlerweile in vielen grundschuldidaktischen Vorschlägen gang und gäbe ist (vgl. Kaiser 1981) -, wurde sogar in der überregionalen Presse diskutiert. Dies geschah sehr kontrovers und zum Teil ideologisch, so daß die berufliche Existenz der beteiligten Lehrkräfte wegen angeblich unternehmerfeindlicher Gesinnung bedroht war.
4.1.6
Lernvoraussetzungen von Grundschulkindern für das Themenfeld Arbeitswelt im Sachunterricht
Implizit wurde bereits Anfang der 70er Jahre die subjektive Bedeutsamkeit der Thematik 'Arbeitswelt' vorausgesetzt. Tatsächlich liegen aber nur wenige Studien vor, die diese Annahme erhärten können. Die Studie von Ali Wacker versucht, im Anschluß an die amerikanische politische Sozialisationsforschung und an die Studie Kurt Boges von 1932 die kindlichen Vorstellungen zum Verständnis von 'Arm und Reich' mit 16 Interviewfragen herauszuarbeiten (vgl. Wacker 1976). Hier geht es aber um Attributierungen von Armut und Veränderungsmöglichkeiten von Armut, aber weniger um solche, die eine größere Verteilungsgleichheit bewirken sollen. Direkt mit den Lernvoraussetzungen von Grundschulkindern zum Themenbereich ' Arbeitswelt' hat sich bislang nur die Studie von Kaiser befaßt (vgl. Kaiser 1986). Erkenntnistheoretisch wurde dabei entsprechend dem "Naturalistic Approach" in offenen Unterrichtssituationen das verbalisierte Denken von Grundschulkindern erhoben. Die in diagnostischen Lernsituationen durch mehrere Beobachterinnen protokollierten Äußerungen der Kinder wurden nach verschiedenen qualitativen Textanalysemethoden ausgewertet, insbesondere nach interpretativen Textausschnittanalysen, Kategorisierung und qualitativer Kontrastierung. Die in zwei diagnostischen Lernsituationen erstellten Zeichnungen der Kinder wurden zusätzlich einer quantativen merkmalsanalytischen Bildanalyse unterzogen. Die Ergebnisse belegen deutlich die Relevanz der Arbeitsweltthematik schon für das Grundschulalter:
Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule
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1. Die These, Grundschulkinder wüchsen heutzutage ohne jegliches Wissen über die Arbeitswelt auf (vgl. Behrens 1974), ist eindeutig nicht zutreffend. Kinder verfugen über viele Detailkenntnisse und Vorerfahrungen, die sie im Unterricht aktualisieren können. Diese Kenntnisse werden aber nach Geschlecht differenziert in den Unterricht eingebracht. Mädchen äußern mehr ein Wissen über soziale Probleme, während Jungen einen Schwerpunkt bei den technisch-funktionalen Zusammenhängen setzen. 2. Ein Gegenstand kann nur dann zu einem fruchtbaren Unterrichtsinhalt werden, wenn er problemhaltig ist. Die Projektergebnisse zeigen, daß die Arbeitsweltthematik heftige Problemdebatten der Kinder hervorgerufen hat, obgleich die Arbeitswelt nicht zum unmittelbaren Erfahrungsraum der Kinder zählt. Die Arbeitsweltthematik löst bei heutigen Grundschulkindern kontroverse Diskussionen aus und kann somit als fruchtbarer Lerninhalt klassifiziert werden. 3. Walter Jeziorsky (vgl. Jeziorsky 1982, S. 186 f.) hat als wichtigen Indikator für Verfrühungen operationalisiert, ob der Unterrichtsinhalt einen hohen Aufwand an Motivierungstaktiken erforderlich macht. Dies ist nach den Projektergebnissen für das Themenfeld Arbeitswelt nicht der Fall, da die Gesprächsbereitschaft der Kinder schon auf einfache Stichwortimpulse einsetzte und von großer Ausdauer war. 4. Die Lernvoraussetzungen von Grundschulkindern sind inkonsistent, weisen Widersprüche und Brechungen auf, die bei der gleichzeitig vorhandenen hohen Problemhaltigkeit deutlich darauf hinweisen, daß hier unterrichtlicher Aufklärungs- und Orientierungsbedarf vorliegt. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, daß die Thematik Arbeit einschließlich aktueller und zukünftiger Probleme von Arbeitslosigkeit und Automatisierung auch schon für Grundschulkinder subjektiv bedeutsam ist.
4.1.7
Zur Bedeutung des Themenfeldes Arbeitswelt in neueren didaktischen Konzeptionen für den Sachunterricht
Nachdem das zu eng verstandene Konzept wissenschaftsorientierten Sachunterrichts gegen Ende der 70er Jahre durch das didaktische Primat der Kindorientierung (vgl. Schreier 1982, S. 271) allmäh-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
lieh abgelöst wurde, setzte sich gleichzeitig ein enger Begriff der Kindorientierung durch, der mehr an der Faßlichkeit orientiert ist und dementsprechend auf "einfache" Unterrichtsinhalte setzt (vgl. Blumenstock 1979) und weniger auf die tatsächliche Sozialisation der Kinder. Im Zuge dieser Umorientierung bekamen nahräumliche Themen wieder mehr Gewicht. Das Thema Arbeitswelt geriet in diesem Veränderungsprozeß aus dem Blickfeld. Bei einem derart verkürzten Begriff von Kindgemäßheit wird übersehen, daß nicht die räumliche oder äußerliche Nähe, sondern die psychische Nähe (vgl. Lichtenstein-Rother 1969) das entscheidende didaktische Kriterium ist. Da - wie gesagt - Kinder subjektiv sehr wohl von den Problemen der Arbeitswelt betroffen sind, ist es geradezu notwendig, sie nicht orientierungslos und hilflos diesen - meist kommunikativ erfahrenen - Konflikten auszusetzen. Denn faktisch wird den Kindern bei einer einseitigen Orientierung auf den Nahbereich eine falsche Wirklichkeitssicht vermittelt, indem im Unterricht ein von der Öffentlichkeit scheinbar abgetrennter Konsumbereich präsentiert wird (vgl. Renner 1982, S. 206 ff.). Bei hoher Arbeitslosigkeit, zunehmender Arbeitsverdichtung, verschärften Konflikten in den Arbeitsbereichen und ständigen Umgestaltungen der Arbeitsorganisation ist die Arbeit ein Bereich, der trotz Arbeitszeitverkürzung zu den Schlüsselproblemen der gesellschaftlichen Entwicklung zählt. Klafki (vgl. Klafki 1992) sieht in den zentralen Schlüsselproblemen der Gegenwart - neben den Dimensionen der breiten Entfaltung aller Persönlichkeitsdimensionen - ein wesentliches Raster, um notwendige Inhalte für den Sachunterricht zu begründen. Neben der von der subjektiven und gesellschaftlichen Seite her zu begründenden Notwendigkeit der Thematik 'Arbeitswelt' kommt es auch auf eine pädagogische Begründung an, ob diese Thematik geeignet ist, neueren grundschuldidaktischen Prinzipien zu entsprechen. Damit ist die Frage nach der erzieherischen Relevanz der Thematik, aber auch nach den Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung im Unterricht aufgeworfen. Denn ein bloß kognitivkritischer Unterricht ist von der Methode her nicht geeignet, die erzieherischen Ziele, wie z.B. Förderung der Selbständigkeit, Entfaltung aller Persönlichkeitsdimensionen und Förderung auch lernlangsamer Kinder, die mittlerweile einen breiteren Konsens in der grundschuldidaktischen Debatte gefunden haben, zu realisieren. Wenn wir
Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule
249
die in den Grundschulzeitschriften und -monographien der letzten fünfzehn Jahre formulierten Prinzipien neuerer Grundschuldidaktik, nämlich Erfahrungsorientierung (vgl. Schreier 1980), Projektorientierung (vgl. Hänsel 1986), Offenheit (vgl. Kasper 1992) und Handlungsorientierung (vgl. Gudjons 1989) sowie neuerdings ästhetische und philosophische Zugangsweisen zum Maßstab nehmen, ergibt sich ein differenziertes Bild der neueren Praxisvorschläge zum Thema Arbeitswelt. Danach lassen sich die folgenden Trends unterscheiden: 1. Schaffung von Erfahrungsräumen durch Betriebsbesichtigung und unterrichtliches Aufarbeiten dieser Erfahrungen, die zum Teil im Sinne einer kritischen Analyse anstelle der heimatkundlichen affirmativen Haltung angelegt werden (vgl. Oberliesen 1987). 2. Handelndes Nachempfinden von arbeitsteiligen Produktionsprozessen in planspielartigem Unterricht oder in Simulationsspielen (Kaiser 1981). 3. Projekte über Veränderungen im Wohnort, bei denen die Berufsstruktur und ihre Veränderungen eine wichtige Rolle spielen (vgl. Oberliesen 1987). 4. Veranschaulichende Informationsvermittlung über die Arbeitswelt (vgl. Behrens 1974). 5. Geschichtslogische Rekonstruktionen (vgl. Grüber/Koch 1977), um die Veränderbarkeit von Arbeits- und Lebensbedingungen zu dokumentieren. Das Thema 'Arbeitswelt' wird nach dem gegenwärtigen Stand sachunterrichtsdidaktischer Entwicklungen nicht in allen Dimensionen der Sachunterrichtsdidaktik gleichermaßen realisiert. Während das Prinzip der Handlungsorientierung nahegelegt wird, sind derartige Unterrichtsvorschläge relativ selten. Projekte zum Thema Arbeitswelt sind in der gegenwärtigen sachunterrichtsdidaktischen Literatur kaum zu finden, obgleich reale Vorhaben mit arbeitsteiliger Produktion und dem Verkauf von Produkten im Schulhaus durchaus den allgemeinen grundschuldidaktischen Postulaten entsprechen. Wenn von Projektunterricht in der Grundschule die Rede ist, werden stattdessen andere Themen zur Exemplifizierung bevorzugt (vgl. Hänsel 1986). Als erfahrungserweiternder Unterricht kommt die Arbeitswelt im Kontext der Erkundung des Schulumfeldes/des Wohnortes noch am ehesten als legitimer Unterricht vor. Dominierend in der Praxis sind - entsprechend der vorherrschenden Stellung des informationsvermittelnden Sachunterrichts durch Arbeitsblätter - trotz
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
vieler Richtlinienhinweise auf offene Unterrichtskonzepte mehr rezeptive Vermittlungsformen von Themen aus der Arbeitswelt. Für die neueren Dimensionen des Sachunterrichts, nämlich ästhetische und philosophische Zugangsweisen, gibt es bislang für das Themenfeld 'Arbeitswelt' noch keine publizierten Beiträge. Es besteht insgesamt eine deutliche Diskrepanz zwischen neueren grundschuldidaktischen Prinzipien und ihrer Umsetzung gerade beim Themenfeld Arbeitswelt. Arbeit als Inhalt und Methode klaffen in der modernen "Kopierschule" weiterhin deutlich auseinander. Für handelndes und erfahrungsorientiertes Lernen gibt es einige Anregungen; für projektorientiertes Lernen, offenen, differenzierten Unterricht und ästhetische sowie philosophische Zugangsweisen steht noch eine sachunterrichtsdidaktische Umsetzung aus. Vorhandene Ansätze zeigen aber (vgl. Oberliesen 1987), daß das Thema 'Arbeitswelt' gerade wegen seiner Handlungsnähe Unterrichtsinhalt und -methode projektorientiert weiterzuvermitteln vermag.
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Arbeitswelt im Sachunterricht der Grundschule
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
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4.2
Arbeitslehre ¡11 der Sekundarstufe I* Heinz Dedering
4.2.1
Begriff und Aufgaben der Arbeitslehre
253
4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2
Wurzeln und Entwicklung der Arbeitslehre Historische Ansätze: Industrieschule und Arbeitsschule Entstehung und Entwicklungsschwerpunkte
254 255 260
4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.3.4 4.2.3.5
Stand und Probleme der Arbeitslehre Fachorganisation Institutionelle und zeitliche Verankerung Inhaltliche Ausgestaltung Berufswahlvorbereitung als zentrale Aufgabe Verbindung von theoretischem und praktischem Lernen
264 265 267 269 270 273
4.2.4
Entwicklungsperspektiven
274
Zitierte Literatur
277
Weiterführende Literatur
280
4.2.1
Begriff und Aufgaben der Arbeitslehre
Der Begriff der Arbeitslehre ist von Heinrich Abel Ende der fünfziger Jahre in die bildungspolitische Diskussion der Bundesrepublik Deutschland eingeführt worden, der ihn aus der Arbeitswissenschaft und Arbeitspädagogik hergeleitet hat (vgl. Gesamtverband Niedersächsischer Lehrer (Hrsg.) 1967, S. 24). Zum ersten Mal findet er sich offenbar im Jahre 1916 in einer Schrift von R. W. Ruthmann über "Berufswahl" in einer pädagogischen und arbeitsökonomischen Fassung (vgl. Schramm 1970, S. 320 ff.). Heute ist mit Arbeitslehre meist die arbeitsbezogene, technische und wirtschaftliche Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung (sowie die hierauf gerichtete Lehrerausbildung und -fortbildung) gemeint. Daneben gibt es weitere Begriffsfassungen, z.B. Arbeitslehre als arbeitswissenschaftliche Disziplin (industrielle oder betriebliche Arbeitslehre u.a.). In der Bundesrepublik ist Arbeitslehre als pädagogisch-schulische Kategorie in den Schulen der Sekundarstufe I (Klassen 5-10) angesieDieser Beitrag stützt sich wesentlich auf meine entsprechenden Ausführungen in Bojanowski u.a. 1991, S. 17 ff. und in Dedering 1994.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
delt. Hier wird sie unter verschiedenen Bezeichnungen (Arbeit-Wirtschaft-Technik, Berufswahlunterricht u.a.) und in verschiedenen Formen (eigenständiges Fach, mehrere selbständige Fächer u.a. (siehe unten Kap. 4.2.3.1) angeboten. Arbeitslehre ist also ein Lernfeld der allgemeinbildenden Schule, wobei unter Lernfeld "die Vermittlung von Inhalten, unabhängig von Zuordnungen und Organisationsformen" (KMK 1988, S. 5), zu verstehen ist. Diesem weiten Verständnis von Arbeitslehre entsprechend werden ihr verschiedene Aufgaben zugewiesen (vgl. Kledzig 1987, S. 3), insbesondere * Hinfuhrung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt, * Ausbildung eines Verständnisses für die wechselseitigen Abhängigkeiten von Technik/Ökonomie/Politik, * Einfuhrung in die Planung und Bewertung von Berufsarbeit und Haushaltsführung, * Vermittlung von Umgangserfahrungen aus Arbeitsprozessen, * Vorbereitung auf die erste Berufswahl. Allgemein geht es in Arbeitslehre darum, die Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt vorzubereiten, indem sie sich mit grundlegenden Sachverhalten der Arbeitswelt (Beruf, Einkommen, Arbeitsorganisation, Konsum, Freizeit, Umwelt u.a.) und mit ihren technischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Zusammenhängen auseinandersetzen. Dabei sind prinzipiell sämtliche Formen von Arbeit - Eigenarbeit, Erwerbsarbeit und Gesellschaftsarbeit (-» 1.2.3.2) - Gegenstand der Arbeitslehre. Meist wird der Erwerbsbzw. Berufsarbeit jedoch eine zentrale Stellung eingeräumt. In dieser Fassung als allgemeine Vorbereitung auf die Arbeitswelt soll die Arbeitslehre die berufliche Bildung grundlegen und sie anbahnen. Arbeitslehre ist also vorberufliche Bildung (vgl. unten Kap. 4.2.3.4).
4.2.2
Wurzeln und Entwicklung der Arbeitslehre
Ein tieferes Verständnis der Arbeitslehre erfordert die Betrachtung ihrer über 30jährigen Entwicklungsgeschichte, während der sich die Wesensmerkmale dieses Lernfeldes herausgebildet haben. Dabei ist bedeutsam, daß bei der Einfuhrung der Arbeitslehre auf historische Ansätze zum Zusammenhang von Arbeit und Lernen zurückgegrif-
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fen werden konnte, die als ihre Wurzeln zu betrachten sind. Als solche sind vor allem die Industrieschule des 18./19. Jahrhunderts, die bürgerliche Arbeitsschule und die sozialistische Arbeitsschule zu Beginn dieses Jahrhunderts zu nennen (siehe hierzu u.a. Kaiser 1974, S. 15 ff.). 4.2.2.1
Historische Ansätze: Industrieschule und Arbeitsschule 1. Industrieschule In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden in Deutschland unter dem Einfluß des pädagogischen Realismus (der die fehlende Praxisorientierung des Lernens kritisierte) und des Merkantilismus (d.h. die auf Reichtum gerichtete Wirtschaftsweise des absolutistischen Staates) neue Schulen mit realitätsbezogenen Fächern gegründet, und zwar die Real- und Fachschule (Mechanik, Ökonomik u.a.), die Polytechnische Schule und die Industrieschule (vgl. Blankertz 1982, S. 56 ff.). Die Industrieschule ist das wohl bedeutendste Projekt jener Zeit - der Zeit der sog. Aufklärungspädagogik, die auf eine Erziehung des Menschen zur Vernünftigkeit durch Ausbildung der Verstandeskräfte zum Zwecke der Wohlfahrt der Menschen zielte. In der Industrieschule, die in ganz Deutschland starke Verbreitung fand, sollte die Masse der jungen Menschen technologisch und sittlich zur 'Industriösität' erzogen werden, indem sowohl der Elementarunterricht (Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Gesang) als auch der praktische Arbeitsunterricht (Baumwollspinnen, Weben, Nähen, Drechseln, Seidenraupenzucht usw.) auf die Industrie ausgerichtet wurden. Mit 'Industriösität' ist das damals vom Bürgertum propagierte frühkapitalistische Menschenideal gemeint, nämlich "diejenigen menschlichen Qualitäten, die emsig und erfinderisch produktive Erwerbstätigkeiten hervorzubringen versprachen" (Blankertz 1982, S. 57). An das Wort 'Industrie' war die Vorstellung von Fleiß, Zeitersparnis, Abwechslung, Fortkommen, Zufriedenheit u.a. geknüpft; es stand also nicht schon für die Massenproduktion und ihren negativen Begleiterscheinungen. Dem Konzept der Industrieschule lagen zwei Motive zugrunde: Ein philanthropisch-idealistisches Motiv zielte auf Charakterbildung (Arbeitsamkeit, frühzeitige Gewöhnung an Arbeit, Arbeitswille, Sparsamkeit u.a.); ein sozialpädagogisches Motiv war darauf gerichtet, die Not der Armen zu lindern, indem die Schüler für ihre
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Arbeit einen Lohn erhielten. Außerdem konnten die Lehrer durch den Verkauf der Produkte ihre soziale Situation erheblich verbessern. Generell trug die Arbeit in der Schule zur Hebung des Volkswohlstandes bei: Es wurden fleißige und geschickte Arbeitskräfte gewonnen, verwertbare Produkte hergestellt, neue Beschäftigungsbereiche eingeführt, die Heranwachsenden auf die zukünftige Berufsarbeit vorbereitet, die bettelnden Kinder von der Straße geholt und die Armenfürsorge entschärft. Maßgeblich beeinflußt wurde das Konzept der Industrieschule durch die Vorstellungen des Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) zu einer Verbindung von allgemeiner Menschenbildung und Industrie. Unter "Volksbildung zur Industrie" (Pestalozzi 1899.1902, Bd. 18 S. 60) versteht Pestalozzi die Entwicklung aller menschlichen Kräfte (Bildung von Kopf, Herz und Hand) im Hinblick auf ihre allgemeine Anwendbarkeit in der Industrie. Sie ist für ihn elementare Bildung aller jungen Menschen für alle Bereiche der Industrie. Für die Praxis der Industrieschulen waren jedoch weniger pädagogische, sondern vielmehr ökonomische Gesichtspunkte (Versorgung der heimatlichen Industrie, Serienproduktion mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung u.a.) maßgebend. Sie wurden mehr und mehr zu fremdbestimmten, fabrikähnlichen Einrichtungen, deren Beitrag zur Vorbereitung auf den Beruf und zur Persönlichkeitsbildung unbestimmt blieb. Es mangelte der Industrieschule an einer didaktischen Reflexion und Aufbereitung von Ökonomie und Arbeitswelt. Diese wären notwendig gewesen, um sich als eigenständige pädagogische Institution gegenüber ungerechtfertigten Ansprüchen von außen zu behaupten. Hierin liegt ihr Verfall begründet. Mit dem Scheitern der Industrieschule hat sich jedoch nicht auch ihr Grundgedanke - die Erziehung zur Arbeit durch Arbeit - als falsch erwiesen. Vielmehr liegt hierin die bildungstheoretische Bedeutung des Industrieschulansatzes: in der Idee und in dem Versuch, die Heranwachsenden durch praktische Produktionsarbeit in der Schule für die Arbeitswelt zu qualifizieren und dabei zugleich zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung beizutragen. Diese Idee lebte denn auch in der pädagogischen Theorie fort.
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2. Bürgerliche Arbeitsschule Angesichts des Theoriedefizits der Industrieschule hatte es die inzwischen aufgekommene Pädagogik des Neuhumanismus, die eine strikte Trennung von Allgemein- und Berufsbildung vertrat (->• 5.1.2), um so leichter, Arbeit, Beruf, Ökonomie usw. von der allgemeinbildenden Schule fernzuhalten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte jedoch eine reformpädagogische Bewegung (mit den Richtungen freier Gesamtunterricht, Kunsterziehungs-, Arbeitsschul- und Landerziehungsheimbewegung) ein, in der eine Neubewertung von Arbeit in der Schule erfolgte. Von zentraler Bedeutung ist der Ansatz einer Arbeitsschule von Georg Kerschensteiner (1854-1932). Hierbei handelt es sich um ein relativ geschlossenes Konzept, das Kerschensteiner in mehreren Schulversuchen didaktisch und organisatorisch erprobt hat und das insbesondere im Volksschulbereich realisiert worden ist (vgl. Kerschensteiner 1961; -•4.1.3; 5.1.2). Kerschensteiner will die Reform der "Buchschule" - ganz im Sinne von Pestalozzi -, indem * den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten zur Selbsttätigkeit (Schülerexperimente, Exkursionen, Anfertigung von Zeichnungen, Herstellung von praktischen Gegenständen) gegeben werden, und zwar in einem eigenständigen Fach 'Werken' und als Prinzip in anderen Unterrichtsfächern; * die Schule auf die gegenwärtige und zukünftige Lebenspraxis der Lernenden bezogen ist, (z.B. in der Metall- und Holzwerkstatt, im Laboratorium, der Schulküche, im Schulgarten, im Zeichenund Musiksaal) und * den Schülerinnen und Schülern die Einordnung in eine Gemeinschaft ermöglicht wird, etwa in Arbeitsgemeinschaften. Kerschensteiner geht es also nicht nur um die Vermittlung von Fertigkeiten, sondern auch um die Ausprägung von sozialer und vaterländischer Gesinnung: Die Schule muß den jungen Menschen zum "brauchbaren Staatsbürger" - im damaligen monarchistischen Staat - erziehen, der in der Lage ist, eine "Arbeit im Gesamtorganismus", d.h. einen Beruf zu erfüllen (vgl. Kerschensteiner 1961, S. 12 ff.). Kerschensteiner versteht die Arbeitserziehung also als - allgemeine - Berufsvorbereitung (Gewöhnung an Arbeitsmethoden, an Sorgfalt, Gründlichkeit, Erweckung von Arbeitsfreude u.a.), die zugleich eine staatsbürgerliche, sittliche Erziehung vermittelt. Dies
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geschieht durch die "Zucht des Gegenständlichen". Sie ist von einem Denkprozeß (mit den Stufen Entwicklung des Problembewußtseins, Gestaltung des Arbeitsplanes, Arbeitsausflihrung und Kritik der Arbeit) begleitet und erfaßt den ganzen Menschen, indem er „durch das Werk und an dem Werk" erfährt, wie groß seine „Selbsttreue" und „Sachlichkeit" in der Selbsttätigkeit seiner Arbeit war (vgl. Kerschensteiner 1961, S. 29 ff.). Der Gedanke der Arbeitsschule hat in den zwanziger Jahren in Theorie und Praxis wieder an Bedeutung verloren. Halten konnten sich - neben dem musischen Gestalten im Kunst- und Musikunterricht - nur das technische Werken (für Jungen) und die Textilarbeit (für Mädchen). Kritisiert worden ist an der Arbeitsschule Kerschensteiners insbesondere ihre handwerkliche Ausrichtung. So vermißte Hugo Gaudig (1860-1923) in der Arbeitsschule die Möglichkeit der "freien geistigen Arbeit" (vgl. Gaudig 1917), und der russische Pädagoge Pawel Petrowitsch Blonsky (1848-1941) beanstandete die unzulängliche Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Industrie und Maschinentechnik sowie die Dominanz der Arbeitsmethode ("Illustrierschule") (vgl. Blonsky 1921, S. 149 ff.). Hinzu kommt, daß die von Kerschensteiner mit der praktischen Schülerarbeit angestrebte staatsbürgerliche Erziehung und Gesinnungsbildung aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung völlig inakzeptabel waren. Nimmt man diese Kritik ernst, dann ist manuelle Arbeit - das Charakteristikum der Kerschensteinerschen Arbeitsschule - als eine Methode des Lernens für die Arbeitswelt zwar auch in der heutigen Arbeitslehre noch ein wichtiges Element, sie muß aber Formen der modernen Arbeitswelt mit ihren verschiedenen Bereichen (Industrie, Handwerk, Dienstleistungen u.a.) repräsentieren, und sie bedarf der wechselseitigen Verschränkung mit einem theoretisch-reflexiven Lernen. 3. Sozialistische Arbeitsschule Die Idee der Arbeitsschule ist Anfang des 20. Jahrhunderts auch auf sozialistischer Seite aufgenommen und praktisch umgesetzt worden. Theoretische Grundlage dafür war die Bildungskonzeption von Karl Marx (1818-1883), in dessen Zentrum der polytechnische Unterricht im Sinne einer Verknüpfung des Lernens mit produktiver
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Arbeit und der verschränkten Vermittlung von Naturwissenschaft, Technik und Produktion steht. Ziel des polytechnischen Unterrichts ist die Entwicklung der Produktivkräfte, verstanden als allseitige Entfaltung der geistigen und körperlichen Anlagen des arbeitenden Menschen. Dabei geht es nicht um dessen Vorbereitung auf eine spezialisierte Tätigkeit, sondern um seine "absolute Disponibilität ... für wechselnde Arbeitserfordernisse" (Marx 1973, S. 512; -> 8.1.1). Das bedeutendste Konzept einer Arbeitsschule auf der Grundlage der Marxschen Bildungsvorstellung ist von Blonsky als Produktionsschule (->• 5.6) entwickelt und nach der Oktoberrevolution von 1917 in Rußland realisiert worden (vgl. Blonsky 1921). Es konnte sich aber im Zuge der Stalinisierung nicht durchsetzen und wurde bereits Anfang der zwanziger Jahre wieder fallengelassen. Aufgabe der Arbeitsschule Blonskys ist die "Erziehung des Menschen zum Beherrscher der Natur" (Blonsky 1921, S. 146). Diese erfolgt durch Arbeit, durch die der Mensch die Natur seinem Willen unterwirft. Am besten geeignet für die Arbeitserziehung ist die Industriearbeit, weil die Industrie "die höchste Errungenschaft der Menschheit" ist, und die Arbeitserziehung vollzieht sich am günstigsten in der Industrie selbst, denn nur hier kann die Arbeit "zur Quelle intensiver und umfassender Bildung werden" (Blonsky 1921, S. 148 und S. 11). Deshalb soll die Schule in die Fabrik integriert und selbst zur Produktionsstätte werden. Blonskys Produktionsschule ist als Kommune für 150 bis 200 Schüler vom 3. bis 18. Lebensjahr sowie für Erwachsene organisiert, die hier zusammen leben und arbeiten. Trotz aller Vorbehalte gegenüber diesem Ansatz - Kritik ist insbesondere aus dem Bund der entschiedenen Schulreformer unter Führung von Paul Oestreich (1878-1959) gegen die einseitige Ausrichtung auf die Industrie und die damit verbundene Überbetonung des Maschinellen vorgebracht worden (vgl. Oestreich 1921) - ist vor allem die Unterstreichung des Bildungswertes von Arbeit unmittelbar in der Arbeitswelt für die Arbeitslehre von Bedeutung und in Form von Betriebspraktika zu realisieren. Eine Vereinigung von Arbeiten und Lernen zum Zwecke von Allgemeinbildung, wie sie Blonsky vorsieht, ist in der Regel aber wegen der Unterschiedlichkeit von Betrieb und Schule nicht ohne weiteres möglich.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
4.2.2.2 Entstehung und Entwicklungsschwerpunkte Die Auseinandersetzung mit der Arbeitslehre begann in der Bundesrepublik Anfang der sechziger Jahre im Zusammenhang mit der Forderung nach Reform der Volksschuloberstufe angesichts fehlender Qualifikationen für neue Produktionsmethoden. Den entscheidenden Anstoß gab der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen mit seinen Empfehlungen zum Aufbau der Hauptschule vom 2. Mai 1964 (vgl. Deutscher Ausschuß 1964). Diese führten zu einer breiten pädagogischen und öffentlichen Diskussion. Der Deutsche Ausschuß nahm den historischen Gedanken einer Arbeitserziehung als allgemeine Bildung wieder auf und schlug eine Arbeitslehre vor, die in der als "Eingangsstufe des beruflichen Bildungswesens" neu konzipierten Hauptschule einen zentralen Stellenwert haben sollte (vgl. Deutscher Ausschuß 1964, S. 41 ff.). Sie ist im wesentlichen durch folgende Merkmale gekennzeichnet: * Arbeitslehre als vorberufliche Bildung strebt eine Berufswahlreife und nicht schon eine Berufsreife an. * Arbeitslehre macht die Lernenden mit den Grundzügen des Arbeitens und der Produktionsweise vertraut. In diesem Sinne leistet sie eine Hinführung zur modernen, durch rationalisierte und technisierte Arbeitsverfahren charakterisierten Arbeitswelt. * Arbeitslehre ist ein eigenständiges Fach. Es ist als Einheit von manueller, intellektueller und charakterlicher Erziehung zur Arbeit organisiert und findet in der Schul Werkstatt, als Unterricht, in Form von Betriebserkundungen und in Betriebspraktika (->• 4.6) statt. Dabei nimmt das praktische Tun der Schülerinnen und Schüler einen breiten Raum ein. * Arbeitslehre richtet sich an Jungen und Mädchen gleichermaßen. Diese Vorstellungen von Arbeitslehre waren richtungsbestimmend für die Einführung der Arbeitslehre. Dabei sind sie keineswegs völlig unproblematisch. So ist die Arbeitslehre des Deutschen Ausschusses an einem unzeitgemäßen, stark traditionell-handwerklich geprägten Berufsbegriff sowie an einem engen technischen Arbeitsbegriff orientiert. Auch betont sie stark die Anpassungsfünktion der Arbeitslehre und vernachlässigt kritisch-reflexive Aspekte. Diese sind einseitig an Schüleraktivitäten angebunden, die wiederum zu
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sehr auf das werkpädagogische Modell ("Werken") ausgerichtet sind. Bei diesen Punkten darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Arbeitslehre maßgeblich zur Überwindung der überkommenen volkstümlichen Bildung beigetragen hat und daß der Hauptschule mit ihr ein Stück zeitgemäße Allgemeinbildung zugewachsen ist. Insbesondere die Verlängerung der Hauptschule bis zum 10. Schuljahr bietet dem Jugendlichen die Möglichkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt. Dies erleichtert ihm den Übergang in die Berufsausbildung. Dem Deutschen Ausschuß kommt das Verdienst zu, diesen Prozeß mit seinen Hauptschulempfehlungen initiiert zu haben. Die weitere Entwicklung der Arbeitslehre war durch folgende Schwerpunkte bestimmt: 1. Zunächst erfolgte eine Konzentration auf die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung der Arbeitslehre (seit Mitte der sechziger Jahre). Hierzu wurde eine Reihe verschiedener - werkpädagogischer, berufs- und wirtschaftspädagogischer sowie allgemeinerziehungswissenschaftlicher und schulpädagogischer Konzepte, Theorieansätze, Vorschläge usw. hervorgebracht (vgl. Hendricks 1975). Zuallererst entwickelten Berufspädagogen (z.B. Günter Wiemann) und Werkpädagogen (z.B. Hartmut Sellin) Konzeptionen, die - den Vorstellungen des Deutschen Ausschusses entsprechend - elementare praktische Arbeit als Zentrum der Arbeitslehre vorsahen (vgl. Wiemann 1966, S. 198 ff.; Sellin 1966, S. 366 f f ) . Als deutlich wurde, daß in einer praktischen Arbeitslehre die politischen Implikationen von Arbeitspraxis leicht vernachlässigt werden können, wurde verstärkt über die politische Funktion der Arbeitslehre reflektiert und Konzeptionen entwickelt, in denen der "emanzipatorische Anspruch von Bildung und Erziehung" zum Tragen kommt (vgl. Kaiser/Nitsch 1973, S. 17 f.). Diese Entwürfe beanspruchen, eine integrative Arbeitslehre zu sein, die sich auf die komplexe Arbeitswelt mit ihren technischen, ökonomischen und sozialen Aspekten und Zusammenhängen bezieht. Sie können den folgenden Grundtypen zugeordnet werden (vgl. Kaiser 1976, S. 101 ff.): * dem situationsorientierten Ansatz, der auf das situationsanalytische Curriculummodell von Saul B. Robinsohn rekurriert;
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
* dem strukturorientierten Ansatz, der mit dem Instrument des fachdidaktischen Strukturgitters von Herwig Blankertz u.a. arbeitet; * dem systemorientierten Ansatz, der sich auf arbeitswissenschaftlich definierte und begründete Arbeitssysteme bezieht (-»• 6.2.2.1) und * dem verfahrensorientierten Ansatz, der die arbeitsweltlichen Aspekte - unmittelbar auf den Unterrichtsprozeß bezogen - methodisch zu erfassen und zu arrangieren versucht. 2. Die bislang primär wissenschaftliche Diskussion über Arbeitslehre wurde etwa seit Anfang der siebziger Jahre bildungspolitisch-curricular aufgenommen. Im Jahre 1969 hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) "Empfehlungen zur Hauptschule" beschlossen, die in den Klassen 7 bis 9 (10) der Hauptschule das neue Unterrichtsfach "Arbeitslehre" mit der Aufgabe einer "Hinfuhrung zur Wirtschaftsund Arbeitswelt" vorsahen (vgl. KMK 1969, S. 29, -»• 4.6.2). Daraufhin erließen die meisten Bundesländer Lehrpläne, Richtlinien, Handreichungen bzw. Arbeitsgrundlagen, wobei anzumerken ist, daß einige Bundesländer (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen) schon in den sechziger Jahren Lehrpläne für Arbeitslehre erlassen hatten. 3. Mit dem Erlaß von Lehrplänen usw. war den Schulen die Aufgabe gestellt, diese unterrichtspraktisch umzusetzen (etwa seit Mitte der siebziger Jahre). Dies war insofern ein gravierendes Problem, als noch keine voll ausgebildeten Lehrer für Arbeitslehre zur Verfügung standen, die Schulen meist noch nicht über die notwendige sachliche Ausstattung (Werkräume, Labore usw.) verfugten und kaum Unterrichtsmaterialien vorlagen. Infolgedessen vollzog sich in der Arbeitslehreentwicklung eine stärkere Hinwendung zur Unterrichtspraxis, indem nun vermehrt Materialien für den Unterricht entwickelt und erprobt wurden. 4. In Anbetracht von überragenden Problemen unserer Gesellschaft wie Arbeitslosigkeit, Neue Technologien oder Umweltzerstörung wird die Arbeitslehre deutlicher als früher im Horizont des Strukturwandels von Wirtschaft und Gesellschaft gesehen. Entsprechend wird in der Arbeitslehre stärker über Zukunftsaspekte und ihre zukunftsorientierte Weiterentwicklung reflektiert (seit Anfang der achtziger Jahre). Die hierzu unterbreiteten Vorschläge, mit denen
Arbeitslehie in der Sekundarstufe I
263
sich eine Akzentverschiebung in der Entwicklung der Arbeitslehre wieder hin zu ihrer theoretischen Fundierung vollzogen hat, beziehen sich besonders auf * praktisches Lernen in der Schule (-> 4.5), * die informations- und kommunikationstechnologische Grundbildung (-»• 4.3) als Beitrag zu einer allgemeinen Berufsvorbereitung, * die Neubestimmung der arbeitsweltlichen Bezugspunkte der Arbeitslehre (u.a. Arbeitshandlungsstruktur (->• 1.2.3.1), ganzheitlicher Berufs- und ArbeitsbegrifF (siehe u.a. Rammert 1984, S. 2 ff.; Famulla 1983, S. 2 ff.; Himmelmann 1985, S. 227 ff.; Ziefüß 1985, S. 242 ff.; Tornieporth/Bigga 1994)), * die didaktische Zentrierung bzw. Konzentration der Arbeitslehre auf die Erwerbsarbeit bzw. den Beruf (siehe Kahsnitz 1982, S. 6 ff.; Fingerle 1979, S. 233 ff.; Hoppe 1980) und * eine ganzheitliche Bildung in Arbeitslehre im Sinne eines Gesamtverständnisses der materiellen Kultur (siehe Ropohl 1992, S. 6 ff.). 5. Seit Mitte der achtziger Jahre wird über die Notwendigkeit diskutiert, Arbeitslehre auf alle Schulformen der Sekundarstufe I auszudehnen. Dies ist bereits in der Frühphase der Arbeitslehrediskussion gefordert worden, z.B. von Heinrich Abel, Wolfgang Klafki und Karlwilhelm Stratmann (vgl. Abel 1966, S. 619; Klafki 1968, S. 12; Stratmann 1968, S. 401 ff.). Angeregt worden ist die Diskussion um die schulformbezogene Ausdehnung der Arbeitslehre auch durch das "Material zum Lernfeld Arbeitslehre im Sekundarbereich I", das die Kultusministerkonferenz im Oktober 1987 beschlossen hat (vgl. KMK 1988, S. 3 ff.). Dieses ist insbesondere in den neuen Bundesländern bei der Einfuhrung der Arbeitslehre herangezogen worden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß auch die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände besonders nachdrücklich die Einführung eines "eigenständigen Faches" mit der Aufgabe einer Hinführung der Schüler zur Wirtschafts- und Arbeitswelt auch an den Gymnasien fordern (vgl. DGB 1990; Bundesarbeitsgemeinschaft Schule - Wirtschaft 1991, S. 43 ff.). Damit knüpfen sie an früheren Stellungnahmen an, in denen sie bereits ihre Vorstellungen von der Arbeitslehre ausführlich dargelegt haben (vgl. DGB 1981, S. 17 ff.; Bundesvereinigung 1981, S. 27 ff.).
264
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
6. Auf die Veränderungen in Deutschland und in Europa (Vereinigung Deutschlands, Europäische Union, Öffnung der osteuropäischen Länder) ist im Bereich der Axbeitslehre mit verstärkten Anstrengungen zur internationalen Zusammenarbeit reagiert worden (seit Anfang der neunziger Jahre). Insbesondere sind Partnerschaften zwischen Schulen und zwischen Hochschulen geschlossen worden. Die Kontakte konzentrieren sich nicht nur auf Westeuropa, sondern es ist auch eine stärkere Hinwendung zu osteuropäischen Ländern festzustellen.
4.2.3
Stand und Probleme der Arbeitslehre
Die Skizzierung des Entstehungs- und Entwicklungsprozesses der Arbeitslehre dürfte deutlich gemacht haben, daß sich noch keine konsensfähige, verallgemeinerbare und zukunftsorientierte Arbeitslehretheorie und -praxis herausgebildet hat. Die vorliegenden Konstrukte haben den Status von Ansätzen, die meist heftig umstritten sind. Entsprechend haben sie bei der Erstellung der Lehrpläne für Arbeitslehre nur eine begrenzte, eher geringe Rolle gespielt. Meist sind aus mehreren Konzeptionen einzelne Elemente übernommen und im Hinblick auf die besonderen Interessenlagen und Bedingungen in den Bundesländern zu eigenständigen Ansätzen 'verdichtet' worden. Die Lehrpläne für Arbeitslehre der neuen Bundesländer folgen meist - teilweise bis zur Inhaltsformulierung - bestimmten Lehrplänen der alten Bundesländer. Hingegen ist auf den Ansatz der Polytechnischen Bildung und Erziehung der früheren DDR nicht explizit zurückgegriffen worden (->-8.1.4). Vor diesem Hintergrund präsentiert sich die Arbeitslehre in den geltenden Lehrplänen und Richtlinien in sehr heterogener Weise (siehe hierzu Ziefuß 1992 a , Ziefuß 1992 b ). Dabei enthalten sie vielfaltige Mängel, die sich auf die Schul- und Unterrichtspraxis der Arbeitslehre restriktiv auswirken (vgl. Ziefuß 1993 b ). Da auch die anderen Rahmenbedingungen der Arbeitslehre (personelle und sachliche Ausstattung, Lehrerausbildung (-> 9.2) Fortbildungsmöglichkeiten u.a.) mangelhaft sind, stellt sich die Arbeitslehresituation allgemein als problematisch dar.
Arbeitslehre in der Sekundarstufe I
265
4.2.3.1 Fachorganisation Im Lernfeld Arbeitslehre fällt vor allem die unterschiedliche Organisation auf (vgl. Abb. 1). Im Hinblick auf die inhaltlichen Grundstrukturen der Arbeitslehre sind drei Organisationsformen mit spezifischen Ausprägungen zu unterscheiden (vgl. Kaiser/Nitsch 1973, S. 25 ff.;KMK 1988, S. 5): 1. Arbeitslehre als eigenständiges Fach In dieser Form existiert die Arbeitslehre als Integrationsfach mit der Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler auf die komplexe Arbeitswelt vorzubereiten (Arbeitslehre im weiten Sinne). Hiervon sind jene (Teil-)Fächer der Arbeitslehre zu unterscheiden (Techniklehre, Wirtschaftslehre, Hauswirtschaftslehre, Berufswahlunterricht u.a.), die jeweils nur ein reduziertes arbeitsweltbezogenes Angebot unterbreiten und insofern nicht ein eigenständiges Fach 'Arbeitslehre' darstellen. 2. Arbeitslehre als Fächerverbund (Teil-)Fächer der Arbeitslehre (i.d.R. Technik-, Haushalts- und Wirtschaftslehre) stehen in einer inhaltlichen und organisatorischen Kooperation, die mehr oder weniger eng ist. Wirtschaftslehre wird häufig auch zusammen mit einer Berufskunde unterrichtet (und auch als Arbeitslehre im engen Sinne bezeichnet). Als Orientierung haben bei dieser Fachorganisation zum einen die Bezugswissenschaften (Technik-, Haushalts- und Wirtschaftswissenschaften) gedient, denen die Arbeitslehre strukturell entsprechen sollte, und zum anderen die traditionellen Schulfächer (Werken, Hauswirtschaftslehre, Textiles Gestalten, Bürotechnik u.a.), deren Inhalte teilweise in die Arbeitslehre eingegangen sind. 3. Arbeitslehre als Teil anderer Fächer Inhalte der Arbeitslehre sind Bestandteil anderer Fächer (Physik, Chemie, Kunst, Sozialkunde u.a.) oder sie sind im fachspezifischen Unterricht 'als Prinzip' verankert. Dies bedeutet, daß Arbeitslehre nur partiell und aus dem spezifischen Blickwinkel des jeweiligen Faches unterrichtet wird. Zu dieser Organisationsform gehört auch die Vermittlung von Arbeitslehreinhalten in fächerübergreifenden Projekten bzw. Lehrgängen, z.B. zur Berufsorientierung, zur informationstechnologischen Grundbildung oder zur Umwelterziehung.
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Arbeitslehre
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Technisches Werken Textiles Werken Hauswirtschaft Wirtschaft/Politik Wirtschaftsichre SchleswigHolstein
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Hessen
ArbeitAVirtschaft Technik Hauswirtschaft Werkunterricht Wirtschaft und Technik SachsenAnhalt
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MecklenburgVorpommern Niedersachsen
Arbcitslehre Arbeitsichre/Technik Arbeitslchre/Berufsorientierung Arbeitslehre/Hauswirtschaft Arbeit und Technik
Hamburg
3.2) wie Lehrgänge oder Übungen, die sich an den Fach- bzw. Sachstrukturen von Technik, Wirtschaft und Politik orientieren, handelt es sich hierbei insbesondere um konzentrische Unterrichtsverfahren, die als Projekte/projektorientierter Unterricht, Fallstudien/Fallbeispiele, Rollenspiele, Planspiele, Systemanalysen, Betriebserkundungen und Betriebspraktika auf die Strukturen von Lebenssituationen oder Alltagsproblemen bezogen sind. Dabei präferieren einige Bundesländer (Berlin, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Saarland) das Projekt. Als kennzeichnend für die Arbeitslehre in der Hauptschule wird zumeist die Arbeitspraxis in der Schulwerkstatt (Küche, Werk-, Textilraum usw.) herausgestellt (->• 3.1.1). Durchgängig wird dem Betriebspraktikum besondere Bedeutung zugesprochen, weil es die originale Begegnung mit der realen Arbeitswelt ermöglicht und somit geeignet sein kann, den Schülerinnen und Schülern eine authentische Anschauungs- und Erfahrungsgrundlage zu bieten (-> 4.6). In der Literatur wird neuerdings auch die sog. Zukunftswerkstatt vor allem für die Umwelterziehung im Rahmen der Arbeitslehre vorgeschlagen (vgl. Weinbrenner 1988, S. 263 ff.). Dieses von den Zukunftsforschern Robert Jungk und Norbert R. Müllert für Zwecke der gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung entwickelte und erprobte Lernkonzept bietet "ein Forum, in dem sich Bürger gemeinsam bemühen, wünschbare, mögliche, aber auch vorläufig unmögliche Zukünfte zu entwerfen und deren Durchsetzungsmöglichkeiten zu überprüfen" (Jungk/Müllert 1983, S.21). Die in den Richtlinien und Lehrplänen postulierte Verbindung von Reflexion und Handlung findet sich in der Praxis des Arbeitslehreunterrichts in zufriedenstellender Weise nur selten. So steht in der Realschule und im Gymnasium zumeist ein theoretisch-reflexives Lernen im Vordergrund. Demgegenüber wird in der Haupt-, Gesamt- und Sonderschule dem praktisch-handelnden Lernen größerer Raum gegeben. Die hier praktizierten Konzepte von Schülerarbeit sind aber nicht unproblematisch. Im allgemeinen weisen sie zwei Defizite auf (vgl. Ziefüß u.a. 1984, S. 99 f.):
274
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
* Erstens stehen einfache, eher anspruchslose praktische Aufgaben im Vordergrund, z.B. die Herstellung von Spielzeug oder von Hausrat einfacher Art, Kochen und Nadelarbeiten. Der Akzent liegt auf dem Umgang mit Materialien und Geräten. Hier und da wird auch mit Demonstrationsmodellen (Übungsfirmen, Lernbüros u.a.) und Modellbaukästen (z.B. für mechanische und elektronische Darstellungen) gearbeitet. Manchmal werden auch Reparatur- und Demontageübungen (z.B. an dem Fahrrad oder Mofa) und öfter auch Bedienungsübungen (z.B. an dem Computer) durchgeführt. Diese Praxis von Schülerarbeit muß vor dem Hintergrund der Fachraumausstattung der Schulen gesehen werden, die nach wie vor schlecht ist (siehe oben Kap. 4.2.2.2). * Zweitens ist die Schülerarbeit wenig theoriegeleitet im Sinne ihrer Einbindung in ein umfassendes Lernen zur Erfassung der komplexen Arbeitswelt. Sie erfolgt in Form verselbständigter Übungen und kleinerer Praxisprojekte, die mit den manuellen Fertigkeiten lediglich ein auf die Ausführung der Schülerarbeit beschränktes Wissen vermitteln, während die außerschulische Arbeit in ihrer Einbindung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge kaum in den Blick kommt. Praktisches Lernen in Arbeitslehre ist also - ebenso wie das theoretische Lernen - mehr oder weniger abstraktes Lernen. Mit diesen Defiziten wie mit der Vernachlässigung des praktischen Tuns in der Arbeitslehre generell ist ein weiteres Problem verbunden: das der unzulänglichen Persönlichkeitsförderung dieses Lernfeldes. Jedenfalls haben allgemeine Persönlichkeitsmerkmale wie Selbständigkeit, Phantasie, Kreativität oder Selbstwertgefühl, die ja insbesondere durch Schülerarbeit gefördert werden können (vgl. Brater 1979, S. 286 ff.), in der Arbeitslehre nur geringe Entwicklungschancen. Hierüber liegen zwar keine abgesicherten empirischen Befunde vor, man wird aber doch - unter allen Vorbehalten sagen können, daß die Arbeitslehre in der Regel nicht nach pädagogischen Gesichtspunkten gestaltet ist und somit nur eine beschränkte Basis zur Persönlichkeitsbildung bietet.
4.2.4
Entwicklungsperspektiven
Angesichts des problematischen Zustandes der Arbeitslehre ist davon auszugehen, daß die Schülerinnen und Schüler in diesem Lern-
Arbeitslehre in der Sekundarstufe I
275
feld heute nicht angemessen auf die Arbeitswelt der Zukunft vorbereitet werden. Deshalb ist die zukunftsorientierte Weiterentwicklung der Arbeitslehre durch Überlegungen zu ihrer theoretischen Fundierung und durch Maßnahmen zu ihrer praktischen Reform dringend notwendig ( - • 6.2.4). Sie sollte insbesondere auf folgende Punkte gerichtet sein (vgl. Bojanowski u.a. 1991, S. 37 ff.): 1. Um die - komplexe - Arbeitswelt in den Blick nehmen zu können, muß die Arbeitslehre einen umfassenden Arbeitsbegriff zugrunde legen, der sich auf sämtliche Formen von gesellschaftlicher Arbeit bezieht - auf Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und Gesellschaftsarbeit. Dabei sollte die Erwerbs- bzw. Berufsarbeit und insbesondere die Tätigkeit des lohnabhängig Beschäftigten in das Zentrum der Arbeitslehre gerückt und zum didaktisch leitenden Gesichtspunkt erhoben werden, denn die erwerbswirtschaftliche Arbeit ist gegenwärtig und in der absehbaren Zukunft aus verschiedenen Gründen - Sicherung des Lebensunterhalts, Sinn- und Identitätsstiftung, Verursachung sozialer Strukturprobleme durch Erwerbsarbeit u.a. - für das individuelle und gesellschaftliche Leben von zentraler Bedeutung. In der Arbeitslehre - als ein Lernfeld der Allgemeinbildung - kann es primär jedoch nicht um die Auseinandersetzung mit spezialisierten Arbeitstätigkeiten gehen, sondern vielmehr um die als grundlegend unterstellbaren (Handlungs- und Bedingungs-) Strukturen der Arbeitswelt. Diese sollten in ihren historischen Bezügen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) betrachtet werden, um den Lernenden deutlich zu machen, daß Arbeit gestaltbar ist und um sie zur Weiterentwicklung der Arbeit zu ermutigen. Hierbei muß die Ausbildung von Zukunftsphantasie ein hervortretendes Lernziel sein. 2. Bei der zentralen Aufgabe der Berufswahlvorbereitung gilt es, die sozialen Sinn- und Lebenszusammenhänge, in die die Berufswahl und Berufsausübung eingebunden sind, stärker zu beachten. In Anbetracht des Strukturwandels der Arbeitswelt (Arbeitslosigkeit, häufiger Betriebs- und Berufswechsel u.a.) und der Veränderung der beruflichen Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugend ("Wertewandel") mit der Folge der Bedeutungszunahme selbstbestimmter, ganzheitlicher und als sinnvoll empfundener Tätigkeiten und der offenen Gestaltung der Berufsarbeit gegenüber der Freizeit bedarf die Berufswahlvorbereitung einer "kulturellen Erweiterung" im Hinblick auf ihre Ziele, Inhalte und Formen. Der Beruf wird dann nicht nur als technisch-ökonomisches Qualifika-
276
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
tionsbündel, sondern auch in seiner kulturellen Bedeutung für die Partizipationsmöglichkeiten im Betrieb und für die eigene Lebensgestaltung betrachtet (siehe hierzu Mueller 1989, S. 141 ff.; Mueller 1990, S. 4 ff.). Der Berufswahlvorbereitung stellt sich somit die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern konkrete Hilfen für die Berufs- und Lebensplanung zu geben (Planung von Berufswegen, Entwicklung von differenzierten Lebensentwürfen, Konfrontation mit möglichen zukünftigen Problemsituationen, z.B. Berufswechsel u.a.). 3. Um den Schülerinnen und Schülern in Arbeitslehre eine ganzheitliche Bildung im Sinne einer grundlegenden Vorbereitung auf die Arbeitswelt und einer optimalen Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen, sollte das in der Regel vorherrschende theoretisch-reflexive Lernen durch praktisches Tun ergänzt werden. Dieses muß den "Erwerb von Orientierungsmustern mit starken, selbsttätig vom Schüler erworbenen 'inneren Bildern' ermöglichen" (Schneidewind 1987, S. 16). Insbesondere sollte das praktische Tun in der Arbeitslehre auf neue Formen der Arbeit mit dem Ziel ausgerichtet sein, zukunftsrelevante Fähigkeiten (Zukunftsphantasie) zum Beispiel zur Bedienung und Reparatur, zum Entwickeln und Experimentieren mit alternativen Techniken und zur praktischen Erprobung neuer Ideen auszubilden. Hierfür empfiehlt sich die Einbindung der Schülerarbeit in Unterrichtsprojekte (siehe oben Kap. 4.2.3.5) mit zugeordneten Lehrgängen, Fallstudien, Feldstudien u.a. und mit den Phasen Analyse/Zielsetzung, Planung/Realisation und Kontrolle/Kritik ( - • 6.3.3). Unerläßlich ist dabei die Beachtung der besonderen Befindlichkeiten der Schülerinnen und Schüler (Lernvoraussetzungen, Interessen, Motivationen, Erwartungen usw.). Damit ist angedeutet, daß auch den geschlechtsspezifischen Unterschieden der Lernenden durch explizite Thematisierung und durch Formen der inneren Differenzierung Rechnung getragen werden muß (->2.3). Außerdem sollte die praktische Arbeitslehre - der Entwicklung der Lernenden entsprechend - als gestufter Aufbau über die ganze Schulzeit hinweg unterrichtet werden. Ein Beispiel hierfür bieten die Waldorfschulen (->4.4). 4. Zur Beseitigung der Chancenungleichheiten im Bereich der schulischen Vorbereitung auf die Arbeitswelt ist ein (Integrations-) Fach Arbeitslehre in allen Schulen auf der Sekundarstufe I und II (-> 6.2; -> 6.3) notwendig. Es sollte dort im Pflicht- und Wahl(pflicht)bereich unterrichtet werden. Außerdem ist die Einbindung der Arbeitslehre in fächerübergreifende, problemorientierte Pro-
Arbeitslehre in der Sekundarstufe I
277
jekte erforderlich, wie sie zum Beispiel das Konzept einer informations- und kommunikationstechnischen Grundbildung vorsieht.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
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4.3
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung Wolfgang Hörner (unter Mitarbeit von Monika Dietzold)
4.3.1
Gesellschaftliche Voraussetzungen
281
4.3.2
Zur Didaktik informations- und kommunikationstechnischer Grundbildung Terminologische Aspekte Die Zieldiskussion Didaktische Modelle
283 283 284 286
4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.3
4.3.3.3
Die Antwort der Bildungspolitik: Zur Implementation der informations- und kommunikationstechnischen Grundbildung Das Rahmenkonzept der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung Die Verwirklichung der informationstechnischen Bildung in den Bundesländern Probleme der Implementation
4.3.4
Das ungelöste Geschlechterproblem: Mädchen und Computer .299
4.3.5
Fazit
4.3.3.1 4.3.3.2
287 288 291 295
303
Zitierte Literatur
304
Weiterführende Literatur
308
4.3.1
Gesellschaftliche Voraussetzungen
Seit den 70er Jahren findet man in der soziologischen Literatur häufig den Begriff der "Informationsgesellschaft", der - etwa nach dem Modell des Begriffs "Industriegesellschaft" - die strukturbestimmende gesellschaftliche Rolle der Informationstechnik als Schlüsseltechnologie im ausgehenden 20. Jahrhundert hervorheben soll (so z.B. BMBW 1986; Zukunftsperspektiven 1983, S. 77). Der Begriff signalisiert die besonderen Herausforderungen, vor die alle gesellschaftlichen Teilbereiche durch die auf der Mikroelektronik basierenden neuen Informationstechniken mit ihren Vernetzungsmöglichkeiten gestellt werden. Die "informationstechnische Herausforderung" gilt auch für das Bildungswesen. Vertreter der Wirtschaft und
282
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Politik forderten deshalb, daß "schon die Schulen Verständnis für die moderne Technik vermitteln müssen" (BMFT 1984a, S. 27). Die infolge der Exportorientierung der Bundesrepublik notwendige "Führungsposition" in der Anwendung von Informationstechnik sei nur dann möglich, wenn die Menschen "die Herausforderung dieser Technik ... hinsichtlich Bildung und Weiterbildung" aufnehmen (BMFT 1984b, S. 3). Doch nicht nur auf dem Exportsektor, auch auf der Ebene des Arbeitsmarktes zeigen sich die Einflüsse der Informationstechnik: Während einige Wirtschaftsbereiche (Bergbau, Metallerzeugung, Textil) seit 1961 Einbußen von 33% - 60% der Arbeitsplätze aufweisen, expandierten z.B. die Elektroberufe um 20%, die der Techniker und Ingenieure um 75% (vgl. Alex 1987, S. 7). Betrachtet man die jüngste Vergangenheit, so kann man einen noch deutlicheren Trend feststellen: in den Jahren 1990 bis 1994 erhöhte sich in Deutschland die Zahl der im Telekommunikationssektor Beschäftigten von 1.600 auf 22.000 (nach Wirtschaftswoche Nr. 48 vom 24.11.94). Aber auch in anderen Bereichen veränderte der Computer das Tätigkeitsprofil der Beschäftigten tiefgreifend - dies geht bis hin zur Durchfuhrung von Qualifikationsmaßnahmen in Form von Kursen auf CD-ROM oder Diskette direkt über den Arbeitsplatzcomputer der Mitarbeiter. Möglich geworden ist dies durch die Verwendung eines gemeinsamen Universalwerkzeuges, des Computers, durch den "eine gewisse Konvergenz der beruflichen Anforderungen" erfolgte (Alex 1987, S. 13). Die Tragweite der sozialen Veränderungen durch den Computer ließ sich durch den Modernisierungsschub beim Aufbau neuer Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen gerade in den neuen Bundesländern besonders eindrücklich erleben. Der Umgang mit moderner Kommunikationstechnik, mit Multimedia und Mailbox zählt zunehmend mehr zum Erfahrungsbereich auch der Schülerinnen und Schüler, denn "aus einer Technik für Fachleute ist in wenigen Jahren eine allgemein verfugbare Technik geworden" (Gl 1993, S. 35). Erwartete die Computerindustrie vor etwa 10 Jahren von der Schule vor allem, die "Akzeptanz für neue Technologien" zu sichern, d.h. "eine positive Grundeinstellung für die Veränderungen zu vermitteln, die durch den technologischen Fortschritt in Gang gesetzt werden" (Zukunftschancen 1983, S. 161), so kann man infolge der faktischen Ausbreitung der Informa-
Informations- und kommunikationstechnische Grandbildung
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tionstechnik in allen Bereichen der Gesellschaft inzwischen davon ausgehen, daß das Akzeptanzproblem heute nicht mehr an erster Stelle steht: die Erwartungen an die Schule - und zwar Erwartungen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen - haben sich mit der Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnik stark ausdifferenziert. Aus dem Zusammenhang gesellschaftlicher, ökonomischer und qualifikatorischer Leistungserwartungen leiten sich veränderte Bedingungen und Sichtweisen für die Behandlung dieses Gegenstandes in der Schule ab. Dabei läßt sich ein relativer Konsens insoweit feststellen, als die Vermittlung von Basiswissen im Bereich der Informationstechnik für alle Schüler von den meisten gesellschaftlichen Kräften als notwendig angesehen wird. Die Probleme dieser "informationstechnischen Grundbildung" sind im folgenden Hauptgegenstand der Analyse.
4.3.2
Zur Didaktik informations- und kommunikationstechnischer Grundbildung
4.3.2.1 Terminologische Aspekte Die Verwendung des Begriffes informations- und kommunikationstechnische Grundbildung macht eine terminologische Klärung notwendig. In der Bundesrepublik verwendet man die Ausdrücke "informationstechnische/-technologische/-theoretische/informatische Bildung" quasi synonym. In den offiziellen Bezeichnungen der Planungsinstanzen und Kultusverwaltungen vieler westdeutscher Bundesländer hat sich der Begriff "informationstechnische Bildung" durchgesetzt, obgleich aus sprachlogischer Sicht "informationelle Bildung" (in Anlehnung an die Rechtssprache, die von "informationeller Selbstbestimmung" spricht) sicher korrekter wäre. Es geht nämlich in diesem Lernbereich weder allein um die praktisch-technischen, noch um die techniktheoretischen (technologischen) oder die informationswissenschaftlichen (informatischen) Aspekte (vgl. Kell 1986, S. 141ff.). Die meisten Quellen betonen zwar, daß "Informationstechnik" im weiten Sinne zu verstehen ist (d.h. einschließlich der vielfältigen Formen der Vernetzung und Datenfernübertragung), trotzdem beschränkt sich die Verwendung dieses Begriffs im Bildungswesen faktisch doch auf die Anwendung des Computers. Um die Erweiterung des Gesichtsfeldes auch begrifflich festzuhalten, soll
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
der Zusatz "kommunikationstechnisch/-technologisch", der vor allem in neueren Konzeptionen Anwendung findet, deutlich machen, daß der Vernetzungsaspekt - die Verknüpfung verschiedener Techniken der Datenverarbeitung und -Übertragung - nicht vernachlässigt werden darf. In einigen neuen Bundesländern hat sich - möglicherweise auch im Anschluß an die Terminologie der DDR-Schule - der Ausdruck "Informatik" bzw. "informatische Grundbildung" auch für den Grundbildungsbereich erhalten. In den Schulen der westlichen Bundesländer ist der Name "Informatik" in Anlehnung an die wissenschaftliche Disziplin indes meistens für den Unterricht in der gymnasialen Oberstufe reserviert, offensichtlich um die Nähe zur Bezugswissenschaft zu unterstreichen. 4.3.2.2 Die Zieldiskussion Für ihre Befürworter ist das allgemeinste Leitziel informationstechnischer Bildung die Erschließung der "informationellen Umwelt" (Haefner 1982, S. 30) über die Vermittlung eines Computer-ABCs (computer-literacy), das ebenso grundlegend sei wie das Lesen und Schreiben für frühere Zeiten. Dieses Leitziel läßt sich als die Kenntnis der (gesellschaftlichen) Funktionen und des (technischen) Funktionierens des Computers zusammenfassen (vgl. Ortner 1988, S. 102). Die Bildung dürfe sich auf keinen Fall auf das Einüben von Fertigkeiten oder die Vermittlung einer "Computerakzeptanz" reduzieren, sondern müsse eine kritische Analyse der "Technologiefolgen" einschließen. Oberstes Lernziel sei "kreative Flexibilität" im Umgang mit dem Computer, die divergentes Denken und Originalität einschließt (vgl. Steffens 1986, S. 94 ff.). Diese Ziele seien für alle Menschen in gleicher Weise bedeutsam, denn sonst drohe eine Zweiteilung der Gesellschaft in konstruktiv-kritische Anwender von Informationstechnik und passiv-hilflose "Laien", die eine neue Form der sozialen Abhängigkeit darstelle (vgl. BMBW 1986, S. 18). Einige Pädagogen betrachten die Einführung der Informationstechnik in die Schule als eine neue Möglichkeit zur Bildungsreform "in einer weitgehend von Stagnation ... geprägten Bildungslandschaft" (Armbruster/Kübler 1988, S. 9). Sie sehen hier die Möglichkeit zur Überwindung des überkommenen Gegensatzes von berufli-
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung
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eher und allgemeiner Bildung, da in der Informatik durch die Integration naturwissenschaftlicher, gesellschaftlicher und technischer Elemente die Möglichkeit eines ganzheitlichen Bildungsprozesses besser als in anderen Inhalten gegeben sei (vgl. Ortner 1988, S. 104). Darüber hinaus verleihe die sozio-technische Entwicklung dem Computer "eine weitaus größere Bedeutung für die Erschließung der Berufs-, Arbeits- und Wirtschaftswelt ... als die Drehbank in der Schul Werkstatt" (Steffens 1986, S. 17). Informationstechnische Bildung wird also als wirksamere Trägerin für eine arbeitsweltbezogene Bildung angesehen als der konventionelle Unterricht in Technik/Arbeitslehre ( - • 4.2). Allerdings warnten andere Pädagogen von Anfang an vor einer Reihe spezifischer Gefahren, die aus einer zu starken Betonung der Informationstechnik in der Schule erwachsen könnten (besonders nachdrücklich z.B. Eurich 1985). Sie lassen sich auf drei Leitgedanken zusammenfassen: - Reduzierung der Sensorik und Motorik, Verarmung der Gefühlswelt und der ästhetischen Wahrnehmung, - Zerstörung des Kindseins durch zu frühe Konfrontation mit Abstraktion, - Bevorzugung des algorithmischen ("binären") Denkens, das keine Abstufüngen und dialektischen Widersprüche kennt (vgl. Baacke 1988, S. 18 f.). Solche kritischen Gesichtspunkte werden von Befürwortern der informationstechnischen Bildung durchaus ernstgenommen. Für sie ist die Informationstechnik jedoch eine gesellschaftliche Erscheinung, die sich unabhängig von der Zustimmung der Pädagogen ausbreitet, so daß die Pädagogik sich zwangsläufig mit ihr befassen muß. Entscheidend wichtig ist gerade für die engagiertesten Vertreter einer "informationstechnischen Bildungsreform", daß die Schule als Gegengewicht zur "Denkmaschine" die spezifisch menschlichen Qualitäten ausbildet, d.h. die ganzheitlichen, kreativen, sozialen und ästhetischen Aspekte in der Erziehung wesentlich stärker berücksichtigt als bisher. Die Schule kann nicht länger durch die Betonung der intellektuellen Aspekte "Computer auf Beinen" ausbilden, die den Maschinen von vornherein hoffnungslos unterlegen sind (vgl. Haefher 1982, S. 219 f., 276 f.; Haefner 1986, S. 28).
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Diese ganzheitliche Sichtweise machte sich selbst der Interessenverband der Informatiker (Gesellschaft für Informatik e.V.) zu eigen und formulierte in seinen jüngsten Empfehlungen für den Informatikunterricht auf der Sekundarstufe II, daß Informatik neben rein mathematisch-formal geprägten Methoden und algorithmischem Denken weitere Bearbeitungsperspektiven verlange, etwa die Behandlung der Informations- und Kommunikationstechnologien unter dem Blickwinkel der Sozialverträglichkeit in gesellschaftlichen Anwendungsfeldern (Gl 1993, S. 36). Diese "Veränderten Sichtweisen" des Informatikerverbandes gehen von einer aktuellen pädagogischen Diskussion aus, die den Ausgangspunkt der Allgemeinbildung in "gesellschaftlichen Schlüsselproblemen" (Klafki) sieht. Der komplexe Umgang mit Informationstechnik und ihren gesellschaftlichen Funktionen wird zur Voraussetzung zur Bewältigung dieser Schlüsselprobleme. 4.3.2.3 Didaktische Modelle Parallel zu dieser grundsätzlichen bildungstheoretischen Debatte bildeten sich schon seit den 60er Jahren didaktische Ansätze unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung heraus (vgl. dazu Bosler u.a. 1985, S. 9f.; Lansky 1988, S. 33 f.; Hauf-Tulodziecki 1992). Der rechnerorientierte Ansatz versuchte unter dem Einfluß der kybernetischen Schulen der 60er Jahre die mathematisch-technischen Grundlagen der Datenverarbeitung (binäre Kodierung, Baupläne des Computers usw.) zu vermitteln. Er wurde in den 70er Jahren von dem algorithmenorientierten Ansatz abgelöst, der den Algorithmus als zentrales Strukturelement der sich entwickelnden "Informatik" herausstellte und bis heute im Zentrum auch des Schulfachs "Informatik" - vor allem auf der Sekundarstufe II - geblieben ist (vgl. Hauf-Tulodziecki 1994). Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stand die strukturierte Problemlösung, der Computer selbst wurde zum bloßen Werkzeug. Die mathematisch-technischen Grundlagen wurden zweitrangig. Der besondere pädagogische Wert dieses Ansatzes wurde in der Einübung einer allgemeinen Methode systematischen Problemlösens gesehen. Etwa gleichzeitig entstand der anwendungsorientierte Ansatz, der in Anknüpfung an die Curriculumkonzeptionen dieser Jahre nicht von einem strukturierten Fach (nämlich der Informatik), sondern von den Lebenssituationen der Lernenden ausgehen wollte. Die Lösung der realen Probleme der durch die Datenverarbeitung Be-
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troffenen sollte nicht nur motivierend wirken, sondern auch die gesellschaftliche Dimension der Computeranwendung deutlich machen. Allerdings setzte die Lösung komplexerer Probleme umfangreichere Programmierkenntnisse voraus, so daß der Unterricht bisweilen in die Gefahr geriet, zum Programmierkurs auszuarten. Der seit den 80er Jahren entwickelte benutzerorientierte Ansatz geht dagegen von der Existenz differenzierter Softwareangebote (z.B. graphische Datenverarbeitung, Textverarbeitung) aus, die instrumenten in den Problemlösungsprozeß eingebunden werden. Wichtigste Gegenstände des Lernens sind hier die Handhabung der Software und die Möglichkeiten ihrer Verwendung zur Lösung anstehender Probleme. Für den Bereich der informationstechnischen Grundbildung erschienen die stark fachwissenschaftlich geprägten Ansätze von vornherein wenig geeignet. Da sich als Leitbild sehr schnell der verantwortungsbewußte Benutzer herausschälte und der didaktische Ansatzpunkt des Verhältnisses von Mensch und Computer zum Leitthema wurde, bot sich ein handlungsorientiertes ganzheitliches Modell an, das zugleich Erfahrungsorientierung und Situationsorientierung in sich einschloß. Die Frage, inwieweit dieser ganzheitliche Ansatz aus der informationstechnischen Grundbildung auch auf den Informatikunterricht der Sekundarstufe II übertragbar ist, bestimmt auch die gegenwärtige informatikdidaktische Diskussion (vgl. Hauf-Tulodziecki 1994).
4.3.3
Die Antwort der Bildungspolitik: Zur Implementation der informations- und kommunikationstechnischen Grundbildung
Die bildungspolitisch-didaktische Debatte lief parallel zur Erörterung erster bildungspolitischer Entwürfe einer informationstechnischen Grundbildung für alle Schüler, die bereits seit Mitte der 80er Jahre in einigen Bundesländern erprobt wurden. Bezugspunkte dieser Konzeptionen waren Leittexte der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK), die aufgrund ihrer strategischen Bedeutung hier kurz vorgestellt werden sollen.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
4.3.3.1
Das Rahmenkonzept der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung Im Dezember 1984 verabschiedete die BLK ein "Rahmenkonzept zur informationstechnischen Bildung in Schule und Ausbildung". Die BLK war für diese Frage zuständig, da mit der beruflichen Ausbildung die Kompetenzen der Länder allein überschritten wurden. E s folgten entsprechende Rahmenkonzepte für Hochschule (Dezember 1985) und Weiterbildung (Frühjahr 1986). Diese Texte wurden 1987 zu einem "Gesamtkonzept für die informationstechnische Bildung" zusammengefaßt (vgl. BLK 1987). Damit lag eine weitgehend konsensfähige Konzeption für die Ausgestaltung der informationstechnischen Bildung in der gesamten (damaligen) Bundesrepublik vor. Das Gesamtkonzept sieht in Übereinstimmung mit der Theoriediskussion der 80er Jahre in der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der neuen Informationstechniken eine Herausforderung für das ganze Bildungswesen. Die informationstechnische Bildung ist deshalb auf allen Stufen des Bildungswesens zu vermitteln und gliedert sich in: - eine informationstechnische Grundbildung (ITG), - eine vertiefende informationstechnische Bildung "in Form der Informatik", - eine berufsbezogene informationstechnische Bildung, - Studienangebote zur Informatik und zu deren gesellschaftlichen Auswirkungen. Flankierende Maßnahmen zur Verwirklichung des Konzepts bilden Empfehlungen zur Lehrerausbildung und -Weiterbildung sowie zur Ausstattung mit Geräten. Gewissermaßen quer zu dieser inhaltlichen Beschäftigung mit der Informationstechnik wird der instrumenteile Gebrauch des Computers als universelles Werkzeug in dafür geeigneten Fächern, Ausbildungsgängen und Studiengängen empfohlen. Wichtig erscheint der Gesamtkonzeption, daß Mädchen und Frauen auf allen Ebenen gleiche Chancen beim Umgang mit dem Computer eröffnet werden. Die bedeutendste Neuerung des BLK-Konzepts ist zweifellos die Einführung der für alle Schüler verbindlichen informationstechnischen Grundbildung (ITG). Sie soll vor allem im Rahmen der Sekundarstufe I vermittelt werden - die Grundschule wird vorerst aus
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung
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der ITG ausgeklammert, da sie sich auf die Vermittlung traditioneller Kulturtechniken konzentrieren soll. Die Konzeption sieht drei Aufgabenfelder für die Grundbildung vor: - Aufarbeiten von Vorerfahrungen mit Informationstechniken, - Vermittlung von Sach- und Objektkenntnis (einschließlich der Anwendungsmöglichkeiten), - Bewußtmachen der gesellschaftlichen Dimension dieser Techniken. Dabei geht es der Konzeption im Kern auf der theoretischen Ebene einerseits um Vermittlung von Grundstrukturen und Grundbegriffen, die für die Informationstechnik von Bedeutung sind, andererseits um die Einführung in die algorithmische Darstellung von Problemlösungen. In praktischer Hinsicht sollen die Handhabung eines Computers und Kenntnisse über seine Einsatzmöglichkeiten Unterrichtsgegenstand werden. Leitziel der Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Dimension der Informationstechniken ist es, ein Bewußtsein für die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Computernutzung zu schaffen, eine rationale Einschätzung ihrer Chancen und Risiken zu erreichen und schließlich in Probleme des Datenschutzes einzuführen. Die Grundbildung soll nach der BLK ohne Verlängerung der Unterrichtszeit vorwiegend in das Lernangebot vorhandener Fächer integriert werden. Ihre Vermittlung im Rahmen von Blockphasen oder Projektunterricht ist möglich. Die Beantwortung der Frage, welche Fächer sich besonders eignen, wird weiteren Erprobungen übertragen. Die vertiefende informationstechnische Bildung in Form der Informatik soll dagegen vor allem die theoretischen Aspekte der Grundbildung einschließlich elementarer Programmierkenntnisse zum Gegenstand haben. Als Ort dieses eher wissenschaftspropädeutisch ausgerichteten Lernbereichs ist vorzugsweise die gymnasiale Oberstufe, aber gegebenenfalls auch der Wahlpflichtbereich der Sekundarstufe I vorgesehen. Das Gesamtkonzept ist bestrebt, den Vorbehalten gegenüber dem Computer im Unterricht Rechnung zu tragen und möglichen Gefahren durch systematisches pädagogisches Handeln entgegenzuwirken. Dazu sollen vor allem auch die in das Konzept aufgenommenen Empfehlungen zur Medienerziehung beitragen. Auch für
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das Medium Computer gelten die Erziehungsziele der allgemeinen Medienerziehung, nämlich Medien kritisch beurteilen zu können, nach bestimmten Zwecken auszusuchen und sie selbst zu gestalten. Es wird betont, daß nicht die generelle Ablehnung von Medien, sondern die Befähigung der Kinder und Jugendlichen zur selbstverantworteten Auseinandersetzung mit ihnen Erziehungsziel sein kann. Dazu soll ein erweitertes Angebot wertvoller Medienproduktionen helfen. Besonders wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Problematik des algorithmischen ("binären") Denkens, die in der Kritik am Computer als Gegenstand der Bildung eine große Rolle spielt. Nach dem BLK-Konzept soll der informationstechnische Unterricht deutlich machen, daß die Eindeutigkeit dieses "computergemäßen" Denkstils nicht beliebig auf andere Lebens- und Arbeitsbereiche übertragen werden kann. Es muß im Unterricht deutlich werden, daß die natürliche Sprache spezifische Charakteristika hat wie Mehrdeutigkeit, Metaphorik, Ironie, Paradoxie, die für die Vielfalt menschlicher Kommunikationsformen bedeutsam sind. Ziele und Inhalte der ITG, wie sie für die Schule formuliert wurden, lassen sich nach der Gesamtkonzeption bei entsprechender didaktischer Bearbeitung auch auf die anderen Bildungsbereiche übertragen. Die neuen Aufgaben von Schule und Ausbildung setzen die Vorbereitung des Lehrpersonals im Hinblick auf die Vermittlung der neuen Informationstechniken voraus. Das gilt nicht nur für fundierte Sachkenntnisse bezüglich der Handhabung des Rechners und seiner souveränen Anwendung auf Problemlösung - einschließlich seiner Verwendung als Lehr- und Lernmittel -, sondern selbstverständlich auch für die didaktischen und methodischen Aspekte der Vermittlung informationstechnischen Wissens, einschließlich der gesellschaftlichen Auswirkungen. Hier stellt das BLK-Konzept einen großen Handlungsbedarf fest: Abgesehen davon, daß eine Lehrbefähigung in Informatik zur damaligen Zeit überhaupt erst an wenigen Hochschulen erworben werden konnte, war diese Lehrbefähigung nicht so breit ausgelegt, daß die ganze Breite der hier skizzierten informationstechnischen Bildung, einschließlich ihrer gesellschaftlichen Aspekte, vermittelt
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werden konnte. Infolge der prognostizierten "begrenzten Einstellungsmöglichkeiten ftir Lehrer" für die nächsten Jahre schreibt die BLK der Fort- und Weiterbildung der Lehrer besondere Bedeutung zu. Die Länder werden aufgefordert, ihre Konzeptionen zur Lehrerfortbildung auf das Gesamtkonzept abzustimmen. Da, wie erwähnt, ein besonderes Anliegen der BLK die Frauenförderung darstellt, betont das Konzept die Bedeutung einer intensivierten Qualifizierung von Lehrerinnen für den Informatikunterricht im Hinblick auf deren besondere Vorbildfunktion für Mädchen. Das bedeutet auch, daß die Lehrkräfte in der informationstechnischen Fortbildung für besonders geeignete Vermittlungsformen für Mädchen sensibilisiert werden und so traditionellen Vorbehalten entgegenwirken können. Es fällt auf, daß die Gesellschaft für Informatik in ihren "Rahmenempfehlungen für die Informatik im Unterricht der Sekundarstufe I" (vgl. Gl 1986) trotz eines insgesamt stärkeren fachwissenschaftlichen Bezugs im wesentlichen mit dem BLK-Konzept konform geht. 4.3.3.2
Die Verwirklichung der informationstechnischen Bildung in den Bundesländern Bereits am 14.12.1984 nahm die Kultusministerkonferenz (KMK) das Rahmenkonzept der BLK für die informationstechnische Bildung in Schule und Ausbildung als Orientierungsgrundlage für Struktur und Inhalt informationstechnischer Bildung in den Ländern an. Die Länder begannen, die Empfehlungen mit unterschiedlichem Tempo umzusetzen. Baden-Württemberg erklärte die Vorschläge bereits 1984 für verbindlich und führte sie ohne Erprobungsphase schrittweise nach Maßgabe der personellen und materiellen Infrastruktur flächendeckend bis 1989 ein. Die anderen Länder unternahmen zunächst Schulversuche, die inzwischen weitgehend abgeschlossen sind. Bayern hat das Fach in allen Schulformen schon ab 1988/89 für verbindlich erklärt, das Saarland und Bremen ab 1989/90, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz folgten 1990, Schleswig-Holstein 1993. Einige Länder lassen sich mit der flächendeckenden Einführung noch etwas Zeit. Die einzelnen Bundesländer verwenden dabei eine unterschiedliche Begrifflichkeit, denn nicht überall wird die Terminologie des
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BLK-Konzepts übernommen. Baden-Württemberg spricht von "Grundkenntnissen über Computer und Informatik". Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bringen dazu den Kommunikationsaspekt ins Spiel, wobei Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen von "Informations- und Kommunikationstechnologischer Grundbildung" sprechen, um damit das reflexive Moment stärker hervorzuheben. Sachsen spricht - gemäß der DDR-Tradition - von "(angewandter) Informatik", in Mecklenburg-Vorpommern heißt der Lernbereich "informatische Grundbildung". Bemerkenswert ist dabei, daß die ostdeutschen Bundesländer in der Definition ihrer eigenen Konzeption ohne Zögern auch den Grundkurs Informatik der DDR-Schule als Bezugsgröße nennen. Das gilt sowohl für die offizielle KMK-Darstellung (vgl. KMK 1991, S. 95 ff.) als auch beispielsweise für die Beschreibung der speziellen Konzeption der "Informatischen Grundbildung" in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Lehmann 1993). Dies korreliert mit der häufiger anzutreffenden Akzentuierung der Gemeinsamkeit zwischen DDR und BRD in konzeptuellen Grundfragen der ITG (vgl. Hörner 1990a; Hörner 1990b; Kreuzmann/Matschinske 1990). Die Empfehlung der BLK, die ITG in die bestehende Fächerstruktur zu integrieren, wurde von fast allen Ländern aufgegriffen, allerdings in unterschiedlicher Weise realisiert. Die meisten Länder vermitteln die ITG in der 8./9. Klasse im Rahmen von "Leitfächern", in die entweder geschlossene Unterrichtseinheiten integriert sind (Blockmodell) oder wo Elemente der ITG auf eine größere Zahl von Fächern verteilt werden (Verteilungsmodell). Nied er sachsen verzichtet auf Leitfächer, dagegen sollen möglichst alle Fächer einen Beitrag zur ITG leisten. Nur Sachsen führte "Informatik" auch im Rahmen der Grundbildung in der gymnasialen Sekundarstufe I als eigenes Fach ein. Die beiden genannten didaktischen Realisierungsformen - Blockmodell wie Verteilungsmodell - bringen jeweils bestimmte Probleme mit sich: Im Blockmodell müssen die Leitfächer traditionellen Stoff "opfern". Beim Verteilungsmodell besteht vor allem die Gefahr, daß die fachspezifischen Inhalte und Methoden die ITG letztlich wieder überlagern oder fachbezogene Einzelinformationen zur ITG von den Schülern nicht zu einem Ganzen integriert werden können. Im Verlauf der Erprobungsphase haben sich die beiden Grundmodelle einander angenähert. Das Blockmodell differenzierte sich durch Vertei-
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lung der ITG-Blöcke auf mehrere Fächer ("Mehr-Fach-Blöcke") aus, das Verteilungsmodell reduzierte die Zahl der Fächer und konzentrierte damit die ITG-Anteile in den Fächern ("Geblocktes Verteilungsmodell"; vgl. Hauf-Tulodziecki 1992, S. 101 f.). Die Integration in die bestehenden Fächer entspricht dem multidisziplinären Charakter der ITG, die in allen Ländern technische, mathematische und sozio-ökonomische Aspekte verbindet. Die jeweiligen Leitfächer können je nach Schulform variieren. In BadenWürttemberg z.B. ist Technik das Leitfach für die Hauptschule, Mathematik dagegen Leitfach für die Realschule und das Gymnasium. Die gesellschaftswissenschaftlichen Aspekte werden dort dem Fach Gemeinschaftskunde zugeordnet. Daraus ergeben sich inhaltliche Konsequenzen: obgleich die Konzeption der ITG im Prinzip schulformübergreifend ist, können sich in der Realisierung deutliche schulformspezifische Unterschiede zeigen. Eine besondere Situation zeigt sich in dieser Beziehung auch in einigen neuen Bundesländern. In Mecklenburg-Vorpommern ist Leitfach für die informatische Grundbildung in Haupt- und Realschule der Technikunterricht für die Klasse 7 (inhaltlicher Schwerpunkt: Prozeßdatenverarbeitung), die Fächer Deutsch und Sozialkunde in Klasse 8 (inhaltliche Schwerpunkte: Textverarbeitung und Datenschutz). Diese Struktur sollte im Prinzip auch für das Gymnasium gelten. Allerdings gibt es dort nach der Umgestaltung des Schulwesens keinen Technikunterricht mehr, so daß der einführende Block hier kein Bezugsfach hat: Er kann nur isoliert angeboten werden. Das Wegbrechen des (poly-)technischen Unterrichts als Pflichtfach für das Gymnasium erweist sich so für die strukturierte Einführung der informatischen Grundbildung als gewisser Problemfaktor, da das ursprüngliche Konzept von einer Kontinuität des Technikunterrichts ausging. Andere neue Bundesländer versuchen das Problem über einen anderen Zugang zu lösen. Die "profilbildende" sächsische Mittelschule nimmt als Leitfach für "Angewandte Informatik" das jeweilige profilbildende Fach (Technik, Wirtschaft, Hauswirtschaft, Sprache u.a.). Im Gymnasium wird dagegen in Klasse 7 ein eigenes Fach "Informatik" mit einem Unterrichtsblock von 30 Stunden geschaffen, das durch Wahlgrundkurse in der gymnasialen Oberstufe weitergeführt werden soll. Thüringen führt als ITG einen Einführungsblock von 28 Stunden mit offener Fächerzuordnung ein, der durch weitere Elemente in verschiedenen Fächern in festgelegtem
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
zeitlichem Umfang (32 Stunden) ergänzt werden soll. Durch die verpflichtetende Einfuhrung der Arbeitslehre auch an Gymnasien kann Brandenburg seinen Grundkurs I T G (30 Stunden) in Klasse 9 schulformübergreifend an den Technikunterricht anbinden und durch fächerübergreifende Projekte ergänzen (vgl. auch Rommel 1993). Angesichts des Grundbildungsauftrags dominieren in den I T G Ansätzen der Bundesländer benutzerorientierte (gegenüber algorithmenorientierten) Ansätze. Der ganzheitliche interdisziplinäre Charakter der I T G fördert handlungsorientierte, fächerübergreifende Konzepte, die bisweilen in projektorientierten Unterricht münden können ( N R W ; Hamburg; Hessen; Brandenburg). Der Projektansatz bietet neben der Möglichkeit eines didaktischen Eingehens auf den multidisziplinären Charakter der I T G auch den unterrichtsorganisatorischen Vorteil, daß der normale Stundenplan nur über kurze Perioden außer Kraft gesetzt werden muß (Projekttag/-woche usw.). Besonders aus Lehrersicht erweist sich die fachübergreifende Kooperation "harter" (naturwissenschaftlicher) und "weicher" (sprachlich dominierter) Fächer indes als noch nicht selbstverständlich (vgl. Hauf-Tulodziecki 1992, S. 109). Die Zahl der vorgesehenen Unterrichtsstunden für die I T G schwankt zwischen 30 und 90. Die niedrigsten Stundenanteile finden sich in Berlin und Rheinland-Pfalz ( 3 0 - 4 0 Stunden), hohe Stundenanteile ( 8 0 - 9 0 ) weisen Hamburg, Hessen und das Saarland auf. Neben der Grundbildung sehen die meisten Länder in Übereinstimmung mit der BLK-Konzeption vertiefende Angebote in Informatik auch im Wahlpflichtbereich der Sekundarstufe I vor. In der gymnasialen Oberstufe muß das Kursangebot Informatik künftig den neuen Vorleistungen der Sekundarstufe I angepaßt werden. Entsprechend den zurückhaltenden Empfehlungen der B L K führen nur wenige Länder Schulversuche mit Computern in der Grundschule durch. Nach der Eigendarstellung der Kultusministerkonferenz ( K M K 1991) konzentrieren die Länder ihre Bemühungen hinsichtlich der Implementation der I T G vor allem auf die folgenden fünf Schwerpunkte:
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Einführung des Lernbereichs in den Pflichtunterricht aller Schularten - hier gilt es insbesondere, den Vorsprung der Gymnasien aufzuholen, der auch in anderen Erhebungen offenbar wird (vgl. z.B. Hansen/Lang 1993); Ausstattung der Schulen mit geeigneter Hard- und Software; Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung; Aufbau von Beratungs- und Informationsstellen; Maßnahmen, um die Chancengleichheit der Mädchen im Zugang zur Informations- und Kommunikationstechnik zu verbessern.
4.3.3.3 Probleme der Implementation * Die materielle Ausstattung Es ist auffallend, daß das Problem der materiellen Ausstattung der Schulen im Bereich der informationstechnischen Bildung im Gegensatz etwa zum Technikunterricht allgemein nur eine sekundäre Rolle zu spielen scheint. Die Computerindustrie unterstützte von Anfang an die ITG mit Gerätespenden und günstigen Angeboten, nicht zuletzt deshalb, weil die Schule dadurch mittelfristig ein interessanter Absatzmarkt zu werden versprach. Zum anderen sahen die bildungspolitisch Verantwortlichen trotz aller Sparmaßnahmen hier eine Zukunftsinvestition von großer Priorität. Die Entwicklung innerhalb weniger Jahre ist beeindruckend: 1984 hatten in BadenWürttemberg nur 1% der Hauptschulen einen Computer, 1987 waren es 56%. Der Anteil der Realschulen mit mindestens fünf Computern lag 1987 bei 79%, bei den Gymnasien war die Ausstattung schon damals fast flächendeckend. In Hessen war 1986 die Hälfte der Schulen computerisiert, davon hatten 90% der Gymnasien und 66% der Gesamtschulen mindestens sechs Schülerplätze. RheinlandPfalz und Nordrhein-Westfalen meldeten 1988 nicht nur einen quasi flächendeckenden Versorgungsgrad der Gymnasien von 95% bzw. 97%), sondern auch eine Ausstattung der Hauptschulen von 85% bzw. 77%. Diese Entwicklung ist inzwischen im Sinne einer Ergänzung und Modernisierung der Ausstattung noch weitergegangen. Obgleich die neuesten verfugbaren Gesamtübersichten bzw. Stichprobenerhebungen nur den Stand am Ende der 80er Jahre wiedergeben (vgl. KMK 1991; Hansen/Lang 1993), läßt sich aus dem festgestellten Trend heute eine weitgehende Erfüllung der BLK-Empfehlungen in quantitativer Hinsicht extrapolieren. Das gilt mit einer gewissen Phasenverzögerung prinzipiell auch für die neuen Bundesländer.
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Schwieriger zu beurteilen ist nach wie vor die Qualität der Ausstattung. Schon die erste Empfehlung der BLK von 1984 war begleitet von einem Katalog von Mindestanforderungen an die Ausstattung der Schulen mit Geräten. Diese Standards wurden auch in den Konzeptionen der Länder aufgegriffen. Es ist davon auszugehen, daß die für die ausgehenden 80er Jahre konstatierten Probleme der Nutzungsmöglichkeit (Kompatibilitätsprobleme) bzw. des Mangels an qualitativ hochwertiger Lernsoftware (vgl. Hörner 1990b, S. 627) Mitte der 90er Jahre aufgrund des Innovationsschubs in der Hardware und der international beobachtbaren Anstrengungen in der Softwareentwicklung weitgehend resorbiert sind. Die Ausstattung der Schulen mit leistungsfähigeren PCSystemen lassen die frühere Klage, daß die Verwendung benutzerfreundlicher Software auf den Geräten mit geringer Speicherkapazität bzw. kleinem Arbeitsspeicher nicht möglich ist, weitgehend als überholt erscheinen. Bleibende Probleme lassen sich eher in einem "strukturellen" Phänomen erkennen: Die Schnelligkeit der technischen Entwicklung auf dem Computermarkt führt zwangsläufig zu ständigen Erneuerungsproblemen bezüglich der Hard- und Software. * Die Lehrerbildung Nach wie vor gibt es keinen durch KMK-Vereinbarungen allgemein anerkannten Lehramtsstudiengang für das Fach Informatik. Partielle, d.h. auf einzelne Schulstufen oder -formen begrenzte Lehrbefähigungen für "Informatik", die dann aber auf das jeweilige Bundesland beschränkt sind, gibt es im Rahmen der 1. Ausbildungsphase an Hochschulen in den Ländern Berlin, Hamburg, NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz. In fast allen anderen Bundesländern kann Informatik aber wenigstens als Erweiterungs- oder Zusatzfach gewählt werden. Im Rahmen der 2. Ausbildungsphase werden zudem in allen Ländern Einführungskurse veranstaltet, die aber nicht zum Erwerb einer formalen Qualifikation führen. Eine berufsbegleitende universitäre Lehrerweiterbildung mit formalem Qualifikationserwerb (Lehrbefähigung) gibt es inzwischen z.B. in MecklenburgVorpommern. Der Schwerpunkt der Lehrerbildung für die informationstechnische Bildung liegt somit auf der Lehrerfortbildung. In diesem Rahmen haben alle Länder Einführungs- und Spezialisierungskurse
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eingerichtet. Die Kurse sollen die Lehrer befähigen, die neuen Inhalte innerhalb ihrer jeweiligen Unterrichtsfächer zu vermitteln, fuhren aber ebenfalls nicht zu einer formalen Qualifikation. Im Zusammenhang mit der generellen Einführung der ITG, wurde vor allem ein "Schneeballsystem" der Lehrerfortbildung entwickelt, das auf der Ausbildung von "Multiplikatoren" beruht. Die Ausbildung der Multiplikatoren kann auf Hochschulebene (Baden-Württemberg) oder in Institutionen der Lehrerfortbildung (Nordrhein-Westfalen) erfolgen. In Nordrhein-Westfalen ist die Fortbildung der Lehrer "vor Ort" relativ ausgedehnt. Mit einem Gesamtvolumen von 320 Stunden erstreckt sie sich über einen längeren Zeitraum. In Baden-Württemberg dagegen beschränkt sich der ITG-Fortbildungskurs auf einen fünftägigen Lehrgang, der durch 4-8 halbtägige regionale Veranstaltungen ergänzt wird. Der Kontrast dieser beiden Bundesländer zeigt exemplarisch das breite Spektrum der strategischen Möglichkeiten der Einführung der informationstechnischen Grundbildung. Es bewegt sich zwischen einer schnellen Einführung der ITG ohne Erprobungsphase und einem Mindestmaß an Lehrerfortbildung im "Pionierland" BadenWürttemberg und einer eher behutsamen längerfristig angelegten Erprobung eines innovativen didaktischen Rahmenkonzepts in Nordrhein-Westfalen, das von einer vergleichsweise umfangreichen wissenschaftlichen Begleitung und relativ aufwendigen Maßnahmen der Lehrerfortbildung unterstützt wird. Die Einführung der neuen Inhalte erfolgt dort wesentlich vorsichtiger, da die Innovation tiefer geht. * Mentale Probleme bei Akteuren und Betroffenen Die nach der Bekanntgabe des BLK-Konzepts sehr dezidiert artikulierten Vorbehalte gegen die ITG von Seiten der Pädagogen (z.B. Rekus 1988), aber auch von Vertretern der "wissenschaftlichen" Informatik (z.B. Kreowski 1989) sind inzwischen weitgehend verstummt. Dennoch scheint bemerkenswert, daß schon in den frühen Untersuchungen (vgl. Schorb 1989, S. 57 ff.) eine hohe Akzeptanz bzw. sogar Nachfrage nach ITG bei Schülern und Eltern feststellbar war (insbesondere bei Eltern, die selbst Computeranwender in ihrem Beruf waren), während professionelle Programmierer am wenigsten für eine Einführung von ITG in die Schulen waren. Möglicherweise ist dies zurückführbar auf Vorbehalte gegenüber einer "Profanierung" ihres Arbeitsfeldes durch die Schule bzw. gegenüber der Vor-
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Stellung, daß ihre berufliche Spezialisierung Gegenstand schulischer Allgemeinbildung werden kann. Bei den Eltern - und auch den Schülern - stand hinsichtlich ihrer positiven Beurteilung der ITG vor allem aber der Aspekt der späteren instrumentellen beruflichen Nutzungsmöglichkeit, also der "user-Aspekt", nicht der des vollberuflichen Informatikers oder Programmierers, im Vordergrund (vgl. ähnlich Kreuzmann/Matschinske 1990, S. 211; BMBW 1992, S. 47). In diese Interpretationslinie fugt sich die Beobachtung ein, daß das Interesse für Informatik in den höheren Klassen sowohl bei Absolventen der ITG als auch bei anderen Schülern deutlich absinkt. Nach der Erhebung von Hansen und Lang 1993 (vgl. Hansen/Lang 1993, S. 59) sinkt der Anteil der Schüler, die "Computerunterricht" erhalten, von der 8. bis zur 12. Klasse von 75% auf 25%. Dies entspricht auch den bei Stritzky zusammengefaßten Ergebnissen der bisherigen wissenschaftlichen Begleituntersuchungen zur ITG, die übereinstimmend von einem nachlassenden Interesse der älteren Schüler an diesem Lerngegenstand berichten (vgl. Stritzky 1995, S. 70). Aus der Sicht der mit der ITG beauftragten Lehrer ergeben sich die Implementierungsprobleme vor allem aufgrund der verkürzten bzw. unzureichenden Vorbereitung auf den in der Regel unbekannten Lehrgegenstand. Das gilt nach Praxisberichten (vgl. Hauf-Tulodziecki 1992, S. 122 f.) vor allem in den Phasen des praktischen Computereinsatzes, wo didaktische Probleme durch mögliche technische Störfaktoren (deren statistische Wahrscheinlichkeit mit der Größe der Lerngruppe unerbittlich wächst) an die fachliche Souveränität der Lehrperson besonders hohe Anforderungen stellt. Eine ähnliche Zuspitzung von Problemelementen zeigt sich nach derselben Praxisanalyse in der Frage der Leistungsbeurteilung und ihrer Kriterien. Auch hier signalisieren gerade neu mit der ITG beauftragte Lehrer größere Unsicherheit. Weniger "informatikspezifisch", als vielmehr durch die besondere didaktische Struktur der ITG vermittelt (Interdisziplinarität mit Akzentuierung besonderer Unterrichtsformen: Partner-, Gruppenarbeit, team-teaching bis hin zum projektartigen Unterricht) sind die generell höheren Anforderungen an die methodische Kompetenz der Lehrkräfte, die von diesen oft positiv formuliert - als "besondere Herausforderung" angesehen werden.
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung
4.3.4
299
Das ungelöste Geschlechterproblem: Mädchen und Computer
So wie auch der Computer als "Denkmaschine" geschlechtsneutral ist, war der erste Zugang zum Computer weniger geschlechtsspezifisch geprägt. Tatsächlich waren die ersten Programmiererinnen in den USA Frauen, die im Zweiten Weltkrieg die Computer zur Berechnung ballistischer Kurven programmierten (vgl. Metz-Göckel u.a. 1991, S. 21). Als sich die Bedeutung der Computertechnik als neues, attraktives Berufsfeld verstärkte, traten auch stereotype Zuschreibungen unterschiedlicher Verhaltensweisen und Einstellung von Frauen und Männern zum Computer verstärkt auf: Danach verhalten sich Frauen distanzierter, skeptischer und kritischer gegenüber den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Männer dagegen treiben die technologische Entwicklung fasziniert voran. Männliche Jugendliche erfassen in dieser Sicht demgemäß die Gelegenheit, sich mit Computerkenntnissen hervorzutun, neue soziale Gruppen zu bilden und sich insbesondere gegenüber Mädchen und Frauen abzugrenzen, um eine männliche Identität aufzubauen, die über "Computerbildung" vermittelt wird (Metz-Göckel u.a. 1991; 2.3.4.1). Erfahrungen mit geschlechtstypischen Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber konventioneller Technik bzw. naturwissenschaftlich-technischen Lerninhalten ließen befürchten, daß mit der Einführung neuer Technologien auch in diesem Bereich geschlechtsspezifische Diskriminierungen auftreten würden (vgl. BMBW 1992). Tatsächlich zeigte bereits die Schülerstatistik, daß im Rahmen des schon signalisierten abnehmenden Schülerinteresses an Informatikkursen in den oberen Klassen Mädchen Informatik nach anfänglicher Belegung noch häufiger wieder abwählten als Jungen. Die durch diese Phänomene ausgelösten Untersuchungen über geschlechtsspezifische Unterschiede im Umgang mit "Informationstechnik" erbrachten bis heute etwa folgende Ergebnisse: Der persönliche Computerbesitz von Mädchen und Jungen im privaten Bereich weist deutliche Unterschiede auf. Nur 13% der Mädchen besitzen einen eigenen Computer, aber 43% der Jungen (vgl. Fauser/Schreiber 1989). Nach Funken (vgl. Funken 1993, S. 44) haben schon 40% der Mädchen, die eine koedukative Schule besu-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
chen, zu Hause Zugang zum Computer, aber auch 77% der Jungen. In den meisten Fällen wurden die Computer zudem auf Betreiben der Väter und Brüder angeschafft. Mädchen, die eine Mädchenschule besuchen, haben zu 47% Zugang zum Computer. Jungen beschäftigen sich durchweg häufiger in der Freizeit am Computer als Mädchen. Darin sind sich alle Forschungen einig. Bezüglich der Interpretation der Art der Computernutzung gehen die Positionen neuerdings auseinander. Frühere Untersuchungen glaubten eine Tendenz zu erkennen, daß Mädchen sich eher dem Computerspielen und den Anwendungsprogrammen widmen, Jungen sich eher mit Programmieren beschäftigen. Durch eine genauere Untersuchung der Arbeitsweise von Mädchen, die eine Mädchenschule besuchen, konnte diese Interpretation nicht mehr bestätigt werden (vgl. Funken 1993, S. 47). Hinsichtlich der Computernutzungsangebote im außerschulischen Bildungsbereich läßt sich eine geringe Beteiligung der Mädchen nachweisen: Mädchen überlassen die Computerangebote überwiegend den Jungen. Ebenso wurde bei freiwilligen Lernangeboten, im Wahl- (Pflicht-) bereich der Schulen oder im Bereich der Weiterbildung festgestellt, daß Mädchen und Frauen zurückhaltender auftreten, während Jungen dominierten und sich häufig als erfolgreicher erwiesen. Das schon früher signalisierte negative Kurswahlverhalten der Mädchen gegenüber der Informatik wurde auch durch neuere Untersuchungen (vgl. Funken 1993, S. 46 f.; Westram 1993, S. 46) eindeutig bestätigt. Als Ursache scheint das fehlende Interesse der Mädchen naheliegend. Diese Deutung wird jedoch gerade in den neueren Untersuchungen problematisiert. So untersuchte Funken Mädchen an reinen Mädchenschulen in ihrem Wahlverhalten gegenüber dem Fach Informatik. Dieses Verhalten unterscheidet sich deutlich von dem der Mädchen an koedukativen Schulen: An Mädchenschulen wählen fast 57% aller Schülerinnen Informatikkurse, an koedukativen Schulen wählen 46% der Mädchen und 60% der Jungen Kurse in Informatik. Der Vergleich zeigt: Mädchen an Mädchenschulen und Jungen an koedukativen Schulen wählen annähernd gleich stark Informatikkurse (vgl. Funken 1993, S. 44). Daß die Mädchen ein ursprüngliches Interesse an Informatik hatten, zeigt die Untersuchung der Anteile der Mädchen in den drei Jahrgangsstufen der Sekundär-
Informations- und kommunikationstechnische Grundbildung
301
stufe II, die das Schulfach Informatik gewählt haben (vgl. Westram 1993). Der Anteil fällt vom 1. Halbjahr der 11. Jahrgangsstufe an kontinuierlich ab: Er liegt je nach Schulform zwischen 42% und 43% in der 11.1, zwischen 24% bzw. 17% in der 12.1, zwischen 15% bis 11% in der 13. Jahrgangsstufe. Zu beachten ist der hohe Anteil im 1. Halbjahr der 11. Klasse. Warum entziehen sich Mädchen den Computerangeboten? Die Erklärungshypothesen kristallisieren sich um den Gedanken einer negativen Fremdeinschätzung durch die männlichen "Kollegen", die eine entsprechende negative Selbsteinschätzung zur Folge hat (vgl. Wehrmann 1992, S. 280; Funken 1993, S. 48; Westram 1993, S. 47). Modellversuche, Entwicklungs- und Forschungsprojekte der einzelnen Bundesländer zur Thematik "Mädchen und Computer" wie z.B. in Hessen (vgl. Faulstich-Wieland 1992, S. 142 ff.), Niedersachsen (vgl. Dathe/Reineke 1992, S. 114 ff.), Nordrhein-Westfalen (vgl. Wanke 1992, S. 87 ff.) hatten als Ausgangspunkt die Hypothese, daß Mädchen und Frauen einen anderen Zugang zu Naturwissenschaften und Technik haben, der sich bisher aber weder in der didaktischen Konzeption des entsprechenden Unterrichts noch in der Berufsrealität durchsetzen konnte und deshalb zum vermeintlichen Desinteresse von Mädchen an Naturwissenschaft und Technik und damit zur Unterrepräsentiertheit von Frauen in diesen Berufsbereichen geführt hat (so z.B. Faulstich-Wieland 1992, S. 142). Als Gegenstrategie werden sowohl von den Praktikern als auch von der Bildungsforschung neue Impulse zur Entwicklung einer "anderen" Informatikdidaktik gesetzt: Zielvorstellung dieser "mädchengerechten" Didaktik ist mehr soziale Kompetenz und weniger Konkurrenz, eine stärkere Sensibilisierung für die Situation und Interessen der Mädchen in der Auswahl der Anwendungsbereiche und Beispiele. So könnte z.B. das Projektthema Expertensysteme besser an medizinischen Expertensystemen als an der Kfz-Fehlerdiagnose erläutert werden (vgl. Westram 1993, S. 48). Durch den Vergleich mit den Verhaltensweisen in homogenen Mädchenkursen wurde deutlich, daß sich geschlechtsstereotypes Verhalten (das in diesem Zusammenhang die Mädchen beim Lernen beeinträchtigt) sich insbesondere in koedukativen Kontexten heraus-
302
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
bildet. Es kann daher pädagogisch durchaus sinnvoll sein, die Geschlechter vorübergehend zu trennen (Metz-Göckel u.a. 1991, S. 158). Es wurde beobachtet, daß das Koedukationsproblem schon bei einem Mädchenanteil über 20 - 30% entschärft werden kann. Dabei kann die zeitweise Aufhebung des Koeduktionsprinzips aber auch zu Bumerangeffekten fuhren (vgl. Faulstich-Wieland, zitiert nach Metz-Göckel u.a. 1991, S. 159), d.h. daß die Jungen in ihren abwertenden Vorurteilen gegenüber den Mädchen bestärkt wurden, wenn diese ihre Computerkenntnisse in reinen Mädchenkursen erworben hatten. Von entscheidender Bedeutung ist das soziale Lernen: Die sozialen Interaktionen innerhalb der Lerngruppe sollten sich so entwickeln, daß das Lernklima die Mädchen zu Kreativität und eigenen Leistungen anspornt. Auf dem Hintergrund der zunehmenden Computerisierung auch traditioneller Frauenarbeitsplätze ist die Forderung nach einer "mädchengerechten" informationstechnischen Bildung nicht nur ein Problem der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Das Argument des "mangelnden Interesses" der Frauen an Computertechnik am Arbeitsplatz, das als Rechtfertigung für ihre Benachteiligung im Zugang zur Informations- und Kommunikationstechnik bisweilen angeführt wird, wurde in neueren empirischen Untersuchungen entkräftet (vgl. Schinzel 1991, S. 12). Danach zeigten die befragten Frauen eine hohe Bereitschaft, sich die neuen Techniken anzueignen. Die Persistenz dieses Vorurteils wird von kritischen Beobachterinnen angesichts eines härter werdenden Kampfes um Anteile an ökonomisch "interessanten" Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt als konkurrenzbedingt beargwöhnt. Dafür könnte sprechen, daß entsprechende didaktische Probleme der Mädchen im Umgang mit Informationstechnik in der Schule in Ländern mit strukturell hoher Frauenerwerbsquote wesentlich weniger ausgeprägt sind - die Konkurrenz scheint dort selbstverständlicher akzeptiert zu werden. Schließlich kann man festhalten, daß gerade durch den Einzug der "neuen Informations- und Kommunikationstechniken" sich tendenziell auch die Anforderungen am Arbeitsplatz wandeln: Die Nachfrage nach "männlichen" Eigenschaften (Körperkraft, Risikobereitschaft...) geht zurück zugunsten "weiblicher" Eigenschaften (Dispositionsvermögen, kommunikative Kompetenz, soziales Einfühlungsvermögen u.a.). Es läge also auch in der ökonomischen Logik, solche Elemente bereits in die ITG "einzuschleusen".
Informations- und kommunikationstechnische Grandbildung
4.3.5
303
Fazit
"Angesichts früherer Erfahrungen mit bildungspolitischen Reformvorhaben, die das ganze Bundesgebiet betreffen sollten, ist der politische Wille beeindruckend, mit dem der Prozeß der Realisierung dieses Konzepts [der ITG] in allen Bundesländern eingeleitet wurde" (Hörner 1990b, S. 628, aufgegriffen in Stritzky 1995, S. 298). Diese vor fünf Jahren formulierte Feststellung gilt auch nach dem politischen Vollzug der deutschen Einheit für das neue Bundesgebiet - gerade angesichts der Reduzierung der polytechnischen Bildung (-» 8.1.3), die in den neuen Bundesländern ihren Charakter als Pflichtbereich der Allgemeinbildung weitgehend verloren hat. Bereits in den Altbundesländern kontrastierte die vergleichsweise großzügige Ausstattung der Schulen mit Computertechnik mit den Problemen, die die "konventionelle" arbeitsbezogene Bildung bezüglich ihrer notwendigen materiellen Grundlage hatte. Hier jedoch geht es weit darüber hinaus um die bildungspolitische Gesamtimplementation eines Konzepts, das tiefgreifende didaktische wie methodische Konsequenzen hat. Dieser bildungspolitische Wille der "Gesamtnation" läßt sich nicht auf vordergründige ökonomische Motive (Computerindustrie als Lobby!) reduzieren. Die größere Akzeptanz des Schulsystems gegenüber der Informationstechnik im Vergleich zur allgemeinen Technik scheint vielmehr auch darin begründet zu sein, daß die Informationstechnik durch ihren hohen Abstraktionsgrad und ihre Nähe zur Mathematik sozusagen "geadelt" ist und somit der inneren Logik des Schulsystems näher steht (vgl. Hörner 1993, S. 330 f.): ITG ist leichter didaktisierbar als andere arbeitsweltbezogene Inhalte, selbst da, wo sie aufgrund ihrer interdisziplinären Struktur auf schwierigeres methodisches Terrain (Projektunterricht) ausweichen muß. Es bleibt, daß die Informationstechnik eine gesellschaftlich anerkannte Disziplin darstellt, deren Aufnahme in die Schule von daher - trotz mancher politisch-gesellschaftlicher Ambivalenzen kaum infrage gestellt ist. Aus der Sicht der "klassischen" arbeitsbezogenen Bildung und vor allem des konventionellen Technikunterrichts mag man den "Siegeszug" der informationstechnischen Bildung mit neidvollen Blicken begleiten. Angesichts der Tatsache, daß die Informations-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
und Kommunikationstechniken aber tatsächlich zunehmend Teil der realen Arbeitswelt sind, gilt es, für eine arbeitsbezogene Bildung statt neidvoller Irritation eher die Chancen zu nutzen, die ihr durch die Implementation der ITG geboten sind. Nur dann wird sich zeigen, ob die Prognose zutrifft, die dem Computer "eine weitaus größere Bedeutung für die Erschließung der Berufs-, Arbeits- und Wirtschaftswelt" zuschreibt, "als die Drehbank in der Schulwerkstatt" (Steffens 1986, S. 80).
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
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4.4
Waldorfpädagogik Wilfried Gabriel und Peter Schneider
4.4.1
Die Waldorfschule und ihr internationales Umfeld
309
4.4.2
Ziel und Konzeption
311
4.4.3
Der konzeptionelle Ursprung der Waldorfpädagogik
314
4.4.4 4.4.4.1 4.4.4.2
Praktisches Lernen und berufliche Bildung an Waldorfschulen Praktisches Lernen Berufliche Bildung
317 318 319
4.4.5
Anspruch und Wirklichkeit der Waldorfschule
322
4.4.6
4.4.6.2 4.4.6.3
Die Aktualität der Rudolf-Steiner-Pädagogik gründet auf der schöpferischen Kraft des einzelnen Menschen Wissenschaftliche Menschenkunde als "Grundlage der Pädagogik" Erziehungskunst als Pädagogik der Freiheit Freie Schule als Quellort sozialer Erneuerung
4.4.7
Die Aktualität der Pädagogik Rudolf Steiners
4.4.6.1
324 325 326 327 327
Zitierte Literatur
328
Weiterfuhrende Literatur
328
4.4.1
Die Waldorfschule und ihr internationales Umfeld
Die Waldorfpädagogik, die mit der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 die pädagogische Bühne betrat, scheint heute von ungebrochener Aktualität und Vitalität. Die Wahl einer "Freien Schule" für ihre Kinder mit einem alternativen pädagogischen Konzept und eigener Sozial Verfassung wird für immer mehr Eltern zunehmend attraktiver. Denn die Entwicklung der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert rasante Zuwachsraten: eine Verdoppelung der Waldorfschulen in den 70er Jahren und ein Zuwachs von ca. 75% in den 80er Jahren. 1974 existierten 40 Schulen; 1984 bereits 82 Waldorfschulen; und zu Beginn des Schuljahres 1993/94 nahmen 144 deutsche Waldorfschulen mit knapp 58.000
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Schülern den Unterricht auf. Davon sind allein 12 Schulen in den letzten Jahren in Ostdeutschland entstanden. Europaweit gibt es inzwischen ca. 300, weltweit ca. 500 Waldorfschulen in über 28 Ländern. Hierzu gehören 42 eigene Lehrerbildungsstätten. Die Expansion ist dabei noch nicht abgeschlossen: "Die Ausdehnung in dem japanischen, arabischen und jüdischen Kulturraum schreitet voran und selbst Gründungen im Ostblock stehen bevor" (Ruf 1989, 704). Der Ursprung dieser "internationalen Bewegung" liegt in dem "pädagogischen Impuls" ihres Begründers, dem Anthroposophen Rudolf Steiner (1864 - 1925). Mit seiner "Anthroposophie" strebte er eine Synthese aus christlich-gnostischer Tradition und moderner Wissenschaft an. In seinem philosophischen Frühwerk - insbesondere "Die Philosophie der Freiheit" - hat Steiner den "freien Menschen" als einen aus Erkenntnis Handelnden entworfen, der in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß das schöpferische Potential seiner Persönlichkeit selbst freizusetzen vermag und es sozial wirksam werden lassen kann (vgl. Steiner 1987). In einer auf Introspektion beruhenden Erkenntnismethode hat Steiner dann später diesen Ansatz zu einer vertieften Welt- und Menschenerkenntnis fortentwickelt und wollte ihn als "anthroposophische Geisteswissenschaft" verstanden und zugleich auf vielen Praxisfeldern angewandt wissen. Hieraus sind nicht nur die Waldorfschulen entstanden. Im Bereich der Pädagogik wäre hier die "Internationale Vereinigung der Waldorf-Kindergärten e.V." zu nennen, mit inzwischen über 300 Kindergartenanlagen allein in der Bundesrepublik und Angeboten zur Erzieherausbildung in eigenen Fachschulen. Aber auch in anderen Bereichen sind eine Vielzahl von Einrichtungen entstanden, so z.B. Krankenhäuser, die nach Entwürfen einer ganzheitlich-orientierten Medizin arbeiten, die biologisch-dynamische Landwirtschaft u.a. Diese vielfältigen Einzelinitiativen sind eingebunden in eine Sozialverfassung zur Neugestaltung der Gesellschaft, für die sich Steiner intensiv am Ende des ersten Weltkrieges einsetzte. Er knüpfte damals an die Leitideen der Französischen Revolution von 1789 an, die er in seiner Konzeption der "Dreigliederung des sozialen Organismus" strukturell umsetzen wollte: Freiheit im Kultur- und Bildungswesen, Gleichheit im Staats- und Rechtsleben, Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben. Heute macht die Spannung zwischen der ur-
Waldorfpädagogik
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sprünglich beabsichtigten Kulturreform und der inzwischen entstandenen Subkultur den eigentümlichen Charakter und diskreten Charme dieser Bewegung aus. Der Ausdruck "pädagogischer Impuls Rudolf Steiners" ist daher allerdings insofern gerechtfertigt, als er anzeigt, daß dieser Impuls mehr umfaßt und gemeint hat, als die jeweils einzelnen Waldorfschulen realisiert haben. Die "Idee der Freiheit" nimmt eine zentrale Stelle im Kontext der Waldorfpädagogik ein. Kein Wunder also, daß ihre Verbreitung bereits in den zwanziger Jahren gleich im Internationalen Rahmen geschah: Bereits 1928 existierten Waldorfschulen in London, Basel, Lissabon, Budapest, Christiana, New York und anderen Großstädten. Kein Wunder auch, daß das Ziel der Befreiung des Bildungswesens von der Vormundschaft des Staates und die Orientierung an einem freien Handeln im Deutschland des Hitler-Regimes zur Schließung der Waldorfschulen führte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg konnte die Waldorfschul-Bewegung ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Botschaft der Waldorfschulen für ein befreites Bildungswesen fand und findet stetige Verbreitung; insbesondere im südamerikanischen und afrikanischen Raum mehren sich neuerdings die Initiativen, auch wenn dort die äußeren Bedingungen für eine Schulgründung schwierig sind. Im Gegensatz zu den USA beispielsweise, wo gerade in den letzten Jahren viele Schulen gegründet wurden, die sich so selbständig und unabhängig organisieren, daß sie quantitativ bislang noch nicht alle erfaßt sind.
4.4.2
Ziel und Konzeption
Fragt man nun nach den Gründen des Erfolgs und dem Inhalt der Botschaft der Waldorfpädagogik, so ist mit dem Gesagten bereits ein erster Gesichtspunkt ausgemacht. Mit seinem Umfeld und Habitus kommt der "pädagogische Impuls" einem unmittelbaren Bedürfnis unserer von Technik und Ratio geprägten Kultur entgegen: Der Sehnsucht nach einer ganzheitlichen Lebensweise in einer unsicher gewordenen Moderne. Die Waldorfschule liegt hier in den Trends unserer Zeit. Die Skepsis gegenüber Fortschritt und
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Wissenschaft, sowie das Unbehagen über die wachsende sierung unseres Lebens oder die Ziele der ökologischen sind sicherlich Gesichtspunkte, die mitschwingen, wenn die Suche nach einer menschen- und kinderfreundlichen ihre Kinder gehen.
BürokratiBewegung Eltern auf Schule für
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die radikale Persönlichkeitsorientierung dieser Pädagogik. Die Botschaft von der "Erziehung zur Freiheit" setzt die menschliche Persönlichkeit als Ursprung, Ziel und Mittel aller Bildungsprozesse ein. Ursprung: Weil die Pädagogik Rudolf Steiners über ein differenziertes Entwicklungsmodell des Menschen verfugt, von dem aus ihre pädagogischen Maßnahmen legitimiert und gesteuert werden. Hieraus ist ein Lehrplan entwickelt worden, der in altersgemäßer Weise aufeinander bezogene Inhalte stufenförmig und in je eigenen Methoden vermittelt. Ziel: Weil diese Pädagogik ihre Anthropologie nicht auf den "Menschen überhaupt" (Wilhelm von Humboldt) bezieht, sondern diese nur als methodisches Okular für die Einmaligkeit des einzelnen versteht und ihm auf dem Weg zur Entfaltung seiner "freien Persönlichkeit" helfen will. Mittel: Weil für die Pädagogik Rudolf Steiners der pädagogische Bezug von Lehrenden und Lernenden unhintergehbar ist und die Persönlichkeit des Lehrenden entscheidende Bedingung sowie Medium der pädagogischen Prozesse ist. Ein weiteres Kennzeichen dieser Bewegung liegt in der Selbstverwaltung der Lehrenden und in der Möglichkeit der Partizipation der Eltern an allen sozialen Prozessen im Umfeld der Waldorfschulen. Denn die Ausdehnung und Expansion der Waldorfpädagogik geschah in keinem Fall durch eine gelenkte Missionierung oder "Kolonisation", sondern beruhte stets auf der Initiative Einzelner. Die Waldorfschulbewegung ist eine Bewegung von unten. Die Vorbereitung und Gründung von Schulen werden in der Regel durch Elterninitiativen betrieben. Weitere Gründe für den Erfolg der Waldorfschulen liegen ebenso an der langjährig bewährten Praxis dieser Schulform und der zunehmenden Kritik am staatlichen Bildungswesen. Die sich selbst verwaltende und auf Mitgestaltung abstellende soziale Verfassung der Waldorfschule verspricht, was Eltern sich für ihre Kinder wünschen: "einen anschaulichen, lebensnahen und engagierten Unterricht in relativer Freiheit von der Tagespolitik" (Wehnes 1987, S. 11).
Waldorfpädagogik
313
Aus den Zielen der Pädagogik Steiners lassen sich einige bekannte Merkmale einer "typischen" Waldorfschule unmittelbar ableiten: - Von ihrer Rechtsstruktur her sind die Freien Waldorfschulen oder Rudolf-Steiner-Schulen in Deutschland staatlich genehmigte Privatschulen in freier Trägerschaft. - Die Waldorf-Schule ist eine zwölfjährige Gesamt- bzw. Einheitsschule. In der Regel wird die Möglichkeit eines Abiturs nach der 13. Klasse angeboten. In wenigen Fällen ist eine Berufsausbildung integriert. - Nach ihrem Konzept eines "ganzheitlichen Lernens" fördern die Waldorf-Schulen die Schülerpersönlichkeit durch ein Gleichgewicht von theoretischem, künstlerischem und handwerklichpraktischem Unterricht. - Besondere Bedeutung kommt dem Klassenlehrer zu, der seine Klasse die ersten acht Schuljahre fuhrt und jeden Morgen (Montag bis Samstag) epochenweise den Hauptunterricht in allen grundlegenden Fächern erteilt. Erst ab der 9. Klasse tritt das Fachlehrerprinzip an seine Stelle. - Die Waldorfschule kennt keine Selektion, kein Sitzenbleiben und keine Notenzeugnisse. Sie versucht, individuell zu fördern und arbeitet mit innerer Differenzierung und mit lerndiagnostischer Beratung. Hierzu gehört auch ein begleitend praktizierender Schularzt an jeder Schule. - Besonderes Merkmal jeder Waldorfschule ist die künstlerische Gestaltung vieler Lebensbereiche: Architektur, umgebende Anlagen, Verwendung und Gestaltung von Naturstoffen, Gestaltung des Jahreslaufes und der Jahresfeste etc. - In jeder Waldorfschule ist die Selbstfortbildung der Lehrer im Rahmen der wöchentlichen Schulkonferenz institutionalisiert. Unabhängig von der Frage, ob die anthropologische Fundierung der Waldorf-Pädagogik "richtig" oder "falsch" oder ob sie wissenschaftlich rekonstruierbar bzw. legitimierbar ist oder nicht - hieran hat sich gerade die jüngere Kritik besonders entzündet -, ist beispielhaft, was sie vorfuhrt: die Entschiedenheit und Konsequenz, mit der diese Pädagogik ihr Menschenbild ins Feld fuhrt, gestaltet und praktisch umsetzt.
314
4.4.3
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Der konzeptionelle Ursprung der Waldorfpädagogik
Die ursprüngliche Konzeption der Schule hat Steiner in "Vorträgen über Volkspädagogik" (Steiner 1980) im Mai 1919 zum ersten Mal öffentlich entwickelt. Am Beginn seines ersten volkspädagogischen Vortrages (11.5.1919) kennzeichnet Steiner als Wurzeln der sozialen Misere seiner Zeit, die Konfusion zweier entgegenwirkender Strömungen: die technische Kultur und den Privatkapitalismus. Mit äußerster Schärfe spitzt er seine Thesen auf das Problem der "Volksbildung" zu: "Diese technische Kultur hat nämlich eine ganz bestimmte Eigenschaft: sie ist ihrem Wesen nach durch und durch altruistische Kultur. Das heißt: Technik kann sich nur ausbreiten in einer für die Menschheit günstigen Weise, wenn die Menschen, die innerhalb der Technik tätig sind, Altruismus, das Gegenteil von Egoismus, entwickeln. Die technische Kultur macht immer mehr und mehr notwendig - jeder Neuaufschwung der technischen Kultur zeigt es dem, der solche Dinge betrachten kann -, daß nur egoismusfrei innerhalb der technischen Bewirtschaftung gearbeitet werden kann. Dem entgegen hat sich entwickelt zugleich dasjenige, was aus dem Kapitalismus heraus entstanden ist, der nicht notwendig mit der technischen Kultur verknüpft sein muß oder verknüpft bleiben muß wenigstens. Der Kapitalismus, wenn er Privatkapitalismus ist, kann gar nicht anders als egoistisch wirken, denn sein Wesen besteht aus egoistischem Wirken. So begegnen sich in der neueren Zeit zwei Strömungen, die in diametralem Gegensatz zueinander stehen: die moderne Technik, die egoismusfreie Menschen fordert, und der aus den alten Zeiten heraufgekommene Privatkapitalismus, der nur unter Geltendmachung der egoistischen Triebe gedeihen kann" (Steiner 1980, S. 17). Steiner ist der Auffassung, daß dem Widerspruch von gefordertem Altruismus und überkommenem privatkapitalistischem Egoismus nur mit neuen Methoden und Inhalten beizukommen ist. Was Steiner daher zunächst fordert, ist "in gründlicher, radikaler Weise mit dem alten Schulwesen zu brechen"(Steiner 1980, S. 19) und stattdessen eine "Einheitsschule für alle Menschen" zu konzipieren. Eine Analyse der ursprünglichen Konzeption (vgl. Fintelmann/ Schneider 1986) ergibt folgendes Bild: Die "Einheitsschule" umfaßt zunächst 10 Schuljahre und ist gegliedert in eine "Einheitsvolks-
Waldorfpädagogik
315
schule" für die Klassen 1 bis 8 und eine "spezialisierte Einheitsschule" als Oberstufe. Die methodischen Gesichtspunkte für die konkrete Umsetzung von Erziehung und Unterricht sollen allein aus einer "pädagogischen Anthropologie" gewonnen werden: 1. Für die "Einheitsschule" folgt daraus unmittelbar, daß das Lernangebot von Heranwachsenden für alle gleich sein muß. Steiner formuliert: "Erkenntnis der menschlichen Natur vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, das muß zugrunde liegen allen Prinzipien der sogenannten Volksschulbildung. Aus diesem und vielem Ähnlichen werden Sie erkennen können, daß sich, wenn man von dieser Unterlage ausgeht, nichts anderes ergeben kann als eine Einheitsschule für alle Menschen; denn selbstverständlich: diese Gesetze, die sich abspielen in der menschlichen Entwicklung zwischen dem ungefähr 7. und ungefähr vierzehnten bis fünfzehnten Jahr, diese Gesetze sind für alle Menschen die gleichen. Nichts anderes dürfte in Frage kommen, als durch die Erziehung und den Unterricht zu beantworten die Frage: Wie weit muß ich einen Menschen als Menschen bringen bis in sein 14. bis 15. Jahr hinein? Das allein heißt volkspädagogisch denken" (Steiner 1980, S. 19). Inhaltlich fordert Steiner zum einen für diesen Bereich die Ablösung des Fachlehrer- durch das Klassenlehrer-Prinzip. Der Lehrer wird "nicht Leselehrer, Zeichenlehrer usw. sein", sondern "der wirkliche Lehrer des werdenden Menschen" (Steiner 1980, S. 20). Zum anderen denkt er ein ganzheitliches Curriculum an, das auf die Entwicklungsstufen des Menschen bezogen und auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit gerichtet ist. Verkürzt läßt sich Steiners didaktische Konzeption für die Einheitsvolksschule in der Formel "der Lehrplan ist das Kind" apostrophieren. 2. Für die spezialisierte Einheitsschule der Oberstufe sieht Steiner zwar eine Differenzierung nach "Handarbeitern" und "Geistesarbeitern" vor, für die es jeweils spezifische Lernangebote geben sollte, doch ist ihm das gemeinsame Lernen in stabilen Gruppen hier ebenso wichtig. Als didaktisches Prinzip formuliert Steiner
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
eine umfassende (theoretische und praktische) "Lebenskunde", die ihm einen neuen Typus von "Allgemeinbildung" verbürgt: "Und Sie werden sehen, wenn in der Zukunft in den Bildungsanstalten zusammensitzt der Tischler- oder Maschinenlehrling mit demjenigen, der vielleicht selber Lehrer wird, dann wird sich auch da etwas ergeben, was zwar eine spezialisierte, aber doch noch immer eine Einheitsschule ist. Nur wird in dieser Einheitsschule alles das drinnen sein, was für das Leben drinnen sein muß, und wenn es nicht drinnen wäre, würden wir in das soziale Unheil noch stärker hineinkommen, als wir jetzt drinnen sind. Lebenskunde muß aller Unterricht geben. Zu lehren wird sein auf der Altersstufe vom fünfzehnten bis zwanzigsten Jahre, aber in vernünftiger, ökonomischer Weise, alles dasjenige, was sich auf die Behandlung des Ackerbaus, des Gewerbes, der Industrie, des Handels bezieht. Es wird kein Mensch durch dieses Lebensalter durchgehen dürfen, ohne daß er eine Ahnung bekommt von dem, was beim Ackerbau, im Handel, in der Industrie, im Gewerbe geschieht. Diese Dinge werden aufgebaut werden müssen als Disziplin, die unendlich viel notwendiger sind als vieles Zeug, das jetzt den Unterricht dieser Lebensjahre ausfüllt" (Steiner 1980, S. 26). Erst für den weiteren Bildungsfortgang nach Beendigung der Einheitsschule denkt sich Steiner die Sonderung nach einzelnen Bereichen der Berufsausbildung, wobei das Hochschulstudium eine Möglichkeit unter vielen ist: "Unter so unterrichteten Menschen werden dann solche sein, die, wenn sie durch die übrigen sozialen Verhältnisse dazu getrieben werden, Geistesarbeiter zu werden, in den spezial-geistesarbeiterischen Schulen ausgebildet werden können in allen möglichen Gebieten" (Steiner 1980, S. 26). Ausdrücklich geht es ihm nicht um eine individualistische Entfaltung des einzelnen, sondern auch um eine Entwicklung der Gesellschaft mit humaneren Zügen. Das in der modernen Gesellschaft notwendige Spezialistentum kann in seiner Vereinseitigung sowohl gesellschaftlich wie auch den einzelnen Menschen betreffend nur korrigiert werden durch eine umfassende Verschränkung von Theorie und Praxis. Der einseitigen Wissensorientierung (Wissenschaftsorientierung) will Steiner eine "Willenskultur" zur Seite stellen, die
Waldorfpädagogik
317
durch eine "soziale Kunst" erreichbar und dadurch gefördert werden könne, "wenn erfüllt würde, was dem Geistesleben auch nur nützen könnte, daß ineinander arbeitet Handarbeit und Geistesarbeit, was in der Zukunft doch angestrebt werden müßte" (Steiner 1980, S. 68). Alle Maßnahmen, sowohl die theoretischen wie praktischen Bereiche der Oberstufe und darüber hinaus führende Konzeptionen lassen sich in der Basisfähigkeit des "Lernen des Lernens" zusammenfassen. Das "lebenslange Lernen" soll aber nicht als eine Anhäufung von Wissen geschehen; gelernt werden soll "vom Leben": "Dasjenige, worauf es ankommt, das ist, daß wir eine Pädagogik finden, wo gelernt wird zu lernen, zu lernen sein ganzes Leben hindurch vom Leben" (Steiner 1980, S. 49 f.).
4.4.4
Praktisches Lernen und berufliche Bildung an Waldorfschulen
Wo von der Waldorfschule die Rede ist, da meint man zumeist eine Alternative zur Staatsschule im allgemeinbildenden Bereich. Bis auf wenige Ausnahmen, wie z. B. in der Freien Waldorfschule Kassel und der bekannten Hibernia-Schule, werden an Waldorfschulen Formen der beruflichen Bildung mit einem qualifizierten Abschluß nicht praktiziert. Im Rahmen des ganzheitlichen Unterrichts wird freilich dem praktisch-handwerklichen Bereich an der Waldorfschule breiten Raum gegeben. Die Auswahl und Begründung erfolgt dabei unter pädagogischen und anthropologischen Gesichtspunkten. Interpretiert man Steiners ursprüngliche Intention der "allgemeinen sozialen Bildung" unter dem Stichwort "Integration beruflicher und allgemeiner Bildung", so ist festzuhalten, daß die gegenwärtigen Waldorfschulen diese Zielsetzung bis auf wenige Schulen kaum verfolgen. Was in dieser Richtung allerdings geschieht, läßt sich in zwei Gruppen einteilen: Es gibt Waldorfschulen - mit einer verstärkten praktischen Bildung, aber ohne Berufsausbildung; - mit einer Integration der Berufsausbildung in die Schule.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
4.4.4.1 Praktisches Lernen Das praktische Lernen in Form des handwerklichen Unterrichts (Holzverarbeitung, Metallbearbeitung, Schmieden, Töpfern etc.) ist immer wieder besonders hervorgehoben, als sinnvoll und wichtig erkannt und als nachahmenswert gelobt worden. Die Waldorfschulen gehören zu den wenigen pädagogischen Einrichtungen, die sich dem alleinigen Anspruch des kopflastigen Prozesses der "Verwissenschaftlichung" entzogen haben und ein "Körper-Curriculum" (Rumpf) entwickelt haben. Für die Waldorf-Pädagogen erschließt das praktische Lernen eine kaum unterschätzbare Dimension des Menschlichen, indem es den Jugendlichen zu eigenen Ausdrucksund Handlungsmöglichkeiten verhilft, seinen Willen intensiviert, ihm zu mehr Realitätssinn verhilft und sein Tun durch sinnvolle Produkte sozial einbindet. Betont wird allerdings vielfach, daß sich das praktische Lernen in der Waldorfschule frei von Verwertungsinteressen entfaltet. Kranich hebt hervor:"... Den handwerklichen Unterricht haben die Waldorfschulen aus rein pädagogischen Gründen in ihrem Lehrplan"( Kranich 1988, S. 202). Eine verstärkte praktische Bildung an Waldorfschulen besteht in der Regel in einer Intensivierung durch mehrwöchige Praktika und/ oder einer Differenzierung in der Oberstufe. So findet an der Rudolf-Steiner-Schule Bochum ein landwirtschaftliches Praktikum (9. Schuljahr) und ein Industriepraktikum (11. Schuljahr) statt, in dem die Schüler mehrere Wochen in einem Industriebetrieb mitarbeiten. Dies wird von der Schule intensiv begleitet und mit den Schülern aufgearbeitet. Ebenso findet sich ein Sozialpraktikum (11. Schuljahr), das in einem heilpädagogischen Heim durchgeführt wird. Nach diesem Modell haben verschiedene andere Waldorfschulen ähnliche Praktika eingerichtet oder stellen je nach Gegebenheiten ein vertiefendes Erfahrungsfeld für ihre Schule bereit. Ein Beispiel hierfür ist die Rudolf-Steiner-Schule Schloß Hamborn mit ihrem "Schülerhof' im landwirtschaftlichen Bereich. Hinzu kommt bei einigen Waldorfschulen (Bochum, Stuttgart am Kräherwald) in der Oberstufe eine Differenzierung in einen mehr sprachlich-wissenschaftlichen und einen mehr praktisch orientierten Zweig nur technischer und/oder sozialpädagogischer Ausrichtung. Der sprachlich-wissenschaftliche Zweig fuhrt dabei in der Regel zum Abitur oder zur Realschulreife. Der praktische Zweig fuhrt unter Umständen zur Fachhochschulreife (Bochum). Organisatorisch
Waldorfpädagogik
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ist die "Gabelung" so gefaßt, daß die Schüler in der Regel den morgendlichen Hauptunterricht (Epochen), eine Fremdsprache und den künstlerischen Unterricht gemeinsam haben. Der Praxisteil erfolgt entweder in einer schuleigenen Werkstatt als Werkstattunterricht (z. B. Stuttgart) oder in assoziierten Betrieben (z. B. Bochum). Unter pädagogischen Aspekten sind hier durchweg positive Ergebnisse zu verzeichnen. Kranich resümiert: "Die Erfahrungen waren insofern bemerkenswert, als von dem Werkstattunterricht für viele Schüler eine Konsolidierung und Verbesserung des ganzen Lernverhaltens ausging" (Kranich 1988, S. 209). Hier ist allerdings deutlich zu sehen, daß die gesellschaftliche Selektionsfunktion von Bildung mit der Höherwertung des "Allgemeinen" gegenüber dem "Praktischen" und "Beruflichen" in diese Oberstufenkonzeption hereinragt, was insbesondere darin zum Ausdruck kommt, daß die praktischen Zweige zu keinem adäquaten Abschluß gegenüber dem sprachlichwissenschaftlichen Zweigen fuhren. 4.4.4.2 Berufliche Bildung Von den Waldorfschulen, die die Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung bis zu einem Abschluß der Berufsausbildung vollzogen haben, sind die Freie Waldorfschule Kassel und die Hibernia-Schule Herne die bekanntesten. 1. Freie Waldorfschule Kassel An der Freien Waldorfschule Kassel baut die Integration der beruflichen Bildung auf einem einheitlichen Bildungsgang in den ersten 10 Schuljahren auf, der weitgehend mit dem Curriculum der anderen Waldorfschulen übereinstimmt. Danach - mit dem 11. Schuljahr erfolgt eine Differenzierung in drei Zweige: Der Abiturzweig, der nach dem 13. Schuljahr mit der allgemeinen Hochschulreife (Abitur) abschließt. Der sozialpädagogische Zweig, der eine Erzieherausbildung beinhaltet, die mit der theoretischen Abschlußprüfung (13. Schuljahr) und dem sich daran anschließenden Anerkennungsjahr abschließt. Der technische Zweig, der bis zum Ende des 13. Schuljahres in schuleigenen Werkstätten erfolgt, ergänzt durch fachtheoretischen Unterricht und ein 20-wöchiges Praktikum sowie eine Ausbildung zum Facharbeiter in Metall- oder Elektroberufen beinhaltet.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Die pädagogische Organisation ist so gefaßt, daß in der 11. und 12. Klasse alle Schüler des bis dahin stabil gehaltenen Klassenverbandes noch ca. die Hälfte ihres Unterrichts gemeinsam haben; insbesondere den täglichen Epochen-Unterricht sowie eine Fremdsprache und den künstlerischen Unterricht. Mit dem 13. Schuljahr differieren die Lernwege dann deutlich. Gemeinsam bleiben eine Fremdsprache und künstlerische Übungen. In der Freien Waldorfschule Kassel findet sich eine Anknüpfung an die volkspädagogischen Vorträge Steiners. Alle drei Zweige fuhren zu anerkannten Abschlüssen; in der "spezialisierten Oberstufe" sitzen spätere "Handarbeiter" und "Geistesarbeiter" weitgehend zusammen. Ein weiteres wesentliches Begegnungs- und Betätigungsfeld des individuellen und sozialen Lernens in der Waldorfschule, die Kunst, bleibt bis zum Schluß erhalten. 2. Hibernia-Schule Der andersartige Ansatz der Hibernia-Schule liegt u. a. darin begründet, daß sie sich historisch nicht aus einer frei gegründeten Waldorfschule entwickelt hat, sondern aus der Lehrlingsausbildung eines Chemiekonzerns im Ruhrgebiet. Im Gegensatz zu der typischen Entstehung einer Waldorfschule aus einer engagierten ElternInitiative ist die Hibernia-Schule in ihrer historischen Wurzel eng mit der ursprünglichen Zielgruppe der ersten Waldorfschule verbunden: Sie gründet nicht in einem sich um pädagogische Aufklärung und Alternativen bemühenden Bürgertum, sondern im Bereich der Industriearbeit. Entstanden aus einer Lehrwerkstatt und inzwischen zu einer integrierten Gesamtschule eigener pädagogischer Art gewachsen, hebt sich die Hibernia-Schule in ihrer Struktur von anderen Waldorfschulen deutlich ab. Gleichwohl ist sie ebenso deutlich an der Pädagogik Steiners orientiert. Die Unterstufe (Klasse 1 bis 6) ähnelt im Prinzip den anderen Waldorfschulen. Was anders ist, ist der in hoch differenzierter Weise auf die kindliche Entwicklung abgestimmte praktische Bildungsgang (vgl. Abb. 1). Dieser wird in der 7. und 8. Klasse als handwerkliche Elementarbildung intensiviert und umfaßt für alle Schüler ein breites Spektrum von handwerklichem, praktischem Lernen (Hauswirtschaft, Kupfertreiben, Holzwerken, Gartenbau etc.) Dieser praktische Bildungsgang wird dann in der 9. und 10. Klasse - ebenfalls für alle Schüler - zu einer allgemeinen Arbeits-
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Waldorfpädagogik
lehre intensiviert. Sie umfaßt fünf Fachrichtungen (Holz, Metall, Elektro, Textil, Sozialpädagogik) und wird als "technische Elementarbildung" verstanden bzw. als erste Stufe beruflicher Bildung oder "allgemeine Erstausbildung". Hieran schließt eine aufbauende Phase "spezialisierender Erstausbildung" (11. und 12. Schuljahr) an, die mit einer Gesellen- oder Facharbeiterprüfung endet. Abb. 1: Der praktische Bildungsgang der Hibernia-Schule Jahrgangsstufe (Klassse)
12
11
Kunst, Theoretischer Unterricht Gesellen-(Facharbeiter-)Prüfimg + Fachoberschulreife Fachstufe Berufliche Fachbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf
z.B. Maschinenbauer Möbeltischler Elektroinstallateur Damenschneider Kinderpfleger
Grundberufliche Bildung
Soz. Päd: Hauswirtschaft (9) Spielwerken (9+10) Spielpflege (10)
10
Textil: Handarbeit (9) Spinnen und Weben (10) Elektro: Elektropraktikum (9+10)
9
Metall: Schmieden (9+10) Schlossern (2x9) (2x10) Maschinenpraktikum (9+10) Kupfertreiben (9+10) Holz: Schreinern (9+10)
8 7
Allgemeine Arbeitslehre (Handwerkliche und technische Elementarbildung)
Hauswirtschaft Kupfertreiben Holzwerken/Schreinern Forstepoche Korbflechten Gartenbau Handarbeit
Unterstufe
Schnitzen Sachkunde Plastizieren mit Wachs/Ton Handarbeit Spielen
< o
5 4 3 2 1
Kindergarten
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Während in der "allgemeinen Erstausbildung" (bis einschließlich 10. Schuljahr) das Lernangebot für alle Heranwachsenden gleich ist, wird in der Hibernia-Schule in der Spezialisierungsphase nach zwei Richtungen differenziert: "- Im Erlernen eines gewählten Grundberufes mit einer zugehörigen Spezialisierung (als Startberuf): berufliches Lernen; - im Aufbau ganz individueller persönlicher Interessenfelder durch lernendes Ergreifen einer (nur noch durch Rat gelenkten) Auswahl von allgemeinen Lernbereichen und -inhalten: freies Lernen"( vgl. Rist/Schneider 1977, S. 20). Anders als an anderen Waldorfschulen und insbesondere im Unterschied zum Kasseler Modell, durchlebt hier der Schüler an der Hibernia-Schule eine Berufsausbildung und kann erst danach die Fachhochschulreife bzw. die allgemeine Hochschulreife erwerben. Anders auch differenziert die Hibernia-Schule nicht nach Theorie und Praxis in der Oberstufe, sondern nach Beruf und persönlicher Intention. Sie erfüllt damit sowohl die entwicklungspsychologische Dimension der Pädagogik Steiners (Leitbegriff: Intentionalität) als auch die neue Qualität der modernen Berufsausbildung, denn die erworbene begriffliche Qualifikation wird als "Startberuf' verstanden, als Erwerben einer prinzipiellen Spezialisierungsfähigkeit also. Auch die altruistische Interpretation der Arbeit als Arbeit für andere wird in der Pädagogik der Hibernia-Schule deutlich herausgestellt, denn ganz entscheidend ist zugleich der soziale Bezug; jedes Werkstück soll an bestimmten Stellen zum bestimmten Gebrauch dienen. Der Heranwachsende erfährt und entwickelt sein Selbstwertgefühl daran, daß sein Tun für andere bedeutungsvoll ist; er wird durch sein sich steigerndes Können mehr und mehr fähig, für andere tätig zu sein, um so seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
4.4.5
Anspruch und Wirklichkeit der Waidorfschule
Die Hibernia-Schule hat also in ihrer Entwicklung die Gestalt der bestehenden Waldorfschulen hinterfragt und in größerem Umfang auf die gesellschaftlichen Reformgedanken Steiners zurückgegriffen. Auch die faktische Trennung von "Handarbeitern" und "Geistesarbeitern", von der Steiner in seinen volkspädagogischen Vorträgen ausging und die er gesellschaftlich bedingt sah, ist in der HiberniaKonzeption nicht unbefragt übernommen worden. Vielmehr wurde
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in ihr versucht, ein Stück von der Steinerschen Forderung nach einem gesellschaftlichen wie anthropologischen "Ausnahmezustand", der Verbindung von Theorie und Praxis, Erkennen und Handeln, zu realisieren. Im Hinblick auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation kommt die Hibernia-Schule den Steinerschen Intentionen also näher als andere Waldorfschulen und geht in für die heutige Zeit angemessener Weise über diese hinaus. Was also an der HiberniaSchule exemplarisch deutlich wird, ist die Spannweite von Entwicklung, die auf der Grundlage der Erkenntniswissenschaft, Anthropologie und Pädagogik Rudolf Steiners möglich ist. Gerade die Hiberniaschule ist ein Beispiel dafür, wie eine originäre Weiterfiihrung über das von Steiner Intendierte hinausgehen kann. In der Hibernia-Konzeption ist das berufliche Lernen in den Gesamtentwurf einer "Einheitsschule" integriert, und zwar in einer Weise, für die es zu Steiners Zeiten noch kein Vorbild gab und geben konnte. Im Rückgriff auf den ursprünglichen Impuls und in eigenständiger Entwicklung ist hier ein international bekannt gewordenes Modell entstanden. Im Hinblick auf die weitere Fruchtbarkeit des pädagogischen Impulses Rudolf Steiners ist dies bedeutsam. Denn dieser pädagogische Impuls ist viel umfassender als das, was bisher aus ihm heraus entwickelt werden konnte. Die Waldorfschule war bedingt durch das, was im Jahre 1919 gesellschaftlich möglich war und was von den Menschen, die sich mit Steiner damals verbanden, verstanden und verwirklicht werden konnte. Die Hiberniaschule ist eine weitere Verwirklichung dieses Impulses; sie enthält vieles, was von Steiner schon gewollt, aber noch nicht zu realisieren war. Ihr könnten weitere Beispiele folgen. Denn derzeit wirkt die innere curriculare und organisatorische "Geschlossenheit" der Waldorfschule im Rahmen der anthroposophischen Subkultur immer noch einer wissenschaftlichen wie öffentlichen Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik eher entgegen. Der Vorteil der einheitlichen Geschlossenheit, der sicher einem Bedürfnis nach pädagogischer Klarheit und Sicherheit entgegenkommt, verbirgt aber auch mögliche Probleme. So ist zum Beispiel genauer zu beleuchten, wie der Wechsel von Waldorfschülern an Staatsschulen unterschiedlicher Form aussieht, wie umgekehrt zu fragen ist, wie es Schülern von Staatsschulen in den Waldorfschulen
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
ergeht. Ebenso müßte viel intensiver diskutiert werden, welche Chancen und Probleme die feste Bindung der Schüler an die Lehrerpersönlichkeit, insbesondere in der Unterstufe, in der Waldorfschule in sich birgt und wie diese Lehrerpersönlichkeit für ihre Aufgabe qualifiziert wird. Vom eigenen Anspruch her gesehen, ursprünglich eine Schule für die Arbeiterkinder der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria zu sein, läßt die Waldorfschule auch curriculare Defizite erkennen. Die Bereiche Technik, Wirtschaft, Recht und Verkehrswesen scheinen uns längst nicht so abgedeckt, wie von Steiner ehemals gewollt. Vielmehr scheint die Waldorfschule in ihrer "typischen" Ausprägung heute eine etablierte Alternative zum staatlichen Gymnasium. Überspitzt formuliert hat sie also genau da Erfolg, wo sie ihn, den Intentionen ihrers Gründers nach, gar nicht haben wollte. Ein Dialog über diese Fragestellungen hat kaum erst begonnen ( vgl. Bohnsack/ Kranich 1990). Damit müssen aber der pädagogische Impuls Steiners, die Waldorfschulen und auch die Hiberniaschule unter dem Aspekt der Differenz von Prozeß und Ergebnis betrachtet werden. Die realisierten Formen der Pädagogik Steiners sind, wie andere neuere und ältere pädagogische Ansätze auch, nur als Haltestellen der Entwicklung zu betrachten, in denen sich das Ringen um Bildung und berufliche Bildung des Menschen mit den entsprechenden sozialen Formen konkretisiert.
4.4.6
Die Aktualität der Rudolf-Steiner-Pädagogik gründet auf der schöpferischen Kraft des einzelnen Menschen
Ein pädagogisches Handeln als schöpferischer Akt wird von Steiner als "Erziehungskunst" bezeichnet. Sie erfordert ein freies Handeln, dessen Kompetenz darin gründet, daß es sich selbst immer wieder neu zu motivieren, die so gefaßten Motive zu konkretisieren und zu verwirklichen vermag. Steiner hat die drei Grundfähigkeiten einer solchen Handlungskompetenz als moralische Intuition, moralische Phantasie und moralische Technik bezeichnet und einen so begründeten "ethischen Individualismus" als Voraussetzung freien Handelns beschrieben (vgl. Schneider 1985).
Waldorfpädagogik
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Für diese impulsierenden Ideen Steiners lassen sich drei Gedankenkreise aufzeigen, aus denen ein schöpferisches, individuelles und gesellschaftliches Engagement neue Konkretisierungen gewinnen und neue Entwicklungen begründen kann: - eine wissenschaftliche Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, - Erziehungskunst als Pädagogik der Freiheit, - Freie Schule als Quellort sozialer Erneuerung. 4.4.6.1
Wissenschaftliche Menschenkunde als "Grundlage der Pädagogik" "Das Erziehungs- und Unterrichtswesen, welches hier gemeint ist, ist durchaus gebaut auf Menschenerkenntnis; auf einer Menschenerkenntnis, die über den ganzen Menschen sich ausdehnt, von seiner Geburt bis zu seinem Tode, die aber auch alles das erfassen, was an übersinnlichem Wesen innerhalb dieses Lebens zwischen Geburt und Tod sich auslebt als Zeuge davon, daß der Mensch einer übersinnlichen Welt angehört.... Dazu muß man sich aber erst die Möglichkeit verschaffen, in das Wesen des Menschen sachgemäß einzudringen" (Steiner 1980, S. 10). Für eine solche anthroposophische Menschenkunde rückt das individuelle Wesen des Menschen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses: Die von Steiner als "Ich" bezeichnete ewige Entelechie. Das "Ich" des Menschen ist ein werdendes; von ihm werden alle Prozesse menschlicher Entwicklung bestimmt. Diese Bestimmung manifestiert sich besonders in dem Wechselverhältnis zwischen dem seelisch-geistigen und dem körperlich-leiblichen des Menschen. Das Ich, das von ihm ergriffene Seelenwesen (das Geistig-Seelische) verbindet sich im Prozeß der individuellen Menschwerdung schrittweise mit dem körperlich-leiblichen (Inkarnation) und es löst sich ebenfalls schrittweise (Exkarnation). Dadurch kommt es zu aufeinander folgenden Perioden media-spezifischer Lebensqualität, die sich oft in krisenhaften Umschwüngen ablösen. Die für die Pädagogik bedeutenden Perioden der Menschwerdung in Kindheit und Jugend haben u.a. eine jeweils andere Qualität der Lernbefähigung und auch der Lernbedürftigkeit; daraus resultierte die Forderung nach altersspezifischen Lernangeboten. Es gibt nicht nur eine individuelle, sondern auch eine geschichtliche Menschwerdung. Ihre Entwicklung manifestiert sich in dem
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Auftreten immer neuer Leitkulturen. Wir stehen - seit dem 15. Jahrhundert - im Anfang einer neuen Kulturperiode; sie wird bestimmt durch das Aufkommen eines verselbständigten individuellen Bewußtseins und daraus resultierender selbstbestimmter Handlungen. Die wissenschaftlichen Konzepte einer "Selbstorganisation" stehen u.a. dafür als gegenwärtiges Beispiel. 4.4.6.2 Erziehungskunst als Pädagogik der Freiheit "Alles das, was wir künstlerisch vollbringen können, es wird doch erst ein höchstes, wenn wir es einlaufen lassen können in die größte Kunst, in der uns nicht totes Kunstmaterial, wie Ton und Farbe, übergeben ist, in der uns unvollendet der lebendige Mensch übergeben ist, den wir bis zu einem gewissen Grade, künstlerisch- erzieherisch zum vollendeten Menschen machen sollen" (Steiner 1980, S. 54). Eine solche Erziehungskunst ist eine "Hebammenkunst"; sie soll das göttlich-geistige, das in jedem Menschen, der geboren wird, neu erscheint, zu seiner individuellen Menschwerdung verhelfen. Das geschieht aber in zeitgemäßer Weise nur, wenn diese Menschwerdung Ich-haft erfolgt, also auf die Veranlagung individueller Freiheit gerichtet ist. Daraus folgt für die Erziehung: - Alle wirkliche Erziehung wurzelt in Prozessen der Selbsterziehung. Nur das Werdende im Erzieher wirkt befruchtend auf das Werdende im Lernenden: Der Erzieher kann nur so viel Selbständigkeit im Heranwachsenden veranlagen, als er selber zu erlangen bestrebt ist; - Alle Erziehung muß stellvertretend erfolgen: Sie geschieht im Namen des sich verkörpernden Ich; das geführte Lernen muß zur rechten Zeit in ein selbstbestimmtes Lernen übergehen; - Ein als Schule organisiertes Lernen muß Einrichtungen haben, durch die die autonomen pädagogischen Handlungen der einzelnen Lehrenden sich zu einem übergreifenden Gesamtprozeß des Kollegiums vereinen. Solche Einrichtungen sind bei den RudolfSteiner-Schulen z.B. in der kollegialen Schulführung, in den wöchentlichen Konferenzen und den regelmäßigen Schulveranstaltungen (sog. Monatsfeier) gegeben. Eine solche Erziehungskunst neuer Ich-hafter Qualität wird nur möglich, wenn einerseits pädagogische Menschenkunde so erarbeitet wird, daß sie zum Organ individueller pädagogischer Intuitionen
Waldorfpädagogik
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wird, andererseits muß zugleich in dem Lehrenden kreatives Vermögen so veranlagt werden, daß er befähigt ist, in konkreter Situation seinen Einsichten gemäß zu handeln. Eine solche pädagogische Handlungskompetenz als Zentrum anthroposophischer Lehrerbildung erfolgt einerseits vorbereitend; sie muß aber auch permanent erfolgen, und zwar sowohl im Zusammenhang der Konferenzen eines Kollegiums wie auch durch regelmäßige überörtliche Veranstaltungen, wie dieses sowohl an den einzelnen Waldorfschulen wie auch in den Fortbildungskursen geschieht. 4.4.6.3 Freie Schule als Quellort sozialer Erneuerung Die Waldorfschule Rudolf Steiners kann nur im Zusammenhang mit seinen übrigen Intentionen für eine Neugestaltung des sozialen Lebens zutreffend beurteilt werden. Diese unter dem Namen der sozialen Dreigliederung bekannt gewordenen Intentionen zielten auf eine Entstaatlichung des wirtschaftlichen wie des kulturellen Lebens. Die drei Bereiche: - das Geistesleben und hier insbesondere das Unterrichts- und Erziehungswesen, - das rechtlich-staatliche Leben und - das Wirtschaftsleben sollen jeweils eine eigene, ihnen angemessene Ordnungsstruktur bekommen und in relativer Unabhängigkeit voneinander verwaltet werden. Auch diesem Entwurf einer Neuordnung des sozialen Lebens liegt die Frage zugrunde, wie das gesellschaftliche Leben sich gestalten muß, damit in ihm der moderne Mensch sich Ich-haft entfalten und mit anderen Ich-haften Menschen zusammen wirken kann. So lange noch nicht ein freies, also auf dem Boden seiner Selbstverwaltung gründendes Unterrichts- und Erziehungswesen allgemein vorhanden ist, erwächst für die einzelne freie Schule die Aufgabe, diese Idee der Freiheit in die gesellschaftlichen Prozesse hineinzutragen.
4.4.7
Die Aktualität der Pädagogik Rudolf Steiners
Die Aktualität der Pädagogik Rudolf Steiners und der Waldorfschulen gründet für uns darin, daß Steiner eine lernende Gesellschaft
328
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
verwirklichen wollte: Er begründete eine Pädagogik, die darauf gerichtet ist, den heranwachsenden jungen Menschen mit dem B e dürfnis nach lebenslangem initiativen Lernen zu begaben, und er entwarf eine gesellschaftliche Ordnung, in der das individuelle Engagement jedes einzelnen in allen Bereichen eingebracht werden kann und die in ihrem "freien Geistesleben" die verjüngende Kraft eines immer wiederkehrenden Lernens jedem einzelnen ermöglicht.
Zitierte Literatur: BOHNSACK, Fritz/KRANICH, Ernst-Michael (1990): Erziehungswissenschaft und Waldorfpädagogik: der Beginn eines notwendigen Dialogs. Weinheim, Basel. FINTELMANN, Klaus J./SCHNEBDER, Peter (1986): Die Rudolf-SteinerSchulen: Menschenbildung auf der Grundlage der Anthroposophie. In: RÖHRS, H. (Hrsg.): Die Schulen der Reformpädagogik heute. Düsseldorf. KRANICH, Ernst-Michael (1988): Die Freien Waldorfschulen. In: Arbeitsgemeinschaft Freier Schulen (Hrsg.): Handbuch Freie Schulen. Reinbek bei Hamburg. RIST, Georg/SCHNEIDER, Peter (1977): Die Hiberniaschule. Reinbek. RUF, Bernd (1989): Die internationale Schulbewegung - Entwicklungen, Situationen, Aufgaben. In: Erziehungskunst, H. 8/9. SCHNEIDER, Peter (19852): Einfuhrung in die Waldorfpädagogik. Stuttgart. STEINER, Rudolf (1980'1): Neuorientierung des Erziehungswesens im Sinne eines freien Geisteslebens. (Drei Vorträge über Volkspädagogik) Dornach (Sonderdruck aus GA 1922). STEINER, Rudolf (198715): Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung - Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Dornach. WEHNES, Franz-Iosef (1987): Kritische Aspekte der Waldorfpädagogik. In: KRÄMER, F.-J. u.a.: Anthroposophie und Waldorfpädagogik. Vonsmeiler.
Weiterführende Literatur: CARLGREN, Franz/KLINGBORG, Arne (19865): Erziehung zur Freiheit. Stuttgart. EDDING, Friedrich/MATTERN, Cornelia/SCHNEIDER, Peter (Hrsg.) (1985): Praktisches Lernen in der Hibernia-Pädagogik: Eine Rudolf-Steiner-Schule entwickelt eine neue Allgemeinbildung. Stuttgart. GABRIEL, Wilfried (1995): Personale Pädagogik in der Informationsgesellschaft. Frankfurt/M.. HANSMANN, Otto (Hrsg.) (1987): Pro und Contra Waldorfpädagogik. Akademische Pädagogik in der Auseinandersetzung mit der Rudolf Steiner-Pädagogik. Würzburg.
Waldorfpädagogik
329
LEBER, Stefan (Hrsg.) (19852): Die Pädagogik der Waldorfschule und ihre Grundlagen. Darmstadt. STEINER, Rudolf (198715): Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung - Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Dornach. STEINER, RUDOLF (19766): Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Dörnach. STEINER, RUDOLF (19815): Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft. Dornach. WEHR, GERHARD (1982): Rudolf Steiner. Wirklichkeit, Erkenntnis und Kulturimpuls. Freiburg im Breisgau.
4.5
Praktisches Lernen* Peter Fauser
4.5.1 4.5.1.1 4.5.1.2 4.5.1.3
Was ist unter Praktischem Lernen zu verstehen? Das Konzept Praktisches Lernen Beispiele für Praktisches Lernen Themen Praktischen Lernens (eine Auswahl aus dem Förderprogramm Praktisches Lernen)
331 331 333
4.5.2 4.5.2.1 4.5.2.2 4.5.2.3 4.5.2.4
Pädagogische Begründung Lernen in der Moderne - Wandel des Aufwachsens Anthropologische Aspekte Bildungstheoretische Präzisierung Verwandte Reformansätze
338 338 339 340 341
4.5.3 4.5.3.1 4.5.3.2 4.5.3.3 4.5.3.4 4.5.3.5 4.5.3.6
Schulentwicklung und Praktisches Lernen Fachunterricht und fächerverbindendes Lernen Schulartbezug und Schulqualität Anforderungen an das Lehrerhandeln Beratung Gemeinde und Schulverwaltung Rechtlicher und administrativer Rahmen
342 342 343 343 344 344 345
4.5.4
Projektstruktur, Förderinstrumente, Öffentlichkeit
346
336
Zitierte Literatur
348
Weiterführende Literatur
349
4.5.1
Was ist unter Praktischem Lernen zu verstehen?
4.5.1.1 Das Konzept Praktisches Lernen Das Praktische Lernen ist als Reformansatz für allgemeinbildende Schulen Anfang der achtziger Jahre aus einer gemeinsamen Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Akademie für Bildungsreform hervorgegangen. Mit dem Praktischen Lernen werden pädagogische Einsichten und Forderungen erneuert und weitergeführt, Der folgende Text greift in wesentlichen Teilen auf das im Jahr 1993 veröffentlichte Memorandum zurück (Akademie 1993), das im Auftrag der Akademie für Bildungsreform und der Robert Bosch Stiftung von der Tübinger Projektgrappe Praktisches Lernen erarbeitet worden ist. Eingegangen sind Gespräche, Kritik und vielfaltige Anregungen zahlreicher Kooperationspartner insbesondere aus den verschiedenen Regionalinitaitiven. Das Manuskript des Memorandums erstellt haben Peter Fauser (federfiihrend), Wolfgang Beutel, Andreas Flitner, Franz-Michael Konrad, Wolfgang Mack, Wolfgang Schöning, Gerd Schubert und Heinried Tacke.
332
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
die, obwohl in einigen Schulen seit langem beispielgebend verwirklicht, immer wieder vergessen oder mißachtet worden sind. Gegenwärtig finden diese Einsichten und Forderungen eine wachsende Aufmerksamkeit. Diese geht einher mit einem lebhaften Interesse an der Reformpädagogik im ganzen und einer anhaltenden Diskussion über ein zeitgemäßes Verständnis von Lernen und allgemeiner Bildung (vgl. Fauser u.a. 1991; Flitner 1992). Praktisches Lernen soll die Lebensdienlichkeit des Lernens und den Lebensbezug der Schule stärken. Die "Hand" zusammen mit dem "Kopf' und dem "Herzen": Die leiblichen Kräfte und Fähigkeiten sollen mit den geistigen, den moralischen und sozialen zusammen gebildet werden. Diese klassische pädagogische Forderung (-» 4.2.2.1) bekommt in heutiger Zeit besonderes Gewicht angesichts eines beschleunigten Wandels der durch Technik, Wissenschaft und Medien bestimmten modernen Kultur. Dieser Wandel hat längst auch die Schule und ihr Umfeld erreicht. Ihr Lernen sieht sich immer mehr eingefügt in ein Korsett fachlicher, organisatorischer und rechtlich-administrativer Zwänge und ist einem Strom medialer Informationen und Bildeindrücke ausgesetzt, also immer weniger fundiert durch eigene Erfahrungen und eigene Tätigkeit. Die Moderne erzeugt ein Anwachsen von Informationen aus zweiter und dritter Hand zu Lasten eines unverstellten Umgangs mit der Wirklichkeit und zu Lasten eigener praktischer Tätigkeit, (vgl. Coleman 1986; Fauser u.a. 1991; Faust-Siehl u.a. 1990). Hier setzt das Praktische Lernen ein: Es unterstreicht die grundlegende Bedeutung des eigenen praktischen Tuns für das menschliche Lernen allgemein, besonders aber für das heutige Lernen in der Schule. Praktisches Lernen findet dann statt, wenn das Lernen um Erfahrungen erweitert und bereichert wird, die sich mit eigenem Tätigsein und eigener Wirksamkeit des Lernenden verbinden. Tätigkeiten in diesem Sinne sind handwerkliche und technische Arbeiten, Herstellen und künstlerisches Gestalten, soziale Hilfeleistungen. Dazu gehören aber auch Prozesse des Experimentierens und anderen Erkundens und Forschens, ökologische und ökonomische Aktivitäten, demokratisches Engagement sowie internationale und interkulturelle Verständigung und Zusammenarbeit, soweit diese mit praktischem Tätigsein verbunden sind.
Praktisches Lernen
333
Ob die Qualität des Lernens in dieser Richtung verbessert werden kann, ist abhängig von dem Willen und der Initiativbereitschaft der Schulen, ebenso aber von entsprechenden institutionellen Bedingungen und Voraussetzungen, kurz gesagt, von einer verbesserten Qualität der Schule insgesamt. Lernqualität und Schulqualität sind nicht voneinander zu trennen. Die Förderabsicht richtete sich also von vornherein darauf, den Begriff und die Vorhaben des Praktischen Lernens gemeinsam mit den Schulen auszuarbeiten und bestehende Entwicklungen der Praxis aufzugreifen und zu unterstützen. Wo Schulen das praktische Lernen nicht nur gelegentlich oder ansatzweise ermöglichen, sondern dauerhaft in ihr Schulkonzept aufnehmen, entscheiden sie sich nach ihren lokalen und personellen Möglichkeiten für ihren besonderen Weg. Besondere pädagogische Problemlagen, individuelle Lernmöglichkeiten und Neigungen der Schülerinnen und Schüler, typische lokale oder regionale Themen, Natur- oder Industrielandschaften, Ressourcen und Kooperationspartner sowie Fähigkeiten und Interessen der Lehrerinnen und Lehrer bestimmen die Themen und das Profil. Praktisches Lernen fördert die regional orientierte Profilierung einzelner Schulen und macht bewußt von den Ressourcen der Schulumgebung Gebrauch. Zusammenfassend bezeichnet das Konzept Praktisches Lernen zweierlei: ein neues Verständnis von den Aufgaben schulischen Lernens und ein Schulreformprojekt.
4.5.1.2
Beispiele für Praktisches Lernen
Solarmobil Mit ihren selbst entwickelten und gebauten Booten haben sie bei Solarbootrennen erfolgreich abgeschnitten: in der Nutzung von Solarenergie kennen sie sich aus. Nun stellen die Konstrukteure, Lehrer und Schüler einer Gesamtschule, ihre Kenntnisse in den Dienst des Gemeinwohls. Sie haben es übernommen, einen "Solartransporter" zu bauen, der für Fahrten auf dem Gelände eines Diakoniezentrums genutzt werden soll. Viel Arbeit wird investiert, nicht nur im Fachunterricht, sondern über die Schule hinaus auch in der Freizeit.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Wissenschaftlich, alltagstauglich, praktisch Für manche wie eine Quadratur des Kreises: ein alltagsnaher naturwissenschaftlicher Unterricht, der zugleich an aktuellen Problemen orientiert, wissenschaftlich fundiert, fächerverbindend angelegt ist und praktisches Tun von Schülern ermöglicht. Genau dies leisten die rund drei Dutzend alltagsnahen Experimente für Chemie, Physik und Biologie, die von Kollegen eines Studienseminars für die zweite Ausbildungsphase von Gymnasiallehrern entwickelt worden sind. Ob es um Quellwasseruntersuchungen geht, um die Ozonproblematik, die Wirkung von Medikamenten auf den Stoffwechsel, den Verschmutzungsgrad des Bodens am Straßenrand, die Produktion von Biogas oder die Herstellung von Obstessig: es wird zu Experimenten angeleitet, die von den "Phänomenen" ausgehen, fast ohne Lehrmittelindustrie, die mit einfachen Geräten und Materialien durchgeführt werden können, zudem nur minimale Schadstoffmengen hinterlassen und den Ansprüchen auf wissenschaftliche Genauigkeit genügen. Kulturfabrik Ein gymnasiales Landerziehungsheim nimmt Mitte der achtziger Jahre die Gelegenheit beim Schopf, eine stillgelegte Skifabrik zu erwerben. Der mehrjährige Umbau läßt eine Kulturwerkstatt für die Schule und den sie umgebenden Ort entstehen. Lehrer und etliche Schülergenerationen arbeiten auf der "Schul-Baustelle" kräftig mit. Heute bietet die "Fabrik" einen großen Bühnenraum, eine Küche und Werkstätten für Holz, Metall, Ton und Textil. Schülerinnen, Schüler und Lehrer planen und gestalten teilweise selbst das Programm. Nicht nur aus dem Leben der Schule, auch dem des Ortes ist dieses Kultur- und Bildungsangebot inzwischen nicht mehr wegzudenken. Weiterbildungs- und Freizeitkurse, Konzerte von Klassik bis Rock, Filme, Vorträge und Diskussionen, aber auch offene Werkstattage, an denen die technische Einrichtung und sachkundige Anleitung für jedermann zur Verfügung stehen, führen jung und alt in die "Fabrik". Landarbeit wie einst Eine Sonderschule nutzt ein angrenzendes Ackergelände zum eigenen Anbau von Flachs, Getreide und Kartoffeln. Die Erntearbeit mit altem Gerät gibt den Anstoß zu einem weiterführenden, heimatgeschichtlich interessanten Unternehmen. Aus Bauernhöfen der Umgebung werden alte, vorindustrielle Gerätschaften zusammengetra-
Praktisches Lernen
335
gen und wieder gebrauchsfähig gemacht. Im Lauf der Zeit kann an der Schule ein kleines Heimatmuseum eingerichtet werden. Kurse auch für Außenstehende bieten Einblick in frühere bäuerliche Arbeits- und Lebensweisen. Spurensuche: Schicksal einer jüdischen Gemeinde Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums setzen sich über Jahre mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde eines Nachbardorfes seit ihren Anfängen im Zeitalter der Emanzipation auseinander. Sie versichern sich der Unterstützung durch die Israelitische Religionsgemeinschaft in Württemberg. Was mit der Dokumentation und behutsamen Restaurierung des noch erhaltenen jüdischen Friedhofs bei einer Projektwoche beginnt, fuhrt zu eigener Forschung. Im Rahmen einer schulischen Arbeitsgemeinschaft werden im Orts-, im Staats- und Hauptstaatsarchiv Quellen ausgewertet; die einschlägige Literatur wird durchgearbeitet. Um vor allem die letzten Jahrzehnte der Gemeindegeschichte rekonstruieren zu können, korrespondieren die Schülerinnen und Schüler mit heute in den USA und in Israel lebenden Nachkommen der letzten Mitglieder dieser 1942 von den Nazis ausgelöschten Gemeinde. Ein Buch entsteht. Die Ergebnisse der Arbeit ermöglichen Korrekturen und Ergänzungen im bislang einzigen Standardwerk zur Geschichte der Juden in Württemberg in wichtigen Punkten. Stützpunkt Natur Ein seit langem leerstehendes Forsthaus wird von Lehrern und Schülern aus zwei Schulen der nahegelegenen Stadt zu einem Jugendwaldheim umgebaut. Auf dem dazugehörigen Grundstück werden ein Naturerlebnispfad, eine Holzwerkstatt und ein umweltchemisches Labor eingerichtet. Viele helfen mit, die Stadt, der Landkreis und das Forstamt, aber auch Wissenschaftler der benachbarten Universität. Der angrenzende Wald bietet vielfache ökologische Lern- und Erkundungsaufgaben, regelmäßig wird die Wassergüte entlang des kleinen Bachlaufs hinter dem Haus untersucht. Das Jugendwaldheim wird zu einem ökologischen Stützpunkt für die Schulen. Fest angestellt im Jugendwaldheim sind eine Agrarwirtin und ein Arbeitserzieher. Sie kooperieren eng mit den Lehrerinnen und Lehrern der beiden Schulen, nicht nur bei der Durchführung, sondern auch bei der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, der im Jugendwaldheim und seiner Umgebung stattfindet. Für die Kinder und Jugendlichen, von denen viele in einem der "sozialen Brenn-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
punkte" der Stadt leben, bedeutet der Aufenthalt im Jugendwaldheim nicht nur einen Wechsel des Lernorts, sondern seelisches Luftholen in der Natur. Belebende Kunst in die Schule Eine großstädtische Hauptschule mit multi-ethnischer und multikonfessioneller Schülerschaft, mitten in einem Stadtteil, dessen Alltag von Drogenhandel und Bandenkriminalität geprägt ist. Für viele Jugendliche ist Schule eigentlich kein Thema - bis es gelingt, Künstler zu gewinnen, die mit ihnen arbeiten: ein Schauspieler-Regisseur, eine Filmemacherin, ein Bildhauer, ein Literat, eine Tänzerin, ein Akrobat - vierzehn Künstlerinnen und Künstler verschiedenster nationaler Herkunft kommen in die Schule. Mit Schülerinnen und Schülern des 7. und 8. Jahrgangs drehen sie gemeinsam Filme, inszenieren Theaterstücke, schreiben und malen, üben akrobatische Kunststücke ein, beteiligen sich an der dringenden Instandsetzung und der Verschönerung der Schule u.v.m. Die Jugendlichen entdecken ganz neu ihr Können, ihr schöpferisches Potential, ihre Fähigkeit auch zu diszipliniertem Lernen und Arbeiten. Zunehmend findet die Schule öffentliche Unterstützung und Aufmerksamkeit und wird allmählich wieder zu einem gesuchten Ort der Begegnung und des Lernens.
4.5.1.3
Themen Praktischen Lernens (eine Auswahl aus dem Förderprogramm Praktisches Lernen)
Erweiterung des Schulgartens: Anschaffung von Werkzeug und Geräten fur (u.a.) den Bau einer Trockenmauer, die Anlage eines Schulteichs, den Bau einer Solaranlage (Schulprojekt eines Gymnasiums) Druckwerkstatt Oldenburg: Unterstützung der Aufbauphase eines freien, schulbezogenen pädagogischen Druckzentrums Praxisbezogene Berufsvorbereitung: Erkundungs- und Berufspraktikum für Oberstufenschülerinnen eines Gymnasiums Ausstellung "Arbeit - Werken - Technik": Öffentliche Darstellung von Unterrichtsergebnissen aus fünfzig Hauptschulen Projekt "Buchbinderwerkstatt": Herstellung und Vertrieb eigener Bücher (Deutschunterricht der Sekundarstufe I) Schuleigene Kfz-Werkstatt: Einrichtung einer Kfz-Werkstatt an einer Hauptschule
Praktisches Lernen
337
Multiwerkstatt: Umbau eines ehemaligen Feuerwehrhauses zur multifunktionellen Ganztagseinrichtung an einer Hauptschule Freiarbeit: Entwicklung von Materialien zur Unterrichtsdifferenzierung und Freiarbeit im Unterricht (Pädagogische Hochschule) Aufbau einer Fahrradwerkstatt: Aufbau und Einrichtung einer Fahrradwerkstatt für die Schule als mehrjähriges Projekt einer Lerngruppe in einer Gesamtschule Feuchtgebiet mit einem Weiher: Anlage und Pflege eines Feuchtgebietes (Schulprojekt eines Schulzentrums) Gauklerbühne und Jahrmarkt: Ein "historisches" Schulfest zum zwanzigjährigen (Schulfest) Bestehen einer Hauptschule Gitarrenbaukurs: Kursfahrt mit handwerklichen und musikalischen Inhalten in der Sekundarstufe II eines Gymnasiums Theaterprojekt "Marburg im Mittelalter": Einjähriges Schulprojekt einer Grundschule in Zusammenarbeit mit Theaterpädagogen Schafhaltung: Biologieunterricht am Gymnasium Bau eines Zeppelins: Bau eines flugfähigen Modell-Zeppelins (Physikunterricht, Realschule) Antike Lebenswelt anschaulich: Vorbereitung und Durchfuhrung von "Römerfesten" (Lateinunterricht an einem Gymnasium) Ankauf von pneumatischen und elektropneumatischen Maschinen: Geräte für den Arbeitslehreunterricht Produktion eines schuleigenen Fernsehprogramms: Um- und Ausbau eines ehemaligen Rathauses als Schulprojekt einer Hauptschule Luft- und Raumfahrt: Bau von Flugmodellen, Computersimulationen etc. zur Veranschaulichung luft- und raumfahrttechnischer Zusammenhänge (Gymnasium) Lokalgeschichtliche Ausstellung: Rekonstruktion des letzten Friedensmonats 1939 in Berlin und öffentliche Präsentation "Papier schöpfen": Herstellung von eigenem Papier nach alten Schöpfverfahren in einer Grundschule Naturerlebnispfad: Aufbau eines Naturerlebnispfades als Gemeinschaftsprojekt einer Sonder- und einer Hauptschule Schulküche und -Cafeteria: Aufbau einer Cafeteria mit Küche und festem Mittagessenangebot durch Schüler einer Hauptschule Zirkus-Tournee: Gastspiel des Schülerzirkus einer westdeutschen Gesamtschule in Berlin CAD-Arbeitsplatz: Einrichtung und Programmierung einer computergesteuerten Dreh- und Fräsmaschine (Gymnasium)
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Errichten von Totem pfählen: Errichten von Totempfählen als ökologisches und kulturästhetisches Projekt Schulpartnerschaft Israel: Besuchsprogramm für Schüler einer israelischen Partnerschule Selbstbehauptungstraining für Mädchen: Trainingskurse zur Selbstverteidigung für Schülerinnen Bau von Segelbooten: Bau von Segelbooten in Zusammenarbeit mit einer Werft und einem Bootsbaumeister.
4.5.2
Pädagogische Begründung
4.5.2.1 Lernen in der Moderne - Wandel des Aufwachsens Für das praktische Lernen sind zunächst die tiefgreifenden Veränderungen des Aufwachsens im Zuge der kulturellen Umwälzungen der Neuzeit wesentlich, für deren wissenschaftliche Analyse sich der Begriff "Modernisierung" eingebürgert hat. Am Beginn der Moderne - des Zeitalters der Industrie, des Ausbaus moderner Staatlichkeit und der Verstädterung - bedeutete der Schulunterricht für die meisten Kinder eine Ergänzung von Erfahrungen, die sich durch Mitleben und Mittun im Alltag beiläufig vollzogen - in dem Umfang und in der Qualität, wie es von alters her üblich und in einem geschlossenen Lebenszusammenhang auch möglich gewesen ist. Was Familie oder Arbeit täglich verlangten, bot Anlaß und Gelegenheit zum Erwerb von Kenntnissen, begrenzte aber zugleich den Rahmen möglicher Erfahrungen. Kinder und Jugendliche wuchsen in ein besonderes Wissen und Können hinein, ebenso wie in Stand, Sprache oder Religion. Mit dem Schulunterricht trat neben dieses ursprüngliche Erfahrungslernen eine besondere, für die Schule typische Art der Wissensvermittlung. Die Schule ergänzte die Erfahrungen, die im Umgang mit Menschen und Dingen gemacht wurden, durch einen Kanon allgemeinen Wissens und durch elementare Kulturtechniken. Im Lauf der Zeit, mit dem Ende der Kinderarbeit und der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, wurde eine anspruchsvolle Schulbildung - bis dahin einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten - allmählich allen Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht. Der curriculare Kernbestand dieser Bildung wird vor allem aus der gymnasialen Tradition der Geistlichen- und Gelehrtenschulen gespeist und stellt einen unerläßlichen Teil auch heutiger Schule dar. Charakteristisch
Praktisches Lernen
339
für diese Lehr- und Lerntradition sind Wort und Schrift, Reflexion und abstraktes Wissen (vgl. Herrlitz u.a. 1993; Lundgreen 1980/81; Coleman 1986). Die so ausgerichtete Schule schafft einerseits eine schonende Distanz zu kinderfeindlicher Alltagsnot und Ausbeutung; sie ist andererseits schon immer als einseitig kritisiert worden. Den veränderten Bedingungen des Aufwachsens und der Erziehung heute erweist sie sich als immer weniger angemessen. Praktische Fähigkeiten und Erfahrungen können von Kindern immer weniger durch Mitleben und Mittun außerhalb der Schule erworben werden. Nur noch wenige Praxisbereiche der Gesellschaft und der Kultur sind als Erfahrungsfelder ohne weiteres zugänglich. Die Schule muß heute zum Teil auch grundlegende Erfahrungen, die von den Lebens- und Lernverhältnissen außerhalb der Schule nicht mehr gewährleistet werden, zuallererst erschließen. Zum Erwerb von Wissen und zum Einüben von Kulturtechniken müssen Erfahrungen hinzutreten, die aus eigenem Tätigsein erwachsen - Unterricht muß um ein vieldimensionales praktisches Lernen erweitert werden (-> 2.2). 4.5.2.2 Anthropologische Aspekte Die gesellschaftlichen Veränderungen mit ihren Folgen für die alltägliche Erfahrungswelt und die Einseitigkeit des schulischen Lernens sind in anthropologischer Hinsicht problematisch - schon angesichts der zeitlichen Ausdehnung der Schule, die den größten Teil der Kindheit und Jugendzeit durch schulspezifische Themen und Formen des Lernens bestimmt und begrenzt. Erstens werden logische, abstrakte, verbale gebundene Leistungen besonders gefordert und belohnt. Menschen besitzen aber vielfältige praktische Fähigkeiten und haben auch hier den Anspruch und das Recht auf eine darauf gerichtete vielseitige Förderung. Zweitens wird ein rezeptives, anschauungsfernes und handlungsarmes Lernen bevorzugt, also ein Lernen, das der Schule als einer künstlichen Erfahrungswelt entspricht. Den Menschen sehen wir heute aber als ein tätiges und auf das Handeln angelegtes Wesen; in seiner besten Form muß Lernen als ein Weg eigener Tätigkeit wahrgenommen werden und stellt eine aktive, gestaltende Leistung dar, für die hinreichende Spielräume freier Aktivität und eigenständiger Gestaltung notwendig sind. Drittens können sich auch abstrakte Erkenntnisse und intellektuelle Lei-
340
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
stungen - die in der Schule, wenngleich zu einseitig, so doch mit vollem Recht gefördert werden - ohne leibhaftige und aktive Erfahrungen nicht voll entwickeln. Schließlich ist eine eigene Praxis nicht nur als Anwendungsfeld für das Wissen, sondern als Prüfstein, Gegenlager und Anregungsquelle für Lernen und Bildung während der gesamten individuellen Entwicklung wesentlich (vgl. Fauser/ Tacke 1991). 4.5.2.3 Bildungstheoretische Präzisierung Praktisches Lernen tritt keineswegs nur ergänzend oder gar konkurrierend neben das Wissen, das die Schule vermittelt. Praktisches Lernen will dazu beitragen, daß das Schulwissen ein Stück weit aus seiner Isolation, der Abgetrenntheit und Künstlichkeit heraustritt und sowohl anthropologisch wie gesellschaftlich in erfahrbar neue Zusammenhänge aufgenommen wird. Anthropologisch, in dem die Kinder und Jugendlichen sich als Lernende anders erfahren, indem sie ihr Können, ihre Person, ihre Leiblichkeit, ihr Handeln als einen Zusammenhang erleben, der das Lernen trägt. Gesellschaftlich, indem sie jedenfalls an einigen Stellen des Lernsystems erfahren können, daß Lernen und soziale Wirklichkeit miteinander zu tun haben, daß sie aufeinander bezogen sind und daß auch die Lernenden schon etwas ausrichten können innerhalb der gesellschaftlichen Realität. Leibhaftige Erfahrung und äußere (die Schule umgebende) Welt werden damit zu anerkannten, einbezogenen Quellen des Wissens. Die Praxisformen und der Widerstand, der dabei zu überwinden ist, treten als eigener Grund des Lernens an die Seite des Unterrichts aus Büchern und didaktischen Medien. Eine solche Erweiterung des schulisch organisierten Lernens um pädagogisch ausgewählte Tätigkeiten hat Konsequenzen für das Verständnis von Bildung: Gerade bei den Schlüsselproblemen und -aufgaben der Gegenwart genannt seien Ökologie, Frieden, Gerechtigkeit - geht es um Probleme einer vernünftigen menschlichen Praxis, zu deren Verständnis und Bewertung über bloßes Wissen hinaus Erfahrungen und eigenes Tätigsein gehören (vgl. Flitner 1992; Klafki 1986). Ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung muß so gesehen ein praktisches Lernen im Zusammenhang dieser Probleme notwendig mit einschließen. Selbstverständlich hat die Schule auch früher schon Elemente praktischen Lernens enthalten und gefordert: die Theateraufführung und der Schulchor, die Produktionen des Kunst- und des Werkunterrichts und die Ausstellungen von Ergebnissen solcher Arbeit wie-
Praktisches Lernen
341
sen in diese Richtung. Aber sie standen deutlich am Rande der Schule, um so mehr, je mehr die Schule auf hohe Abschlüsse und auf akademische Berufe zuführte. Daß in den neuen Bundesländern bei der Umformung bisheriger Einheitsschulen zu Gymnasien die eingerichteten Werkstätten meist abgebaut und aufgelöst wurden, ist nur ein Zeichen für den Rückstand des öffentlichen Bewußtseins in dieser Frage (und für die daraus erwachsende deutliche Benachteiligung der Gymnasialschüler in diesem Lern- und Erfahrungsbereich). 4.5.2.4 Verwandte Reformansätze Ein neues Verständnis von Lernen und Bildung im Sinne des praktischen Lernens wird von manchen Schulen schon seit langem kultiviert. Es ist auch für eine Reihe von Reformkonzepten kennzeichnend, die mit dem praktischen Lernen verwandt sind; viele davon lassen sich auf die Zeit der Reformpädagogik im ersten Drittel unseres Jahrhunderts zurückführen (-»• 4.1.3). Genannt seien das handlungsorientierte Lernen, der Projektunterricht, der "offene Unterricht", die Freiarbeit, das Erfahrungslernen, vor allem aber auch umfassende Schul- und Lernkonzepte wie die Montessori-Pädagogik, die Freinet-Pädagogik, die Waldorf- und Hibernia-Pädagogik (-*• 4.4), die Jenaplan-Pädagogik, das Heidenheimer Werkgymnasium und die Bielefelder Laborschule. Gemeinsam ist diesen Konzepten, daß sie den anthropologischen Zusammenhang von Erfahrung, eigener Tätigkeit und Lernen im Unterricht und im Schulkonzept insgesamt besonders beachten. Für die gegenwärtige Schule und ihre weitere Entwicklung ist es entscheidend, Praktisches Lernen nicht auf eine bloße Methode oder Form des Lernens oder auf den Unterricht zu beschränken (-» 3.2), sondern als eine grundlegende, allgemeine Aufgabe von Schule und Bildung aufzufassen. Theoretisch gesehen, stellt Praktisches Lernen deshalb nicht nur einen didaktischen Begriff dar, der sich auf den Unterricht im engeren Sinne richtet, sondern einen pädagogischen Begriff, der die Schule und die Aufgabe der Erziehung insgesamt im Blick hat (vgl. Projektgruppe 1988).
342
4.5.3
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Schulentwicklung und Praktisches Lernen
4.5.3.1 Fachunterricht und iacherverbindendes Lernen Praktisches Lernen wird in verschiedenen Bereichen und Organisationsformen der Schule verwirklicht: im Kernunterricht, im Wahlpflichtbereich, in Arbeitsgemeinschaften und in Projektwochen. Wenn es nicht nur ein bloßer Zusatz im sonst unveränderten Schulalltag bleiben soll, muß es auch in den normalen Unterricht der einzelnen Fächer Eingang finden. Wie an zahlreichen Projekten deutlich geworden ist, bietet auch der Fachunterricht vielfältige Anknüpfungspunkte und Voraussetzungen für praktisches Lernen (vgl. EdelhoffTLiebau 1988; Fauser u.a. 1988; Gidion u.a. 1987; Münziger/Liebau 1987). Zugleich strebt praktisches Lernen, weil es sich mehr von komplexen Problemen und Erfahrungszusammenhängen leiten läßt als von fachlicher Systematik, über fachtypische Themen und Methoden hinaus nach Verbindungen zu anderen Fächern. Praktisches Lernen begünstigt daher eine Organisation des Lernstoffs, die durch reale Probleme und erfahrbare Zusammenhänge bestimmt wird und sinnfällig nachvollziehbaren Gesichtspunkten folgt. Die Konzentration und Verringerung des Stoffs auf Schlüsselprobleme und exemplarische Themen dürfte - gerade auch für die Sekundarstufe II - eine zukunftsweisende Möglichkeit bieten, wie die Schule den unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Erwartungen und Forderungen gerecht werden kann, die heute an ihr Lehrangebot gerichtet werden - genannt seien die vielfältigen und weiter wachsenden Anforderungen der Fächer, die Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, Selbständigkeit und Problemlösung ("Schlüsselqualifikationen"; 5.2.1) sowie die Erwartung, daß individuelle Schwerpunkte gesetzt werden können, ohne daß der gemeinsame Kern der allgemeinen Grundbildung aufgegeben wird. Fächerübergreifendes Arbeiten, das der fachbestimmten Stückelung von Lerngegenständen und der Vermehrung des Stoffs durch Konzentration entgegenwirkt, erfordert eine engere Kooperation der Fachlehrer und eine Unterrichtsorganisation der Schule, die es erlaubt, die einzelnen Unterrichtsfächer zusammenzufuhren. Schulen brauchen deshalb einen Handlungsrahmen, der entsprechenden Lernzeitmustern (Block- und Epochenunterricht, Jahresarbeitspläne etc.) sowie entsprechenden Formen der Zusammenarbeit von Lehrern förderlich ist (vgl. Hiller 1990).
4.5.3.2 Schulartbezug und Schulqualität Praktisches Lernen oder Elemente praktischen Lernens sind an allen Schularten und Schulstufen zu finden, allerdings mit unterschiedlichen Akzenten und, betrachtet man einzelne Schulen, in sehr unterschiedlicher Spannbreite und Qualität (vgl. Projektgruppe 1988; Akademie 1993). Insgesamt auffallend ist die lebhafte und anhaltende Beteiligung von Gesamtschulen. Deutlich ist, daß für die Grundschule eine große Breite von Themen und Formen im Sinne des praktischen Lernens heute als selbstverständlicher Kernbestand ihrer Pädagogik gilt. Bei den Sekundärschulen bewirkt die im Vergleich mit Gymnasien größere Nähe von Hauptschulen und Realschulen zur Arbeitswelt eine stärkere Gewichtung der entsprechenden Themen. Und in der gymnasialen Oberstufe wird praktisches Lernen mit wissenschaftsnahen Arbeitsweisen verbunden und bringt neue, disziplinübergreifende Lern- und Forschungsweisen mit sich, die den eigentlichen Reformanspruch dieser Schulstufe, eine fächerüberwindende Propädeutik wissenschaftlichen Fragens und Arbeitens erst einlöst. Bildungspolitisch muß im Blick auf die Zukunft des Praktischen Lernens angesichts der außerordentlichen Anspannung der öffentlichen Haushalte heute mit Nachdruck auf die großen und zunehmenden regionalen Disparitäten im Bildungswesen hingewiesen werden. Schon jetzt sind die Unterschiede im Schulangebot besonders zwischen Verdichtungsräumen einerseits, dünnbesiedelten ländlichen Regionen andererseits alarmierend, mit einem zusätzlichen Gefälle zwischen West und Ost. Die wichtigste Aufgabe der gegenwärtigen Bildungspolitik in den nächsten Jahren ist es, einer regionalen Verschärfung der Ungleichheit der Bildungschancen vorzubeugen und für schwach entwickelte Regionen einen Strukturausgleich zu schaffen. Hier müssen die wenigen Sekundärschulen - unabhängig von ihrer formalen Zugehörigkeit zu einer Schulart - ein breit entfaltetes Angebot auch praktischen Lernens bereithalten, weil auf andere Weise das Recht auf ein gleichwertiges Bildungsangebot für alle nicht verwirklicht werden kann, sondern verletzt wird (vgl. Fauser 1994). 4.5.3.3 Anforderungen an das Lehrerhandeln Als Bestandteil des Schulkonzepts spricht Praktisches Lernen bei Lehrerinnen und Lehrern Fähigkeiten an, die im traditionellen Bild des Lehrerberufs entweder kaum enthalten oder praktisch nur wenig
344
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
entwickelt worden sind. Das Organisieren von Projekten, der flexible Umgang mit Zeit, das Moderieren von Lernprozessen, die Offenheit für Erfahrungen und Lernbedürfnisse der Schüler und die Nutzung eines weiten Methodenrepertoires erfordern Kompetenzen, die vom Ausbildungsgang der Lehrer her nicht einfach vorausgesetzt werden können und sich auch nur zum Teil während des Arbeitsprozesses von allein entwickeln oder autodidaktisch erwerben lassen (Frommer 1991a; Frommer 1991b; Schöning 1991). Lehrer sind hier in fachlicher, methodischer und pädagogischer Hinsicht deshalb auf Unterstützung angewiesen. Neben der Lehrerfortbildung und Beratung hat die Zusammenarbeit mit Experten aus nicht-pädagogischen Berufen sich im Rahmen des Projekts als besonders hilfreich und anregend erwiesen. So fuhrt die Zusammenarbeit mit Fachleuten aus Handwerk, Wirtschaft und Kultur dazu, daß Lehrer von bestimmten Aufgaben entlastet werden und sich zugleich neue Fähigkeiten aneignen können. 4.5.3.4 Beratung Die Hindernisse und Schwierigkeiten, die bei der Einfuhrung des praktischen Lernens auftreten, können auf verschiedenen Ebenen liegen. Entsprechend variiert der Beratungsbedarf. Er kann technisch-organisatorischer Art sein, wenn Projekte geplant, vorbereitet und in den Grenzen des schulischen Zeitrahmens durchgeführt werden. Praktisches Lernen berührt aber auch übergreifende Einstellungen der Lehrer zum Lernen, zum Unterricht und zur Erziehung und fordert deshalb u.U. eine weitreichende Auseinandersetzung mit dem eigenen Berufsverständnis heraus. Praktisches Lernen betrifft indessen häufig die Beteiligten nicht nur als einzelne, sondern darüber hinaus auch den Handlungsrahmen und die Kultur von Schulen und Kollegien als ganze. Beratung richtet sich dann nicht nur auf Einzelprobleme, sondern muß darauf zielen, die pädagogische Willensbildung in der Schule anzuregen und in den Dienst gemeinsamer Lösungssuche zu stellen. Beratung muß auf verschiedene Anlässe reagieren können und braucht ein Instrumentarium, das flexibel genutzt werden kann. 4.5.3.5 Gemeinde und Schulverwaltung Wenn im Praktischen Lernen über den Raum der Schule hinaus Themen und Probleme des Ortes und der Region, ihrer Geschichte, Kultur, Wirtschaft und Ökologie aufgegriffen werden, spielt die Gemeinde, ihre verschiedenen Organe, Gruppen und Einrichtungen
Praktisches Lernen
345
eine große Rolle. Die Gemeinde bietet nicht nur reale Lernorte (-> 3.1) und Lerngelegenheiten, sie stiftet zugleich Kooperationsbeziehungen. Die Partner helfen durch konkrete Mitarbeit in Projekten, durch Fördergelder oder durch die Unterstützung der Schule in Öffentlichkeit und Politik. Auf diesem Wege können Schule und Gemeinde sich füreinander öffnen. Praktisches Lernen kann durch die Schulverwaltung gehemmt, aber auch gefördert werden. Förderlich für die Entwicklung von Schulkonzepten, die das praktische Lernen aufnehmen, sind Schulbehörden, die Initiativen und Experimentierfreude von Schulen begrüßen, die der Schule Schutz und Argumentationshilfe bieten und auf Erfolge mit Anerkennung und Unterstützung reagieren. Hier tritt besonders angesichts knapper Haushalte die Frage auf, ob durch die Unterstützung von besonderen Initiativen und Angebotsprofilen diejenigen Schulen benachteiligt werden, die solche Initiativen nicht entwickeln und infolgedessen über weniger Mittel und Möglichkeiten verfugen als andere. Richtig ist, daß im Schulwesen schon immer erhebliche Qualitätsunterschiede bestanden haben. Die Schulgeschichte lehrt, daß wesentliche Impulse für die Verbesserung des Schulwesens immer von einzelnen Schulen ausgegangen sind, die durch besondere Ideen, durch herausragendes Engagement und größere Erfolge als andere gekennzeichnet sind. Wer solche Initiativen und besonderen Entwicklungen verhindert, nimmt das Argument der Chancengleichheit zu Unrecht in Anspruch. Initiativen, die im Interesse der Schule und des Lernens erfolgen, führen zu einer Art von Ungleichheit, die - in Grenzen, die hier nicht zu erörtern sind - im Interesse der Verbesserung der Schule, ihrer Lebendigkeit und ihrer Vielfalt nicht nur hingenommen werden müssen, sondern notwendig sind. 4.5.3.6 Rechtlicher und administrativer Rahmen Enge Regelungen für Lehrplan und Organisation der Schule beschneiden den Handlungsspielraum von Schulen beim praktischen Lernen. Die Offenheit des Lehrplans ist eine Voraussetzung dafür, daß Lehrer ihre pädagogische Freiheit nutzen. Es sollte durch rechtliche und administrative Rahmenbedingungen auch sichergestellt sein, daß Schulen ihren Unterricht so organisieren können, daß praktisches Lernen in längeren, zusammenhängenden Zeitbändern auch im Fachunterricht möglich ist. Integrierte Stoffverteilungspläne und Jahresarbeitspläne sind dafür hilfreich. Je mehr praktisches Ler-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
nen als reguläres und breites Angebot in alle Schulen Eingang findet, desto mehr stellt sich auch die Notwendigkeit, Abschlußprofile und die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Abschlüsse neu zu überdenken. Angesichts der ohnehin bestehenden Vielfalt der Abschlüsse sowohl der Schulen des Sekundarbereichs I als auch des Sekundarbereichs II und angesichts der Notwendigkeit, neue und alte Bundesländer und die europäischen Partnerländer in einem System der Anerkennung der Schulabschlüsse zu integrieren, besteht hier kein speziell vom Praktischen Lernen her aufgeworfenes Problem. Hinzu kommt, daß die regionale Verschiedenheit der Lebensverhältnisse eine größere Selbständigkeit einzelner Schulen geradezu erzwingt; anders lassen sich die pädagogischen Herausforderungen nicht bewältigen, vor denen das Schulsystem an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert steht. Auch hier sind die regionalen Bezüge, auf die das Praktische Lernen angewiesen ist, nur ein Element in einem Prozeß der Veränderung, der zu einer mehr dezentralen Organisation des Bildungswesens insgesamt hindrängt.
4.5.4
Projektstruktur, Förderinstrumente, Öffentlichkeit
Um die vielfältigen Formen und Ansätze des Praktischen Lernens möglichst wirksam zu unterstützen, sind im Verlauf des Projekts unterschiedliche Wege beschritten und Förderinstrumente eingesetzt worden. In mehreren Bundesländern (Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen) wurden, teilweise wiederholt, Förderpreise ausgeschrieben. Diese Ausschreibungen haben sich als besonders geeignet erwiesen, bereits vorhandene Initiativen zu bekräftigen, ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verschaffen und zugleich die Idee des praktischen Lernens in einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen. Neben den Förderpreis-Ausschreibungen, die vor allem schon bestehenden Initiativen zugute kamen und in die Breite wirkten, stand die sehr viel intensivere Förderung einzelner Unternehmungen und modellartiger Projekte. Hier kam es darauf an, größere und längerfristige Arbeiten zu unterstützen und inhaltlich zu begleiten. Durch die im Rahmen des Förderprogramms sogenannte "InitiativFörderung" sind Projekte unterstützt worden, die nach Umfang, Aufwand und Ansatz über das in der Schule allgemein Übliche zwar bereits hinausgehen, aber noch nicht mit einer weitergehenden Pia-
Praktisches Lernen
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nung verbunden werden oder Praktisches Lernen als dauerhaftes Element in der Schule verankern wollen. Der Aufbau und die Förderung von "Modellprojekten" sollte über die Ziele der Ausschreibungen und der Initiativförderung hinaus erreichen, daß Praktisches Lernen auf Dauer zum Bestandteil des Konzepts von Schulen wird. Diese teils mehrjährige, umfangreiche Förderung hat tatsächlich zu Reformen gefuhrt, in deren Verlauf die beteiligten Schulen Themen, Formen und Organisation des Lernens und damit ihr Verständnis des Lernens insgesamt nachhaltig verändert haben. Ein wichtiger Ertrag der Modellförderung ist auch darin zu sehen, daß sie die Möglichkeiten und Reichweite einer dezentralen Schulentwicklung durch praktisches Lernen deutlicher hat werden lassen. Zur Begleitung und Unterstützung des Förderprogramms hat sich im Laufe der Zeit eine Reihe von Gruppen und Zentren gebildet. Die Akademie für Bildungsreform hat 1983 zur Beratung der Schulen, zur Konzeptentwicklung und zur wissenschaftlichen Auswertung an der Universität Tübingen eine Projektgruppe eingerichtet. Diese Projektgruppe hat die Erfahrungen, die bei der Förderarbeit gewonnen wurden, durch Publikationen, durch Tagungen und Ausstellungen weitergegeben. Sie hat fachbezogene und fachübergreifende didaktische Arbeitsgruppen initiiert und sowohl Beispielsammlungen als auch Bände zur schultheoretischen und didaktischen Diskussion publiziert - und damit fachlicher Kritik zugänglich gemacht. Neben der Tübinger Projektgruppe sind bundesweit Regionalgruppen entstanden und tätig geworden, die das praktische Lernen fachlich, administrativ und finanziell fördern, Erfahrungen und Beispiele veröffentlichen und eng mit den Schulen kooperieren. Solche Regionalgruppen bestehen heute in Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen; weitere Gründungen sind im Gange. Diese Regionalgruppen sind für die Unterstützung von Reformen im Sinne des praktischen Lernens besonders wichtig geworden. In ihnen wird ein neuer Reformansatz sichtbar: eine organisierte Verknüpfung von bürgerschaftlicher Initiative und staatlicher Verwaltung zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Sie versammeln Schulpraktiker, Wissenschaftler, Vertreter der Schulverwaltung sowie
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
einer bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit und bilden auf diese Weise ein schulnahes Unterstützungs- und Kooperationsnetz mit eigenständiger Bedeutung. Sie stärken vor allem die Verbindung e n der Schulen mit der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Öffentlichkeit. A u c h die Robert B o s c h Stiftung und die Akademie für Bildungsreform übernehmen als private gemeinnützige Einrichtungen mit der Schulförderung öffentliche Aufgaben. Diese Verknüpfung freier Initiative und staatlicher Verwaltung muß auch für die weitere Entwicklung praktischen Lernens wirksam bleiben. Soll es aber zum selbstverständlichen Bestandteil der Schule werden, dann muß seine Förderung mehr als bisher durch öffentliche Schulträger unterstützt und abgesichert werden. Wesentlich ist dabei, daß den Schulen bei konzeptionellen, personellen und finanziellen Entscheidungen ein genügend großer Gestaltungsspielraum gewährleistet wird und damit der Eigencharakter der Reforminitiative erhalten bleibt.
Zitierte Literatur AKADEMIE FÜR BILDUNGSREFORM/ROBERT BOSCH STIFTUNG (Hrsg.) (1993): Praktisches Lernen. Ergebnisse und Empfehlungen. Ein Memorandum. Weinheim, Basel. COLEMAN, James S. (1986): Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen mit unpersönlichen Systemen. Weinheim, Basel. EDELHOFF, Christoph/LIEBAU, Eckart (Hrsg.) (1988): Über die Grenze. Praktisches Lernen im fremdsprachlichen Unterricht. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter (1994): Droht ein Schulnotstand? In: Neue Sammlung 34, S. 253-275. FAUSER, Peter/KONRAD, Franz-Michael/WÖPPEL, Julius (Hrsg.) (1988): Lern-Arbeit. Arbeitslehre als praktisches Lernen. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter/FINTELMANN, Klaus Jürgen/FLITNER Andreas (Hrsg.) (19912): Lernen mit Kopf und Hand. Berichte und Anstöße zum praktischen Lernen in der Schule. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter/TACKE, Heinfried (1991): Schule und praktisches Lernen. Ansatz und Erfahrungen einer Reforminitiative. In: Zeitschrift für Praxis des Religionsunterrichts, H. 2, S. 43-47. FAUST-SIEHL Gabi/SCHMITT, Renate/VALTIEN, Renate (Hrsg.) (1990): Kinder heute - Herausforderung für die Schule. Dokumentation des Bundesgrundschulkongresses 1989 in Frankfurt a.M. Frankfurt/M., S. 77-81. FLITNER, Andreas (1992): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Jenaer Vorlesungen. Mit einem Beitrag von Doris Knab. München. FROMMER, Helmut (1991 a ): Praktisches Lernen als modernes Unterrichtsprinzip. In: Pädagogisches Forum, H. 3, S. 161-166.
Praktisches Lernen
349
FROMMER, Helmut (1991 b ): Praktisches Lernen und Gymnasium. Versuch einer Aufarbeitung des pädagogischen Reformkonzepts aus gymnasialer Sicht. In: Neue Sammlung, H. 6, S. 628-647. GIDION, Jürgen/RUMPF, Horst/SCHWEITZER, Friedrich (Hrsg.) (1987): Gestalten der Sprache. Deutschunterricht und praktisches Lernen. Weinheim, Basel. HERRLITZ Hans-Georg/HOPF, Wulf/TITZE, Hartmut (1993): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Mit einem Kapitel über die DDR von Ernst Cloer. Weinheim, München. HILLER, Gerhard Gotthild (1990): Bildungsunternehmen ohne Erwerbscharakter? Probleme und Chancen komplexer Projekte zur Verwirklichung Praktischen Lernens. In: Neue Sammlung, H. 3, S. 407-418. KLAFKI, Wolfgang (1986): Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 32, S. 455-476. LUNDGREEN, Peter (1980/81): Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. 2 Bde. Göttingen. MÜNZIGER, Wolfgang/LEEBAU, Eckart (Hrsg.) (1987): Problem aufs Exempel. Praktisches Lernen in Mathematik und Naturwissenschaften. Weinheim, Basel. PROJEKTGRUPPE PRAKTISCHES LERNEN (1988): Erfahrungen mit praktischem Lernen. Eine Übersicht. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 6, S. 749760. SCHÖNING, Wolfgang (1991): Praktisches Lernen im Fachunterricht - Bedingungen, Möglichkeiten und weiterführende Perspektiven. In: Pädagogisches Forum, H. 3, S. 144-147.
Weiterführende Literatur BRINKMANN, Uwe/MENZEL, Wolfgang/OTTO, Gunter/Projektgruppe Praktisches Lernen (FAUSER, Peter/FLITNER, Andreas/KONRAD, Franz-Micheal/LIEBAU, Eckart/SCHEUFELE, Ulrich/ SCHWEITZER, Friedrich/ RISCHBEETER, Henning (Hrsg.) (1986): Lernen. Ereignis und Routine. Jahresheft IV des Erhard-Friedrich-Verlages in Zusammenarbeit mit Klett. Velber. EDELHOFF, Christoph/LIEBAU, Eckart (Hrsg.) (1988): Über die Grenze. Praktisches Lernen im fremdsprachlichen Unterricht. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter/FINTELMANN, Klaus Jürgen/FLITNER, Andreas (Hrsg.) (19912): Lernen mit Kopf und Hand. Berichte und Anstöße zum praktischen Lernen in der Schule. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter/KONRAD, Franz-Michael/WÖPPEL, Julius (Hrsg.) (1988): Lern-Arbeit. Arbeitslehre als praktisches Lernen. Weinheim, Basel. FAUSER, Peter/KONRAD, Franz-Michael/WÖPPEL, Julius (Hrsg.) (1992): "Verantwortung". Jahresheft X des Erhard Friedrich-Verlages in Zusammenarbeit mit Klett, Velber. FLITNER, Andreas (1992): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Jenaer Vorlesungen. Mit einem Beitrag von Doris Knab. München.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
FROMMER, Helmut/KÖRSGEN, Siegfried (Hrsg.) (1989): Über das Fach hinaus. Fachübergreifender Unterricht, praktisches Lernen, pädagogische Tradition. Düsseldorf. GIDION, Jürgen/RUMPF, Horst/SCHWEITZER, Friedrich (Hrsg.) (1987): Gestalten der Sprache. Deutschunterricht und praktisches Lernen. Weinheim, Basel. MÜNZIGER, Wolfgang/LEEBAU, Eckart (Hrsg.) (1987): Proben aufs Exempel. Praktisches Lernen in Mathematik und Naturwissenschaften. Weinheim, Basel.
4.6
Das Betriebspraktikum Hannelore Faulstich-Wieland
4.6.1
Anfänge des Betriebspraktikums
351
4.6.2
Betriebspraktikum als untaugliches Modell oder vorübergehender Notbehelf?
353
Betriebspraktikum als Möglichkeit zur kapitalismuskritischen Bewußtseinsbildung?
357
4.6.4 4.6.4.1 4.6.4.2 4.6.4.3
Entwicklung didaktischer Modelle zum Betriebspraktikum Berufsorientierung (BEO) Praktikanten-Einsatzpläne Projekt Betriebspraktikum
362 362 364 365
4.6.5
Betriebspraktikum heute: Nach wie vor "freischwebende Sonderveranstaltung"
369
4.6.3
Zitierte Literatur
371
Weiterführende Literatur
372
4.6.1
Anfänge des Betriebspraktikums
Das Betriebspraktikum - dieser Begriff hat sich gegenüber vorherigen Bezeichnungen von der Schnupperlehre bis zum Berufs-, Firmen-, Haushalts-, Industrie-, Landwirtschafts-, Sozial-, Verwaltungs- und Wirtschaftspraktikum im letzten Jahrzehnt durchgesetzt - ist eine schulische Veranstaltung, in der Schülerinnen und Schüler in der Regel zwei bis drei Wochen in "außerschulischen Lernorten Erfahrungen und Beobachtungen machen können" (Modick 1980, S.17). In einigen Bundesländern wie Hamburg und Berlin wurden bereits Anfang bzw. Mitte der 50er Jahre in den damaligen Volksschulen Betriebspraktika durchgeführt, die allerdings - nimmt man die "wissenschaftliche" Begründung, die Kudritzki 1960 dafür lieferte als Indiz (vgl. Kudritzki 1960) - oft eine ideologische Anpassungsfunktion an betriebliche Erfordernisse und eine sozialisatorische Ausbildung von unkritischen Arbeitstugenden beinhalteten. Mit dem Aufbau der Hauptschule erhielt das Betriebspraktikum eine neue Bedeutung: Der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen - der aufgrund von Forderungen des kulturpoliti-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
sehen Ausschusses des Bundestages nach einem Bundeserziehungsministerium als Sachverständigengremium ohne Entscheidungsmöglichkeiten eingerichtet und von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) und dem Bundesinnenministerium bis zu seiner Auflösung 1965 getragen wurde - räumte in seiner Empfehlung zum Aufbau der Hauptschule vom 8.5.64 einer "arbeitsorientierten Bildung" einen wichtigen Stellenwert ein. Als neues Fach Arbeitslehre (->• 4.2.2.2) sollten die Schülerinnen und Schüler insbesondere auch durch praktisches Tun in ihrer Berufswahl unterstützt werden. In den Empfehlungen hieß es: "Zur praktischen Tätigkeit und deren denkender Durchdringung treten erste Beobachtungen in den Betrieben selber. Eine 'Erkundung der heimatlichen Arbeitswelt1 durch Betriebsbesichtigungen - die zugleich unter geographischem und sozialkundlichem Gesichtspunkt stehen kann wird freilich für die technisch-ökonomische Grundbildung nur wirksam, wenn eigene praktische Arbeitserfahrung den Boden dafür bereitet hat, die Schüler also Erlerntes mit der Wirtschaftswirklichkeit in Beziehung setzen und dadurch neue Lernimpulse erfahren können. Das gilt in noch höherem Maße für die - von Schule und Betrieb gelenkten - gut vorzubereitenden und auszuwertenden Betrieb spraktika, wenn sich dafür günstige Bedingungen bieten." (Deutscher Ausschuß 1968, S.42f). Explizit sollte bei der Unterstützung der Berufswahl eine "breitere" Berufsorientierung der Mädchen und eine Hinfuhrung der Jungen zur Hausarbeit gefördert werden. "Es ist zu erwarten, jedenfalls anzustreben, daß die Arbeitslehre die weibliche Jugend an breitere Berufsfelder heranfuhrt, als es z.Z. in den typischen Fächern des 'Frauenschaffens' geschieht. Andererseits sollte die Hauptschule auch bei den Jungen das Interesse für die Arbeit im häuslich-familiären Leben wecken. Auf der Stufe der Hauptschule, in der es noch nicht um den speziellen Beruf, sondern um Elemente geht, die im Prinzip für alle Berufsarbeit gelten, darf die Unterscheidung zwischen 'Männer-' und 'Frauen-Arbeit' kein Grundsatz sein" (Deutscher Ausschuß 1968, S.43). Einem Betriebspraktikum wurde offensichtlich von Bildungspolitikern wie von Schulpraktikern bei der Verwirklichung des vorgesehenen Faches Arbeitslehre ein zentraler Stellenwert eingeräumt, ohne daß die Voraussetzung und die didaktischen Möglichkeiten eines solchen Praktikums geklärt worden wären. Im folgenden soll im wesentlichen der chronologischen Entwicklung der Kritik und Auseinandersetzung um das Betriebspraktikum gefolgt werden. Sie zeigt sich zunächst sowohl von Betriebs- und Unternehmensseite wie auch
Das Betriebspraktikum
353
von der Seite der Arbeitslehre-Didaktiker als sehr grundsätzlich und ablehnend, weicht aber im weiteren Verlauf den Versuchen zu neuen Ansätzen. Dazu gehören dann auch einige didaktisch begründete Konzeptionen, die schließlich zu einem Stand gefuhrt haben, der dem Betriebspraktikum zu einem zwar keineswegs problemlosen, aber doch ziemlich gesicherten Platz in der schulischen Bildung der meisten Jugendlichen verholfen hat.
4.6.2
Betriebspraktikum als untaugliches Modell vorübergehender Notbehelf?
oder
Nachdem eine Reihe von Kultusministerien Richtlinien zur Durchfuhrung von Betriebspraktika - vor allem im 8. bzw. 9. Schuljahr der Hauptschule - erlassen hatten, gab es 1968 eine scharfe Kritik am "Modell Betriebspraktikum" durch den Deutschen Industrie- und Handelstag als einer Interessenvertretung der Unternehmen. Zwar unterstützte der DIHT nachdrücklich eine "Hinführung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt", hielt aber Betriebspraktika als "allgemeinverbindliche Unterrichtsveranstaltung" für keinen geeigneten Weg dazu (vgl. DIHT 1968, S.5). Der DIHT bezog sich bei seiner Kritik auf die vom Deutschen Ausschuß formulierten Vorstellungen und Zielsetzungen, nämlich -
durch 'tätige Anschauung Einblick in die Arbeitswelt der Erwachsenen' vermitteln, 'differenzierte Einblicke in betriebliche Zusammenhänge' gewähren, 'zur ersten Erfahrung mit der Bewältigung von Arbeitsaufträgen und dem Ablauf von Fertigungsprozessen' verhelfen, die Schüler 'einen Einblick in vielfältige Formen sozialen Lebens' gewinnen lassen und die Schüler 'erlebensmäßig mit dem beruflichen Ernstfall' konfrontieren.
Das Betriebspraktikum sollte außerdem -
durch 'eigenes Erleben' die im 'Unterricht erworbenen theoretischen Kenntnisse und Einsichten' veranschaulichen und vertiefen, eine 'konkrete Einführung in die Arbeitswelt' geben und 'dadurch die Berufsentscheidung vorbereiten helfen',
354
-
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Gelegenheit bieten, 'berufliche Neigungen und Pläne an der Wirklichkeit' zu erproben und den Schülern die Gelegenheit geben, 'probeweise in einem Betrieb mitzutun und so die berufliche und menschliche Atmosphäre unmittelbar zu erfahren'" (DIHT 1968, S.6).
Diese Vorstellungen hält der DIHT für wirklichkeitsfremd: "Diese Ziele, die durch ein dreiwöchiges Betriebspraktikum erreicht werden sollen, lassen erkennen, daß die Möglichkeiten der Schule und die intellektuellen Fähigkeiten eines fünfzehnjährigen Schülers weit überschätzt werden. Diesen Zielen liegen zudem Vorstellungen über die Wirtschaft zugrunde, die sich nicht mehr mit der Wirklichkeit einer sehr komplex gewordenen Wirtschaft decken" (DIHT 1968, S.7). Als Alternative schlägt der DIHT systematisch vorbereitete und zwischen Schule und Betrieb abgestimmte Betriebserkundungen vor. Bayern folgte allerdings als einziges Bundesland dieser Empfehlung und behielt Betriebserkundungen für lange Jahre als einzige Form eines Kontaktes zur Praxis bei. Die KMK versuchte durch ihre "Empfehlungen zur Hauptschule" vom 7.3.1969 auch eine Präzisierung der Funktion des Betriebspraktikums vorzusehen, indem sie drei Bereiche definierte, die "auf der Grundlage praktischen Tuns und theoretischer Durchdringung zu erschließen" seien: "- Allgemeine Orientierung über die Wirtschafts- und Arbeitswelt Die Darstellung der Strukturen und Leistungsanforderungen der Wirtschafts- und Arbeitswelt soll unter technischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten erfolgen. Dadurch wird das Verständnis des Jugendlichen für die Welt geweckt, in die er hineinwächst. - Erziehung zum Arbeitsverhalten Die Auswahl der in Frage kommenden Inhalte soll hauptsächlich nach den Gesichtspunkten erfolgen, daß die Jugendlichen an ihnen fundamentale Arbeitstugenden wie Konzentration, Genauigkeit, Fähigkeit zur Umstellung und Zusammenarbeit sowie wirtschaftliches Denken und planvolles Handeln entwickeln und üben
Das Betriebspraktikum
355
können. Die Erziehung zu fundamentalen Arbeitstugenden geht dabei der Entwicklung spezieller Arbeitsqualitäten voraus. - Hinfuhrung zur Berufswahl Die Orientierung über Berufsfelder, Berufsgruppen und Berufe soll Berufsentscheidungen ermöglichen. Auf der Grundlage der allgemeinen Orientierung über die Arbeitswelt und der Erziehung zum Arbeitsverhalten aufbauend, fuhrt die spezielle Orientierung über die Berufswelt in der Regel am Ende der 9. Klasse zu einer revidierbaren Berufsfeldentscheidung. Hierbei ist die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung zwingend, Ärzte und Psychologen sind zu beteiligen" (zitiert nach Platte, 1981, S.23). Einige Didaktiker, die jene Arbeitslehre-Professuren innehatten, die inzwischen an pädagogischen Hochschulen geschaffen worden waren, nahmen ebenfalls zum Betriebspraktikum Stellung und entwickelten Konzeptionen für eine Arbeitslehre, in denen auch die Rolle eines Betriebspraktikums angesprochen wurde. Vor allem der berufsorientierende Aspekt des Betriebspraktikums war dabei der Streitpunkt. Franz-Josef Kaiser forderte 1971, das Betriebspraktikum solle nicht der Berufsfindung dienen, sondern Einblick in die andere Sozialstruktur der Arbeits- und Wirtschaftswelt geben. Dagegen legte die Berliner Gruppe mit Georg Groth, Ilse G. Lemke und Peter Werner 1971 den Entwurf eines "Arbeitslehre-Vorhabens Betriebspraktikum für Schüler" vor, in dem die "Vorbereitung der Schüler auf die Berufswahl" im Mittelpunkt der Lehrziele eines solchen Vorhabens stand (Groth u.a. 1971, S.42). Das gesamte Vorhaben umfaßte fünf Abschnitte (vgl. Groth u.a. 1971, S. 42): 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3.
Einfuhrung - Aspekte einer Erwerbstätigkeit Berufsbild Arbeitsplatz Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen Eigene Erfahrungen - Organisation eines "Schülerbetriebes" Begründung des Eigenversuchs (Formalziel) Zielsetzung des "Schülerbetriebs" (Materialziel) Planung des Betriebsaufbaus, des Arbeitsablaufs und des Verkaufs Durchführung der Planung - Produktion und Absatz Kontrolle - Vergleich von Planung und Ergebnis Eigene Erfahrungen und tatsächliche Arbeitsbedingungen
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3.1 3.2 4. 5.
Arbeitsbezogenes Lernen in der allgemeinbildenden Schule
Vergleich zwischen den Produktionsbedingungen in der Schule und einer Unternehmung Generalisierung der Ergebnisse dieses Vergleichs Das Betriebspraktikum Gesamtauswertung - Kriterien für eine Berufswahl.
Zum Punkt 4, dem Betriebspraktikum selber, heißt es: "Im Mittelpunkt des Praktikums steht die Beobachtung eines Erwachsenenberufes bzw. Arbeitsplatzes unter den Gesichtspunkten der Berufsausbildung und Qualifikation einerseits und der Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Betriebes andererseits. Im Gegensatz zur Betriebserkundung überprüft das Praktikum die Funktion der Organisation über einen längeren Zeitraum hinweg. Während sich der Besucher nur die Tätigkeit des Arbeitsplatzes beschreiben lassen kann oder eine kurze Zeit beobachtet, vermag der Praktikant den sozialen Zusammenhang aufzunehmen, in dem die Arbeitstätigkeit steht. Das soziale Bedingungsverhältnis ist von der individuellen Qualifikation des Arbeitnehmers abhängig, aber auch von der Organisation des Unternehmens" (Groth u.a. 1971, S.95). Trotz der wichtigen Rolle, die das Betriebspraktikum in diesem Arbeitslehre-Vorhaben spielt, distanzieren sich Groth und Werner erstaunlicherweise im Schlußkapitel des Buches sogleich wieder davon und wollen das Betriebspraktikum durch geeignete Medien ersetzen (vgl. Groth u.a. 1971, S.122). Als Grund geben sie an, der didaktische Ansatz einer Arbeitslehre müsse von den legitimen Interessengegensätzen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehen und insofern den Konflikt in den Vordergrund stellen. In ein solches didaktisches Konzept seien jedoch Unternehmen nicht einzubinden, ohne die jedoch wiederum kein Betriebspraktikum durchzufuhren ist. Auch Lothar Beinke formulierte 1978 eine klar ablehnende Position zum Betriebspraktikum: Er präsentierte eine empirische Untersuchung, in der er vor allem den Beitrag des Betriebspraktikums zur Berufswahlreife überprüfen wollte. Da sich dieser Beitrag letztlich nicht nachweisen ließ - was allerdings auch mit den unscharfen Hypothesen und der problematischen Operationalisierung in Beinkes Untersuchung zu tun hatte - plädierte Beinke als Alternative zum Betriebspraktikum für eine "berufliche Grundbildung in schulischer
Das Betriebspraktikum
357
Vollzeitform auf Berufsfeldbreite" (Beinke 1978, S.265, vgl. auch Beinke 1985).
4.6.3
Betriebspraktikum als Möglichkeit zur kapitalismuskritischen Bewußtseinsbildung?
Zugleich mit der grundsätzlichen, das Betriebspraktikum vollkommen in Frage stellenden Kritik (vgl. auch Eckert / Stratmann 1978), wurden aber auch Ansätze entwickelt, die den Schülerinnen und Schülern mit Hilfe des Betriebspraktikums kapitalismuskritische Einsichten vermitteln wollten. So schrieb beispielsweise 1977 Frohmut Menze in einem Artikel in der Zeitschrift 'betrifft: erziehung' über "Erfahrung mit dem Betriebspraktikum - sich die Finger schmutzig machen": "Als Motivationsgrundlage für einen sinnvollen, notwendigerweise parteilichen (d.h. für den Schüler als zukünftigen lohnabhängigen Arbeitnehmer) Arbeitslehreunterricht ist das Betriebspraktikum unerreicht. Durch den möglicherweise falschen Schein, den das Betriebspraktikum von der Wirklichkeit bietet, schimmert diese doch so deutlich greifbar und erfahrbar durch, wie es sonst weder durch Filme, Wallraff-Texte, Rockopern (Floh de Cologne) oder sonstige Erfahrungsberichte möglich wird" (Menze 1977, S.47). Diese Einschätzung steht allerdings in einem unerklärten Widerspruch zu von ihm an späterer Stelle des Aufsatzes berichteten Erfahrungen, nach denen die Schülerinnen und Schüler die Arbeitswelt nach dem Praktikum als positiv und ausgesprochen attraktiv insbesondere im Kontrast zur Schule - erleben. Die Realisierung des kritischen Erkenntnisanspruchs an das Betriebspraktikum sollte mit Hilfe von Fragebögen - besonders jenen von Frohmut Menze in den "Materialien zum Betriebspraktikum" 1977 vorgelegten - erreicht werden. Beobachtungs- und Fragebögen waren zwar nicht neu, sondern wurden in allen Konzeptionen für Betriebspraktika vorgesehen, aber ihre Funktion wurde vorher offensichtlich weniger reflektiert bzw. weniger pointiert gesehen (vgl. dazu Wünsche 1975). Aus heutiger Sicht verblüffen die Reaktionen, die solche Fragebögen verursachten: So berichtete Wolfgang Dathe
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Anwendung schulisch vermittelbarer Kenntnisse bzw. Fertigkeiten (Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur)
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Gymnas. (Sek. I)
7.3.4) ist auch eine Kooperationsethik angelegt, die unsere vom Leistungsprinzip kontaminierte Lernkultur in der betrieblichen Bildungsarbeit grundlegend in Frage stellt: wo Fachkompetenz und fachlicher Erfolg immer weniger im Sinne einer "Rezeptur für unsympatische Sieger" (Gersken 1993, S. 49) benötigt werden, sondern als individuelle Ressource des Kooperationserfolges, wird eine andere, solidarische Kooperationsethik "Conditio sine qua non" für den mittel- und langfristigen Betriebserfolg. Die qualifikatorischen Voraussetzungen einer solchen Kooperationsethik können jedoch nur in einer betrieblichen Berufsausbildung grundgelegt werden, die sich als Persönlichkeitsbildung versteht (Bojanowski u.a. 1991). Betriebliche Berufsausbildung steht dabei vor völlig neuen Problemen. Sie sieht sich nicht nur mit einer wachsenden Geschwindigkeit des Verfalls (Obsoletierung) der den Kern der Berufsausbildung ausmachenden fachlichen Qualifikationen (Fertigkeiten und Kenntnisse des Ausbildungsrahmenplans) konfrontiert, durch den ganzheitlichen Zuschnitt der betrieblichen Tätigkeiten sowie ihre kooperative Verzahnung mit vor- und nachgelagerten Aufgaben im Team werden immer nachdrücklicher Schlüsselqualifikationen (wie Planungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit) von den Mitarbeitern verlangt, die vordem in der Ausbildung viel zu wenig gefördert wurden. Ein besonderes Problem stellte in diesem Zusammenhang die zunehmende Unstrukturiertheit und Offenheit vieler beruflicher Anforderungssituationen dar, die einerseits den Mitarbeitern die "Sicherheit" enger Stellenbeschreibungen und des hohen Algorithmisierungsgrades vorgeschriebener Arbeitsvollzüge nimmt und andererseits immer mehr "Ich-Kräfte" (Brater u.a. 1988, S. 56) beim
400
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
selbständigen Entscheiden und Handeln in nicht durch "vorgegebene Orientierungen" schematisierten "Gestaltungsaufgaben" (Herz/Reuter-Herzer 1988, S. 192) abverlangt. Diese Unwägbarkeiten in der außerordentlichen Dynamik der Entwicklung der Qualifikationsanforderungen der Arbeitswelt bleibt nicht ohne Konsequenzen für die berufliche Erstausbildung. So verschob sich die Aufgabe der aktuellen Qualifizierung für konkrete berufliche Aufgaben immer mehr hin zur beruflichen Weiterbildung (-*• 7.1), so daß der Erstausbildung die Aufgabe der Vermittlung von Spezialkenntnissen auf Vorrat immer mehr verloren ging und man deutliche Tendenzen einer "Verallgemeinerung der betrieblichen Erstausbildung" (Arnold 1990, S. 89) feststellen kann. Die jeweils aktuellen Realisationsformen des Berufs können immer weniger als verläßliche Basis für die Ableitung von Lerninhalten, die auch auf dem weiteren beruflichen Lebensweg der Auszubildenden noch Gültigkeit besitzen würden, angesehen werden. Folge war eine Aufweichung der Planungsgrundlage "Beruf 1 . Da die post-tayloristische Arbeitsorganisation unübersehbar Anforderungen an die Mitarbeiter stellt, die eine umfassend entwickelte Persönlichkeit auch im Sinne der wesentlichen Ziele der "alten" humanistisch-geisteswissenschaftlichen "Allgemeinbildungsidee" (Brater u.a. 1988, S. 44) erforderlich machen, ist es nicht nur bildungstheoretisch "um des jungen Menschen willen" (Nohl 1961, S. 134), sondern auch berufsanforderungsanalytisch legitimiert, die Berufsausbildung der Zukunft stärker im Sinne einer "sozialisierenden Grundbildung" (Arnold 1991, S. 167) weiterzuentwickeln und hierfür in stärkerem Maße persönlichkeitsfördernde Ansätze in die betriebliche Erstausbildung einzubeziehen. Dieser qualifikationspolitischen Logik folgen auch immer mehr Betriebe mit ihrer Personal- bzw. Nachwuchsentwicklung: Berufliche Erstausbildung sollte zwar nach wie vor fachspezifisch-berufliche Inhalte vermitteln, aber nur noch solche, die von grundlegender und exemplarischer Bedeutung für das gesamte Berufsfeld sind. Gemäß der Tendenz zum ganzheitlichen Aufgabenzuschnitt in der Arbeitswelt wird gleichzeitig auf die integrierte Vermittlung breit verwertbarer technologischer und persönlichkeitsentwickelnder Schlüsselqualifikationen, wie Sozial-, Methoden- und Personale Kompetenzen Wert gelegt, um die Jugendlichen flexibel und lernfähig zu "machen", damit sie den nicht vorhersehbaren und wenig
Persönlichkeitsförderade Betriebsausbildung
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strukturierten Anforderungen ihres Berufswegs mit Sachkompetenz und Ich-Stärke gegenübertreten können. Gemessen an diesen Anforderungen waren die "alten Ausbildungsordnungen" inhaltlich nicht nur viel zu stark an der historischen Tradition der jeweiligen Berufswirklichkeit orientiert, sondern auch viel zu einseitig auf die Vermittlung schnell veraltender fachspezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten ausgerichtet. Die Struktur der Verordnungen in Form der rein additiven Auflistung sowie der expliziten Trennung von Fertigkeiten und Kenntnissen gab außerdem zu erheblichen Fehlentwicklungen und Mißverständnissen Anlaß: So wurden einerseits Fertigkeiten und Kenntnisse häufig rein additiv und andererseits häufig isoliert voneinander vermittelt. Diese dualistische Aufspaltung ließ den Eindruck aufkommen, berufliche Ausbildung geschehe in getrennten Lernbereichen. Die derzeitige Entwicklung der Arbeitsorganisation in der Berufswirklichkeit verlangt jedoch von den Mitarbeitern eine zunehmend ganzheitliche handlungs- und tätigkeitsorientierte Ausbildung, bei der nicht nur schwerpunktmäßig kognitives Wissen vermittelt, sondern komplexe Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden, die das Verhältnis von Bildung und fachlicher Qualifizierung durch die integrierte Anwendung beider Aspekte bei der selbständigen und selbstverantwortlichen Bearbeitung komplexer ganzheitlicher Aufgaben zu einem "komplementären Verhältnis" (Arnold 1994, S. 34) werden läßt. Die Neuordnung greift diesen Gedanken der Integration von fachlicher und persönlichkeitsbildender Qualifizierung auf: Durch diese komplementäre Verknüpfung von funktionaler und extrafunktionaler Qualifizierung wird die Ausweitung des "Qualifikationsspektrums" über die eigentliche Durchfuhrung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit hinaus auf die vorgelagerte Planung und die nachgelagerte Kontrolle zum gemeinsamen didaktischen Leitprinzip sämtlicher neugeordneter Ausbildungsordnungen. Dieser erweiterte QualifikationsbegrifT, der auch dem Konzept der Schlüsselqualifikation zugrundeliegt, soll vor allem ermöglichen, daß die wegen ihrer grundlegenden und exemplarischen Bedeutung in den neuen Verordnungen noch verbliebenen Fertigkeiten und Kenntnisse handlungsorientiert so miteinander in Beziehung gebracht werden, daß sich dabei gleichzeitig die zur Förderung der Ich-Kräfte der Aus-
402
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
zubildenden erforderlichen Schlüsselqualifikationen entwickeln können.
5.2.2
Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur der betrieblichen Erstausbildung
Der neuen didaktischen Zentrierung der betrieblichen Erstausbildung auf ihre persönlichkeitsfördernden Dimensionen liegt ein neuer Lernbegriff zugrunde. Lernen wird stärker als eine selbstorganisierte Aneignung durch die Lernenden verstanden ( - • 5.3.4) und weniger als eine Vermittlung vorgegebener Inhalte eines Curriculums. In diesem Sinne wird die lehrtheoretische Sicht der überlieferten Didaktik ergänzt bzw. abgelöst durch eine lerntheoretische Sicht, die durch ein vom Subjekt her entwickeltes Verständnis von Lernen gekennzeichnet ist. In diesem Sinne wendet sich Klaus Holzkamp gegen die "Lernreglementierung" und spricht von einer "Enteignung" des Lernens (Holzkamp 1992, S. 12). Er kritisiert deutlich die Gleichsetzung von Lernen mit "reglementiertem Lernen" und arbeitet heraus, daß Lernen auch ganz anders gedacht und gedeutet werden kann, als "Lernen unter fremder Kontrolle" (Holzkamp 1992, S. 13). Für eine persönlichkeitsfordernde Didaktik betrieblicher Erstausbildung relevant ist der Hinweis darauf, daß ein noch so gut gemeintes und professionelles Lehren ungewollt als "Lernbehinderung" wirken kann: "Die Schule als Lernstätte" - so stellt Holzkamp fest und seine Ausführungen gelten im übertragenen Sinne auch fiir die betriebliche Erstausbildung - "wäre auch ... mindestens genauso gut als Stätte schulischer Lernbehinderung zu charakterisieren" (Holzkamp 1992, S. 476). Überwunden werden muß auch der "Lehr-Lern-Kurzschluß" (Holzkamp 1992, S. 414), d.h. die Gleichsetzung von Lehren und Lernen, da dieser Gleichsetzung die illusionäre Erwartung zugrundeliegt, daß alles, "was der Lehrer "lehrt", ... automatisch von den Schülerinnen/Schülern [gelernt] wird, so daß eine Unterscheidung von Lehren und Lernen hier eigentlich überflüssig erscheint" (Holzkamp 1992, S. 395). In ähnlichem Sinne spricht bereits Karl Rogers von einem "offenen Lernen", bei dem sich "... die Aufgabe des Lehrers verändert, von der "Erkenntnisse zu vermitteln", zu der "Wahlmöglichkeiten zu eröffnen und das Forschen zu fördern" (Rogers 1989, S. 114). So skizziert Rogers bereits in seinem Buch "Lernen in Freiheit" das Modell einer inneren Bildungsreform, als deren Kern er sich vor allem eine
Persönlichkeitsfördernde Betriebsausbildung
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andere Form des Lernens wünscht. Notwendige Voraussetzungen für eine solche Weiterentwicklung der Lernkultur ist nach seiner Auffassung eine veränderte Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden. Für Rogers ist der Gedanke der Freiheit und der Selbstorganisation in Lernprozessen grundlegend. Er spricht zwar nicht von Selbstorganisation und auch nicht von nicht-steuerndem Lehren, sondern von "selbstgesteuertem Lernen". Für ihn ist das "Lehren" selbst von - wie er sagt - "solch geringer Bedeutung ... und das Lernen so ungeheuer wichtig" (Rogers 1979, S. 11) - eine Sichtweise, die Lehre als eine gemeinhin überschätzte Tätigkeit entlarvt. Notwendig ist vielmehr, eine grundlegende Veränderung der "Zuständigkeit" des für den Lehrprozeß zuständigen Pädagogen. Er muß seine Rolle neu definieren und eine andere professionelle Haltung entwickeln. Notwendig ist keine Optimierung seiner Steuerungsleistungen, sondern eine bewußte Zurücknahme der eigenen Dominanz in Lehr-Lernprozessen. In diesem Sinne plädiert Dieter Lenzen für eine "neue Denkrichtung" in der Didaktik, deren Leitmotiv ist, "das wir pädagogisch weniger einen neuen Modus des Handelns als des Zulassens benötigen" (Lenzen 1991, S. 123). Mit seiner Definition des Lehrers als einen "facilitator" hat Karl Rogers diese veränderte pädagogische Professionalität charakterisiert: "So wie ich die Dinge sehe, sind viel zu viele Menschen angewiesen, gefuhrt und gelenkt worden. So komme ich zu dem Schluß, daß ich tatsächlich meine, was ich sage. Für mich ist Lehren eine ziemlich unwichtige und weitgehend überbewertete Tätigkeit .... Sobald wir uns darauf konzentrieren zu lehren, erhebt sich die Frage: was sollen wir lehren? Was muß - von unserer hohen Warte aus gesehen - der andere wissen? Ich frage mich, ob in dieser modernen Welt die vermessene Annahme gerechtfertigt ist, daß wir Älteren über die Zukunft Bescheid wissen, während die Jungen keine Ahnung haben. Sind wir uns wirklich dessen so sicher, was sie wissen sollen? Dann kommt die lächerliche Frage nach dem Stoffpensum. Was soll in einem Kurs alles angeboten werden? Diese Vorstellung von der Stoffmenge gründet in der Annahme, daß das, was gelehrt, auch gelernt, daß das, was dargeboten, auch bearbeitet wird. Ich kenne keine so offensichtlich falsche Annahme" (Rogers 1979, S. 104). Neben einer Neuformulierung der pädagogischen Konzeptionalität erweist sich als ^weiteres Kriterium einer neuen Lernkultur betrieblicher Bildungsarbeit die Notwendigkeit einer handlungs-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
orientierten Strukturierung der Lernprozesse. In diesem Sinne weist bereits Hans Aebli darauf hin, daß das Denken einerseits aus dem Handeln entspringt und andererseits selbst eine Art Handlung ist. Dies gilt auch für das Lernen: "Nicht Stoff, sondern Tätigkeit ist attraktiv" (Aebli 1987, S. 20), Lehren wird deshalb von Aebli definiert als: "Vom Tun zum Lernen fuhren" (Aebli 1987, S. 17). Er stellt fest: "Gehen, schwimmen, autofahren, eine Eisenbahn in Betrieb setzen, mit dem Partner sprechen, sind Tätigkeiten. Lernen findet im Zuge ihrer Ausfuhrungen statt. Es ist sozusagen ein Nebenprodukt der Tätigkeit. Das Kind will nicht vor allem Lernen, es will die Tätigkeit meistern und dabei ein bestimmtes Ergebnis erreichen. ... Es geht nicht darum, die "Stoffe" aus der Schule und dem Unterricht zu verbannen und z.B. nur noch die Prozesse zu pflegen. Aber das ist wahr: Stoff kann man nicht "netto" vermitteln. Er muß im Kontext attraktiver Tätigkeiten vorkommen" (Aebli 1987, S. 20 f.). Durch die didaktische Integration der Wissenkomponenten in die Erprobung typischer Tätigkeiten des jeweiligen Berufes soll auch die Flexibilität der Mitarbeiter wachsen, selbst das Erlernte didaktisch neu zu strukturieren, selbständig durch Hinzulernen zu erweitern und auf neue Arbeitssituationen zu übertragen. Diese Flexibilität gegenüber dem Wandel der Tätigkeitsanforderungen in der Arbeitswelt ist eines der wesentlichen Merkmale einer neuen betrieblichen Lernkultur. Es soll während der gesamten Ausbildungszeit nicht nur durch die tätigkeitsbezogene Umstrukturierung und Neuverknüpfung der Fertigkeits- und Wissenselemente, sondern insbesondere auch durch das selbständige Erschließen neuer, nicht vermittelter Sachzusammenhänge sowie durch das ständige Üben der "Arbeitsplanung" (Müller 1988, S. 103) entwickelt werden. Durch das gedankliche Vorstrukturieren sowie die Versprachlichung der einzelnen Arbeitsschritte wird gleichzeitig die Fähigkeit der Auszubildenden zur Abstraktion sowie zur denkenden, d.h. antizipierenden "Ordnung des Tuns" (Aebli 1980) schrittweise entwikkelt. Dafür ist es auch erforderlich, daß während der gesamten Ausbildungszeit nicht nur "... Aufgaben, die sich auf praxisbezogene Fälle beziehen ..." (vgl. z.B. § 14, Absatz 3, Satz 3 IndMetAusbV) von den Auszubildenden selbständig geplant, durchgeführt und kontrolliert werden, sondern daß die dabei auch erprobten und erlebten Strategien und Prinzipien personaler, methodischer und so-
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zialer Art in der Ausbildungsgruppe mit den Ausbildern gemeinsam diskutiert und reflektiert werden. Durch Ergänzung, Korrektur, Versprachlichung und Symbolisierung erwerben so die Auszubildenden eine Art "Meta-Qualifikation" zusätzlich zu ihrer fachspezifischen beruflichen Qualifikationen. Auch wenn es weitgehend nicht möglich ist, die Jugendlichen im Sinne einer "antizipativen Berufspädagogik" (Bunk 1982, S. 190 ff.) inhaltlich detailliert darauf vorzubereiten, in "neuen" und zukünftigen beruflichen Verwendungssituationen zu handeln, bietet die "Neuordnungs-Didaktik" erste Antworten auf die Fragen: -
"Welche materialen/inhaltlichen Qualifikationselemente mehr Basischarakter (hinsichtlich ihrer Aktualität und Konstanz) haben" und - "Welche (materialen/inhaltlichen Qualifikationselemente, Anm. d. Verf.) haben eher Antizipationscharakter (hinsichtlich ihrer Zukunft und Variabilität)?" (Bunk 1982, S. 194). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß ein wesentlicher Teil des innovativen und antizipatorischen beruflichen Strukturwissens bzw. "Knotenpunktwissens" (Grüner 1978, S. 44) noch gar nicht in Form materialer/inhaltlicher Qualifikationselemente konkretisiert ist. Ein entsprechender Ersthinweis zieht sich viel mehr in Form der auf jeder einzelnen Seite des Ausbildungsrahmenplanes der neuen Ausbildungsordnungen immer wieder erscheinenden Überschrift: "Fertigkeiten und Kenntnisse, die unter Einbeziehung selbständigen Planens, Durchfuhrens und Kontrollierens zu vermitteln sind" wie ein roter Faden - quasi als didaktisches Prinzip - durch die gesamte Ausbildung. Durch diese "Offenheit" (DIHT u.a. 1986, S. 16) als Leitprinzip aller neugeordneten Ausbildungsberufe soll nicht nur ermöglicht werden, daß das gesamte Berufswissen tätigkeitsorientiert, d.h. durch Einbetten in konkrete arbeitsbezogene Lernzusammenhänge mit den Fertigkeiten handlungsorientiert verbunden wird, sondern gleichzeitig methodisch so erarbeitet wird, daß die dabei lösungsrelevanten formalen Strukturen, Prinzipien, Techniken, Algorithmen und Normen (zusätzlich zu berufsspezifischen Inhalten!) auch ausdrücklich thematisiert, reflektiert und durch Versprachlichung symbolisiert (vgl. Gudjons 1992, S. 28) eben auch zu materialen Inhalten der Berufsbildung werden.
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Gemäß dem Grundsatz, daß sich die Erstausbildung "gegenüber künftigen Entwicklungen offenhalten" (Lauer-Ernst 1982, S. 11) sollte, überlassen es die neuen Ausbildungsordnungen ausdrücklich den Ausbildungsbetrieben, die in der Entwicklung der Arbeitswelt sich als zukunftsrelevant abzeichnenden Schlüsselqualifikationen zu beschreiben. Diese relativ offene Zielsetzung der betrieblichen Erstausbildung stellt allerdings zwei sehr spezifische Anforderungen an das Arrangement der Lernsituationen und die Lernkultur: Erstens ist es für die "in" den Individuen weitgehend selbstgesteuert ablaufende Entwicklung der arbeitsweltrelevanten Schlüsselqualifikationen personaler, methodischer und sozialer Art wichtig, daß die Lernorganisation hinsichtlich der wichtigsten führungs- und fachbezogenen Parameter relativ exakt der inneren Logik der sich für die Zukunft abzeichnenden Arbeitsorganisation entspricht: Wenn also die Arbeitsorganisation durch - eine subsidiäre Rolle des Führenden, - einen ganzheitlichen Aufgabenzuschnitt und - dezentrales, weitgehend selbstverantwortliches Entscheiden und Handeln der Mitarbeiter geprägt ist, so ist es für die Förderung der dafür notwendigen Schlüsselqualifikationen wichtig, daß die Auszubildenden korrespondierend dazu - einen beratenden, moderierenden und unterstützenden Lehrenden erleben, - den Lehrstoff in selbstorganisierenden Lerngruppen weitgehend selbstgesteuert erschließen, - dabei ganzheitliche, d.h. die vollständige Komplexität der Berufsrealität repräsentierenden Lernaufgaben bearbeiten und - die Verantwortung für ihren Lernfortschritt weitgehend selbst übernehmen. Zweitens erscheint es uns bedeutsam, daß bei der Bewältigung der als relevant erkannten Lernaufgaben identifizierten Schlüsselqualifikationen "... nicht losgelöst von funktionalen Fertigkeiten und Kenntnissen realisiert" (Huisinga 1990, S. 262) werden können. Die als erweiterte und ganzheitliche Qualifikationen zu entwickelnden Handlungs-Kompetenzen sind nämlich "kontextspezifisch" (Gonon 1992, S. 4), d.h., die im einzelnen zu fördernden Sprach-, Problemlösungs- oder Sozialkompetenzen können nicht unabhängig von jeweiligen Wissensbeständen erworben werden und die erzielten
PersönlichkeitsfÖrdernde Betriebsausbildung
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Steigerungen der kognitiven Leistungsfähigkeit bleiben auch nach Auffassung von Zabeck "... im wesentlichen auf den Gegenstand beschränkt ... an dem sie im Lernprozeß erzielt wurde(n)" (Zabeck 1989, S. 20). Das bedeutet, daß der "Weg" auf dem eine formale Schlüsselqualifikation zum materialen Lerninhalt konkretisiert wird, über die Schritte des Erlebens der selbsterschließenden Anwendung neuer fachlicher Lerninhalte, der Dokumentation und Reflexion des Erschließungserlebnisses sowie deren Weiterverarbeitung durch die Versprachlichung zur Symbolisierung und Ausformulierung auf der Meta-Ebene (z.B. in Form einer Strategie) erfolgen sollte. Auf die Weise entwickeln die Lerner zusätzlich zu der gewohnten DenkEbene des geordneten Handels schrittweise noch eine zweite Ebene, auf der sie sich beim Handeln beobachten und lernen, ihr Handeln zu planen, zu steuern und jederzeit auch zu bewerten. Da die Auszubildenden all dies nicht "an" fachlichen Lerninhalten, sondern nur durch eine bestimmte Art des "Umgangs mit" fachlichen Lerninhalten lernen können, bestimmt die jeweilige Lernorganisation mit dem damit vorgegebenen Lernarrangement, welche ganzheitlichen Qualifikationen tatsächlich gelernt werden. Im Blick auf die Ziele der neuen Ausbildungsordnungen ist es deshalb wichtig, ein offenes Lernarrangement zu bieten, das den Auszubildenden über ihre subjektiven Zugangsweisen und auf ihren individuellen Lernwegen ermöglicht, in ein neues Fachgebiet selbsterschließend einzusteigen. Außerdem muß dieses Lernarrangement Lernaufgaben von solch attraktiver Herausforderung bieten, daß es den "Azubis" verlockend erscheint, in die Erschließung eines neuen Fachgebietes durch die Bearbeitung konkreter Aufgabenstellungen einzusteigen und sich durch die Problemlösungsschritte begleiten, leiten und helfen zu lassen, das, was sie lernen sollen, selbst zu tun.
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5.3
Gestaltungsorientierte Berufsbildung Felix Rauner
5.3.1
'Arbeit und Technik-Gestaltung
5.3.2
Das Bildungsziel 'Befähigung zur (Mit-)Gestaltung von
411
Arbeit und Technik'
414
5.3.3
Abkehr vom technologischen Determinismus
420
5.3.4
Arbeitsprozeßwissen und gestaltungsorientierte Berufsbildung 423
Zitierte Literatur
426
Weiterführende Literatur
430
5.3.1
'Arbeit und Technik'-Gestaltung
'Arbeit und Technik' hat an seiner programmatischen Ausstrahlung nichts eingebüßt, seit mit diesem Begriffspaar der DGB Ende der 70er Jahre auf den problematisch gewordenen Zusammenhang von Arbeit und Technik hingewiesen hat. Wissenschaft und Forschung haben sich Anfang der 70er Jahre diesem Problemfeld und damit dem komplexen Wechselverhältnis zwischen geronnener und lebendiger Arbeit eher zurückhaltend zugewandt. Die Bremer Sachverständigenkommission 'Arbeit und Technik' (SKAT), in der Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Fächern zwischen 1983 und 1987 für den Bremer Senat ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm entwickelten (vgl. SKAT 1986, 1988), hat Mitte der 80er Jahre das Konzept einer sozialverträglichen 'Arbeit und Technik'-Gestaltung für die interdisziplinäre Forschung und Entwicklung sowie darüber hinaus für ein ressortübergreifendes Landesprogramm Arbeit und Technik begründet und entwickelt (vgl. Arbeit und Technik 1985). 1985 richtete die Landesregierung Nordrhein-Westfalens das Programm "Mensch und Technik: Sozialverträgliche Technikgestaltung" ein (vgl. v. Alemann 1988), und 1989 wurde das Forschungsund Entwicklungsprogramm des Bundes zur "Humanisierung des Arbeitslebens" (HdA) in 'Arbeit und Technik' umbenannt, um damit die Hinwendung zu einer gestaltungsorientierten Forschungs- und
412
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Abb. 1: Felder der Technikgestaltung - Betroffenenperspektive Soziale Orte d e r Technikgestaltun g Gesellschaftliche Grunds truktur Staat Politische Interessengruppen Wissenschaft Forschung Gemeinden soziale Kleingruppen Betriebe konkrete Individuen
i l l 1 l i l l i i i l i l l i i l 1 i i i i l i 1 i i i
o n Technik 3 u und D ca Z Lebenswelt Te• 7.3). Die arbeitsprozeßbezogenen Fähigkeiten nehmen mit der Zunahme der Integration der I&K-Technologie in
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
die Produktionsarbeit eher zu. Arbeitsprozeßbezogene Fähigkeiten gewinnen mit der Tendenz zur rechnergestützten Integration im Unternehmen an Bedeutung, da der eigene Arbeitsplatz in vielen Fällen unmittelbar in die Kommunikationsstruktur mit den vor- und nachgelagerten Betriebsbereichen eingebunden ist. Das arbeitsprozeßbezogene Wissen muß sich zunehmend auf alle Ebenen der rechnergestützten Arbeitssysteme beziehen. Am Beispiel der Einfuhrung von flexiblen Fertigungssystemen (FMS) fassen Sabo und Dechant ihre Erfahrungen in grundlegenden Regeln zusammen, die in diese Richtung weisen. Die Implementation eines FMS ist sehr viel mehr als ein technisches Problem. Der Erfolg hängt davon ab, daß alle Beteiligten als Träger eines spezifischen Prozesses der Organisationsentwicklung betrachtet werden und operieren: * "Remember you are installing a new way to run your shop and take into consideration the unique aspects of a company. * The success of any (implementation or organisation development) project is directly dependent upon the degree of knowledge and understanding people have about the project". * Neben dem spezifischen Wissen und Können müssen alle Beteiligten vom Management bis zur Werkstatt Wissen über die Gesamtzusammenhänge haben. "All members of the project team must have a system level understanding ... with overall system knowledge you will find that these microlevel individuals will do a more thorough job and offer suggestions from a shop floor perspective that dwell in hands of the system" (Sabo/Dechant 1986, S. 253). Für eine Didaktik betrieblicher Berufsbildung ist die Berücksichtigung der informationellen Einbindung der Arbeitsplätze in betriebliche und überbetriebliche technisch-organisatorische Strukturen und der damit einhergehenden neuen sozialen und personalen Beziehungen von zentraler Bedeutung. Anders als in der Schule ist die Gestaltung des impliziten und expliziten Lernens im Arbeitsprozeß ein zentraler Gegenstand einer Didaktik betrieblicher Berufsbildung. Hier verfugt die Forschung z. B. in den Arbeitswissenschaften (vgl. Fricke 1981; Fricke 1982), der Industriesoziologie (vgl. Böhle/Rose 1992) und in der Informatik (Dreyfus 1987; Ehn 1988) ebenso wie die Praxis der betrieblichen Berufsbildung selbst (Dehnbostel/Holz/Nowak 1992) über interes-
Gestaltungsorientierte Berufsbildung
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sante Ergebnisse und Konzepte, die für eine Didaktik betrieblicher Berufsbildung fruchtbar gemacht werden können. Kruse (vgl. Kruse 1986) hat in einem Beitrag zu einer gestaltungsorientierten Berufsbildung (vgl. Heidegger u. a. 1993) den Begriff des "Arbeitsprozeßwissens" eingeführt und davor gewarnt, die Entwicklung neuer betrieblicher Berufsbildungskonzepte auf eine "methodisch-didaktische Ausbildungsreform" einzuschränken, in der es in erster Linie um abstrakte Fähigkeiten wie Selbständigkeit und Arbeitsplanungsfähigkeit gehe. Eine Verstärkung des "beruflich-betrieblichen Erfahrungswissens", wie es mit dem Konzept des Lernens am Arbeitsplatz versucht wird, kann jedoch auch zu einer relativ starken "Erfahrungsbornierung" bei den Jugendlichen fuhren, wenn die Ausbildung nicht mit den Brennpunkten betrieblicher Veränderung von Arbeit und Technik in Berührung kommt bzw. nicht an den Veränderungsprozessen beteiligt wird. Moderne Ausbildungskonzepte wie das "Dezentrale Lernen" oder das "Lerninselkonzept" (-»• 7.3.4) können danach auch zur "Reproduktion des Abgesicherten" beitragen, wenn sie die Beteiligung an betrieblichen Veränderungen nicht einschließen. Letzteres aber ist für Kruse die entscheidende Voraussetzung für das Aufbrechen der Erfahrungsbornierung. Richtet man etwa Lerninseln in der Automobilindustrie in Verknüpfung mit dem Bereich der Nacharbeit ein, dann kann dies leicht zu einer Verengung von Berufsbildung auf eine instrumenteile Qualifizierung fuhren. Der Bereich der Nacharbeit umfaßt fachlich anspruchsvolle Arbeitsplätze, welche sich auch in der Form der Gruppenarbeit organisieren lassen. Dies spricht zunächst für das Lerninselkonzept mit dem fachlichen Schwerpunkt der Nacharbeit. Aus der Sicht einer gestaltungsorientierten Berufsbildung wäre dieser betriebliche Brennpunkt (Nacharbeit), dessen Existenz aus den Qualitätsmängeln der Produktion resultiert und den es eigentlich überflüssig zu machen gilt, als betrieblicher Veränderungs- und Gestaltungsprozeß zu erfahren. Erfahrungslernen und das Lernen an lernhaltigen Arbeitsplätzen an sich ist noch kein Beitrag zu einer betrieblichen Qualifizierung, die als Berufsbildung charakterisiert werden kann. Kruse kommt daher zu dem Schluß: "In einem systematischen Aufeinanderbezug der Veränderung von Ausbildung und den Veränderungsprozessen von Arbeit und Technik müßten die Jugendlichen in vielfältiger Weise an den Brennpunkten von 'Arbeit und Technik-Gestaltung
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
beteiligt werden. Die 'Arbeit und Technik'-Gestaltung müßte selbst zu einer Folie, zu einem Bezugssystem der Ausbildung werden" (Kruse 1986). Gestaltungskompetenz setzt bei Kruse neben dem individuellen Arbeitsprozeßwissen das kollektive Arbeitsprozeßwissen voraus sowie eine betriebliche Sozialverfassung, die neben den Beteiligungskonzepten des Managements (z.B. Qualitätszirkel) die Organisation kollektiver Interessenvertretung ermöglichen. Mit dem Konzept der Gestaltungszirkel haben Heidegger u. a. die Entgegensetzung von traditioneller Mitbestimmung und des Managementkonzepts der Qualitätszirkel, das von Seiten der Gewerkschaften als Vereinnahmungsstrategie abgelehnt wird, in Form eines Kompromisses aufgehoben (vgl. Heidegger u.a. 1991). Gestaltungszirkel werden gemeinsam getragen vom Management und den betrieblichen Interessenvertretern der Beschäftigten. Sie bilden den sozialen Ort, an dem betriebliche Organisationsentwicklung eine neue Qualität beruflicher Bildung ermöglicht sowie umgekehrt: Dort entstehende Gestaltungskompetenz fließt in den Prozeß der betrieblichen Organisationsentwicklung zurück. Damit ist eine Möglichkeit angedeutet, mit der verhindert werden kann, Gestaltungskompetenz - und damit Bildung - auf die instrumentelle Dimension von Arbeitsprozeßwissen sowie auf abstrakte Schlüsselqualifikationen zu reduzieren. So gesehen kann der Betrieb als ein Laboratorium der ständigen Gestaltung von Arbeit und Technik (vgl. Kruse 1986) gesehen werden, das in seinen didaktischen Qualitäten von der Berufsbildungsforschung jedoch noch zu erschließen ist. Für eine Didaktik betrieblicher Berufsbildung liegt in der Gestaltung rechnergestützter Arbeitssysteme, die die arbeitsprozeßbezogenen Fähigkeiten der Facharbeiter im Arbeitsprozeß zur Geltung bringen und fördern, eine Forschungs- und Entwicklungsaufgabe, die traditionell nicht als eine didaktische angesehen wurde. Die Erschließung dieses Aufgabenfeldes erfordert die Verstärkung der interdisziplinären Berufsbildungsforschung.
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Gestaltungsorientierte Berufsbildung
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
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5.4
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule Felix Rauner
5.4.1
5.4.2
Berufsbildung zwischen Verfassungsnormen und Verfassungswirklichkeit
431
Die Herausbildung der Industrieberufe und die Verflüchtigung der konkreten Arbeit und Technik als Bezugspunkt für die Fachbildung in der Berufsschule
435
5.4.3
Fachkunde als zweckfreie Lehre in der Berufsschule
437
5.4.4
Wiederentdeckung der Inhalte
441
Zitierte Literatur
447
Weiterfuhrende Literatur
449
5.4.1
Berufsbildung zwischen Verfassungswirklichkeit
Verfassungsnormen
und
Die berufliche Bildung ist in ihrer dualen Organisationsform, in der der betriebliche und der berufsschulische Anteil miteinander verbunden sind, einem ganz eindeutigen Zweck verpflichtet: der Qualifizierung für einen Beruf. Berufe und die berufsförmig organisierte Facharbeit sind die konstitutiven Momente für die Facharbeiter-Arbeitsmärkte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE) hat dazu in seiner Rechtsprechung zur beruflichen Bildung mehrfach direkt und indirekt Stellung genommen. Dabei wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung einerseits das einzelbetriebliche Interesse in den Vordergrund gerückt: "Gegenüber dem besonderen - objektiv verstandenen - Interesse der Arbeitgeber ist das Interesse der Allgemeinheit deutlich geringer" (Kittner 1992, S. 67). Andererseits hebt das BVerfGE den Beruf in seiner Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung "im ganzen" hervor. Es sieht in seiner Interpretation des Rechtes, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätten frei zu wählen" (gem. Artikel 12 Abs. 1 GG) den "Mensch im Mittelpunkt" und spricht von der "hohen Bedeutung freier Berufsentscheidung für eine eigenverantwortliche Lebensführung" (BVerfGE 21, 245, 251). Die Diskrepanz zwischen der Hervorhebung der besonderen Bedeutung berufsförmig organisierter Arbeit für die Entwicklung des
432
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
'Menschen im ganzen' und dem Qualifizierungsinteresse der Betriebe wird in den Begründungen zu den Verfassungsgerichtsurteilen zur beruflichen Bildung nicht aufgelöst. Festzuhalten bleibt jedoch in diesem Zusammenhang, daß das BVerfGE mit einiger Deutlichkeit ein eher idealistisches Bildungsverständnis auch für die Berufsbildung als Ganzes formuliert und sich damit von der Wirklichkeit der Qualifizierungspraxis im Bereich der Berufsausbildung weit entfernt: "Der Beruf wird in seiner Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen verstanden, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt. Das Grundrecht gewinnt so Bedeutung für alle sozialen Schichten; die Arbeit als 'Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde" (BVerfGE 50, 290, 362). Aus dieser Sicht der Grundrechte als einem objektiven Wertesystem leiten vor allem die Gewerkschaften einen "sozialstaatlichen Handlungsauftrag zur normativen Korrektur von Marktvorgängen" ab und begründen daraus gelegentlich ihre Forderungen nach einer "Umlagefinanzierung" für die berufliche Bildung (vgl. Kittner 1992, S. 9). Die Verfassungswirklichkeit ist eher geprägt durch eine an den Qualifikationsanforderungen orientierte Berufsausbildung und eine zunehmende Integration beruflicher Bildung in die betriebliche Personal- und Organisationsentwicklung (vgl. Dybowski u. a. 1993). Kittner sieht in einer relativ hohen Jugendarbeitslosigkeit, im Mangel an qualifizierten Arbeitsplätzen und anderen, durch den Arbeitsmarkt hervorgerufenen qualitätsmindernden Auswirkungen auf die berufliche Bildung einen ausgeprägten Kontrast zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit (vgl. Kittner, 1982). Dieser, für die Berufsbildung als Ganzes herausgearbeitete Widerspruch gilt in besonderer Weise auch für die Berufsschule. Berufsschulen sind Teil des Bildungssystems der Länder. Die Verfassungsnormen zu 'Erziehung und Bildung der Jugend' unterscheiden in der Regel in den Formulierungen zum Erziehungsund Bildungsauftrag sowie zum Recht auf Bildung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. Jedem wird nach Maßgabe seiner Begabung das gleiche Recht auf Bildung zugebilligt. Durchgängig erfolgt jedoch auf der Ebene der Gesetzgebung sowie der schrittweisen Konkretisierung der übergeordneten Normen in Verordnungen sowie schließlich in Handreichungen für die Gestaltung des Unterrichtes eine zunehmende Selbstbindung der
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
433
Länder an die durch das Berufsbildungsgesetz (BBiG) des Bundes geregelten Verfahren der Berufsbildungsplanung und ihre Ergebnisse. Auf diese Weise werden die allgemeinen Normen für Bildung und Erziehung in den Landesverfassungen schließlich in Vorschriften zur Beteiligung der Berufsschule an der von den Ausbildungsbetrieben durchzuführenden Berufsausbildung transformiert. Daß diese in den Schulgesetzen der Länder rechtlich verankerte Selbstbindung dazu fuhren kann, daß eine vom Bundeswirtschaftsminister erlassene Ausbildungsordnung - in Übereinstimmung mit dem Berufsbildungsgesetz - schließlich im krassen Widerspruch zum Recht auf Bildung stehen kann, wie es in den Landesverfassungen verankert ist, zeigt besonders deutlich die nach § 26 BBiG 1972 erlassene Stufenausbildungsordnung für industrielle Elektroberufe. Über den Abschluß von Ausbildungsverträgen über eine zweijährige Berufsausbildung (1. Stufe) hatten alleine die Betriebe zu entscheiden. Die Leitidee für diese Ausbildung im Rahmen dieser ersten Stufe orientierte sich deutlich an Taylors Grundsätzen für die Gestaltung von ausfuhrenden Tätigkeiten: Die Auszubildenden sollten dazu befähigt werden, einfache Arbeitsaufgaben nach detaillierten Anweisungen und Vorgaben auszuführen. Die Berufsschule war durch die gesetzlich verankerte Mitwirkung an der Berufsausbildung in die Umsetzung dieses problematischen Qualifizierungsauftrages auf dem Wege der Selbstbindung über Schulgesetze und Verordnungen einbezogen. Die Rücknahme der Stufenausbildungsordnung resultierte weniger aus einer bildungspolitischen Auseinandersetzung über diesen Widerspruch, sondern muß eher als eine Reaktion auf höhere Qualifikationsanforderungen interpretiert werden, wie sie die modernen Produktionskonzepte nahelegen (vgl. Kern/Schumann 1984). In der Forderung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Bildung 2000" nach einer Verankerung eines Bildungsauftrages im Berufsbildungsgesetz, der sich an der Leitidee der 'Befähigung zur Mitgestaltung der Arbeitswelt (Arbeit und Technik)' orientiert (-> 5.3), kommt diese Trendwende eindrucksvoll zum Ausdruck. Ob es jedoch verfassungsrechtlich möglich ist, eine solche Zielstellung als Zweck der Berufsbildung im Berufsbildungsgesetz zu verankern, ist verfassungsrechtlich umstritten. Das BBiG, ein Gesetz der Wirtschaftsverfassung, definiert Berufsausbildung aus der Perspektive der Qualifikationsanforderungen, wie sie sich aus dem technologischen und ökonomischen Wandel ergeben (BBiG & 25 Abs. 1). Die Einbindung der Berufsschule in das duale Berufsbildungssystem, wie es das Berufsbildungsgesetz vorsieht
434
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
(BBiG § 1 Abs. 5) und wie es durch Ländergesetzgebung geregelt ist, konstituiert die vielfältigen Widersprüche, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Bildung sowie dem Qualifikations-Verwertungsinteresse der Ausbildungsbetriebe ergeben. Sieht man zunächst einmal von den Inhalten ab, die die Berufsschule den Berufsschülern vermittelt, dann ist die Institution Berufsschule in der Praxis weitgehend abhängig vom Ausbildungsverhalten der Betriebe und den Rechtsverordnungen des Bundes zu den Ausbildungsberufen sowie von den ausbildungs- und berufspolitischen Vereinbarungen zwischen den je zuständigen Sozialpartnern. Die Berufsschule ist insofern fest eingebunden in die Zweckstrukturen, die aus dieser Praxis resultieren. In diesem Sinne ist die Berufsbildung in der Berufsschule Bestandteil der am einzelbetrieblichen und Brancheninteresse ausgerichteten Qualifizierung für die berufsförmig organisierte Facharbeit (vgl. dazu z. B. § 17 des Bremischen Schulgesetz (BremSchulGes) von 1990). Da diese Praxis in einem mehr oder weniger deutlichen Widerspruch zu den Verfassungsnormen der Länder, ja selbst der obersten Rechtsprechung des Bundes steht, haben eine Reihe von Bundesländern im Sinne der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates zur Integration allgemeiner und beruflicher Bildung (-> 6.1) programmatisch und im Einzelfall durch Gesetz die enge Einbindung der Berufsschule in die Berufsausbildung der Betriebe - zumindest als Entwicklungsziel zurückgenommen. So heißt es im BremSchulGes von 1990 (§ 7): "Die beruflichen Schulen und die Jahrgangsstufen 11 bis 13 des Gymnasiums werden im Sekundarbereich II zusammengefaßt und sind zu integrieren". In dieser Entwicklungsvorschrift kommt das bildungspolitische Interesse zum Ausdruck, der Verfassungsnorm von Erziehung und Bildung auch in der Gesetzgebung und in der Bildungspraxis Nachdruck zu verleihen. Diese einseitige Auflösung der Polarität zwischen Bildung und Qualifikation hat in der Regel keinen Bestand, da sie in eine zu große Distanz zu den ökonomischen Realitäten gerät. Die politische Auseinandersetzung um die Berufsschule als eine in das Bildungssystem zu integrierende Schulform unter dem Leitgedanken der 'Bildung für alle' oder als eine der betrieblichen Qualifizierung zugeordnete besondere Schulform hat eine lange Tradition. Nach 1990 wurden eine Reihe von Vorstellungen zur Verbesserung der Organisation dualer Berufsausbildung vorgelegt, die es ermöglichen sollen, auch das Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung neu zu gestalten (vgl. Bremer u. a. 1993).
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
5.4.2
435
Die Herausbildung der Industrieberufe und die Verflüchtigung der konkreten Arbeit und Technik als Bezugspunkt für die Fachbildung in der Berufsschule
Während sich die Zweckbindung der Institution Berufsschule im System der dualen Berufsausbildung relativ eindeutig nachweisen läßt, stellt sich dies für die Frage nach den Lehrinhalten anders dar. Die Untersuchung dieser Frage erfordert auch hier die Einbeziehung der betrieblichen Berufsausbildung sowie einen Rückblick auf die Herausbildung der Inhaltsstrukturen für die Berufsschule. Vorindustrielle handwerkliche Arbeit und Technik entwickelten sich in der strengen Ordnung des Ständestaates und wurden von den Zünften sowie später dem Handwerk weitergegeben. Die Weitervermittlung handwerklicher 'Arbeit und Technik' in der handwerklichen Berufsausbildung vom Lehrling bis zum Meister war geprägt durch Vor- und Nachmachen, ganzheitliches Gestalten, in dem das zweckrationale und künstlerische Handeln noch zwei Dimensionen eines einheitlichen Gestaltungsprozesses waren. In der höchsten Form handwerklicher Technik und handwerklichen Könnens kommen sich Handwerk und Kunst - im Kunsthandwerk - sehr nahe. Arbeit und Bildung fallen zusammen, Arbeit ist ebenso Verausgabung wie zugleich Aneignung von Fähigkeiten. Handwerkliche Technik verbleibt im Gesichtsfeld der handwerklich Produzierenden, sie bleibt überschaubar in ihrem Zustandekommen, Funktionieren und in ihren Auswirkungen und wird damit als von Menschen in Bewegung gesetzt verstanden. Meisterschaft resultiert kaum aus analytisch-konstruktivem Wissen, sondern aus einem Vermögen, dessen besondere Qualität in der ungeteilten Auseinandersetzung mit dem Werk(stück) zum Ausdruck kommt, bei dem die Anspannung aller Sinne ebenso wie intellektuelle Wachheit und emotionale Beteiligung zusammenspielen müssen (vgl. Blankertz 1969; Braverman 1977). Die ständestaatlich verankerte handwerkliche Produktion und das handwerkliche Technikverständnis waren gegen Aufklärung und Merkantilismus und den damit verbundenen Prozeß allgemeiner Emanzipation gerichtet. Bezogen auf technologische Innovationen wirkte sich dies eher als Widerstand gegen das analytische Denken, wie es für die neuen Wissenschaften - vor allem für die Naturwis-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
senschaften - kennzeichnend war, und schließlich gegen die naturwissenschaftlich-mathematisch geprägte neue Technik aus. Im Gegensatz zur handwerklichen Produktion richtet sich industrielle Produktion ursprünglich auf den selbständig ablaufenden Produktionsprozeß, der von außen beherrscht und hierarchisch kontrolliert werden kann. Vom Gesamtzusammenhang handwerklicher Produktion werden die Zwecksetzung, die Zwecknutzung und der Entwurf abgespalten, der Arbeiter fuhrt geplante, vereinfachte Arbeit aus, er wird zur Arbeitskraft. "Die Kasernierung der Handwerker in Manufakturen, die zusätzliche Arbeitsteilung und die Hierarchisierung der Aufsicht waren zunächst weder technologisch notwendig, noch veränderten sie die technische Basis der Produktion" (Ullrich 1986, S. 119). Erst in einem zweiten Schritt entwikkelte sich Arbeit und Technik so, daß * der Produktionsprozeß zunehmend von der Geschicklichkeit und vom Wissen der Arbeiter unabhängig, * die Verfugung über die technisch-wissenschaftliche Kompetenz auf das Management (Ingenieure) übertragen und * die Teilung ganzheitlicher Technik-Gestaltung zur ausführenden Tätigkeit (auf der Ebene der Arbeiter) und zur zweckrationalen analytisch-konstruierenden Verfugung über Technik (auf der Ebene der Ingenieurtätigkeit) wurde, wobei auf beiden Ebenen die Zwecke nicht mehr als gesellschaftliche Zwecke, sondern nur noch als verdinglichte instrumenteile Muster, etwa als Pflichtenheft oder Anforderungsprofil im Sachzusammenhang, in Erscheinung treten. Für das sich dabei herausbildende Technikverständnis ist charakteristisch, daß Technik in ihrer Prozeß- und Ergebnisform auf der Ebene der planenden, konstruierenden und steuernden Tätigkeit (Ingenieurtätigkeit) als Sache erscheint, losgelöst von den in der Technik vergegenständlichten Zwecken. In den Technik-Wissenschaften (Ingenieurwissenschaften) bildet sich dieses reduktionistische Verständnis deutlich ab. Technik-Wissenschaft erklärt ihren Gegenstand mathematisch-naturwissenschaftlich sowie auf der Grundlage von analytisch formuliertem Erfahrungswissen. Ingenieurwissenschaft reduziert Technik-Lehre auf die sachgesetzliche Erklärung des technischen Funktionierens. Ingenieurwissenschaftlich wird Technik nicht als Prozeß und Ergebnis der Vergegen-
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
437
ständlichung gesellschaftlicher Zwecke und Interessen verstanden. Der gesellschaftliche Charakter von Technik bleibt so unbegriffen (vgl. Rauner 1986). Auf der Ebene der Arbeitsentwicklung vollzieht sich ein vergleichbarer Prozeß hin zu einer Verflüchtigung konkreter Arbeit, vor allem in der industriellen Berufsarbeit. Im Grundlehrgang Metall, wie er sich Anfang des Jahrhunderts für die industriellen Metallberufe herausgebildet hat, findet das industrielle Berufskonzept und die darauf bezogene Berufsbildung einen besonders markanten Ausdruck. Die konkrete Arbeit wurde in abstrakte Tätigkeiten und (Grund-)Fertigkeiten verwandelt. Die sinnfreie Tätigkeit wird zum arbeitspädagogischen Programm der betrieblichen Berufsausbildung. In den Industrieberufen werden Tätigkeiten und darauf bezogene Fertigkeiten gebündelt und systematisiert, die in vorausgegangenen berufsfeldbezogenen Tätigkeitsanalysen identifiziert worden sind (vgl. Krause 1961). Der Zweck der Arbeit und der Arbeits-Gegenstände kommt in den Übungen und Lehrgängen, wie sie bis heute trotz vielfältiger Modernisierungen in ihrem Kern überlebt haben, nicht vor. In der Berufsausbildung wird Beruflichkeit gelöst von der sinnvermittelten Arbeit und an abstrakte (Grund-)Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie an die Vermittlung von Arbeitstugenden geknüpft. Die Aufgabenzuweisung an die Berufsschule, die fachtheoretischen Inhalte zu vermitteln, fuhrt zu einer zunehmenden Orientierung an den Inhalten korrespondierender Wissenschaften (vgl. Lipsmeier 1994, S. 3). Verstärkt wird diese Entwicklung durch das universitäre Fachstudium der Berufsschullehrer (vgl. Bannwitz/Rauner 1993). Damit setzt sich in der Berufsschule endgültig die Abkehr von einer berufsbezogenen und die Hinwendung zu einer an den universitären Wissenschaften orientierten Fach-Bildung durch. Das Verständnis einer zweckfreien Wissenschaft wird zum Leitbild einer zweckfreien Fach-Kunde in der Berufsschule.
5.4.3
Fachkunde als zweckfreie Lehre in der Berufsschule
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bildet sich der technologische Unterricht an Sonntagsschulen heraus. In Ergänzung zum Lernen im Arbeitsprozeß und der Reproduktion von Wissen und Erfahrung in der Meisterlehre wird mit dem Hinweis äuf die ökonomische Bedeutung der Gewerbelehre die Notwendigkeit einer ergänzenden, am
438
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
wissenschaftlichen Wissen orientierten Befähigung hingewiesen. Zu nennen sind hier vor allem Poppe, Diesterweg und Beckmann (vgl. Säubert 1990, Grottker 1991, Stratmann 1988). Dies fuhrt schließlich zur Institutionalisierung des schulischen Lernens in Ergänzung zum Lernen im Arbeitsprozeß, wobei die didaktische Orientierung für den technologischen Unterricht der Sonntagsschule von Beginn an in den Wissenschaften gesucht wurde. Leitend wurde zunehmend die ökonomische Rationalität und die Umgestaltung beruflicher Qualifizierung nach den Kriterien des "Zeit-, Kraft- und Geldprimats" (Poppe 1828, S. 28). "Wissenschaftlicher Unterricht in Technologie wird zunehmend zu einer objektiven Voraussetzung für das Erreichen einer rationellen Produktionsweise und umgekehrt" (Grottker 1991). Mit dem von Beckmann (1977) eingeführten TechnologiebegrifF wird ein für die spätere Berufsschule prägendes Verständnis für den fachkundlichen Unterricht vorweggenommen. "Technologie ist die Wissenschaft, welche die Verarbeitung der Naturalien oder die Kenntnisse der Handwerke lehrt. Anstatt, daß in den Werkstätten nur gewiesen wird, wie man zur Verfertigung von Waren, die Vorschriften und Gewohnheiten des Meisters befolgen soll, gibt die Technologie, in systematischer Ordnung gründlicher Anleitung, wie man zu eben diesem Endzwecke, aus wahren Grundsätzen und zuverlässigen Erfahrungen, die Mittel findet, und die bei der Verarbeitung vorkommenden Erscheinungen erklären und nutzen soll" (Beckmann 1977, S. 17, zit. nach Grottker 1991). Die im Arbeitsprozeß vorkommenden Erscheinungen sollen im Unterricht technologisch, d. h. nach logisch und empirisch wahren Grundsätzen erklärt werden. Die Entstehung der Berufsschule bzw. ihrer Vorformen (Sonntagsschulen) ist auf das Engste verbunden mit einer Verflüchtigung des Konkreten in der fachkundlichen Bildung. Technik und Facharbeit erscheinen als Anwendung des wissenschaftlichen Wissens, eine Verkürzung, die sich in der Berufsschule erst in diesem Jahrhundert in vollem Umfang durchgesetzt hat (vgl. Lipsmeier 1994). Im Einleitungstext eines Fach-Buches für Berufsschüler der Grundbildung Elektro-Technik wird das implizierte "neue" Fachverständnis gewerblich-technischer Berufsbildung in seltener Deutlichkeit formuliert. Es heißt dort: "Die Natur läßt keine Ausnahme zu. Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkung. Diese Grundregel, dieses Grundgesetz der Natur, macht erst Technik möglich. Stände
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
439
es nicht mit unumstößlicher Sicherheit fest, daß Wasser nach unten stürzt und nie auf die 'Idee' kommt, nach oben zu steigen, so könnte es zum Beispiel kein Wasserkraftwerk geben". Die Existenz des Wasserkraftwerkes erscheint so den Grundgesetzen der Natur zu entspringen - mit "unumstößlicher Sicherheit". Die Übertragung dieses Gedankens auf besonders risikobehaftete und gesellschaftlich umstrittene Technologien verdeutlicht die ideologische Brisanz dieses Technikverständnisses. Der Bezug auf die Berufstätigkeit des 'Elektrikers' wird im Vorwort dieses Buches dann wie folgt hergestellt: "Will der Elektrotechniker seiner Verantwortung gerecht werden, so darf er den elektrischen Geräten nicht mit Unbehagen gegenüberstehen. Er muß wissen, daß es in elektrischen Apparaten mit rechten Dingen zugeht. Das Wissen um diese rechten Dinge liegt in den Erkenntnissen von Physik und Chemie. Erst derjenige, der sich die Erkenntnisse von Physik und Chemie (die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Elektrotechnik) zu eigen gemacht hat, hat das Recht, sich Elektriker zu nennen". Unbehagen gegenüber der Technik resultiert danach aus fehlendem Wissen über die Grundgesetze der Natur. Durch diese spezifische Fach-Orientierung beruflicher Bildung an den Natur- und Fachwissenschaften wird der Blick auf die reale Technik verstellt, mit der die Facharbeiter im Arbeitsprozeß konfrontiert werden. Technik erscheint fachkundlich ausschließlich aus der Perspektive ihrer inneren Logik und bleibt so in ihrem Wesen als unauflösbare Einheit des technisch Möglichen und des gesellschaftlich Notwendigen/sozial Wünschbaren unbegriffen (Abb. 1). Das Unbehagen an Technik kann danach nicht aus den Gebrauchswerteigenschaften und den in diesen vergegenständlichten Interessen und Zwecken oder gar aus den unübersehbaren und unkalkulierbaren (Neben-)Wirkungen der Technik(-entwicklung) resultieren, sondern offenbar nur aus einem subjektiven Unvermögen, das Funktionieren von Technik naturwissenschaftlich zu durchschauen. Die Aufspaltung des Zweck-Mittel-Zusammenhanges in zweckfreie Inhalte in den berufsbezogenen und in zweckbehaftete Inhalte in den gesellschaftsbezogenen Fächern der Berufsschule steht einer
440
Abb. 1:
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Technik als Einheit des technisch Möglichen und des gesellschaftlich Notwendigen/sozial Wünschbaren Technik als Einheit des technisch Möglichen
^
^
sozial WQnschbaren
Mittel - (Zusammenhang) - Zweck ökonomische, sozial subjekt. Interessen-Orientierungen
kulturelle Orientierungen
Gebrauchswertantizipation
gesetzliche Regelungen
technische
{
Normen Orientierungen
soziale
Quelle: Rauner 1988, S. 129
Bildung entgegen, deren Ziel es ist, Arbeit und Technik in ihrer historischen Gewordenheit und in ihrer Gestaltbarkeit zu begreifen und zu erfahren. Es besteht ein auffälliger Kontrast zwischen der bildungspolitischen und bildungstheoretischen Diskussion über den Bildungsauftrag der Berufsschule und der durchgängig institutionalisierten Eingrenzung beruflicher Sachverhalte auf ihre zweckfreien, fachsystematischen Inhalte. Das Prinzip der zweckfreien Fachtheorie schlägt sich nicht nur im Lehrplan und in den Fachbüchern nieder, sondern auch in den Ausstattungen der Fachräume und Werkstätten. So ist es z.B. in einer gut ausgestatteten Berufsschule möglich, in der Form von Schülerexperimenten das charakteristische Verhalten von elektrischen Maschinen experimentell zu repräsentieren. Dagegen ist es kaum möglich, elektrische Maschinen als Aggregate für die Lösung konkreter Antriebsprobleme zu untersuchen. Im Experiment wird die "Theorie des Motors" bestätigt. Der Motor
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
441
erscheint so als Vergegenständlichung des Motorprinzips. Der Labormotor ist ein zweckfreier Motor, er wird zum Motor an sich. Erst wenn elektrische Maschinen auch von ihrer Gebrauchswertseite, von den Anforderungen her untersucht werden, wird aus dem Fachinhalt ein bildungsrelevanter, berufsbezogener Lehr-Inhalt.
5.4.4
Wiederentdeckung der Inhalte
Die Frage nach dem Zweck einer zweckfreien Berufsbildung ist weniger paradox als es auf dem ersten Blick erscheint. Solange das gesellschaftliche Interesse an einer Berufsbildung dominierte, die im wesentlichen dem Leitbild der Qualifizierung für einfache und ausfuhrende Tätigkeiten folgte, wurde eine Berufsbildung als zweckmäßig betrachtet, wie sie etwa Taylor implizit in seinen Grundsätzen für das Scientific Management formuliert hatte und wie sie besonders markant für die 1972 neugeordneten industriellen Elektroberufe formuliert wurde (Zentralverband der Deutschen Elektroindustrie 1973). Unter dem ökonomischen Druck des globalen Qualitätswettbewerbes und der daraus resultierenden Notwendigkeit, Qualitätsarbeit über Prozesse partizipativer betrieblicher Organisationsentwicklung (-> 7.3.4) abzusichern bzw. zu erreichen, erweisen sich solche Leitbilder und Orientierungen sowie die daraus resultierende Berufsbildungspraxis als kontraproduktiv. Als zweckmäßig wird heute eine Berufsbildung angesehen, die die Jugendlichen befähigt und motiviert, aktiv, kreativ sowie zugleich kritisch und konstruktiv im betrieblichen Organisationsentwicklungsprozeß mitzuwirken (vgl. Ganguin 1993; 5.2.2; -»• 5.3.3; 7.1.2). Handlungs- und Gestaltungskompetenz, wie sie zunehmend als Leitidee auch für die berufsschulische Berufsbildung in den Ordnungsmitteln und in der Unterrichtspraxis Anwendung finden (z.B. in Hessen), schließt eine zweckfreie Fachbildung in der Berufsschule aus. Das ökonomische und politische Interesse an einer auf Gestaltungskompetenz zielenden Berufsbildung eröffnet der Berufsschule neue Chancen für pädagogische Innovationen, die sich auch den Inhalten der Berufsbildung und nicht nur den Lernformen zuwenden (vgl. Eicker 1983).
442
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Die breite Diskussion und Akzeptanz schülerzentrierter Lernformen wie des experimentellen Lernens (vgl. Rauner 1992) und des Handlungslernens (vgl. Gerds u. a. 1984; Laur-Ernst 1984), angestoßen durch zwei bundesweite Modellversuche Anfang der 70er Jahre (vgl. Gutschmidt u. a. 1974; Fahle u. a. 1985) und gestützt durch die Neuordnung der industriellen Metall- und Elektroberufe (1987), hat sicher zu weitreichenden Veränderungen im berufsschulischen Lehren und Lernen geführt. Handlungsorientiertes Lernen befördert soziale und personale Kompetenzen, wie sie in der Debatte über Schlüsselqualifikationen (-»• 5.2.1) herausgestellt werden. Insofern kommt den neuen Lernformen auch eine Bedeutung für die Inhalte beruflicher Bildung zu. Eher implizit erfahren dort, wo mit einer breiteren Einfuhrung projektförmigen Lernens begonnen wurde, auch die Fachinhalte eine Veränderung. Dies gilt jedoch nur für Projekte, in denen Arbeit und Technik auch als Ausdruck vergegenständlichter Zwecke, Interessen und Normen von den Schülern erfahren werden können. Bemerkenswert ist hier, daß trotz einer Hinwendung der Berufsschule zu neuen Lernformen die Praxis der zweckfreien Fachbildung immer noch tief in den Berufsschulstrukturen verankert ist. Erst mit dem Konzept des gestaltungsorientierten Unterrichts (vgl. Heidegger u. a. 1993) rückt in der gewerblich-technischen Berufsbildung die Technik in ihrer Genese und Gestaltbarkeit in das Zentrum der fachbezogenen Berufsbildung. Gestaltungsorientierter Unterricht erlaubt es, Technik in ihrer Genese und Gestaltbarkeit und damit als zweckbehaftete Sachverhalte zu erfahren (vgl. Rauner 1986). Für die Umsetzung dieses Unterrichtskonzeptes in didaktisches Handeln in der Berufsschule kommt den einschlägigen BLK-Modellversuchen eine besonders innovative Funktion zu. In den zwei letzten Jahrhunderten, in denen sich die Berufsschule und die technischen Hochschulen herausgebildet haben, fehlt es nicht an Leitideen und programmatischen Formulierungen für eine emanzipatorische Berufsbildung. Die wegweisende Formulierung des Deutschen Bildungsrates, wonach der Unterricht der Berufsschule den "gesamten Zusammenhang der Ursachen und Wirkungen des beruflichen Handelns zu umfassen und zu ihrer kritischen Reflektion hinzufuhren" (Deutscher Bildungsrat 1969, S. 64) habe, verbietet eine Verkürzung der berufsschulischen Lehre auf den Mittelaspekt des Technischen ebenso, wie die darüber hinausrei-
Zweckfreie Berufsbildung in der Berufsschule
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chenden Empfehlungen der Enquête Kommission des Deutschen Bundestages zu einer gestaltungsorientierten Berufsbildung (Deutscher Bundestag 1990). Empfehlungen wie diese oder auch richtungsweisende, berufspädagogische und technikdidaktische Veröffentlichungen zum Technik- und Arbeitsverständnis als zentrale Bezugspunkte für den fachkundlichen Unterricht der Berufsschule (vgl. u. a. Nölker 1980) haben jedoch bisher allenfalls ihren Niederschlag in den Präambeln der Lehrpläne gefunden. So heißt es z. B. im hessischen Schulgesetz: "Sie (die Berufsschule) trägt zur Erfüllung der Aufgabe im Beruf und zur Mitgestaltung der Arbeitswelt und Gesellschaft in wirtschaftlicher, technischer, sozialer und ökologischer Verantwortung bei" (Hessisches Schulgesetz 1992, Absch. 1, § 39). Ganz entsprechend lautet die Leitidee im KMK-Rahmenplan für die 1987 neugeordneten Metall- und Elektroberufe. Die Berufsschule ist seit Beginn der 90er Jahre wie selten zuvor herausgefordert, ihre Unterrichtspraxis zu verändern. Mit dem didaktischen Konzept des gestaltungsorientierten Unterrichtes wird die Frage nach den Inhalten von Arbeit, Technik und Lernen zu einem zentralen Punkt des didaktischen Handelns. Daraus ergibt sich eine Möglichkeit, Arbeit und Technik in ihrer historischen Gewordenheit und als Ausdruck gesellschaftlicher Zwecke und in ihrer Gestaltbarkeit zu erfahren. In der vom Gegensatz allgemeiner und beruflicher Bildung geprägten Diskussion über die Bildungsziele der Berufsschule entstand die irreführende Alternative "Allgemeinbildung oder Utilitarismus". Je nach Position wurde gemäß dieser Alternative entweder utilitär eine enge Funktionsbindung der Berufsschule an Erfordernisse des Arbeitsmarktes (Allokation von Qualifikationen) oder - in der Gegenbewegung - die staatlich organisierte Berufsausbildung als ein Sektor propagiert, der auch und vor allem Schutz vor der Zu- oder Ablichtung junger Menschen für die Berufsarbeit bieten müsse. Insbesondere diese, in philantropischer Tradition der Pädagogik argumentierende Position hat den Gegensatz von Spezialisierung des Berufswissens und Allgemeinbildung postuliert und zur bis heute noch wirksamen Strategie der Reform beruflicher Bildung und Ausbildung werden lassen. Erst etwa Ende der 60er Jahre hat vor allem die durch Herwig Blankertz beeinflußte berufspädagogische Kritik an der Entgegensetzung von beruflicher Spezialisierung und allgemeiner »Menschenbildung« Gehör gefunden.
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Schon Humboldts Idee allgemeiner Menschenbildung hatte einen politischen Kern, nämlich den Widerspruch gegen die zum Teil inhumanen Arbeitsverhältnisse des 19. Jahrhunderts. Daraus ist dann die generelle Ablehnung beruflicher Bildung erwachsen, die von ihrem vergangenen utilitären Zwangsverhältnis auch später nicht mehr unterschieden wurde. »Zweckfreiheit« von Bildung drängte sich als Kriterium höherer Bildung auf, aus der sozialpolitisch fortschrittlichen Ablehnung unmündiger Arbeitsverhältnisse resultierte die Diskriminierung einer Bildung, die Berufsfähigkeit zum Ziel hat. Die innere Logik der »Emanzipation« der Berufsbildung unter philantropischem Vorzeichen erforderte zwangsläufig eine Orientierung beruflicher Inhalte an jenen Wissenschaften und Technologien, die begannen, die Berufswelt zu bestimmen. Statt nun aber, wie Herwig Blankertz seinerzeit formulierte, »die Wahrheit der Allgemeinbildung in der Berufsbildung« aufzusuchen, wurde im Prozeß der Verwissenschaftlichung nicht etwa das Konkrete beruflicher Spezialisierung als Potential von Bildung erschlossen, sondern dieses immer weiter auf der Suche nach möglichst großer »Zweckfreiheit« beruflicher Inhalte verdrängt. Die aus der Kritik an utilitaristischer Bildung hervorgegangene Tradition einer - zunächst progressiv gemeinten - zweckfreien Bildung in der Berufsschule hat in der Praxis zur Etablierung von Lehrinhalten geführt, die dem verbreiteten technik-deterministischen Verständnis von zweckfreier Technik, Arbeit und Arbeitsorganisation verhaftet sind. Das Konzept der zweckfreien Bildung in der Berufsschule hat insofern seine Bedeutung als eine dem Utilitarismus entgegengesetzte berufspädagogische Leitidee verfehlt. Die neugeordneten Metall- und Elektroberufe stellen mit dem Konzept der ganzheitlichen Arbeitshandlung einen ersten Schritt in Richtung einer Berufsbildung dar, die es auch der Berufsschule erleichtert, sich auf Arbeit, Technik und Beruf als zweckbehaftete Gegebenheiten in gestaltungsorientierter Perspektive zu befassen. Gestaltungskompetenz wird als Leitidee für die Gestaltung beruflicher Bildungsprozesse für beide Lernorte diskutiert und eröffnet neue Möglichkeiten für eine kooperative duale Berufsausbildung im "Lernortverbund", bei der zugleich der Bildungsauftrag der Berufsschule und die Qualifizierungsfunktion des Betriebes wieder deutlicher in ihrer Komplementarität (und dialektischen Polarität) sichtbar werden.
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Eine gestaltungsorientierte Berufsausbildung (-+ 5.4.3) ist viel stärker mit der betrieblichen Organisationsentwicklung verschränkt als die traditionelle, weitgehend aus dem betrieblichen Geschehen herausgelöste Ausbildung. Dieser Trend erhöht zunächst deutlich die Chancen für eine gestaltungsorientierte Ausbildung, schon deshalb, weil eine partizipative Organisationsentwicklung explizit die Leitidee der (Mit-)Gestaltung beinhaltet. Gleichzeitig schränkt die betriebliche Organisationsentwicklung die Gestaltungsfelder, die dem didaktischen Konzept der gestaltungsorientierten Berufsbilder zugrunde liegt, deutlich ein auf den sozialen Ort des Betriebes einerseits - sowie auf das Verhältnis von Technik und Arbeit - andererseits. Hier liegen jedoch zugleich neue Chancen für eine duale und kooperative Berufsbildung, da durch die Rückverlagerung betrieblicher Berufsausbildung in den Arbeitsprozeß und die betriebliche Organisationsentwicklung die spezifischen Lernchancen an den verschiedenen Lernorten wieder deutlicher ins Blickfeld rücken. Stehen in der betrieblichen Ausbildung die spezifischen Inhalte und Formen der betrieblichen Organisationsentwicklung im Vordergrund, so kommt es in der Berufsschule darauf an, an den jeweils betriebsspezifischen Inhalten und Formen der Arbeit und der Organisationsentwicklung anzuknüpfen, um sie jedoch unter den experimentellen Bedingungen des Lernorts Schule kritisch zu reflektieren, zu bewerten und zu transzendieren. Neben der mittlerweile enfalteten Leitidee der Befähigung zur Mitgestaltung von Arbeit und Technik und dem damit korrespondierenden Technikverständnis ist die "Lernaufgabe" ein drittes Moment dieses didaktischen Konzeptes. Dehnbostel hat vorgeschlagen, in der betrieblichen Berufsausbildung von "Arbeits- und Lernaufgaben" zu sprechen (vgl. Dehnbostel 1992). Dies ist immer dann sinnvoll, wenn der enge Zusammenhang zwischen Arbeiten und Lernen betont werden soll und wenn Arbeitsaufgaben didaktisch in Lernaufgaben transferiert werden, ohne daß sich dabei die Qualität der Arbeitsaufgaben und der damit gegebenen konkreten Arbeitsinhalte verflüchtigt. Das didaktische Prinzip des aufgabenorientierten Lernens im Kontext von Projekten und einer "gestaltungsorientierten" Berufsbildung anstelle des traditionellen themenzentrierten Lernens genießt mittlerweile weithin Zustimmung. Bei genauerem Hinsehen werden jedoch charakteristische Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Lernaufgaben deutlich. Am Beispiel einer
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von Auszubildenden zu realisierenden Speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) soll dies verdeutlicht werden. Im ersten Fall besteht die Aufgabe darin, einen Arbeitsauftrag, der in Form einer Spezifikation für eine Fahrstuhlsteuerung gegeben wird, zu realisieren. Das Besondere dieser Aufgabe besteht darin, daß die Auszubildenden ebenso wie der Lehrer und Ausbilder mit der Spezifikation über ein eindeutiges Kriterium verfugen, an dem überprüft werden kann, ob die zu erarbeitende Lösung richtig oder falsch ist. Aufgabenstellungen wie diese haben in der beruflichen Arbeitspraxis ebenso wie in der Berufsbildungspraxis eine lange Tradition. Definierte vorgegebene Aufgaben sollen sachgerecht bearbeitet und gelöst werden. Im zweiten Fall beinhaltet die Aufgabenstellung beispielsweise die Beschreibung eines Krankenhauses, in der ein Aufzug mittels SPS gesteuert werden soll. Die Anordnung der Notaufnahme, der Intensivstation und anderer Einrichtungen des Krankenhauses in verschiedenen Stockwerken wird beschrieben. Die Aufgabe besteht nun darin, für diese spezifische Situation eine adäquate Fahrstuhlsteuerung mittels SPS experimentell zu realisieren. In diesem Fall entstehen dann, wenn die Aufgabe von unterschiedlichen Gruppen bearbeitet wird, auch unterschiedliche technische Lösungen. Der entscheidende didaktische Unterschied zwischen den beiden Lernaufgaben besteht darin, daß im ersten Fall anhand der Spezifikation die technische Lösung vorgegeben ist und ihre Ausfuhrung als 'richtig' oder 'falsch' bewertet werden kann. Die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Steuerung wird bereits durch die Form der Arbeitsaufgabe ausgeblendet. Bewertet wird nicht die Qualität der Fahrstuhlsteuerung als mehr oder weniger adäquat, bewertet werden kann allenfalls die Qualität der Ausfuhrung der "Arbeit" als schnell, übersichtlich, sauber usw. Die Frage der Zweckmäßigkeit der Steuerung und möglicher Alternativen wird im ersten Fall ausgeblendet. Sie kann nur im zweiten Fall systematisch einbezogen werden. Planen bedeutet im zweiten Fall, sich mit Technik im Zweck-Mittel-Zusammenhang zu befassen. Bei den ausfuhrenden Schritten werden im zweiten Fall bereits alternative Lösungen als Ausdruck unterschiedlicher Interessen, Bewertungen und antizipierter praktischer Kontexte deutlich. Bei der Bewertung der realisierten technischen Lösung kann die Gebrauchswertseite der Technik
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einbezogen werden. Im ersten Fall sind dagegen die Lernchancen deutlich eingeschränkt. Die durch die Spezifikation definierte Aufgabe reduziert die Handlungen der Auszubildenden auf den Typus zweckrationaler, ausführender Handlungen. Planen, Ausfuhren und Bewerten haben nur eine eingeschränkte Bedeutung, da Technik nicht in ihrer Gestaltbarkeit zum Gegenstand des Unterrichts wird. Die betriebliche Berufsbildung erlaubt es darüber hinaus, Lernaufgaben auf aktuelle betriebliche Gestaltungsaufgaben und die jeweiligen alternativen Lösungsmöglichkeiten zu beziehen. Mit diesen erweiterten Möglichkeiten für Inhalte und Formen betrieblicher Berufsbildung im Lernort Betrieb gehen gleichzeitig Begrenzungen einher, die durch die je spezifische betriebliche Praxis gegeben sind und denen die Schule nicht unterliegt. In seinem Buch "Demokratie und Erziehung" greift Dewey dieses Problem auf und diskutiert es unter der übergeordneten Frage, wie es denn gelingen könnte, den Prozeß der Anpassung an die Maschine umzukehren zu einem Prozeß, bei dem die Werkzeuge und Maschinen komplementär zu den Fähigkeiten der Menschen gestaltet werden können (vgl. Dewey 1916). Er weist dabei dem Lernort Schule eine besondere Rolle zu. Indem die Schule nicht eingebunden ist in die ökonomischen Zwänge des Betriebes, stellt sie mit ihren Laboratorien einen Ort dar, an dem an die Erscheinungen industrieller Arbeit und Technik angeknüpft werden könne und an dem die betriebliche Praxis jedoch unter "jedem intellektuellen Interesse, das von irgendeinem Problem erweckt wird, nachgegangen werden kann". Daher können vor allem hier die Fähigkeiten zum Entwickeln von Alternativen zur bestehenden betrieblichen Praxis entwickelt werden. Lernaufgaben sind im Kontext des didaktischen Konzepts der gestaltungsorientierten Berufsbildung nur solche, die - soweit es um Technik geht - Technik nicht auf die innere Logik des Technischen, auf die Technologik reduziert und, soweit es die berufsformig organisierte Arbeit betrifft, Arbeit auf ausführende und vorgegebene Arbeitsaufgaben begrenzt.
Zitierte Literatur BANNWITZ, Fred/Rauner Felix (Hrsg.) (1993): Wissenschaft und Beruf. Bremen.
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der Berufsschule und die Ausbildung ihrer Lehrer. Braunschweig, Wiesbaden.
5.5
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht Gerd Neumann und Raimund Dröge
5.5.1 5.5.1.1 5.5.1.2 5.5.1.3 5.5.1.4 5.5.1.5
5.5.2 5.5.2.1 5.5.2.2 5.5.2.3 5.5.2.4 5.5.3
Kritik an der bisherigen Wirtschaftslehre Ausgangssituation und Vorgehen Ergebnisse der Untersuchung von Reetz/Witt Ergebnisse der Untersuchung von Krumm Ergebnisse der wirtschaftsdidaktischen Analysen von Gerdsmeier Zusammenfassung der wichtigsten Konsequenzen für einen arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterricht
451 451 454 455 456 460
Bereiche eines arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts..466 Prämissen 467 Produktions- und Reproduktionsrollen als Kriterien der Arbeitsorientierung 469 Zur Interdependenz von Sach- und Sozialkompetenz im Rollenhandeln 471 Zur Intentionalität des arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts 473 Schlußbemerkung
476
Zitierte Literatur
477
Weiterführende Literatur
478
5.5.1
Kritik an der bisherigen Wirtschaftslehre
5.5.1.1 Ausgangssituation und Vorgehen Am Anfang eine Anmerkung in eigener Sache: Wir fanden als Schüler und Lehrlinge (unter anderem drei Jahre Wirtschaftsoberschule und kaufmännische Berufsschule) die Schulbücher in den Wirtschaftsfächern als durchweg langweilig und wenig brauchbar, wir fühlten uns beherrscht von Aufzählungen, Listen, Spiegelstrichstrukturen, Klassifikationen, Begriffen, Definitionen, undurchschaubaren Kalkülen und Verfahrenstechniken, aber nicht motiviert, uns mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie mit unserem betrieblichen Lernumfeld oder gar mit unseren eigenen Lebensverhältnissen in Verbindung zu bringen. Und die Schulbücher waren repräsentativ für den Unterricht. Lernen, Einprägen, kurze Fragen und Antworten, Wiedergeben waren seine Strukturmerkmale. Wir beherrschten
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am Ende der Ausbildung erhebliche Teile des Wirtschaftslehrebuches auswendig: "Die Betriebswirtschaft ist ein wirkender Komplex, in dem eine leitende Instanz ..." Selten gab es eine interessante Fragestellung und einen durchgängigen Text, der ein für uns nachvollziehbares Problem beinhaltete, auf verschiedene Betrachtungsperspektiven aufmerksam machte und zum Nachdenken anregte. Es war uns kaum möglich, einen Bezug zu eigenen Fragen und Problemen herzustellen. Hin und wieder kam jedoch die von uns wahrgenommene, beobachtete und zu bearbeitende wirtschaftliche und betriebliche Wirklichkeit als Einzelbeleg und als anämische Illustration im Unterricht oder Lernmaterial vor. So hatten wir wenigstens ansatzweise Anlaß zu der Vermutung, daß das, was uns mit Schulbüchern und Unterricht präsentiert wurde, irgendwie auch eine praktische Bedeutung haben könnte. Reproduktives Lernen beherrschte aber die Unterrichtsszene, der Unterricht konzentrierte sich weitgehend auf das erstarrte begriffliche Gerüst wirtschaftlicher Sachverhalte und technische Einzelheiten, teilweise kondensiert in Formularen und Formvorschriften, mit denen wir im Betrieb nie in Berührung kamen (z.B. Wechsel) oder die allenfalls noch historische Bedeutung hatten (z.B. T-Konten, Auftragsbücher, Journale). Später als Ausbilder im Betrieb hat sich insbesondere an der Einschätzung der kaufmännischen Lehrbücher nichts geändert. Wenn wir die Auszubildenden auf ihre Aufgaben in den Abteilungen vorbereiteten, halfen die Lehrbücher wenig. Sie gingen oft an der Sache vorbei, vielfach behinderten sie auch das betriebliche Lernen. Wir behaupten: Diese Einschätzung ist auch heute noch gerechtfertigt. Und davon wiederum ausgehend, hieße es dann konsequent: an den Lernmaterialien der behaupteten Art läßt sich durch "technische" Veränderungen (aufgesetzte Handlungsorientierung, bessere kognitive Vor- und Nachstrukturierungen) nichts verbessern (vgl. Czycholl/Ebner 1989). Das ist so, als wenn wir einem blinden Hasen Glasaugen einsetzen. Eine erfolgsversprechende Therapie muß hingegen grundlegend ansetzen und sich zunächst um eine systematische Diagnose bemühen und das bedeutet hier: Die wirtschaftsdidaktische Präskription muß sich daher zuallererst um die Bestimmung und Legitimation von Unterrichtsgegenständen und ihre Strukturierung bemühen. Hier liegt der Kern ihrer Aufgabe. Das heißt ausfuhrliche Beschäftigung mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit und den produktiven Ansätzen in den Wirtschaftswissenschaf-
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ten und der Systemtheorie (wir nennen exemplarisch: Baecker 1993; Gomez/Zimmermann 1992; Weick/Türck 1989). Das Lernmaterial in der Wirtschaftslehre stellt hingegen im wesentlichen tradierte Wissenstatbestände dar, die über Konventionen, nicht jedoch über begründete Normen (fachdidaktische Kriterien) bestimmt worden sind. Um die habitualisierte Konstruktionsmechanik "Konvention" zu verlassen, muß ein fachdidaktischer Kriteriensatz bestimmt werden, denn die Analyse und noch mehr die Konstruktion von Lernmaterial erlaubt keinen simplen "Oberflächenzugriff' auf die bestehenden wirtschaftsdidaktischen Materialien, um die vorhandenen stofflichen Elemente und Routen gewissermaßen durch Fermentation zu veredeln. Das ist nicht einfach, aber die schwerwiegenden Mängel in der Wirtschaftslehre machen ein grundsätzliches Umsteuern erforderlich, dessen Richtung durch die Identifizierung von beruflichen Verwendungssituationen, zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklungen, wissenschaftstheoretischen und wirtschaftswissenschaftlichen Erwägungen, fachlichen Strukturen, Auffassungen vom Lernen und Vorstellungen über den Unterricht bestimmt werden muß. Das Bemühen um neue begründete fachdidaktische Setzungen und Schlußfolgerungen kann nicht durch Berufung auf konventionelle Übereinstimmung (war immer schon so, keine Zeit im Unterricht, ist prüfungsrelevant) gelöst oder durch Kurzschlüsse (die Schulbücher lehnen sich eng an die Lehrpläne an und sind insofern curricular legitimiert) gerechtfertigt werden oder dadurch, daß gar behauptet wird, daß sich im kaufmännischen Wissen des Wirtschaftslehreunterrichts alle wichtigen Sachverhalte des Wirtschaftens niederschlagen, daß der Unterricht - man betrachte doch nur die Fülle der behandelten Themen - alles einschließe und erörtere. Für die Beschreibung des inhaltlichen Repertoires der arbeitsorientierten Wirtschaftslehre wählen wir ein pragmatisches, sukzessives Verfahren, mit dem wir uns dem Untersuchungsgegenstand von zwei Seiten annähern: von "unten" über die Beschreibung und Analyse wichtiger Befunde zu Unterrichts- und Schulbuchinhalten der Wirtschaftslehre und von "oben" über die Beschreibung von Verwendungssituationen, in denen die Kenntnisse einer arbeitsorientierten Wirtschaftslehre eingesetzt werden sollen (vgl. Dröge/Neumann 1981, S. 46 ff.). Wir beginnen mit unseren Überlegungen bei der Wirtschaftslehre, wie sie sich aus empirischen Unter-
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suchungen zum Unterricht oder Lehrbuchanalysen ergibt. Wir sehen in der damit verbundenen Fehleranalyse einen wichtigen Schritt, um die aufgedeckten Fehler zu vermeiden; obwohl eine Fehlerbeschreibung noch keine didaktische Analyse ersetzt. Durch die Schwachstellenanalyse läßt sich aber die Komplexität des fachdidaktischen Feldes zunächst reduzieren, läßt sich eine brauchbare Ausgangslage für die weiteren gedanklichen Sondierungen gewinnen. Obgleich die empirischen Untersuchungen von Reetz/Witt (vgl. Reetz/Witt 1974) und Krumm (vgl. Krumm 1973) schon viele Jahre zurückliegen, haben ihre bemerkenswerten Ergebnisse in der Praxis kaum Korrekturen ausgelöst. Darum wollen wir sie erneut betonen. 5.5.1.2 Ergebnisse der Untersuchung von Reetz/Witt Die Untersuchung von Reetz/Witt ging von zwei parallellaufenden Hypothesen über die Qualität der Lerninhalte in den Wirtschaftslehrebüchern aus. Die Autoren vermuteten einerseits eine Ablösung der Lerninhalte von den Interessen der kaufmännischen Arbeitsnehmer, zum anderen eine Ablösung von der kaufmännischen Realität. Mit den beiden Ablösungstendenzen - so formulierten die Autoren - ginge ein doppeltes Defizit an Kompetenz einher: Infolge der mangelnden qualitativen Struktur der Lerngegenstände könne weder Sach- noch Sozialkompetenz erworben werden. Der dürftige Zustand der untersuchten Lehrbücher sei deswegen so problematisch, weil sie die überkommene Praxis des Wirtschaftslehreunterrichts weitgehend bestimmen. Lehrer unterrichten, was in den Lehrbüchern steht und prüfungsrelevant ist, Lehrpläne werden immer erst durch die Bücher und die Prüfungspraxis interpretiert. Reetz/Witt hielten folgende Befunde für empirisch abgesichert: Durchgängiges Argumentationsprinzip bei der Darstellung einzelner betrieblicher Funktionen oder Situationen, die den Arbeitnehmer betreffen, ist das komplementäre Verhältnis von unternehmerischem Gewinnprinzip und Mustern rigider funktionaler Anpassung. Die Kriterien von Sozialkompetenz, die Fähigkeit eigene Ansprüche durchzusetzen und sich von der funktionalen Vereinbarung im Betrieb kognitiv und in gewissen Grenzen auch faktisch zu distanzieren, werden nicht erörtert. Aufgrund des niedrigen Informationsgehalts wird darüber hinaus Sachkompetenz verhindert, insbesondere die Fähigkeit zu theoriegeleitetem Handeln in der beruflichen Praxis. Um sachkompetentes Verhalten zu bewirken, ist der Aufbau motivationaler und kognitiver Strukturen beim Lernenden auf der
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Gaindlage informationshaltiger, zusammenhangstiftender Theorien über die Praxis erforderlich. Statt dessen ist feststellbar: * die Tendenz zur Konfusion definitorischer, normativer und empirischer Aussagen, * die Vernachlässigung empirischer Information, * die Vernachlässigung theoretischer und die Bevorzugung isolierter (zerfaserter) Information gemäß einer auf die Schreib- und Ladentischperspektive reduzierten Praxis. 5.5.1.3 Ergebnisse der Untersuchung von Krumm Gegenstand der Untersuchung von Krumm waren Lehrpläne und Lehrinhalte des zentralen Unterrichtsfaches an kaufmännischen Berufsschulen und Berufsfachschulen: der Wirtschaftslehre. Qualitativ und quantitativ beschrieben und analysiert wurden die Lernziele und Stoffverteilungsplane von insgesamt 37 Einzellehrplänen und - als Indikatoren für den Unterrichtsinhalt - 4418 Klassenarbeitsaufgaben, 3827 Aufgaben des schriftlichen Teils der Abschlußprüfung und 14 Lehrbücher. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung sind: * Geordnet nach der Lernzielklassifikation des Strukturplans ergab sich, daß rund 80% der Lernziele im Wirtschaftslehreunterricht den fachlichen Lernzielen zugeordnet werden müssen, der Rest den allgemeinen und nicht-fachlichen. Im einzelnen stellte der Autor fest: * ein eindeutiges Übergewicht von Zielen, die in den kognitiven Bereich fallen; nur 16% fallen in den affektiven Bereich; * unter dem Aspekt "Verwendungssituationen" ergab sich, daß der Wirtschaftslehreunterricht überwiegend der Berufsqualifikation im engeren Sinne dient, weitere Verwendungssituationen werden nicht berücksichtigt; * zwischen Lernzielen und der Unterrichtswirklichkeit bestehen sehr große Diskrepanzen hinsichtlich des kognitiven Niveaus. Die Klassenarbeiten, Prüflingsaufgaben und Aufgaben in den Lehrbüchern gehören zu 85% bis 97% in die Wissenskategorie und innerhalb dieser zu wenig komplexen Subkategorien. In über 60% der Aufgaben wird nach konkreten Einzelheiten gefragt, nach bloßen Fakten; * der Unterricht ist weder ausreichend wissenschaftsorientiert noch ausreichend praxisbezogen, die derzeitige Wirtschafts- und Be-
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triebswirklichkeit wird als prinzipiell unproblematisch und nicht verbesserungsfähig dargestellt. 5.5.1.4
Ergebnisse der wirtschaftsdidaktischen Analysen von Gerdsmeier Die Analysen von Gerdsmeier (vgl. Gerdsmeier 1989; Gerdsmeier 1990) belegen die kaum abgebauten Defizite der Wirtschaftslehre erneut. Seine Überlegungen sind fiir unseren Untersuchungsgegenstand von besonderer Bedeutung, weil der Autor die wirtschaftsdidaktische Diskussion über die Analyse der fachlichen Besonderheiten der Disziplin voranzutreiben versucht. Die wirtschaftsdidaktische Diskussion ist in der Tat von einer "Hypostasierung des Methodischen" gekennzeichnet: unterrichtliche Handhabbarkeit und nicht didaktischer Sinn steuert unterrichtliche "Innovationen". Nicht die Überwindung der am Gegenstand analysierten Strukturprobleme (z.B. ein Übermaß an klassifikatorischem Wissen) beherrschen die fachdidaktischen Erörterungen, sondern die methodische Variation (Film statt Fall, Karikatur am Anfang statt informierender Unterrichtseinstieg, Handlungsorientierung statt Wissenschaftsorientierung usw.). Nur die Unterrichtsgegenstände und die Rolle des Lehrers als Gestalter der Unterrichtsgegenstände bleiben davon unberührt. Da aber die Fachdidaktik (vgl. Gerdsmeier 1990, S. 54) nicht in der Lage ist, die Präskription unterrichtlichen Handelns in Form von Rezepten und Techniken zu legitimieren, schlägt Gerdsmeier die begründete Abwertung und Aussonderung vorhandener, aber ungeeigneter Handlungsmuster (etwa die in der Wirtschaftslehre vielfache Ausrichtung der stofflichen Routen am Synoptischen) vor, so daß am Ende ein vereinfachtes wirtschaftsdidaktisches Handlungsfeld verbleibt. Mit den von ihm analysierten "handwerklichen Fehlern" oder indiskutablen Vorgehensweisen im Wirtschaftslehreunterricht werden Instrumente zur Aussonderung und Vereinfachung vorgeschlagen. Wer sie beachtet - und das gilt auch für eine arbeitsorientierte Wirtschaftslehre - steht - so die Annahme - auf einem fachdidaktisch einigermaßen solidem Boden. Das setzt natürlich eine Akzeptanz einiger begründeter Normen voraus (als für uns wichtigste: Verstehendes Lernen als Vorgang der Differenzierung bereits aufgebauter kognitiver Strukturen, was die Kultivierung des beim Lernenden Vorfmdlichen erfordert). Wir wollen uns an dieser Stelle mit der Hilfskonstruktion der handwerklichen Fehler - wie sie Gerdsmeier (vgl. Gerdsmeier 1990, S. 45) erörtert - zufriedengeben, weil sie in vielfacher Hinsicht mit den sehr viel älteren Er-
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gebnissen der Untersuchungen von Reetz/Witt und Krumm korrespondieren und sie detaillieren, so daß wir uns in einem vergleichbaren Referenzrahmen bewegen. Fehler 1: Der Verzicht auf eine übergreifende und dem Lernenden nachvollziehbare Fragestellung. Gemeint ist damit eine Fragestellung, die eine Stunde und mehr überdauert, auf deren Lösung hingearbeitet wird, auf die hin Informationen beschafft, gesichtet und beurteilt werden. Diese übergreifende Fragestellung vermag bei den Lernenden in bezug auf ihr Vorwissen kognitive Dissonanzen auszulösen und stellt eine Richtschnur dar, an der sich ihr kognitives Konstruieren ausrichten könnte. Wer auf diese Fragestellung verzichtet, findet sich auf den ausgetretenen stofflichen Routen wieder. Beispiel: Kein Wirtschaftslehrebuch fragt, warum den Unternehmen überhaupt eine vorgestanzte Rechtsform aufgenötigt wird, wo doch das Prinzip der Vertragsfreiheit gilt, aber es wimmelt von ungefragten Antworten etwa über das Mindestkapital der GmbH usw. Fehler 2: Informationserweiterung über die fragend-entwickelnde Methode. Hierunter wird ein Verfahren kritisiert, bei dem der Lehrende die ihm vorschwebende stoffliche Route in zahlreiche kleine Schritte zerlegt, die jeweils durch eine Lehrerfrage eingeleitet und durch eine passende Schülerantwort abgeschlossen werden. Hierzu gibt es viele Einwände: Die Schüler müssen die Antwort raten, der wissende Lehrer fragt die unwissenden Schüler, die Fragen des Lehrers sind unvorhersehbar, weil sie der geheimen Route des Lehrers folgen, passive Rezeption steht der scheinbaren Schüleraktivität zum Trotz wirksam im Hintergrund. Fehler 3: Die Ausrichtung der stofflichen Routen am Synoptischen. Stoffe neigen dazu, in ihren momentanen Formen zu erstarren. Lernen hat aber die Aufgabe, das etablierte System der bewährten Befunde wie das der subjektiven Vor-Urteile wieder fragwürdig zu machen und zu verflüssigen. Hierzu stellt die übergreifende Fragestellung eine wichtige Bedingung dar. "Dem Verflüssigen, dem Frühling, entwächst die Produktivität des Sommers ... (und) nichts
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spricht gegen ein herbstliches Streben, geschaffene Fülle am Ende zu bergen ... Nichts spricht dagegen, die Fülle in den Scheuern zu ordnen und in Verzeichnissen festzuhalten" (vgl. Gerdsmeier 1990, S. 49). Bei der Wissensproduktion nennen wir die Verzeichnisse Synopsen. Die Didaktik des Synoptischen denkt aber vom Ende her, kann nicht verflüssigen, sie kramt in Verzeichnissen. Die Unterrichte in den beruflichen Schulen, ihre Schulbücher und Lehrpläne folgen überwiegend der Didaktik des Synoptischen (Klassifikationen, Spiegelstrichauflistungen, Vor- und Nachteilsauflistungen, willkürliche Beziehungsmuster, Unterscheiden auf Vorrat). Fehler 4: Das der Sache fremde Stimmigmachen und Herausputzen. Hierunter ist angesichts der erstarrten stofflichen Strukturen und ihrer synoptischen Muster der "rettende" Zugriff auf methodische Oberflächenstrukturen zu verstehen, mit denen das Interesse der Schüler gewonnen werden soll. Aufhänger und methodische Gags, die nur zur tristen Unterrichtssituation, nicht aber zum Unterrichtsgegenstand in einer nachvollziehbaren Beziehung stehen, sollen die dürre Kost aufbessern. Hierbei handelt es sich im übrigen um einen massiven Kritikpunkt an der derzeitigen wirtschaftsdidaktischen Diskussion, die vielfach Didaktik und Methodik miteinander gleichgesetzt (vgl. Czycholl/Ebner 1989). Fehler 5: Die zu geringe Beachtung der subjektiven Vor-Urteile. Nicht nur die Unterrichtsgegenstände, sondern auch die kognitiven Strukturen der Schüler müssen verflüssigt werden. Der Fehler ist deswegen so gravierend, weil er das Fehlurteil enthält, daß im Unterricht durch die Inhaltsversion der Lehrpläne und Lehrbücher die schon bestehenden (naiven) Strukturen im Schüler umstandslos wie auf einer Diskette neu überschrieben werden könnten. Es reicht aber nicht aus, nur von einer grobschlächtigen Vorstellung von Schülererfahrungen auszugehen. Vielmehr ist es notwendig, die kognitiven Schemata der Schüler im Unterricht tatsächlich kennenzulernen und zu erkunden, um welche Schemata es sich handelt. Gerdsmeier wirft hierzu eine ganze Reihe von Fragen auf: Liegen den Leistungen komplexe oder einfache Schemata zugrunde? Sind die (meist) einfachen Schemata inhaltlich völlig fixiert, enthalten sie bei inhaltlicher Fixierung auch Leerstellen, die ad hoc gefüllt werden, sind die Schemata nur formal fixiert - etwa in Form von Heuristiken -, mit
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
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deren Hilfe kognitive Leistungen im Bedarfsfall generiert werden, sind es regelgebundene Schemata (z.B. Kalküle) oder szenische Schemata ...? Werden die Schemata von den Subjekten rigide gehandhabt und energisch verteidigt ... Sind sie aus wissenschaftsbestimmter oder pragmatischer Sicht verbesserungsfähig und -bedürftig. An welche Voraussetzungen sind solche Verbesserungen gebunden und welche Erfolgsaussichten bestehen? Nur wer als Lehrender die Schemata beachtet, wird bei den Schülern Lernzuwächse erreichen, die diese als subjektiv bedeutsam einstufen können. Fehler 6: Die unzureichende Kenntnis des zu verhandelnden Gegenstandes oder: Die Gleichsetzung des Gegenstandes mit einem Thema. Wer als Lehrender von einem Gegenstand nicht vielmehr kennt als die stoffliche Route in den Schulbüchern oder in der studentischen Einfuhrungsliteratur, kann nur unmündig den Ausschilderungen der Lehrpläne und den erstarrten Mustern in den Medien folgen. Nur wer den Gegenstand überblickt, stößt auf das Frag-Würdige. Beispiel: Warum bestehen Standard-Routen beim Gegenstand "Zölle" nur aus einem Definitionsversuch (steuerähnliche Abgaben bei grenzüberschreitenden Waren), einer Klassifikation nach Zollarten und vielleicht noch einer Zusammenstellung der am Zollamt vorzulegenden Papiere? Soll man damit verstehen, warum der europäische Binnenmarkt entsteht, begreift man, warum und wann sich Zölle in den Staaten so universell durchgesetzt haben, welche allgemeinen sozialen und politischen Muster sich dabei zeigen. Begreift man die zahllosen Schwierigkeiten und Verwerfungen bei den Versuchen, internationale Zollsysteme zu verändern oder zu beseitigen? Wem diese Fragen zu weit gehen, der verkennt, daß jeder Gegenstand zahllose Themen hat. Kein Lehrplan erzwingt die Verkürzung der Zölle zu einem institutionenkundlichen Gegenstand - und sonst zu keinem. Ebensowenig ist der Betriebsrat ein rechtlicher Gegenstand, Preisbildung ein modellökonomischer oder Buchführung ein verfahrentechnischer Vorgang.
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
5.5.1.5
Zusammenfassung der wichtigsten Konsequenzen für einen arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterricht Die von uns ausgewählten Analysen zum Wirtschaftslehreunterricht zeigen seinen problematischen Zustand. Eine umstandslose Übertragung der Wirtschaftslehre in den Referenzrahmen einer arbeitsorientierten Bildung ist nicht möglich und scheitert schon allein an der Tatsache, daß die erstarrten stofflichen Routen einen geringen Analyse- und Erklärungswert gegenüber den Handlungs- und Bedingungszusammenhängen der Arbeit haben. Gerade wenn es darum geht, die den Arbeitstätigkeiten zugrundeliegenden technischen, ökonomischen, sozialen, ökologischen Bedingungen und Grundstrukturen zu erfassen, dann sind dazu die in der Wirtschaftslehre akkumulierten und tradierten Wissensbestände wenig geeignet. Dazu - das haben die Analysen gezeigt - fehlen der Wirtschaftslehre die übergreifenden Fragestellungen, die ökonomische, soziale und ökologische Sachverhalte miteinander verknüpfen. Und selbst im Ökonomischen stehen institutionenkundliche, synoptische und verfahrenstechnische Aspekte, aber auch thematische Verengungen so sehr im Vordergrund, daß damit keine aussichtsreichen kognitiven Muster für die Erklärung wirtschaftlicher Vorgänge und zur Interpretation der eigenen Arbeitsrolle zur Verfügung stehen. So lassen sich keine Verbindungen von stofflichen Strukturen und kognitiven Handlungsschemata bei den Lernenden herstellen. Aber auch der zweite Hauptbereich arbeitsorientierter Bildung - allgemeine Arbeitsqualifikationen vorzubereiten oder zu vermitteln - kann nur wenig Beispielhaftes aus der Wirtschaftslehre gewinnen. Die enge Fixierung der Wirtschaftslehre auf eine empirisch oft nicht mehr nachvollziehbare berufliche und betriebliche Funktionsrolle und ihre fachspezifischen Kenntnisse läßt bisher wenig Raum für die Vermittlung von Diagnose- und Planungsföhigkeit, Erfassen von Zusammenhängen, Kooperations- und Konfliktfähigkeit. Werden solche Ziele in der Wirtschaftslehre verfolgt, so wird das weniger über die notwendige Revision der Lerninhalte, sondern weit eher über methodische Varianten angestrebt. Übungsbüros, Leittexte, Planspiele sind lediglich neue unterrichtliche Szenarien, die sich der alten stofflichen Pfade bedienen - ein natürlich untauglicher Versuch. Neben der Notwendigkeit, daß hierfür die Unterrichtsgegenstände viel facettenreicher und problemorientierter behandelt und aus ihren thematischen Verengungen herausgelöst werden müs-
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
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sen, müssen aber auch die Erfahrungen der Schüler im Sinne vorhandener kognitiver Strukturen aufgenommen werden. Für die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre, die ihre Hauptfelder in der vorberuflichen Bildung (Elementarbildung, Arbeitslehre und Fachoberschule) hat und die sich als Ergänzung zum engen Funktionsrollenbezug in der Wirtschaftslehre der beruflichen Schulen versteht, besitzt deshalb neben der Arbeitsrolle die komplementäre Rolle des Konsumenten inhaltlich und lernpsychologisch ein hohes Gewicht. Die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre stellt zwar die Arbeit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie formuliert ihre erkenntnisleitende Frage aber in einer nicht-traditionellen, wenn wir so wollen, bescheideneren Perspektive. Es wird nicht versucht, den klassischen Kapitalbegriff der Wirtschaftswissenschaften durch einen ebenso umfassend gedachten Arbeitsbegriff zu ersetzen. Die hierin liegende Konkurrenz - was die letztlich ausschlaggebende Größe in der Wirtschaft sei - bleibt einer problematischen Gegensätzlichkeit verhaftet und fixiert die Wahrnehmung auf duale Muster. In diesem Horizont werden alle wirtschaftlichen Phänomene gedeutet: Rationalisierung, Produktivität, Kosten, Leistungen usw. "Dann läuft eine ganze Welt der Meinungsbildung und der Informationsverarbeitung unter falschem Code" (Luhmann 1988, S. 152). Diese Dualität wird in der arbeitsorientierten Wirtschaftslehre nicht aufgenommen. Natürlich spielen Arbeit und Kapital in der Wirtschaft wie eh und je eine erhebliche Rolle, ordnen sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände vor diesem Hintergrund. Auch die Wirtschaftslehre wurde daraufhin didaktisch analysiert. Reetz/Witt stellten in ihrer zitierten Untersuchung fest, daß der Begriff Arbeitgeber bei weitem häufiger auftauchte als der des Arbeitnehmers. Sie sahen darin einen Beleg für die einseitige, wenn auch hinter einer scheinbar sachneutralen Darstellung verborgene Interessensorientierung der untersuchten Schulbücher. Das mag auch so sein. Zum Risiko wird diese Betrachtungsweise aber dann, wenn entweder im Kapital oder in der Arbeit oder im Gegensatz beider Begriffe der Schlüssel zur universalen Erklärung wirtschaftlicher Vorgänge gesehen wird. Für die Wirtschaftslehre liegt in einem solchen Erklärungsansatz eine Gefahr: die Fixierung auf Wirtschaftsbetriebe, als der modernen Form der Arbeitsorganisation und damit auf berufliche Tätigkeiten: auf Funktionsrollen. Haushalte und Hausfrauen, Haus und Garten, Stadt und Land, Familien und Kinder, Staat und Wirtschaftsbürger,
462
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Arbeit und Arbeitslosigkeit spielen daher eine marginale oder gar keine Rolle. Aber auch das Komplement leistungsbezogener Vorgänge - Bedarf und Konsum - gewinnt keine eigenständige Funktion. Dabei wären mit der Konsumentenrolle, die bewußt einen Perspektivenwechsel im Vergleich zur Funktionsrolle beinhaltet, wichtige lern- und handlungspsychologische Möglichkeiten verbunden. Gerade die Konsumentenrolle als eine alle umfassende Inklusionsrolle - vom Kind bis zum Rentner, vom Arbeiter bis zum Manager - umfaßt eine Fülle von wirtschaftlichen Handlungs- und Entscheidungssituationen: Soll eine Wohnung erworben oder gemietet werden, soll ein Auto gekauft oder geleast werden, soll bar gezahlt werden oder in Raten, ist studieren günstiger als eine berufliche Erstausbildung. Hier kann auf szenisches Wissen und Handlungsschemata zurückgegriffen werden, die für die lernpsychologische Seite der Wirtschaftsdidaktik von elementarer Bedeutung sind. Dabei müssen wir uns aus der Vorstellung lösen, daß die Konsumentenrolle ein der Berufsrolle nachgeordnetes differenziertes Erwartungs- und Verhaltensschema ist. Allein schon die Tatsache, daß in einer funktionalen Wirtschaft Konsum so wichtig ist wie Produktion, der Arbeitende als Konsument und als Produzierender von gleicher Bedeutung ist, Gehälter nicht nur Kosten, sondern auch die Basis für Konsumausgaben und Betriebseinnahmen sind, zeigt, daß sich in der Konsumentenrolle ein ähnlich umfassendes wirtschaftliches Spektrum wie in der Berufsrolle abzeichnet. Die Untersuchungen von Reetz/Witt und Krumm bestätigen weiter die Vermutungen, daß die Lerninhalte des Wirtschaftslehreunterrichts sich an einem eingeengten funktionalen Aspekt der Arbeitsrolle orientieren und daß sie sich von der ökonomischen Realität (sowohl einzel- wie gesamtwirtschaftlich, als auch produktions- wie reproduktionsorientiert zu sehen) losgelöst haben; einer Realität, die doch ein kontingentes Gefüge aus kommunikativen, fließenden, grundsätzlich ungesicherten Akten ist und die im Gegensatz dazu in der Wirtschaftslehre zu einem starren, zeitlosen Begriffsgerüst geronnen ist. Wie tief das begriffliche Gefängnis ist, wird am besten durch die Analysen von Gerdsmeier belegt. Mit einer Sozialperspektive, die durch Unternehmerorientierung und Muster enger funktionaler Anpassung gekennzeichnet ist und die im Widerspruch zu den Zielsetzungen der neuen Ausbildungsordnungen steht ("selbständiges Planen, Entscheiden und Kontrollieren"),
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
463
korrespondiert eine Sachperspektive, in der terminologisches, klassifikatorisches Wissen und Verfahrenstechniken vorherrschen, deren fremde, fertige Strukturen von den Schülern als zerfaserte Informationen wahrgenommen werden. Ihnen ist keine analytische oder prognostische Kraft inhärent, um eigene sachliche und soziale Positionen zu reflektieren. Ein besonders schwerwiegendes Problem resultiert deswegen aus den unklaren aussagenlogischen Positionen in der Wirtschaftslehre. Das vielzitierte Beispiel hierfür, daß die Wirtschaft der Bedarfsdeckung diene, macht zunächst das spezifische Problem deutlich: Ganze Schülergenerationen haben diese Aussage im Wirtschaftslehreunterricht als Dogma kennengelernt, undiskutiert, gewichtig, nicht hinterfragbar, als Ausgangs- und Endpunkt allen Wirtschaftens. Ob es sich hierbei um eine präskriptive Aussage handelt (Wirtschaft soll der Bedarfsdeckung dienen) oder um eine empirische (Wirtschaft dient in der Wirklichkeit der Bedarfsdekkung) oder um eine theoretische Aussage (hier handelt es sich um die basale Operation des Wirtschaftssystems) oder aber um eine definitorische (Wirtschaft kann als bedarfsdeckende Tätigkeit definiert werden) wird in den Wirtschaftslehrebüchern kaum einmal deutlich. Im Unterricht fuhrt die Aussagenkonfusion zwangsläufig zur Desorientierung der Schüler. Vielen Schülern ist es vermutlich wie uns ergangen: Während wir uns im Unterricht in begrifflichen Zusammenhängen, in deduktiven Ableitungssträngen zwischen Ober- und Unterbegriffen, zwischen Modellprämissen und Schlußfolgerungen bewegten, vermeinten wir, uns mit Sachverhalten der betrieblichen Praxis zu beschäftigen. Da sich aber die Unterrichtsinhalte - was ja nicht verwunderlich war - mit der betrieblichen Ausbildungs- und Arbeitspraxis nicht in Deckung bringen ließen, entstand eine massive Abwehrhaltung gegenüber dem Unterricht. Die einfache Notwendigkeit, daß sich Lernen in einem eindeutigen Referenzrahmen bewegen muß, ist hier auf problematische Weise verletzt worden, mit langanhaltenden negativen Folgen: Wirtschaftslehre mußte man auswendig lernen, nutzen kann man sie nicht. Sachkompetenz als Fähigkeit zu theoriegeleitetem Handeln in der Praxis setzt jedoch Kriterien zur Beobachtung der wirtschaftlichen Realität voraus. Bei der Beobachtung handelt es sich um ein kompliziertes Problem, zumal Beobachten auf der operativen Ebene naiv verfährt, alltäglich und immer schon vorhanden ist. Mit anderen
464
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Worten, daß es in Bezug auf die eigene Referenz unkritisch vorgeht. Diese Beobachtungen von Schülern, die zu vielen Sichtweisen und verschiedenen subjektiven wirtschaftlichen Realitäten fuhren, zu reflektieren und durch neue Kriterien 201 erweitern (= "andere Unterscheidungen" im Sinne der Systemtheorie) oder auch die theoretischen Aussagen der Ökonomie als die Beobachtung von Beobachtern darzustellen, ist eine wichtige Aufgabe des Wirtschaftslehreunterrichts. Durch sorgfältige Erklärungen, was mit Begriffen, Kalkülen und Modellen in bezug auf die betriebliche und wirtschaftliche Wirklichkeit beobachtet werden kann - und das ist eine ganz elementare Aufgabe im Unterricht -, muß der Wert der Wirtschaftslehre und ihrer Sichtweise erhärtet werden. Wie überhaupt deutlich werden muß, daß die Wirtschaft kein säuberlich parzelliertes, räumliches Gebilde darstellt, sondern aus auf Anschluß angewiesenen Kommunikationen besteht. Eine so grundsätzlich veränderte Sichtweise von Wirtschaft eröffnet den Weg zu einem neuen fachdidaktischen Denken. Unterricht als kommunikatives Handeln wird dann nicht als ein den Unterrichtsgegenständen Äußerliches erlebt. Darüber hinaus sind zusammenhangstiftende Erklärungsmuster und Problemlösungsverfahren erforderlich, die sich nicht nur an der Funktionsrolle und der Arbeitnehmerrolle im Betrieb (Produktionsrollen), sondern auch an der Vermittlung von Qualifikationen für die Rollen des privaten Konsumenten und des Verkäufers an Arbeitskraft ausrichten (Reproduktionsrollen). Es muß deutlich werden, daß es für die Beobachtung und Analyse wirtschaftlicher Kommunikationen eine riskante Verengung darstellt, wenn verschwiegen wird, daß die Unternehmen heute durch die internationale Konkurrenz dazu gezwungen werden, alle Loyalität für die Stadt, die Region und das Land abzulegen (vgl. P. Kennedy 1993, S. 82), und wir können hinzufügen: auch für die Arbeitnehmer. Die enge Verflechtung von Produktions- und Reproduktionsrollen wird zunehmend durch den Gegensatz von globaler Beweglichkeit von Unternehmen und der ihnen inhärenten Produktionsrollen und der Seßhaftigkeit von Reproduktionsrollen zu einem spannungsreichen Gegensatz. Fragen der internationalen Arbeitsteilung werden damit zu einem zentralen Unterrichtsgegenstand in einem komplexen, vernetzten, empirisch veränderlichen Feld, weit mehr als eine Modellprämisse zur Erklärung von Arbeitsproduktivität. Auch hier erweist sich das Konzept der unterschiedlichen Rollen als eine aussichtsreiche Heuristik zu Bestimmung von Unterrichtsgegenständen.
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
465
Durch die Untersuchungen läßt sich das wirtschaftsdidaktische Handlungsfeld näher bestimmen. Es ist generell als eine entschiedene Hinwendung zu den Unterrichtsgegenständen und der ihnen innewohnenden strukturellen Probleme ("Sachanalyse") und durch die Abkehr von bloßen methodischen Oberflächenphänomenen gekennzeichnet. Im einzelnen ergibt sich: 1. Reduzierung der Aussagen über betriebliche Verfahrenstechniken zugunsten allgemeiner und fundamentaler volks- und betriebswirtschaftlicher Probleme; 2. Problematisierung der betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Bedingungen, Ersatz ihrer dogmatischen Darstellung durch kritische, relativierende Bearbeitung: einerseits Berücksichtigung von wissenschaftlichen Erkenntnismethoden, andererseits Aufklärung über die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse von Interessenslagen, gesellschaftlicher Evolution und Machtverhältnissen, Beschäftigung mit realisierbaren Alternativen; 3. Reduzierung der Belehrung zugunsten kritischer Diskussion, Bestimmung des Unterrichts durch Probleme statt durch "Tatsachen", Reduzierung von Beschreibungen (Begriffsaufzählungen, Aufzählung von Bestandteilen, Arten, Gliederungen) zugunsten von Erklärungen und Aussagen über sozioökonomische Zusammenhänge und Probleme, entschiedene Zuwendung zur wirtschaftlichen Realität; 4. Übungen im methodischen Analysieren, Interpretieren, rationalem Planen und Diskutieren, im Lösen ökonomischer Probleme und im kritischen Urteilen statt reproduktivem, rezeptivem Lernen von (zerfaserten) Informationen, konkreten Einzelheiten und bloßen Fakten; 5. Gestaltung des Unterrichts als ein Feld kognitiven Konstruierens durch die Entwicklung übergreifender, d.h. einfacher und allgemeiner Fragestellungen, die einen bis zum Ziel durchgehenden Lernweg der zunehmenden Differenzierung versprechen, Verlassen der bisherigen stofflichen Routen; 6. Verflüssigung des etablierten Systems der Befunde in der Wirtschaftslehre, Aufbau des Wirtschaftslehreunterrichts vom Anfang her, Abkehr von einer Didaktik des Synoptischen, des Unterrichts vom Ende, von den "Verzeichnissen" her; 7. Aufbrechen der thematischen Reduzierung von Unterrichtsgegenständen wie sie sich in den stofflichen Routen der Wirtschaftslehre niederschlagen und die willkürlich Verkürzun-
466
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
gen festschreiben, wie Preisbildung als modellökonomischen Gegenstand, Buchführung als verfahrenstechnischen; 8. stärkere Beachtung der subjektiven Vor-Urteile, der kognitiven Strukturen der Schüler, die ebenso wie die Unterrichtsgegenstände "verflüssigt" werden müssen. Hiermit ist für die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre ein reiches didaktisches Feld umrissen, das den Rahmen für einen grundlegend revidierten Unterricht und neue Lernmaterialien bildet. Wir wenden uns nunmehr der zweiten Seite unserer Verfahrensstrategie zu: dem Versuch einer operationalen Beschreibung der Arbeitsorientierung.
5.5.2
Bereiche eines arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts
Arbeitsorientierte Bildung sollte auf die Arbeitswelt vorbereiten und die Grundstrukturen der Arbeit in den Vordergrund stellen. In der Wirtschaftslehre sind das wirtschaftsberufliche Arbeitssituationen und das komplementäre Feld des Ge- und Verbrauchs von wirtschaftlichen Leistungen sowie das Arbeiten in Organisationen (Betrieben). Auf diese drei Verwendungssituationen wirtschaftlicher Kenntnisse und Fähigkeiten schränken wir unsere Überlegungen ein. Wie wir angedeutet haben, ist das Spektrum der Verwendungssituationen ungleich größer. Aber auch diese Verwendungssituationen können mit der gleichen Heuristik erschlossen werden. Wie es in den Sozialwissenschaften üblich ist, werden wir soziale Situationen durch die inhärenten Erwartungen sozialer Systeme kennzeichnen und zu Rollen bündeln. Die Arbeits- und Organisationsrollen als kommunikative Konstrukte dienen dazu, am menschlichen Arbeitsvermögen als einer Umweltbedingung der Wirtschaft zu partizipieren und es hochselektiv im formulierten Rollenkontext zu nutzen. Die Wirtschaft macht sich dabei nur in diesem Rahmen von dem sehr viel komplexeren menschlichen Arbeitspotential abhängig. Einen ähnlich selektiven Zugriff der Wirtschaft stellen wir im Bereich der Konsumentenrollen fest. Menschliche Bedürfnisse sind nur insoweit für die Wirtschaft relevante Umweltbedingung, wie damit Zahlungsfähigkeit regeneriert werden kann. Mit diesem Rollenverständnis, das ausdrücklich die Spannung zwischen hochselektiver Roilenzuschreibung und
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
467
komplexem menschlichen Arbeitsvermögen und Bedürfnisspektrum einschließt - was aber auch im übrigen ausschließt, daß Menschen von den sozialen Systemen totalitär vereinnahmt werden können definieren wir die Funktionsrolle, die Arbeitnehmerrolle und die Konsumentenrolle als die hier relevanten Rollen, mit denen wir die Kriterien für die Auswahl stofflicher und szenischer Routen für die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre gewinnen wollen. 5.5.2.1 Prämissen Die schulische Unterrichtssituation als Bezugspunkt unserer Überlegungen läßt sich durch zwei Aspekte kennzeichnen: 1. Der Schüler lernt bestimmte Inhalte, die seine Qualifikation als spätere Arbeitskraft ausmachen. Diese Fähigkeiten erwirbt er in Kommunikationsprozessen mit dem Lehrpersonal und seinen Mitschülern. Seine Tätigkeit, also die Teilnahme am Lernprozeß läßt sich als Arbeit mit individuellen (Aufbau eigener Qualifikationen) und gesellschaftlichen Bezügen (Erwerb einer Teilqualifikation innerhalb einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft) beschreiben. Der Erwerb dieser Qualifikationen ist an Interaktionsprozesse gebunden, in denen Lernen als Arbeit verstanden werden kann. Der Ort der Handlung ist die Schule als Organisationseinheit im Bildungssystem, deren Intention sich in einem erziehenden Unterricht ausdrückt. Das psychische (gedankliche) und organische (körperliche) Arbeitsvermögen des einzelnen wird nach den sozialen Bedingungen des Bildungssystems (wie es als soziales System Qualifizierung und Sozialisation versteht) ausgeprägt, wobei es sich gegenüber den Fähigkeiten des einzelnen selektiv verhält, wie es selbst durch Selektion (positive Sanktionierung von gesellschaftlich erwünschten sachlichen und sozialen Leistungen) seine Funktion und Leistung insgesamt erfüllt. 2. Die zu vermittelnden Inhalte beziehen sich auf eine Realität (Arbeitswelt, Wirtschaftssystem), die in der Schule prinzipiell nicht simulierbar ist, und in der die Arbeit hochselektiv nur als Mittel der Sicherung zukünftiger Zahlungsfähigkeit von Unternehmen eingesetzt wird. Die Verbindung zu dieser Realität kann nur über das Medium "Sprache" hergestellt werden. Sie muß als strukturelle Kopplung, nicht jedoch als simple In- und Outputbeziehung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen verstanden werden, die füreinander jeweils relevante Umwelt sind. Lernen heißt hier Beobachtung des Wirtschaftssystems und sprachliche Auseinandersetzung mit der Arbeit und auf sie bezogene Rollenanforderun-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
gen. Es ist schon deswegen nicht möglich, eine direkte Verbindung zwischen der Erzeugung von Arbeitsqualifikationen im Bildungssystem und ihrer Verwendung im Wirtschaftssystem - also zwischen Systemen - herzustellen. Da Arbeit aber nicht einmal fähig ist, Zahlungsfähigkeit unmittelbar zu regenerieren und damit um ihrer selbst willen rekrutriert zu werden, sondern nur auf dem Umweg über die Kombination mit anderen Produktionsfaktoren, ist sie neben ihrer im Vergleich zum Bildungssystem andersartigen Codierung im Wirtschaftssystem auch von den Leistungsprogrammen und ihren Umsetzungsstrategien in der Wirtschaft komplementär oder substitutiv abhängig. Sie ist daher kein Potential in der Wirtschaft, das seine Bedeutung allein aus sich heraus gewinnt. Die Wirtschaftslehre muß sich also grundsätzlich ihrer Schnittstellenfunktion bewußt werden. Sie ist Unterrichtsfach und damit Teil des Bildungssystems und sie bezieht sich auf wirtschaftliche Vorgänge und ist auf eine mittelbare Weise abhängig von den Funktionsmustern des Wirtschaftssystems. Wirtschaftslehre ist daher ein soziales Konstrukt, das aus Kommunikationselementen besteht, die aber außerhalb dieser einen grundsätzlichen Gemeinsamkeit Spezialsemantiken unterliegt, die ganz unterschiedlichen Operationsweisen folgen und die daher nicht umstandslos über Systemgrenzen hinweg diskutiert werden können. Schließlich wird die Wirtschaftslehre im Unterricht Schülern vermittelt, die sich als psychische Systeme ihre Gedanken machen. Gedanken und Kommunikationen als psychische und soziale Konstrukte gehen nach den Überlegungen der Systemtheorie auch nicht unmittelbar ineinander über. Das ist nicht nur eine weitere systemische Bruchstelle, sondern auch eine lernpsychologische Herausforderung. Die Wirtschaftslehre steht nicht nur vor der Schwierigkeit, unterschiedliche soziale Systeme mit ihren Spezialsemantiken zu berücksichtigen, sondern mit ihren Überlegungen Schüler zu erreichen, die die Erfahrung machen (müssen), daß sich ihre Gedanken und ihr reiches Arbeitspotential an wirtschaftliche und unterrichtliche Kommunikationen strukturell ankoppeln müssen. Sie müssen hier in spezialisierten Rollen agieren und unter Nutzung wirtschaftlicher und unterrichtlicher Kommunikation über wirtschaftliche Sachverhalte kommunizieren. Dabei wird die Macht der Kommunikation über die eigenen Gedanken und Vorstellungen schnell erfahren und zwar um so rigoroser, je weniger die subjektiven Vor-/Urteile der Schüler berücksichtigt werden.
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
469
5.5.2.2
Produktions- und Reproduktionsrollen als Kriterien der Arbeitsorientierung * Rollenverteilung Wie dargestellt, vermittelt sich Arbeit in der Schule nicht nur in doppelter Weise: Als unterrichtlicher Handlungszusammenhang und als sprachlich vermitteltes Geschehen über die Arbeit im Wirtschaftssystem, sondern wird auch in Form von spezifischen Rollenverteilungen erfahren: (1) Im Arbeitsort "Schule" in einer Rollenverteilung zwischen Lehrern/Schülern und den Schülern untereinander, deren Ausprägung durch die Lernorganisation beeinflußt wird. Wir klammern an dieser Stelle die Überlegungen zur Arbeit im Bildungssystem aus und weisen hier nur darauf hin, daß es für die Funktions- und Leistungsbestimmung der Schule wie auch ihrer Selbstreflektion inhaltlich-strukturell wie auch methodisch nützlich wäre, Schülerrollen, Lehrerrollen und Rollen in unterrichtlichen Situationen (Interaktionsrollen) sowie Mitgliedsrollen in der Organisation "Schule" im Kontext der Arbeitsorientierung zu bearbeiten. (2) Im Bereich "Arbeitswelt" ist diese Rollenverteilung durch die Berufs- und Lebensperspektive der Schüler, ihre zukünftige Rolle als Arbeitnehmer, im wesentlichen vorherbestimmt. Im Hinblick darauf müssen Fähigkeiten vermittelt werden, die eine interessengeleitete Auffüllung und Interpretation dieser Rollen ermöglichen. Die funktional notwendige Selbständigkeit des Bildungssystems gegenüber dem Wirtschaftssystem gibt dafür die notwendigen Freiheitsgrade her. Die globale Bestimmung der Arbeitnehmerrolle bedarf einer weiteren Konkretisierung, da sich erst über die Bestimmung von relevanten Lebensituationen ein spezifisches Rollengefüge mit unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen ergibt, das von Schulform zu Schulform unterschiedlich gewichtet werden muß. * Funktionsrolle Diese Rolle umfaßt die spezifischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit unerläßlich sind. Das ist sozusagen, die eine, die traditionelle Seite der Arbeit, bei der man sich darauf konzentriert "seine Arbeit zu machen". Für die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre geht es in entscheidendem Maße darum, die in der betrieblichen Funktionsrolle kondensierte wirtschaftsspezifische Form der Arbeit zu beobachten und zu beschreiben. Für die Arbeit ist das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem das zweifellos wichtigste System, aber dieses System ist
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
eben nur an einem bestimmten Bereich des Arbeitsvermögens interessiert und unterwirft diesen für sich reklamierten Ausschnitt einer weiteren Differenzierung durch Arbeitsteilung und -Zerlegung, um damit eine systeminterne hohe Eigenkomplexität erst möglich zu machen. Wir stehen damit vor der Tatsache, daß die mit der wirtschaftlich kommunizierten Arbeit in Kombination mit anderen Produktionsfaktoren erzielten differenzierten Leistungen, wirtschaftlich gesehen höchst komplexe Arbeitsleistungen darstellen, von denen aber "nur ein geringer Teil ... innerhalb der Identität einer Person gleichsam >integral< verwirklicht werden kann" (Baecker 1988, S. 175). Die wirtschaftliche Engführung der Arbeit und ihre Teilung heißt allerdings nicht, daß diese Arbeit tendenziell anforderungsarm sein muß oder anreizärmer wird - dem widerspricht der trotz Arbeitsteilung und -Zerlegung steigende Wert qualifizierter Arbeit in einer von Technik und Wissenschaft bestimmten Produktions- und Dienstleistungsweise augenscheinlich. Die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre muß im Kontext der Funktionsrolle daher die Veränderungen in der betrieblichen Arbeit verdeutlichen, daß es inzwischen "kaum noch einen Arbeitsgang (gibt), der nicht gerade in seinem täglichen Abstimmungsbedarf mit allen anderen Vorgängen verbunden ist. Die Informatisierung der Arbeit ... fördert diese Entwicklung wie kaum eine Technologie zuvor (vgl. Baecker 1993, S. 154). Zweifellos muß die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre die Intellektualisierung der Arbeit, die die Arbeit mehr zu einer Dienstleistung am Kunden, am Produkt, an der Maschine und an der eigenen Organisation macht, als zukünftige Entwicklungstendenz zentral berücksichtigen (vgl. Baecker 1993, S. 157). Beide Tendenzen - Informatisierung und Intellektualisierung der Arbeit - rücken die Anschlußfähigkeit der Arbeit in der betrieblichen Organisation in den Vordergrund. Der jeweilige Funktionsträger ist als Mitglied einer arbeitsteilig ausgerichteten Organisation an andere Organisationsmitglieder gebunden, mit denen er kommunikativ handeln muß. Er ist in viel stärkerem Maße als bisher organisationsspezifischen Anforderungen ausgesetzt. Neben dem Fachwissen als Grundlage dieses Austauschprozesses sind notwendigerweise soziale Fähigkeiten erforderlich, über die dieser Austausch reguliert und aufrechterhalten wird.
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
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* Arbeitnehmerrolle Der Verkauf der Arbeitskraft als Grundlage der individuellen Existenz setzt die Fähigkeit voraus, fremdbestimmt zu arbeiten (bestimmt durch die basalen Operationsmodi des Wirtschaftssystems), aber auch die Fähigkeit, unter der wirtschaftlichen Bestimmung in einer kontingenten Situation Einflußmöglichkeiten und Handlungsspielräume wahrzunehmen. Das schließt die Kenntnis anderer Rollen (z.B. Arbeitgeberrolle, Expertenrolle usw.) ein, um deren immanente Strategien zu antizipieren und eigene Handlungsstrategien entwickeln zu können. Es kommt damit auf die Fähigkeit an, sich im eigenen Interesse flexibel verhalten zu können und Mobilität nicht nur als Reaktion auf "naturwüchsige" Prozesse zu verstehen. Sachkompetenz beinhaltet dabei die Kenntnis und das Verstehen der Zusammenhänge und des Wirkens unterschiedlicher Rollenbefugnisse und Machtausübungsmöglichkeiten. Sozialkompetenz heißt Einfluß nehmen unter Kenntnis der eigenen Position und die Möglichkeit, solidarisches Handeln zum Ausgleich von Machtdiskrepanzen einzusetzen. Sach- und Sozialkompetenz sind als Elemente kommunikativer Kompetenz interpretierbar. * Konsumentenrolle Eine arbeitsorientierte Wirtschaftslehre muß in besonderem Maße die Konsumentenrolle berücksichtigen, also den Handlungsspielraum im haushaltswirtschaftlichen Bereich mit umfassen. Der Konsumtionsbereich ist für den Arbeitnehmer nicht per se ein Bereich, in dem er freie Entscheidungen fällen kann. Auch hier ist er Objekt von Unternehmensstrategien (Marketing- und Verkaufsstrategien), über die er, ähnlich wie im Produktionsbereich, wirtschaftlich instrumentalisiert werden soll. Die arbeitsorientierte Wirtschaftslehre muß auch hier Beobachtungs- und Entscheidungskriterien vermitteln, die die Fähigkeiten einer unabhängigeren Entscheidung, die Entwicklung einer Konsumentensouveränität, fördern. 5.5.2.3
Zur Interdenpendenz von Sach- und Sozialkompetenz im Rollenhandeln Sach- und Sozialkompetenz sind in der derzeitigen didaktischen Diskussion häufig benutzte Kontingenzformeln für die Zielorientierung schulischen Lernens. Entgegen einer nur additiven Zuordnung setzen wir ihr Verhältnis interdependent, wie es für das Handeln in spezifischen Rollen (hier: Funktions-, Arbeitnehmer- und Konsumentenrolle) angemessen ist. Im Rollenhandeln fließen soziale und
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
sachliche Kompetenzen augenscheinlich ineinander. Es ist weiter angebracht, den KompetenzbegrifF nicht isoliert zu verwenden, sondern in Qualitäten des Rollenhandelns zu beschreiben. Im nunmehr folgenden Operationalisierungsschritt wollen wir die Qualitäten des Rollenhandelns zunächst dimensional aufschlüsseln. Die Dimension des Rollenhandelns sind Rollenannahme, Rollenempathie, Rollenambiguität und Rollendistanz (vgl. Krappmann 1975). Diesen Dimensionen werden dann Merkmale zugeordnet, die auf den jeweiligen Ebenen des Rollenhandelns Sozial- und Sachkompetenz beschreiben und aufeinander beziehen. Abb. 1 soll diesen Zusammenhang verdeutlichen (vgl. Abb. 1).
Abb.l:
Dimensionen und Merkmale von Sach- und Sozialkompetenz
Sozialkompetenz Rollenannahme Eine angebotene oder vorhandene Rolle annehmen und akzeptieren
Rollenempathie Die Erwartungen eines Interaktionspartners übernehmen und sich in dessen Rolle hineinversetzen, um seine Handlungen zu antizipieren
Rollenambiguität Die in einer Interaktion nur partiell mögliche Bedürfnisbefriedigung ertragen, unterschiedliche Motivationsstrukturen und widersprüchliche Rollenbeteiligungen bei sich und anderen interpretierend nebeneinander zu dulden Rollendistanz Normen reflektieren, bewerten und interpretieren, um aus Rollenerwartungen auszuwählen, zu negieren, zu interpretieren und zu modifizieren. Eine angenommene Rolle durch andere, verfügbare Rollen interpretieren zu können, um damit die Rollenbeziehungen, die neben der im Augenblick vorherrschenden Rolle existieren, nicht zu gefährden
Sachkompetenz Rollennormen und Erwartungen, die eigenen Bedürfnisse und die Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung kennen; unterschiedliche Rollen und Rollenanforderungsprofile kennen Andere, das eigene Handeln beeinflussende Rollen, ihre Normen und Handlungsmöglichkeiten kennen, die Erwartungen anderer prüfen und sein Anliegen sprachlich angemessen formulieren Den Zusammenhang von Rollenbeziehungen untereinander kennen, Situationen in ihrem Zusammenhang beurteilen und sich sachbezogen mit unterschiedlichen Situationsdefinitionen auseinandersetzen, Lösungsmöglichkeiten kritisch beurteilen Die eigene Rolle, ihre sachlichen Inhalte, ihre Normen und impliziten Erwartungen sowie Handlungsmöglichkeiten kennen, diesen Zusammenhang reflektieren und beurteilen
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Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
Mit diesem Schema haben wir den komplexen Begriff der Arbeitsorientierung einer zusätzlichen begrifflichen Dimensionierung unterzogen. Diese Überlegungen werden nun mit dem Rollenschema der Funktions-, Arbeitnehmer- und Konsumentenrolle zusammengeführt, um fiir den arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterricht eine erste abstrakte Abschätzung möglicher Ziele und Inhaltsbereiche vorzunehmen (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Merkmalsdimensionen der Arbeitsorientierung Funktionsrolle
Rollenannahme
Rollenempathie
Rollenambiguität
Rollendistanz
5.5.2.4
Arbeitnehmerrolle
Konsumentenrolle
A
B
C
Sachkompetenz
A1
B1
C1
Sozialkompetenz
A2
B2
C2
Sachkompetenz
A3
B 3
C 3
Sozialkompetenz
A4
B 4
C 4
Sachkompetenz
A5
B5
C 5
Sozialkompetenz
A6
B6
C 6
Sachkompetenz
A7
B 7
C 7
Sozialkompetenz
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C 8
Zur Intentionalität des arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts * Funktionsrolle A 1 Die eigenen fachlichen Tätigkeitsmerkmale, die fachlichen Anforderungen der Arbeitgeber und der Mitarbeiter kennen. Sachgerechte Anwendung von Kenntnissen und Methoden, Beurteilung ihrer Anwendbarkeit, Fähigkeit zur Interpretation und zum Transfer auf die jeweilige betriebliche Anforderungssituation A2 Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation, Beziehungen über fachliche Inhalte aufbauen und aufrechterhalten. Interpretation des Fachwissens im jeweiligen Situationskontext A3 Beurteilung des eigenen Wissens im Hinblick auf Änderungen der Anforderungsstruktur. Fähigkeit, die Erwartungen anderer in bezug auf die eigenen Fachkenntnisse wahrzunehmen und zu beurteilen,
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
einschätzen dieser Erwartungen und Fähigkeit zur sprachlichen Auseinandersetzung. A4 Kenntnis des Rollengefüges, der Rolleninhalte und der hierarchischen Einordnung des Arbeitsplatzes; beurteilen der unterschiedlichen Funktionen und Kompetenzen; einschätzen der Kooperationsbeziehungen zu den Mitarbeitern und der eigenen Stellung innerhalb der Arbeitsgruppe A5 Fähigkeit, sich mit widersprüchlichen Problemlösungsstrategien und veränderten fachlichen Anforderungen rational auseinanderzusetzen. Die Spannung zwischen der betrieblichen Organisation zu ihrer Aufrechterhaltung und Veränderung als normal anzusehen, Unterschiede zwischen Spezialkenntnissen und allgemeinen organisationspezifischen Anforderungen wahrnehmen und beurteilen A6 Diskrepanzen zwischen Konkurrenz und Kooperation situationsgerecht auflösen können, die Differenz zwischen organisationsspezifischen und persönlichen Zielen bei relativer Bedürnisbefriedigung akzeptieren A7 Sich bei der Änderung der betrieblichen Anforderungen umzustellen und die vorhandenen Fähigkeiten entsprechend zu modifizieren, neue Sachverhalte zu erlernen und anzuwenden A8 Sich von der vertrauten Umgebung und von eingeübten Verhaltensmustern distanzieren können * Arbeitnehmerrolle B1 Die Position des Arbeitnehmers im Betrieb als organisationsbestimmt kennen, aber auch die eigenen Möglichkeiten und Handlungsspielräume einschätzen. Das Wirtschaftssystem kennen und die Arbeitnehmerposition, die Gleichartigkeit der Arbeitnehmerpositionen kennen sowie ihre latenten und manifesten Qualifikationspotentiale B 2 Die eigenen Interessen formulieren und nicht adäquate Roilenzuschreibungen zurückweisen, solidarisch und organisationsfähig sein
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
475
B 3 Andere Rolleninhalte und ihre Macht- und Durchsetzungsmöglichkeiten kennen, Fähigkeit zur Bewertung von Ideologien und Beurteilung von Interessen bei Rationalisierung und Automatisierung B 4 Gleichartige Bedürfnisse erkennen und sprachlich ausdrücken sowie von fremden Interessen abzugrenzen. Wahrnehmung und Beurteilung der Position und der Interessen der Unternehmensfuhrung, Betriebsrat und Gewerkschaften als legitime Interessensvertreter zu akzeptieren und zu unterstützen B 5 Die berechtigten eigenen Sachargumente auch bei Widerspruch aufrechterhalten B 6 Geregelt Konflikte austragen und betriebliche Konflikte nicht vorschnell unter Rückgriff auf ungeeignete Lösungsmuster beenden können, Intrarollenkonflikte ertragen können B 7 Sachliche Kompromisse zwischen Unternehmensfuhrung und Betriebsrat akzeptieren können B 8 Eigene Vorstellungen zugunsten kollektiv ausgehandelter Lösungen zurückstellen können * Konsumentenrolle C1 Die eigenen Bedürfnisse kennen und Möglichkeiten bei laufenden und investiven Kaufentscheidungen beurteilen können, die begrenzten Handlungs- und Konsummöglichkeiten als Arbeitnehmer kennen sowie Informationsmöglichkeiten nutzen, rationale Abwägung von Konsumchancen (Preis/Qualitätsvergleich) C2 Eigene Bedürfnisse zurückstellen können und Roilenzuschreibungen modifizieren C3 Strategien zur Konsumentenbeeinflussung kennen und Gegenstrategien entwickeln C4 Die unterschiedlichen Interessen von Verkäufern und Käufern bzw. Käufergruppen einschätzen, die Zugehörigkeit zu einer Käufergruppe bestimmen können
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
C5 Die unterschiedlichen Bedürfnisse bei Kaufentscheidungen erkennen und akzeptieren und in den jeweiligen haushaltswirtschaftlichen Kontext einordnen C 6 Mit unterschiedlichen Bedürfnissen umgehen und die Befriedigung von Bedürfnissen kritisch einschätzen können, Aufschieben von Kaufwünschen bei zu einem geeigneten Zeitpunkt C 7 Materielle Vorteile bei einer begrenzten Konsumverweigerung oder eines alternativen Konsumverhaltens kennen, sachliche Präferenzen bei alternativer Konsumwahl entwickeln, alternative Konsum- und Kaufstrategien aufstellen C8 Angebotene Konsummuster zurückweisen und Konsumgewohnheiten entwickeln, die den eigenen Bedürfnissen entsprechen.
5.5.3
Schlußbemerkung
Mit dieser Darstellung der Intentionen eines arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts wird der Ziel- und Inhaltsaspekt eines solchen Unterrichts beschrieben. Mit der gewählten Heuristik sind auf dieser Entwicklungsebene die übergreifenden Fragestellungen einer arbeitsorientierten Wirtschaftslehre benannt: Funktionsrollen und Tätigkeitsstrukturen Rollengefuge und hierarchische Einordnung Kommunikations-, Kooperations-, Kompetenzbeziehungen Rollen-, Gruppen- und Organisationsdynamiken Arbeiternehmerrolle und Wirtschaftssystem Unternehmens- und Arbeitnehmerinteressen Inter- und Intrarollenkonflikte Konflikt und Kompromiß Konsumentenrolle und rationales Konsumverhalten Information und Interessensbestimmung Marktstrategien und Kaufentscheidung Alternatives Konsumverhalten und Konsumverzicht
Arbeitsorientierter Wirtschaftslehreunterricht
477
Hiermit sind große, zusammenhängende Unterrichtsbereiche gekennzeichnet, über deren Verwendungsrichtung die Lernzielstrukturen wichtige Hinweise geben. Darüber hinaus müssen aber unter fachdidaktischen Gesichtspunkten die gravierenden Fehler der gegenwärtigen Wirtschaftslehre vermieden werden: D i e Unterrichtsgegenstände wiederum thematisch zu verengen, sie im Sinne einer erstarrten Didaktik des Synoptischen v o m "Ende" her zu behandeln, im Nur-Begrifflichen und in deduktiver Sequenzierung zu verharren, Wirklichkeit mit Illustration zu verwechseln, die kognitiven Strukturen der Schüler und ihr szenisches Repertoire zu übergehen und damit den zusammenhangstiftenden Sinn der Arbeitsorientierung zu verlieren, w i e er sich uns vor allem systemtheoretisch erschließt.
Zitierte Literatur BAECKER, Dirk (1988): Information und Risiko in der Marktwirtschaft. Frankfurt/M. BAECKER, Dirk (1993): Die Form des Unternehmens. Frankfurt/M. CZYCHOLL, Reinhard/EBNER, Hermann G. (Hrsg.) (19892): Zur Kritik handlungsorientierter Ansätze der Wirtschaftslehre. Beiträge zur Berufsund Wirtschaftspädagogik. Bd. 4. Oldenburg. DRÖGE, Raimund/NEUMANN, Gerd (1981): Zur Begründung eines arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts. In: IMMLER, H. (Hrsg.): Beiträge zur Didaktik der Arbeit. Bad Heilbrunn. GERDSMEIER, Gerhard (Hrsg.) (1989): Schulbuch ohne Schule. 1. Bedürfnisse. Die unterdrückte Lust an der didaktischen Reflektion. Gesamthochschule Kassel - Universität. Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Bd. 7. Kassel. GERDSMEIER, Gerhard (Hrsg.) (1990): Schulbuch ohne Schule. 2. Arbeitsteilung. Vorreden zu einer Wirtschaftsdidaktik. Gesamthochschule KasselUniversität. Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Bd. 12. Kassel. GOMEZ, Peter/ZIMMERMANN, Tim (1992): Unternehmensorganisation. Profile, Dynamik, Methodik, St. Galler Managementkonzept. Bd. 3. Frankfurt/M. KENNEDY, Paul (1993): In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert. Frankfurt/M. KRAPPMANN, Lothar (1975 4 ): Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart. KRUMM, Volker (1973): Wirtschaftslehreunterricht. Analyse von Lehrplänen und Lehrinhalten an kaufmännischen Berufs- und Berufsfachschulen in der BRD. Gutachten und Studien der Bildungskommission. Bd. 26. Stuttgart. LUHMANN, Niklas (1988): Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. REETZ, Lothar/WITT, Ralf (1974): Berufsausbildung in der Kritik. Curriculumanalyse Wirtschaftslehre. Hamburg. TÜRCK, Klaus (1989): Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. Ein Trendbericht. Stuttgart.
478
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
WEICK, Karl E. (1985): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt/M.
Weiterführende Literatur DRÖGE, Raimund/NEUMANN, Gerd (1981): Zur Begründung eines arbeitsorientierten Wirtschaftslehreunterrichts. In: IMMLER, H. (Hrsg.), Beiträge zur Didaktik der Arbeit. Bad Heilbrunn.
5.6
Die Produktionsschule Arnulf Bojanowski
5.6.1
Annäherung an Sache und Begriff
479
5.6.2
Zur Geschichte der Produktionsschule
481
5.6.3 5.6.3.1
Zwei aktuelle Ausprägungen Produktionsschule in Europa: Arbeitsorientierte Förderung für Benachteiligte Produktionsschule in der Dritten Welt: Perspektive für eine Reform der überkommenen Berufshilfe
484
Typische Merkmale von Produktionsschulen Zur Didaktik: Lernen und Produktion Zur Organisation: Tendenz zur autonomen Einrichtung Zur pädagogischen Ausrichtung: Persönlichkeitsentwicklung für Benachteiligte und Facheliten Zur "Schulkultur": Die Produktionsschule als Ort der Identifikation
489 489 491
Ausblick - Offene Fragen
495
5.6.3.2 5.6.4 5.6.4.1 5.6.4.2 5.6.4.3 5.6.4.4 5.6.5
485 487
493 494
Zitierte Literatur
498
Weiterführende Literatur
500
5.6.1
Annäherung an Sache und Begriff
Produktionsschulen sind Einrichtungen der arbeitsorientierten und beruflichen Bildung, in denen Arbeiten und Lernen kombiniert werden. Die Teilnehmer einer Produktionsschule erwerben - auf unterschiedlichem Niveau - eine berufliche Qualifikation. Im Zuge dieses Lernprozesses erstellen die Teilnehmer Produkte oder erbringen Dienstleistungen, die gegen Entgelt abgegeben werden, in der Regel im Rahmen von regionalen Austauschbeziehungen (Marktorientierung). Produktionsschulen sind in Städten oder in ländlichen Gebieten zu finden; durch ihre Anbindung an das örtliche Wirtschaftsgeschehen können diese Bildungseinrichtungen realistische und praxisnahe Beschäftigungsfelder anbieten (z.B. Bau von Holz- oder Metallartikeln, Videoproduktionen, Fischzüchtereien, ökologischer Landbau u.v.m.). Diese Arbeitsbereiche sollen den Teilnehmern eine
480
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
beschäftigungsrelevante Qualifizierung oder einen beruflichen Abschluß vermitteln. Zugleich sollen die "Produktionsschüler" einen Zugewinn für sich selbst, für ihre Persönlichkeitsentwicklung erfahren. Mit dieser Zielsetzung von marktbezogener Produktion, Qualifizierung, Arbeitsmarktorientierung und Persönlichkeitsentwicklung stehen Produktionsschulen im Geflecht von Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik. Sie bieten anregende Modelle für eine veränderte Berufsausbildung bzw. Berufsfbrderung und sind gerade deshalb für die arbeitsorientierte Bildung von besonderem Interesse. Produktionsschulen sind allenthalben "Inseln" im System der europäischen Berufsbildungssysteme; sie sind nirgendwo flächendeckend eingeführt, sondern haben gewissermaßen Modellcharakter. Und erst recht durch die wenigen Produktionsschulmodelle in der Dritten Welt wird deutlich, daß in dem Konzept eine breite und offenbar noch gar nicht ausgelotete Perspektive für eine veränderte Form der beruflichen Entwicklungshilfe (Berufsbildungshilfe) steckt. Der Name "Produktionsschule" ist uneindeutig (vgl. Hurtienne 1970). Man darf sich darunter weniger eine "Schule" im herkömmlichen Sinne vorstellen, in der Kinder und Jugendliche auf Schulbänken sitzen und (vielleicht) etwas lernen. Produktionsschulen haben keine (oder nur wenige) Klassenzimmer, sondern verschiedene Werkstätten oder Lernbüros oder Gewächshäuser oder Videoproduktionsräume, in denen die Teilnehmer (eben keine "Schüler") tätig sind - oft in Arbeitskleidung! Manche Produktionsschulen sind eher betriebsähnliche Gebilde oder sogar "Lernfabriken", in denen Arbeit und Erziehungsaufgaben kombiniert werden. Produktionsschulen wollen sich der Lebens- und Arbeitsrealität ihrer Region stellen und die Teilnehmer anhand von realen Aufgaben und Produkten zu Lernprozessen und Eigenentwicklungen anregen. Doch nicht nur der Name ist in sich uneindeutig, klärungsbedürftig sind auch die Entstehungszusammenhänge des Produktionsschulgedankens, seine aktuelle Verwendung in Europa und in der Dritten Welt und seine charakteristischen Merkmale. Die Interpretationen des Produktionsschulansatzes sind, historisch gesehen, breit; dabei wandelte sich das Begriffsverständnis, mal gab es negative Assoziationen, mal eher positive (vgl. Hurtienne 1970, S. 82). Viele Einrichtungen arbeitsorientierter Bildung beziehen sich auf die Idee der Produktionsschule, ohne jedoch zeigen zu können, was
Die Produktionsschule
481
denn nun das "Eigentliche" ihrer Produktionsschulkonzeption ist. Umgekehrt finden sich Einrichtungen, die faktisch Produktionsschulen sind, ohne sich jedoch explizit auf den Produktionsschulansatz zu beziehen. Angesichts dieser Diffusität des Verwendungszusammenhangs nimmt es nicht wunder, wenn derzeit auch in der Wissenschaft keine klaren Vorstellungen existieren. Es gibt keine strukturierte Forschung zur Typenbildung von Produktionsschulen, zur bildungspolitischen Bedeutung, zu den komplexen Lern- und Arbeitsprozessen in einer Produktionsschule, zu ihren erzieherischen Wirkungen, zur Arbeitsmarktrelevanz der entwickelten Fähigkeiten und Kenntnisse der Teilnehmer usf. Für die Zwecke dieses Übersichtsartikels gibt es allerdings einen guten Anknüpfungspunkt: Seit Ende der 80er Jahre versucht eine interdisziplinär arbeitende "Arbeitsgemeinschaft Produktionsschule" (Biermann, Greinert, Janisch, Wiemann, Wirsich) eine wissenschaftliche Erforschung, Systematisierung und Fundierung des Produktionsschul-Konzepts (vgl. Arbeitsgemeinschaft Produktionsschule 1992; Greinert/Wiemann 1992). Die Arbeiten dieser Forschergruppe machen darauf aufmerksam, daß die Produktionsschulidee sich stark in Bewegung befindet; man tastet nach Kriterien, man sucht nach klareren Bestimmungen in der Forschung wie in der Praxis. Zu dem jetzigen Zeitpunkt scheint es angemessen zu sein, von einer "weiten" Begrifflichkeit auszugehen, um möglichst viele Phänomene, Realisierungsansätze und theoretische Fragestellungen zu integrieren.
5.6.2
Zur Geschichte der Produktionsschule
Zum Entstehungszusammenhang der Produktionsschule sollen in gebotener Kürze zwei Entwicklungslinien - eine realgeschichtliche und eine ideengeschichtliche - hervorgehoben werden (-*• 4.2.2.1). Jedoch kann der historische Blick - so ist sogleich anzumerken - den Bedeutungsumfang der Produktionsschule nicht hinreichend erschließen, da "die bestehenden wie historischen Ansätze ... überwiegend pragmatisch entwickelt worden" sind (Biermann 1992, S. 33). Wenn es keine entfaltete Theorie der Produktionsschule gibt, dann kann die historische Rückbesinnung auch nur vorläufige Orientierungen bieten. Realgeschichtlich gilt als relativ gesichert, daß die ersten "Produktionsschulen" zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Einrichtungen
482
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
der beruflichen Bildung in Frankreich entstanden (1803: écoles des artes et métiers; Greinert 1992, S. 9). Diese Einrichtungen verstanden sich als Handwerkerbildungsschulen. Es heißt, daß diese Schulen im 19. Jahrhundert Vorbildcharakter fur die bayerischen, preussischen, schweizerischen und österreichischen Gewerbe- oder Fachschulen gewannen. Einige der damals gegründeten Schulen haben sich sogar - in wechselnder Gestalt - bis heute gehalten. In der Literatur werden zumeist die "Staatliche Preußische Fachschule für die Kleineisen- und Stahlwaren-Industrie" in Schmalkalden (vgl. Becher 1982), die "Staatliche Berufsfachschule für Fertigungstechnik und Elektrotechnik" in Iserlohn (vgl. Grüner 1977) und die "Metallarbeiterschule" in Winterthur (vgl. Greinert/Wiemann 1992, S. 196 ff.) aufgeführt, um zu zeigen, wie eine örtliche Produktionsschule mit ihren Produktionsbetrieben und Werkstätten, ihrer Orientierung an der regionalen Wirtschaftsstruktur und ihren Herstellungsabläufen fünktioniert. Aufgabe jener Gründungen im 19. Jahrhundert war es, dem Handwerk neue didaktische Impulse zu geben und generell überholte Produktionsstrukturen modernisieren zu helfen. Insgesamt kann man sagen, daß jene Produktionsschulen zwar als berufspädagogische Vorbilder fungierten, aber wenig Breitenwirkung entfalteten. Besonders die deutsche Berufsausbildung fand die Gestalt des dualen Systems von Unterweisung in Betrieb und Berufsschule. In einer weiten Deutung des Produktionsschulgedankens lassen sich freilich auch Gemeinschaftslehrwerkstätten der mittelständischen Industrie genauso zuordnen wie die (oft produktiv arbeitenden) industriebetrieblichen Lehrwerkstätten. Schließlich finden sich auch in der Berufsschule vor allem in der Grundbildung oder bei Maßnahmen für Ungelernte Vorformen des Produktionsschulkonzepts (vgl. Biermann/Wiemann 1983, S. 87 ff.). Erst in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden neue Produktionsschulen gegründet, die ebenfalls in die Standardliteratur zur Produktionsschule Eingang gefünden haben: die "OttoBartning-Schule" (Zitadelle) in Berlin (vgl. Kranz 1985), die "Hibernia-Schule" in Wanne-Eickel (vgl. Rist/Schneider 1977), sowie das "Berufsbildende Gemeinschaftswerk" der Freien Waldorfschule in Kassel (vgl. Fucke 1981). Neue belebende Impulse gingen schließlich in den 70er Jahren von solchen Projekten, Einrichtungen und Aktivitäten aus, die sich im Zuge der damals rapide steigenden Jugendarbeitslosigkeit bemühten, für arbeitslose und benachteiligte Ju-
Die Produktionsschule
483
gendliche neue Konzepte von Leben, Wohnen und Arbeiten zu verwirklichen. Ideengeschichtlich kann der Produktionsschulgedanke auf unterschiedlichste Bildungsvorstellungen aus der Entstehungsphase einer systematischen Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts (Rousseau, Froebel, Pestalozzi, Fichte) ebenso zurückgeführt werden wie auf die pädagogischen Bewegungen zu Beginn dieses Jahrhunderts (vgl. Hilker 1924). Zu nennen wäre hier besonders die Reformpädagogik, die programmatisch Kinder und Jugendliche zum Lernen am und im Leben ermutigen wollte. Aus den Debatten und Programmen jener Zeit schälte sich, u.a. angeregt durch den amerikanischen Pädagogen Dewey (Selbsttätigkeitsgedanke, Projektidee), durch die sowjetrussische "Gorki-Kolonie" Makarenkos und die skandinavische "Slöjd-Bewegung" (praktische Lehrerbildung), eine Strömung heraus, die sich mit den Begriffen Arbeitsschule und Produktionsschule umreißen läßt. Es handelt sich hierbei nicht um eine "geschlossene Theorie, sondern um ... Bewegungen, Strömungen, Richtungen in Abgrenzung zur traditionellen Standesschule, autoritären Pädagogik, zur Pauk-, Buch- und Drillschule" (Biermann 1992, S. 34). Besonders prägend waren die Ideen und Realisierungsansätze Kerschensteiners, der mit der Arbeitsschule auf handwerklicher Basis Geist und Sittlichkeit der jungen Arbeiter schulen wollte. Ebenso anregend waren Blonskijs Ideen einer Produktionsschule Anfang der 20er Jahre, die z.T. parallel von Paul Oestreich und dem "Bund Entschiedener Schulreformer" aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Bei diesen beiden pädagogischen Theoretikern wird z.B. im Gegensatz zu Kerschensteiners latentem handwerklichen Romantizismus die Prädominanz der industriellen Zivilisation und die Notwendigkeit einer ingenieurmäßigen Beherrschung der Technik betont. Jedoch ist mit Akzeptanz der industriellen Entwicklung nicht automatisch Facharbeiterqualifizierung in Produktionsschulen impliziert. Im Gegenteil: Die Propagierung der Produktionsschule z.B. im Rahmen einer "Elastischen Einheitsschule" durch Oestreich wird durch ganz andere Argumente fundiert. So finden sich eine Fülle fast expressionistischer Formulierungen mit einer hymnischen Betonung einer "Lebensschule", die vom "Heimatgrunde" auszugehen habe (vgl. Oestreich 1924, S. 238). Aus heutiger Sicht wirken solche Programme zwar anregend, doch verwundern z.B. die mangelnden sozial-ökonomischen Bezüge
484
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
oder die fehlenden Anschlüsse an berufspädagogische Realentwicklungen im Bildungswesen. Horst Biermann resümiert denn auch nach einer sorgfältigen Skizze der historischen Diskussionen, daß "der Begriff und das Konzept der Produktionsschule schwammig bleiben, selbst wenn man sich nur auf Blonskij oder den Bund der Entschiedenen Schulreformer bezieht, erst recht aber, wenn man die Arbeitsschulpädagogik und -bewegungen mit heranzieht" (Biermarm 1992, S. 45). Offenbar gibt es "die" Wurzel der Produktionsschule nicht. Das Programm einer Verbindung von Arbeiten und Lernen ist vieldeutig und interpretierbar. Und dennoch - der Produktionsschulgedanke ist mehr als eine pädagogische Utopie, mehr als ein Traum wohlmeinender Pädagogen, mehr als die Kritik an der Buchschule. Auf verschlungenen Wegen ist der Gedanke zur Praxis geworden und hat sich mit bestehenden Ansätzen verbunden; wechselseitige Beeinflussungen haben stattgefunden, die kaum noch rekonstruierbar sind. Aus dem Rückblick läßt sich eins sagen: In kaum einem pädagogischen Konzept sind so viele verschiedene Einflüsse nachweisbar wie in dem Gedanken und den Realisierungsansätzen der Produktionsschule.
5.6.3
Zwei aktuelle Ausprägungen
Der Produktionsschulgedanke hat derzeit unterschiedliche Ausprägungen gefunden. Zum einen bieten Produktionsschulansätze in Europa ein Anregungspotential für solche Einrichtungen, die sich besonders auf Benachteiligtenförderung beziehen (-> 5.7). Zum anderen bietet der Produktionsschulgedanke eine Kritik der bisherigen Form der (westlichen) Berufsbildungshilfe für die Entwicklungsländer (-> 8.4). Beide unterschiedlichen Ausprägungen sind nicht strikt zu trennen, da zumindest die impliziten Bezüge unübersehbar sind. Unterschiedlich ist jedoch die Verankerung der jeweiligen Produktionsschule im Bildungswesen: Während europäische Produktionsschulen als Anreicherung des bestehenden Berufsbildungssystems begriffen werden können, bilden Produktionsschulen in der Dritten Welt einen Entwicklungskern für berufliche Bildungsstätten. Ihre neuartige Leistung wäre z.B., daß sie sowohl für den formellen wie für den informellen Sektor qualifizieren und damit Impulse für die Entwicklung von Regionalmärkten geben. Auch die Zielrichtungen der jeweiligen Konzepte sind verschieden: Die europäischen Ansätze betonen die Persönlichkeitsentwicklung als Kern ihrer Ar-
Die Produktionsschule
485
beit, die dann ausstrahlt in die Produktion marktgängiger Waren und Dienstleistungen und in die soziale Integration ihres (zumeist benachteiligten) Klienteis. Demgegenüber findet in den außereuropäischen Modellen eher eine Eliteausbildung statt, verbunden mit einer Vorauswahl ihrer Teilnehmer, ausgerichtet auf eine technisch-qualifikatorische Breitenwirkung im jeweiligen Land. Beide Ausprägungen sollen im folgenden näher betrachtet werden. 5.6.3.1
Produktionsschule in Europa: Arbeitsorientierte Förderung für Benachteiligte Die Produktionsschule ist deshalb in Europa zu einem wichtigen Typus arbeitsbezogener Bildungseinrichtungen geworden, weil sie mit ihrem Grundgedanken, vermittels Arbeit Menschen zu fördern und sie zugleich in marktbezogene Produktionsprozesse einzubinden, eine sozialpolitische Dimension gewonnen hat, die auf die Förderung von Benachteiligten verweist. In der Tat hat der Produktionsschulansatz gerade im Bereich der Berufsbildung Alternativen zu herkömmlichen Problemlösungen entwickelt: In der Zeit der Jugendarbeitslosigkeit gründeten sich die außerbetrieblichen Einrichtungen der beruflichen Bildung, um Jugendlichen als Ersatz zur betrieblichen Ausbildung dennoch einen Lehrabschluß zu ermöglichen. Diese Einrichtungen schlössen sich - idealtypisch - dem Konzept industriebetrieblicher Lehrwerkstätten an. Erst allmählich setzte sich im Zuge der "sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung" (vgl. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft 1992) eine Ausbildungsorganisation durch, in der sich die Ausbildung an den Fähigkeiten des einzelnen ausrichtet. Bei diesem Typus von "Produktionsschule" fehlte aber fast vollständig die Produktion für einen Markt. Die Werkstätten orientierten sich in der Strukturierung der Ausbildungs- und Arbeitsabläufe an dem angestrebten Qualifikationsziel (Facharbeiter- oder Gehilfenbrief). Demgegenüber haben andere Einrichtungen gerade für Benachteiligte neue Verbindungen von Lernen und Arbeiten aufgebaut. Es handelt sich dabei z.B. in Westdeutschland um "alternative Betriebe", Jugendhilfeeinrichtungen, Projekte freier Träger, Jugendwerkstätten, "soziale Betriebe" für Langzeitarbeitslose etc., die Selbstorganisation und -Verwaltung, andere Formen des Lernens und integrierte Arbeitsweisen für sich und ihr Klientel ausprobieren wollten. Diese Einrichtungen einer arbeitsweltbezogenen (Jugend-)Sozialarbeit verbinden Benachteiligtenförderung mit marktbezogenen
486
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Produktionsansätzen (vgl. Wirsich 1992). Aus diesen Impulsen, die auch durch europäische Austauschprogramme angeregt wurden, ist in den letzten Jahren die Strömung der außerbetrieblichen Berufsbildung geworden, in der faktisch die Produktionsschulidee in vielfältigen Erscheinungsformen - manchmal auch unter Rückgriff auf den Namen "Produktionsschule" - realisiert wird (vgl. Kasseler Produktionsschule BuntStifl 1993). Inzwischen finden sich überall in Europa verschiedene solcher "Schulen", seien es die Handwerkerschulen in Spanien, seien es die Berufsfachschulen in der Schweiz, seien es die Ansätze in den Niederlanden oder seien es die Produktionsschulen in Dänemark. Gerade letztere spielen für die derzeitige Entwicklungsetappe eine große Rolle. Denn daß man solche Einrichtungen "Produktionsschulen" nennen könnte, haben erst die Dänen in das pädagogische Bewußtsein gerufen. Deshalb sollen die dänischen Produktionsschulen kurz dargestellt werden. Die dänischen Einrichtungen für 15- bis 29jährige Arbeitslose, Benachteiligte und Minderqualifizierte wurden Ende der 70er Jahre ins Leben gerufen, um diesen Zielgruppen neue Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen und um bei diesem Klientel die Entwicklung persönlicher Fähigkeiten anzuregen (vgl. Bolte 1993). Die Einrichtungen in Dänemark entstanden zumeist aufgrund privater oder kommunaler Initiativen. Die Produktionsschulen werden vom Staat und den Kommunen finanziert, wobei sie einen gewichtigen Teil ihrer Einnahmen durch eigenerwirtschaftete Produkte (Waren und Dienstleistungen) abdecken. Die Produktionsschule bietet ihren Teilnehmern eine Übergangsmöglichkeit, bis sie in einer Schule oder an einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz unterkommen. Die Persönlichkeitsentwicklung des Teilnehmers steht im Zentrum; für jeden wird ein "Karriereplan" erstellt, der den Bildungsweg in der Produktionsschule anleitet. Man arbeitet in einem offengehaltenen Wochenrhythmus in Werkstätten und Arbeitsfeldern wie Landwirtschaft, Büro, Hauswirtschaft, Metall, Zimmerei, Videowerkstatt etc. Dabei sind alle möglichen Arbeitsbereiche und Produktionszusammenhänge (es gibt 36 "Produktionslinien") prinzipiell denkbar: Häuser renovieren, Elektronikanlagen erstellen, Textilerzeugnisse herstellen, Kantinen bewirtschaften, Reisen organisieren, Solarenergie usw. Im Zentrum stehen Produkte und Dienstleistungen, "für die ein sozialer Bedarf besteht, die aber vom Markt nicht ausreichend oder gar nicht abgedeckt werden" (Wirsich/Meyser 1992, S. 186). Ergänzt werden die produktionsbezogenen Antei-
Die Produktionsschule
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le durch theoretischen Unterricht ("Unterrichtswerkstätten) und sonstige Aktivitäten ("Aktivitätswerkstätten"): Sport, Ernährungsgewohnheiten prüfen, Reisen, Feste feiern, Region erkunden u.v.m. Mit diesen Eigenschaften erwiesen sich die dänischen Produktionsschulen vorbildhaft für europäische Initiativen; manchmal haben sie auch die Produktionsschulen in der Dritten Welt beeinflußt. 5.6.3.2
Produktionsschule in der Dritten Welt: Perspektive für eine Reform der überkommenen Berufshilfe In der Dritten Welt - so die These der "Arbeitsgemeinschaft Produktionsschule" - birgt gerade das Produktionsschulkonzept für die Berufsausbildung günstige Perspektiven, zumal die bisherigen Versuche der europäisch-westlichen Berufsbildung in den Entwicklungsländern gescheitert sind (-> 8.4.1). Die Kritik an der bisherigen berufsbildungsbezogenen Entwicklungshilfe bezieht sich auf drei Punkte: die tendenzielle Eliteorientierung der bisherigen Berufsbildungshilfe, die Orientierung auf den formellen Sektor (also den offiziellen bzw. den quasi geregelten) und nicht auf den informellen Sektor (Schwarzarbeit, bestimmte Handwerksbereiche etc.) sowie die Tatsache, daß die bisherigen Konzepte zwischen Einzelprojekten und Gesamtsystemreform hin- und herschwanken (vgl. Greinert/Wiemann 1992, S. 15 f.). Eine neue Form der Berufsbildungshilfe müßte die Gleichrangigkeit von informellem und formellem Sektor im Sinne einer "Doppelstrategie" genauso berücksichtigen wie die Verbindung zwischen Einzelprojekt und Systemkonzept. Die Autoren schlagen vor, die Produktionsschule als einen möglichen Grundtyp der Berufshilfe verstärkt zu berücksichtigen. Hintergrund dieser These ist die Tatsache einer erfolgreichen Arbeit vieler Schulen und Betriebe (oder eben Produktionsschulen) in der Dritten Welt, ohne daß dies seitens der offiziellen Berufsbildungspolitik hinreichend aufgegriffen wurde. Die Kenntnisse über diese Bildungsanstalten sind allerdings gering; man weiß vielfach wenig über Aufbau und Arbeitsweisen dieser Einrichtungen, abgesehen von der Frage, ob sie überhaupt noch existieren. Eine Untersuchung des Ist-Standes von Produktionsschulen in der Dritten Welt zeigt drei verschiedene Ansätze (vgl. Greinert 1992, S. 20 ff.; Greinert/Wiemann 1992, S. 28 ff.): -
Alternative Schulmodelle (z.B.: "Brigaden" in Botswana, "Schulen auf dem Lande" in Kuba, kommunale Entwicklungs-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Zentren in Tansania, integrierte Volksbildungszentren in GuineaBissau, Barrio-High-Schools auf den Philippinen); diese Modelle entwickelten sich z.T. als eine kostengünstige, aber auch den jeweiligen Machthabern entgegenkommende Alternative zum formellen Schulwesen. - Berufsbildende Maßnahmen im informellen Sektor (ca. 100 Projekte, oft kirchlich oder von Orden und Stiftungen organisiert; z.B. in Papua-Neuguinea, Indonesien, Java, Venezuela, Costa Rica, Chile); bei diesen Produktionsschulen geht es um Qualifizierung, um Anlernen, um Hilfen zur Beschäftigungsaufnahme u.a.m. - Schulen zur Stärkung des formellen Sektors (auf den Philippinen, in Colombo, Birma, Indien, Singapur, etc.); diese Schulen betreiben eine beruflich-technische Eliteausbildung, arbeiten zumeist in freier Trägerschaft, haben neben ihrer Ausbildung oft eigene Produktionsabteilungen entwickelt und sind im Blick auf das formale Bildungswesen weitgehend autonom. Aus dieser Bestandsaufnahme lassen sich Hinweise gewinnen, wie eine Produktionsschule in der Dritten Welt organisiert sein könnte. Mit Greinert und Wiemann läßt sich unterscheiden zwischen dem "einfachen Produktionsschultyp (= Training cum Production), bei dem Ausbildung und Produktion in einer Institution zusammengefaßt sind", dem "entwickelten Produktionsschultyp (= Training and Production), bei dem eine produzierende Ausbildungswerkstätte und eine eigenständige Produktionsabteilung kombiniert sind" sowie dem "entwickelten Produktionsschultyp in Form einer 'Lernfabrik' (= Production Training Corporation), bei dem organisatorisch konsequent ein Produktionsbetrieb simuliert wird" (Greinert/Wiemann 1992, S. 33; Hervorhebungen vom Verf.). Bei diesen Unterscheidungen erscheint besonders der Typ 3 geeignet, für die Entwicklungsländer Vorbildcharakter zu gewinnen, beispielhaft repräsentiert vom "German-Singapore Institut" in Singapur, das so etwas wie eine "Lernfabrik" darstellt: Dieses 1981 mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland und des Stadtstaates Singapur gegründete Institut soll Techniker (mittleres Management) ausbilden, Fortbildung organisieren, Technologieberatungen durchführen und Klein- und Mittelbetriebe technologisch modernisieren helfen. Hier handelt es sich also um ein "Technologie-Transferzentrum mit Ausbildungsfunktionen. Arbeitszeit und Urlaubsregelungen gleichen denen in der Industrie, die Lehrerschaft besteht aus Ingenieuren, Tech-
Die Produktionsschule
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nikern und Meistern, die als Angestellte je nach Leistung bezahlt werden. Das Institut hat die gleichen Fachabteilungen, wie sie in einem Industriebetrieb typisch sind und verfugt über eine professionelle Ausstattung nach dem neuesten Stand der Technik" (Greinert/Wiemann 1992, S. 32). Damit aber wird der Unterschied zu den europäischen Produktionsschulen virulent; Produktionsschulen fungieren in der 3. Welt als Instrument der Gewerbeförderung, sind eher zeitlich begrenzte Förderinstrumente, bedürfen der Anbindung an regionale Märkte und beziehen sich auf Elite- oder Kaderausbildung. Die BenachteiligtenfÖrderung im Sinne der europäischen Ansätze hat hier also einen geringen Stellenwert.
5.6.4
Typische Merkmale von Produktionsschulen
Bei Sichtung der Literatur fällt auf, daß es zwar viele offene Fragen, aber kein hinreichendes Beschreibungssystem für Produktionsschulen gibt. Weder die Empirie noch die Theorie sind soweit ausgefaltet, daß man von einer gehaltvollen "pädagogischen Theorie der Produktionsschule" sprechen kann. Die Orientierung an den vorfindlichen Phänomenen und ihre explorierende Verdichtung scheinen derzeit der einzige Weg zu sein, um die Merkmalsausprägungen der Produktionsschule zu präzisieren. Im folgenden sollen die bisher entwickelten vorläufigen Analyseschemata und Forschungsfragen genutzt werden (vgl. Greinert 1992, S. 12, Greinert/Wiemann 1992, S. 89 ff.; Oberliesen 1992, S. 15), um Merkmale und Eigenschaften von Produktionsschulen im Sinne einer "idealtypischen Folie" zu umreißen. Hierzu zählt in erster Linie die Frage, was denn das Spezifische des Produktionsschul-Lernens ausmacht (didaktische Merkmale). Sodann bedarf es einer Klärung, was diesen Organisationstypus spezifisch prägt (organisationsbezogene Merkmale). Zum dritten soll nach den pädagogischen Merkmalen gefragt werden, welche Bildungsaufgaben die Produktionsschule im Blick auf die Arbeitsintegration ihrer Teilnehmer erfüllt. Schließlich soll geklärt werden, warum die Produktionsschule mehr ist als ein Lernort, warum sie spezifische Sozialintegrationsleistungen erbringt (kulturelle Merkmale). 5.6.4.1 Zur Didaktik: Lernen und Produktion Das Lernen in einer Produktionsschule umgreift verschiedene "methodische Arrangements" (Greinert/Wiemann 1992, S. 66), die ei-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
nen zentralen Bezugspunkt aufweisen, nämlich das Lernen an Produktionsaufgaben. Dies klingt zunächst einleuchtend; doch schon ein kurzer Gang durch die Praxis verschiedener Produktionsschulen erhellt, daß längst nicht hinreichend geklärt ist, wie man an Produktionsaufgaben denn lernt. Zwar nutzt man alle aus Lehrwerkstätten und Handwerksbetrieben bekannten arbeits- und berufspädagogischen Lern- bzw. Unterweisungsformen (z.B. das Lernen nach dem Lehrgangsprinzip oder Lernen an und in Projekten). Worin unterscheiden sich Produktionsschulen dann von anderen Ausbildungswerkstätten? Für den damit angesprochenen arbeitspädagogischen Zusammenhang sind drei Aspekte zu diskutieren. 1. Marktbezug der Produktion: Bei fast allen Produktionsschulen sticht der Verwendungszusammenhang der entwickelten Produkte und Dienstleistungen hervor. In einer typischen Lehrwerkstatt z.B. spielte früher das "Übungsstück" als Aufgabe eine entscheidende Rolle; danach rückte das Produkt mit seinem individuellen oder gesellschaftlichen Gebrauchswert in den Mittelpunkt (Aschenbecher, Standbohrmaschine etc.). Die These der Produktionsschulen lautet nun, daß erst mit der Marktorientierung eines Produktes eigenständige Motivationen entstehen: Die produktiv arbeitenden Teilnehmer spüren die Ernsthaftigkeit der von außen kommenden Anforderungen und wollen diesen auch nachkommen. Pädagogisch gesehen geht es bei dieser Tätigkeit um Arbeit in mindestens vier Dimensionen: um Arbeit für sich selbst, um Arbeit mit anderen, um Arbeit für andere und schließlich um Arbeit an interessanten und herausfordernden Aufgaben (Brater u.a. 1988). Sicherlich liegt in diesen komplexen Herausforderungen einer der Schlüssel für die oft berichteten positiven LernefFekte von Produktionsschulen (vgl. Bullanu.a. 1991, S. 6). 2. Simulation von Produktionsprozessen: Damit ist gemeint, daß in den Produktionsschulen Arbeitsrealität zum Erlernen beruflicher Qualifikation "modellhaft nachgebildet, d.h. simuliert wird" (Greinert/Wiemann 1992, S. 40). In dieser Betrachtungsweise erscheint die Produktionsschule als eine Art Produktionsmodell, das ein Stück weit von der Realität abgegrenzt und pädagogisch strukturiert ist. Typisch dafür ist das Modell der "Lernfabrik" ("Production Training Corporation") in den am weitesten entwickelten Produktionsschulen der Dritten Welt. Lernen in der Produktion muß also so organisiert werden, daß Freiräume bleiben und daß die Teilnehmer
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neue Erfahrungen machen können. Die Marktorientierung muß gewissermaßen "gezügelt" werden; trotz Produktion für einen Auftraggeber gilt der Primat der arbeitspädagogischen Vorstrukturierung der Prozesse und betrieblichen Abläufe. Produktionsschulen arbeiten nicht als Betriebe mit strikten betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern als Einrichtungen, in denen man sich betrieblicher Arbeitsrealität annähern kann. Allerdings ist in manchen Bildungsstätten (z.B. in den dänischen Einrichtungen) der Realitätsgehalt der Arbeitsaufträge durchaus groß. 3. Einbettung der Arbeit in (allgemein-)bildende Bezüge: In vielen Produktionsschulen wird Theorie und Praxis miteinander verbunden, so daß man an einem Ort, unter einem Dach weiterlernen kann. Insofern wird von einem komplexen Arbeitsbegriff ausgegangen: Produktionsprozesse sind stets "theoretisch" vor- und nachzubereiten; Arbeit darf sich nicht im schlichten Tätigsein erschöpfen. Hierzu gibt es verschiedene Ansätze, die vom unmittelbaren Lernen (und Unterweisen) am Arbeitsplatz bis hin zu quasi ausgelagerten Demonstrationsräumen reichen. Aus den dänischen Schulen sind zusätzlich die "Aktivitätswerkstätten" hervorzuheben, die verschiedene Veranstaltungen vorsehen, um den Teilnehmern künstlerische, kulturelle, sportliche etc. Aktivitäten zu ermöglichen. Damit gewinnt das Lernen in der Produktionsschule explizit allgemeinbildenden Charakter. 5.6.4.2
Zur Organisation: Tendenz zur autonomen Einrichtung Produktionsschulen arbeiten in der Regel in freier Trägerschaft; sie sind keine Staatsschulen. Sie sind damit unabhängig von üblichen Zuwendungen. Das heißt aber auch: Eine Produktionsschule muß wie ein Unternehmen agieren, das sich innen und außen auf die Dynamik von Arbeitsmärkten und regionalen Absatzmöglichkeiten einstellt. Bei den Außenbezügen stechen die verschiedenen Kooperationen mit der Kommune oder Gemeinde, mit Verbänden, mit der Armee (in der Dritten Welt), mit den Gewerkschaften oder mit anderen Produktionsschulen hervor. Entscheidend sind dabei die Verflechtungen mit regional benachbarten Betrieben; so übernehmen z.B. die Bildungseinrichtungen in den Entwicklungsländern eigenständige Entwicklungsarbeiten für solche Betriebe, die (sich) dies nicht leisten können. In diesem Fall können die Produktionsschulen staatliche Gewerbeförderung erhalten, so wie ein Betrieb. Aus den
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dänischen Einrichtungen wird berichtet, daß die Kontakte zu Betrieben oft zu Praktikums- oder sogar Arbeitsplätzen für das Produktionsschul-Klientel fuhren. Die Selbständigkeit einer Produktionsschule zeigt sich auch an ihren Produkten und Dienstleistungen, die sowohl in den Werkstätten oder Lernbüros (in-house) als auch anderswo (out-house) erbracht werden können. Prinzipiell sind alle Arbeiten denkbar. Vielleicht reichen schon die wenigen hier im Artikel eingestreuten Beispiele aus, um die Breite und Vielfalt der Produktionsmöglichkeiten zu verdeutlichen. Bislang ungelöst ist das Verhältnis von Auftrag und Lernen, besser: die "Synchronisation von Auftragslage bzw. -struktur und Ausbildungsprogramm" (GreinertAViemann 1992, S. 83). Welcher Auftrag für ein Produkt oder eine Dienstleistung ist gemäß dem Lern- und Entwicklungsstand des einzelnen bzw. der Lerngruppe lernträchtig? Solche Anfragen an die Realaufträge setzen eine zeitliche Offenheit, eine pädagogisch-diagnostische Einschätzung von Aufgaben und eine flexible Teamorganisation voraus (vgl. Charton/Bojanowski 1993), anderenfalls würde der Druck vom Regionalmarkt an die Teilnehmer weitergegeben, was Lernprozesse blockieren könnte. Hier ist die Arbeitsorganisation gefragt. Die Arbeitsorganisationsformen reichen offenbar von der handwerklichen Arbeit (z.B. in einigen deutschen Produktionsschulen) über entwickelte Maschinenarbeiten bis hin zu Vorformen von Fließfertigung. Auch neue Technologien werden integriert, z.B. in einigen "Lernfabriken" der Entwicklungsländer, die als Technologietransferzentren wirken. Durch solche Produkte und Dienstleistungen können Produktionsschulen selber einen Eigenanteil erwirtschaften. Die dänischen Einrichtungen teilen mit, daß dieser Eigenanteil etwa 10 bis 20 % ihres jeweiligen Haushaltsansatzes beträgt. Produktionsschulen sind damit nicht nur unabhängiger als "normale" Schulen, sondern sie sind auch besonders für Innovationen geeignet; sie können etwas erproben, was in unbeweglichen offiziellen Einrichtungen noch gar nicht möglich ist oder was sonst schwierig durchzusetzen wäre. So verwundert es nicht, daß namentlich für die BenachteiligtenfÖrderung der Produktionsschulgedanke aufgegriffen wurde. Die Benachteiligten sind im normalen Bildungswesen gescheitert, besser: bei ihnen haben alle üblichen Förderinstrumente versagt, so daß es eines innovativen Ansatzes bedarf, um noch Anregungen zum Weiterler-
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nen zu geben. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt: Wäre es nicht denkbar, daß Eltern, Lehrer und benachteiligte Schüler einen eigenen Verein gründen, um das ungeliebte Berufsvorbereitungsjahr an einer Berufsschule durch eine Produktionsschule zu ersetzen? Die Teilnehmer könnten in einem ersten Schritt die Kantine fuhren, Werkzeuge herstellen oder die Schulumgebung landschaftlich gestalten; weitere Tätigkeitsfelder wären mühelos zu entwickeln (vgl. Bullan u.a. 1991, S. 51 ff.). 5.6.4.3
Zur pädagogischen Ausrichtung: Persönlichkeitsentwicklung für Benachteiligte und Facheliten Der dritte Merkmalskomplex liegt in der Breite der Qualifizierungsmöglichkeiten der Produktionsschule, die durch ihre "Elastizität" hinsichtlich der angestrebten Kompetenzen ihres Klienteis ihre spezifische Stärke erkennen läßt. Bei Benachteiligten in den europäischen Einrichtungen tritt unter den pädagogischen Funktionen der Aspekt des Orientierens, Stabilisierens und des Motivierens hervor (vgl. Wiemann 1978). Das Lernarrangement der Produktionsschulen ist so angelegt, daß der einzelne in seinen Fähigkeiten abgeholt werden kann; durch Angebote von Tätigkeiten, Werkstoffen, Dienstleistungen und Werkstätten können sich gerade Benachteiligte besser finden und ihr "individuelles Curriculum" aufbauen. In den Produktionsschulen der Dritten Welt mit ihrer Akzentsetzung der Eliteausbildung kommt das Moment der Schlüsselqualifikationsentwicklung verstärkt ins Spiel; in den entwickelten Produktionsschulen können "Planen", "Durchfuhren" und "Kontrollieren" als hervorstechende Fähigkeiten eines breit qualifizierten Facharbeiters besser angeregt werden als in den herkömmlichen Sekundärschulen. Mit solch einem Konzept der Individualförderung scheint eine völlig neue Form der Lernorganisation auf, die für herkömmliche Schulen undenkbar ist, nämlich ein Anpassen der Lernorganisation an die Lerngeschichte der Teilnehmer. Dies heißt: modulare Form des Lernens; die Teilnehmer können einfache und komplexe Aufgaben anpacken, je nach individuellem Tempo und Geschick. Individualisierung heißt umgekehrt den Einsatz von Gruppen- und Teamarbeit gemäß dem Stand der Werkstätten und Aufträge. Damit wird die Qualifizierung in der Produktionsschule ausdrücklich arbeitsmarktrelevant. Wenn Teamwork Einzug in die Betriebe hält, dann wäre dies in der Bildungseinrichtung schon vorgedacht und
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realisiert. Ein produktionsschultypisches Förderkonzept bezieht sich also auf Arbeitsmarktentwicklungen und Betriebsanforderungen durch verschiedene Qualifikationsstufungen. Um solche Qualifikationen anzuregen, bedarf es eines besonders ausgebildeten Lehrpersonals. Das Kriterium der dänischen Produktionsschulen z.B. lautet: große praktische Erfahrung im Arbeitsleben und pädagogisches Interesse. Die formalen Abschlüsse sind nicht so entscheidend, wenn auch viele Arbeiter einen Meisterabschluß haben. Insgesamt sind in Produktionsschulen keine "unbeweglichen Beamten" gefragt, sondern eher "Meister, Techniker und Ingenieure, die nach Leistung besoldet werden" (GreinertAViemann 1992, S. 91). 5.6.4.4
Zur "Schulkultur": Die Produktionsschule als Ort der Identifikation Praxisberichte zeigen, daß gerade Produktionsschulteilnehmer sich mit dem Ort stark identifizieren, an dem sie arbeiten und lernen. Die Produktionsschule ist für sie mehr als ein Betrieb; offenbar enthalten Produktionsschulen Identifizierungsmöglichkeiten. Bei Benachteiligten ist dies besonders einleuchtend; der Ort ihrer Förderung ist vielleicht der erste, an dem sie sich real aufgehoben finden. Hier sind wohl die dänischen Produktionsschulen mustergültig. So wird z.B. berichtet, daß Gebäude und Werkstätten von und mit den Teilnehmern in Eigenarbeit errichtet werden. Auch das Klima wird gelobt: Es werde ernsthaft gearbeitet und es herrsche eine fröhliche und kooperative Atmosphäre. "Jeder Schüler, jede Schülerin hatte eine eigene Aufgabe, der er oder sie verantwortlich nachging" (Bullan u.a. 1991, S. 6). Damit ist vermutlich eine der heimlichen Wirkungen dieses Einrichtungstyps angesprochen: Produktionsschulen entwickeln - vor allem in den europäischen Varianten - eine pädagogisch gestaltete Umgebung, überschaubare Lernzusammenhänge und persönliche Verhältnisse zu den Ausbildern und Lehrern. "Vielleicht brauchen junge Leute mit Lebensproblemen Orte, die für sie einladend sind, und Menschen, die für sie Glaubwürdigkeit verkörpern" (Charton/Bojanowski 1993, S. 89). Auch aus den DritteWelt-Produktionsschulen gibt es Hinweise auf die Identifikation mit der Einrichtung, wenn etwa die Sekolah Pendidikan Kayu Atas in Samrang/Indonesien berichtet, daß sich an dieser Höheren Fachschule für Holztechnik Eltern- und Schülervereinigungen gebildet haben (GreinertAViemann 1992, S. 232). Ähnliches wird aus den
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Produktionsschulen der Salesianer Don Boscos berichtet (vgl. Oerder 1992). Sicherlich hängt dieser Merkmalskomplex mit der freien Trägerschaft und einer "betriebsähnlichen" Grundstruktur zusammen. Es wäre durchaus lohnend, die Debatten über "Schulkultur" und "Unternehmenskultur" auf die Produktionsschulen zu beziehen und die neuartigen sozialisatorischen Effekte solcher offenen Einrichtungen zu untersuchen. Damit ist die Produktionsschule nicht nur eine lebendige Kritik der üblichen Schule, sondern sie enthält im Kern die Anfrage, ob der herkömmliche Typus der uns bekannten Schule mit seinen einengenden und demotivierenden Momenten (oder auch die Einrichtungen des Erwachsenenlernens) tatsächlich dem existentiellen Bedürfnis der Menschen nach anderen Lernformen und zwischenmenschlichen Kontakten entgegenkommen. Hier schließt sich gewissermaßen der Kreis zur Reformpädagogik, die ja mit ihrer Schulkritik den Produktionsschulgedanken entscheidend geprägt hat.
5.6.5
Ausblick - Offene Fragen
Vor dem Hintergrund der begrifflichen Debatte, den historischen Zusammenhängen, den aktuellen Ausprägungen und typischen Merkmalen zeigte sich die Schwierigkeit, angesichts der Breite der Verwendungsformen das Konzept angemessen zu umreißen. Der Produktionsschulgedanke bietet sich zwar als Integrationsschlüssel dann an, wenn man Bildungsprozesse in Abkehr von herkömmlicher schulförmiger Unterweisung anregen will. Und man ist sich noch einig darin, die neu zu organisierenden Lernprozesse an "Arbeit" anzuschließen, an produktive Arbeit für Märkte im Produktionsschulumkreis. Doch die Weitläufigkeit des Konzepts zeigt sich schon an den verschiedenen Zielgruppen und differierenden bildungspolitischen Zielsetzungen der Produktionsschulen in Europa und in der Dritten Welt. Beide Entwicklungsansätze sind anregend, die BenachteiligtenfÖrderung und die Kaderausbildung, doch derzeit ist nicht absehbar, ob Produktionsschulen im "Norden" und im "Süden" wechselseitig voneinander lernen können. Gibt es damit überhaupt eine Perspektive einer gemeinsamen Weiterarbeit, einer Weiterarbeit an Themen, die alle Produktionsschulen tangieren, die ihnen zur Weiterentwicklung verhilft? In den vier Merkmalskomplexen zur allgemeinen Charakterisierung von Produktionsschulen waren einige solcher übergreifenden Themen zusammengestellt wor-
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den, die das "Gemeinsame" einer Produktionsschule betonten. Hier bietet sich an, weiterzuarbeiten. Bei einem Handbuchartikel kann es dabei nur um einen kleinen Ausschnitt kritischer Problembereiche gehen, die den Praktikern Fragen stellen und die arbeitspädagogische Forschung vorantreiben könnten. Im Blick auf die didaktischen Merkmale hat offenbar die Marktorientierung der schulischen/betrieblichen Lernprozesse eine nicht unerhebliche Wirkung für Motivation und Lernerfolg der Teilnehmer, vor allem wenn sie entlastet lernen können und das Programm angereichert wird durch zusätzlich anregende Aktivitäten. Gleichwohl bleibt hier klärungsbedürftig: Läßt sich die Lernerfahrung am jeweiligen konkreten Produkt, an der erbrachten Dienstleistung verallgemeinern, so daß die Teilnehmer sie "transferieren" können auf neue Lernfelder und Gegenstände? Wenn z.B. in einem Betrieb verschiedene Produktionsniveaus vorhanden sind, stellt sich die Einsatzfähigkeit der "gelernten Produktionsschüler" (nach dem Besuch der Produktionsschule) in hohem Maße. Lernen an Produktionsaufgaben birgt jedenfalls die Gefahr des stumpfen Einübens von Handlungsabläufen, des sich "Durchmogeins" bei sich verändernden Anforderungen und des Sich-Entziehens von den in praktischen Lösungen steckenden (fach-)theoretischen Fragen. Damit muß sich die Produktionsschule fragen, ob ihre reformpädagogisch inspirierte "praktische Schulkritik" noch angemessen ist. Kann sie wirklich Orte schaffen, in denen ein lebensnaher Lerntypus entsteht, wenn gleichzeitig die Betriebsarbeit verwissenschaftlicht ist? Kann der ehemalige Produktionsschüler Konflikte am Arbeitsplatz aushalten; wird er gestaltungsfähig, wenn es darum geht, mehr Autonomie und Spielräume zu erproben? Bei den organisationellen Merkmalen stellt sich zunächst die Frage, ob Produktionsschulen tatsächlich Arbeitsmarktinstrumente sind: Schaffen sie Arbeitsplätze oder sind sie eine "Warteschleife" vor neuer Arbeitslosigkeit? Ist dies vielleicht sogar eine Form neuer Arbeitslosigkeit? Natürlich gelten diese Anfragen für alle außerbetrieblichen Einrichtungen und sozialen Betriebe, die sich im sogenannten zweiten Arbeitsmarkt tummeln. Vielleicht gewichtiger ist das Problem, wie denn nun eine Produktionsschule funktioniert: Wie ein Betrieb? - Doch wohl nicht. Wie eine Schule? - Doch wohl auch nicht. Man muß nüchtern konstatieren, daß es keine rechte Charakterisierung gibt. Eins aber wird deutlich: Die Produktions-
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schule ist keine Anstalt, in der beamtenförmig Schüler belehrt werden. Sie lebt von dem Geist ihrer Mitarbeiter und dem "überspringenden Funken"; die Teilnehmer müssen mitmachen, wie in einem Betrieb. Die Selbststeuerung liegt also beim "Produktionsschüler" selber; er ist verantwortlich für seinen Bildungsgang, für seine Entwicklungsprozesse. Ist diese an moderne Managementstrategien gemahnende Konzeption noch pädagogisch zu nennen? Stehen die Produktionsschulteilnehmer in der Organisation nicht unter einem extremen Diktat der Selbstausbeutung, vor allem dann, wenn Aufträge hereinkommen, die nicht unbedingt nach pädagogischen, sondern nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten aquiriert wurden? Solche Fragen betreffen das Herzstück der Produktionsschule - und wir müssen konstatieren, daß die Produktionsschulen dazu noch keine Antworten, etwa durch Vergabe von Forschungsprojekten oder durch Modellversuche gegeben haben. Wenn man die pädagogische Ausrichtung der Produktionsschulen betrachtet, dann stößt man rasch auf die Frage, ob eine Bildungsinstitution so weit, wie angedeutet, individualisieren und differenzieren kann. Gibt es dann noch ein Gemeinsames, wenn nahezu alle etwas Verschiedenes lernen? Kann man überhaupt noch die Lernprozesse des einzelnen pädagogisch bewerten? Sind die Zertifikate für die dann absolvierten Module aussagefähig oder gar vergleichbar? Mit solchen Problemen muß sich eine Ausbilder- oder Anleitergruppe befassen, die in sich selbst uneinheitlich und deren Professionsverständnis noch nicht weit entwickelt ist. Da liegt die Vermutung nahe, daß in Produktionsschulen vielleicht nur kurz- bis mittelfristig pädagogische Kontinuität entsteht: Man arbeitet einige Jahre als Anleiter und sucht sich dann wieder eine neue Stelle. Und es darf nicht vergessen werden: Durch seine tendenzielle Abhängigkeit vom "Markt" (und vom "Geldquellen-Erschließen") ist die Kontinuität jeder Produktionsschule selbst gefährdet. Sie kann nicht über einen längeren Zeitraum planen, sondern ist einer völlig anderen externen Dynamik ausgesetzt als eine normale Schule. Hier stellen sich Fragen, ob die Produktionsschulen Vorreiter einer "entstaatlichten" Schule sind oder ob sie auch in Zukunft in einer doch sehr kleinen Zahl am Rande des offiziellen Bildungswesens mitlaufen. Die kulturellen Merkmale einer Produktionsschule drücken die Ambivalenz dieser Bildungsorganisation aus: Wenn Produktions-
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schulen "Betriebe" sind, wie verträgt sich das mit d e m S c h o n r a u m ansatz, d e r vermutlich v o r allem bei den europäischen P r o d u k t i o n s schulen Identifikationsanlässe für die Teilnehmer bietet? A n d e r s gef r a g t : K ö n n e n B e t r i e b e so gestaltet werden, d a ß sie i m m e r auch p ä d a g o g i s c h e M e r k m a l e ausweisen? E s ist d u r c h a u s nicht sicher, o b n o c h die p ä d a g o g i s c h e n Leitlinien in ihrer ursprünglichen Gestalt Gültigkeit haben, w e n n z.B. ein P r o d u k t i o n s b e r e i c h expandiert. Solc h e E n t w i c k l u n g e n können P r o d u k t i o n s s c h u l e n zu Z e r r e i ß p r o b e n f u h r e n , die - heimlich - die "Schulseite" an den P r o d u k t i o n s s c h u l e n u n t e r h ö h l e n k ö n n e n . U n d w e n n dann im V e r w e i s auf die "gemeinsam e Sache" v o n Benachteiligten Höchstleistungen g e f o r d e r t w e r d e n , d a n n ist d a s K o n z e p t gefährdet. D a n n könnten j e n e kulturellen Q u a litäten u n t e r g r a b e n w e r d e n , die die V o r a u s s e t z u n g d e r P r o d u k t i o n s schule bildeten u n d die erst ihre "betriebliche" D y n a m i k stimulierten.
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Weiterführende Literatur GREINERT, Wolf-Dietrich/WIEMANN, Günter (Hg.) (1992): Produktionsschulprinzip und Berufsbildungshilfe: Analysen und Beschreibungen. Baden-Baden.
5.7
Benachteiligtenfbrderung Arnulf Bojanowski, Heinz Dedering und Gottfried Feig
5.7.1
Ausgangslage: Zur Notwendigkeit der Integration benachteiligter Jugendlicher in die Arbeitswelt
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5.7.2
Kennzeichnung der Zielgruppe der Benachteiligten
503
5.7.3 5.7.3.1
Ursachen von Benachteiligung Probleme bei der Integration in den Ausbildungs- und Aibeitsmarkt Individuell-biographische Merkmale und Probleme der Heranwachsenden
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513 513 515
5.7.4.4
Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche Zersplitterte Zuständigkeiten in der Benachteiligtenförderung Berufsvorbereitung in der Schule Berufsvorbereitende Maßnahmen und Beschäftigungsansätze von Arbeitsverwaltung und Jugendhilfe Berufsausbildung mit sozialpädagogischer Orientierung
5.7.5
Ausblick
522
5.7.3.2
5.7.4 5.7.4.1 5.7.4.2 5.7.4.3
507 510
517 519
Zitierte Literatur
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Weiterführende Literatur
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5.7.1
Ausgangslage: Zur Notwendigkeit der Integration benachteiligter Jugendlicher in die Arbeitswelt
Die Integration Jugendlicher in die Arbeitswelt ist eine zentrale Voraussetzung für eine eigenständige Lebensbewältigung. Keine Arbeit zu haben, bedeutet für die Heranwachsenden eine Einengung ihrer Lebensmöglichkeiten: Sie können keine über die bloße Gleichförmigkeit des Alltagslebens hinausgehenden sozialen Erfahrungen machen, ihnen fehlt die Kompetenz zur Lösung subjektiv befriedigender Aufgaben, sie bekommen keine gesellschaftliche Anerkennung, weder gratifikatorisch (Geld oder Lohn) noch symbolisch (Berechtigungen, "Ansehen"). Die Bedeutung einer beruflichen oder arbeitsbezogenen Integration der Jugend in die Gesellschaft wurde erstmals angesichts der steigenden Zahl der jungen Ausbildungs- und Arbeitslosen in den späten siebziger Jahren breit in der Öffentlichkeit thematisiert. Inzwischen haben sich
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nach einer gewissen Entspannung der Ausbildungssituation die Rahmenbedingungen wieder verändert, vor allem für sozial benachteiligte und lernschwächere Jugendliche. Der Arbeitsmarkt für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung verengt sich. Offenbar fuhrt die technologische Weiterentwicklung zu einer Steigerung der Anforderungen im theoretischen und sozialen Bereich. Damit können schon für "normale" Hauptschüler Probleme entstehen. Denn der Hauptschulabschluß qualifiziert nur noch für wenige einfache, vorwiegend handwerkliche Berufe. Insbesondere für Mädchen ohne, aber auch mit Hauptschulabschluß ist die Situation besonders prekär, wenn sie auch in früheren Jahrzehnten oftmals schlimmer war. Seit der Bildungsexpansion der siebziger Jahre ist es zu einer gewissen Entwertung einfacher Bildungsabschlüsse gekommen. Die Bedeutung der Schulabschlüsse insgesamt ist gewachsen, mehr Jugendliche erreichen mittlere und höhere Schulabschlüsse und auch die qualifikatorische Hürde für den Zugang zur Arbeitswelt wird immer höher. Alle Jugendlichen, auch solche aus sogenannten bildungsfernen Schichten, stehen vor der Notwendigkeit, sich weiter zu qualifizieren. Solche Herausforderungen enthalten im Prinzip Entwicklungschancen, wenn man sich die Tradition der Aufklärung vergegenwärtigt: Modernität, Pluralität, Zivilität und Demokratisierung einer Gesellschaft muß rückgebunden sein an die Fähigkeit zum Diskurs und zur Selbstreflektion ihrer Mitglieder. Für die Ungelernten ist dies jedoch ein Problem: Einerseits müssen sie mit der Herausforderung, sich zu bilden oder weiterzubilden, umgehen lernen, andererseits aber führten Rationalisierungswellen in der Arbeitswelt zu einem Rückgang an Einfacharbeitsplätzen. Das Werben um die bildungsfemen Gruppen für vermehrte Qualifizierung gemäß dem Motto "Ausbildung für alle" heißt nicht, daß automatisch auch Arbeitsplätze in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Dieses Dilemma prägt bis heute die Konzeptentwicklungsdebatte um die Benachteiligtenförderung. Es reicht nicht aus, Lehrstellen zur Verfügung zu stellen, wenn die Heranwachsenden wissen, daß sie nicht übernommen werden; es reicht ebenso nicht aus, irgendwelche Maßnahmen und Aktivitäten zu entfalten, wenn es keine angemessenen pädagogischen Konzepte gibt, die der spezifischen Lebenslage und der individuellen Situation des schwierigen Heranwachsenden gerecht werden. Benachteiligte junge Menschen sind auf besondere Fördermaßnahmen zur Berufsvorbereitung und Berufsausbildung angewiesen.
Benachteiligtenforderung
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Wir betreten hier ein Feld, das die arbeitsorientierte Bildung bisher nur in Ansätzen erfaßt hat. Benachteiligtenforderung ist Thema in erster Linie der Berufspädagogik, die - ausgehend von der alten Frage nach der "Jungarbeiterbeschulung" - vor allem die schulische Integration der Benachteiligten thematisiert. Sodann ist hier die Sozialpädagogik engagiert, die mit dem Ansatz der Jugendberufshilfe z.B. in den fünfziger Jahren die "Berufsnot der Jugend" aufgegriffen hat. Beide pädagogischen Gedankenlinien werden im folgenden aufgegriffen und weitergeführt. Arbeitsorientierte Bildung ist deshalb bei der Benachteiligtenforderung verstärkt zu diskutieren, weil es hier um eine arbeitsbezogene Integration in das gesellschaftliche Leben geht - und zwar oft mit "Arbeit" als Anregungs- und Selbstfindungspotential für die Betroffenen. Und dabei könnte die arbeitspädagogische Anfrage an die Benachteiligtenforderung fruchtbar werden, um die pädagogischen Konzepte zu fundieren, zumal die "Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher .. nicht Gegenstand einer etablierten Forschungsdisziplin" ist (Zielke u.a. 1989, S. 89).
5.7.2
Kennzeichnung der Zielgruppe der Benachteiligten
Die Gruppe der Benachteiligten ist sehr differenziert; somit fällt auch die Definition dieser Zielgruppe schwer. Diese Differenziertheit läßt sich am Beispiel der Gruppe der Jugendlichen ohne HauptschulabschJuß verdeutlichen: So können eine mangelnde Vorbildung, eine unzulängliche Leistungsfähigkeit, eine fehlende Ausbildungsmotivation oder ein eingeschränktes Selbst- und Leistungsbewußtsein vorliegen. Soziale/familiäre Probleme führen ebenso zu Benachteiligungen wie personenbedingte Einschränkungen, Defizite im regionalen Ausbildungsplatzangebot, ein Ausbildungsabbruch oder Lern- und Verhaltensschwierigkeiten. Die Definition der Benachteiligung bewegt sich in einem Spannungsfeld, je nachdem, ob man Benachteiligung als individuelle Schädigung oder als Benachteiligung durch die Sozialisationsinstanzen sieht. Dabei werden körperlich und geistig behinderte Jugendliche im allgemeinen nicht zu den Benachteiligten gezählt, da für sie eigene gesetzliche Regelungen existieren und sie in besonderen beruflichen Einrichtungen (Werkstätten für Behinderte, Berufsbildungswerke, Berufsförderungswerke) mit einer spezifischen sozialpädagogischen Betreuung gefördert werden. Schon aus diesen Bestimmungen wird die Notwendigkeit eines heuristischen Herangehens an das Phänomen
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"Benachteiligung" ersichtlich. In einem ersten Zugriff lassen sich drei Benachteiligungsformen unterscheiden: 1. Ökonomisch-situative Benachteiligung: Die personalpolitische, konjunkturelle, demographische, regionale, gesellschaftliche und technologische Entwicklung beeinflußt das Ausbildungs- und Selektionsverhalten und erhöht die Hürden zum Ausbildungsmarkt/Arbeitsmarkt für die Benachteiligten. 2. Bildungspolitische Benachteiligung: Infolge mangelhafter Abstimmung zwischen Schul-, Ausbildungs- und Beschäftigungssystem werden Lernbeeinträchtigungen bei der Erfassung theoretisch-abstrakter Lerninhalte verstärkt. 3. Sozial-individuell bedingte Benachteiligung: Hierbei handelt es sich um Veranlagungs-, Konstitutions- und organisch-biologische Faktoren in Verbindung mit Umweltfaktoren (z.B. Sozialisationsverlauf), die zu Defiziten in der Sach-, Sozial-, Ich- und Sprachkompetenz bei Jugendlichen fuhren. Ohne Frage erfordert der Übergang in das Erwerbsleben von den Jugendlichen massive Anpassungs- und Umstellungsleistungen, die eine Vielzahl von Anforderungen und Risiken beinhalten. Damit zeigt sich auch die Komplexität des beruflichen Benachteiligungsprozesses. Es können zwar bestimmte Risikofaktoren bzw. Variablen (z.B. soziale Herkunft, schulische Vorbildung, Geschlecht, Nationalität, Marktsituation, regionale Unterschiede) identifiziert werden; eindeutige, konkret bestimmbare Benachteiligtentypen jedoch nicht. Entsprechend bleiben die Faktoren und Formen von Benachteiligung relativ grob. Sicher ist, daß die soziale Herkunft (Schicht, Familienstatus, berufliche Stellung der Eltern) eine wichtige Rolle spielt. Daher nimmt es nicht wunder, daß bei Jugendlichen ohne geschlossene Berufsausbildung oft als Herkunft Arbeiterhaushalte genannt werden (vgl. Pütz 1993, S. 78 f.). Ebenso gesichert gilt eine schlechte schulische Vorbildung als Indikator für Benachteiligung. Auch die geschlechtsspezifische Benachteiligung ist zu erwähnen, zumal wenn sich die oben genannten Faktoren häufen (vgl. Puhlmann 1993, S. 17 f f ) . Schließlich gelten junge Ausländer als benachteiligt; im Alter zwischen 20 und 24 Jahren bleiben bis zu 40 Prozent dieses Personenkreises ohne Berufsausbildung (vgl. BMBW 1992, S. 114). Und schließlich ist Regionalität ein erster Hinweis auf Benachteiligung, wenn etwa von den "strukturschwachen Regionen" die Rede ist, wie Nordhessen, Emsland, Mecklenburg-Vorpommern und andere Landstriche in Deutschland (und in Europa).
Benachteiligtenförderung
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Das vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Anfang der achtziger Jahre entwickelte Benachteiligtenprogramm, das dann 1988 in das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aufgenommen wurde, präzisiert die Zielgruppen der Benachteiligtenförderung folgendermaßen (vgl. § 40 c Abs. 2 AFG): 1. Ausländische Auszubildende, 2. lernbeeinträchtigte deutsche Auszubildende, insbesondere Hauptschulabgänger ohne Abschluß und Abgänger aus Schulen für Lernbehinderte (Sonderschulen), 3. sozial benachteiligte deutsche Auszubildende, unabhängig von dem erreichten allgemeinbildenden Schulabschluß, insbesondere a) Jugendliche, die nach Feststellung des Psychologischen Dienstes verhaltensgestört sind, b) Legasteniker, c) Jugendliche, für die freiwillige Erziehungshilfe vereinbart oder Fürsorgeerziehung angeordnet ist oder war oder die sonstige Hilfen zur Erziehung im Sinne des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) erhalten, d) ehemals drogenabhängige Jugendliche, e) Strafentlassene Jugendliche, f) junge Strafgefangene sowie jugendliche Spätaussiedler mit Sprachschwierigkeiten. 4. Auszubildende, deren betriebliche Ausbildung gemessen an den bisherigen Erkenntnissen über den Ausbildungsverlauf oder aufgrund sozialer Schwierigkeiten ohne Gewährung von ausbildungsbegleitenden Hilfen zu scheitern droht. Angesichts der tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Umstrukturierungsprozesse in den neuen Bundesländern wurden diese "originären Zielgruppen" spezifisch um die Gruppe der "Marktbenachteiligten" erweitert. Diese für einige Jahre erweiterte Zielgruppe ist dadurch gekennzeichnet, daß sie unter verbesserten Bedingungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt durchaus in der Lage wäre, eine normale betriebliche Ausbildung aufzunehmen. Diese verschiedenen Kennzeichen sind typisch für die Situation der Benachteiligtenförderung. Wir haben es hier mit einer außerordentlich heterogenen Gruppe Heranwachsender zu tun, die eine Vielzahl von individuellen, sozialen und situativen Merkmalen aufweist. Die Auswirkungen der vielfältigen Benachteiligungen auf das Lern- und Ausbildungsverhalten der Jugendlichen werden denn auch mit einer Fülle von
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Begriffen verdeutlicht. So finden sich zur Charakterisierung der benachteiligten Jugendlichen viele - fast diskriminierende - Bestimmungen, die aber in ihrer Summe eher hilflos wirken. Benachteiligte haben demgemäß Schwierigkeiten (die zudem von der Lebensgeschichte des einzelnen abhängen), wie geringes Selbstwertgefühl, Schulschwierigkeiten, Konzentrationsschwäche (besonders im theoretischen Unterricht), geringe Selbständigkeit, Motivationsschwierigkeiten, Kontaktschwierigkeiten, aggressives oder ausweichendes Verhalten in Konfliktsituationen, Schulmüdigkeit, Kooperationsschwierigkeiten und erhebliche Bildungsrückstände. Alle Bedingungen und Merkmale verweisen darauf, daß es keine wissenschaftlich halbwegs gesicherte Kennzeichnung von Benachteiligung gibt. Die Benachteiligtenförderung muß sich mit common-sense-Begriffen begnügen und der Klassifikationen aus Gesetzestexten bedienen. Trotz dieses wissenschaftlich ungeklärten Problemfeldes sollte der Begriff der Benachteiligung nicht einfach über Bord geworfen werden. Eine Vielzahl von Studien belegen ebenso wie Umgangserfahrungen von Praktikern mit "schwierigen" Jugendlichen, daß es "kumulative Benachteiligungen im Prozeß des Berufseinstiegs gibt" (Pritzl/Raab 1993). Nicht jeder Schuleschwänzer oder Ausbildungsabbrecher ist automatisch "benachteiligt"; aber er (oder sie) kann zum Benachteiligten werden, wenn mehrere ungünstige Bedingungen zusammenkommen. Vor diesem Hintergrund haben Bojanowski und Werner folgende Definition versucht: "Benachteiligt wird als Oberbegriff für alle jene Jugendliche verwendet, deren Entwicklungschancen gemessen an dem Postulat der materialen Chancengleichheit und dem Ziel der freien Berufswahl erheblich eingeschränkt sind" (Bojanowski/ Werner 1989, S. 149).
5.7.3
Ursachen von Benachteiligung
Die Benachteiligung Jugendlicher zeigt sich auf der Oberfläche in ihrer Beschäftigungslosigkeit, die wiederum maßgeblich auf fehlende bzw. unzulängliche Berufsausbildung zurückzuführen ist. Das Phänomen der Ausbildungslosigkeit ist zwar nicht auf benachteiligte Jugendliche beschränkt; die Ausbildungsmisere zeigt sich bei ihnen jedoch am deutlichsten. Zwei Ursachenbereiche charakterisieren die Lebenslagen von benachteiligten Jugendlichen: Zum einen bestimmen die konjunkturell und regional unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Berufsbildungssystems mit seinen durch Märkte beeinflußten Chancenstrukturen die Möglichkeiten des Eintritts von der Schule in Arbeit und Beruf.
Benachteiligtenförderung
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Zum anderen werden in der Person der Jugendlichen, ihrer Ziele, Orientierungen und Handlungsweisen, ihrer sozialen Situation und biographischen Entwicklung sowie in den erreichten Schulabschlüssen die Ursachen für Benachteiligung Jugendlicher gesehen (vgl. Rademacker 1993, S. 235). 5.7.3.1
Probleme bei der Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt Beim Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit Ende der achtziger bzw. Anfang der neunziger Jahre in Westdeutschland zeichnete sich eine klare Entwicklung ab: Es gibt konstant eine nicht unerhebliche Gruppe von Jugendlichen, die nicht über eine genügend psychosoziale und qualiflkatorische "Sprungkraft" verfugt, und die unabhängig von konjunkturellen und strukturellen Entwicklungen auf dem Ausbildungsund Arbeitsmarkt massive berufliche Einstiegsprobleme hat, so daß sie im Prozeß beruflicher und sozialer Integration zu scheitern droht (vgl. Höfer/Straus 1993, S. 25 ff.). Offenbar sind bestimmte Formen der subjektiven Verarbeitung in Kombination mit den objektiven Faktoren für die Integration bzw. Desintegration verantwortlich. Um die objektive Seite zu klären, verwendet man als einen - wenn auch groben Indikator für die Chancenstrukturen im Übergang von der Schule in den Beruf die sogenannte Angebots-Nachfrage-Relation für Ausbildungsplätze im dualen System der beruflichen Bildung. Vereinfacht gesagt: Verschlechtert sich diese Relation, sind alle Jugendlichen betroffen, aber dann insbesondere die Benachteiligten. Die achtziger Jahre waren für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Westdeutschland durch geburtenstarke Jahrgänge und unzureichende Ausbildungsmöglichkeiten geprägt. So blieben 1984 und 1985 fast 60.000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz; über 500.000 junge Menschen waren offiziell arbeitslos gemeldet. Anfang der 90er Jahre hatte sich das Angebots-Nachfrage-Verhältnis auf dem Ausbildungsstellenmarkt der alten Bundesländer für Bewerber günstiger entwickelt: Es wurden sogar mehr Ausbildungsstellen angeboten als nachgefragt. Entsprechende Globalzahlen bzw. Relationen haben jedoch für einen einzelnen Bewerber nur eine eingeschränkte Bedeutung, da sie nichts darüber aussagen, ob der gewünschte Ausbildungsplatz tatsächlich erlangt werden kann. Auch bleiben regionale Unterschiede hierbei unberücksichtigt. Es kann auch sein, daß bestimmte Berufsgruppen trotz globaler guter Situation für Ausbildungsplatzsuchende Nachfrageüberhänge aufweisen. Jedenfalls schien es so, als befände sich der
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Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Jugendliche und junge Erwachsene in einem Umbruch. Optimistische Prognosen sprachen von einer Beruhigung oder sogar Trendwende hin zu einem Überangebot an Ausbildungsmöglichkeiten. Tatsächlich lag zu Beginn der neunziger Jahre zumindest in den alten Bundesländern - selbst in traditionellen Krisenregionen wie dem Ruhrgebiet - ein größeres Angebot an Ausbildungsplätzen vor als nachgefragt wurde. Abgesehen davon, daß damit noch nichts über die Qualität der angebotenen Ausbildungsplätze gesagt ist, änderte sich diese entspannte Situation rasch. In den neuen Bundesländern war eine solche positive Phase ohnehin nicht festzustellen, bedingt durch den Abbau von Ausbildungsplätzen in der zusammengebrochenen Großindustrie. Gleichwohl muß man auch für die neunziger Jahre eine merkliche Quote von Ausbildungslosen konstatieren. Offenkundig hat man es nicht nur mit einem "konjunkturellen" Problem zu tun. So kann die gerade entwickelte Betrachtungsweise lehren, daß es nicht am Ausbildungsmarktgeschehen allein liegt, wenn die Arbeitsmarktintegration der Benachteiligten mißlingt. Ein weiterer Ansatz zur Klärung der Perspektiven der Benachteiligten zeigt, daß die Betriebe zum Teil selber die Integrationschancen mindern. Neuere Trendmeldungen gehen davon aus, daß in den kommenden Jahren mehr Unternehmen die Zahl der Ausbildungsstellen eher einschränken als ausbauen werden. Dies gilt für große Industrieunternehmen ebenso wie für kleine Handwerksbetriebe. Sodann ist die empirische Erfahrung festzuhalten, daß Arbeitslosigkeit oft das Problem einer langfristigen nichtstabilen Integration in die Arbeitswelt birgt. Schon heute ist die Arbeitslosenquote bei den Unqualifizierten mehr als doppelt so hoch wie bei jenen, die eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen können. Man kann es in Zahlen etwa so ausdrücken: Bei den Über-Zwanzig-Jährigen haben ca. 1,5 Millionen junge Erwachsene keinen Berufsabschluß in einem anerkannten Ausbildungsberuf. Von dieser Gruppe ist nach groben Schätzungen etwa ein Drittel arbeitslos. Hinsichtlich der Arbeitsmarktchancen für Erwerbspersonen ist mehrfach empirisch belegt worden, daß mit Ausbildungslosigkeit nicht nur ein erhöhtes Risiko von gehäufter, sondern auch von länger andauernder Arbeitslosigkeit einhergeht. Infolge zunehmender Qualifikationsanforderungen für die Beschäftigten wird das Arbeitsplatzangebot für Unqualifizierte in Zukunft drastisch zurückgehen. Immer häufiger werden höher qualifizierte Arbeitskräfte die Stellen von geringer qualifizierten Beschäftigten einnehmen und sie in die Arbeitslosigkeit
Benachteiligtenforderung
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drängen. Es wird ein Domino-Effekt dahingehend eintreten, daß selbst hochqualifizierte Arbeitskräfte oftmals Beschäftigungen akzeptieren müssen, deren Anforderungen unterhalb ihres Ausbildungsniveaus anzusiedeln sind. Als letztes Glied in der Kette trifft es den geringer Qualifizierten; ihm bleibt meist nur der Gang in die Arbeitslosigkeit. Die zahlenmäßige Betroffenheit der Benachteiligten kann nur geschätzt werden. Signifikant ist, daß 10 mal so häufig Sonderschüler und Hauptschüler ohne Abschluß und zweimal so häufig Ausländer ohne Ausbildung bleiben (vgl. Ortleb 1992, S. I). Schon Ende der achtziger Jahre wies die damalige Familienministerin Rita Süssmuth darauf hin, daß trotz Geburtenrückgangs ein Anteil von zehn bis zwölf Prozent eines Altersjahrganges bleibt, der nicht "auf dem normalen Weg in berufliche Ausbildung und damit in den Beruf geführt werden kann" (Süssmuth 1990, S. 46). Diese These wird von vielen Fachleuten geteilt. So resümiert eine neue Untersuchung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft über Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung: "Eine einfache Betrachtung der betreffenden Gruppe ohne Schüler, Studenten und Jugendliche in der Berufsausbildung ergibt einen Anteil von 14,1 Prozent von jungen Erwachsenen ohne formale Berufsausbildung. Kompliziertere Schätzungen, die davon ausgehen, daß auch unter derzeit Auszubildenden ein gewisser Anteil ohne Berufsabschluß bleiben wird, lassen vermuten, daß der reale Anteil an jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluß an der Wohnbevölkerung ihres Alters eher höher liegt" (BMBW 1991, S. 2) Auch mit dem "Abebben" der "demographischen Welle" bleibt die Herausforderung, daß ein gewichtiger Prozentsatz von 10 bis 15 Prozent eines Altersjahrganges als benachteiligt und/oder arbeitsplatzsuchend zu klassifizieren ist. In Zahlen ausgedrückt: Man kann von 100.000 bis 150.000 Jugendlichen jährlich ausgehen. Diese Zahlen sind in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. Im Jahre 1990 z. B. haben 23,4 Prozent ihre Ausbildung abgebrochen (vgl. BMBW 1992, S. 36). Von ihnen beginnt ein erheblicher Teil keine neue Ausbildung mehr; die Betroffenen werden arbeitslos oder verrichten eine Tätigkeit als un- oder angelernte Arbeiter. Zentrale Problemstellen der Jugendarbeitslosigkeit sind der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung (Schwelle I) und der Übergang von der Berufsausbildung in die anschließende berufliche Tätigkeit (Schwelle II) (vgl. Autorengemeinschaft 1980, S. 6). Diese Übergänge stellen gleichsam Risikostellen der Erwerbsbiographie dar. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, daß be-
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reits an Schwelle I Jugendliche ohne und mit Hauptschulabschluß, Jugendliche mit Sonderschulabschluß, Jugendliche mit Lernproblemen, ausländische Jugendliche, behinderte Jugendliche, Altbewerber, Ausbildungsabbrecher, Jugendliche in sozialen Notsituationen (Drogenabhängige, junge Strafentlassene, Heimjugendliche) überproportional von einem Ausbildungsplatzrisiko betroffen waren. Insgesamt, aber auch innerhalb dieser Gruppe standen die weiblichen Jugendlichen durchschnittlich vor den größten Problemen. Aber auch die Annahme, daß ein Berufsabschluß eine spätere Berufstätigkeit garantiert, hat sich mittlerweile für viele junge Menschen als Trugschluß erwiesen. Insbesondere in den achtziger Jahren hat sich Schwelle II als ein großes Hindernis herausgestellt: Während sich die allgemeine Arbeitslosigkeit um das 2,5-fache erhöhte, stieg die Zahl der Arbeitslosen zum Anschluß an eine betriebliche Ausbildung um das Siebenfache (vgl. Stegmann 1985, S. 381). Überproportionale Beschäftigungsrisiken zeigen sich vor allem in Kleinbetrieben, zumeist im Handwerk (vgl. Herget u.a. 1987, S. 63) und in typischen Frauenberufen (vgl. Chaberny 1986, S. 107). 5.7.3.2
Individuell-biographische Merkmale und Probleme der Heranwachsenden Genauso wichtig ist der zweite Ursachenkomplex für Benachteiligung: die individuellen Faktoren. Offenbar gibt es Jugendliche, die einer betrieblichen Ausbildung einfach nicht gewachsen sind. Diese Erfahrung ist nicht neu, sie wird aber erst vor dem Hintergrund forcierter Modernisierung, so wie wir sie am Wandel der Ausbildungsplatzsituation angedeutet haben, virulent. Bildungsgeschichtliche Studien zeigen, daß es immer schon eine große Gruppe Jugendlicher gegeben hat, die mit Berufsausbildung wenig zu tun hatte; ihr Lebensziel war eine ungelernte Tätigkeit. Es gab also, historisch gesehen, immer schon Jugendliche, die Probleme mit der Arbeitsmarktintegration hatten. Entsprechend war früher die Zahl der Ungelernten sehr viel höher; mindestens ein Drittel eines Altersjahrganges in den zwanziger Jahren. Jedenfalls läßt sich grundsätzlich gesehen - von einer Verschiebung im Gesellschaftssystem sprechen, die erst in den letzten zwei Dekaden Bedeutung gewonnen hat: "Die hohe und steigende Ausschöpfung der Bildungsreserven fuhrt dazu, daß immer mehr Jugendliche, die früher keine Ausbildung aufnahmen, heutzutage eine Ausbildung beginnen, ohne daß entsprechende Förderung für sie vorhanden ist" (Schober 1992, S. 23). Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz wird deutlich, wo die Probleme vieler junger Menschen liegen: Sie können mit den steigenden Anforderungen in Ausbildung und Arbeitswelt nicht mithal-
BenachteiligtenfÖrderung
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ten. Wenn es keine zusätzlichen Hilfestellungen gibt, dann sind sie im normalen Ausbildungsbetrieb chancenlos. Doch diese bildungshistorische und -soziologische Betrachtungsweise reicht nicht aus, um die tatsächlichen Probleme des hier zur Debatte stehenden Personenkreises angemessen zu erfassen. Notwendig ist eine Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit oder der Herkunftsverhältnisse der Benachteiligten. Das kategoriale Beschreibungsmuster muß die Betroffenheit jener Pädagogen mitenthalten, die sich mit diesen Zielgruppen professionell befassen. Die Erfahrungen zeigen: Diese Jugendlichen haben tatsächlich enorme Wissenslücken, gravierende Lernschwierigkeiten, extreme Verhaltensprobleme und insgesamt "Sozialisationsdefizite". Eine Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung faßt versuchsweise die Beschreibungen ungünstiger Merkmale zusammen: "Herkunft aus sozial schwachen Familien; auffällig hohe Geschwisterzahlen; Arbeitslosigkeit der Eltern; Unvollständigkeit der Familien; beengte Wohnverhältnisse; Geldmangel; Drogenprobleme (insbesondere Alkohol); ganz allgemein ein anregungsarmes Milieu" (Zielke u.a. 1985, S. 12). Die Gesamtschau auf die verschiedenen Faktoren bietet ein erschreckendes Bild. Pädagogisch ist es nicht sinnvoll, von einer individuellen "Schuld" eines benachteiligten Jugendlichen zu sprechen; es ist kein böser Wille, wenn er (oder sie) die Schule schwänzt oder "trouble" im Stadtteil macht oder Autos knackt und zu Schrott fährt. Benachteiligung heißt eben, daß es signifikante Zusammenhänge gibt zwischen der sozialen Lebenswelt, der jeweiligen Lebenslage und den Chancen zur Selbstentwicklung. Falsch ist es, die Bedingungen eines solchen "gebrochenen" Aufwachsens zu leugnen - wie es ebenso falsch wäre, die Probleme dieses Personenkreises als "gesellschaftlich produziert" zu überspielen. Dies hieße nämlich, die tatsächlichen Probleme, die diese Jugendlichen haben und die sie machen, zu leugnen. Veränderte gesellschaftliche Anforderungen bilden einen "Resonanzboden", der die Probleme beim Aufwachsen gleichsam verstärkt. Biographische Untersuchungen zeigen denn auch, daß Benachteiligte auf eine "Kette" von Mißgeschicken und Mißerfolgserfahrungen zurückblicken, die durchaus noch kompensierbar wären, aber irgendwann als eigenes Versagen interpretiert werden und dann neue Versagensmomente beim Heranwachsenden auslösen. Insbesondere drei Erscheinungsformen sind für Benachteiligte typisch: 1) Auffälligkeiten im sozialen Bereich (Verhaltensauffälligkeiten): Der Begriff der Verhaltensauffälligkeit beschreibt ein überdauerndes ne-
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gatives Sozialverhalten in pädagogischen Situationen, das gegen Ausbilder, Lehrer, andere Erziehende, gegen gleichrangige Gruppenmitglieder, Gruppennormen, Sachobjekte und/oder gegen sich selbst artikuliert wird. Das heißt, daß der Jugendliche Schwierigkeiten hat, z.B. die Normen des Ausbildungsbetriebes (Arbeitstugenden) anzuerkennen oder einzuhalten; der Jugendliche ist oft aggressiv und renitent gegenüber seinen Arbeitskollegen und gegenüber den Ausbildern; weiterhin ist zu beobachten, daß der verhaltensauffällige Jugendliche wenig Durchhaltevermögen entwickelt oder nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung verlangt; oft ist er auch unselbständig und nahezu unfähig, Verantwortung zu übernehmen oder sich die Folgen des eigenen Tuns bewußt zu machen. Entscheidend ist: Die Jugendlichen sind tatsächlich schwierig und sie haben reale Schwierigkeiten im Alltagsleben. 2) Auffälligkeiten im Lern- und Leistungsbereich: Der Begriff der Lernstörungen oder der Lernbehinderung umfaßt Einschränkungen, Hemmungen und Erschwernisse beim Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten. Lernbemühungen der Jugendlichen stoßen in den verschiedenen Lernphasen oft auf Schwierigkeiten. Beim Aufnahmeprozeß (Perzeption), beim Speicherungsprozeß (Kurz-, Langzeitgedächtnis), beim Verarbeitungsprozeß (Integrations- und Abstraktionsvorgänge) und beim Wiedergabeprozeß (Erinnerung, Reproduktion) ergeben sich Probleme, z.B. Konzentrationsstörungen, schwaches Durchhaltevermögen. Der Jugendliche ist offensichtlich in vielen Dimensionen seiner kognitiven Entwicklung behindert. 3) Probleme bei der Lebensbewältigung: "Lebensbewältigung" als moderner sozialpädagogischer Term (vgl. z.B. Böhnisch/Münchmeier 1990, S. 2 ff.) zielt auf Autonomie und Selbstregulation im Jugendalter. Benachteiligte Jugendliche haben damit Probleme. Untersuchungen belegen Persönlichkeitsprobleme (Selbstmordgefährdung, Depressionen) oder Suchtprobleme. Zu finden sind Tendenzen zu Straftaten oder Gewalthandlungen gegen Sachen oder Personen. Sexuelle Auffälligkeiten sind ebenso zu finden wie somatische Erkrankungen oder risikobetontes Freizeitverhalten. Lebensbewältigung angesichts blockierter Lebensgeschichte droht zu scheitern, zumal wenn keinerlei realistische Lebensvorstellungen darüber existieren, was man denn nun aus sich machen könne. Die Lebensgeschichten benachteiligter Jugendlicher weichen extrem ab von "Normalbiographien". Offenkundig bedarf es spezifischer Anregungen und Förderprogramme, um Hilfen zum Leben (als Voraussetzung zur Arbeitsmarktintegration) zu geben.
Benachteiligtenförderung
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Die Ursachenforschung nach individuellen Faktoren von Benachteiligung verweist mithin unmittelbar auf die pädagogische Dimension der Benachteiligtenförderung. Erst wenn es gelingt, auch mit Unterstützung arbeitsorientierter Konzepte, benachteiligte junge Menschen so zu fördern, daß sie Anschluß gewinnen, daß sie etwas nachholen können, was ihnen vorenthalten wurde, dann ergeben sich Chancen praktischer Lebensbewältigung oder besser: dann öffnen sich ihnen Wege in das Leben (und vielleicht auch in Arbeit und Beruf). Benachteiligtenförderung ist damit auf zwei Kriterien verwiesen: auf Berücksichtigung der Ausbildungsplatzsituation sowie der Frage nach den adäquaten Arbeitsplätzen (wie in Kap. 5.7.3.1 dargetan) und auf die persönlichkeitsangemessenen Förderkonzepte, die eigenständig zu entwickeln sind. Beide Kriterien sind nur bedingt aufeinander rückfuhrbar. Zwar sind die "objektiven Chancenstrukturen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes immer auch wesentliche Rahmenbedingungen für Maßnahmen, die auf eine Verringerung der Ausbildungslosigkeit durch eine Verbesserung der individuellen Voraussetzungen zielen" (Deutsches Jugendinstitut 1993, S. 17), wie das Deutsche Jugendinstitut in seinem bildungspolitischen Konzept zur Prävention von Ausbildungslosigkeit Jugendlicher argumentiert; doch bleibt die Analyse der Rahmenbedingungen "blind", wenn wir keinen Begriff davon haben, was benachteiligte Jugendliche alles lernen könnten und müßten und wie dies zu bewerkstelligen wäre. Mit diesem doppelten Kriteriensatz, der die Spannung von "objektiven Strukturen" und "individuell angemessenem Förderkonzept" nicht einebnen will, sollen nun die Maßnahmen und Konzeptionen zur Benachteiligtenförderung näher beleuchtet werden.
5.7.4 5.7.4.1
Maßnahmen für benachteiligte Jugendliche
Zersplitterte Zuständigkeiten in der Benachteiligtenförderung Maßnahmen zur beruflichen Förderung benachteiligter Jugendlicher werden von zahlreichen Institutionen angeboten. Schon eine erste Beobachtung der Benachteiligtenförderungslandschaft zeigt eine schier unübersehbare Zahl von "Trägern", also von Einrichtungen, Institutionen oder Organisationen, die Benachteiligte betreuen, fördern oder ausbilden. Zum Beispiel: 1. Öffentliche Träger a) Allgemein- und berufsbildende Schulen
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
b) Volkshochschulen c) Sonstige öffentliche Träger, z.B. die Bundesanstalt für Arbeit 2. Private Träger a) Zweckverbände und Organisationen der Wirtschaft (Betriebe, Kammern, Innungen, Verbände, Gewerkschaften, Arbeitskammern u.a.) b) Träger der freien Wohlfahrtspflege (Jugendsozialwerk, Christliches Jugenddorfwerk, konfessionelle Zweckgemeinschaften u.a.). Offenbar haben wir es hier mit extrem zersplitterten Zuständigkeiten, verschiedensten Finanziers und unterschiedlichen Rechtsnormen zu tun. Umgekehrt formuliert: Für benachteiligte Jugendliche gibt es in Deutschland keine Instanz, die mit Rechtsauftrag und Mitteln ausgestattet wäre, BenachteiligtenfÖrderung zu betreiben. Dieser Sachverhalt hängt mit historisch gewachsenen Besonderheiten des Komplexes Jugendbildung zusammen. Folgende Entwicklungslinien sind dabei zu berücksichtigen: (1) Die meisten Jugendlichen werden in Betrieben der Wirtschaft und in der (Teilzeit-)Berufsschule ausgebildet. In diesem dualen System der Berufsausbildung gab es immer schon Probleme mit den "Ungelernten", denn ohne einen Ausbildungsplatz im Betrieb wäre ein Berufsschulbesuch nicht begründbar. So zieht sich eine endlose Jungarbeiterfrage in der Berufsschule durch viele Jahrzehnte Berufsschularbeit (vgl. Nolte u.a. 1973; Seubert 1984). Mit der Schaffung eines Berufsvorbereitungsjahres (BVJ) Anfang der siebziger Jahre in Westdeutschland fand diese Entwicklung einen vorläufigen Abschluß. (2) Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 wurde die von der Reichsschulkonferenz (1920) festgeschriebene Trennung von Jugendhilfe und Schule gesetzlich verankert. Neben den beiden "Erziehungsmächten" Familie und Schule (Gertrud Bäumer) wurde eine dritte Instanz etabliert, die Sozialpädagogik des Jugendalters oder besser: die Jugendwohlfahrtspflege - zum Teil angeregt und angestoßen von Jugendbewegungen (Wandervogel, Arbeiterjugend) und Reformpädagogik, zum Teil auch als staatliche Gegenreaktion auf die freiheitlichen Tendenzen des bürgerlichen und proletarischen Jugendalters zu verstehen. Entscheidend war dabei der Gedanke der Subsidiarität. Jugendorganisationen (Vereine, Verbände, Kirchen etc.) - eben "freie Träger" (nicht staatliche) - sollten zuallererst in Selbsthilfe Betreuungsarbeit oder Unterstützung leisten (vgl. Krafeld 1984). Aus unterschiedlichen Anfängen entwickelte sich die Jugendberufshilfe, die dann im § 13 des
BenachteiligtenfÖrderung
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1990/91 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) ein gesetzliches Fundament fand. (3) Mit der Schaffung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) wurde 1969 ein arbeitsmarktpolitisch akzentuiertes Instrument geschaffen, mit dem ausbildungslose Jugendliche durch vom Arbeitsamt finanzierten Maßnahmen bei verschiedenen Trägern (Schulen, Betrieben, Kammern, Wirtschaftsverbände, Wohlfahrtseinrichtungen etc.) ihre Ausbildungschancen verbessern sollten. Diese berufsvorbereitenden Maßnahmen bekamen Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre eine wichtige Funktion zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit (vgl. Heinz/Krüger u.a. 1985) und wurden allmählich auf bestimmte Zielgruppen hin zugeschnitten. Die Maßnahmen der Arbeitsverwaltung sind neben den schulischen Angeboten quantitativ von hoher Bedeutung, zumal durch die Bundesanstalt auch andere Maßnahmen, z.B. die Jugendberufshilfe, mitfinanziert werden können. (4) Parallel zu den Aktivitäten gemäß dem AFG wurde angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit in den Bundesländern eine Vielzahl von zumeist kurzlaufenden Sonderprogrammen aufgelegt. Besondere Bedeutung erhielt das schon erwähnte Benachteiligtenprogramm der Bundesregierung (->• Kap. 5.7.2). Dieses Programm hat dazu beigetragen, daß sich in Deutschland parallel zum dualen System der Berufsausbildung eine eigene Variante der BenachteiligtenfÖrderung, die außerbetriebliche Berufsausbildung, etablieren konnte; die Berufsausbildung findet zumeist bei einem freien Träger statt, der mit zusätzlicher sozialpädagogischer Unterstützung benachteiligte Jugendliche ausbildet (vgl. BMBW 1992). Selbst wenn man nicht zur Polemik neigt: Vergleicht man diesen historisch sich entwickelt habenden "Flickenteppich" von Angeboten und Maßnahmen mit einem geordneten schulischen Bildungsgang eines Gymnasiasten oder eines Realschülers mit anschließender Lehre, dann wird in vollem Umfang sichtbar, was Benachteiligung heißt: ein Ausgebremst-werden in einem Wildwuchs von Maßnahmen und Institutionen, ein Alleingelassen-sein in einem organisierten Chaos pädagogischer Verantwortungslosigkeit! 5.7.4.2 Berufsvorbereitung in der Schule Da verschiedene Formen der Benachteiligung bereits in der vorberuflichen Lebensphase auftreten, müßte eine sinnvolle Förderung benachteiligter Jugendlicher schon im Rahmen des Sachunterrichts (-*• 4.1.) und der Arbeitslehre (-• 4.2.) einsetzen, (z.B. durch Binnendifferenzie-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
rung, handlungs- und projektorientierten Unterricht, Beratung und Übergangsplanung). Hier wird dem Problem der Benachteiligung meist jedoch nur am Rande Beachtung geschenkt. Schulische Berufsvorbereitung erfolgt in der Berufsschule, und zwar vornehmlich in Form des BVJ sowie in Maßnahmen mit ähnlichen, aber weitergehenden Zielsetzungen, z.B. im schulischen Berufsgrundbildungsjahr (-* 5.1.3.1) in Bayern und Rheinland-Pfalz und in berufsbefähigenden Lehrgängen in Berlin. In Nordrhein-Westfalen hat sich für das BVJ inzwischen der Begriff "Vorklasse zum Berufsgrundschuljahr" eingebürgert. Das BVJ (vgl. z.B. Arnold 1993) ist ein einjähriger Ausbildungsgang in Vollzeitform. Er vermittelt elementare fachtheoretische und fachpraktische Qualifikationen aus mehreren Berufsfeldern und eine vertiefte Allgemeinbildung. Nur zu oft kommt es vor, daß im BVJ Jugendliche auftauchen, die hier ihre Berufsschulpflicht erfüllen (müssen). Die schulischen Voraussetzungen sind meist denkbar schlecht. So kann sich in einem BVJ eine Schülerpopulation finden, deren Heterogenität von "abgebrochenen" Sonderschülern bis hin zum Realschüler ohne Lehrstelle reicht. Die Absolventen des BVJ sollten befähigt werden, eine Berufsausbildung aufzunehmen. Das Abschlußzeugnis ersetzt in manchen Bundesländern einen fehlenden Hauptschulabschluß. In einigen Bundesländern (z.B. in Hessen) existiert eine besondere Form des BVJ für ausländische Jugendliche ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Das BVJ ist - wie erwähnt - in den siebziger Jahren geschaffen worden. Es sollte ein "Auffangbecken" für diejenigen Jugendlichen sein, die nicht in eine weiterführende Schule oder in ein Ausbildungsverhältnis eintreten. Außerdem sollte es eine Alternative zum 10. Schuljahr und zum Berufsgrundbildungsjahr für jene Schülerinnen und Schüler bilden, die hier nicht ausreichend gefördert werden können. Die didaktische und organisatorische Gestaltung des BVJ ist meist mangelhaft. Nur wenige Schulen legen Wert auf Projektunterricht, Binnendifferenzierung, freiwilligen Lehrereinsatz, angemessene Stundenzahlen in den Klassen, Verbindung zu außerschulischen Maßnahmen und Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen. "In vielen Schulen fristen die Klassen ein Schattendasein, das durch eintönigen Unterricht, hohe Ausfallquote, den Einsatz von Mahnverfahren und nicht zuletzt durch die räumliche Lage und die Gestaltung der Klassenräume offensichtlich wird" (Lippegaus 1994, S. 46). Entsprechend verbessert das BVJ die defizitären Ausbildungschancen seiner Besucher kaum, und häufig wird
Benachteiligtenförderung
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es in seiner bisherigen Form als Fehlkonstruktion eingeschätzt (vgl. Bunk/Merz 1993, S. 291). Es sollte aber bedacht werden, daß das BVJ einen interessanten arbeitspädagogischen Kern enthält. Neben dem manchmal vorhandenen Fach "Arbeitswirtschaftslehre" (mit Betriebskalkulationen, Lohnberechnungen etc.) finden sich in "guten" BVJKlassen fachpraktische Projekte, in denen Produkte für den Eigenbedarf oder sogar für einen Auftraggeber gefertigt werden. Auch sind manchmal Arbeitsgemeinschaften zur Berufsfindung oder gelenkte Betriebspraktika, die unmittelbare Arbeitserfahrungen ermöglichen, zu finden. Hierzu sind allerdings regionale Kooperationen notwendig (vgl. Bojanowski/Werner 1989). 5.7.4.3
Berufsvorbereitende Maßnahmen und Beschäftigungsansätze von Arbeitsverwaltung und Jugendhilfe Die im Arbeitsförderungsgesetz vorgesehenen Maßnahmen zur Berufsvorbereitung werden von der Bundesanstalt für Arbeit gefordert. Diese führte bereits Mitte der siebziger Jahre Grundausbildungs-, Förderungs- und Vorbereitungslehrgänge durch, denen eine Überbrückungsfiinktion zugewiesen wurde. Es folgten in den achtziger Jahren verschiedene Programme, die teilweise wieder eingestellt oder modifiziert wurden (z.B. Maßnahmen zur Vermittlung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse). Inzwischen bietet die Bundesanstalt für Arbeit folgende Maßnahmen an: - Grundausbildungslehrgänge (G) - Förderlehrgänge (F) für unterschiedliche Zielgruppen - Informations- und Motivationslehrgänge (IM) - Berufsförderlehrgänge, insbesondere fiir Jugendliche, die nur einen Sonderschulabschluß haben - Lehrgänge und Kurse zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses. Auch ist auf die Maßnahmen der Arbeitsvermittlung hinzuweisen. Bei ihnen geht es darum, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ein Arbeitsverhältnis zu bringen. Die Zielgruppe ist auch hier sehr heterogen: Ausbildungsabbrecher/innen, Aussiedler/innen, Ausländer/innen, Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung, Jugendliche mit abgeschlossener Ausbildung, die jedoch nicht vermittelt werden konnten und Jugendliche, die nicht ausbildungsgeeignet erscheinen. Ein weiteres Standbein im Feld "berufsvorbereitender Maßnahmen" stellen die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM) und die Kurse zur Fortbildung, Umschulung und Einarbeitung dar.
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Besondere Probleme bei diesen Maßnahmen zeigen sich bei der Finanzierung, der unzulänglichen Förderung der Jugendlichen, ihrer sozialpädagogischen Betreuung und durch den Mangel an geeigneten unterstützenden Materialien (vgl. Pütz 1993, S. 103). Generelle Kritik gilt der Zuweisungspraxis der Arbeitsämter, insbesondere der gesellschaftsspezifischen Berufsfeldzuweisung. Aus der Sicht der Jugendlichen ist eine Hierarchie der Alternativen festzustellen. Zuerst wird ein Ausbildungsplatz im dualen System angestrebt; wenn das nicht gelingt, ein weiterer Schulbesuch im BGJ. Als letztes bleibt nur noch das BVJ oder eine berufsvorbereitende Maßnahme der Bundesanstalt für Arbeit (vgl. Budde/Klemm 1987, S. 36). Die Attraktivität dieser Maßnahmen für Jugendliche ist ambivalent. Während vor allem Jugendliche ohne (Haupt-)Schulabschluß mit einer Teilnahme neue Arbeits- und Lernbereitschaft signalisieren, fuhrt die Durchführung für Schüler mit Schulabschluß eher zu einer Stigmatisierung, da die Jugendlichen als leistungsschwach und lernbehindert angesehen werden. Zu diesen - quantitativ durchaus bedeutsamen - AFG-Maßnahmen tritt jener Bereich der berufsvorbereitenden, orientierenden oder beschäftigungsbezogenen Maßnahmen der Jugendberufshilfe bzw. der berufsbezogenen Jugendhilfe hinzu, der auf Ideen, Konzepten, Realisierungsversuchen und Projekten vieler freier Träger und Initiativen basiert (vgl. Straus 1993). Das Spektrum reicht weit. So werden in der "arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit" gemäß dem Bundesjugendplan Angebote zur Berufsorientierung oder -Vorbereitung, zur Beratung oder zur Beschäftigung gemacht. Es gibt Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit sozialpädagogischer Unterstützung bei kleinen Vereinen oder Werkstattprojekten, in denen die Heranwachsenden Gebrauchsstücke anfertigen. Auch finden sich Beratungsstellen zur psychosozialen und arbeitsmarktbezogenen Beratung oder Jugendwerkstätten, in denen Ausbildung, Vorbereitung oder Beschäftigung flexibel kombiniert werden. Typisch für diese Angebotsform sind die intensive, individualisierende Betreuung der Benachteiligten durch Sozialpädagogen und Ausbilder sowie durch weitere pädagogische Fachkräfte, die finanzielle Mischforderung aus Mitteln der Arbeitsverwaltung, der Jugendbehörden, weiteren Zuwendungen aus europäischen Programmen, Eigenfinanzierung u.ä. Typisch sind auch Vernetzungen solcher Projekte mit dem regionalen Umfeld mit allgemeinbildenden Schulen, Berufsschulen,
Benachteiligtenförderung
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Arbeitsämtern, Jugendämtern, Jugendverbänden, Betrieben, Kammern, Innungen, Beratungseinrichtungen etc. Die Arbeitsfelder dieser Projekte - und hier wird der Aspekt der arbeitsorientierten Bildung virulent - beziehen sich meist auf gesellschaftlich vernachlässigte oder notwendig zu bearbeitende Aufgaben wie Wohnraumsanierung, Raumausstattung, ökologische Landschaftspflege, Haushaltsauflösungen, Waldarbeiten, Naturschutz, Druckaufträge, Altersversorgung, Metallarbeiten usw. (vgl. Bust-Bartels 1987; Kaiser 1987). Es wird also nicht an "Übungsstücken" gearbeitet, sondern an realen Gegenständen und Dienstleistungen. Arbeit kann sogar im Rahmen einer "Alternativökonomie" oder eines "zweiten Arbeitsmarktes" als produktive Möglichkeit erscheinen, Lernen mit sinnvoller Aufgabenerfüllung und Schlüsselqualifikationserwerb zu verbinden. Das Entscheidende ist neben dem Arbeitsmarktbezug gerade die pädagogische Ausrichtung dieser Projekte. Neben der sozialpädagogischen Betreuung (-> Kap. 5.7.4.4) hat sich inzwischen ein Korpus von didaktisch-methodischen Anregungen zur Benachteiligtenförderung entwickelt: Benachteiligte werden durch eine "sozialpädagogische Diagnostik" (Mollenhauer/Uhlendorff 1992) ganzheitlicher verstanden; das Lemangebot zur Anregung von neuen Tätigkeiten erstreckt sich von musisch-kulturellen (vgl. Brater 1983), biographiebetonten (vgl. Birkholz/Klatta 1993) und erlebnisorientierten (vgl. Bauer/ Nickolai 1989) bis hin zu körperaktivierenden Lernansätzen (Becker 1991). Mit diesen Merkmalen hat die Jugendberufshilfe eigenständig einen entscheidenden Beitrag zur Benachteiligtenförderung geleistet. Hier spielt neben dem Kooperationsgebot des § 13 (4) KJHG vor allem der Einmischungsgedanke eine wichtige Rolle: Jugendhilfe kennt die Brennpunkte der arbeitsweltbezogenen Integration von Benachteiligten; mit dem im Laufe der Jahre ausgebauten pädagogischen Instrumentarium hat sich das Wissen und das Können für eine qualitative Verbesserung der Berufsvorbereitung und Beschäftigung im Benachteiligtenbereich erweitert (vgl. Furth/Lehning 1990; Tesch 1992). 5.7.4.4
Berufsausbildung mit sozialpädagogischer Orientierung Wie gesagt, Ziel der berufsvorbereitenden Maßnahmen ist es, die benachteiligten Jugendlichen für eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf zu befähigen. Es mußte jedoch festgestellt werden, daß diese Maßnahmen nur graduell fruchteten. Deshalb erfolgte eine Ausweitung der staatlichen Intervention hin zu außerbetrieb-
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liehen Einrichtungen und Benachteiligtenprogrammen. In diesen Maßnahmen befinden sich in der Bundesrepublik gegenwärtig etwa 30.000 Jugendliche. Die ursprüngliche Intention, nach Möglichkeit die Auszubildenden nach einer außerbetrieblichen Maßnahme von einem Jahr in eine betriebliche Ausbildung überzuleiten, ließ sich jedoch nur selten verwirklichen. Vielmehr verblieb die Mehrheit in den außerbetrieblichen Einrichtungen. Um betriebliche Eingliederungshilfen zu schaffen, wurde das Benachteiligtenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft ab 1982 um die sogenannten ausbildungsbegleitenden Hilfen ergänzt (bundesweit rund 69.000). Die bisherigen Ergebnisse des Benachteiligtenprogramms sind unterschiedlich. Auflfallend ist, daß zu sehr in Berufen mit hohen Beschäftigungsrisiken ausgebildet wurde (vgl. Zielke u.a. 1989, S. 7). Die Übernahmequoten sind jedoch - so eine Erhebung der Abschlußjahrgänge 1983 - 1985 - beachtlich (vgl. Petzold/Schlegel 1986, S. 25). Insbesondere für ausländische Absolventen - nicht jedoch für ausländische junge Frauen - stellt sich das Ergebnis positiv dar. Das Benachteiligtenprogramm hat also durchaus eine Entlastung des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes gebracht. Gleichwohl sind Verbesserungen notwendig. So muß das Ausbildungspersonal höher qualifiziert bzw. auf die Zielgruppen abgestimmt und der Einfluß der Neuordnung der Ausbildungsberufe (->• 5.2.1.) muß geklärt werden. Generell ist aber festzustellen, daß es durchaus gelungen ist, auch benachteiligte Jugendliche berufsfähig zu machen. Dies wird durch eine Reihe didaktischer und organisatorischer Maßnahmen ermöglicht, die in den vergangenen Jahren im Rahmen der Berufsausbildung Benachteiligter erprobt worden sind. Die Arbeitsschwerpunkte des Gesamtkonzepts einer "sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung" beziehen sich u.a. auf die folgenden Elemente: * Planung und Durchführung der Ausbildung: Um den Jugendlichen gerecht zu werden und um sie intensiv zu fördern, reflektierte man über die pädagogischen Möglichkeiten der praktischen Arbeit in der Werkstatt für den fachtheoretischen Unterricht. Ausgehend von den bestehenden Rahmenbedingungen (Ausbildungsordnung, Rahmenlehrpläne, Dauer der Ausbildung etc.) wurde das Lernen in der Werkstatt für einen intensiven pädagogischen Prozeß genutzt. Sowohl die handwerkstypische Form der "Beistellehre" wurde überwunden wie die bekannte Form der Lehrgänge in den Lehrwerkstätten der Industrie.
Benachteiligtenförderung
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* Sozialpädagogische Arbeit: Durch in den Ausbildungsprozeß einbezogene Sozialpädagogen soll versucht werden, zwischen den Anforderungen der Ausbildung und den Voraussetzungen der Jugendlichen zu vermitteln. Als typische Arbeitsfelder der Sozialpädagogen gelten z.B. die Mitarbeit bei der Ansprache und Auswahl der Jugendlichen oder Mitarbeit an der Planung und Durchfuhrung der Ausbildung oder die Organisation und Durchfuhrung von Förderunterricht. Ebenso wichtig sind Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von betrieblichen Praktika gemeinsam mit Ausbildern und Lehrern, Beratung der Mitarbeiter und Beratung der Auszubildenden. Schließlich sind Freizeitangebote, Eltemarbeit und Nachbetreuung zu erwähnen. * Zusätzliche Schwerpunkte der sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung sind schließlich noch: Stützunterricht/Fachtheoretischer Unterricht sowie Weiterbildung des Ausbildungspersonals. Die sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung war für die außerbetrieblichen Einrichtungen eine wichtige und stimulierende Herausforderung, ihre Ausbildungspraxis zu ordnen und auf die Lernbedürfnisse der Jugendlichen zu beziehen. Inzwischen haben diese Ansätze auch Eingang in die Regelausbildung gefunden (vgl. Bojanowski u.a. 1991, S. 101 f.). Hingewiesen sei insbesondere auf: - die Projektmethode - Formen sozialpädagogischer Begleitung und Betreuung (sozialpädagogische Wochen, persönliche Beratung und Lebenshilfe, "Lebenskunde-Unterricht" u.a.) - neue Formen von Ergänzungs- und Stützunterricht mit dem Ziel, selbständige Denk- und Bewußtseinsformen zu schulen (z.B. in Rechnen oder Geschichte) - Einbau erlebnispädagogischer Elemente (Natursport, Geländewanderungen u.a.) - Förderung der Handlungskompetenz durch künstlerische Übungen - Verzahnung der theoretischen Elemente der Ausbildung mit praktischen Elementen. Mit diesen Innovationen hat sich eine "neue Variante beruflicher Erstausbildung" etabliert (Bojanowski u.a. 1991, S. 103; BMBW 1992). Sie ist wesentlich durch praktisches Lernen gekennzeichnet, und zwar nicht nur von beruflich-speziellen Fertigkeiten, sondern auch von Schlüsselqualifikationen (-> 5.2), wie z.B. Konzentration, Ausdauer, Geduld, Selbstkritik und Wahrnehmungsvermögen. In der sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung hat Arbeit einen zentralen Stel-
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
lenwert: Die sozialpädagogische Kraft des praktischen Tuns wird systematisch für die berufliche Förderung Benachteiligter genutzt. Diese sozialpädagogische Orientierung findet sich insbesondere in der außerbetrieblichen Berufsausbildung. Hier gibt es vielfältige Versuche, in eigenen Werkstätten, Ausbildungsprojekten und Lernortverbindungen ein Förderkonzept zu entwickeln. Vorreiter hierfür waren alternative Ausbildungsprojekte (z.B. in Berlin), in denen jugendpolitische und arbeitsmarktbezogene Ansätze in einem integrierten Konzept von Leben, Wohnen und Arbeiten verbunden worden sind (vgl. Bojanowski u.a. 1991, S. 103). Aber auch in der betrieblichen Berufsausbildung gibt es entsprechende Ansätze, wie z.B. der "praktische Lehrplan" bei Voith belegt, der elementare fachpraktische Aufgabenstellungen enthält (vgl. Brater/Elsässer 1987). Besonders zu betonen sind die sog. "ausbildungsbegleitenden Hilfen" im Betrieb: Den Jugendlichen werden fachliche und sozialpädagogische Hilfestellungen gegeben, und zwar durch Stützunterricht und Krisenintervention im Ausbildungsalltag. Dieser Innovationsprozeß zu einer sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung befindet sich noch am Anfang. Ziel muß ein besonderes Förderkonzept für benachteiligte Jugendliche sein. Mit einer Fachausbildung, die nur "sonderpädagogisch" aufgeputzt ist, ist es nicht getan (vgl. Brater 1983).
5.7.5
Ausblick
Benachteiligte stehen vor der Gefahr, im Prozeß der Modernisierung "abgekoppelt" zu werden. Als "Modernisierungsverlierer", als "Überflüssige" oder als "Bildungsschrott" könnten sie in einer sich rapide wandelnden und auf ein hohes Bildungsniveau zusteuernden Gesellschaft schlicht vernachlässigt werden. Wenn es aber richtig ist, daß 10 bis 20 Prozent eines Altersjahrganges mit den Anforderungen des zivilisatorischen Prozesses Schwierigkeiten haben und sich gleichsam stumm entziehen, dann ist die Moderne mit ihren Leistungen wie Demokratie oder Pluralität substantiell gefährdet. Benachteiligtenförderung wird damit auch zum Prüfstein des demokratischen Gemeinwesens, materiale Chancengleichheit zu verwirklichen. Wenn die Möglichkeit besteht, daß industrielle Gesellschaften in ihrer Hyperkomplexität allein durch wenige "marodierende Banden" lahmgelegt werden können, dann wäre auf gesellschaftspolitischer Ebene zu überlegen, ob nicht Benachteiligtenförderung immer auch ein Stück Sozialintegration bedeutet. Auf päd-
Benachteiligtenförderung
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agogischer Ebene freilich besteht kein Zweifel, daß Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen zur Fortführung eines produktiven Generationsverhältnisses unabweislich ist: "Pädagogik verliert ihr Motiv" (Herwig Blankertz), wenn sie vor der Herausforderung einer angemessenen Förderung der "Schwächeren" kapituliert: "Die sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung und die mit ihr verbundenen ausbildungsvorbereitenden Lehrgänge sollen benachteiligte Jugendliche nicht nur befähigen, eine anerkannte Berufsausbildung erfolgreich abzuschließen, sondern sie wollen gleichzeitig die Persönlichkeit der Auszubildenden fördern und stabilisieren" (Lippegaus 1994, S. 1). Zahlreiche neue Strukturen, Modelle und Konzeptionen sind in den letzten Jahren diskutiert worden, weil sich Pädagogik, Bildungspolitik und Wirtschaft durchaus der sozialen Brisanz eines "Sockels" problematischer Jugendlicher bewußt sind. Auf zwei Debatten sei noch kurz eingegangen: auf die Frage nach einem adäquaten Modell beruflicher Bildung für Benachteiligte und auf die Perspektiven der freien Träger im Geflecht der Benachteiligtenförderung. 1. Die Vorschläge zur beruflichen Bildung beziehen sich zum einen auf eine Verlängerung, Verkürzung, Reduzierung oder Intensivierung der Berufsausbildung und zum anderen auf ihre Umstrukturierung. Durch eine Verlängerung soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß lernbeeinträchtigte Jugendliche besondere Lernarrangements benötigen, um das Ausbildungsziel zu erreichen. Eine Verkürzung zielt auf eine Anlernausbildung unterhalb der Facharbeiterqualifikation. Die Gefahr, arbeitslos zu werden, wird damit jedoch eher erhöht. Eine Reduzierung zielt vor allem auf die theoretischen Inhalte, währenddessen eine Intensivierung auf einen verstärkten Stützunterricht und sozialpädagogische Hilfen abhebt (vgl. Strikker 1991, S. 71 ff.). Mit der Umstrukturierung der Berufsausbildung ist ihre zeitlich und inhaltlich abgestimmte Modularisierung gemeint. Module sind in sich abgeschlossene Bausteine, die zu einer vollen Ausbildung zusammengefügt werden können. Zu den verschiedenen Konzepten sind Einfuhrungsmodule, Basismodule für alle Berufe einer bestimmten Berufsgruppe, Module für einen Berufszweig und integrierte Module im Gespräch. Innerhalb eines Ausbildungsganges sind bestimmte Pflichtmodule, Wahlpflichtmodule und Wahlmodule denkbar (vgl. Heidegger/Rauner 1990, S. 168 ff; Kutscha 1992, S. 145 ff; Schmidt 1993, S. 2).
524
Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
Die Ausbildung in Form der Baustein- bzw. Modulgliederung scheint für Benachteiligte besonders geeignet zu sein, da sie eine curricular-didaktische Binnendiffenzierung ermöglicht und mit ihr leicht verwendungsbedürfnis- und fahigkeitsorientierte Teilqualifikationen erzielt werden können, die allerdings möglichst zu Vollqualifikationen im Sinne der Ausbildungsordnungen komplettiert werden sollten. Grundlage dieser Modul-Ausbildungsgänge für benachteiligte Jugendliche müßten individuelle Förderpläne sein (vgl. Bojanowski 1988). Es ist zu hoffen, daß dieser Innovationsimpuls eine breite Basis und Anerkennung der Sozialpartner findet. 2. Die Überlegungen zu den Perspektiven der freien Träger der Benachteiligtenförderung abstrahieren gewissermaßen von den finanziellen Rahmenbedingungen, deren Stabilität durchaus nicht als sichere subsidiäre Leistung erwartet werden kann. Nimmt man an, daß es nur gewisse Engpässe in der finanziellen Unterstützung von Benachteiligtenprojekten geben wird, dann geht es um Weiterentwicklung und "Profilgewinnung". Freie Träger sollten dazu initiativ werden, und zwar auf folgenden Ebenen: Auf der didaktischen Ebene ist die pädagogische Diagnositik zu verbessern, um zu einem abgestimmten Abgleich zwischen jeweiliger subjektiver Befindlichkeit und den objektiven Angeboten zu kommen. Musische, ästhetische, kreative, sportliche und interkulturelle Elemente sollen dazu beitragen, die relative Erfahrungsarmut der Jugendlichen zu kompensieren. Reale Beschäftigungsverhältrasse, z.B. in einer Produktionsschule (->• 5 .6), könnten helfen, die Benachteiligten zu qualifizieren und zu stabilisieren. Schließlich müßte es darum gehen, neue bzw. verschüttete Werte, die auf Solidarität und Gemeinsinn abzielen, zu entwickeln. Auf der Ebene der inneren Organisation der Träger sollte die Personalentwicklung nicht mehr eine vernachlässigte Dimension sein, denn durch sie können neue Impulse für Motivation, Zusammenarbeit und Professionalisierung des Ausbildungspersonals gegeben werden. Als lernende Organisation, in der etwa in Zirkeln die Bildungsziele, Organisationsformen und Bildungspraxis gemeinschaftlich diskutiert werden, kann die oftmals zu konstatierende Unbeweglichkeit der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter verhindert bzw. überwunden werden. Dann kann es gelingen, eine neue Unternehmenskultur zu entwickeln, mit der die Werte, Normen, Orientierungen und Inhalte als Identifizierungsmo-
Benachteiligtenförderung
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mente begriffen werden können. Vergessen werden darf dabei nicht das Sozialmanagement, welches die Kostengesichtspunkte der sozialen Einrichtungen hinreichend berücksichtigt. Auf regionaler Ebene sollte es darum gehen, die bestehende Konkurrenz um kommunale, länderbezogene oder staatliche Mittel aufzuheben und Träger sowie Initiativen ebenso zu vernetzen wie Arbeitsamt und Berufsschule, um zu einer Verbindung des berufsbildungsbezogenen und arbeitsmarktorientierten Handelns sowie zu einem adressatenorientierten Abgleich zu kommen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Qualifizierung wird für die benachteiligten Jugendlichen eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Förderprogrammen sein. Noch nicht ausgereizt scheint die Suche nach gesellschaftlich sinnvoller und notwendiger Arbeit, die soziale Beschäftigungsinitiativen ermöglichen und die gesellschaftliche Integration befördern könnte. Eine neue Koordinationspolitik, vielleicht in Form eines "Runden Tisches der Benachteiligtenpolitik", könnte auch die Abstimmung der verschiedensten Mittel des Arbeitsamtes, der örtlichen Sozialhilfe, Gelder für Energiesparprogramme, Länder-Sonderprogramme, europäische Gelder, Gelder des Social Sponsoring neu kombinieren. Notwendig ist schließlich auch eine Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen, die mit einer generellen Sensibilisierung für die Zielgruppe, der Weiterentwicklung des Förderprogrammes und der Entwicklung einer "dritten" Arbeitsmarktstruktur für die Benachteiligten einhergeht. Schließlich ist ein neuer sozial- und berufspädagogischer Diskurs erforderlich, der die Erfahrungen der Träger explizit mit einbezieht und darauf abzielt, mit offenen Lernformen der fatalen Zielgruppensegregation entgegenzutreten. Beide Debatten zeigen den immensen Innovationsbedarf in der Benachteiligtenförderung. Ohne neue Impulse, ohne Phantasie der Beteiligten und ohne Übernahme der gesellschaftspolitischen Verantwortung für einen "Dauerbrenner" mißlingender Lebensbewältigung könnte sich ein schleichendes Problem entwickeln, dessen Langzeitwirkung kaum eingeschätzt werden kann. Arbeitsorientierte Bildung hat sich bisher nur tentativ mit der Benachteiligtenförderung befaßt. Um so eindringlicher ist sie aufgefordert, eigene Konzeptentwürfe zur arbeitsbezogenen Integration der Benachteiligten vorzulegen.
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Arbeitsbezogenes Lernen im Rahmen der Berufsausbildung
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6.
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sekundarstufe II
6.1
Modelle zur Doppelqualifikation Arnulf Bojanowski
6.1.1
Begriffsverständnis und Definition
6.1.2
"Doppelqualifikation" und "Integration": Zur Begründung
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des Konzepts
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6.1.3
Bildungspolitische und pädagogische Entwicklungsetappen
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6.1.4 6.1.5
Ausgewählte Ergebnisse der Modellversuche Zusammenfassende Charakteristika doppeltqualifizierender Bildungsgänge Bildungsökonomischer Aspekt: Verkürzung der Lernzeiten Bildungspolitischer Aspekt: Profilierung des beruflichen Bildungsweges Schulstruktureller Aspekt: "Ordnung" der Bildungsgänge und soziale Integration Jugendpädagogischer Aspekt: Lebensalterangemessenes Lernen Didaktischer Aspekt: Integrierte Lernformen
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6.1.5.1 6.1.5.2 6.1.5.3 6.1.5.4 6.1.5.5
548 549 549 551 552 554
Zitierte Literatur
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Weiterführende Literatur
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6.1.1
Begriffsverständnis und Definition
Der Begriff der Doppelqualifikation ist eng mit der westdeutschen Bildungsreform der 60er und 70er Jahre verbunden. Bildungspolitische Forderungen wie "Bürgerrecht auf Bildung", "Mündigkeit", "Chancengleichheit" oder "Mobilität" führten - zusammen mit einer allgemeinen Aufbruchstimmung über die Möglichkeit gesellschaftlicher Reformen - zu einer Fülle von Vorschlägen für das Lernen im Jugendalter, die in die Formel einer Gleichwertigkeit oder gar Integration beruflicher und allgemeiner Bildung mündeten. Doppelqualifikation bezeichnete die Perspektive, den Jugendlichen Bildungsgänge anzubieten, in denen berufliche und allgemeine Bildungsanteile gleichermaßen repräsentiert sind. Der Begriff selbst wurde 1974 von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) geprägt und tauchte dann in For-
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
mulierungen wie "doppeltqualifizierender" oder "doppelprofilierter Bildungsgang" in den damaligen bildungspolitischen Debatten auf. In Westdeutschland wurden in den Jahren 1971 bis 1985 in fast allen Bundesländern Modellversuche zur Doppelqualifikation eingerichtet und durch die BLK mit etwa 100 Millionen D M (einschließlich der wissenschaftlichen Begleitungen) gefordert. Völlig unabhängig von diesen Reformansätzen gab es auch in der damaligen DDR einen Bildungsgang, der die Hochschulreife mit dem Facharbeiterbrief zu verbinden suchte: Berufsausbildung mit Abitur (vgl. Rauchfuß 1979). Mit diesem Bildungsgang sollten die Schülerinnen und Schüler als hochqualifizierte Kader auf eine Hochschulausbildung (Ingenieurbereich, Wirtschaftswissenschaften, Offizier, Lehrer für Polytechnik) vorbereitet werden. Die Studenten konnten auf fachpraktische Erfahrungen zurückgreifen; sie hatten schon während der Schulzeit anspruchsvolle Praktika in der Produktion absolviert und gelangten so zu einem verkürzten Weg zum Beruf. Ein doppeltqualifizierender Bildungsgang im Sekundarbereich II (Berufsschule, Berufsfachschule, Höhere Handelsschule, Fachoberschule, berufliches Gymnasium, Gymnasium etc.) ist grundsätzlich so angelegt, daß die Jugendlichen zugleich zwei - einen beruflichen und einen allgemein-schulischen - Abschlüsse erwerben können (z.B. Abitur plus Facharbeiterbrief zum "Energieanlagenelektroniker"; oder: Realschulabschluß und berufliche Teilqualifikation). Bildungsgänge nennt man also doppeltqualifizierend, wenn "sie zu Abschlüssen fuhren, die einerseits als schulische Abschlüsse zum Eintritt in weiterführende schulische Bildungsgänge oder in Hochschulstudien berechtigen und andererseits einen Abschluß einer anerkannten Berufsausbildung oder zumindest eine berufliche Teilqualifikation vermitteln, deren Anrechnung auf eine anerkannte Berufsausbildung durch anerkannte Zertifikate rechtlich gesichert ist" (Fingerle 1983, S. 198; vgl. Köthe/Struckmeyer 1975). Eine volle Doppelqualifikation wird dann erreicht, wenn die Schüler neben dem allgemeinen Abschluß (z.B. Fachhochschulreife, Allgemeine Hochschulreife) einen vollwertigen beruflichen Abschluß erwerben, mit dem man unmittelbar in das Beschäftigungssystem überwechseln kann. Eine partielle Doppelqualifikation meint das Erreichen einer vollen beruflichen oder schulisch-allgemeinen Abschlußqualifikation neben einer Teilqualifikation im jeweils anderen Bereich. Das Spezifische von Doppelqualifikationen liegt darin, daß die Bildungsgänge in der Regel integrativ ausgestaltet sein sollen: Berufliche und allgemeine
Modelle zur Doppelqualifikation
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Inhalte (Schulfächer, Lernbereiche etc.) sollten sich so einander angenähert haben, daß ein neuartiges - eben ein integriertes - Curriculum entsteht. Dies ist bei einer additiven Doppelqualifikation nicht der Fall; hier werden Inhalte und Fächer faktisch nebeneinander angeboten, also nur addiert und nicht integrativ aufeinander bezogen. Werden die Abschlüsse, also der berufliche (z.B. ein Assistentenabschluß) und der allgemein-schulische (z.B. die Fachhochschulreife) gleichzeitig erreicht, dann spricht man von einer simultanen Doppelqualifikation, werden die Abschlüsse hintereinander erreicht bzw. abgelegt, dann hat man es mit einer konsekutiven Doppelqualifikation zu tun.
6.1.2
"Doppelqualifikation" und "Integration": Zur Begründung des Konzepts
Das bildungspolitische und -theoretische Gesamtgerüst der Debatte um Doppelqualifikationen ist nicht zu trennen vom Kontext des deutschen Bildungssystems, das bekanntlich bis heute von der scharfen Unterscheidung zwischen "Allgemeinbildung" und "Berufsbildung" gekennzeichnet ist (vgl. Hegelheimer 1986). Nicht nur die Lernziele oder die didaktisch-methodischen Konzepte und die Inhaltskomplexe sind verschieden, sondern auch die Rechtsgrundlagen, das Selbstverständnis oder die Lehrerbildung. Knapp zusammengefaßt: "Bildung" will durch einen im gewissen Maße offenen, aber im Kern "zweckfrei" definierten Kanon von Inhalten und Fächern den ganzen Menschen in seinen Fähigkeiten entfalten. Dieses auf die klassische Konzeption von Allgemeinbildung zurückgehende Verständnis grenzt sich stark ab von der "Ausbildung", die durch stärker umrissene zweckbezogene Inhalte auf einen stark spezialisierten Beruf vorbereiten will. Die Allgemeinbildung im Gymnasium ist also auf die Studierfähigkeit ihrer Absolventen ausgerichtet; Ziel: sie sollen wissenschaftlich arbeiten lernen (Wissenschaftspropädeutik). Die Berufsausbildung in Berufsschule und Betrieb zielt demgegenüber auf eine Hinführung zum jeweiligen Beruf. Dieser Gegensatz von Berufs- und Allgemeinbildung verweist auf prinzipielle Ungleichheiten innerhalb des öffentlichen Lebens, die in der "formierten Gesellschaft" (Ludwig Erhard) der 50er und 60er Jahre in deutlich krasser Form zu finden waren: Das Gymnasium verstand sich als "Zuteilungsapparatur von Sozialchancen" (Helmut
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Schelsky), bei der das Abitur den Zugang zu den gehobenen Berufen sicherte. Demgegenüber galt die Berufsausbildung als ein Bereich der "niedrigen Bildung", die dazu diente, mehr (oder weniger) qualifizierte (Fach-)Arbeiter heranzubilden. Mit ihren strukturellen, sozialisatorischen und bildungsbezogenen Auswirkungen setzt also die Trennung von Berufsbildung und Allgemeinbildung die überkommene Verteilung der Gesellschaftsmitglieder in Klassen und Schichten fort - so die Anklage eines breiten Flügels der Gesellschaftskritik (vgl. Dahrendorf 1965; Baethge 1970) vor Beginn bzw. am Anfang der westdeutschen Bildungsreform. Damit markiert der Gedanke, berufliche und allgemeine Bildung miteinander zu verbinden, eine zentrale Herausforderung an das Bildungswesen in der Moderne. Schon von daher mag es verständlich sein, wenn das Konzept der Doppelqualifikation in der Bildungsdebatte der Reformära auch seitens der "konservativen" Erziehungswissenschaft hart angegriffen wurde (z.B. Hönes 1972; Zabeck 1973). Die Herausforderung, die mit dem Doppelqualifikationskonzept angedeutet ist, bedeutet ja zumindest dreierlei: (1) das Gewinnen von mehr Gleichwertigkeit des beruflichen gegenüber dem allgemeinen Lernen, was eine Aufwertung des beruflichen Lernens impliziert; (2) eine Anreicherung der allgemeinbildenden Laufbahnen um berufsorientierte (oder gar praktische) Anteile, was eine Reduzierung der überkommenen kognitiven und wissenschaftspropädeutischen Ausrichtung dieser Lernanteile mit sich bringt, und (3) eine wechselseitige Durchdringung beruflicher und allgemeiner Inhalte im Lernprozeß. Letzteres hätte die Konsequenz, daß in jedem Bildungsgang im Sekundarbereich II die Einseitigkeiten von Berufsbildung und Allgemeinbildung zugunsten eines persönlichkeitsangemessenen breiten Bildungskonzepts aufgehoben wären. Dazu sollten die Gleichwertigkeit zwischen den Bildungsgängen hergestellt und neue Bildungsgänge konzipiert werden; die bisher getrennten Bildungsgänge sollten überprüft und eventuell zusammengelegt werden; es galt, Lehrpläne und Curricula zu erarbeiten, die unterschiedlichen Prüfungsleistungen zu untersuchen und aufeinander abzustimmen und damit das gesamte Bildungssystem in der Sekundarstufe II durchschaubarer und durchlässiger werden zu lassen. Damit hätte Doppelqualifikation aber nicht nur eine inhaltliche Seite, sondern könnte auch den Sackgassencharakter der beruflichen Bildungswege überwinden oder bildungsferne Schichten zur Weiterqualifikation anregen. Die Begriffe "Integration" und "Doppelqualifikation" nä-
Modelle zur Doppelqualifikation
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herten sich einander an; manchmal wurden sie sogar synonym gebraucht. Jedenfalls wird deutlich: Es wurde eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung (vgl. Friedeburg 1989) auf dem Felde der Bildungspolitik und Bildungsplanung ausgetragen. Die in der bundesdeutschen Demokratie uneingelösten Versprechen nach gesellschaftlicher Gleichheit und individueller Freiheit sollten ausgeglichen und mit dem Qualifikationsbedarf des spätkapitalistischen Staates und der Wirtschaft verbunden werden. Die damit implizierte Reform der Sekundarstufe II (vgl. Kollegstufe NW 1972; Deutscher Bildungsrat 1974) zielte auf eine "demokratische Jugendschule", in der alle Jugendliche (also die Gymnasiasten und die Berufsschüler) gemeinsam - wenn auch an differenzierten Inhalten - lernen würden, so daß sogar eine "neue Qualität von Bildung" (Dedering 1983) entsteht. Wegbereiter eines solchen Konzepts einer integrierten Bildung war der Münsteraner Erziehungswissenschaftler Herwig Blankertz (1927 - 1983), dessen Schriften in jenen Jahren auf eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Berufs- und Allgemeinbildung zielten (vgl. Blankertz 1963; Blankertz 1969; vgl. auch Lüth 1989). Gestützt wurden seine Theoretisierungen zu einem neuen Verständnis von Allgemein- und Berufsbildung durch zwei damals für zentral gehaltene Tendenzen. Das Gymnasium konnte spätestens seit Ende der 50er Jahre das traditionelle Allgemeinbildungskonzept nicht mehr inhaltlich durchhalten und zersplitterte sich dementsprechend in eine Vielfalt von Typen (vgl.'Dehnbostel 1988). Entwicklungen im berufsbildenden Bereich nährten die Hoffnung, daß auch dort sich anspruchsvollere Inhalte etablieren würden, was unter dem Stichwort "Verwissenschaftlichung der Produktion" seitens der Industriesoziologie gestützt wurde. Solche Entwicklungen in den Teilsystemen der Sekundarstufe II ließen die Hoffnung aufkeimen, daß kurz- bis mittelfristig eine "Konvergenzbewegung" beider Bereiche zu erwarten wäre. Neben solchen bildungstheoretischen und gesellschaftspolitischen Argumenten spielten später auch jugendpolitische Überlegungen (vgl. Hornstein 1971) eine Rolle: Unter dem Eindruck der "neuen sozialen Bewegungen" (Studentenbewegung, Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung) wurde der Begriff "Jugend" weniger gesellschaftsstrukturell und schichtenbezogen, sondern sogar als ein gesellschaft-innovierendes Ferment interpretiert (vgl. Fintelmann 1979; Hessischer Kultusminister 1979).
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6.1.3
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Bildungspolitische und pädagogische Entwicklungsetappen
In den 70er Jahren begann - angestoßen durch ein bundesweites Modellprogramm der BLK (vgl. BLK 1973) - der allmähliche Aufund Ausbau von doppeltqualifizierenden Bildungsgängen, ihre Erprobung in der Schulwirklichkeit und ihre Evaluierung (Erfolgskontrolle) durch wissenschaftliche Begleitungen (siehe besonders: Gruschka 1985). Bedingt durch den förderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland unterschieden sich die Initiativen und Realisierungsformen qualitativ und quantitativ erheblich (vgl. Pischon u.a. 1977). Und zugleich entwickelte sich - wie schon angedeutet - eine in der heutigen Zeit kaum nachvollziehbare heftige Debatte über die Reformierbarkeit der Sekundarstufe II (vgl. Heck/Endlich/Ballauf 1978). Zum Zwecke eines knapp zu haltenden Handbuchartikels können nur die wichtigsten Entwicklungsetappen nachgezeichnet werden (vgl. besonders für die frühen Phasen: Zimmermann 1982). Erste Phase: Von 1969 bis 1973 ging es um eine staatliche Bildungsgesamtplanung, in der das überkommene vertikal (nach Schularten) gegliederte Schulsystem zugunsten eines horizontalen (nach Schulstufen: Primarstufe, Sekundarstufe I, Sekundarstufe II) verändert werden sollte. "Doppelqualifikation war in dieser Phase fester Bestandteil der Diskussion um die Integration beruflicher und allgemeiner Bildung" (Zimmermann 1982, S. 62) und galt als ein entscheidender Indikator für die Realisierung dieser bildungspolitischen Konzeption. Insgesamt war der (implizite) Konsens über die Notwendigkeit von Bildungsreformen relativ groß - man stand in der Bundesrepublik Deutschland noch unter den Nachwirkungen eines von dem Bildungsphilosophen Georg Picht in den 60er Jahren ausgerufenen "Bildungsnotstands" (Picht 1964). Jedoch geriet das Konzept bald in die bildungspolitische Kontroverslage: Die Verbindung beruflicher und allgemeiner Bildung gewann ihr Profil vor allem als sozialdemokratisches Reformprojekt. Die Bundesregierung (unter Willy Brandt) proklamierte im "Bildungsbericht '70" eine weitgreifende Reform des Sekundarbereichs II, um den Bürgern neuartige Formen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen (vgl. BMBW 1970). In jener Phase gab es seitens der Wirtschaft, der Berufspädagogik oder der Verbände entsprechend erste gegensätzliche Empfehlungen. Kritik artikulierte z.B. der Deutsche Industrie- und Handelstag an den Vorstellungen einer in-
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tegrierten Sekundarstufe II, weil man die Zukunft des dualen Systems der Berufsausbildung gefährdet sah und staatliche Eingriffe in die betriebliche Ausbildung befürchtete. Andere Stimmen äußerten Kritik an der inzwischen neugestalteten gymnasialen Oberstufe und ihrer Tendenz zur Schwerpunktbildung für die Schüler. Diese Kritik bezog sich auch auf doppeltqualifizierte integrierte Bildungsgänge, weil hier die individuelle Schwerpunktwahl zum Grundprinzip erhoben wurde ("produktive Einseitigkeit"). Zweite Phase (1974 bis 1985): Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen jener Zeit in Westdeutschland (Wirtschaftskrise, erhöhte Arbeitslosigkeit, vor allem Jugendarbeitslosigkeit, Kapazitätsengpässe der Hochschulen) verschoben sich die Prioritätensetzungen in der Bildungspolitik. Es galt vordringlich, die betriebliche Lehrstellenzahl zu erhöhen, um arbeitslose Jugendliche zu versorgen. Konsequenz: Qualitative Überlegungen zum Lernen in der Sekundarstufe II wurden zurückgedrängt. Inhaltlicher Orientierungsansatz und finanzieller Förderschwerpunkt blieb das Konzept der Doppelqualifikation, während der Sprachgebrauch "Integration (oder Verbindung/Verzahnung etc.) allgemeiner und beruflicher Bildung" zurückgedrängt wurde (vgl. BMBW 1980). Diese begriffliche Verlagerung bedeutete letztlich, daß Veränderungen hin zu einem integrierten System der Sekundarstufe II aufgegeben wurden zugunsten von Einzelmodellversuchen. Doppelqualifikation mutierte zu einem Konzept, in dem die Allgemeine Hochschulreife mit einem beruflichen Abschluß verbunden wurde, in der Regel mit einem Assistentenberufsabschluß. Diese eingeengte Zielrichtung hatte ihre Ursache vor allem in der Numerus-clausus-Problematik. Doppelqualifikationen sollten als Alternativen für Abiturienten die Hochschulen entlasten. Bildungspolitisch geriet die Doppelqualifikation in harte Kontroversen durch verschärfte Angriffe seitens der Unternehmerverbände und des Philologenverbandes (Vertretung der Gymnasiallehrer). Aber auch die bildungspolitische Schwerpunktsetzung der damaligen Bundesregierung und des Bildungsministers Rohde legte verstärkt den Akzent auf eine Verbesserung der beruflichen Bildung (vgl. Hullen 1983). Gab es Ende der 70er Jahre dank der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung Hoffnungen auf Bildungreformen durch Doppelqualifikationen, die zur Aufstockung des Modellversuchsprogramms und zur Einrichtung wissenschaftlicher Begleitungen (in
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Hessen) führten, so zerbrach mit der "Wende" 1982 (Regierung CDU/FDP) endgültig die Hoffnung auf Integrationsansätze in der Sekundarstufe II. Zwar hatte Hessen zu Anfang der 80er Jahre durch eine "induktive Versuchsstrategie" (theoriegeleitetes Anregen, administratives Absichern plus Basisinitiativen von Lehrern und Schulen) versucht, sich den Anforderungen von Schulen, regionalen Arbeitsmärkten und Elternwünschen anzupassen (vgl. Hessischer Kultusminister 1979; Dedering 1980; Bojanowski/Dedering/Heidegger 1982); doch letztlich war die bildungspolitische Zielorientierung halbherzig auf die Doppelqualifikation "Allgemeine Hochschulreife plus Assistentenberufe" ausgerichtet. Dies entsprach dem Trend in den anderen Ländern: Nur einige Bildungsgänge in der Bundesrepublik versuchten, Facharbeiterqualifikationen mit Fachhochschulreife oder Allgemeine Hochschulreife mit beruflichen Teilqualifikationen zu verbinden. Nach dem Auslaufen der Förderung durch die BLK im Jahre 1985 kam es in nahezu allen Bundesländern - bis auf Nordrhein-Westfalen - faktisch zu einem Erliegen der Modellversuchsaktivitäten. Einige Länder wie Hessen und Niedersachsen übernahmen Teilelemente in das schulische Regelsystem und ermöglichten damit die Fortführung der bestehenden doppeltqualifizierenden Bildungsgänge, die aber wenig Ausstrahlung in das übrige Schulwesen hatten (vgl. Dauenhauer/Kell 1990, S. 137). Dritte Phase (1985 bis 90er Jahre): Nach dem "Scheitern" (Bojanowski/Brater/Dedering 1991, S. 58 ff.) dieses gewichtigen Anteils der Bildungsreform lassen sich verschiedene Aktivitäten ausmachen: Bei der Empirie sticht besonders die anspruchsvolle wissenschaftliche Aufarbeitung durch die nordrhein-westfälische "Wissenschaftliche Begleitung Kollegstufe NW" hervor, die vier doppeltqualifizierende Bildungsgänge ausfuhrlich untersuchte (vgl. Blankertz 1986; siehe auch Kap. 6.1.4.). Dabei ist bemerkenswert, daß trotz grundsätzlich positiver Evaluationen der integrierten Bildungsgänge die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrer Zuständigkeit für das Abitur dreijährige integrierte doppeltqualifizierende Bildungsgänge ablehnte und alle Versuchsschulen zwang, mindestens einen vierjährigen Bildungsgang für Doppelqualifikationen vorzusehen. Dieser bildungspolitische Entschluß, war für die auf ein Hochschulstudium ausgerichteten Doppelqualifikationen "ein Schlag ins Gesicht", weil die intendierten Zeitspareffekte schwanden. Umgekehrt hatte die Regelung der KMK eine produktive Bedeutung insofern, als sich etliche Modellversuchsschulen allmählich der Ab-
Modelle zur Doppelqualifikation
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schlußebene "Fachhochschulreife mit beruflicher Qualifikation" und besonders den Doppelqualifikationen in der Teilzeitberufsschule anzunehmen begannen. Gerade die im Bereich des beruflichen Lernens stattgefundene "Neuordnung der Metall- und Elektroberufe" (-»• 5.2.1) mit ihren neuen Qualifikationsorientierungen für die Facharbeiterbildung ("Planen, Ausfuhren, Kontrollieren") bewirkte eine Infragestellung der herkömmlichen Curricula der Teilzeitberufsschule. Eine theoretische Neubegründung des Verhältnisses von allgemeiner und beruflicher Bildung knüpft hier insofern an, als versucht wird, dem "praktischen Lernen", das parallel zum wissenschaftspropädeutischen Lernen den Berufsbezug sichern soll, einen eigenen Stellenwert zu geben (Vorarbeiten in: Bojanowski/Dedering/Heidegger 1982). Dazu wird besonders die kategoriale Bestimmung einer "Handlungsheuristik" angepeilt, die im Sinne einer "Berufspropädeutik" auf die Gestaltungsfähigkeiten der Schüler und Auszubildenden zielt (vgl. Heidegger 1987; Heidegger 1992; Bader 1991; Bremer u.a. 1993; ->• 5.3). Unabhängig davon lassen sich vor allem im NRW-Kollegschulversuch Ansätze entdecken, die den inneren Ausbau der Modellversuchsschulen betreffen. Man versucht, bei der Lernorganisation die Anteile des handlungsorientierten und praktischen Lernens zu verstärken (siehe Kapitel 6.1.5.5). Schließlich sind die Versuche hervorzuheben, neue Ansätze der Verbindung beruflichen und allgemeinen Lernens in den fünf neuen Bundesländern zu installieren. Dort waren alle bestehenden Schulen und Bildungsgänge ohne Erfolgskontrolle abgewickelt worden. Zu nennen ist z.B. die Initiative in dem Kombinat "Schwarze Pumpe", in dem die Verbindung Fachhochschulreife plus Facharbeiterbrief in Anlehnung an den alten Bildungsgang der DDR versucht wird (vgl. Dehnbostel 1992).
6.1.4
Ausgewählte Ergebnisse der Modellversuche
Eine umfassende Bilanzierung der Modellversuche ist derzeit nicht möglich, da die meisten Studien nur Teilaspekte herausgreifen (z.B. Brater/Wehle 1982; Sicars/Gärtner/Schneider 1983; Küthe u.a. 1988; Mattern 1987); zudem war die Reformwirklichkeit oft durch bildungspolitisch motivierte Legitimationsformeln "vernebelt". Für eine Skizze des Erreichten sollen daher exemplarisch drei verschiedene Zugänge gewählt werden: Einen allgemeinen, etwas älteren und durchaus legitimatorischen Überblick bietet der Stand der Mo-
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
dellprojekte, den Vertreter der Bundesländer 1984 auf einer Abschlußtagung der wissenschaftlichen Begleitung "Modellversuche Sekundarstufe II in Hessen" vortrugen (vgl. Hullen 1984; Scheffer 1984). Eine umfassendere bildungspolitische Einschätzung leistet eine Sekundäruntersuchung im Auftrag der BLK, die 1985 an die Berufspädagogen Erich Dauenhauer und Adolf Kell mit dem Auftrag gegeben wurde, das Modellversuchsprogramm der 70er und 80er Jahre auf seine Tragfähigkeit zu überprüfen (vgl. Dauenhauer/Kell 1990). Eine qualitative Sicht bieten schließlich die Evaluationsstudien zur Doppelqualifikation aus dem Kollegschulversuch Nordrhein-Westfalen (vgl. Blankertz 1986). Die Länderberichte zeigen die Vielfalt der Ansätze und Maßnahmen: Während zum Beispiel der Kollegschulversuch in Nordrhein-Westfalen auf die Veränderung ganzer Schulen bzw. auf ein Gesamtsystem doppeltqualifizierender Bildungsgänge abzielte (vgl. Schenk 1982), favorisierten Länder wie Hessen oder Niedersachsen singulare Modelle. Andere Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern) entschieden sich für Ausbauformen, die auf eine Aufwertung des beruflichen Lernens hin zu gehobenen Abschlüssen hinausliefen; hier ging es weniger um die integrierte Verbindung beruflichen und allgemeinen Lernens als um neue Formen der Berufsbildung. In drei Richtungen zeigen sich Entwicklungserträge. 1. Bei den organisatorischen Maßnahmen ging es um gemeinsame Schulbauten von Berufsschulen und Gymnasien an einem Ort, um ein differenziertes System von Kursen zu schaffen oder um die Kooperation von gymnasialer und beruflicher Bildung in einem Schulgebäude zu erproben. Entsprechend wurden in einigen Bundesländern (Berlin, Bremen, Hessen) Schulzentren für gymnasiale und berufsbildende Bildungsgänge errichtet (Gymnasiale Oberstufe, Berufsgrundbildungsjahr, Fachoberschule). Zumeist blieb jedoch die Eigenständigkeit der jeweiligen Schulform erhalten, so daß sich nur selten Kooperationsansätze entwickeln konnten. Einige Länder verfolgten die Strategie der "Teilqualifikation": Durch curriculare Strukturierungen konnten Gymnasiasten zusätzlich Anteile eines beruflichen Bildungsweges erwerben (Hessen, Saarland). Auch gelang es mancherorts (Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz), die Durchstiegsmöglichkeiten für Berufsschüler durch ein Zusatzprogramm zu erweitern, in dem neben der beruflichen Qualifikation auch eine allgemeine Berechtigung angeboten wurde (vgl. Reuther
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1982; Bader u.a. 1989). Gestufte Doppelqualifikationen wurden in Bayern und Baden-Württemberg entwickelt, in denen die Jugendlichen nach einem beruflichen Abschluß einen Bildungsgang wählen konnten, der zur allgemeinen oder fachgebundenen Hochschulreife führt. Schließlich wurden neue Fächer eingeführt, z.B. im Gymnasium das Fach Technologie (Niedersachsen, Hessen, NRW). 2. Inhaltliche Ansätze von curricularer Verbindung, Verzahnung oder Integration bietet der nordrhein-westfälische Kollegschulversuch, in dem Fächer wie physikalische Technologie, Sozialwissenschaften (mit dem Schwerpunkt Betriebswirtschaftslehre), Informatik oder Gestaltungstechnologie so gestaltet wurden, daß in ihnen berufliche und allgemeine Anteile gleichrangig repräsentiert waren. Ähnliches wurde in Hessen unter dem Stichwort "Polyvalenz" (Mehrwertigkeit eines Kurses) aufgegriffen (vgl. Scheffer 1983). Ausgehend von der Konstruktion der Doppelqualifikation "Allgemeine (oder Fach-) Hochschulreife plus Assistentenberuf' wurde den Schülern durch Pflichtauflagen Kombinationen von Grund- und Leistungsfächern vorgeschrieben (Schwerpunktbildung) und die Fächer entsprechend inhaltlich umgestaltet. Ebenfalls wurden durch die Entwicklung von berufsfeld- bzw. bildungsgangübergreifenden Anteilen in den beruflichen Lehrplänen Bezüge zu den allgemeinbildenden Fächern entwickelt (Bremen, Nordrhein-Westfalen, Berlin, Hessen). Die bestehenden allgemeinbildenden Fächer (Deutsch, Gesellschaftslehre) der Berufsschulen wurden so weiterentwickelt, daß es zu Annäherungen mit den Fächern der gymnasialen Oberstufe kam. Schließlich wurden etliche Fachtheorien der Berufsschule so weiterentwickelt, daß sie den Forderungen nach Wissenschaftspropädeutik und kognitivem Lernen entsprechen konnten und damit die Durchlässigkeit erhöhten. 3. Ansätze der sozialen Integration wurden besonders aus den Waldorfschulen (Waldorfschule Kassel, Hiberniaschule) und der Odenwaldschule berichtet; hier ging es um den Versuch, Jugendliche aus verschiedenen sozialen Schichten und Schüler mit unterschiedlichen Zielorientierungen zusammenzufuhren. Die Ansätze sind schwach vertreten; besonders hervorzuheben ist der gemeinsame Unterricht an der Modellschule Obersberg in Hessen (vgl. Hullen u.a. 1981), die Bremer Oberstufenzentren (vgl. Zimmermann 1982, S. 187) und der Lernort "Studio" im nordrhein-westfälischen Kollegschulversu ch.
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Die Auswertung von Dauenhauer und Kell: In dieser Sekundäranalyse werden die 33 Modellversuche zur Doppelqualifikation mit insgesamt 56 Bildungsgängen, die in der Zeit von 1978 bis 1985 in zehn Bundesländern durchgeführt wurden, genauer betrachtet. Die Hypothese ist plausibel, daß mindestens noch 40 weitere Versuchsansätze dazugezählt werden müßten (vgl. Dauenhauer/Kell 1990, S. 16 f.). Die Autoren stützen sich auf BLK-interne Berichte zu den Modellversuchen, sowie auf veröffentlichte Ergebnisse und Publikationen der wissenschaftlichen Begleitungen. Die untersuchten Bildungsgänge beziehen sich größtenteils auf die volle Doppelqualifikation "Allgemeine Hochschulreife plus Abschluß zum Assistenten" und "Fachhochschulreife plus Berufsabschluß" (34 Bildungsgänge). 19 der ausgewerteten Bildungsgänge enthalten eine partielle Doppelqualifikation: "Allgemeine Hochschulreife bzw. Fachhochschulreife plus berufliche Teilqualifikation". Schließlich nehmen die Autoren noch drei Bildungsgänge zur "Doppelprofilierung" auf ("mittlerer Abschluß einschließlich Berufsabschluß" bzw. "Hauptschulabschluß einschließlich beruflicher Teilqualifikation"). Vier Ergebnisse der Auswertungsstudie sind bemerkenswert: 1. Die Bewertung der wissenschaftlichen Begleitungen der Modellversuche fällt - gelinde gesagt - niederschmetternd aus. Die wissenschaftlichen Begleitungen seien "in der Mehrzahl der Fälle im Blick auf ihre Qualität nicht als 'wissenschaftliche' zu bezeichnen. Und nicht einmal in den Fällen, in denen sie institutionell relativ unabhängig von der Verwaltung in fachlicher Verantwortung von Wissenschaftlern durchgeführt wurde, ist sichergestellt, daß sie dem in der Erziehungswissenschaft beanspruchten Standard ... entspricht" (Dauenhauer/Kell 1990, S. 115). 2. Diesem "dürftigen Ergebnis" (Dauenhauer/Kell 1990, S. 115) steht eine partiell positive inhaltliche Bewertung der verschiedenen Bildungsgänge und Modellversuche gegenüber: Vor allem den Bildungsgang "Allgemeine Hochschulreife plus Berufsabschluß" halten die Sachverständigen "nach den Ergebnissen der Modellversuche für möglich" (Dauerhauer/Kell 1990, S. 123). Allerdings: "Optimale Lösungen liegen aber noch nicht vor" (Dauenhauer/Kell 1990, S. 123). Auch den Bildungsgang "Fachhochschulreife plus (anerkannter) Berufsabschluß" bewerten sie relativ optimistisch. Sie sind der Auffassung, daß es eine Reihe von Ausbildungsberufen gibt, die Jugendliche mit guten Schulleistungen wählen könnten und in denen
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die Lernprogramme der (schulischen) Berufsausbildung und der Fachoberschule so kombinierbar sind, daß innerhalb von drei Jahren der Berufsabschluß plus Fachhochschulreife zu erreichen ist (vgl. Dauenhauer/Kell 1990, S. 128). Die Doppelqualifikation "Allgemeine Hochschulreife plus berufliche Teilqualifikation" scheint demgegenüber wenig Realisierungschancen zu haben, da die "zuständigen Stellen" (Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern) nicht dauerhaft zugesichert haben, die beruflichen Teilqualifikationselemente anzuerkennen. 3. Hinsichtlich einer Verankerung der Modellversuchsansätze im schulischen Regelsystem scheint äußerste Zurückhaltung geboten. In den einzelnen Bundesländern sei nicht zu erkennen, welche bildungspolitische Bedeutung die Reform-Bildungsgänge gehabt haben. Auch lassen sich "weder auf die einzelnen Länder bezogen noch summarisch für das Modellversuchsprogramm der BLK zur Doppelqualifikation/Integration die Wirkungen der Modellversuche auf die Regelschulen einigermaßen verläßlich abschätzen" (Dauenhauer/Kell 1990, S. 137). 4. Da das Gutachten grundsätzlich die Realisierung von Doppelqualifikationen für möglich hält, werden die Durchfuhrung verbessernde und hemmende Bedingungen zusammengestellt. Als förderliche Faktoren für Doppelqualifikationen werden u.a. aufgeführt: hohe theoretische Anforderungen im Qualifikationsprofil der Berufe; curricular-interaktive Anlage eines Bildungsgangs; Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in entsprechenden Organisationsformen und Lehrangeboten; integrierte Abschlußprüfungen, die Zielkorrekturen ermöglichen; an Doppelqualifikation interessierte Schüler und engagierte Schulen; Lehrerfortbildung und zeitlicher Vorlauf für entsprechende Entwicklungsarbeit. Zu den hinderlichen Faktoren wird gerechnet: zeitlich umfangreiche Praxisanteile des betrieblichen Lernens; additive Bildungsgänge; fehlende Bedingungsanalysen; zu enge Orientierung an bestehenden Fächerkomplexen; Abschlußvergabe nach dem Prinzip inhaltlicher Gleichartigkeit; eine zu große Heterogenität der Schüler und eine ungenügende, auf Integration bezogene Ausbildung der Lehrer; zu große Komplexität eines Projektes. Vor dem Hintergrund dieser Bedingungsfaktoren wird empfohlen, doppeltqualifizierende Bildungsgänge im Sekundarbereich II weiterzuentwickeln und dementsprechende Angebote zu erproben.
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Die nordrhein-westfalischen Evaluationsstudien: Die vier Studien sind die umfänglichsten und differenziertesten Untersuchungen zur Doppelqualifikation. In dem Konzept der Bildungsgangsforschung geht es darum, die Kompetenzentwicklung und Identitätsbildung der Schüler in doppeltqualifizierenden Bildungsgängen zu erkunden. Hier stellen sich Fragen wie: Haben die Kollegschüler ein hinreichendes Verständnis ihrer späteren beruflichen Rollen gewonnen? Wie gehen sie mit den fachlichen Anforderungen der Oberstufe (Wissenschaftspropädeutik) um? Kompetenz- und Identitätsentwicklung der Jugendlichen werden zum "Maßstab" genommen, um herauszufiltern, ob zwischen einfachqualifizierenden und doppeltqualifizierenden Bildungsgängen unterschiedliche Lernfortschritte zu verzeichnen sind. Zum einen ging es um die Frage, "ob die Studien- und berufsqualifizierenden Abschlüsse, die die Absolventen der doppeltqualifizierenden Bildungsgänge erreichen, denen der Regelschule nicht nur formal-rechtlich, sondern auch hinsichtlich der erbrachten Leistungen entsprechen" (Blankertz 1986, S. 18). Zum anderen sollten Antworten auf die Frage gefunden werden, "ob sich doppeltqualifizierende Bildungsgänge von den einfachqualifizierenden pädagogisch auszeichnen und wie Leistungsfähigkeit, Motivation und Lernklima verbessert werden können bzw. wie Mängel in ihnen behoben werden können" (Blankertz 1986, S. 18 f.). Damit wurde der Versuch gemacht, umfassender zu klären, ob doppeltqualifizierende Bildungsgänge eine andere Form des Lernens, anderen Lernfortschritt oder gar ein neues Bild von schulischem und berufsnahem Lernen und ein verändertes Selbstverständnis der Schüler anregen. Die Untersuchungen legen also das "Hauptaugenmerk der Evaluation auf die Schüler, auf ihre Lernprozesse, Lernfortschritte und Lernergebnisse" (Blankertz 1986, S. 19). Vier typische Bildungsgänge der Kollegschule wurden im Zeitraum von 1978 bis 1982 betrachtet: -
Fremdsprachenkorrespondent/Allgemeine Hochschulreife Physikalisch-technischer Assistent/Allgemeine Hochschulreife Erzieher/Allgemeine Hochschulreife Freizeitsportleiter/Allgemeine Hochschulreife.
Die Bildungsgangsuntersuchungen sind geblieben; ihre Antworten sind im Blick Zielsetzung ermutigend. Offenbar sind haltbar: "(1) Die Schüler konnten nach
in dieser Form einmalig auf die bildungspolitische zunächst zwei Aussagen dreijährigem Kollegschul-
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Besuch sowohl eine hochschulberechtigende Prüfung (Abitur oder Fachhochschulreife) als auch eine berufsqualifizierende Prüfung erfolgreich ablegen. (2) Die Schüler sind in der Entwicklung ihrer Kenntnisse und ihrer Urteilskraft zu Ergebnissen gekommen, die dem, was in den jeweils vergleichbaren Bildungsgängen des Regelsystems erreicht wird, mindestens gleichwertig sind" (Blankertz 1986, S. IV f.). Die doppeltqualifizierenden Bildungsgänge der Kollegschule seien sogar in gewissen Elementen vergleichbaren Bildungsgängen des Regelsystems überlegen. So erreichten beispielsweise die Schüler des Bildungsgangs "physikalisch-technischer Assistent/Abitur" den gleichen Leistungsstand wie Gymnasiasten mit Leistungskurs "Physik" und wie Berufsfachschüler, die den Abschluß des technischen Assistenten für Physik anstrebten. Im Erzieherbildungsgang z.B. sei es gelungen, die zukünftigen Erzieher sowohl auf eine sozialberufliche Perspektive als auch angemessen auf wissenschaftliche Studien vorzubereiten. Umgekehrt zeigen sich auch Defizite solcher Bildungsgänge, so etwa, wenn in den Fremdsprachen- und Erzieherbildungsgängen die Studien- und berufsbezogenen Anteile manchmal nur additiv verknüpft waren oder wenn die Schüler im Fremdsprachenbildungsgang die Doppelqualifikation als "Doppelbelastung" empfanden. Auch scheint es so, daß etliche Schüler der doppeltqualifizierenden Bildungsgänge sich nicht hinreichend mit ihrer Schule identifizieren können; dies jedoch in den untersuchten Bildungsgängen in unterschiedlicher Gewichtung. Schon aus diesen wenigen Angaben, die sicherlich die Lektüre der umfänglichen Einzelstudien (vgl. z.B. Fischer u.a. 1986; Gruschka 1985; Meyer 1986) nicht ersetzen können, mag deutlich werden, wie schwierig die Erfolgskontrollen solcher komplex angelegten Reformvorhaben sind. "Erfolg" mißt sich nicht allein daran, ob es gelang, doppeltqualifizierende Bildungsgänge in der Sekundarstufe II zu implementieren oder durch neue Lehr-/Lerninhalte zu verankern oder schulrechtlich abzusichern. Die qualitativen Untersuchungen machen auf die Notwendigkeit einer "inneren Schulreform" aufmerksam, die gerade in der Expansionsphase der westdeutschen Bildungsreform vergessen wurde. Erst wenn die Doppelqualifikation zeigen kann, daß in und mit ihr die Lernprozesse der Jugend sich neu strukturieren, gewinnt sie eine eigenständige bildungspolitische Legitimation.
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6.1.5
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Zusammenfassende Charakteristika doppeltqualifizierender Bildungsgänge
Wenn es richtig ist, daß doppeltqualifizierende Bildungsgänge Entwicklungsperspektiven (für die Schüler, für das Bildungswesen) enthalten, dann ist es sinnvoll, nach typischen Merkmalen und Charakteristika zu suchen, die dieses Bildungskonzept profilieren. Hinzu kommt: Weder hat der bildungspolitische Disput die klare Lösung erbracht, noch sind die unterschiedlichen Varianten so ähnlich, daß man einen einheitlichen Typ doppeltqualifizierender Bildungsgänge prägen könnte. Daher sollten die Verteidiger des Konzepts für die nahe Zukunft überzogene Absolutheitsansprüche aufgeben und möglichst viele Varianten von Doppelqualifikationen, z.B. additive und integrierte, mitdiskutieren. Auch stellt sich die Frage, ob man nicht "aufgeklärter" mit den (ehemaligen) Reformgegnern umgehen und angesichts der erwartbaren Herausforderungen an das bundesdeutsche Bildungsystem nach Bündnispartnern für eine neue Form der Jugendbildung suchen sollte: hier sind die Arbeitgeber wie die Gewerkschaften, die Lehrerverbände wie die Eltern und andere Interessenvertreter im Umkreis der Sekundarstufe II gefragt. Bei einer zukunftsorientierten Diskussion über die Chancen von Doppelqualifikationen wären - realistisch gesehen - fünf entscheidende Charakteristika namhaft zu machen: Wenn man unter bildungsökonomischem Aspekt diskutiert, so steckt in Doppelqualifikationen die Chance der Verkürzung des Lernens; unter bildungspolitischem Aspekt bieten doppeltqualifizierende Bildungsgänge Innovationsperspektiven für das berufliche Bildungswesen; unter schulstrukturellem Gesichtspunkt könnte man auf die Zersplitterung in der Sekundarstufe II aufmerksam machen und Kriterien für eine Neuordnung der Bildungsgänge und Gesichtspunkte für soziale Kohärenz gewinnen. Sodann wäre unter jugendpädagogischem Aspekt herauszuarbeiten, daß doppeltqualifizierende Bildungsgänge Lernprozesse entwickeln können, die den Entwicklungsphasen und Aufgaben des Jugendalters angemessen sind. Dazu hat sich unter didaktischem Aspekt inzwischen eine curriculare Diskussion (vor allem im nordrhein-westfälischen Kollegschulversuch) entwickelt, der auf neuartige integrierte Lernformen verweist. Die Argumente im einzelnen!
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6.1.5.1
Bildungsökonomischer Aspekt: Verkürzung der Lernzeiten Wenn z.B. ein Abiturient (etwa mit dem Leistungsfach "Technik") nach der Reifeprüfung noch mindestens zwei Jahre die Berufsschule besuchen muß, um einen Facharbeiterbrief oder einen Assistentenabschluß zu bekommen, dann liegen die Vorteile integrierter doppeltqualifizierender Bildungsgänge auf der Hand: Rein volkswirtschaftlich gesehen senken sich die Kosten für Bildungsprozesse; die Heranwachsenden könnten kürzer lernen und die Lernorganisation wie Schulgebäude, Lehrerqualifikation etc. könnten sinnvoller genutzt werden. Verkürzte Lernzeiten, wie bei der Doppelqualifikation "Assistent plus Abitur" können auch der privaten Ökonomie des Lebens entgegenkommen: Zwei Optionen zu haben, wäre ein Argument für solche Eltern, die ihren Kindern Studium (bzw. ein Weiterlernen in weiterfuhrenden Bildungsgängen) und Arbeit im Beschäftigungssystem ermöglichen wollen. Aber auch die Jugendlichen selber, deren Leben noch nicht so stark von rationalen Optionslogiken geleitet ist, könnten einsehen, daß man mit einem doppelten Abschluß "mehr" machen kann, zumal sie anstelle der "vertanen Schulzeit" - wie es des öfteren geäußert wird - reale Bildungsaufgaben zu bewältigen hätten. Schule enthielte vermehrt anregende, sinnstiftende und perspektivenreiche Lernelemente, die zudem noch ein unmittelbares Überwechseln in das Beschäftigungssystem ermöglichten. Bei Bildungsgängen im Bereich der Sekundar-I-Abschlüsse (Hauptschulabschluß bzw. "Mittlere Reife" plus Facharbeiterbrief) ergibt sich die doppelte Option im Blick auf das Weiterlernen in weiterfuhrenden Bildungsgängen (Fachoberschule, berufliches Gymnasium etc.), ebenfalls verbunden mit der Möglichkeit, eine Arbeit aufzunehmen. Aber auch für die Doppelqualifikation "Hauptschulabschluß plus Teilqualifikation", wie sie in dem nordrhein-westfälischen Versuch zur Verbindung des Berufsvorbereitungsjahres mit dem Berufsgrundbildungsjahr erprobt wurde (vgl. Kaiser/Kell 1986), ergaben sich doppelte Optionen für die Schüler: Sie konnten mit dem Hauptschulabschluß weiterlernen und hatten zugleich die Möglichkeit, eine Lehre zu beginnen. 6.1.5.2
Bildungspolitischer Aspekt: Profilierung des beruflichen Bildungsweges Eine veränderte Funktionsbestimmung der Doppelqualifikation im Gesamt des deutschen Bildungswesens wird seit einiger Zeit vor allem in Nordrhein-Westfalen debattiert. Bildungspolitik und Bil-
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dungssoziologie konstatieren tiefgreifende Wandlungsprozesse im Bildungsverhalten der Bevölkerung und im Beschäftigungssystem. Ausgehend von der Tatsache, daß viele Eltern weiterhin den "Königsweg Abitur" präferieren - über 50 % der Schüler in Großstädten sind inzwischen Gymnasiasten - und nicht auf doppeltqualifizierende Bildungsgänge oder eine betriebliche Berufsausbildung setzen, stellt sich inzwischen fast existentiell die Frage nach der Attraktivität des dualen Systems der Berufsausbildung (vgl. Kutscha 1994). Die Ausbildung im dualen System ist dadurch in eine Krise geraten. Zudem engagiert sich die Industrie immer weniger für die kostenintensive Ausbildung; das Handwerk wird für Fachoberschulabsolventen oder Abiturienten zunehmend inattraktiv, wenn es das nicht schon immer war. Jedenfalls wer im Alter von 16 oder 17 Jahren auf eine Berufsausbildung setzt und sich dabei in der Hoffnung wiegt, anschließend mit seinen Altersgenossen aus dem Gymnasium im Hochschulstudium konkurrieren zu können, wird ernüchtert feststellen müssen, daß Berufsschule und Betrieb in ihrer bisherigen Form eben nicht das Rüstzeug für einen erfolgreichen Start an einer Fachhochschule oder Universität bereitstellen. Schließlich ist zu vermuten - bedingt durch die Tatsache, daß die Hauptschulen quantitativ extrem zurückgehen -, daß in Deutschland in der Sekundarstufe I ein "zweigliedriges" Schulsystem (gemeinsame Haupt- und Realschule parallel zum gymnasialen Bildungsgang) entstehen wird. Wenn man diese Bewegungen im Bildungswesen resümiert, dann stünde eigentlich eine "neue Bildungsreform" auf der Tagesordnung. Die bisherigen Entwicklungen sind einseitig dem Gymnasium zugute gekommen; es könnte seine Attraktivität sogar noch steigern, wenn es vermehrt Doppelqualifikationen ausweist. Demgegenüber schwindet derzeit die Bedeutung des dualen Systems, obwohl mittelfristig durchaus neue Nachwuchsströme zu erwarten sind. Hier nun liegt es in der Tat nahe, den dualen Bildungsgang grundsätzlich doppeltqualifizierend anzulegen. Vor allem der sich abzeichnende Sekundarstufe-I-Bildungsgang könnte in der Oberstufe am produktivsten durch doppeltqualifizierende Bildungsgänge fortgesetzt werden. Die Heranwachsenden könnten durch die Doppelqualifikation "Facharbeiterbrief und Fachhochschulreife" ihre Optionen erweitern. Dies könnte zweifellos die Attraktivität des dualen Systems insofern steigern, als die potentiellen Lehrlinge sicher wären, nach der Ausbildung neue Lernverzweigungen in Anspruch nehmen zu können. Einige Tendenzen kommen diesem Gedanken
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insofern entgegen, als durch die schon erwähnte "Neuordnung der Metall- und Elektroberufe" und die damit verbundene Aufwertung des beruflichen Lernens ("Schlüsselqualifikationen") eine Veränderung des betrieblichen Lernens hin zu mehr Persönlichkeitsentwicklung, Selbständigkeit, Teamfähigkeit etc. am Arbeitsplatz in Gang gekommen ist. Also auch in der betrieblichen Berufsausbildung finden sich "allgemeinbildende" Anteile (siehe auch Bader 1991 5.4.). Um solche weittragenden Innovationen tatsächlich anzupakken, wären die Arbeitgeber als Bündnispartner anzusprechen; sie müßten selbst ein Interesse daran haben, breit gebildete Facharbeiter im Rahmen von Doppelqualifikationen zu bekommen (vgl. Gruschka u.a. 1992). Damit aber wäre unter der Hand das geschafft, was bisher noch nicht gewagt wurde: a) eine faktische Gleichwertigkeit des beruflichen Lernens mit dem allgemeinen Lernen (betriebliche Lehre kann qua Doppelqualifikation bis zum Studium fuhren) und b) eine mit dem strategischen Einsatz von Doppelqualifikationen verbundene inhaltliche Neubewertung darüber, ob nicht im beruflichen Lernen selber neben seinem Hinführen zum beruflichen Handeln Qualitäten stecken, die auf studienrelevante Kompetenzen verweisen (vgl. Bremer u.a. 1993). 6.1.5.3
Schulstruktureller Aspekt: "Ordnung" der Bildungsgänge und soziale Integration Typisch für doppeltqualifizierende Bildungsgänge ist ihre Ansiedlung im Sekundarbereich II, was die Tendenz beförderte, stärker in Schulstufen (und nicht in Schulformen) zu planen. In der Sekundarstufe wiederum führte dies dazu, von den Abschlüssen her zu denken, wofür auf Bildungsvoraussetzungen aufruhende Bildungsgänge anzubieten sind. Bisher ging man entweder auf das Gymnasium - das auf den ersten Blick nur einen einzigen Bildungsgang anbot, jedoch durch seine Leistungskurswahl inzwischen auch einen gewissen "Bildungsgangsbezug" entwickelt hat. Oder man besuchte (zumeist verbunden mit einer Lehre im Betrieb) eine Berufsschule und geriet in eine kaum übersehbare Fülle von Bildungsgängen ("organisiertes Chaos"). Doppelqualifikationen, wenn sie breit angeboten werden, können dieses "Chaos" strukturieren helfen. Während also für die meisten Schüler bisher das berufliche Bildungssystem mit seinen vielfältigen Schulformen, gestuften Übergängen, Abschlüssen etc. unüberschaubar war, würde durch doppeltqualifizierende Bildungsgänge etwa im Rahmen von Schulberatung schnell deutlich werden, welche Möglichkeiten und Wege dem einzelnen of-
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fenstehen. So nennt z.B. das nordrhein-westfälische Kollegschulmodell in seinen „Richtlinien für die Bildungsgänge" sechs Abschlüsse (vgl. Landesinstitut 1988, S. 15): 1. Vorklasse zum Berufsgrundschuljahr und Berufsgrundschuljahr (vollzeitschulisch) mit Hauptschulabschluß 2. Berufsgrundschuljahr und Berufsfachschule (vollzeitschulisch) mit Fachoberschulreife 3. Berufsabschluß (teilzeitschulisch) mit Fachoberschulreife 4. Berufsabschluß (teilzeitschulisch) mit Fachhochschulreife 5. Berufsabschluß (vollzeitschulisch) mit Fachhochschulreife 6. Berufsabschluß (vollzeitschulisch) mit Allgemeiner Hochschulreife. Durch diese begrenzte Anzahl von Bildungsgangstypen entsteht Überschaubarkeit und "Ordnung", die gerade für das berufsbildende Schulwesen in seiner "Konkurrenz" zum Gymnasium produktiv sein könnte. Mit dieser Tendenz zur Stufenschule, so sie denn tatsächlich energisch fortgeführt würde, kämen auch jene älteren Konzepte zum Tragen, die den Aspekt der sozialen Integration betonten. Obwohl die Realisierungsbeispiele bisher relativ gering waren, könnte an dem Gedanken einer integrierten berufsbildenden Schule mit integrierten Doppelqualifikationen festgehalten werden, um zu zeigen, wie im Jugendalter gemeinsames Lernen möglich wird. Sicherlich bedarf es besonders bei den teilzeitschulischen doppeltqualifizierenden Bildungsgängen einer engen Absprache mit Betrieben, vielleicht sogar der Kooperation von Lehrern und Ausbildern (vgl. Bojanowski/Dedering/Heidegger 1983). 6.1.5.4
Jugendpädagogischer Aspekt: Lebensalterangemessenes Lernen Für jede posttraditionelle oder "moderne" Gesellschaft stellt sich die grundsätzliche Frage, welche der Jugend angemessene Formen des Unterweisens notwendig sind und ob diese tatsächlich den Lebenswünschen und -möglichkeiten der heranwachsenden Generation entsprechen. Die neuere Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie (vgl. z.B. Oerter 1987) haben inzwischen eindringlich dargetan, daß die Heranwachsenden "Aufgaben" lösen müssen. Geht man von diesem Konzept der "Entwicklungsaufgaben" aus, so wird deutlich, daß in der Adoleszensphase nicht nur kognitive Aufgaben (wie die schulischen Inhalte) angegangen werden müssen, sondern
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auch solche, die das ganze Leben betreffen: Erwerb der eigenen Rolle; Akzeptieren der körperlichen Erscheinung; Erwerb neuerer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen; emotionale Unabhängigkeit von den Eltern; sich in ein sozial verantwortungsvolles Verhalten einüben; ein ethisches Bewußtsein aufbauen; sich mit der zukünftigen Berufsrolle auseinandersetzen (vgl. Havighurst 1972). Werden diese Aufgaben des Jugendalters in der Schule aufgegriffen? Dazu ist besonders die Sekundarstufe II offensichtlich nicht geeignet: Ihr entweder eng zugeschnittenes fachliches (Berufsschule) oder ihr kognitiv ausgerichtetes Lernen (Gymnasium) vernachlässigt zweifelsohne gewichtige Anteile des Jugendlebens. Doppelqualifikationen enthalten hier die Möglichkeit, daß jugendspezifische Aufgaben und mögliche Lösungen von den Jugendlichen angepackt werden können. Das reicht, einmal von der Arbeitspädagogik her betrachtet, von Teilqualifikationen, die den Jugendlichen Einblicke in fachpraktische oder betriebliche Zusammenhänge ermöglichen, über gehobene Assistentenausbildungen mit praktischen Anteilen bis hin zu Tätigkeiten in Werkstätten, in denen Arbeitsvollzüge ernsthaft erprobt werden können (vgl. Fucke 1981). Gerade Gymnasiasten lernen fernab der Stätten der materiellen Produktion: Durch doppeltqualifizierende Bildungsgänge mit ihren fachlich-praktischen Anteilen (z.B. Laborarbeit, technische Übungen, Schülerpraktika etc.) ergeben sich gute Chancen, aus der Abgehobenheit des üblichen Lernens reale arbeitsweltnahe Sphären kennenzulernen. Umgekehrt können Berufsschüler durch doppeltqualifizierende Bildungsgänge neben den allgemeinbildenden Fächern der Berufsschule zusätzliche Anregungen zu ihrem fachlichen Lernprogramm bekommen, was den Reichtum der Aufgaben im Leben deutlich erweitert. Zu nennen wären die Anteile, die einen höherwertigen Schulabschluß ermöglichen oder auch - wie in der Kollegschule - die des Obligatorikunterrichts in Deutsch, Gesellschaftslehre und Religion oder auch die des musisch-kulturellen Lernens im Lernort Studio. Damit sind doppeltqualifizierende Bildungsgänge für alle Jugendlichen besonders geeignet, die sich im Jugendalter stellenden Aufgaben zu thematisieren bzw. zu repräsentieren. Die jugendpädagogische Sicht nötigt aber auch hier zu inhaltlichen Weiterentwicklungen. Denn die Praxis der doppeltqualifizierenden Bildungsgänge ist in dieser Hinsicht noch defizitär.
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6.1.5.5 Didaktischer Aspekt: Integrierte Lernformen Wenn die Überlegungen zur Jugendpädagogik richtig sind, dann kommen nunmehr qualitative Gesichtspunkte zum Unterricht generell im Rahmen der Doppelqualifikation ins Spiel. Zwar waren beim Reformvorhaben "Doppelqualifikation" immer auch inhaltliche Vorstellungen impliziert, da allen Beteiligten die ungeheure Herausforderung der emphatisch erhofften "neuen Qualität von Bildung" (Heinz Dedering) bewußt war. Gleichwohl überrascht, wie spärlich in den ersten Entwicklungsphasen die curricular-inhaltlichen Vorschläge ausgefallen sind. In jenen Anfangszeiten schälten sich drei Vorgehensweisen heraus: In Curriculumdiskussionen wurden Überschneidungen gemäß inhaltlicher Kriterien von Schulfächern, Gegenstandsbereichen oder Sachfeldern identifiziert ("Deckungsanalysen") und dann in "integrierte" Curricula umgebaut (z.B. Bremen, Nordrhein-Westfalen und Berlin). Auf ähnlichen Überlegungen beruhte der Ansatz der "Polyvalenz" in den hessischen Modellversuchen, in denen die "Mehrwertigkeit" von Lehrplanelementen durch Curriculumgruppen nachgewiesen werden sollten. Meistens kam es dabei zu einer wechselseitigen Anreicherung von Kursen durch Studien- und berufsbezogene Inhalte, die dann auf den studienqualifizierenden bzw. den berufsqualifizierenden Bildungsgang angerechnet werden konnten. Im breit angelegten Kollegschulversuch NW wurden zur Begründung von integrierten Curriculumelementen explizit didaktische Kriterien entwickelt ("Strukturgitter", didaktisch-curriculare "Konstruktionsorientierungen"), die dann in die Arbeit von Lehrplangruppen einflössen (vgl. Schenk/Kell 1978). Erst mit dem Ende der großen (organisatorischen) Reform begann man allmählich vor allem in den NRW-Kollegschulen, u.a. angeregt durch die Evaluationen zur Kompetenz- und Identitätsentwicklung, mit einer "inneren" Schulreform: Projekte, Planspiele, Fallstudien, Felderkundungen etc. Hervorstechendes Beispiel dieser Entwicklung ist das Konzept der "Lernaufgabe". Um den Schülern einen erfahrbaren Bezug zu den Fragen des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen, wurde eine Form gesucht, in der die Schüler ihr im Fachunterricht erworbenes Wissen und Können im Blick auf die subjektive Handlungsfähigkeit erproben können: "Lernaufgaben sollen die Lernenden mit Sachverhalten, Fragen und Problemen konfrontieren, die nicht einem einzelnen Fach, sondern mehreren Fächern im Bildungsgang verpflichtet sind. In bezug auf solche Sachverhalte, Fragen oder Probleme sollen Ler-
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nende im Rahmen der Arbeit an einer Lernaufgabe selbst aktiv werden. Das heißt, sie sollen bezogen auf den Gegenstandsbereich der Lernaufgabe eigene Interessen und Handlungsziele entwickeln und formulieren" (Girmes u.a. 1993, S. 5). Lernaufgaben wollen die Inhalte verschiedener Fächer so arrangieren, daß die Schüler sie neu verknüpfen können und neue Perspektiven für Fragen im nachfolgenden Unterricht entstehen. Lernaufgaben sind also im Curriculum eines Bildungsgangs etwa im Gegensatz zu "Projekten" fest verankert, fordern zugleich aber die Selbständigkeit des Schülers (vgl. beispielhaft Spiritula 1988, Rohlfing/Schenk 1990, Girmes u.a. 1993). An diesem, die überkommenen Lernformen aufhebenden Modell zeigt sich deutlich die Schwerpunktverlagerung der Reformintentionen - und zugleich die neue Perspektive des Doppelqualifikationskonzepts: Es geht nicht mehr allein um den Beweis, inwieweit berufliche und allgemeine Lerninhalte "gleichwertig" oder aufeinander beziehbar sind. Die Doppelqualifikation kann erst dann nachhaltig das Bildungswesen im Sekundarbereich II prägen, wenn sie einen fundamentalen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung durch modellhafte Innovationen in den Schulen leistet. Hierin freilich liegt noch ein weitgehend unausgeschöpftes Potential neuzeitlicher Sekundarschulentwicklung - zugleich eine Herausforderung für die Arbeitspädagogik, ihren Beitrag dazu zu erbringen.
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6.2
Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage Manfred Schweres
6.2.1
Zu den Wurzeln in der Reformphase
6.2.2
Zur besonderen Rolle der Arbeitswissenschaft in der Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre Die Entwicklung der Arbeitswissenschaft selbst Anregungen aus der Arbeitswissenschaft für die Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre
6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.3 6.2.3.1 6.2.3.2 6.2.3.3 6.2.4
Neue Entwicklungen und Ausblick Neue Anstöße aus "lean-Diskussion" und Standortdebatte überholte Produktionskonzepte überwinden Neue Formen humanzentrierter Produktions- und Arbeitsorganisation - Das eigentliche Neue an "lean-production" An deutschen Vorarbeiten anknüpfen Für eine zukunftstaugliche, geänderte arbeitsorientierte Bildung
561 564 564 569 573 573 574 576
578
Zitierte Literatur
581
Weiterführende Literatur
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6.2.1
Zu den Wurzeln in der Reformphase
Über Arbeitslehre bzw. Polytechnik ist in der Bundesrepublik Deutschland bereits in den sechziger und siebziger Jahren intensiv diskutiert worden. Damals wurden wesentliche Positionen entwikkelt, so daß das polytechnische Rad nicht noch einmal erfunden werden muß. Vielmehr können wir uns auf jene Beiträge stützen, die gegen Ende der damaligen Diskussionsphase zusammenfassend vorgelegt worden sind (vgl. Schweres 1979; Dedering 1979). Im Vordergrund standen damals arbeitnehmerorientierte Positionen. Danach erfordert arbeitsorientierte Bildung einen interessenbezogenen Unterricht (vgl. Görs 1977) und sie orientiert sich an arbeitsorientierten Interessen (vgl. Engelen-Kefer 1973), was Konzeptionen von einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft (vgl. Koubek 1973; Bosch u.a. 1978) voraussetzt. Angestrebt wird u.a.
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die Herausflihrung des arbeitenden Menschen aus seiner Objektrolle als angewiesener, unterwiesener "Arbeitnehmer" in eine Subjektrolle als Gestalter und Beherrscher der Produktions- und Arbeitsprozesse (Abbau der Fremdbestimmung der Arbeit) (vgl. DEFF 1973). Insofern war die Arbeitswissenschaft - bzw. die darunter zusammengefaßten arbeitsbezogenen Wissenschaften (vgl. Schweres 1980) darauf zu befragen, welchen Beitrag sie bei ihrem jeweiligen Entwicklungsstand für eine Hinfuhrung der Lernenden zur Arbeitswelt (Sekundarstufe I) bzw. ftir eine vertiefende Einfuhrung vor allem im beruflichen Schulwesen der Sekundarstufe II zu erbringen vermögen. Die Kritik aus dem Arbeitnehmerlager (Gewerkschaften) wandte sich gegen eine unkritische Übernahme der vorwiegend arbeitstechnologisch/ergonomisch ausgerichteten tradierten Arbeitswissenschaft in die Arbeitslehre (vgl. Helfert 1971 und 1977). Ihren Aufriß einer emanzipatorisehen Gesellschaftspolitik exemplifiziert Engelen-Kefer am Beispiel der Verbesserung der Arbeitssituation (als "Erhöhung des Spielraumes zur Selbstentfaltung bei der Arbeit"). Folgende arbeitsorientierte Interessenstrukturen leitet sie dabei ab (vgl. Engelen-Kefer 1973): 1. Sicherung und Steigerung des Einkommens der abhängig Beschäftigten sowie gleichmäßigere Vermögensverteilung; 2. bedarfsgerechte Versorgung mit materiellen und immateriellen, privaten und öffentlichen Gütern und Diensten; 3. Arbeitsplatzsicherheit unter Einschluß beruflicher und in Einzelfällen regionaler Mobilität; 4. optimale Gestaltung der Arbeit (Arbeitsgestaltung; Arbeitsorganisation; Qualifikation); 5. Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das arbeitsorientierte Interessenfeld (5) wird voll von der tradierten Arbeitswissenschaft (Ergonomie) abgedeckt. Nach EngelenKefer zählen dazu: "klimatische und räumliche Bedingungen, Umwelteinflüsse, Arbeitstempo, Arbeitszeit, Schichtregelung, physische und psychische Leistungsanforderungen, betriebliche Sozialleistungen, Arbeitsschutz". Das arbeitsorientierte Interessenfeld (4) hingegen, das im Zuge der "lean-Diskussion" (schlanke Produktion; flache Hierarchien; Mitwirkung der Beschäftigten u.a. in Arbeitsgruppen usw.) erneut thematisiert wird, ist nur mit einer stärkeren Hereinnahme sozialwis-
Arbeitslehre/ Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
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senschaftlicher Erkenntnisse in die tradierte Arbeitswissenschaft auszufüllen. Engelen-Kefer fuhrt zu diesem Feld folgende arbeitsorientierte Interessen auf: "Erhöhung der Qualität der Arbeit: Grad der Arbeitsteilung, Überschaubarkeit über Produktionsprozeß, Beteiligung an der Arbeitsgestaltung sowie allen Entscheidungen, welche die eigene Tätigkeit beeinflussen, Kontakte zu Kollegen und Vorgesetzten, hierarchische Strukturen, berufliche Entfaltungsmöglichkeiten, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten; Erhöhung der Lernfähigkeit: beruflich, sozial, kulturell, politisch". Insgesamt ist also zu überprüfen, ob und wie weit die Arbeitswissenschaft (Ergonomie; Arbeitstechnologie/Arbeitsingenieurwesen; Arbeitsmedizin/Sozialmedizin; Arbeitsökonomie; Arbeits-/Betriebspsychologie; Arbeits-/Betriebs-/Industriesoziologie; Arbeitsrecht; Arbeits-/Betriebspädagogik) einen Beitrag zu einer emanzipatorischen, arbeitsorientierten Bildung leisten kann (vgl. Pukas 1981). Wie aus dem Strukturansatz bei Engelen-Kefer hervorgeht, laufen gemäß dem weiterhin bestehenden, grundlegenden Interessenkonflikt zwischen Kapital (Unternehmer) und Arbeit (abhängig Beschäftigte, Gewerkschaften) die arbeitsorientierten Interessen in vielen Feldern nicht konform mit den kapitalorientierten Interessen (vgl. Engelen-Kefer 1973). Von daher war es nur logisch, daß sich von Beginn der arbeitslehrebezogenen Reformdebatte an die Unternehmer und ihre Verbände machtvoll mit ihren Interessenpositionen zu Wort meldeten (vgl. u.a. BDA 1976; Beelitz 1971). Danach war zwar die Mitwirkung der Arbeitnehmer, ihr Engagement für die Produktivitätssteigerung der Unternehmen erwünscht; abgelehnt aber wurden alle Forderungen nach mehr Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmung, nach einer stärkeren Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital (samt daraus sich ergebendem Einfluß auf die Unternehmensentscheidungen) usw. Über Jahre hinweg tobte in der Reformphase eine intensive politische Kontroverse um die Arbeitslehre (u.a. aufgearbeitet in Schwegler 1974). Nach der Mauererrichtung (1961) zum Osten hin und bei noch nicht erweitertem bzw. ausgebautem Europäischen Arbeitsmarkt (ohne Griechen, Portugiesen, Spanier, Iren) herrschte bis in die 70er Jahre hinein Vollbeschäftigung am (west-)deutschen Arbeitsmarkt. Die so gestärkte Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten und ihrer Interessenvertreter (Betriebs-/Personalräte;
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Aufsichtsratsmitglieder; Mitglieder in Lehrplankommissionen, in Ausschüssen von Forschungsförderern usw.) ergab einen gesellschaftlichen Reformschub zugunsten der 'kleinen Leute'. Mit zunehmendem Millionenheer der Arbeitslosen und mit dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Gegenmodells des "real existierenden Sozialismus" fehlt für einen erneuten Reformschub in den 90er Jahren auf den ersten Blick die Gegenmachtbasis. In einem Programm ganzheitlicher, systemischer Rationalisierung, das nur mit einem arbeitsorientierten Gestaltungs- und Organisationskonzept tragfähig wird, sind Arbeitnehmerqualifikationen unabdingbar. Der Arbeitende als handelndes und lernendes Subjekt wird nun Träger des Innovationsprozesses (vgl. Georg/Kißler 1982; vgl. auch die Ausfuhrungen zur Qualifikation bei REFA 1991; Rick 1985; Roth/Kohl 1988; Sonntag 1990).
6.2.2
Zur besonderen Rolle der Arbeitswissenschaft in der Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre
6.2.2.1 Die Entwicklung der Arbeitswissenschaft selbst Die mehr als 100jährige Entwicklung der Arbeitswissenschaft bekam im westlichen Nachkriegsdeutschland einen neuen Schub aus der Reformdiskussion heraus. Im novellierten Betriebsverfassungsgesetz von 1972 wird gefordert, daß Arbeitgeber und Betriebsrat bei der menschengerechten Gestaltung der Arbeit auf die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse zurückgreifen (BetrVG § 90) (vgl. Fitting u.a. 1992). In der Folge entwickelte sich in der Arbeitswissenschaft eine, teils kontrovers geführte, Diskussion um ihr Selbstverständnis (vgl. Schweres 1976). Die Reformdiskussion der 60er und frühen 70er Jahre erstreckt sich speziell auf das Feld der Arbeit (vgl. Göhl 1977; Gerum 1981) und gipfelte in der Forderung nach einer "Humanisierung der Arbeit" (AGP 1975; vgl. Helfert 1971; Vilmar 1973). Ein wesentliches Ergebnis dieser Diskussion war die Auflage eines entsprechenden Forschungsprogramms durch die Bundesregierung (vgl. Matthöfer 1974; BMFT u.a. 1989). Das Programm ergänzte auf der forschungspolitischen Seite die Reformbemühungen der Bundesregierung in der Arbeits- und Sozialpolitik.
Arbeitslehre/ Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
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In der Reformdiskussion Anfang der 70er Jahre hat der Verfasser (vgl. Schweres 1979) für eine erweiternde sozialwissenschaftliche, "emanzipatorische" Orientierung der Arbeitswissenschaft Stellung bezogen (vgl. Laske/Reichwald 1974; Laske u.a. 1985). Das schlug sich auch nieder in der Auseinandersetzung um die Denkschrift der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (vgl. GfA 1973; Schweres 1976). Letztlich wird die Arbeitswissenschaft um so wirksamer, je interdisziplinärer sie sich organisiert und je integrierender ihre Erkenntnisse in der Arbeitspraxis umgesetzt werden (Schweres 1980; Schweres/Laske 1985; Schweres 1985). In der Arbeitswissenschaft selbst ergab sich daraus eine, über ein Jahrzehnt andauernde Diskussion zu ihrer Neuorientierung mit der Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Inhalte (vgl. Dedering 1974; Laske/Reichwald 1974). Die Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) hat seit Ende der 70er Jahre die Zusammenfuhrung der geisteswissenschaftlichen/sozialwissenschaftlichen und der natur-/ingenieurwissenschaftlichen Positionen betrieben (vgl. u.a. Hettinger 1982; Fürstenberg 1975). Der Disput wurde vorläufig aufgehoben mit der Ausrichtung auf einen interdisziplinär organisierten, auf integrative Anwendung abgestellten Ansatz der Arbeitswissenschaft. Im Auftrag der GfA entstand - gefordert aus Mitteln der VW-Stiftung - in 1987 ein Bericht (vgl. Luczak/Volpert u.a. 1987), in dem es zur Arbeitswissenschaft heißt: "Arbeitswissenschaft ist die Systematik der Analyse, Ordnung und Gestaltung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen mit dem Ziel, daß die arbeitenden Menschen in produktiven und effizienten Arbeitspozessen - schädigungslose, ausfuhrbare, erträgliche und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, - Standards sozialer Angemessenheit nach Arbeitsinhalt, Arbeitsaufgabe, Arbeitsumgebung sowie Entlohnung und Kooperation erfüllt sehen, - Handlungspielräume entfalten, Fähigkeiten erwerben und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit erhalten und entwikkeln können. Je nach der praktischen Perspektive und nach dem Fokus der einzelnen Untersuchung ergeben sich unterschiedliche begriffliche Mo-
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
delle und Zugriffsweisen auf die soziale und technische Wirklichkeit der Arbeit, verbunden mit einer bestimmten Auswahl der Kriterien von Menschengerechtheit" (Luczak/Volpert u.a. 1987, S. 59). Abb. 1. verdeutlicht im Aufbau die Systematik des Gegenstandskatalogs, ebenso wie Abb. 2 mit ihren personenzentrierten StrukturAbb. 1:
Aufbau der Systematik des arbeitswissenschaftlichen Gegenstandskataloges (Grundwissen).
Quelle: Luczak/Volpert et al. 1987, S. 63.
Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
567
und Verlaufsebenen des Arbeitsprozesses (vgl. Abb. 1 und Abb. 2). Die Strukturen zeigen, daß die in den kommenden Jahren anzugehenden Aufgabenstellungen über soziotechnische Betriebs- und Arbeitssysteme erschlossen werden können. In systemtheoretischer Betrachtung lassen sich im Arbeitssystem drei Problemlösungsfelder abgrenzen (siehe Abb. 3, vgl. auch Schweres 1979 und 1980).
Abb. 2:
Personenzentrierte Struktur- und Verlaufsebenen des Arbeitsprozesses Strukturebenen des Arbeitsprozesses
Quelle:
Luczak/Volpert et al. 1987
Veriaufsebenen des Arbeitsprozesses
568
Abb. 3:
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Problemlösungsfelder in Arbeitssystemen
1. Problemlösungsfeld I: inneres Feld des Arbeitssystems, weitgehend beschränkt auf die Elemente Mensch/Arbeitender, Arbeits-/ Betriebsmittel und Arbeitsablauf; 2. Problemlösungsfeld II: erweitertes Feld des Arbeitssystems, um Eingabe, Ausgabe und Umwelteinflüsse ergänzt. 3. Problemlösungsfeld HI: Die gesamte Ausgestaltung des Arbeitssystems ist für Veränderungen geöffnet. Alle Elemente (mit ihren Bedingungen, Eigenschaften, ...) und ihre Verknüpfungen beziehungsweise Wechselwirkungen sind grundsätzlich veränderbar, einschließlich der Arbeitsaufgabe. Die Entscheidungsbefugnisse sind angewachsen und erstrecken sich zunehmend auf sämtliche Systemelemente, einschließlich der Zielsetzungen (Arbeitsaufgabe). Die Um- und Durchsetzung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse unter Mitbeteiligung der Beschäftigten umfaßt jetzt
Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
569
die Phasen des gesamten Problemlösungsprozesses (Analyse, Bewertung, Optimierung, Entscheidung, Durchsetzung, Aus-/ Durchführung, Kontrolle). Auf die beiden ersten Problemlösungsfelder beschränkt sich in der Regel die Tätigkeit multidisziplinär organisierter traditioneller Arbeitswissenschaft (Ergonomie) vom Erkenntnisstand von Vorgehensweise her. Erst die Ausdehnung auf das äußere Problemlösungsfeld III eröffnet Chancen für die Entwicklung erweiterter neuer Ansätze der Arbeitswissenschaft selbst sowie ihrer Um- und Durchsetzung in der Arbeitspraxis. In den Feldern I und II sind die Problemlösungsprozesse noch mehr oder weniger formalisiert, vor allem wenn es sich um Routineentscheidungen (Routineverfahren) handelt. Mit zunehmendem Handlungsspielraum der beteiligten Fachleute und der betroffenen Arbeitnehmer tritt jedoch in diesen Prozessen das Merkmal freier Entscheidung stärker hervor, gekoppelt mit neuartigen Handlungsalternativen und Handlungsstrategien. Die Praxis teilautonomer Arbeitsgruppen ist kennzeichnend für die im Feld III eröffneten Handlungsmöglichkeiten. Das Problemlösungsfeld III ist wegweisend für die künftige menschengerechte Gestaltung der Arbeit. Die Arbeitswissenschaft hat also ein polares Spektrum. Preuschen formulierte das bereits 1973 treffend so: "Die Arbeitswissenschaft ist eine ... interdisziplinäre Wissenschaft. Sie besteht aus einem naturwissenschaftlichen und einem sozialwissenschaftlichen Teil" (Preuschen 1973, S. 7). 6.2.2.2
Anregungen aus der Arbeitswissenschaft für die Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre Hat man den skizzierten Entwicklungsprozeß der Arbeitswissenschaft vor Augen, so wundert es nicht, daß ihre Erkenntnisse in der Reformphase der 60er/70er Jahre so wenig mitgestaltend auf die Entstehung der Arbeitslehre einwirkten. Der arbeitswissenschaftliche Wandlungsprozeß kam um mehr als ein Jahrzehnt zu spät! Günstiger sieht es aus, wenn man die Anregungen untersucht, die sich vor allem für eine vertiefende Einführung in die Wirtschaftsund Arbeitswelt in der Sekundarstufe II (einschließlich beruflichem Schulwesen) einsetzten (vgl. Tilders 1968; Heibig 1973; Pukas 1981; Schweres 1970). Arbeitswissenschaft wird hier also in ihren
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Möglichkeiten für eine arbeitsorientierte bzw. arbeitsbezogene Ausgestaltung der Sekundärschulen thematisiert. Damit die Arbeitswissenschaft Zugang in die westdeutsche Lehrerbildung, speziell für die Arbeitslehre/Polytechnik finden konnte, waren hochschulorganisatorische und persönliche Berührungsfelder notwendig. Mit der Akademisierung der "Gewerbelehrerausbildung" (-> 9.3.2) ergab sich beispielsweise in der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen ein derartiges neues Berührungsfeld. Aachen besitzt als universitärer Standort eine lange arbeitswissenschaftliche Tradition im Maschinenbau (Produktionstechnik), die noch erweitert wurde um Inhalte im Wirtschaftswissenschaftlichen Aufbaustudium. Die Startphase des Studiums des Gewerbelehramtes war zudem gekennzeichnet durch eine intensive bildungsökonomische Diskussion (vgl. Recum 1969). Damit waren wesentliche Einflußfaktoren benannt, die das Arbeitshandeln im Bildungsbetrieb 'Schule' selbst betrafen (vgl. Krommweh 1966) und damit eng verknüpft - die Vorbereitung/Einführung der Lernenden in die Arbeitswelt ansprachen. Daraus ergaben sich mehrfach Anregungen, um aus der Arbeitswissenschaft heraus die damalige Arbeitslehreentwicklung (Sekundarstufe I) auf deren Folgerungen für die Sekundarstufe II zu untersuchen. Unter dem Begriff "Arbeitswirtschaftslehre" (AWL) (vgl. Arbeitswissenschaftslehre jetzt Unterrichtsfach in NW 1976; Schleucher 1974; Schweres 1971 und 1979) sind die Aachener Entwürfe in die Curriculumdiskussion eingegangen. Für die Verbreitung des AWL-Ansatzes konnte seinerzeit der REFA-Verband gewonnen werden, einer der mitgliederstärksten Umsetzer arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse. Aus der Tradition der Arbeitspädagogik heraus (vgl. Riedel 1967; Schelten 1987; Übersichtsbeiträge bei Bunk 1972 und Neubauer 1976) wurde der AWL-Ansatz zu einem Curriculum Arbeitslehre II/Arbeitswirtschaftslehre ausgebaut (vgl. Verband für Arbeitsstudien - REFA/ Fachausschuß Schule 1977). Das Curriculum mußte sich schon bald einer intensiven, kritischkonstruktiven Erörterung unterschiedlicher Herkunft stellen: * Dedering bemängelte einerseits, daß das AWL-Curriculum auf einer Arbeitswissenschaft im "Krisenzustand" aufbaue. Anstatt des
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systemtheoretischen Ansatzes (bei dem häufig normative Aspekte des Unterrichts zu kurz kämen) sieht er handlungstheoretische Konzepte als besser geeignet an, "... um die Arbeitswirklichkeit... zu erfassen und darauf in der Schule vorzubereiten" (Dedering 1977). Werner sieht die eigentliche Bedeutung des AWL-Curriculums innerhalb einer integrierten Sekundarstufe II (Kollegstufe), um in der Weiterentwicklung letztlich die Betroffenen dafür zu qualifizieren, die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse selbst aufzubereiten und zu nutzen, um sich so "... aktiv für die Humanisierung der Arbeitswelt einzusetzen" (Werner 1977). Helfert (1977) hinterfragt aus dem Lager der DGB-Gewerkschaften (WSI) heraus - also stärker interessenorientiert - das AWLCurriculum, bei dem er u.a. die sozialökonomische Analyse der Arbeitsverhältnisse (wirtschaftliche Machtstrukturen) vermißt sowie auf den einseitig ergonomisch-technischen Entwicklungsstand verweist. Sattler/Schiffer (1977) tragen ihre kritischen Anmerkungen ebenfalls aus der Sicht abhängig Beschäftigter vor (zu sehr auf Anpassung an vorgegebene Arbeitsbedingungen orientiert; Arbeitswissenschaft als Bezugsdisziplin zu eng; Interessenkonflikte im Feld der Humanisierung der Arbeit nicht ausreichend erörtert usw.). Dennoch halten sie zusammenfassend den AWL-Entwurf für einen beachtenswerten Diskussionsbeitrag. Laske (1977) setzt sich - unter Bezug auf Forderungen der Systemtheorie - insbesondere mit dem verwendeten Arbeitssystemansatz auseinander (unterschiedliche Interessen nicht deutlich genug; Konfliktträchtigkeit nicht thematisiert; Entscheidungsprozesse nicht als Handlungsprozesse gesehen. Arbeitssysteme sind abweichend vom AWL-Curriculum - offene Systeme, reichen über Arbeitsplatz/Betrieb hinaus in Umwelt und Gesellschaft; sie sind dynamische Systeme). Er verbindet damit Änderungs-/Ergänzungsvorschläge zu den Lerninhalten. Gleichzeitig verweist er auf den Prozeßcharakter der Verwirklichung human-sozialer Ziele (im Widerstreit mit technisch-wirtschaftlichen Unternehmerzielen). Er macht darauf aufmerksam, daß unterrichtsmethodische und -organisatorische Ebenen zu wenig im AWL-Curriculum erörtert sind (wie sollen die Ziele und Inhalte vermittelt werden?).
Fazit: Die vorgetragene Kritik ist in hohem Maße arbeitsorientiert im Sinne von interessengeleitet. In der Folge konnte sich der
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AWL-Ansatz im (beruflichen) Schulwesen nur in Teilbereichen durchsetzen. So ist Arbeitslehre z.B. im Lehrplan der Berufsoberschule in Bayern ausgewiesen. Die dort vorgegebenen 7 Themenbereiche weisen wesentliche Elemente des AWL-Ansatzes auf (vgl. Staatsinstitut 1976): 1. Einfuhrung in die Arbeitslehre 2. Physiologische Grundlagen der menschlichen Arbeit 3. Arbeitsmotivation 4. Humane Arbeitsplatzgestaltung 5. Arbeitsstudie - Planung, Durchführung und Kontrolle der Arbeit 6. Die Stellung der Arbeit im sozioökonomischen System 7. Arbeitspädagogik. Weiterhin ist noch auf eine Entwicklung aus dem Unternehmerlager aufmerksam zu machen (BDA 1976), in der Sanfleber die "Stellung der Arbeitswissenschaft im Rahmen der sozialökonomischen Bildung" (BDA 1976, S. 50 ff.) skizziert. Bemerkenswert dabei ist, daß dies unter Rückgriff auf die "reformerische" GfA-Denkschrift aus 1973 und deren Definitionen geschieht. Im vereinten Gesamtdeutschland, "wo noch zusammenwachsen muß, was zusammengehört" (Willy Brandt), ist ein Blick auf den polytechnischen Unterricht der Klassen 7 bis 10 erforderlich (->• 8.1). Davon konnte gemäß Einigungsvertrag kaum etwas weitergeführt werden. Dabei hatte sich die westdeutsche DDR- und Deutschlandforschung (vgl. Voelmy 1969) speziell in der Arbeitslehreentstehung intensiv mit der DDR-Polytechnik auseinandergesetzt. Die DDR-Seite hatte auch im Polytechnik-Feld schnell erfaßt (vgl. Wettstädt 1972), wie gefährlich die von westdeutschen Politikern betriebene Konvergenzstrategie für sie auch hier war (und an der die DDR letztlich zugrunde ging). Eine arbeitswissenschaftlich orientierte Bildung ist im polytechnischen Ansatz umfangreich ausgewiesen: - Gesundheits- und Arbeitsschutz werden thematisiert (vgl. Honekker 1975; Bundesvorstand des FDGB 1977); - die "Wissenschaftliche Arbeitsorganisation" (WAO) (vgl. Schmidt/Naumann 1971), d.h. das arbeitswissenschaftliche Praxisfeld der Arbeitsgestaltung/der Arbeitsorganisation ist ebenfalls Lehrinhalt.
Arbeitslehre/ Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
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In der Reformphase der 60er/70er Jahre gab es also bereits eine ganze Reihe von Anregungen, Ansätzen und Entwicklungen zum Einbau arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in eine arbeitsorientierte/interessenbezogene Bildung. Wissenschaftliche Entwicklung, betrieblicher Problemdruck, Einsicht der Curriculumentwickler und Lehrplangestalter und andere Einflußfaktoren waren aber noch nicht so fortgeschritten, daß sich daraus ein Selbstlauf für eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle und Leistungsfähigkeit der Arbeitswissenschaft in der berufsvorbereitenden und der beruflichen Bildung ergeben hätte.
6.2.3
Neuere Entwicklungen und Ausblick
6.2.3.1
Neue Anstöße aus "Lean-Diskussion" und Standortdebatte - überholte Produktionskonzepte überwinden Eine blinde Übernahme derzeit erörterter Rationalisierungsstrategien (u.a. "lean production", systemische Rationalisierung u.a.) wird in der deutschen Wirtschaft nicht die benötigten Erfolge bringen. Vielmehr gilt es, insbesondere die Erfahrungen mit ähnlich gelagerten Strategien aufzubereiten, um überholte Produktionskonzepte zu überwinden (vgl. Nolte 1992). Seitdem in entwickelten Industriegesellschaften rationalisiert wird, zielt dies auf eine "Verschlankung" der Produktion. Die Menge der Einsatzfaktoren (Aufwand bzw. Kosten) soll minimiert werden. Gleichzeitig gilt es die Ausbringung (Ertrag bzw. Leistung) zu erhöhen. Insofern ist der Ruf nach "schlanker Produktion" nicht neu. Allenfalls kann neu erscheinen, daß die Organisation - speziell in Form der Forderung nach einer humanzentrierten Produktionsund Arbeitsorganisation - derart in den Vordergrund des Interesses gerückt ist. Mit den Schlagwörtern "Fordismus" und "Taylorismus" wird in den entwickelten Industrienationen die heute noch weit verbreitete Form technikzentrierter Produktions- und Arbeitsorganisation bezeichnet, die hochgradig art- und mengenteilig organisiert ist. Sie ist u.a. gekennzeichnet durch die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, also der ausfuhrenden, direkten Produktion von den indirekten Bereichen (Planung, Organisation, Kontrolle; siehe dazu Drury/Witte
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
1922; Söllheim 1922; vgl. u.a. die Kritik bei Friedmann 1959 sowie bei Spitzley 1980). Doch hier zeigt sich eine erneute Bewegung im ständigen Versuch, die Einsatzfaktoren selbst und deren Kombination zu verbessern. Die Hoffnung auf schnelle Erfolge durch den Einbau von Hochtechnologie (CIM, Industrieroboter etc.) erwies sich als vorschnell. Also besinnt man sich auf die großen Reserven, die in einer verbesserten Kombination der Einsatzfaktoren liegen. 6.2.3.2
Neue Formen humanzentrierter Produktions- und Arbeitsorganisation - Das eigentliche Neue an "leanproduction" Insgesamt kann gesagt werden, daß alle Merkmale einer Rückführung der hochgradigen Arbeitsteilung bzw. der Zusammenfuhrung von Hand- und Kopfarbeit schon in der Humanisierungsforschung der 70er und 80er Jahre beobachtet werden konnten. Nur ist jetzt in den 90er Jahren der extreme Problemdruck, die Bedrohung durch die japanisch/koreanische Herausforderung ("Toyotismus") hinzugetreten (vgl. Dohse u.a. 1984; Nolte 1992). Dies hat auch die IGMetall erkannt, die sich vehement für eine "schlanke Produktion" einsetzt (vgl. u.a. Otto 1991), um z.B. den Auto-Produktionsstandort Deutschland zu erhalten. Neu in der Diskussion um eine humanzentrierte Produktions- und Arbeitsorganisation ist auch nicht die Betonung der "Menschbezogenheit". Das war bereits im Konzept der WAO und der Arbeitsstrukturierung grundgelegt. Das spiegelt sich auch in der Denkschrift der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA 1973) wider. Dort heißt es zur Definition der Arbeitswissenschaft: "Gestaltung der Arbeit nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen umfaßt damit alle Maßnahmen, durch die das System Mensch und Arbeit menschengerecht, d.h. gemessen am Maßstab Mensch und seinen Eigengesetzen, beeinflußt werden kann" (GfA 1973). * Qualitativ neu sind vielmehr die Breite und Tiefe der Forderungen nach Humanzentrierung, also z.B. - die Bereitschaft, die arbeitsteilige Ablauforganisation mit Hilfe der Gruppenarbeit aufzuheben, - in der Aufbauorganisation "flachere Hierarchien" zu akzeptieren und
Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
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generell ein Stück der Macht- und Herrschaftsstrukturen im Betrieb im Interesse verbesserter Effizienz "nach unten" abzugeben. * Qualitativ neu ist die Einsicht darin, daß ohne die betriebliche Qualifizierung der Beschäftigten (also Aus-, Fort- und Weiterbildung) gemäß den Forderungen an eine humanzentrierte Organisation der wirtschaftliche Erfolg ausbleiben wird. Das muß Folgerungen bewirken in der vorgelagerten Vorbereitung auf die Arbeits- und Wirtschaftswelt. * Neu ist an der Diskussion ebenfalls, daß über den Produktionsprozeß hinaus die Folgen der Produktgestaltung problematisiert werden. * Insofern handelt es sich nicht nur um eine verfeinerte Form der Verbesserung der Faktorkombination. Vielmehr ist dieser neue Kombinationsversuch orientiert und abhängig von der Qualität des Einsatzfaktors 'menschliche Arbeit', den Humanressourcen. Dabei wird den Arbeitenden eine Verbesserung ihrer Subjektrolle als Träger des Arbeitsprozesses eingeräumt, wie dies in der kapitalistischen Rationalisierung noch nie eingelöst worden ist. Neu an diesem derzeit diskutierten systemischen Rationalisierungskonzept ist der qualitative Sprung in der Mitbeteiligung der Arbeitnehmer. Hand, Kopf und Herz sollen voll für die Ziele des Unternehmens gewonnen werden. Aus dieser ganzheitlichen Gestaltung von humanzentrierten Produktions- und Arbeitssystemen ergeben sich vor allem neuartige wissenschaftliche Anforderungen an die Arbeitswirtschaft und Produktionswirtschaft. Das ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß sich eine Abkehr von technikzentrierten Lösungsversuchen (noch mehr Mechanisierung und Roboterisierung) abzeichnet und sich sogar eine Umkehr der Abhängigkeiten andeutet. Welche Anforderungen ergeben sich aus optimierten Formen der Produktions- und Arbeitsorganisation und einer darauf ausgerichteten verbesserten Qualifikation für den Technikeinsatz? An welchen (gesamt-)deutschen Vorarbeiten ist dabei anzuknüpfen?
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6.2.3.3 An deutschen Vorarbeiten anknüpfen * Neue Formen der Arbeitsorganisation (Arbeitsstrukturierung) Die "Neuen Formen der Arbeitsorganisation" bzw. die "Arbeitsstrukturierung" kennzeichnen vor allem die in den 70er Jahren unternommenen Versuche, hochgradige Formen der arbeitsteiligen Produktion abzubauen und wieder ganzheitlichere Strukturen zu erreichen 1.4). Der Aufschwung nach der ersten Rezession in Westdeutschland Mitte der 60er Jahre spielte sich in einer Phase der Vollbeschäftigung ab. Hohe Fluktuation, schwierige Personalbeschaffung usw. bildeten in den prosperierenden Unternehmen ein Klima, in dem Reformideen zur Arbeitsorganisation erprobt wurden (meist als "Arbeitsstrukturierung" bezeichnet; vgl. Fricke 1975; Gaitanides 1976; Ulich u.a. 1973). Dies führte dann in arbeitsgestalterisch/-organisatorisch führenden Wirtschaftszweigen/Unternehmen zu einer Erweiterung des eingesetzten Methodeninventars (z.B. Siemens AG 1978) und wurde durchaus schon unter der japanischen Herausforderung gesehen. Quer durch die Automobilindustrie beispielsweise waren umfassende arbeitsstrukturelle Bemühungen zu erkennen, was über einen speziellen Arbeitskreis in das Bewußtsein der Branche und der Öffentlichkeit gehoben wurde (Arbeitskreis "Neue Arbeitsstrukturen" 1976). Im ursprünglichen HdA-Programm war dem Bereich der Arbeitsorganisation eine spezielle Zielkategorie gewidmet: "Erarbeitung von beispielhaften Vorschlägen und Modellen für die Arbeitsorganisation und die Gestaltung von Arbeitsplätzen". Dabei war "...auch an Versuche im arbeitsorganisatorischen Bereich (z.B. Struktur und Rollenverteilung einer Arbeitsgruppe)" (Matthöfer 1974, S. 3 f.) gedacht. Erste Forschungsergebnisse erzielten in der Fachöffentlichkeit große Beachtung (vgl. Fricke 1975). Im späteren HdA-Progamm selbst sowie in seinem Nachfolgeprogramm Arbeit und Technik (vgl. B M F T u.a. 1989) fiel dann dem Widerstand der "Sozialpartner" dieser zentrale Zielbereich zum Opfer. Bei den DGB-Gewerkschaften war der mit arbeitsstrukturellen Veränderungen notwendigerweise verknüpfte Ausbau der Mitbestimmung am Arbeitsplatz umstritten (u.a. Befürchtungen wegen möglicher Funktionseinbußen bei der Interessenvertretung). Die Unternehmer und ihre Verbände erkannten schnell, daß (teil-) autonome Arbeitsgruppen auch Verzicht auf betriebliche Herrschaft bedeuten. Zudem waren derartige Modelle nicht ohne Qualifikationserhöhung
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zu verwirklichen und daher mit höheren Entgeltforderungen sowie neuartigen Lohnsystemen zu koppeln. Insbesondere das untere und mittlere Management befürchtete zudem, daß eine ablauforganisatorische Erweiterung des Handlungsspielraumes der Beschäftigten speziell unter Einfuhrung von Gruppenarbeit (z.B. mit Gruppensprechern) - zu Lasten ihrer eigenen Funktionsausübung gehen könnte. Die Anreicherung mit planenden, organisierenden und kontrollierenden Funktionen bei den "Werkern" zielt in die Aufgabenfelder der hochbezahlten Spezialisten in Stab und Linie, was zwangsläufig aufbauorganisatorische Konsequenzen (z.B. "flachere Hierarchien") nach sich ziehen muß, sollen die Rationalisierungsgewinne nicht verspielt werden. Weiterhin wurde durch die Hereinnahme von planmäßig vorbeugender Instandhaltung und kleiner Reparatur in die Produktion zusätzlich diese tradierte Funktionsteilung aufgehoben. Dadurch wurden Ängste bei den Spezialisten von Instandhaltung/Reparatur ausgelöst. Der Problemdruck war aber in den 70er Jahren noch nicht stark genug, um all diese Widerstände dauerhaft zu überwinden und die neuen Formen der Arbeitsorganisation fest im Betrieb zu verankern. * Wissenschaftliche Arbeitsorganisation ( W A O ) Mit dem Konzept der W A O (vgl. Autorenkollektiv 1988; Schmidt/ Naumann 1971; Schweres 1973) ist die D D R u.a. deswegen gescheitert, weil eine noch so intelligente Kombination untauglicher Einsatzfaktoren langfristig kein verbessertes Ergebnis erbringen kann (vgl. Schweres 1991). Gleichwohl ist im östlichen Deutschland ein großes Kapital an arbeitsorganisatorischem Wissen vorhanden, das aus den ehemaligen Hauptbestandteilen der W A O (Arbeitsstudium, -gestaltung, -klassifizierung, -normung, -Stimulierung) heraus zusammen mit westlichen Methoden beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern genutzt werden muß. Das gilt um so mehr unter Qualifizierungsvoraussetzungen. Über die polytechnische Bildung und Erziehung und mit dem breiten Einbau arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse in die Lehrpläne der Universitäten/Hochschulen ist im Vergleich zu Westdeutschland deutlich mehr "arbeitsbezogener" Sachverstand in den neuen Ländern vorhanden und nutzbar. Zusammenfassend kann man sagen, daß die in den 90er Jahren propagierte ganzheitliche, systemische Rationalisierung nur mit einem arbeitsorientierten Gestaltungs- und Organisationskonzept
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
tragfähig wird, in dem die Qualifizierung der Mitarbeiter einen zentralen Stellenwert enthält. Der Arbeitende als handelndes und lernendes Subjekt wird zum Träger des Innovationsprozesses ( - • 7.3). Für „Lean Production" und „Lean Management" sind die Neuorganisation von Betrieb, Produktion und Arbeit sowie die engagierte Mitwirkung qualifizierter Mitarbeiter die Schlüssel fur Innovation und Produktivität. Damit müßten eigentlich Qualifizierungsaufgaben in den Mittelpunkt betrieblichen Handelns rücken (stattdessen werden Ausbildungskapazitäten abgebaut, "Bildungsbetriebe" ausgelagert usw.). Im System der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen muß die Curriculumentwicklung zur Hin- und Einfuhrung in die Arbeitswelt auf diese neuartigen Herausforderungen umgehend reagieren.
6.2.4
Für eine zukunftstaugliche, geänderte arbeitsorientierte Bildung
Daß eine arbeitsorientierte Bildung auf arbeitswissenschaftliche Grundlagen in Zukunft noch mehr angewiesen sein wird, ist im vorausgegangenen Text auseinandergesetzt worden. Daß dies im Interesse des Erhalts der Arbeitskraft und der Verbesserung ihrer Angebotsposition am Arbeitsmarkt künftig für die abhängig Beschäftigten noch wichtiger werden wird, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein. Das gilt um so mehr, als die Unternehmen selbst ihre neuen Produktions- und Managementkonzeptionen auf den körperlich leistungsfähigen, qualifizierten und motivierten Mitarbeiter ausrichten. Wie aber sind damit die Forderungen aus der Diskussion um die künftige Ausrichtung des Lemfeldes Arbeitslehre (-»• 4.2.2) zu verbinden? In der aktuellen Erörterung (vgl. Feldhoff 1993; Dedering 1994; Sellin 1991; Sellin 1993; Ziefuß 1992; Ziefuß 1994) wird darauf hingewiesen, daß die in den 60/70er Jahren entwickelte Arbeitslehrekonzeption nur so weit Grundlage einer zukunftstauglichen arbeitsorientierten und arbeitsbezogenen Bildung in der Sekundarstufe I und II sein kann, wie zwischenzeitliche Veränderungen darin eingebaut werden: 1. Arbeitsbegriff und Arbeitspraxis haben sich vor allem seit Mitte der 80er Jahre in mehrfacher Hinsicht gewandelt (vgl. Spitzley 1993 und 1994):
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* Das gilt zum einen für die bereits geschilderten Veränderungen der Produktions- und Arbeitsprozesse . Die Arbeitsorganisation (Arbeitsstrukturierung) ist auf erweiterte Arbeitsinhalte und komplexere Tätigkeitsstrukturen der Arbeitenden ausgerichtet. * Damit ist die "vertikale" Erweiterung des Arbeitsbegriffs angesprochen, das Arbeitshandeln des Subjekts "arbeitender Mensch". * Gleichzeitig kann bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit die Bildungsrelevanz von Arbeitslehre nicht mehr auf traditionelle Lohnarbeit (Erwerbsarbeit) beschränkt bleiben. Im Schlußbericht der Enquete-Kommission "Zukünftige Bildungspolitik Bildung 2000" wird unter Bezugnahme auf ein Gutachten von Bojanowski/Brater/Dedering (vgl. Bojanowski u.a. 1991) dazu aufgefordert, die Arbeitslehre auf eine erweiterte Basis zu stellen: "Aufgabe der Arbeitslehre ist es, in allen Schulformen und Schulstufen praktische Erfahrung und reflektierte Auseinandersetzung mit allen drei Dimensionen von Arbeit - Erwerbsarbeit, Hausarbeit, öffentliche Arbeit in Politik und Verbänden - mit den ökonomisch-technisch bedingten Strukturwandlungen, den ökologischen und sozialen Risiken und den geschlechtlich differenzierten Prägungen und Hierarchien in der Arbeitswelt zu ermöglichen..." (Deutscher Bundestag 1990, S. 63). * Als "horizontale" Erweiterung des Arbeitsbegriffs sind neben der Erwerbs-Arbeit demnach neue Formen der Eigen-Arbeit (wie Hausarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit in Politik und Verbänden (z.B. Sportvereine, Natur- und Umweltschutzgruppierungen)) als ergänzende Formen der Arbeit anzuerkennen und der (arbeits-)wissenschaftlichen Forschung zu eröffnen ( - • 1.2.3.2). 2. Arbeitslehre muß sich zudem auf die ganze Sekundarstufe erstrecken (-> 6.3.4): * "Unsere Empfehlungen zur Arbeitslehre sind insofern auch als bildungspolitisches Plädoyer für ein integriertes Schulwesen in den Sekundarstufen I und II zu verstehen. Zumindest richten sie sich darauf, die Einführung einer zukunftsbezogenen Arbeitslehre in allen Schulformen der Sekundarstufen I und II zu ermöglichen" (Deutscher Bundestag 1990, S. 63).
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
* Das verlangt eine Fortführung der Arbeitslehre I in der gymnasialen Oberstufe des Gymnasiums und der Gesamtschule (Arbeitslehre II). * Das bedeutet aber auch eine veränderte Fortfuhrung der Arbeitslehre als Einführung in die Wirtschafts- und Arbeitswelt im beruflichen Schulwesen. * Fazit: "Arbeitslehre als arbeitsbezogene und polytechnische Bildung ist als obligatorischer Lernbereich in alle Schulformen und -stufen aufzunehmen" (Deutscher Bundestag 1990, S. 63). 3. Eine zukunftstaugliche, geänderte arbeitsorientierte Hinfuhrung zur Wirtschafts- und Arbeitswelt muß die bereits angeführten Unternehmerinteressen nach verbesserter Qualifikation der Beschäftigten aufnehmen, gleichzeitig das Arbeitnehmerinteresse an einer beschäftigungssichernden Qualifizierung aufgreifen. Dazu bedarf es einer Verkopplung mit der geänderten dualen Berufsausbildung (u.a. Neuordnung der industriellen und handwerklichen Elektro- und Metallberufe; vgl. Bunk/Zedler 1986; Feldhoff 1993). Das ist um so mehr erforderlich, als die darin enthaltenen Konzepte von "Handlungsorientierung" (vgl. Bönsch 1982), von "Schlüsselqualifikationen" (vgl. Mertens 1974) usw. für polytechnische Bildungserfordernisse offen sind. Das verlangt bei der vertiefenden Einführung in die Wirtschaftsund Arbeitswelt als Arbeitslehre II/Arbeitswirtschaftslehre im beruflichen Schulwesen künftig den Einbau folgender arbeitswissenschaftlicher (betriebs-, sozial-, wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse (vgl. Engelen-Kefer 1973; Vilmar 1973): * integrierter Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz (vor allem über primäre Prävention zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen); * Arbeitsplanung, Arbeitsorganisation von eigenen Arbeitsbedingungen, von Produkt- und Produktionsqualität usw. (optimale Gestaltung der Arbeit); * Arbeitsstrukturen/Produktionsstrukturen; Zuschnitte von Berufen und deren Veränderung; Stellung der abhängig Beschäftigten am Arbeitsmarkt und ihre Verhandlungsposition; lebenslanges Lernen als Chance zur Beschäftigungssicherung (Arbeitsplatzsicherheit unter Einschluß beruflicher u.a. Mobilität). Wir sehen also, die in der Reformphase erarbeiteten Theoriekonstrukte einer Humanisierung der Arbeit unter Einsatz arbeitswis-
Arbeitslehre/Arbeitswirtschafitslehre auf arbeitswissenschaftlicher Grundlage
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senschaftlicher Erkenntnisse sind tragfähig für künftige Aufgaben. Wie auch immer in Deutschland die Arbeitslehre in der Sekundarstufe ausgebaut werden wird, sie wird ohne die Erkenntnisse einer sich stärker interdisziplinär organisierenden Arbeitswissenschaft nicht inhaltlich auszufüllen sein. Von daher ist es nur folgerichtig, wenn die "Gesellschaft für Arbeit, Technik und Wirtschaft im Unterricht" ( G A T W U ) für die Ausbildung von Lehrern in Arbeitslehre ein integriertes Studium der Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften fordert (->-9.2.6).
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6.3
Arbeitslehre dung
als schwerpunktbezogene
Grundbil-
Heinz Dedering
6.3.1
Bildungspolitische Legitimation
587
6.3.2
Didaktischer Ansatz
590
6.3.3
Lerninhalte und Lernorganisation
593
6.3.4 6.3.4.1
Strukturelle Verankerung Fortführung der Arbeitslehre der Sekundarstufe I
596 596
6.3.4.2
Verbindung von Berufs- und Allgemeinbildung
598
6.3.5
Anknüpfungsmöglichkeiten zur Realisierung
599
Zitierte Literatur
601
Literatur zur Vertiefung
601
6.3.1
Bildungspolitische Legitimation
Eine Arbeitslehre für die Sekundarstufe II wird schon seit Jahren gefordert. Bislang hat sie jedoch in der Bildungspolitik wenig Resonanz gefunden. Dies muß insofern verwundern, als die Schülerinnen und Schüler im Sekundarbereich II mit Problemen wie berufliche oder fachliche Spezialisierung, unzulängliche Berücksichtigung veränderter Einstellungen und Orientierungen oder stark kognitives Lernen konfrontiert sind, denen gerade mit einem Fach bzw. Lernfeld 'Arbeitslehre' begegnet werden könnte. Eine Arbeitslehre, die als schwerpunktbezogene Grundbildung (->• 5.1.5) fungiert, hat ihren Ursprung in der Bildungsreform der sechziger und siebziger Jahre. Anlaß für ihre Entwicklung waren die damals vorgetragenen Zielvorstellungen und eingeleiteten Maßnahmen zur Gestaltung der Sekundarstufe II, insbesondere die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates: Die Bildungskommission hatte zum einen nämlich in ihrem Strukturplan die Integration von allgemeiner und beruflicher, von theoretischer und praktischer Bildung verlangt (-> 6.1) und zum anderen in ihrer Lehrlingsempfehlung als Hauptmangel der Berufsausbil-
588
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dung die Tatsache konstatiert, daß die Probleme der sozialen Strukturen und die Prozesse der betrieblichen Arbeit kaum berücksichtigt werden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970a, S. 33; Deutscher Bildungsrat 1970b, S. 14). Hinzu kam, daß eine Arbeitslehre für die Sekundarstufe II - außer vom Deutschen Gewerkschaftsbund (vgl. DGB 1977, S. 106) - vor allem auch von seiten der Arbeitswissenschaft gefordert wurde (->• 6.2), und inzwischen war ein entsprechendes Unterrichtsangebot in einigen Bundesländern (Bayern, Nordrhein-Westfalen) auch bereits realisiert worden (vgl. unten Kap. 6.3.5). An die Arbeitslehre im Sekundarbereich II (Arbeitslehre II) war vor allem die Intention geknüpft, die Arbeitslehre im Sekundarbereich I (Arbeitslehre I) in Form eines selbständigen Unterrichtsfaches fortzuführen (vgl. Dedering 1979 (Hrsg.)). Die Arbeitslehre I (-*• 4.2) wird nämlich in einem Stadium abgebrochen, in dem das Angebot der Arbeitslehre inhaltlich zumeist noch unvollständig und formal für den Erwerb der Hochschulreife und den Berufsabschluß irrelevant ist. Insbesondere dieser Sackgassencharakter der Arbeitslehre ist es, der ihre Weiterfuhrung in der Sekundarstufe II begründet. Dabei kann zuallererst auf die von der Arbeitswissenschaft gegebene Begründung zurückgegriffen werden. Die Arbeitswissenschaftler leiten die Einfuhrung einer Arbeitslehre II aus den Regelungen über die Gestaltung von Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung in den § § 9 0 und 91 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) her. Dort ist ausdrücklich die Berücksichtigung der "gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit" vorgeschrieben. Diese Bestimmung reicht als einzige Legitimationsbasis für eine Arbeitslehre II jedoch nicht aus. Dies wird deutlich, wenn man sich folgende Punkte vor Augen führt: * Erstens stehen nicht nur die §§ 90 und 91 mit der Arbeitswissenschaft im Zusammenhang, sondern grundsätzlich der gesamte vierte Teil des Betriebsverfassungsgesetzes, in dem die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer geregelt sind. Die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse müssen z.B. auch bei der Regelung von sozialen Angelegenheiten (§§ 87 ff.), bei der Personalplanung (§§ 92 ff.), der Berufsbildung (§§ 96 ff.) und bei Betriebsänderungen (§§ 111 ff.) Beachtung finden. Von
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
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besonderer Bedeutung sind die §§ 81 und 82 BetrVG, weil sie nicht nur mittelbare Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer (die über die Institution des Betriebsrates wirksam werden), sondern auch unmittelbare Mitwirkungsrechte, die die Betroffenen also selbst wahrnehmen können, enthalten. Diese bestehen zum einen in dem Recht des Arbeitnehmers auf Unterrichtung durch den Arbeitgeber, unter anderem über die Art seiner Tätigkeit, über Veränderungen in seinem Arbeitsbereich sowie über seine Einordnung in den Arbeitsablauf des Betriebes (§ 81). Zum anderen hat der Arbeitnehmer das Recht, in betrieblichen Angelegenheiten, "die seine Person betreffen", gehört zu werden, dazu Stellung zu nehmen und Vorschläge für die Gestaltung seines Arbeitsplatzes und des Arbeitsablaufes zu machen. Außerdem kann der Arbeitnehmer verlangen, daß ihm die Zusammenhänge zwischen seinem Lohn und seiner Leistung erläutert und mit ihm seine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten im Betrieb erörtert werden (§ 82). Bei der Begründung der Arbeitslehre II müssen die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsregelungen des Betriebsverfassungsgesetzes also umfassend berücksichtigt werden. * Zweitens erstrecken sich das Betriebsverfassungsgesetz und damit auch die betriebsverfassungsgesetzlichen Mitwirkungsund Mitbestimmungsregelungen nur auf den Betrieb; überbetriebliche (z.B. tarifvertragliche und gesamtwirtschaftliche) Maßnahmen werden hingegen nicht, allenfalls am Rande einbezogen. Außerdem ist die Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betriebsverfassungsgesetz keineswegs erschöpfend geregelt: Die Bestimmungen zielen primär auf den sozialen Schutz der Beschäftigten in bestimmten betrieblichen Situationen; sie sind weniger auf die laufende Planung, Gestaltung und Kontrolle des betrieblichen Geschehens gerichtet. Im übrigen geht es dabei durchgängig nicht um die volle Mitbestimmung der Arbeitnehmer und des Betriebsrates, sondern im Vordergrund steht die Mitwirkung bei bestimmten Maßnahmen. Dies bedeutet, daß neben dem Betriebsverfassungsgesetz weitere gesetzliche Regelungen - Tarifvertragsgesetz, Mitbestimmungsgesetz, Kündigungsschutzgesetz, Arbeitsförderungsgesetz, Berufsbildungsgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz, Gerätesicherheitsgesetz, SchadstoffVerordnung u.a. - beachtet werden müssen, die gemeinsam die Legitimationsgrundlage für die Arbeitslehre II zu bilden hätten.
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
* Drittens kann die Arbeitswirklichkeit nicht allein durch Berücksichtigung vorliegender gesetzlicher Regelungen erfaßt werden. Es bleibt ein 'Rest' nicht geregelter und meist auch nicht regelbarer Arbeitspraxis, z.B. die Ziele, Wünsche und Einstellungen der Arbeitenden. Auch dieser normative Bestandteil der Arbeitswirklichkeit darf nicht unberücksichtigt bleiben, will sich die Arbeitslehre nicht von vornherein dem Vorwurf der Vereinseitigung und Reduktion ihres Gegenstandes aussetzen. Diese Punkte verweisen auf die Notwendigkeit einer umfassenden Begründungsgrundlage für die Arbeitslehre II. Diese ist allgemein mit der Würdeschutzbestimmung im Art. 1 Grundgesetz (GG) und konkreter mit den (individuellen) Menschenrechten in den Art. 2 bis 17 GG gegeben. Diese Rechte, insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, d.h. auf die freie Gestaltung des eigenen Lebens (Art. 2) und das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen (Art. 12), erfordern die Fähigkeit zur Selbst- und Mitbestimmung (vgl. unten Kap. 6.3.2). Denn die dem einzelnen mit den Grundrechten eingeräumten und auferlegten Freiheiten sind nur unter der Voraussetzung 'sinnvoll', daß sie von ihm auch wahrgenommen werden können. Dieses Handeln erfordert zugleich auch die Berücksichtigung der Grundrechte der anderen Gesellschaftsmitglieder. Aus den Grundrechten ergeben sich infolgedessen auch Pflichten. Somit muß es Aufgabe der Arbeitslehre II sein, die Schülerinnen und Schüler zur Wahrnehmung und Fortentwicklung ihrer grundgesetzlich garantierten Rechte und Pflichten zu befähigen, und zwar insoweit, wie sich diese auf den Bereich ihrer gegenwärtigen und/oder zukünftigen Berufsarbeit erstrecken. Unter Berufsarbeit werden in diesem Zusammenhang jene beruflichen, d.h. in Form von Berufen (im Sinne typischer Kombinationen menschlicher Arbeitsverrichtungen und dazu notwendiger Qualifikationen) organisierten Tätigkeiten verstanden, die auf Veränderung der natürlichen und sozialen Umwelt gerichtet sind und zum Zwecke der individuellen und/oder gesellschaftlichen Existenzerhaltung (direkt und/oder indirekt) verrichtet werden.
6.3.2
Didaktischer Ansatz
Demnach beruht das erkenntnisleitende Interesse der Arbeitslehre II auf der Parteinahme für den Lernenden, der zukünftig in
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
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der Regel als abhängig Beschäftigter (Arbeiter, Angestellter oder Beamter) tätig sein wird. Es gilt, die Schülerinnen und Schüler über die Arbeitsverhältnisse aufzuklären und sie zu befähigen, ihre berechtigten - auf Humanisierung der Arbeit gerichteten - Interessen demokratisch und solidarisch durchzusetzen. Dementsprechend hat die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung im Hinblick auf zwei - miteinander zu verbindende - Aspekte zu erfolgen: 1. auf die Fähigkeit zur Analyse konkreter Arbeit und ihrer Bedingungen mit dem Ziel der Erkenntnis und Beurteilung der zugrunde liegenden Interessengegensätze, der bestehenden Abhängigkeiten und Hinderungen der Arbeitenden und der Bestimmung von praktischen Möglichkeiten ihrer Überwindung (sozialkulturelle (kommunikative) Handlungskompetenz); 2. auf die Fähigkeit zur Anwendung von Strategien der Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit und damit zur Durchfuhrung von Arbeitshandlungen, über die der Beschäftigte seine Interessen zu realisieren gedenkt (technisch-funktionale (zweckrationale) Handlungskompetenz). Damit ist zweierlei angedeutet: Zum einen kann es in der Arbeitslehre (wenn die nähere Bezeichnung als Arbeitslehre I oder Arbeitslehre II unterbleibt, ist die Arbeitslehre generell gemeint) nicht nur um Fähigkeiten zur Anpassung an verlangte Arbeitsanforderungen gehen, sondern darüber hinaus muß den Lernenden auch die Möglichkeit zur Schaffung und Entfaltung jener subjektiven Grundlagen geboten werden, die sie zu ihrer eigenen Erzeugung als gesellschaftliche Subjekte benötigen. Die Arbeitslehre hat die Lernenden also auf die Arbeitswelt vorzubereiten und dabei zugleich - im Sinne einer zusammenhangstiftenden Qualifizierung - zur umfassenden Entwicklung ihrer Persönlichkeiten beizutragen. Zum anderen hat die Arbeitslehre den Charakter einer polytechnischen und politischen Bildung: Polytechnische Bildung ist sie insofern, als sie über den engen Bereich der Ingenieurtechnik hinausgeht und die Schülerinnen und Schüler auf jene instrumentellen und strategischen Aspekte in Technik, Ökonomie und Sozialökologie (-+ 1.3) vorbereitet, die zum Verständnis und zur Gestaltung von (beruflicher) Arbeit und Arbeitswelt notwendig sind. Politische Bildung ist die Arbeitslehre, weil sie Fähigkeiten zur kritischen Analyse des institutionellen Rahmens und der normativen Strukturen der (Berufs-)Arbeit vermittelt. In diesem Sinne - als polytechnische und politische
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Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
Bildung - vermittelt die Arbeitslehre eine technisch-ökonomischsozialökologische Grundbildung. Arbeitslehre als Grundbildung bedeutet, daß prinzipiell eine Auseinandersetzung mit den - vorfindbaren und angestrebten Grundstrukturen der Arbeitswelt erfolgt. Der einzelnen Arbeitstätigkeit kommt demgegenüber sekundäre Bedeutung zu. Bei den Grundstrukturen handelt es sich 1. um komplexe Arbeitshandlungsgefüge, die also aus einer Vielzahl unterschiedlicher Teilhandlungen bestehen und durch Integration von ausführender, planender und dispositiver Arbeit gekennzeichnet sind, z.B. zur Güterproduktion, Informationsbeschaffung und -Verarbeitung oder zur Krankenpflege und 2. um die technischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungszusammenhänge der Arbeitswelt, wie sie z.B. in Phänomenen wie Arbeitsorganisation, Lohn und Leistung oder Umweltkrise zum Ausdruck kommen. Dabei sollte sich die Arbeitslehre zweckmäßigerweise auf konkrete, komplexe Arbeitssituationen (->• 1.2.4) beziehen. Dies ist im Sinne einer curricularen Rekonstruktion zu verstehen, d.h. Arbeitssituationen bilden das organisierende Prinzip der im Curriculum zu arrangierenden Ziele und Inhalte. Da zu komplexen Arbeitssituationen nicht nur die unmittelbaren Arbeitshandlungen und Einsatzbedingungen der einzelnen Arbeitskraft, sondern auch außerbetrieblich-gesamtgesellschaftliche Einflußfaktoren gehören, kommt mit ihnen konkrete Arbeit in ihrem arbeitsweltlichen Gesamtzusammenhang und ihrer Stellung in der Gesellschaft in den Blick. Mit ihrem Bezug auf Arbeitssituationen orientiert sich die Arbeitslehre unmittelbar an der Arbeitspraxis. Praxisorientierung heißt, daß die Bildungsinhalte in ihrer alltagsweltlichen Bedingtheit und Bestimmtheit, d.h. in ihrer arbeits- und lebenspraktischen Bedeutung für die Lernenden erfaßt und im Unterricht angeboten werden. Insbesondere über dieses Prinzip soll dem Unterricht jenes kritische Potential gesichert werden, das den Lernenden instand setzt, die an ihn herangetragenen Anforderungen wie seine eigenen Ansprüche im Rahmen übergreifender Sachzusammenhänge zu hinterfragen, um daraus Konsequenzen für sein eigenes Handeln ziehen zu können. Dabei ist es jedoch notwendig, auch die einschlägigen Wis-
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
593
senschaften als die zentralen Instanzen zur kognitiven Erfassung und Erklärung von Alltagspraxis heranzuziehen, denn die technische Zivilisation folgt immer mehr wissenschaftlichen Kriterien, und das Ziel der Fähigkeit zur Selbst- und Mitbestimmung ist ohne jenes rationale Moment, zu der wissenschaftsorientierte Bildung qualifiziert, nicht erreichbar. Mit Wissenschaftsorientierung ist gemeint, daß die Lerngegenstände in ihrer wissenschaftlichen Bedingtheit und Bestimmtheit erkannt und vermittelt werden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970 a , S. 33). Es versteht sich, daß die Arbeitslehre in erster Linie die Arbeitswissenschaft als Bezugsgrundlage heranzieht, denn die Arbeitswissenschaft ist die Wissenschaft von den Erscheinungsformen menschlicher Arbeit, ihren Voraussetzungen und Bedingungen, Wirkungen und Folgen (->• 6.2.2.1). Gemeint ist jene Arbeitswissenschaft, die sich als "umfassende und vielgestaltige, multi- und interdisziplinäre, problemorientierte Wissenschaft von der menschlichen Arbeit in Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft" versteht (Schweres 1972, S. 25). Hier steht die Arbeitslehre jedoch vor dem Problem, daß eine solche Arbeitswissenschaft noch immer nicht existiert, obwohl sie bereits in den siebziger Jahren eindringlich gefordert und begründet worden ist (vgl. z.B. Schweres 1971; Dedering 1974, S. 180 ff.; Fürstenberg 1975). Die gegenwärtig vorherrschende Arbeitswissenschaft ist zwar nicht mehr wie die traditionelle Arbeitswissenschaft auf punktuelle, arbeitsplatzbezogene Maßnahmen fixiert, sondern im Vordergrund stehen stärker arbeitsprozeßbezogene Aspekte; sie ist aber nach wie vor einseitig der betriebswirtschaftlich-technischen Rationalität verpflichtet. Hingegen ist eine Arbeitswissenschaft notwendig, die das Erkenntnisobjekt 'Arbeit' als komplexes Phänomen erfaßt, am Kriterium der gesellschaftlichen Rationalität orientiert ist und die Integration der arbeitswissenschaftlichen Teilgebiete gewährleistet (vgl. Dedering 1974, S. 185). Solange eine solche Arbeitswissenschaft nicht vorliegt, muß die Arbeitslehre über ihre primäre Orientierung an der real existierenden Arbeitswissenschaft hinaus auch andere (Sozial-, Wirtschafts-, Technik- und Natur-)Wissenschaften als Bezugsgrundlage heranziehen.
6.3.3
Lerninhalte und Lernorganisation
Die Arbeitslehre erhebt die handlungs- und bedingungsbezogenen Strukturaspekte konkreter, komplexer Arbeit zu ihren zentralen Ge-
594
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
genständen. Je nach den Kriterien, unter denen die Analyse der Arbeit erfolgt (Arbeit als Konflikt, als Handeln, als System, als (historischer) Prozeß u.a.), ergeben sich für die Arbeitslehre auch unterschiedliche Inhaltsstrukturen. Folgt man dem Modell eines subjektbezogenen Arbeitssystems (vgl. Dedering 1989, S. IV f.), so lassen sich allgemein folgende Inhaltskomplexe identifizieren: 1. Rationalisierung (Arbeit und Arbeitslosigkeit) Arbeit und Arbeitswelt sind maßgeblich durch die betriebliche Rationalisierung geprägt. Außerdem stehen Rationalisierungsmaßnahmen im Zentrum des Interessenwiderspruchs von Kapital und Arbeit. Dies zeigt sich besonders bei der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen mit der Folge von Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen ökonomischen und sozialen Problemen für die betroffenen Menschen und die ganze Gesellschaft. Deshalb sollte in diesem Inhaltsbereich zentral der Problemzusammenhang von Arbeit und Arbeitslosigkeit thematisiert werden. 2. Arbeitsinhalte (Arbeitsanforderungen und Qualifikation) Hier wird der Frage nach den Inhalten der Arbeit, also nach den technischen-funktionalen und sozial-kulturellen Arbeitshandlungen nachgegangen, die im Rahmen der Güterproduktion sowie der Distributation und Zirkulation auszufuhren sind. Dabei gilt es, typische Inhalte und Inhaltsstrukturen von Arbeit zu beschreiben. Hierzu sollte besonders auf die Extremformen von Arbeit auf restriktive und komplexe Arbeit ( - • 1.2.3.1) - abgestellt werden, die vor dem Hintergrund des Problemzusammenhangs von Arbeitsanforderungen des Arbeitgebers und Qualifikationen des Arbeitnehmers zu betrachten sind. 3. Arbeitsorganisation (Technik und Kommunikation) Der organisatorische Rahmen, in dem Arbeit stattfindet, ist durch die angewandte Technik und die praktizierte Kommunikation der je Beteiligten bzw. durch deren spezifischen Kombinationsformen zu 'Mensch-Maschine-Systemen' definiert. Diese formale Seite der Arbeit erstreckt sich nicht nur auf den einzelnen Arbeitsplatz, sondern auf den ganzen betrieblichen Arbeitsprozeß und darüber hinaus auf den (überbetrieblichen) Arbeitsmarkt und den gesellschaftlichen Bedingungsrahmen der Arbeit. In diesem Inhaltskomplex sind also Aspekte zu bearbeiten, wie sie z.B. mit den Stichworten Gestaltung von Arbeitsplatz und Arbeitsumgebung, neue Formen der Arbeitsorganisation, Mitbestimmung und Wirtschaftsordnung angedeutet sind.
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
595
4. Arbeitseinkommen (Arbeit und Lohn) In diesem Inhaltsbereich wird das Verhältnis von Arbeitsleistung und Arbeitslohn, also die Frage nach dem - gerechten - Lohn für die Mitwirkung des Arbeitenden am arbeitsteiligen Produktionsprozeß thematisiert. Es geht also um die Lohnpolitik der Betriebe, der Verbände und des Staates und dabei auch um instrumentelle und strategische Aspekte (betriebliche Verfahren der Lohn- und Leistungsermittlung, tarifVertragliche Lohnbestimmung) sowie um substantielle Fragen (Entstehung von Lohnkonflikten, Problem der sozialen Sicherung, Zusammenhang von Volkseinkommen und Beschäftigung, konjunkturelle, strukturelle und regionale Entwicklung und sicherer Lohn, Einsatz des Produktionsfaktors Kapital u.a.). 5. Arbeitsbelastungen (Arbeit und Gesundheit) Hier erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Belastungen der menschlichen Gesundheit durch die bei uns vorherrschende Erwerbsarbeit. Außerdem ist die Frage zu thematisieren, wie die Arbeit beschaffen sein müßte, um negative gesundheitliche Wirkungen zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Zum einen geht es dabei um individuelle Belastungen durch die Art der Arbeit (infolge von Lärm, Schadstoffen u.a.) bzw. durch ihre Organisation (z.B. durch Schichtarbeit) und zum anderen um Belastungen infolge der Umweltzerstörung durch die industrielle Produktion, von denen die ganze Gesellschaft betroffen ist und die das Leben der Menschen in vielfältiger Weise beeinträchtigen und bedrohen. 6. Bildung (Arbeit und Lernen) In diesem Bereich wird das Problem der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung der arbeitsorientierten Bildung und des gesamten Bildungswesens als Voraussetzung für das Handeln in der Arbeitswelt bearbeitet. Dabei sollten insbesondere Möglichkeiten von notwendigen Bildungsreformen diskutiert werden. Über diesen Aspekt des Lernens für die Arbeitswelt hinaus sollte auch eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten eines Lernens in der Arbeitswelt erfolgen (Partizipationslernen u.a.) (->• 7.3.4). Diese Inhaltsbereiche bilden den Gegenstand der einzelnen Unterrichtsveranstaltungen (Projekte, Lehrgänge u.a.) in der Arbeitslehre. Das bedeutet, daß mehrere Veranstaltungen gemeinsam der Forderung nach Rekonstruktion von komplexen Arbeitssituationen genügen. Dabei kann jeweils an konkreten, für die Arbeitenden in
596
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
der Regel als defizitär erkannte Situationen angeknüpft werden. Ein solchermaßen praxisbezogener Arbeitslehreunterricht sollte in einer Weise organisiert werden, daß ein mit der Arbeitswirklichkeit möglichst identischer Aufbau der Lehr-/Lernstrukturen erreicht wird. Dies ist nicht im Sinne einer völligen Identität mit der Arbeitswirklichkeit, sondern im Sinne von Strukturidentität gemeint, als Identität mit den in bestimmten Arbeitssituationen repräsentierten Strukturen des Arbeitshandelns und der Arbeitsbedingungen. Diesem Grundsatz wird m.E. genügt, wenn die - inhaltsbezogene - Prozeßstruktur der einzelnen Unterrichtsveranstaltung - in Anlehnung an den Ablauf komplexer Arbeitsaufgaben - die folgenden Lernstufen enthält: 1. Analyse/Zielsetzung Analyse der situativen Handlungsstruktur/Bedingungsstruktur und Zielsetzung im Hinblick auf ihre Veränderung/Verbesserung; 2. Planung/Realisation Planung einer zu verändernden Arbeitshandlung/besserer Arbeitsbedingungen und Realisierung bzw. Bewertung der Planung im Hinblick auf ihre Realisierung; 3 Kontrolle/Kritik Kontrolle der Realisierungsmaßnahmen und kritische Beurteilung im Hinblick auf die Realisierungschancen. Mit dieser Lehr-/Lernstruktur wird das Ziel verfolgt, technischfunktionales und sozial-kulturelles Lernen in einzelnen bzw. zwischen mehreren Unterrichtsveranstaltungen so miteinander zu verknüpfen, daß eine Separierung - eine rein 'technokratische' Behandlung praktischer Sachverhalte hier und eine bloß 'kritisch-reflexive' dort - vermieden wird. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in den Veranstaltungen sowohl die einzelnen Stufen gleichrangig behandelt als auch einzelne Stufen und Stufenaspekte in den Vordergrund gerückt werden.
6.3.4
Strukturelle Verankerung
6.3.4.1 Fortführung der Arbeitslehre der Sekundarstufe I Die Arbeitslehre wird weder durch ihre Verlängerung im Sinne einer inhaltlichen Streckung oder der bloßen Wiederholung schon bearbeiteter Lerninhalte noch durch eine völlig andere Arbeitslehre in
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
597
der Sekundarstufe II sinnvoll fortgeführt. Notwendig ist vielmehr eine Arbeitslehre II, die in curricularer Abstimmung mit der Arbeitslehre I den Schülerinnen und Schülern neue Perspektiven für die komplexe Arbeitswelt eröffnet. Diese bestehen in einem Berufsbezug der Arbeitslehre II, der stärker ist als der der Arbeitslehre I, wobei jedoch der Anspruch auf eine Arbeitslehre als Allgemeinbildung mit der Aufgabe einer allgemeinen Vorbereitung auf die Arbeitswelt nicht vernachlässigt wird. Entsprechend sollte die Arbeitslehre II auf berufliche Tätigkeitsbereiche ausgerichtet sein, die weiter ausgelegt sind als einzelne Berufe und Berufsfelder (Metalltechnik, Elektrotechnik u.a., -> 5.1.3.1), gleichwohl aber eine angemessene Konkretisierung der Arbeitslehre I ermöglichen. Diese sollten - da die Arbeitslehre II auch die Perspektive der Allgemeinbildung aufzunehmen hat - in ihrer jeweiligen technischen, ökonomischen und sozialökologischen Komplexität erfaßt werden. In Anlehnung an das Schema von Tätigkeitskategorien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (vgl. Chaberny u.a. 1972, S. 254 f.) können folgende Tätigkeitsbereiche unterschieden werden: 1. Rohstoffgewinnung und Güterproduktion, 2. Ernährung und Sozialdienst, 3. private und öffentliche Verwaltung. Diese Bereiche verweisen die Arbeitslehre II auf die Schwerpunktprofile Gewerbe, Sozialwesen und Verwaltung, wobei die Lernenden jeweils ein Profil wählen können. Während also in der Arbeitslehre I schwerpunktunspezifisch eine Vorbereitung auf die Problem- und Funktionszusammenhänge der (beruflichen) Arbeitswelt und ihre Beziehungen zur außerberuflichen Arbeit (Eigenarbeit, Gesellschaftsarbeit) erfolgt, werden die hier vermittelten Kompetenzen in der Arbeitslehre II im Hinblick auf einen - berufsbezogenen Schwerpunkt vertieft. Folgt man den Ebenen des Kompetenzerwerbs - der Komplexitätsentfaltung, der Komplexitätsreduktion und der Problematisierung der Komplexitätsbeherrschung - von Niklas Luhmann (vgl. Luhmann 1972, S. 205), so weist die Arbeitslehre drei Stufen auf: 1. In der schwerpunktunspezifischen Arbeitslehre (der Sekundarstufe I) werden die Schülerinnen und Schüler zur Arbeitswelt
598
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
hingeführt, indem sie sich mit Handlungs- und Bedingungsstrukturen der komplexen Arbeitswelt auseinandersetzen. 2. In der Eingangsphase (ca. 1 Jahr) der schwerpunktspezifischen Arbeitslehre (der Sekundarstufe II) werden die Schülerinnen und Schüler in den gewählten Schwerpunkt eingeführt, indem sie die schwerpunkttypischen Grundlagen und Zusammenhänge erarbeiten. 3. In der Aufbauphase (ca. 2 Jahre) der schwerpunktspezifischen Arbeitslehre wird den Schülerinnen und Schülern eine weitergehende Schwerpunktgrundlegung ermöglicht, indem sie schwerpunkttypische Problemlösungsstrategien untersuchen (und mit anderen Problemlösungsstrategien, z.B. mit Formen humaner Arbeit und mit Haus- und Freizeitarbeit vergleichen). Durch die so gestaltete Arbeitslehre wird die vertikale Durchlässigkeit zwischen der Sekundarstufe I und den verschiedenen Bildungsgängen der Sekundarstufe II verbessert und somit ein Beitrag zur Verringerung von Chancenungleichheiten im Bildungswesen geleistet. Insbesondere verbindet die Arbeitslehre II die allgemeinen Lerninhalte der Arbeitslehre I mit den speziellen Lerninhalten der beruflichen Fachbildung in Berufsausbildung und Studium, indem sie an die Intention der Arbeitslehre I anknüpft und diese in Richtung auf die berufliche Fachbildung fortfuhrt (die zum Teil parallel vermittelt wird). 6.3.4.2 Verbindung von Berufs- und Allgemeinbildung Die Arbeitslehre II bietet die Möglichkeit, die verschiedenen - beruflichen und/oder allgemeinen - Lerninhalte in den einzelnen Bildungsgängen und Schulformen zu ergänzen und miteinander zu verknüpfen. In den berufsbildenden Schulen füllt die Arbeitslehre II durch das Angebot von Inhalten, wie z.B. Gesetze und Verordnungen (Betriebsverfassungsgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz u.a.), die üblichen Gegenstandsbereiche der Arbeitswissenschaft, sozialökologische Tatbestände oder normative Aspekte wie Ziele, Einstellungen, Orientierungen und Verhaltensweisen der Arbeitenden jene curriculare Leerstelle, die zwischen dem beruflich- bzw. fachlich-spezialisierten und dem allgemeinen Lernangebot (der Fächer Deutsch, Sozialkunde usw.) besteht. Dadurch können die Fächer der Berufsausbildung auf der einen und die allgemeinbildenden Fächer auf der
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
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anderen Seite, die in den Curricula gegenwärtig ja relativ beziehungslos nebeneinander stehen, in einen inhaltlichen Zusammenhang gebracht werden. Außerdem schafft die Arbeitslehre II aufgrund ihrer breiten polytechnischen und politischen Ausrichtung für die Fächer der beruflichen Fachlehre eine gemeinsame Basis, auf der den Lernenden die speziellen Lerninhalte erst hinreichend verständlich werden können. In der gymnasialen Oberstufe wird mit der Arbeitslehre II überhaupt erst eine arbeitsbezogene Spezialisierung und damit der notwendige Berufsbezug des Lernens ermöglicht. Aufgrund der KMK-Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe aus dem Jahre 1972 kann hier zwar - neben der Vermittlung von Studierfähigkeit - auch auf die berufliche Erstausbildung für „gehobene Tätigkeiten" vorbereitet werden; dies geschieht aber nur selten und im sonst wissenschaftspropädeutischen Lernen allenfalls am Rande. Die Arbeitslehre II ist also weder spezialisierte Berufsausbildung noch breit ausgerichtete Allgemeinbildung. Vielmehr stellt sie eine Ergänzung des bestehenden Lernangebotes im Sekundarbereich II und damit das Bindeglied zwischen Berufs- und Allgemeinbildung dar.
6.3.5
Anknüpfungsmöglichkeiten zur Realisierung
In der Sekundarstufe II existieren mehrere Fächer, die formal im Bereich der Grundbildung (-»• 5.1) angesiedelt sind und als solche auch Teilaufgaben der Arbeitslehre erfüllen. So gibt es in der Fachoberschule und in einigen Kollegschulen in Nordrhein-Westfalen das Fach Arbeitswirtschaftslehre (-»• 6.2.2.2) und in der zweijährigen Berufsoberschule in Bayern das Fach Arbeitslehre. Diese Fächer sind stark arbeitswissenschaftlich orientiert und damit weitgehend auf den Betrieb ausgerichtet, während gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Bezüge vernachlässigt werden. Neben diesen neueren Unterrichtsfächern gibt es in der Sekundarstufe II mehrere traditionelle Fächer mit arbeitslehrespezifischen Inhalten. In den berufsbildenden Schulen gehören hierzu -
600
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
mit starker Differenzierung im Angebot und der Ausrichtung zwischen den Bundesländern * die Wirtschaftslehre (in der Grundstufe der Teilzeitberufsschule, im Berufsgrundbildungsjahr, in der Berufsfachschule, in der Berufsaufbauschule und im Beruflichen Gymnasium (Schwerpunkt Wirtschaft/Verwaltung und Ernährung/Hauswirtschaft)); * die Technologie (z.B. im Berufsgrundbildungsjahr); * die Technikwissenschaft (im Beruflichen Gymnasium (Schwerpunkt Technik)) und * das berufsbezogene Schwerpunktfach (in der Fachoberschule). In der gymnasialen Oberstufe zählen zu diesen Fächern Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften sowie Technikwissenschaft (die jedoch nur selten angeboten wird). In SachsenAnhalt gibt es hingegen eine Arbeitslehre in Form des Faches Wirtschaft und Technik (11. und 12. Jahrgang). In diesen Fächern der berufsbildenden Schulen und der gymnasialen Oberstufe wird jedoch nur aspekthaft auf die Arbeitswelt vorbereitet. Zudem ist das Lernen in den beruflichen Schulen primär praxisorientiert (in Sinne eines auf Handeln ausgerichteten Wissens) und in der gymnasialen Oberstufe mehr wissenschaftsorientiert (im Sinne einer wissenschaftlichen Grundbildung). Diese Fächer führen je für sich - die Arbeitslehre in der Sekundarstufe II also nicht fort. Sie bieten jedoch Anknüpfungspunkte für die Entwicklung einer Arbeitslehre II: Zum Beispiel können Lerninhalte der verschiedenen Fächer miteinander verknüpft werden, um die Schülerinnen und Schüler stärker auf die Zusammenhänge von Arbeit und Arbeitswelt vorzubereiten. Solche Polyvalenzen sind zunächst auch ohne Bereitstellung eines entsprechenden Lehrplans möglich, indem die Lehrerinnen und Lehrer allein bzw. in Kooperation entsprechende Lernangebote unterbreiten. Ihnen müßten hierfür allerdings Orientierungshilfen in Form von Unterrichtsvorschlägen u.ä. gegeben werden. Dies wäre freilich kein Ersatz für die Einführung einer Arbeitslehre in der Sekundarstufe II, sondern nur ein vorbereitender Schritt hierfür.
Arbeitslehre als schwerpunktbezogene Grundbildung
601
Zitierte Literatur CHABERNY, Annelore/FENGER, Herbert/REITER, Annefried (1972): „Tätigkeitsschwerpunkt" als Strukturmerkmal in der Erwerbsstatistik. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 5. Jg., S 230 ff. DEDERING, Heinz (1974): Eine neue Arbeitswissenschaft als Bezugswissenschaft für die Wirtschaftspädagogik. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, H. 3, S. 180 ff. DEDERING, Heinz (Hrsg.) (1979): Lernen fiir die Arbeitswelt. Praxisnahe Arbeitslehre in der Sekundarstufe II. Reinbek b. Hamburg. DEDERING; Heinz (1989): Rationalisierung der Arbeit. Materialien zur arbeitsorientierten Lehrerausbildung und -fortbildung. Bd. 1. Hrsg. v. Dedering, H./Ziefiiß, H. Kassel, Kiel. DEUTSCHER BILDUNGSRAT (1970 a ): Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission. Stuttgart. DEUTSCHER BILDUNGSRAT (1970 b ): Zur Verbesserung der Lehrlingsausbildung. Empfehlungen der Bildungskommission. Stuttgart. DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) (1977): Bildungspolitische Leitsätze des DGB zur Arbeitslehre. In: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, H. 5, S. 103 ff. FÜRSTENBERG, Friedrich (1975): Konzeption einer interdisziplinär organisierten Arbeitswissenschaft. Göttingen. LUHMANN, Niklas (1972 3 ): Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Bd. 1. Opladen. SCHWERES, Manfred (1971): Die Arbeitslehre/Arbeitswirtschaftslehre nahe an die Arbeitswissenschaft heranrücken. In: Refa-Nachrichten, H. 5, S. 341 ff. SCHWERES, Manfred (1972): Didaktik der Arbeitswissenschaft. In: Arbeit und Leistung, Nr. 2, S. 25 ff.
Literatur zur Vertiefung DEDERING, Heinz (1977): Didaktische Aspekte einer praxisorientierten Arbeitslehre in der Sekundarstufe II. In: Gewerkschaftliche Bildungspolitik, H. 5, S. 112 ff. DEDERING, Heinz (1979): Bildungspolitische und pädagogische Begründung einer Arbeitslehre im Sekundarbereich II. In: DEDERING, H. (Hrsg.), Lernen für die Arbeitswelt. Praxisnahe Arbeitslehre in der Sekundarstufe II. Reinbek b. Hamburg, S. 25 ff. DEDERING, Heinz (1979): Polytechnische Bildung in der Sekundarstufe II. Konzept einer praxisbezogenen Arbeitslehre. In: SCHOENFELDT, E. (Hrsg.), Polytechnik und Arbeit. Beiträge zu einer Bildungskonzeption. Bad Heilbrunn, S. 243 ff. DEDERING, Heinz (1980): Arbeitslehre unter dem Aspekt der Durchlässigkeit zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, H. 2, S. 92 ff.
602
Integration von Berufs- und Allgemeinbildung in der Sek II
DEDERING, Heinz (1985): Arbeitslehre in der Sekundarstufe II als Beitrag zur Verbindung von Berufs- und Allgemeinbildung. In: HEID, H./KLAFKI, W. (Hrsg.), Arbeit - Bildung - Arbeitslosigkeit. Beiträge zum 9. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 26. bis 29. März 1984 in Kiel, 19. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim/Basel S. 249 ff.
7.
Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
7.1
Neue Ansätze in der betrieblichen Weiterbildung Rolf Arnold
7.1.1
Entwicklung und Stand der betrieblichen Weiterbildung
605
7.1.2
Zum Wandel der betrieblichen Lernkultur: Von der seminarorientierten zur entwicklungsorientierten betrieblichen Weiterbildung
610
Veränderte Zuständigkeiten und neuartige Professionalitätsmuster in der betrieblichen Weiterbildung
614
7.1.3
Zitierte Literatur
619
Weiterführende Literatur
620
7.1.1
Entwicklung und Stand der betrieblichen Weiterbildung
Konnte man noch bis vor wenigen Jahren die betriebliche Weiterbildung als einen Bereich charakterisieren, der nach anderen als nach erwachsenenpädagogisch legitimierbaren Maßgaben strukturiert und entwickelt war (vgl. Arnold 1988), so kommt man heute nicht umhin festzustellen, daß sich in vielen Betrieben Grundlegendes verändert hat (vgl. BMBW 1990): Unübersehbar greifen die Strategien einer modernen betrieblichen Personalentwicklung (vgl. Dedering/ Feig 1993) in immer stärkerem Maße einen Grundgedanken der Pädagogik auf, den bereits Wolfgang Klafki mit der Feststellung definitorisch faßte: "Selbsttätigkeit (ist) die zentrale Vollzugsform des "Bildungsprozesses" (Klafki 1986, S. 458). Aus diesem Grunde finden in der Praxis der betrieblichen Weiterbildung in den letzten Jahren verstärkt Methoden Verwendung, die das fachliche und das fachübergreifende Lernen integrieren. Die Rede ist dabei von einer "historischen Chance der Berufspädagogik" (Herzer u.a. 1990, S. 50 ff.), womit gemeint ist, daß ein erweitertes Verständnis von beruflichem Lernen heute in vielen Bereichen des Beschäftigungssystems darauf hinwirkt, daß sich das berufsbezogene betriebliche Lernen immer weniger auf die Vermittlung eines rein fachlichen Wissens beschränken kann, sondern gleichzeitig auch das Anliegen traditioneller bildungstheoretischer Positionen (z.B. des Neuhuma-
606
Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
nismus) verwirklichen muß, will sie genau die reflexiven Kompetenzen beim Mitarbeiter entwickeln, die heute vom Markt gefordert werden (vgl. Bojanowski u.a. 1991). Die neueren betrieblichen Personalentwicklungsansätze sind dabei durch reflexive und paradoxe Tendenzen gekennzeichnet (vgl. Ackermann/Scholz 1991; Neuberger 1991; Staudt 1993; Heeg/Münch 1993), durch welche auch die vertrauten Denk-, Abgrenzungs- und Deutungsschemata der Betriebs- und Erwachsenenpädagogik zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Das Vorliegen "erweiterter" didaktischer Ansätze in der betrieblichen Weiterbildung wird von der etablierten Erwachsenenbildungswissenschaft bislang mehrheitlich ignoriert. Ein Grund für diese Ausblendung kann sicherlich darin gesehen werden, daß die erwachsenenpädagogischen Bildungstheorien sich bis zum heutigen Tag noch nicht gelöst haben von dem "Versus-Paradigma", demzufolge Bildung und Qualifikation zwei gegensätzliche, ja einander ausschließende Formen von subjektiver Kompetenz darstellen. Betriebliche Weiterbildung steht aus diesem Grund unter dem profanen Verdacht, daß sich in ihr allenfalls eine funktionale Subjektivität realisieren ließe, während Selbständigkeit, Selbsttätigkeit und kritisches Denken als subjektive Fähigkeiten konzeptualisiert werden, die sich mit der Logik betrieblicher Qualifizierungspolitik nicht in Einklang bringen lassen. Kaum nachvollziehbar ist diese zwar verbreitete, aber bildungstheoretisch nicht überzeugend argumentierbare Ineinssetzung von "Zweckhaftigkeit" und "Funktionalisierung", da hierbei u.a. übersehen wird, daß in den neueren Aus- und Weiterbildungsansätzen der betrieblichen Bildungsarbeit und Personalentwicklung vielfach nicht (mehr) nur der Zweck eines Lerninhalts im Vordergrund steht, sondern die Frage, wie die Aneignung durch die Lernenden organisiert und gefördert werden kann und welche formalen Fähigkeiten im Verlauf einer zwar zweckorientierten, aber gleichwohl selbstorganisiert ablaufenden Aneignung erworben werden können. Unausgesprochen basiert der globale Funktionalisierungsvorwurf an die betriebliche Weiterbildung im wesentlichen auf einer Gleichsetzung von "Zweckfreiheit" und "Subjektorientierung" und knüpft damit an den historisch überlieferten, aber letztlich bildungsideologischen Gegensatz von Allgemeinbildung und Berufsbildung an; daß diese Gleichsetzung gleichwohl nicht zwingend gegeben sein muß, zeigen u.a. die lehrorientierten und frontalunterrichtlichen Formen eines zwar (vermeintlich) zweckfreien aber toten
Neue Ansätze in der betrieblichen Weiterbildung
607
Lernens, wie sie in manchen Bereichen unseres Bildungswesens und nicht zuletzt auch in der bildungsnostalgischen Form des humanistischen Gymnasiums durchaus immer noch angetroffen werden können. Bedauerlich an dieser dualistischen Konzeptualisierung von "Bildung versus Qualifikation" ist, daß ihr die eigentliche und theoretisch spannende Paradoxie moderner betrieblicher Qualifizierungspolitik völlig entgeht, und sie sich gleichzeitig bei Gegensätzen und Positionen aufhält, die sich in der gesellschaftlichen Praxis betrieblichen Lernens zunehmend zu verflüchtigen beginnen. Die Paradoxie moderner betrieblicher Qualifizierungspolitik kann darin gesehen werden, daß die Betriebe zwar nach wie vor ein in erster Linie funktionales Interesse an den Qualifzierungen ihrer Mitarbeiter haben, dieses funktionale Interesse allerdings - und hierin finden die reflexiven und paradoxen Tendenzen ihren Ausdruck - nur realisiert werden kann, wenn die Subjekte über Qualifikationsvoraussetzungen verfugen, um selbstorganisierte betriebliche Prozesse in Gang setzen oder in Gang halten zu können. Dies bedeutet aber gleichzeitig auch, daß es für die Betriebe heute geradezu ein "Qualifikationsrisiko" gibt, auf das sie sich jedoch notgedrungen im wohlverstandenen Eigeninteresse einlassen müssen, wenn sie die für sie funktionale Seite der Qualifikation nutzen wollen. Im Unterschied zu den Ideologien der autoritären Betriebspädagogik, die mit Harmonisierungs- und Familialisierungsmodellen darum bemüht war, Interessengegensätze im Betrieb zu verschleiern und eine Ideologie der "Betriebsgemeinschaft" zu kultivieren (vgl. Arnold 1990, S. 35 ff.), befinden sich die Betriebe heute in der Situation, daß sie sich mit einer exaltierenden Komplexität konfrontiert sehen, deren strategische und produktive Gestaltung nur möglich ist, wenn auch die Qualifizierung eine entsprechende Komplexität in den Potentialen der Mitarbeiter aufbaut und diese zum "Gestaltungshandeln" (Herz/ Reuter-Herzer 1990, S. 74 ff.) befähigt. Nicht zuletzt durch die vielzitierte Untersuchung des MIT-Instituts zur Produktivität in der Automobilindustrie in mehreren europäischen, japanischen und amerikanischen Firmen traten die gravierenden Unterschiede zwischen japanischen Firmen einerseits und europäischen sowie amerikanischen Firmen andererseits deutlich zutage (vgl. Womack u.a. 1992; -> 7.3.4) und insbesondere unter dem Etikett "lean production" begann auch eine Diskussion über
608
Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
den Zusammenhang zwischen flexibleren Organisationsstrukturen einerseits und der Planung und Realisierung betrieblicher Weiterbildung andererseits, in deren Verlauf u.a. auch deutlich wurde, daß es gerade nicht der Aspekt des "lean"-Seins ist, durch den die betriebliche Weiterbildung in Zeiten eines grundlegenden Strukturwandels gekennzeichnet ist (vgl. Arnold/Weber 1994). Unübersehbar ist vielmehr, daß gerade die in der MIT-Studie aufgeführten "neuralgischen" Aspekte, wie "Arbeitsstunde je Auto", "Montagefehler je Auto", "Verbesserungsvorschläge je Mitarbeiter" usw. (vgl. Abb. 1) überhaupt nicht ohne qualifikatorische Maßnahmen signifikant verändert bzw. verbessert werden können. Im Vordergrund muß vielmehr ein außerfachliches Lernen stehen, das die Verantwortlichkeit und die Selbstorganisationspotentiale der Mitarbeiter erhöht. Eine (zu) geringe Quote von Verbesserungsvorschlägen sowie relativ hohe Fehlerquoten lassen sich nämlich nicht nur auf arbeitsorganisatorische, sondern auch auf qualifikatorische Bedingungen zurückfuhren. Entwickelt werden muß deshalb beides: Die Arbeitsorganisation - durchaus im Sinne von "lean production" - einerseits und das Qualifikationspotential der Mitarbeiter im Sinne eines außerfachlichen und auf die Förderung von Schlüsselqualifikationen gerichtetes Lernen andererseits. Organisations- und Personalentwicklung sind deshalb in den neueren Strategien der betrieblichen Weiterbildung eng miteinander verbunden. Abb. 1:
Internationaler Vergleich der MIT-Studie (Womack u.a. 1992) zwischen Automobilfirmen Westeuropa
Japan
USA
Arbeitsstunden je Auto
16,8
25,1
36,2
Montagefehler je 100 Autos
60
82
92
Verbesserungsvorschläge je Mitarbeiter
62
62
0,4
Abwesenheit in % aller Mitarbeiter
5,0
11,7
12,1
Mitarbeiter in Arbeitsgruppen in %
69,3
17,3
0,6
Einarbeitung neuer Mitarbeiter in Std. Quelle: Schwartz 1994, S. 116
380
46
173
Neue Ansätze in der betrieblichen Weiterbildung
609
Vor dem Hintergrund dieser strategischen Notwendigkeiten hat sich die betriebliche Weiterbildung, vornehmlich in den großbetrieblichen Kontexten, in den letzten Jahren unübersehbar entwickelt. War die Frühphase betrieblichen Erwachsenenlernens noch weitgehend gekennzeichnet durch das Seminar(un)wesen und einen mehr oder weniger deutlichen Mißbrauch von Weiterbildungschancen als "Prestigebonbon" oder als Gratifikation für Führungskräfte, so entwikkelten sich in den 80er Jahren im Kontext moderner Personalentwicklungskonzeption Weiterbildungsansätze, die stärker dadurch gekennzeichnet waren, daß sie die Qualifikation der Mitarbeiter in den systemischen Kontext der Unternehmensentwicklung einzupassen versuchten (vgl. u.a. Sattelberger 1991; 7.3.4). Im Vordergrund einer solchen Orientierung steht die Frage nach den kollektiven Adressaten und der Definition von Weiterbildungsbedarf durch die Abnehmer von Qualifizierungsmaßnahmen vor Ort. Gleichzeitig rückt die betriebliche Weiterbildung in den Zusammenhang unternehmenskultureller Entwicklungen; die Gestaltung von Unternehmenskultur erweist sich zunehmend als die zentrale Weiterbildungaufgabe, die auch in erster Linie durch die Führungskräfte selbst wahrzunehmen ist; diese werden zum Weiterbildner ihrer Mitarbeiter, und an die Stelle einer "Personalfiihrung" treten Strategien einer mitarbeiterorientierten Personalentwicklung. Auch das betriebliche Erwachsenenlernen erhielt durch solche Tendenzen eine unerwartete Aufwertung, zumal deutlich wurde, daß die traditionellen Formen, in denen die Erwachsenenbildung bislang gewohnt war, ihr Lehr-Lern-Verhältnis zu konzeptualisieren nicht mehr zeitgemäß waren. An die Stelle des "Lehrers" trat die Pädagogisierung von Führungsstilen und die Rückverlagerung von Weiterbildungsprozessen in die Abteilungen vor Ort. Qualifizierung wurde dort zur Bildung, wo eine subsidiäre Führung sich darum bemühen mußte, die Selbstorganisationspotentiale der Mitarbeiter systematisch zu fördern, um auf diesem Wege die Lebendigkeit von Organisationsstrukturen und Individuen gleichermaßen produktiv zu nutzen. Heute befindet sich die betriebliche Weiterbildung in einigen größeren Betrieben bereits in einem Reifestadium, mit dem sie die Unternehmenskulturen und Führungskulturen traditioneller Erwachsenenbildungseinrichtungen vielfach weit hinter sich gelassen hat. Die Rede ist bisweilen sogar von einem "Methoden-" oder "Technologie-Vorsprung" (Arnold 1991, S. 143 ff.) der betrieblichen Weiterbildung, wobei allerdings immer wieder auch zu
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
berücksichtigen ist, daß es sich bei den Unternehmen, denen es über den Einsatz moderner Erwachsenenbildungsmethoden gelungen ist, die Weiterbildung in den Kontext von Personalentwicklung und systemischer Organisationsentwicklung zu stellen, um die wenigen Protagonisten betrieblicher Weiterbildung handelt, die seit jeher Innovationsimpulse gesetzt und neue Strukturen realisiert haben. Die Masse der betrieblichen Weiterbildung befindet sich auf anderen Reifestadien; so kann man davon ausgehen, daß ein großer Teil von Betrieben von einem "Aufbruch zu einer neuen Lernkultur" (Krapf 1993) noch weit entfernt ist und sowohl in ihrer Ausbildung als auch in ihrer Weiterbildung mechanistische Lernkulturen realisiert. Gewarnt werden muß in diesem Zusammenhang auch vor einer Idealisierung der Anforderungen an den Facharbeiter. Zwar lassen sich gerade mit dem Einsatz und mit der Verbreitung neuerer Technologien im Beschäftigungssystem ein Rückgang der unqualifizierten Tätigkeiten und ein Anstieg der Qualifikationsanforderungen feststellen, doch existieren gleichzeitig in weiten Bereichen unseres Beschäftigungssystems Tätigkeiten fort, die stark repetitiven Charakter haben. Die wissenschaftliche Betriebs- und Erwachsenenpädagogik muß, will sie ein realistisches Bild der betrieblichen Weiterbildungsnotwendigkeiten zeichnen, diese unterschiedlichen Wirklichkeitsbereiche berücksichtigen und darf sich nicht in eine Generalisierungsfalle "locken" lassen, aus der es nur zwei Auswege gibt: entweder die Flucht in den Funktionalisierungsvorwurf eines betriebspädagogischen Versus-Paradigmas oder die Flucht in das Harmonisierungskonzept einer Idealisierung der Facharbeit.
7.1.2
Zum Wandel der betrieblichen Lernkultur: Von der seminarorientierten zur entwicklungsorientierten betrieblichen Weiterbildung
Die betriebliche Weiterbildung präsentiert sich in ihren avantgardistischen Varianten zunehmend als eine systemisch-konstruktivistische Erwachsenenbildung. Dabei ist man vielerorts darum bemüht, sich nicht länger bloß auf das Individuum und seine Qualifizierungsbedarfe zu beschränken, sondern die Einbindung des einzelnen in die Prozesse der Entwicklung seines Betriebes stärker in den Blick zu rücken. Grundlegend ist das Bemühen um eine ganzheitliche Betrachtungsweise der unternehmerischen Wandlungsprozesse (vgl. Götz 1994) sowie der durch diese ausgelösten und sie ermög-
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lichenden Qualifizierungsmaßnahmen. Vorbereitet wurden solche Konzepte der Ganzheitlichkeit über viele Jahre hindurch durch die Einflüsse der Humanistischen Psychologie, deren Rezeption im betrieblichen Umfeld immer schon sehr viel deutlicher war, als in der allgemeinen Erwachsenenbildungs-Diskussion, sowie durch Konzepte einer systemischen Unternehmens- bzw. Organisationsentwicklung. Diese ganzheitlich-systemischen Konzepte gehen einher mit neuen Führungslehren, die die Bedeutung von Sinnvermittlung, Integration und Partizipation betonen. Mitarbeiterfuhrung wird zunehmend pädagogisch begründet: die Führungskraft wird zum Weiterbildner ihrer Mitarbeiter, zum Moderator der betrieblichen Selbstorganisation und zum "Entwerfer" bzw. Konstrukteur von Zukunfts-Visionen. Betriebliche Weiterbildung präsentiert sich so als eine Form der Organisationsentwicklung, die sich als "Kulturentwicklung", d.h. als eine Entwicklung gemeinsamer Symbolisierungsformen und der Unternehmenskultur, versteht. Die Weiterbildung bzw. das permanente Lernen erwachsener Mitarbeiter kann in diesem Kontext auch als eine Form der "Entkulturation in Unternehmenskulturen" angesehen werden, die jedoch immer weniger intentional als vielmehr funktional, d.h. durch die "Bereitstellung" von Deutungsangeboten und die Einräumung von Chancen zur Interpretationsteilnahme realisiert werden kann. Mit dieser Einbindung der betrieblichen Weiterbildung in die kollektive Visions-, Deutungsund Kulturarbeit eines Unternehmens ist eine neue, konstruktivistische Dimension des außerfachlichen Lernens in der betrieblichen Weiterbildung angesprochen. Ansätze wie das sog. neurolinguistische Programmieren (NLP) folgen bereits deutlich einer solchen konstruktivistischen Logik. Nicht die Anforderungen und Probleme, mit denen es das Unternehmen zu tun hat, dienen als alleinige Ableitungsbasis für die Qualifizierungsmaßnahmen, sondern die Konstruktionen und Deutungsmuster, die in einem Unternehmen bereits lebendig sind und in je unterschiedlicher Weise einen dynamischen Wandlungsprozeß des Unternehmens ermöglichen oder Veränderungen eher - im Sinne mentaler Barrieren - verhindern. Neben der sog. Befähigung zur "Technikgestaltung" (Rauner/Heidegger, 1989; - > 5 . 3 ) wird zunehmend die Notwendigkeit in den Vordergrund gerückt, die Mitarbeiter auch zur Mitwirkung an der "Sinngestaltung" des betrieblichen Handelns zu befähigen. In diesem Zusammenhang fließen auch die Konsequenzen aus dem gesellschaftlichen Wertewandel und die
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Notwendigkeiten einer produktethischen Legitimation der eigenen Arbeit in die Orientierung betrieblicher Weiterbildungsmaßnahmen ein. Eine solchermaßen kulturbezogene betriebliche Weiterbildung geht letztlich davon aus, daß es betriebliches Handeln mit konstruierter Wirklichkeit zu tun hat, Wirklichkeiten, deren Inhalte und Wertigkeiten ihre Bedeutung eher nach den Maßgaben von Plausibilität und Konsens erlangen, als nach den Maßgaben der Übereinstimmung mit einer vermeintlich objektiven Realität. "Truth is what works", der Slogan der amerikanischen Pragmatisten, erweist sich in diesem Zusammenhang als notwendiger Bezugspunkt bzw. als "Prüfkategorie" für den Erfolg einer Transformation subjektiver Wirklichkeiten. Betriebliche Weiterbildung wird sich zunehmend der Notwendigkeit bewußt, auch das betriebliche Erwachsenenlernen in dieser ganzheitlich konstruktivistischen Weise zu bestimmen und damit die Erwachsenenbildungstheorie gleichzeitig um eine Dimension zu erweitern, die das reflexive Lernen des Individuums mit dem systemischen Lernen der Organisation verbindet (vgl. Arnold 1991, S. 27). Grundlage und Ziel eines solchermaßen außerfachlichen Lernens ist eine Kompetenz, die sich mit dem Postmoderne-Theoretiker Welsch als "Pluralitätskompetenz" bezeichnen ließe: "Es geht darum, sich nicht auf die Meisterung und Bewältigung alles anderen zu kaprizieren, sondern bereit zu sein, sich auf anderes einzulassen, sich auch verfremden zu lassen. Man muß Sensibilität für verschiedene Sinnformen entwickeln und sollte des blinden Flecks in den eigenen Wahrnehmungen eingedenk sein und daher nicht mehr mit dem Pathos der Absolutheit und der Einbildung der Endgültigkeit urteilen und verurteilen, sondern auch dem anderen Wahrheit zuerkennen - noch gegen die eigene Entscheidung. Und man sollte nicht nur prinzipiell davon überzeugt sein, daß eine Situation sich aus anderer Perspektive mit gleichem Recht ganz anders darstellen kann, sondern dieses Bewußtsein sollte auch die Praxis bestimmen, sollte in ihr zu Konsequenzen fuhren. Wir brauchen den Mut zwischen Stabilität und Chaos zu operieren" (Welsch 1994, S. 23). Der Wandel von einer seminarorientierten zu einer entwicklungsorientierten betrieblichen Weiterbildung geht einher mit dem notwendigen Wandel der didaktischen Leitkonzepte bzw. der be-
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trieblichen Lernkultur. An die Stelle von Lehren tritt Lernforderung, und an die Stelle der "Erzeugung" von Qualifikation muß die Ermöglichung von Lern-, Deutungs- bzw. Umdeutungsprozessen treten. Die geschlossenen Konzepte einer traditionellen Qualifizierungspolitik müssen die Betriebe überwinden und durch Konzepte einer Ermöglichungsdidaktik (vgl. Arnold 1991, S. 53) ablösen, d.h. durch offene Konzepte selbstorganisierten Lernens, in denen neben der Vermittlung fachlicher Kompetenzen nicht nur auch die Förderung und Entwicklung von Schlüsselqualifikationen, d.h. von sozialer Kompetenz und methodischer Kompetenz möglich ist, sondern in denen Menschen selbstorganisiertes Handeln sowie die Mitkonstruktion betrieblicher Wirklichkeiten "erleben" und lernen können. In diesem Sinne greift die betriebliche Weiterbildung seit einigen Jahren nicht nur auf die Projektansätze aus der Reformpädagogik zurück, sie entwickelt und profiliert vielmehr immer deutlicher eine eigenständige Didaktik selbstorganisierten Lernens, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die außerfachlichen Dimensionen der Kooperation einen höheren Rangplatz in den Lernziel-Definitionen einnehmen und in ihrer paradoxen Bedeutung als eigentlicher Kern moderner Fachqualifikation entsprechend berücksichtigt werden. Was die konstruktivistische Begründung der betrieblichen Weiterbildung anbelangt, so kann man beobachten, daß der Erfolg betrieblicher Weiterbildung zunehmend auch danach bemessen wird, ob es gelingt, Rigidität in den Orientierungen der Mitarbeiter abzubauen und ihre Fähigkeiten zur Konfliktlösung, zur Kreativität und zur Kooperation zu optimieren. Didaktisches Gewicht erhalten in diesem Zusammenhang unstrukturierte Lernprozesse, in denen die Teilnehmer systematisch vor der Herausforderung stehen, den Umgang mit Unsicherheit zu lernen und sich eine Kompetenz im Umgang mit unerwarteten Anforderungen anzueignen. Eine solche entwicklungsorientierte betriebliche Weiterbildung stellt sich als relevantes Begleitkonzept zur Personalentwicklung im Rahmen von Lean-Production dar. Eine Arbeitsorganisation, die durch die optimale Ausnützung von Flexibilitäts- und Selbstorganisationspotentialen gekennzeichnet ist, bedarf keineswegs eines "Lean Learning", sondern geradezu einer breiten Persönlichkeitsentwicklung der Mitarbeiter. Eine solche Persönlichkeitsentwicklung realisiert viel von dem, was man neuerdings als Ideal einer neuen Allgemeinbildung diskutiert: Der einzelne Menschen muß nicht mehr in so starken Maßen über materiales Wissen verfugen, sondern vielmehr in
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einem umfassenden Sinne Methodenkompetenz haben, d.h. er muß in der Lage sein, sich neues Wissen, Übersicht über unerwartete Situationen sowie Zugang zu neuen Problemlösungsmechanismen selbst zu erschließen. Eine solche Persönlichkeitsentwicklung kann durch die betriebliche Weiterbildung alleine sicherlich nicht geleistet werden. Erforderlich ist vielmehr, daß die Lernkultur in allen unseren Bildungseinrichtungen kritisch analysiert und verändert wird (vgl. Krapf 1993). Anders kann nämlich nicht vermieden werden, daß z.B. Jugendliche durch den offiziellen und heimlichen Lehrplan unserer Schulen in einer Weise "entstimuliert" werden, daß die betriebliche Aus- und Weiterbildung diese Lernschädigungen kaum mehr kompensieren kann. Eine Veränderung der schulischen Inhalte und Lernformen ist deshalb eine grundlegende Voraussetzung für das fachliche und außerfachliche Lernen in der betrieblichen Weiterbildung. Hierzu muß auch die Fächerstruktur unserer Schulen hinsichtlich der Zeitanteile der bestehenden Fächer und der "Vollständigkeit" des Schulcurriculums kritisch hinterfragt werden. Wichtige inhaltliche Ergänzungen wären dabei - nicht nur im Blick auf die Arbeitswelt, sondern auch im Blick auf das außerfachliche Lernziel "Umgang mit Unsicherheit" - die "Fächer" "Kulturkunde (Kulturalität und Interkulturalität)" sowie "Konflikt- und Kommunikationsverhalten". Zu ergänzen wäre in einem das außerfachliche Lernen vorbereitenden und anbahnenden Lehrplan schließlich auch ein Fach "Methodenkunde", in dem die Schüler und Schülerinnen systematisch ihr arbeitsmethodisches Wissen und u.a. folgende methodische Fähigkeiten trainieren und entwickeln könnten: "Texte markieren und unterstreichen", "Informationen zusammenfassen", "Arbeiten mit Nachschlagewerken", "Umgang mit Bibliotheken", "Ergebnisse präsentieren und visualisieren", "Lerntechniken" etc. (vgl. Klippert 1994).
7.1.3
Veränderte Zuständigkeiten und neuartige Professionalitätsmuster in der betrieblichen Weiterbildung
Das traditionelle pädagogische Denken war in allererster Linie durch einen materialen Bildungsbegriff geprägt. Schule, Erziehung und Unterricht wurde die Aufgabe zugewiesen, die nachwachsende Generation in die kulturellen Überlieferungen "einzufädeln" und so sicherzustellen, daß die Kultur der Gesellschaft und damit die Gesellschaft selbst sich durch die Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglie-
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der weiterentwickeln können. Bildungstheorie und Didaktik waren deshalb bis weit in unsere Tage hinein auf die Inhaltsfrage fixiert, ihnen ging es um die Auswahl und Legitimation dessen, was Schüler lernen sollen, und um die Konstruktion des "Modells einer tradierenden Didaktik" (Zabeck 1984, S. 126) der Berufsbildung. Letztlich leiten sich aus dieser Inhaltsorientierung auch die Ver(fach)wissenschaftlichung der Lehrerbildung und das professionelle Selbstverständnis vieler Lehrer, Ausbilder und betriebliche Weiterbildner her ("kleine Diplomingenieure", mehr Fachmann als Pädagoge). Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch auf den Arbeitsmärkten und in vielen Bereichen unserer Gesellschaft ein Trend ab, in dem ein Rückgang der Bedeutung der Fach- und Inhaltsorientierung zum Ausdruck kommt: Zwar wird es auch in Zukunft nach wie vor auch wichtig sein, allgemeinbildende Kenntnisse und ein ausreichendes berufliches Grundlagenwissen zu erwerben, doch wird es nicht mehr in jedem Fall darauf ankommen, die letzten fachlichen Details oder eine tiefgehende fachliche Spezialisierung zu erwerben, die ohnehin bereits vielfach veraltet sind, wenn die Ausbildungs- oder Studienabsolventen in die praktische Anwendung eintreten. Hinzu kommt, daß gerade solche Detail- und Spezialkenntnisse immer leichter von Computern abgerufen werden können. Darüber hinaus verringert sich auch mit dem Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien die Notwendigkeit zur kognitiven "Speicherung" von Wissen. Denn selbst bei der Lösung komplizierter beruflicher Probleme oder bei komplexeren fachlichen Bearbeitungsschritten wird heute zunehmend auf Expertensysteme oder automatische Steuerungssysteme zurückgegriffen, während der Mensch selbst immer stärker aus dem unmittelbaren Arbeitsprozeß heraustritt und planerische, vorbereitende, überwachende und korrigierende Funktionen übernimmt (Bojanowski u.a. 1991, S. 105), d.h. der Inhalt der Fachtätigkeit wandelt sich. Hierbei werden auch für das berufliche Lernen in der betrieblichen Weiterbildung grundlegende Neuorientierungen nötig. Es ist nämlich immer weniger sinnvoll, die betriebliche Aus- und Weiterbildung nach dem Modell der Wissensansammlung zu arrangieren. Um die heute - fachlich - geforderten Tätigkeiten ausführen zu können, müssen vielmehr auch andere als (nur) fachliche Kompetenzen erworben werden. Dieser Trend einer Relativierung des Fachlichen weicht nicht nur das traditionelle Konzept der Beruflichkeit auf, sondern erschüttert
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auch die vorherrschenden Formen einer durch die Inhaltsfrage dominierten Didaktik und Bildungstheorie. Auch vielen Betriebspädagogen fällt es heute noch schwer, den Rückgang der Bedeutung des Fachwissens zu akzeptieren, wäre dieser doch nur um den Preis einer Abwertung der eigenen Biographie und des eigenen professionellen Kerns "anzunehmen". Gleichwohl fuhrt an einer inneren Reform der Berufsbildung kein Weg (mehr) vorbei: Moderne Berufsbildung muß heute neben einer (nach wie vor wichtigen) Fachkompetenz auch eine Methoden- und Sozialkompetenz entwickeln (helfen). Sie muß der Tatsache Rechnung tragen, daß methodische und soziale Fähigkeiten heute bereits mehr und mehr fachlich notwendig sind. Sie muß ein didaktisch-methodisches Konzept entwickeln, das der Tatsache Rechnung trägt, daß man auf dem unsicheren und sich rasch wandelnden "Terrain" einer fachlichen Spezialisierung allein heute keine lebenslang ausreichende Berufskompetenz mehr entwickeln kann. Vielmehr muß der Wandel selbst in die Qualifizierung mit aufgenommen werden. Menschen müssen wandlungsbereit und wandlungsfähig bleiben; sie müssen "selbstschärfende Qualifikationen" (Bauerdick u.a. 1993, S. 114) erwerben, und methodische sowie soziale Kompetenzen sind hierfür andauernde Voraussetzungen als rasch veraltendes fachliches Spezialwissen. Damit sich solche übergreifenden Kompetenzen, wie Methodenund Sozialkompetenz entwickeln können, gewinnt das "Wie" des Lernprozesses an Bedeutung. An die Stelle materialer Bildungstheorien, die das "Was" von Bildung betonen, treten zunehmend formale Bildungstheorien, die danach fragen, wie die persönlichen Kräfte des Individuums gefördert und gestärkt werden können. Eine solche formale Bildungstheorie verbirgt sich auch hinter dem Konzept der Schlüsselqualifikationen. Schlüsselqualifikationen sind nämlich reflexive Qualifikationen: Sie beinhalten in sich nicht schon bereits den Inhalt oder die fachliche Lösung, um die es geht, sondern liefern "lediglich" die Voraussetzung dafür, daß das Individuum sich in der jeweiligen Situation die dann sachlich und methodisch erforderlichen Voraussetzungen selbst erarbeiten kann. In diesem Sinne ist für die Schlüsselqualifizierung die gleiche Handlungslogik grundlegend wie für die Bildung: Ziel und Inhalt entsprechender Bildungsprozesse fallen zusammen, d.h. die Art des Lernens muß selber das vorwegnehmen, was als ihr Ergebnis erwartet wird, bzw. darf die Art des Lernens nicht das angestrebte Ziel dementieren.
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Vor dem Hintergrund einer formalen Bildungstheorie gewinnt die methodische Dimension des Lernens an Bedeutung: Wenn Selbständigkeit gefördert werden soll, muß das Lernen so arrangiert werden, daß selbständige Suchbewegungen nicht verhindert, sondern ermöglicht werden. Aus diesem Grunde müssen in lebendigen Lernprozessen in verstärktem Maße Aktivierungsmethoden eingesetzt werden, d.h. Methoden, bei denen die Initiative im Lernprozeß und die Steuerung des Lernprozesses erst allmählich und dann immer mehr auf den Lernenden übergehen. Dabei kommt entsprechend didaktisierten Selbstlernmaterialien eine wichtige Rolle zu. Es sollte in der betrieblichen Bildungsarbeit deshalb besonderer Wert auf die Entwicklung und Bereitstellung solcher Materialien gelegt werden. Hierfür sind sicherlich support-Strukturen vorzuhalten; es ist aber auch erforderlich, daß betriebliche Weiterbildung selbst in immer stärkerem Maße in die Lage versetzt wird, Selbstlernmaterialien zu entwickeln. Denn der Kern ihrer professionellen Rolle wandelt sich in Richtung auf "zuständig sein für die Vorbereitung von Lernumgebungen" (Montessori) und die Eröffnung von Selbstlernwegen.
Eine lebendige Lernkultur, in der sich die methodischen und sozialen Fähigkeiten der Lernenden entwickeln können, umfaßt mehr als Altbekanntes. Es stimmt zwar, daß die Konzepte des offenen Lernens und des Projektunterrichts historisch weit zurückreichende Wurzeln aufweisen, sie wurzeln jedoch - bis auf ganz wenige Ausnahmen - in einem Boden des lehrerzentrierten Unterrichts. Mit anderen Worten stellen selbst viele der in der Reformpädagogik entwickelten alternativen Groß- und Kleinformen des Unterrichts die Dominanz des Lehrers nicht in Frage, nur äußert sich diese subtiler. Sie fließt in die Formulierung von Projektaufgaben, die "Einplanung" von Gruppenarbeitsphasen oder Phasen der Selbsttätigkeit, der Still-, Frei- oder Partnerarbeit ein. Es ist letztlich der Lehrende, der die Selbsttätigkeit der Lernenden plant. Grundlage einer solchen Didaktik ist der paradoxe Anspruch, Schülerselbsttätigkeit planen zu können und Selbständigkeit in gerade nicht selbst geplanten und organisierten Lernprozessen entwickeln zu können. In dieser didaktischen Doppelbindungs-Falle ("Lerne selbständig zu handeln!") konterkariert der heimliche Lehrplan ("Du sollst lernen!") das offizielle Leitziel ("Handle selbständig!"). Es fehlt diesen subtileren Formen einer lehrerzentrierten Schülerorientierung jedoch das, was sich heute in der neueren Didaktik vollzieht: die Sensibilisierung für
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die Kreativität von Selbstorganisation, der Abschied von der Illusion der Planbarkeit und Beherrschbarkeit und die professionelle Befähigung der Lehrenden zu einem situationsangemessenen pädagogischen Handeln. "Pädagogisches Handeln ist" - so lesen wir in einem neueren Didaktik-Buch - "zu komplex und unterliegt zu vielen, teilweise unbekannten Einflußgrößen, als daß durch eine Theorie wirklich alle Einzelphänomene in eindeutiger Weise gesetzlich erklärbar wären" (Jank/Meyer 1991, S. 21). Die "alten" Ansätze eines offenen und lebendigen Lernens sind somit nicht nur Konzepte einer lehrerzentrierten Schülerorientierung, sie basieren vielmehr auf didaktischen Modellen, die die komplexe unterrichtliche Wirklichkeit häufig trivialisieren und durch das Zusammenwirken einiger "handhabbarer" Faktoren gestalten zu können glauben (Ziele, Inhalte, Methoden, Medien). Wenn man Gestaltungsmöglichkeiten für lebendiges Lernen "sucht", "langt" es deshalb auch nicht, an die Stelle des alle erdrückenden Frontalunterrichts lediglich für "Methodenvarianz" zu plädieren bzw. für dieselbe zu "ermutigen". Gefragt werden muß vielmehr, welche Methoden da variiert werden sollen und von wem sie variiert werden sollen. Und schließlich muß auch gefragt werden, in welchem Geist die Methoden variiert werden sollen. Denn die methodischen Arrangements, die den Lehrenden in der Regel einfallen, haben häufig eines gemeinsam: "Sie gehen davon aus, daß es darauf ankommt, die Fremdsteuerung des Schülerverhaltens zu verfeinern oder zu intensivieren" (Grell/Palasch 1978, S. 95). Übergreifende Qualifikationen, wie z.B. die Schlüsselqualifikationen "Problemlösungsfahigkeit", Selbständigkeit" etc. können jedoch nicht entwickelt werden, sie können sich nur selbst entwickeln. Es kommt deshalb darauf an, solche Methoden verstärkt "ins Spiel zu bringen", die ein in diesem Sinne selbsterschließendes Lernen ermöglichen und nicht darauf, beliebig Methoden aus dem ganzen Spektrum der denkbaren Unterrichtsmethoden zu "variieren". Und nimmt man unter einem solchen Blickwinkel die "üblichen" Methoden in den Blick, so zeigt sich, daß es eigentlich nur sehr wenige wirklich "offene" Lern- und Erschließungsmethoden gibt, die tatsächlich geeignet sind, selbstorganisiertes lebendiges Lernen "stattfinden" zu lassen. Zu nennen sind die leitfragenorientierte Gruppenarbeit, wie sie im Zuge der sog. Leittext-Methode in der betrieblichen Berufsausbildung entwickelt worden ist, und die Moderationsmethode (vgl. Feix 1990; Seider/Pattay 1989), die ein offenes, teilnehmerorientiertes sowie partizipatives Lernen ermöglicht. Zwar sind in diesen beiden Verfahren durchaus Elemente aus
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d e r "überlieferten" U n t e r r i c h t s m e t h o d i k eingeflossen (z.B. G r u p p e n arbeit, Freiarbeit u s w . ) , d o c h k o m m t in ihnen der Teilnehmeraktivität eine konstitutive B e d e u t u n g zu. Gleichzeitig zieht mit d e r V e r breitung solcher M e t h o d e n die Persönlichkeitsbildung in die betriebliche Bildungsarbeit ein. Diese ist gleichwohl nicht "herstellbar" o d e r "steuerbar", wie Michael B r a t e r und H a n s G. B a u e r betonen: " A n d e r s als bei den A n p a s s u n g s f o r d e r u n g e n stößt man mit dieser F o r d e r u n g nach Selbständigkeit des Arbeitenden allerdings an eine prinzipielle G r e n z e : Selbständigkeit kann nicht f r e m d b e s t i m m t v e r o r d n e t w e r d e n . Sie ist nicht z w a n g s w e i s e d u r c h z u s e t z e n , s o n d e r n grundsätzlich an die Bereitschaft, Freiwilligkeit und Eigentätigkeit des A r b e i t e n d e n g e b u n d e n . Deshalb k a n n Selbständigkeit auch nicht n o t w e n d i g , nicht allgemein, und auch nicht sicher e r w a r t b a r eintreten. Sie ist w e d e r berechenbar, n o c h im engeren Sinne ' m a c h b a r ' . O b sie realisiert w e r d e n kann, hängt vielmehr entscheidend v o n d e r E i g e n b e w e g u n g des Arbeitenden, v o n seiner Persönlichkeitsentw i c k l u n g ab" ( B r a t e r / B a u e r 1990, S. 54 f.).
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Weiterführende Literatur: ARNOLD, Rolf (1991): Betriebliche Weiterbildung. Bad Heilbrunn. ARNOLD, Rolf/WEBER, Hajo (Hrsg.) (1994): Weiterbildung und Organisation.
7.2
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung Richard Huisinga und Ingrid Lisop
7.2.1
Arbeitsorientierung ohne Arbeitsplätze?
621
7.2.2
Arbeit und Subjektbildung
622
7.2.3
Gesellschaftspolitische Dimensionen arbeitsorientierter Erwachsenenbildung
625
7.2.4
Zur Didaktik arbeitsorientierter Erwachsenenbildung
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7.2.5
Bildung und Fachkompetenz jenseits von Beruflichkeit - eine Skizze
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Zitierte Literatur
635
Weiterführende Literatur
636
7.2.1
Arbeitsorientierung ohne Arbeitsplätze?
In der wissenschaftlichen wie in der bildungspolitischen Diskussion wird diese Frage oftmals mit zynisch-vorwurfsvollem Unterton vorgebracht. Das ist insoweit verständlich, als die Institutionen der Erwachsenenbildung sich weithin über Maßnahmen der Umschulung, aber auch der beruflichen Erst- und Ergänzungsqualifizierung finanzieren und somit die Frage nach dem Sinn des pädagogischen Tuns aufgeworfen ist, wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen nach solchen qualifizierenden Kursen immer noch "auf der Straße stehen". Einfluß auf den Arbeitsmarkt haben Institutionen der Erwachsenenbildung demzufolge genauso wenig wie irgendwelche anderen Institutionen des Bildungswesens. Gesellschaftspolitisch konfrontiert uns dieser Sachverhalt mit einer Paradoxie: Das gesamte Bildungswesen läßt sich als ökonomisches Vorleistungssystem charakterisieren, insofern auch die sogenannte Allgemeinbildung der Qualifizierung des Arbeitsvermögens und der Produktion der Ware Arbeitskraft dient. Aber trotz dieser Leistung hat das Bildungssystem keinerlei direkten Einfluß auf das Wirtschaftssystem. Zwar ist ohne Qualifizierung kaum noch ein Ar-
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beitsplatz zu finden, doch garantiert umgekehrt Qualifizierung bei weitem noch keine Anstellung. Hierüber bildungspolitisch zu resignieren hätte aber zur Folge, daß sich ein Denken verstärken würde, das Bildung schon viel zu sehr monokausal und linear an Erwerbsarbeit bindet und so auf Anpassungsqualifizierung reduziert - auch dort, wo das Gegenteil gewollt ist. Speziell aus diesem Grunde wird es im folgenden um drei Dimensionen gehen: eine gesellschaftspolitische, eine bildungsphilosophische bzw. bildungstheoretische und eine didaktische. Dies heißt, daß Arbeit nicht eng und ausschließlich im Sinne von Erwerbsarbeit verstanden wird, sondern als zentrale Kategorie von Subjektbildung, die mehr erschließt als nur Erwerbsarbeit.
7.2.2
Arbeit und Subjektbildung
Der in seiner Gattungsmäßigkeit wie in seiner Individualität als Sozialwesen entfaltete Mensch wird als Subjekt bezeichnet. Subjekt ist der selbstbestimmte, aktive, die ihn umgebende Welt und die Geschichte reflektiert und bewußt gestaltende wie sich selbst entfaltende Mensch. Dieser ist einmalig und einzigartig und mit ganz individuellen Potentialen ausgestattet, wie er zugleich Teil und Geprägter der Gemeinschaft(en), Gruppe(n), Gesellschaft ist, in denen er lebt. Subjekt ist und wird er durch tätiges und bewußtes In-Beziehung-Treten zur äußeren, ihn umgebenden Welt, wodurch zugleich seine innere Welt sich als individuelle entwickelt. Das Subjekt entwickelt sich, indem es Bereiche der es umgebenden Welt zum Objekt seiner Tätigkeit und seiner Erkenntnis macht und dabei seine Kräfte des Denkens, Fühlens, Wollens und Gestaltens vergegenständlicht (objektiviert), und indem es in diesem Prozeß und mit dem Produkt seiner Tätigkeit sich sein eigenes Wesen wie das der menschlichen Gattung zu eigen macht: durch Gewahrwerden, Nutzen, Genießen und Reflektieren. Dies wiederum sowohl auf seine ganz persönliche, einmalige Weise, eben als Individualität, wie als gesellschaftliches und durch die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen überindividuell geprägtes Wesen. Ohne die Bewußtwerdung seiner selbst und die Reflexion seiner Wünsche, Strebungen, Gedanken und Potentiale im gesellschaftlichen Lebenszusammen-
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hang entfaltet der Mensch sich weder in seiner Individualität noch als Subjekt. Erst, wo er im reflektierenden, aufgeklärten Sinne Objekt seiner selbst ist, ist der Mensch voll Subjekt. Nun stehen der Subjektbildung in der Realität mannigfache gesellschaftliche Konstellationen als Hindernis entgegen. Die moderne Sozialwissenschaft nennt das, was den Menschen oft nur zum verkrüppelten Abdruck seiner Möglichkeiten macht, in seinem Ergebnis Entfremdung und erörtert dabei die folgenden Kriterien: * Machtlosigkeit im Sinne des Ausgeliefertseins an sogenannte Sachzwänge, die sich verselbständigt und verabsolutiert haben; * Sinnlosigkeit im Sinne der Ausweglosigkeit, weil keine Möglichkeit der Einsicht in Zusammenhänge besteht und die Folgen von Entscheidungen im Dunkeln bleiben; * Normlosigkeit aufgrund sozialer Desintegration der Individuen wie von Desintegriertheit des Sozialgefuges selbst, häufig bei gleichzeitiger Isolierung gesellschaftlicher Gruppen und deren Normen; * Selbstentfremdung im Sinne der Außenlenkung und des Manipuliertwerdens des Menschen, der Verkrüppelung der Autonomie bis hin zur Sinnentleerung der Arbeit, ja des Lebens, indem das eigene Sein zu einem entäußerten und veräußerlichten Objekt gerät, ja im Extremfall auf seine bloß vegetative Erscheinungsform zurückzusinken droht. Pädagogisch gewendet geht es bei Fragen von Entfremdung und Aufhebung von Entfremdung einerseits um die Wesensbestimmung des Menschen und andererseits um die Entfaltungsmöglichkeiten der menschlichen Potentiale bzw. des Humanvermögens. Versteht man nun gerade auch in diesem Kontext Arbeit in anthropologisch weiter Bedeutung als jegliche, auch spielerische Tätigkeit im Sinne der Gestaltung und Umformung der bloß vegetativen Erscheinungsform von Leben und Subjektbildung als damit einhergehend, dann erkennt man Arbeit als Bedingung und zugleich Realisierungsmedium von Subjektwerdung. Bildung im Dienste der Wesensverwirklichung des Menschen zu sehen und darum auf der Basis der skizzierten anthropologischen Kategorie zu erheben, bedeutet allerdings nicht, daß der Blick lediglich auf die Erwerbsarbeit gerichtet ist. Wir sehen Arbeit vielmehr in der Einheit von Erwerbsarbeit, privater Reproduktionsarbeit und der nicht erwerbsmäßig betriebenen öf-
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fentlichen Arbeit, z.B. in Parteien, Organisationen, Vereinen, Initiativen (->1.2.3.2). Das weite Verständnis von Arbeit verlangt ein klärendes Wort zum Verhältnis von Arbeit und Muße. Aufgrund der Atomisierung aller Lebensbereiche, die wir gegenwärtig erfahren und aufgrund ihrer Unterordnung unter die Gesetze des profitmaximierenden Warentausches ist es beinahe unmöglich geworden, Arbeit und Muße - und sei es auch nur im Denken - als Einheit zu fassen; als die bewegenden Momente ein und desselben Lebensprozesses. Nicht umsonst stehen wir in der bildungstheoretischen, curricularen und strukturpolitischen Lösung der Integration von Berufsbildung und Allgemeinbildung (->• 6.1) immer noch am Anfang. In der arbeitsorientierten Bildungstheorie wird die Muße stets als Teil der Reproduktionsarbeit mitgedacht. Nur über einen solchen weiten Arbeitsbegriff gelingt es u.E., den Bildungsbegriff curricular und didaktisch praktisch werden zu lassen. Da Bildung ja eine relativ abstrakte, häufig auch ideologisch normativ verwendete Kategorie ist, kann man sie nicht ohne weiteres didaktisch ausdifferenzieren. Erst recht kann man nicht Curricula oder Unterrichtsgegenstände daraus ableiten. Der Weg läuft vielmehr in umgekehrter Richtung: Der Didaktische Implikationszusammenhang von Zielen, Inhalten und Methoden muß begründet und intersubjektiv nachprüfbar ausdifferenziert werden, und zwar hin zur Bildung als der Entfaltung der Gattungsmäßigkeit des Menschen, der Entfaltung seiner Gesellschaftlichkeit und Individualität wie der Entwicklung und Entfaltung seiner - weiten - Arbeitsfähigkeit. Dazu bedarf es allerdings spezifischer Instrumentarien, auf die wir unten noch eingehen. Einem anderen Mißverständnis sei hier vorgebeugt. Wo vom Wesen des Menschen gesprochen wird, tauchen allzu schnell die Kategorien gut und böse auf. Zweifellos kann der Mensch das, was seine Gattungsmäßigkeit ausmacht und worin, theologisch betrachtet, seine Gottes-Ebenbildlichkeit liegt - Schöpfertum, Mit-Menschlichkeit, Vernunftbegabung - gegen sich und andere richten und damit "Böses" bewirken. Dieses Böse wie auch das Gute sind aber nicht Ursprung, sondern Resultat der Formung seiner Wesenskräfte im Zusammenwirken von gesellschaftlicher Übereinkunft über Normen und Werte, von Lebensumständen und Erziehung.
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung
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Indirekt ist mit diesen Ausführungen bereits deutlich geworden, daß Bildung als ein dynamischer Prozeß verstanden wird, bei dem sich vielfache Dimensionen zu einer Einheit verschränken. Bildung ist, statisch betrachtet, eine komplexe Einheit entfalteter Bewußtseins- und Verkehrsformen. Dynamisch gedacht ist sie die Entwicklung und Entfaltung des Subjektes. Wir verstehen unter Bildung - die immer Subjektbildung ist - eine Implikation. Sie umfaßt ein Mehrfaches von Drei-Einheiten: Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz; Entfaltung der Kultur des Denkens, Fühlens und Wollens; Handlungs-, Gestaltungs- und Kommunikationsfähigkeit, die aus dem Bewußtsein der Gattungsmäßigkeit, der Geschichtlichkeit und Sozialität sowie der Individualität ebenso erwächst wie aus Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Verarbeitungsfähigkeit, Besetzungsfähigkeit und Reflexivität. Bildung ist bezogen auf technische Erfordernisse. Hierunter verstehen wir die herstellende und kritische Effizienz in allen Lebensbereichen, in Erwerbsarbeit, öffentlicher Arbeit und Reproduktionsarbeit. Bildung ist auch bezogen auf historische Erfordernisse, insofern gesellschaftliche Entscheidungen aus zeitlichen Kausalbezügen heraus und unter Folgenabschätzung gefordert sind. Schließlich bezieht sie sich auf ästhetische Belange, worunter wir die wertende Formgebung unserer geistigen und seelischen Kräfte (d.h. die Kultur des Denkens, Fühlens und Wollens), des menschlichen Miteinanders wie der uns umgebenden Welt verstehen (->• 1.3.1). Nun könnte man fragen, ob bei einem solchen Verständnis von Bildung als Subjektbildung die Kategorie Arbeit nicht verzichtbar wäre, weil Subjektorientierung und Arbeitsorientierung zwei Seiten einer Medaille sind. Dem ist zwar so, aber es gilt gerade, diese zwei Seiten explizit zu machen und als unterschiedlich im Bewußtsein zu halten, weil sonst das Ganze, das sie umfassen, aus dem Blick gerät. Es ist nämlich der Verlust des Ganzen im bildungspolitischen wie im didaktischen Denken, der jene Konsequenzen hervorgebracht hat, deren Wirkungen es zu begegnen gilt.
7.2.3
Gesellschaftspolitische Dimensionen tierter Erwachsenenbildung
arbeitsorien-
Vergleicht man den heutigen Qualifikationsbedarf und das Ausmaß an kreativer Innovation, das angesichts der sozialen, ökonomischen
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
und ökologischen Bedrohungen erforderlich ist, mit dem Potential des Bildungs- und Weiterbildungssystems, so ist seit 1960 eine Negativentwicklung zu konstatieren. Dies gilt trotz der Millionenbeträge, die in Umschulungsmaßnahmen fließen, trotz einer erweiterten öffentlichen Diskussion, trotz der gestiegenen Professionalität der Erwachsenenbildner u.a.m. Die Ursachen sind vielfältig. Eine Ebene des Ursachengefüges hat etwas damit zu tun, daß wir viel zu lange sachzwang-, kapital-, fach- oder objektfixiert waren und das menschliche Produktivkraftpotential als nachgeordnet betrachtet haben statt als Subjekt der Geschichte und damit der Wirtschaftsprozesse. Mit dieser Einstellung hat sich eine andere verschränkt, nämlich daß Technik eine Größe sui generis wäre und die Akzeptanz und Ausbreitung technischer Realitäten, z.B. Rationalisierungszwänge, Konkurrenz u.a. völlig ausblendet. In der berufsbezogenen Bildung hat dies insgesamt dazu gefuhrt, daß die Curricula stark hinter der technischen Entwicklung zurückgeblieben sind und der sogenannte time-lag, gemessen am Aktualitätsbedarf, besonders groß ist. Natürlich können wir auch nicht daran vorbeisehen, daß wir in den achtziger Jahren einen schweren ökonomischen Einbruch erleben mußten. Die daraus resultierenden Sparmaßnahmen, die sich nach der sogenannten Wende im Osten dramatisch verschärften, haben die Weiterbildung rigoros der kompensatorischen Arbeitsmarktpolitik unterworfen und damit die schwachen Strukturen zusätzlich geschwächt, Versäumtes verschlimmert. Eine andere Ebene umfaßt das berufsbezogene Denken und die Polarisierung von Bildung und Beruf, oft auch von Arbeit und Beruf. Unsere These hierzu lautet, daß der Berufsbezug für Bildung gar nicht mehr, für Qualifizierung nur noch partiell tragfähig ist. B e r u f können wir verstehen als tendenziell komplexes, d.h. ganzheitliches, umrissenes aber verzweigtes System von Tätigkeiten, die gesellschaftlichen Aufgabencharakter haben und zu deren Bewältigung besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse erworben und öffentlich ausgewiesen werden müssen. Die Ausübung erfolgt als Beitrag zum Sozialprodukt im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und zur Sicherung des privaten Lebensunterhaltes. Mit dem B e r u f wird zugleich gesellschaftlicher Status sowie Erfiil-
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung
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lung von Lebenssinn verbunden; letzteres allerdings nicht im ausschließlichen Sinne. Diese Definition deckt die Hauptaspekte unseres gängigen Berufsverständnisses ab. Allerdings: Wir dürfen nicht übersehen, daß der Berufsbegriff wie das realgesellschaftliche Phänomen Beruf (wenn wir es denn zu fassen bekommen) durch spezifische Gegensätzlichkeiten charakterisiert ist, nämlich durch die Trias von Abstraktem (Beruf als gesellschaftliches Tätigkeitssystem), von Konstruiertem (Ausbildungsberufe als gesellschaftspolitisches Konstrukt) und Konkretem (faktische Ausübung von Tätigkeiten als Produkt von Persönlichkeit, Ausbildung, Erfahrung, Betriebsstruktur, Wirtschaftsstruktur, Gesellschaftsstruktur, Technik und Ökonomie). Nimmt man hinzu, daß die Ausbildungsberufe nicht zugleich als Erwachsenenberufe in der Statistik der Erwachsenenberufe enthalten sind, dann leuchtet ein, daß oftmals nicht im Beruf selbst, sondern nur in sozialen Attributen und Wirkungen wie identitätsprägendem Charakter, Chancen der Bedürfnisbefriedigung, betrieblich-hierarchische Positionierung und gesellschaftliche Positionierung Relevanz für die Berufsausübenden gesehen wird. Der Beruf im klassischen Sinne ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Es fungiert als Regulativ gesellschaftlicher Interessen, Partizipation und Positionierung und es wird - folgt man den Berufsbildungstheorien - für ein Medium der Subjektbildung gehalten. Auch die an die sogenannte neue Beruflichkeit geknüpften Hoffnungen setzen außer auf Arbeitsmarktchancen auf Bildung; zumindest auf Teilelemente davon, wie Entfaltung der Persönlichkeit, Identität, Lebenssinn. Elemente, die in der ständischen Gesellschaft in der Tat über den Beruf realisiert wurden. Von daher wird einsichtig, daß es sich bei der Auffassung, Beruf könne Bildung realisieren, um eine idealistische Fortschreibung ständischer Verhältnisse handelt. Die beruflich organisierte und berufsethisch überhöhte gesellschaftliche Arbeit der ständischen Gesellschaft ermöglichte, wie gesagt, Identitätsbildung als zugleich individuelle und kollektive, als eine in Freiheit und Gebundenheit, als orientierende und verortende, nützlich tätige wie religiös überhöhte. In ihr realisierten sich Sozial-, Selbst- und Fachkompetenz, und sie war Medium gesellschaftlicher Verortung und Medium von Bildung in einem. Jenseits ständischer und jenseits totalitärer Verhältnisse ist diese Einheit jedoch längst
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
zerbrochen. Gerade dadurch wurde Subjektbildung das Thema der Moderne, wurde Bildung vor etwa 15 Jahren unter dem Druck der ökonomischen Rationalisierung und dem Schwinden von Beruflichkeit wieder Thema. Nun ist Bildung unter den Bedingungen von Demokratie stets Ausdruck und Erfordernis demokratischer Partizipation, zielt sie als Bildung der Allgemeinheit stets auf das kollektive Subjekt der Geschichte wie auf die Subjektbildung der Einzelnen. Immer beinhaltet der Anspruch der Subjektbildung die Befähigung zur innovativen Reproduktion der Gesellschaft durch Arbeit wie die tendenzielle Aufhebung der Entfremdung. Denn Entfremdung behindert die Herausbildung der Subjekthaftigkeit wie die demokratische Partizipation. Insofern nun der Beruf als vorindustrielle Kategorie jenseits des Bewußtseins von Entfremdung angesiedelt ist und nicht die Idee der gesellschaftlichen Totalität, dagegen die der Partikularität transportiert, ist er obsolet geworden. Bildungstheoretisch betrachtet kippt er - durch die Partikularität der demokratischen Gesamtöffentlichkeit und dem der Arbeit an und im gesellschaftlichen Ganzen enthoben - in die Privatheit und damit in die Halbbildung. Aus dieser Perspektive besehen, wird unseres Erachtens auch einleuchtend, daß nicht die Qualifizierung oder die Qualifikation in Opposition zur Bildung stehen, sondern die übernommene Berufsidee. Während nämlich Qualifikation eine Kategorie ist, die zur konkret menschlichen Arbeit wie zur Gesellschaftlichkeit des Humanvermögens vermittelt und damit der Substanz des Bildungsbegriffs verwandt ist, handelt es sich beim Beruf lediglich um eine gesellschaftliche Kategorie, die für Bildung zu kurz greift. Im Zwischenfeld von Bildungssystem, Ausbildung und Arbeitspraxis stoßen wir heute statt auf die Berufsfrage auf die alte Frage der quantitativen und qualitativen Passung von Theorie und Praxis, auf die Frage eines ebenso gerechten wie flexiblen Berechtigungswesens und die Frage, ob Karriereplanungen überhaupt noch und wenn, dann über berufliche Laufbahnen möglich sind. Die angewachsene Bedeutung der Assessment-Center z.B. scheint uns im übrigen hierfür ein interessantes Indiz zu sein. Sie läßt sich nämlich nicht einfach damit erklären, daß die Entscheidungsverantwortung "abgeschoben" wird oder daß so etwas wie eine perfekte Pas-
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung
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sung zwischen Stelle und Stelleninhaber hergestellt werden soll. Was die Realität der Unternehmensprozesse stattdessen abfordert, das ist, ein Bündel von Faktoren zu optimieren, worin der erlernte Beruf keinen zentralen Stellenwert mehr hat und worin die Erfahrung nicht an sich Wert besitzt, sondern nur als subjektiv verarbeitete. Was gesucht wird, das ist die "Arbeitspersönlichkeit", deren allgemeine und berufliche Qualifizierung sowie deren Erfahrung eine spezifische "Konkreszenz" hervorgebracht haben, ein Zusammenwachsen zu einer besonderen Gestalt von Kompetenz, aus der sich in Problemlösungssituationen effiziente und persönlich befriedigende Transferleistungen ergeben. Die Doppelfunktion der nachgefragten Konkreszenz liegt darin, daß die "Arbeitspersönlichkeit" durch sie fähig ist, sich selbst und ihren Aufgabenbereich samt Umfeld notwendigen Veränderungen ohne Identitätskrise zu unterziehen. Anders ausgedrückt: Auf dem überbetrieblichen und innerbetrieblichen Arbeitsmarkt sind nicht oder zumindest nicht primär Berufe gefragt, sondern Gebildete. Damit sind Menschen gemeint, die fachspezifische, soziale und personale Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten so erworben, erprobt und reflektiert haben, daß ihnen das je Allgemeine wie das Besondere ihrer Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten bewußt und gezielt zur Verfugung steht und daß sie in der Lage sind, durch Transformation des einen in das andere Problemlösungen zu bewältigen und hierzu eventuell auch gezielt neues Wissen zu adaptieren. So verstandene Bildung - d.h. sowohl die Entfaltung unserer Gattungspotentiale, unserer Gesellschaftlichkeit wie unserer Individualität, deren Realisierung in Selbst-, Sozial- und Fachkompetenz als auch das bewußte, was heißt reflektierte Verfügen darüber zum Zwecke des Handelns und Gestaltens - wird als Meßlatte übrigens nicht nur auf den oberen Hierarchieebenen angelegt. Rotationen, Verleihsysteme und teilautonome Fertigungsgruppen verlangen in dem skizzierten Sinne Bildung als Dreifachkompetenz im Fachlichen, Sozialen und Personalen auch auf der untersten Ebene der Produktion. Mit der technisch-ökonomischen Entwicklung auf wissenschaftlicher Grundlage verändern sich mit Anlagen, Prozessen und Arbeitsorganisation auch die Funktionen der Arbeitenden und, was besonders wichtig ist und die Bedeutung der Einheit von Bildung und Qualifikation signalisiert, es wechseln die Komplexitäten, in welche diese Funktionen eingebettet sind. Die nur im steten Wechsel von Analyse und Synthese zu erfassende Ganzheitlichkeit als permanent
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Dynamische ist etwas, das über den Berufsbegriff als objektbezogenen und noch dazu, wie wir gesehen haben, abstrakten Begriff nicht mehr zu fassen ist. In einer modernen, praxisgerechten Ausbildung wird der Berufsbezug durch Wissenschaftsbezug einerseits und Tätigkeitsbezug andererseits ersetzt. Für die Weiterbildung heißt dies, daß sie außer Anpassungsqualifizierung neuartig etwas entwickeln müßte, was wir mangels eines besseren Begriffs "Transformationsqualifikation" nennen möchten. Mit ihr müßte das angezielt werden, was der Notwendigkeit entspricht, Funktionen und Umfelder ständig neu interdisziplinär zu korrelieren, um Veränderungsprozessen adäquat zu begegnen.
7.2.4
Zur Didaktik arbeitsorientierter dung
Erwachsenenbil-
Didaktik als Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens wird hier in einem sehr weiten Sinne verstanden. Sie schließt die Konstruktion von Curricula ebenso ein wie das Zwischenfeld von Politik und Pädagogik, auf dem Bildungsziele ausgehandelt werden. In diesem weiten Verständnis meint Arbeitsorientierung die Gesamtqualifikation der Menschen für alle Lebensbereiche. Dies soll nicht heißen, daß qualifikatorisch jederzeit und überall alles zu bieten wäre, daß jede Institution des Bildungswesens, jede einzelne Unterrichtsstunde sozusagen ein Gesamtbildungssystem im kleinen zu sein hätte. Wohl aber heißt es, Spaltungen zu entgehen, die gerade die Erwachsenenbildung immer wieder belastet haben. Es sind dies die Spaltung nach Berufsbildung, Allgemeinbildung und politischer Bildung sowie nach Bildung und Qualifizierung bzw. Qualifizierung und Aufklärung. Die Auflösung dieser falschen, die pädagogische Professionalität wie den Erfolg der Bildungsinstitutionen belastenden Polarisierungen liegen didaktisch in der Exemplarik. Mit Exemplarik ist nicht gemeint, daß zwecks Stoffreduktion lediglich an ausgewählten oder herausragenden Fällen gearbeitet wird. Zwar wird das Wort "exemplarisch" immer wieder in diesem Sinne benutzt. Es leitet sich aber nicht von Exemplar ab, sondern es entstammt dem wissenschaftlichen Exemplarismus. Diesem geht es um etwas ganz anderes als um Beispiele, nämlich um das Verhältnis von innewohnendem Wesen und Erscheinung sowie um die Dialektik von Teilen und Ganzem. Das macht verständlich, daß Exempla-
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rik auf Wissens- und Erkenntnisnetzwerke zielt, bei denen sich die Elemente von Qualifizierung und Aufklärung, Beruflichem und Allgemeinen, Individuellem und Gesellschaftlichem auf vielfältige Weise verknoten. Der Umgang mit solchen "Verknotungen", besser mit "Implikationen" ist in der Pädagogik schon seit der Antike üblich. Besonders gut kann man es an der Mäeutik des Sokrates studieren. Implikationen bezeichnen das latente und manifeste Ineinanderenthaltensein von Sachverhalten, die sich in ihrer Existenz wechselseitig bedingen, konstituieren und durchdringen und die vor allem durch eine gemeinsame Konstitutionslogik verbunden sind. In der Geschichte der Bundesrepublik lassen sich historisch drei Ansätze für Exemplarik ausmachen, nämlich die geisteswissenschaftliche Exemplarik (vgl. die Darstellung bei Gerner 1963), Negts Theorie der Arbeiterbildung (vgl. Negt 1975) und die Arbeitsorientierte Exemplarik von Lisop/Huisinga (vgl. Lisop/Huisinga 1994). Lisop/Huisinga haben erstmals Instrumentarien entwickelt, mit deren Hilfe Implikationen didaktisch aufgeschlüsselt und Lehr-/ Lernprozesse so strukturiert werden können, daß sich subjektbezogen Erkenntnis-Implikationen herauskristallisieren. Wesentlich für die Arbeitsorientierte Exemplarik ist, daß einerseits der Gesellschaftliche Implikationszusammenhang als Relevanzfeld zu berücksichtigen ist, und zwar mit Korrelationen zwischen Bewußtseinsformen (gesellschaftlich vorhandene Wissensbestände und -systeme, Denkformen, Urteilsmuster, Mentalitäten usf.), Verkehrsformen (Praktiken der Lebensbewältigung, aber auch der verbalen und nonverbalen Kommunikation) und Produktionsformen (institutionalisierte Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion). Andererseits ist in den Blick zu nehmen, daß mit dem Gesellschaftlichen Implikationszusammenhang das anthropologische System der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse verschränkt ist. Arbeitsorientierter Exemplarik geht es folglich um die (dialektische) Einheit von Bildung und Qualifizierung, Aufklärung und Training, von allgemeinem, erwerbsarbeitsbezogenem und politischem Wissen und Können.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
Wir können hier nicht auf die Details der arbeitsorientierten Exemplarik eingehen, sondern nur nochmals auf die Originalausgabe (vgl. Lisop/Huisinga 1994) verweisen. An dieser Stelle sei dagegen noch ein Aspekt polarisierenden und separierenden didaktischen Denkens aufgegriffen, der quer zur Entgegensetzung von Berufsbildung und Allgemeinbildung bzw. Bildung und Qualifizierung liegt. Es ist die Rolle der Fachkompetenz als Garant von Qualitätsarbeit, internationaler Konkurrenzfähigkeit und Lebensqualität, was alles durch "bloßen" Arbeitsbezug nicht zu erreichen sei. Das folgende Beispiel mag illustrieren, welche Klischees und Fehleinschätzungen und welche falschen Entgegensetzungen der arbeitsorientierten Bildung immer wieder entgegengestellt werden (vgl. Lisop 1995).
7.2.5
Bildung und Fachkompetenz jenseits von Beruflichkeit - eine Skizze
Zweifelsohne verband sich und verbindet sich mit der Verberuflichung auch das gesamtgesellschaftliche Interesse an Kompetenzsicherung und Kompetenzkontrolle der Berufsausübenden. Es ging dabei um den Schutz von Leib und Leben, von körperlicher und geistiger Gesundheit, von Unversehrtheit der dinglichen Welt und der Natur seitens derer, für welche die Berufsausübenden arbeiten. Aus diesem Schutzbedürfnis der Allgemeinheit resultieren die Ausbildungsregelungen und die öffentlich geregelten und kontrollierten Berufsabschlüsse. Nun wird das skizzierte Schutzbedürfnis seit längerem über die Haftung gelöst. Dabei verschiebt sich die Grundlage der Gewährleistung von der Beruflichkeit in die konkrete Arbeit. Sie nimmt dort viel breitere Dimensionen an, weil z.B. Fragen der Anlagensicherung, der Organisation von Kontrolle u.a.m. hinzutreten. Das, worum es geht, ist dann insgesamt zwar mit dem Begriff professionell, nicht aber mehr mit "beruflich" zu fassen. Vom Aspekt der Haftung her kann man gut erkennen, wie konstruiert die Entgegensetzung von Bildung und Qualifikation oder von Beruf und Arbeit ist, wenn man sich auf die Ebene der konkreten Arbeit begibt. Hier nun das Beispiel:
Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung
633
Vor dem Serienanlauf eines neuen Produktes wird dieses einem besonders differenzierten und strengen Wasser- bzw. Feuchtigkeitstest unterzogen, um eventuelle undichte Stellen oder Problemzonen zu finden. Dabei zeigt sich in dem Fall, den wir hier schildern, ein gehäuftes Auftreten von losen Elementen, die relativ großflächig sind. Die Teststelle geht davon aus, daß in der Montage Teile zu Bruch gingen oder daß Passungsprobleme auftraten, kurz daß Elemente ausgewechselt werden mußten und daß dies nicht ordnungsgemäß erfolgte. Die Montage verweist auf Fehler im vorgelagerten Bereich. Dieser erhält das Problem kommuniziert, und zwar von der Teststelle, bei der das Phänomen lose Elemente akut wurde. Da man überrascht ist, geht man vor Ort in die Teststelle. Dort zeigt sich, daß bei einem bestimmten Farbtyp sich ganze Lackstreifen lösen und die Elemente lockern, wenn diese Druck erfahren. Ein dramatischer, hochgefährlicher Mangel, wenn man an die möglichen Folgewirkungen durch einen Unfall denkt. Die verantwortlichen Meister, die eine neue Spezifikation, d.h. eine Pflichtauflage im Prozeß des Lackierens übersehen hatten, nahmen die Angelegenheit erstaunlich gelassen zur Kenntnis. Zwar wurde sofort die spezifische Ursache für den Mangel beseitigt. Aber emotionale Regungen waren genauso wenig festzustellen wie Versuche, etwaige strukturelle Fehlerquellen zu eliminieren. Mit Fehlern müsse man leben. Wichtig seien hervorragende Sicherungssysteme, und die hätten ja funktioniert. - Eine professionelle Reaktion? Ein Resultat angemessener Qualifizierung; ein Ausdruck davon, daß Weitsicht nicht mehr erforderlich ist? Wir sind auf das Gebiet von Einstellungsmustern, Haltungen, Mentalitäten, Arbeitstugenden und Motivationen geraten und damit auf ein Feld, auf dem sich Bildung und Qualifikation gleichsam natürlich verschränken, nämlich über Emotionalität, Bewußtseinshorizonte und Ethik. Haftung ist ja einerseits ein juristisches und ein ökonomisches Problem; andererseits eines, das auf ethischen Entscheidungen im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Belange basiert. Sind diese im Bewußtseinshorizont, präsentieren sich Arbeitstugenden wie Umsichtigkeit, Genauigkeit, Verantwortungsbewußtsein, die in unserem Beispiel ja eine Rolle spielen, anders, als wenn nur das partikulare Unternehmensinteresse an wenig Ausschuß und an Vermeidung von Haftungskosten, als wenn nur die eigene Ungeschorenheit oder die institutionalisierten Sicherungswege
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
im Hinterkopf sind. Kompetenz als Ausdruck von Bildung, speziell Sozialkompetenz als die Fähigkeit, im kommunikativen und interaktiven Kontext Verantwortung für soziale Belange zu übernehmen, läßt sich ohne das Element des Bewußtseins unserer Gesellschaftlichkeit, so scheint es, nicht übernehmen. Verantwortung - die ja etwas anderes ist als lückenloser Gehorsam - läßt sich demnach wohl nur über Bildung realisieren. Bildung als Bewußtsein wie als Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft weist somit immer über die begrenzte Situation und über die Fachkompetenz hinaus. Aus dem Zusammenhang der auf die Gesellschaftlichkeit unserer Existenz verweisenden Subjektbildung betrachtet, erscheint so die Opposition von Bildung und Qualifikation künstlich, d.h. definitorisch hergestellt. Denn: nichts spricht dafür, daß der Begriff der Qualifikation auf eng situative, eng technizistische Ausfuhrungsbelange beschränkt werden muß. Lebensbewältigung mittels Qualifizierung war und ist stets mehr als operatives Ausfuhren. Wer dies nicht zu sehen vermag, fraktioniert unsere Existenz in eine Seite weniger wertvoller, weil notwendiger Erfordernisse und Aktivitäten und eine, in der sich - so die suggestive Wirkung - wahre Menschlichkeit (erst) jenseits der existenzsichernden und sie gestaltenden Arbeit realisiere. Historisch besehen läßt sich diese Auffassung als Ausdruck der Einheit von Bildung und Herrschaft charakterisieren. Anders ausgedrückt: Bildung, in ihrem Ursprung Qualifikation der Herrschenden, transportiert das Bewußtseinselement der Autonomie und Freiheit. Wenn man aber - unter demokratischen Verhältnissen dieses Moment von Autonomie und Freiheit der Qualifikation abspricht, wird eine Spaltung nach Freiheit und Herrschaft einerseits, Arbeit und Unfreiheit andererseits hergestellt, die Arbeit a priori zur entfremdeten macht. Bildung und Qualifikation bilden im Prozeß ihrer Entäußerung durch Arbeiten und Reflektieren realiter jedoch stets eine Einheit, wie rudimentär auch immer. Dieser Einheit zur vollen Entfaltung zu verhelfen, ist die Aufgabe einer am Ethos der Subjektbildung orientierten arbeitsorientierten Pädagogik und ihrer entsprechenden didaktischen Professionalität (vgl. Lisop/Huisinga 1994). Nicht die Qualifikation ist minderwertig. Beschränkt ist vielmehr eine Pädagogik, die Fachidiotentum hervorbringt. Wer heute über den Zusammenhang von Bildung und Qualifikation nachdenkt, stößt auf den Begriff der Schlüsselqualifikation. Sein Gebrauch (nicht sein ursprünglicher Sinn) ist an die Stelle des-
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sen getreten, was früher mit Arbeitstugenden und extrafunktionalen Qualifikationen bezeichnet wurde. Im Zuge der emanzipatorischen Erziehungswissenschaft und ihrer Intention kritischer Aufklärung ist das Nachdenken über Ethik, Arbeitsmoral, Tugenden und extrafunktionale Qualifikationen in den Verdacht konservativer Intentionen geraten. Bei allem, was an solchem Verdacht berechtigt gewesen sein mag und noch berechtigt ist, wurde aber etwas Wesentliches übersehen: Und das ist der in den Tugenden immer auch enthaltene Aspekt der Solidarität und Verantwortung, ohne die z.B. Autonomie und Freiheit sich nur als Anarchie verwirklichen ließen. Da nun Subjektbildung per definitionem auf Autonomie und Gestaltung in der Gesellschaftlichkeit zielt, kann sie auf Ethik und Tugenden nicht verzichten. Sie kippt sonst in die bloße Individualität bzw. in die bloße Subjektivität und den damit verknüpften Hedonismus. Anders ausgedrückt, sie fällt zurück in Bewußtseinsformen des Frühkapitalismus und des frühkapitalistischen Liberalismus. Das heißt, sie wird reaktionär, insofern diese Art der Re-Aktion den Anschluß an die aktuellen Möglichkeiten neuer Vergesellschaftung verspielt. Auf die aktuelle, weltweite Entwicklung der sogenannten schlanken Produktion bezogen, heißt dies, daß der Blick einzel- bzw. betriebswirtschaftlich verengt bleibt und bezogen auf die Menschen nur deren Freisetzung von Arbeitsplätzen sieht. Fragen einer epochalen Neugestaltung von Systemen, um Arbeit, Frieden, soziale und ökologische Sicherheit zu gestalten, werden dann nicht mehr gedacht oder nur in bezug auf wenige Experten statt in bezug auf die Veränderung und Anhebung der Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz der Allgemeinheit und ihre aktive Mitwirkung an der Gestaltung der Gesellschaft als Ganzes. Genau hierauf aber zielt die Idee der Arbeitsorientierung in der Bildung, hierauf zielt die arbeitsorientiert exemplarische Professionalität von Erwachsenenbildung.
Zitierte Literatur: GERNER, B. (1963): Das exemplarische Prinzip. Beiträge zur Didaktik der Gegenwart. Darmstadt. LISOP, Ingrid (1995): Neue Beruflichkeit - berechtigte und unberechtigte Hoffnungen. In: ARNOLD, R.: Betriebliche Weiterbildung zwischen Bildung und Qualifizierung. Frankfurt/M.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
LISOP, Ingrid / HUISINGA, Richard (1994): Arbeitsorientierte Exemplarik. Theorie und Praxis subjektbezogener Bildung. Frankfurt/M. NEGT, Oskar (1975 5 ): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt (1971).
Weiterführende Literatur: FISCHER, Andreas / HARTMANN, Günter (Hrsg.) (1994): In Bewegung. Dimensionen der Veränderung von Aus- und Weiterbildung. Bielefeld. LISOP, Ingrid / HUISINGA, Richard (1994): Arbeitsorientierte Exemplarik. Theorie und Praxis subjektbezogener Bildung. Frankfurt/M. STRUNK, Gerhard (1988): Bildung zwischen Qualifizierung und Aufklärung. Bad Heilbrunn.
7.3
Lernen im Prozeß der Arbeit Walter Georg
7.3.1
Arbeit und Lernen in der Erziehungswissenschaft
637
7.3.2
Persönlichkeitsentwicklung und lernförderliche Arbeitsgestaltung
639
7.3.3
Veränderung der Arbeitsstrukturen
643
7.3.4
Qualifizierung und betriebliche Organisationsentwicklung
646
7.3.5
Modelle des Lernens im Arbeitsprozeß
650
7.3.6
Schlußbemerkungen
654
Zitierte Literatur
656
Weiterführende Literatur
659
7.3.1
Arbeit und Lernen in der Erziehungswissenschaft
Die tatsächliche Dominanz des Arbeitsplatzes als Lernort in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung blieb in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion lange Zeit weitgehend unbeachtet, obwohl die Erziehungswissenschaft nach ihrem Selbstverständnis immer schon auf Probleme pädagogischer Praxis, also auf die Ziele, Inhalte und Methoden des Lernens in all seinen Erscheinungsformen bezogen war. Dieser Widerspruch hängt zum einen zusammen mit der Dominanz geisteswissenschaftlicher Tradition, in der die pädagogische Realität vorwiegend durch die hermeneutische Auslegung pädagogischer Texte und nicht durch methodisch kontrollierte Beobachtungen erschlossen wurde, zum anderen mit den ideologischen und realen Schwierigkeiten, den BildungsbegrifF mit dem Anspruch auf Befreiung des Menschen aus fremdbestimmten Unterwerfungsansprüchen auf den Bereich der Arbeit, vor allem der industriellen Arbeit, zu beziehen. Die gemeinsame Verpflichtung der Erziehungswissenschaft auf den Bildungsbegriff bedeutet ja immer auch den Versuch, Zwänge und Beeinträchtigungen menschlicher Entfaltungschancen zu erfassen und über deren Aufklärung einen Beitrag zur Abschaffung von Entwicklungsbehinderungen zu leisten. Die
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
Ausklammerung der realen Arbeitswelt aus der inhaltlichen Definition von Bildung und der Rückzug in die Innerlichkeit bedeutete letztlich das Eingeständnis der Ohnmacht, pädagogische Ansprüche auf eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung gegen die Prozesse der Entfremdung, Funktionalisierung und Partialisierung des Menschen in der industriellen Arbeit durchzusetzen. Das hatte zur Folge, daß industrielle Arbeit lange Zeit als eine Art "pathogener" Bereich aus den Theorien und Reflexionen der Erziehungswissenschaft ausgeklammert blieb. Das gilt selbst für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die sich lange Zeit darauf beschränkte, methodisch-didaktische Probleme beruflichen Lernens in Schulen zu ihrem Gegenstand zu machen, und kaum einen Zugang zum Bereich der realen betrieblichen Qualifizierung und Arbeit suchte. Soweit der Zusammenhang von Arbeit und Lernen thematisiert wurde, blieb die "klassische" Berufsbildungstheorie eher der Vorstellung von einer "heilen", bildungsträchtigen Arbeitswelt und der Orientierung an einem verklärten Handwerksmodell beruflicher Arbeit verhaftet, verknüpft mit einer auf Verinnerlichung abgehobenen Berufs- und Bildungsauffassung unter Betonung moralischer Kategorien und Arbeitstugenden. Dagegen bemühten sich die ersten Ansätze einer eigenständigen auf industrielle Arbeitsprozesse bezogenen Arbeitspädagogik um eine wechselseitige Anpassung von Mensch und Arbeit: Einerseits geht es darin um die Entwicklung von geeigneten Anlernverfahren und Motivationstechniken zur Verbesserung der Arbeitsleistung, andererseits um eine Gestaltung der Arbeitsorganisation, die in ihre Überlegungen die psychischen Voraussetzungen des Menschen einbezieht und das Individuum als "ganzheitliche" Person für die Bewältigung der Arbeitsaufgaben zu nutzen versucht. Die Kritik der Arbeitspädagogik an Taylors Konzept "wissenschaftlicher Betriebsfuhrung" und ihr Anspruch, die technologische durch eine anthropologische Betrachtung des Arbeitsprozesses zu ersetzen, mündete letztlich in der ökonomischen Argumentation, daß die Berücksichtigung menschlichen Arbeitsvermögens dazu beitrage, Arbeitsprozesse effektiver zu machen. Arbeitspädagogik verstand sich vor allem als Sozialtechnologie und Hilfswissenschaft für Rationalisierungsexperten (vgl. Georg/Sattel 1985).
Lernen im Prozeß der Arbeit
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An der Entwicklung von allgemeiner Erziehungswissenschaft einerseits und von Arbeitspädagogik andererseits wird der Grundwiderspruch deutlich, der das traditionelle Dilemma des erziehungswissenschaftlichen Umgangs mit dem Thema "Lernen im Prozeß der Arbeit" ausmacht: Jede (Arbeits-)Pädagogik, die sich der Optimierung von Lernprozessen für die Erfüllung vorgegebener Arbeitsaufgaben widmete, setzte sich dem Verdacht aus, pädagogische Normen zu verraten; andererseits setzte sich jeder Versuch, diese Normen zum Maßstab der Bewertung von betrieblichen Arbeits- und Lernprozessen zu machen, dem Ideologieverdacht aus und blieb damit praktisch irrelevant. Erst mit der "realistischen Wende" der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und ihrer Öffnung gegenüber benachbarten Disziplinen wie der Arbeitspsychologie, der Industriesoziologie oder der Arbeitswissenschaft gerieten zunehmend Fragen der Persönlichkeitsentwicklung im Prozeß der Arbeit ins Blickfeld und damit auch Fragen nach den Möglichkeiten pädagogisch begründbarer, qualifikationsgerechter, lernförderlicher Arbeitsgestaltung.
7.3.2
Persönlichkeitsentwicklung und lernförderliche Arbeitsgestaltung
Obwohl das quantitative Gewicht beruflicher Arbeit an Alltag und Lebenszeit abgenommen hat, sind die im betrieblichen Arbeitsprozeß gemachten Erfahrungen noch immer das wichtigste Medium der Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen. Der Aufbau von Kompetenzen findet also nicht nur und auch nicht in erster Linie in Form der Vermittlung spezifischer Qualifikationen in geplanten betrieblichen und außerbetrieblichen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen statt, sondern insbesondere als Prozeß arbeitsimmanenter Qualifizierung und Sozialisation in der Arbeitstätigkeit selbst. Die Art der Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Bedingungen des betrieblichen Arbeitsprozesses und das Ausmaß der Möglichkeiten, darauf aktiv Einfluß zu nehmen, bestimmen weitgehend die Art und das Ausmaß der Realisierung und Erweiterung fachlicher Kompetenzen und verinnerlichter normativer Orientierungen in bezug auf das Arbeitshandeln im Betrieb. Sie beeinflussen darüber hinaus auch die Art der Wahrnehmung von und die Reaktion auf Problemlagen, das Selbstverständnis, das Handeln und Verhalten außerhalb des beruflichen Handlungsfeldes. Konsumgewohnheiten,
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Umgangsformen, Freizeitbeschäftigungen, politische Interessen und Aktivitäten stehen in engem Zusammenhang mit den Handlungsund Erlebnisweisen beruflicher Arbeit (vgl. Bamme/Holling/Lempert 1983). Restriktive Arbeitsbedingungen mit begrenzten Handlungsspielräumen und repetitiven Tätigkeiten beschneiden auch in anderen Lebensbereichen die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Handlungsalternativen. Dieser Hinweis auf den "langen Arm der Arbeit" (Volpert 1985, S. 205 f.) bedeutet jedoch nicht die einseitige und unmittelbare Determination von Persönlichkeitseigenschaften durch betriebliche Arbeitsstrukturen. Betriebliche Sozialisation ist vielmehr ein Interaktionsprozeß zwischen Arbeit und Person. Die Formen von Erwerbstätigkeit und betrieblicher Arbeit und deren Qualifizierungs- und Sozialisationseffekte werden ihrerseits auch beeinflußt von den vorund außerberuflich erworbenen inhaltlichen Ansprüchen, welche die Individuen gegenüber den Arbeitsverhältnissen entwickeln (vgl. Heinz 1993). Diese "normative Subjektivierung der Arbeit" (Baethge 1991) drückt sich heute zunehmend in der Suche nach sinnstiftender, kommunikativer, verantwortungsvoller und abwechslungsreicher Erwerbsarbeit aus, nach einer Arbeit, die Selbstregulierung und Kompetenzerweiterungen ermöglicht und mit den Ansprüchen an das Privatleben vereinbar ist. Solche Erwartungen sind um so intensiver, je besser die Arbeitskräfte ausgebildet und je qualifizierter ihre Arbeitsaufgaben sind. Verhaltensweisen, Interessen und Orientierungen innerhalb und außerhalb der Arbeit werden also nicht direkt durch Arbeitsanforderungen und -Situationen geprägt, sondern entwickeln sich über deren Interpretation durch die Beteiligten, in die auch subjektive Motive und Handlungskompetenzen einfließen. Die Einsicht in die bewußtseinsbildenden, persönlichkeitsfördernden, aber auch -deformierenden Auswirkungen betrieblicher Arbeitsprozesse begründen die Forderung nach Konzepten einer "Persönlichkeits-" bzw. "lernforderlichen Arbeitsgestaltung". Als zentrale Bewertungskriterien einer Arbeitstätigkeit als mehr oder weniger Persönlichkeits- oder lernförderlich gelten die Vollständigkeit einer Arbeitsaufgabe (-> 1.2.3.1) und die Höhe der Regulationserfordernisse zur Aufgabenbewältigung (vgl. Volpert 1987). Im Modell der Handlungsregulationstheorie erfolgt Lernen im Zuge hierarchisch-sequentiell gegliederter Handlungsfolgen mit dem Effekt, daß durch Übung und Gewöhnung erworbene Fertigkeiten
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habitualisiert werden und dadurch den Handelnden kognitiv entlasten. Dabei wird zwischen drei hierarchisch geordneten Regulationsebenen des Handelns unterschieden: Auf der untersten sensumotorischen Regulationsebene werden relativ gleichförmige Anforderungen mit weithin automatisierten Handlungsabläufen erfüllt. Auf der mittleren, der perzeptiv-begrifflichen Regulationsebene werden Varianten von Situationen mit entsprechenden Varianten von Handlungen beantwortet. Dabei kommt es darauf an, die jeweiligen Bedingungen der Situation zu identifizieren und flexible Handlungsmuster diesen Bedingungen anzupassen. Auf der höchsten, der intellektuellen Regulationsebene werden schließlich Pläne bis hin zu langfristigen Strategien entworfen und durch komplex aufgebaute Handlungsfolgen verwirklicht. Dabei werden die Bedingungen, Abläufe und Resultate der eigenen Handlungen vorweggenommen und während und nach der jeweiligen Handlung ständig überprüft. Diese drei Regulationsebenen des Handelns wirken in der Weise zusammen, daß die jeweils unteren Ebenen so viel Aufgaben wie möglich übernehmen, damit die intellektuelle Regulationsebene weitgehend frei wird für die Bewältigung neuartiger und komplexer Probleme. Dieser Effekt tritt dann auf, wenn relativ gefestigte, "eingefahrene" Handlungs- und Lernmuster zum Einsatz kommen, die nicht mehr unbedingt bewußtseinspflichtig sind. Dadurch wird es dem Lernenden möglich, die ursprünglich komplexen Anforderungen zu einer Einheit zusammenzufassen, seine Aufmerksamkeit gegenüber Teilhandlungen zu entlasten und sich auf neue, höhere Anforderungen zu konzentrieren (vgl. Volpert 1979). Lernen bedeutet in Anlehnung an dieses Handlungsmodell, daß der Handelnde seine eigenen Handlungsprogramme im Hinblick auf die gesetzten Ziele optimiert und möglichst effektiv gestaltet. Voraussetzung dafür ist, daß er die Regeln und Prinzipien seines Handelns durchschaut. Das Erlernen von Handlungsfähigkeit erfolgt also nicht durch die Aneignung und Speicherung aller notwendigen Handlungsketten, die dann im Bedarfsfall abgerufen werden, sondern durch das Erlernen abstrakter Elemente und Regeln zum Entwurf und zur Umsetzung realistischer Handlungen, die auf andere oder neue Situationen und Anforderungen übertragen werden können. Handlungskompetenz läßt sich dann verstehen als die Fähigkeit, realistische Handlungspläne zu entwickeln und umzusetzen.
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
Damit liefert dieses Konzept einen Maßstab für die Bewertung von Arbeitsprozessen als Lernprozesse. Die Entwicklung von Handlungskompetenz wird durch vollständige Arbeitsaufgaben gefördert, die dem Arbeitenden die Möglichkeit zur Selbstregulierung der Arbeitstätigkeiten erlauben. Im Konzept der Handlungstheorie zählen zu einer vollständigen Arbeitsaufgabe (vgl. Ulich 1992, S. 92; Volpert 1987) -
das selbständige Setzen von Zielen (üblicherweise eingebettet in übergeordnete Ziele), selbständige Handlungsvorbereitungen im Sinne von Planung, Auswahl der Mittel zur adäquaten Zielerreichung, Ausfuhrung mit Feedback zur Handlungskorrektur, Kontrolle mit Resultatfeedback und der Möglichkeit, das Handlungsergebnis auf Übereinstimmung mit den gesetzten Zielen zu überprüfen.
"Vollständige" Arbeitsaufgaben in diesem Sinne werden sich häufig nicht an individuellen Arbeitsplätzen realisieren lassen, sondern nur als Aufgabenstellung an eine Arbeitsgruppe mit der Möglichkeit gruppeninterner Rotation und aufgabenorientierten Informationsaustausches. Eine möglichst weitgehende Einflußnahme der Gruppe auf die Gestaltung der Arbeit setzt ein hohes Maß an Selbstregulation innerhalb der Arbeitsgruppe voraus. Damit verbunden ist das Erfordernis flacher Hierarchien und einer Dezentralisierung der betrieblichen Organisationsstrukturen. Vor diesem Hintergrund gilt, daß ein Arbeitsplatz mit lediglich immer wiederkehrenden, motorisch auszuführenden Tätigkeiten keine gedankliche Durchdringung des Gesamtprozesses verlangt und somit die Entwicklung von Handlungskompetenz erschwert. Wenn die Planung und Kontrolle von der Ausfuhrung der Arbeitsaufgabe organisatorisch getrennt wird, bleiben die Möglichkeiten zum Entwurf planender Strategien beschränkt. Arbeitsplätze und Arbeitsstrukturen müßten danach so gestaltet werden, daß sie den Einsatz der individuell vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht behindern und einengen, sondern deren Weiterentwicklung durch die Bereitstellung von Handlungsspielräumen ermöglichen. Damit werden die herkömmlichen Konzepte von (tayloristischer) Arbeitsteilung und funktionalen Organisationsstrukturen in Frage gestellt.
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Allerdings bleibt in diesem Konzept der Handlungstheorie die Persönlichkeitsentwicklung zunächst weitgehend auf den Aspekt der kognitiven Kompetenz beschränkt. Die Persönlichkeitsförderung durch Arbeitstätigkeiten hängt aber darüber hinaus auch von den Möglichkeiten der Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen und von der Berücksichtigung der individuellen Dimensionen der Arbeitsmotivation ab. Durch die Veränderung von Arbeitsstrukturen können z.B. auch die erlebbare Solidarität, das persönliche Selbstwertgefühl, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, das Gefühl für Gerechtigkeit oder die Fähigkeit zur Kooperation gefördert werden (vgl. Ulich 1992). Das gilt um so mehr, wenn die Veränderung von Tätigkeiten mit der Veränderung der organisatorischen Strukturen unter Beteiligung der Beschäftigten verknüpft wird. Die Wahrnehmung der Veränderbarkeit und die gemeinsame Entscheidung über Veränderungen sind neben dem Angebot objektiver Handlungsspielräume wichtige Voraussetzungen dafür, daß Qualifizierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Deren Nutzung setzt die subjektive Gewißheit voraus, daß damit letztlich auch ein Beitrag zur Verbesserung der eigenen Arbeitssituation verbunden ist. Vor allem die im Zusammenhang mit dem Programm zur "Humanisierung des Arbeitslebens" entwickelten Konzepte betonten diesen Zusammenhang von partizipativer Arbeitsgestaltung und Qualifizierung (vgl. z.B. Fricke 1975; Georg/ Kißler 1981; Frei/Duell/Baitsch 1984; Georg/Kißler/Sattel 1985).
7.3.3
Veränderung der Arbeitsstrukturen
Betriebliche Rationalisierungsbemühungen richten sich gleichermaßen auf den Einsatz produktivitätssteigernder Technik wie auch auf Maßnahmen der Organisation menschlicher Arbeit. Im Zentrum des traditionellen, aus der hochindustrialisierten Massenfertigung hervorgegangenen Rationalisierungskonzepts stand die Forcierung der Arbeitsteilung mit den Folgen einer Polarisierung von Kopf- und Handarbeit und einer mit der Zentralisierung von Arbeitssteuerung und -kontrolle verbundenen weitgehenden Entmündigung der Arbeitskräfte. Darüber hinaus war der zunehmende Einsatz von Technik in Form der Mechanisierung und Automatisierung lange Zeit an standardisierte Produktionsprozesse und starre Formen der Arbeitsorganisation gekoppelt, d.h. die organisatorische Flexibilität ei-
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nes Unternehmens war bei steigendem Technisierungsgrad rückläu% Dagegen wurden mit der rasanten Verbreitung der Mikroelektronik Automation und betriebliche Flexibilität 2x1 kompatiblen Größen. Für die Unternehmen entstehen neue strategische Optionen, die sich gleichermaßen auf die Gestaltbarkeit von Produkten und Produktionsverfahren, Technikeinsatz, Arbeitsorganisation und Qualifizierung beziehen. Während technisch-organisatorische Rationalisierung über viele Jahrzehnte bedeutete, ausführende Arbeit in Einzelverrichtungen aufzusplittern und möglichst restriktiv zu organisieren, werden solche tayloristischen Konzepte der Arbeitszerlegung nicht mehr nur unter dem Aspekt einer "Humanisierung der Arbeit" oder einer "Sozialverträglichkeit" der Technikgestaltung, sondern insbesondere auch aus ökonomischer Perspektive kritisiert. Arbeitszerlegung hat den Mythos des Fortschritts verloren. Der traditionelle Gegensatz von ökonomischer Effizienz und Entfaltungsmöglichkeit menschlicher Fähigkeiten scheint sich zu relativieren. Dieser arbeitspolitische Paradigmenwechsel wurde vor allem mit dem Begriff der „neuen Produktionskonzepte" umschrieben (vgl. Kern/Schumann 1984). Er verweist darauf, daß die betriebliche Arbeitspolitik in den Kernsektoren der großindustriellen Fertigung wieder verstärkt auf einen ganzheitlichen Zuschnitt von Arbeitsaufgaben und die fachliche Souveränität der Arbeitenden setzt. Dezentrale Arbeitsorganisation und horizontal integrierter Aufgabenzuschnitt sind die wesentlichen Charakteristika der neuen Produktionskonzepte. Vorher getrennte Aufgaben werden zu integrierten Arbeitsplätzen zusammengelegt; menschliche Arbeit wird durch steigende Komplexität der Aufgaben und durch zunehmend notwendiges Organisationswissen aufgewertet. Die Trennung in werkstattexterne Planung und Disposition einerseits und kompetenzarme Ausführung andererseits verliert zugunsten einer produktiven Nutzung des Erfahrungswissens am Arbeitsplatz an Bedeutung. Eine Schlüsselfigur bei der Wiedereinführung und Verankerung von Produktionsintelligenz ist ein Produktionsfacharbeiter neuen Typs, den Schumann u.a. idealtypisch als "Systemregulierer" kennzeichnen (vgl. Schumann u.a. 1990). Zu dessen Aufgabenspektrum gehören neben der Inbetriebnahme, Überwachung und
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Regulierung kompletter technischer Systeme auch (zumindest partiell) deren Wartung und Instandhaltung, die permanente Qualitätskontrolle und die Vorbereitung der eigenen Arbeit - bis hin zu eigenständigen Beiträgen zur Produktverbesserung und Prozeßoptimierung. Die Funktion des Systemregulierers besteht also insgesamt aus der Gewährleistung des komplexen Produktionsprozesses und der Optimierung der automatisierten Abläufe. Damit verbunden sind höhere Anforderungen an selbständiges Problemlösungsverhalten, an Teamfähigkeit, an Flexibilität und Mobilität, an ein Denken und Handeln in vernetzten Systemen und an die Übernahme von Verantwortung. Auch wenn innerhalb der industriesoziologischen Diskussion die empirische Reichweite der neuen Produktionskonzepte und der faktische Autonomiegrad des Systemregulierers umstritten sind, so wird der damit angedeutete generelle Trend zu einer Requalifizierung der Erwerbsarbeit dennoch kaum mehr in Frage gestellt. Allerdings wird dieser Trend begleitet von einer verschärften Arbeitsmarktsegmentation, die einen großen Teil der Erwerbspersonen von den betrieblichen Kernsektoren mit qualifizierten und relativ sicheren Arbeitsplätzen ausschließt. Ahnlich wie in den Kernsektoren der industriellen Produktion haben sich auch im stark expandierenden Bereich der Dienstleistungsberufe die arbeitsorganisatorischen Gestaltungspielräume vergrößert. Mit der Vernetzung von Datenverarbeitung und Textverarbeitung und der Dezentralisierung durch Terminals können vorher getrennte Arbeitsgänge zu komplexen Sachbearbeitertätigkeiten integriert und repetitive Tätigkeiten weitgehend eliminiert werden. Die Entlastung von Routine- und Kontrolltätigkeiten durch die Datenverarbeitung eröffnet Freiräume für die Übernahme kommunikativer entscheidungs- und problemorientierter Funktionen. Über Terminals am Arbeitsplatz werden jedem Sachbearbeiter alle gespeicherten Informationen verfugbar; das vergrößert seinen Handlungsspielraum. Durch die Einbindung in ein System von Kommunikation und Selbststeuerung gewinnen intellektuelle und soziale Qualifikationsmomente an Bedeutung. Aber auch hier gilt, daß für einen Teil der Beschäftigten durch die systemorientierten Rationalisierungsprozesse die Arbeitsmarktrisiken deutlich steigen (vgl. Baethge/ Oberbeck 1986). Natürlich bedeuten die neuen Produktionskonzepte mit der Folge veränderter Formen von Arbeitskraftnutzung nicht den Abschied
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von den Interessen privater Kapitalverwertung. Im Gegenteil: Sie zielen auf eine möglichst effektive Nutzung menschlicher Arbeitskraft, die über einen erweiterten Zugriff auf das Arbeits- und Leistungsvermögen und die umfassende Aktivierung menschlicher Problemlösungspotentiale Produktivitäts- und Rationalisierungsvorteile sichern soll. In die arbeitspolitischen Strategien gehen deshalb auch erweiterte Qualifizierungs-, Motivations- und Beteiligungskonzepte ein. Allerdings beschreiben die neuen Produktionskonzepte nicht etwa allgemeingültige Regeln des betrieblichen Technikeinsatzes, sondern lediglich dessen Möglichkeiten. Die unterschiedliche einzelbetriebliche Nutzung der neu gewonnen Handlungsoptionen zeigt, daß die jeweils konkrete Entscheidung über die Gestaltung der Arbeitsorganisation kein zwangsläufiges Resultat der Kapitalverwertung ist. In die Entscheidung des Einzelbetriebes über technisch-organisatorische Innovationen gehen nicht zuletzt auch Überlegungen ein, die sich am qualitativen und quantitativen Angebot an Arbeitskräften, an deren Ansprüchen und Konfliktbereitschaft und an den berufspolitischen Strategien der Gewerkschaften orientieren. Technisch-organisatorische Innovationen schlagen also nicht ohne weiteres und ungebrochen auf Qualifikationsanforderungen und diese auf Inhalte und Formen von Qualifizierungsprozessen durch. Vielmehr beeinflussen die vorhandenen Qualifikationen, Motive und Lebensentwürfe der Arbeitenden auch ihrerseits die Chancen der Durchsetzbarkeit neuer Technologien und insbesondere deren arbeitsorganisatorische Konsequenzen. Es sind deshalb nicht zuletzt die im Zuge verlängerter Bildungs- und Ausbildungsphasen gestiegenen Ansprüche an die Inhalte der Arbeit und die damit verbundenen Zumutbarkeitsgrenzen, die eine Restrukturierung der Arbeitsprozesse erfordern. Insofern lassen sich betriebliche Modernisierungsprozesse als eine Art gegenseitiger Aufschaukelung von subjektiven Voraussetzungen einerseits und arbeitsstrukturellen Anforderungen andererseits verstehen.
7.3.4
Qualifizierung und betriebliche wicklung
Organisationsent-
Die Suche nach neuen Managementkonzepten und Führungsstilen unter Einschluß neuer Formen der Personalentwicklung und Quali-
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fizierung erhielt in jüngster Zeit ihre wichtigsten Impulse von der Diskussion über "lean production" (vgl. Womack/Jones/Roos 1991), in der Japan zumindest implizit als - wenn auch heftig umstrittenes Modell - präsentiert wird (-» 7.1.1). Der Zusammenhang von Organisationsentwicklung und betrieblicher Qualifizierung scheint sich in Japan naturwüchsig herzustellen, eingebunden in eine Unternehmenskultur, deren Gruppenbezug an die alltägliche Lebenswelt anschließt, diese aber auch weitgehend vereinnahmt. Der fehlende Berufszuschnitt von Arbeit und Qualifizierung, die dauerhafte Bindung an den Betrieb und die Gruppenstruktur der Arbeitsorganisation verhindern in Japan offenbar die harten Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Funktionen, Qualifikationsstufen und hierarchischen Ebenen (vgl. Georg 1993a). Daraus wird häufig der Schluß abgeleitet, daß das japanische Organisationsmodell mit seinem Verzicht auf formal definierte Kompetenzstrukturen und auf beruflich strukturierte Arbeitsverteilungsmuster in seiner Fähigkeit zur Selbststeuerung, in seinen Flexibilitätspotentialen und seiner Innovationskraft dem westlichen Bürokratiemodell überlegen ist (vgl. Deutschmann 1988; Kern/Sabel 1994; Jürgens/Naschold 1994). Im Gegensatz zur japanischen Organisationsform betrieblichen Lernens wird der Zusammenhang zwischen Qualifizierung und Arbeitsorganisation in Deutschland noch immer wesentlich über das formale Konstrukt des Berufs hergestellt. Die Organisation industrieller Arbeit wird geprägt durch einen spezifisch deutschen Arbeitskräftetypus, den Facharbeiter, der seine Qualifikation und sein Berufsverständnis im Laufe einer standardisierten, staatlich normierten Berufsausbildung erhält. Es ist sicherlich kein Zufall, daß dieses Berufsbildungssystem zeitgleich mit der Diskussion um betriebliche Organisationsentwicklung ins Kreuzfeuer der Kritik gerät. Wenn davon die Rede ist, daß beruflich normierte Qualifizierung immer weniger den betrieblichen Qualifikationsbedarf trifft, daß Qualifizierung wieder mehr an den Arbeitsplatz und in den Produktionsprozeß verlagert werden muß, daß berufsbezogene Identität zunehmend in Widerspruch zu den betrieblichen Integrations- und Transformationsprozessen gerät (vgl. Dybowski/Haase/Rauner 1993), dann steht damit auch das Beruflichkeitsprinzip von Facharbeit zur Disposition. Der Beruf als bisheriger Ordnungsrahmen für die Gestaltung von Ausbildungs-, Arbeits- und Weiterbildungsprozessen und für den Sinnbezug individuellen Arbeitshandelns wird deshalb zunehmend in Frage gestellt. Berufe erscheinen nur mehr als Störgrö-
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ßen in einer Arbeitswelt, deren Kennzeichen Fluidität und Flexibilität sind. Gegenüber einer auf den Organisationstypus Beruf (bzw. Facharbeit) bezogenen Qualifizierung gewinnt die Verknüpfung von Qualifizierungs- und Organisationsentwicklungsprozessen im Rahmen des neuen Modernisierungstypus der Unternehmenskultur zunehmend an Gewicht. Damit verlieren auch die traditionellen Qualitätskriterien beruflichen Lernens, die Systematisierung und Pädagogisierung, und die damit verbundene Tendenz, intentionale Lernprozesse aus der Arbeit auszugliedern und in speziellen berufsbezogenen Weiterbildungslehrgängen zu bündeln, ihren Stellenwert. Bei der Förderung von Unternehmenskultur geht es vor allem um die Integration von Personalentwicklung und Organisationsentwicklung, um die wechselseitige Förderung des Lernens von Individuen und des Lernens von Unternehmen. Organisationslernen ist nur möglich über das individuelle Lernen der Organisationsmitglieder. Aber die Erschließung individueller Lernprozesse für das Lernen von Organisationen und damit für deren Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit wird häufig dadurch blockiert, daß die herkömmlichen hierarchischen Strukturen der Betriebs- und Arbeitsorganisation eine gemeinsame, kommunikative Erfahrungsverarbeitung behindern. Modernisierung im Sinne einer Dezentralisierung der Produktions- und Verwaltungsstrukturen und einer Verantwortungsverlagerung auf flexibel agierende Einheiten mit partieller Autonomie (z.B. "Profitcenter") ist auf Qualifizierungskonzepte angewiesen, die zu einer partizipativen Organisationsentwicklung befähigen. Es genügt dann nicht mehr, Arbeitsprozesse als Lernprozesse zur Aneignung von fachlichen Qualifikationen zu begreifen, sondern auch als Partizipationsprozesse, d.h. als Lernprozesse für Partizipation (vgl. Georg/Kißler 1981; Kißler 1980). Die Fokussierung auf den Zuammenhang von Persönlichkeitsentwicklung und Unternehmenskultur läßt den Berufsbezug von Qualifizierungsprozessen zunehmend in den Hintergrund treten. Corporate Identity meint die Identifizierung mit dem Unternehmen und nicht die mit dem Beruf, dessen wesentliches Merkmal ja gerade in der Autonomie des Berufsinhabers gegenüber einzelbetrieblicher Vereinnahmung besteht. Der Integrationsmodus der Unternehmenskultur mit dem Versuch, das individuelle Mitarbeiterbewußtsein auf die Ziele des Unternehmens auszurichten, kann also
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durchaus in Widerspruch zu berufsfachlichen Abgrenzungsansprüchen geraten. Inwieweit mit der Gewichtsverlagerung zugunsten einer arbeitsprozeßimmanenten Weiterbildung und betriebsbezogenen Qualifizierungsinhalten die ohnehin erkennbaren Erosionstendenzen des Beruflichkeitsprinzips beschleunigt werden oder ob sich betriebliche Organisationsentwicklung und eine auf überbetriebliche Qualifikationsstandards gerichtete berufliche Aus- und Weiterbildung in Übereinstimmung bringen lassen, ist bisher noch wenig thematisiert worden (vgl. Dybowski 1993; Georg 1993b). Das gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Konsequenzen der in Deutschland wiederentdeckten Organisatonsform der Gruppenarbeit. Die Diskussion über Gruppenarbeit ist eng verbunden mit betrieblichen Ansprüchen an erhöhte Produktivität und Leistungsverausgabung, aber auch mit Vorstellungen von erweiterten Handlungsspielräumen, von Selbstorganisation und größerer Zeitsouveränität, von zunehmender Partizipation und einem tendenziellen Abbau betrieblicher Hierarchie (vgl. Binkelmann/Braczyk/Seltz 1993). Aber die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von kollektivem Lernen zu dem bei uns traditionell verankerten Konzept des individuellen, Individualität befördernden Lernens, das auf Autonomie der Persönlichkeit abzielt, bleibt bisher unbeantwortet. Welcher Stellenwert verbleibt den fachlichen Kompetenzen des einzelnen, wenn die sozialen Momente des Lernens und Arbeitens in Gruppen an Bedeutung gewinnen? Ebenso neu zu bestimmen ist das Verhältnis von beruflicher Erstausbildung und betrieblicher Weiterbildung, das Verhältnis von breiten Basisqualifikationen zu betriebsspezifischem Arbeitsprozeßwissen und das Verhältnis von betrieblicher Arbeitsmoral zu überbetrieblicher Berufsethik. Entsteht möglicherweise durch die Zusammensetzung unterschiedlich qualifizierter Facharbeiter zu eigenständigen Produktionsmannschaften eine Art kollektiver Hybridfacharbeiter? Die Diskussion zur Gruppenarbeit bewegt sich bisher auf einer überwiegend abstrakten Ebene. Die neuen Schlagworte wie "bottom up statt top down" oder "aufgabenbezogene Selbststeuerung" sind ebenso positiv besetzt wie "Ganzheitlichkeit der Arbeit" oder "kollektives Lernen". Über die realen Bedingungen von Gruppenarbeit sagen sie jedoch wenig aus. Prinzipiell ist Gruppenarbeit auch mit kurzzyklischen, repetitiven Tätigkeiten, mit engen Zeitvorgaben und dichter Hierarchiestruktur vereinbar. Inwieweit Gruppenarbeit tat-
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Arbeitsbezogenes Lernen in der Weiterbildung
sächlich die Gestaltungsspielräume der Gruppe und jedes einzelnen Gruppenmitglieds vergrößert, läßt sich immer nur im Zusammenhang mit konkreten betrieblichen Ansätzen zur Organisationsentwicklung beantworten.
7.3.5
Modelle des Lernens im Arbeitsprozeß
Die Wiederentdeckung des Arbeitsprozesses als Lernprozeß in der betrieblichen Praxis wie auch in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion geht einher mit einer zunehmenden Kritik an den Zentralisierungs- und Systematisierungstendenzen der betrieblichen Ausund Weiterbildung, die in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung vor allem in den Großbetrieben prägte. Die Argumente gegen eine "Verschulung" betrieblicher Qualifizierung in Form von deren Auslagerung in eigenständige betriebliche und außerbetriebliche Institutionen verweisen auf die damit verbundenen Gefahren einer Abkoppelung vom betrieblichen Arbeitsalltag, einer unangemessenen Theoretisierung und Generalisierung und einer Distanzierung von den betriebsspezifischen Handlungs- und Verhaltensanforderungen. Außerdem läßt die Notwendigkeit einer Kostenreduktion die Finanzierung von arbeitsplatzgetrennten, lehrgangsmäßig organisierten Qualifizierungsprozessen immer weniger zu. Das schwindende Vertrauen in die produktivitätssteigernden Effekte einer lehrgangsbezogenen Organisation betrieblichen Lernens beruht auf der Einsicht, daß sich die am Arbeitsplatz benötigten Qualifikationen angesichts eines permanenten Anpassungsdrucks nicht mehr ohne weiteres antizipieren und in Lehrgangsinhalte transformieren lassen. Insofern wird die Sinnhaftigkeit der in "Schulungen" vermittelten Kompetenzen für die Verbesserung der Arbeitssituation in Frage gestellt. Die Vermittlung sog. Schlüsselqualifikationen ( - • 5.2) wie etwa Improvisationsvermögen, Kooperationsfähigkeit oder Fähigkeit zu selbständigem Handeln kann immer nur in konkreten beruflichen Situationen und kaum noch in simulierten Lernsituationen erfolgen. Die Teilnahme an lehrgangsgebundener Weiterbildung konzentriert sich weitgehend auf die Beschäftigten höherer Qualifikations- und Statusebenen. Arbeitskräfte mit weniger Lernerfahrung profitieren davon nur selten; gerade auch für diese Zielgruppe bieten sich Formen arbeitsimmanenter Qualifizierung an. Statt eines am Lernergebnis orientierten, geplanten Unterrichts rieh-
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tet sich die Aufmerksamkeit deshalb stärker auf die Gestaltung offener Lernsituationen und die Ermöglichung von Selbstlernprozessen (vgl. Arnold 1991, S. 53; 5.2.2; -» 7.1.2). Insgesamt sind die neuen Lehr-/Lernkonzepte daran orientiert, Aneignungs- und Anwendungssituationen möglichst weitgehend zu integrieren. Nicht die Anhäufung von Fachwissen, sondern selbständiges berufliches Handeln (Handlungskompetenz) ist das generelle Lernziel (vgl. Kap. 7.3.2). Eigenständiges Handeln setzt voraus, daß dem Lernenden nach und nach breiter werdende Handlungs- und Entscheidungsspielräume in möglichst wechselnden Situationen angeboten werden. Handeln-Lernen vollzieht sich also in Form der Entfaltung komplexer werdender Zusammenhänge und als aktiver Auseinandersetzungsprozeß mit der betrieblichen Umwelt. Mit der Einübung in zielbewußtes, reflektiertes, verantwortliches Handeln wird die traditionelle Trennung in Theorie und Praxis obsolet. Unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lernforschritten und unterschiedlichen Lernstilen und Arbeitsweisen kann durch eine Individualisierung der Qualifizierungsprozesse Rechnung getragen werden. Dabei meint Individualisierung nicht Isolierung des einzelnen Lernenden; vielmehr soll durch Teamarbeit und Lernen in wechselnden Gruppen die Interaktions-, Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft gefördert werden. Lernen und Arbeiten in Gruppen ist also gleichermaßen Qualifizierungsmethode wie auch Qualifizierungsziel. Die traditionellen Fremdkontrollen des Lernfortschritts durch Vorgesetzte sollen zugunsten von Selbstkontrollen durch den Lernenden bzw. die Lern- und Arbeitsgruppe zurücktreten. Mit diesen Ansätzen eines "handlungsorientierten" Lernens verbindet sich ein verändertes Rollenverständnis des Aus- und Weiterbildungspersonals. Die traditionelle Funktion der Vermittlung fachlicher Fertigkeiten und Kenntnisse wird ersetzt durch die Rolle des Beraters, Organisators und Moderators von Lernprozessen, der die Lernenden zum eigenständigen Planen, Handeln und Evaluieren ermutigt und Hilfestellung bei individuellen Schwierigkeiten leistet. Inzwischen sind in der betrieblichen Praxis, in zahlreichen Modellversuchen und in der didaktischen Literatur vielfältige Modelle zur Förderung handlungsorientierten Lernens entwickelt worden. In engem Zusammenhang mit der betrieblichen Organsationsentwicklung werden unter dem Stichwort "dezentrales Lernen" seit eini-
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gen Jahren Konzepte einer Verknüpfung betrieblichen Arbeitens und Lernens erprobt, in denen die traditionelle Lernortstruktur betrieblicher Aus- und Weiterbildung in neue Organisationsformen überfuhrt wird. Dafür stehen Bezeichnungen wie Lerninsel, Fertigungsinsel, Qualitäts- oder Werkstattzirkel, Lernstatt oder Projektgruppe. Bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Organisationsformen und didaktischen Begründungen verbindet diese Konzepte das gemeinsame Bemühen um eine Integration fachlichen, sozialen und methodischen Lernens, um eine Erweiterung der Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten im Arbeitsprozeß und um eine breitere Nutzung und kollektive Aufbereitung individueller Arbeitserfahrungen und -kompetenzen. Im Unterschied zu arbeitsimmanenten Lernprozessen handelt es sich bei diesen Konzepten um Qualifizierungsansätze in enger Verbindung mit der Arbeitstätigkeit und mit unmittelbarem Bezug auf den Arbeitsprozeß (vgl. die Beiträge in Dehnbostel u.a. 1992; Peters 1994). Lerninseln stehen in engem Zusammenhang mit der Einführung, Erprobung und Weiterentwicklung betrieblicher Gruppenarbeit; sie können also als eine Art Experimentierfeld für Innovationen zur Organisationsentwicklung verstanden werden. Lerninseln werden vor allem in der betrieblichen Ausbildung, aber auch in der Weiterbildung eingesetzt. Im Vergleich zur "realen" Gruppenarbeit steht der Aspekt des (intentionalen) Lernens stärker im Vordergrund. Bei der Lerninsel handelt es sich jedoch nicht um einen pädagogischen "Schonraum", vielmehr ist sie in den betrieblichen Arbeitsprozeß eingebunden. Die der Lerninsel übertragenen Arbeitsaufgaben umfassen planende, steuernde, ausfuhrende, verwaltende und evaluierende Funktionen; die interne Rotation innerhalb des gemischtberuflichen Teams sorgt für die individuelle Übernahme unterschiedlicher Teilfunktionen. Erwartet wird ein gegenseitiges Training der Teammitglieder durch den wechselseitigen Austausch von Erfahrungen. Bei der Gestaltung der Lern- und Arbeitszyklen und der Abwicklung der Arbeitsaufträge wird der Lerninsel ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbststeuerung eingeräumt. Begleitet werden die Lern- und Arbeitsprozesse durch eine erfahrene Fachkraft, die als Moderator Hilfestellung leistet und bei drohenden Fehlentwicklungen eingreift (vgl. Bittmann u.a. 1993; Bittmann u.a. 1992).
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Das Konzept der Lernstatt geht ursprünglich zurück auf betriebliche Ansätze zur arbeitsintegrierten Vermittlung von Sprachkompetenz an angelernte ausländische Arbeitskräfte (vgl. Markert 1985). Inzwischen hat es sich in vielen Großbetrieben zu einem sozialen Kommunikationsmodell zur Lösung betrieblicher Produktions- und Kooperationsprobleme entwickelt. Der Versuch der Problembewältigung erfolgt durch regelmäßige Treffen in der Lernstatt, bei denen die Teilnehmer Themen ihres Arbeitsplatzes und ihrer Arbeitsumgebung bearbeiten, ihre individuellen Erfahrungen austauschen und gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln versuchen. Bei der Lernstatt handelt es sich also um ein Forum erfahrungsorientierten Lernens, wobei die Teilnehmer (im Unterschied zur Lerninsel oder Gruppenarbeit) nicht regelmäßig zusammenarbeiten, sondern sich nur hin und wieder zur Bewältigung bestimmter Aufgaben treffen. Das gilt ähnlich auch für das Konzept des Qualitätszirkels, das seit Ende der siebziger Jahre zunehmend auch in Deutschland - nicht zuletzt unter dem Eindruck des (unterstellten) Erfolgs der Qualitätszirkel in japanischen Unternehmen - als Instrument zur Beteiligung der Beschäftigten an betrieblichen Problemlösungsprozessen eingeführt wurde. Qualitätszirkel setzen sich aus einer kleinen Zahl von Beschäftigten aus den unteren betrieblichen Hierarchiestufen zusammen, die sich regelmäßig treffen, um auf freiwilliger Basis unter Anleitung eines Moderators ein vorher definiertes Problem aus ihrem Arbeitsbereich zu behandeln und möglichst eigenverantwortlich zu lösen. Untersuchungen zu den Effekten der Qualitätszirkelarbeit verweisen darauf, daß aus Sicht der Unternehmen neben der Verbesserung der Produktqualität und Produktivität vor allem die mit der Einrichtung von Qualitätszirkeln verbundenen Zielsetzungen einer Verbesserung der Arbeitszufriedenheit und Zusammenarbeit, einer Ausweitung der Mitwirkungsmöglichkeiten und einer Höherqualifizierung der Teilnehmer erreicht werden. Zugleich verweisen sie auf noch immer bestehende Schwierigkeiten, die sich aus einer mangelnden Unterstützung durch das mittlere Management und aus einer langwierigen und zögerlichen Rückmeide- und Umsetzungspraxis im Hinblick auf die erarbeiteten Vorschläge ergeben (vgl. Antoni 1994). Im Hinblick auf den Anspruch partizipativer Arbeitsgestaltung bleiben Konzepte wie Lernstatt und Qualitätszirkel insoweit fragwürdig, als sie die bestehenden Arbeitsteilungsmuster
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und hierarchischen Strukturen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen (vgl. Greifenstein u.a. 1993). Daß die hier beispielhaft vorgestellten Organisationsentwicklungen, Qualifizierungs- und Beteiligungskonzepte überwiegend in Großbetrieben erprobt und implementiert werden, dürfte vor allem damit zusammenhängen, daß die traditionelle Integration von Arbeiten und Lernen in Kleinbetrieben weitgehend bewahrt wurde. Im Vergleich zu Großbetrieben waren Kleinbetriebe immer schon stärker angewiesen auf eine breite Nutzung der personengebundenen Erfahrungen und Kompetenzen, auf die Selbstregulation und Arbeitsmotivation der Beschäftigten, auf die Integration planender und ausführender Arbeit und auf möglichst friktionslose innerbetriebliche Kommunikations- und Kooperationsstrukturen. Merkmale wie geringe Arbeitsteilung, geringer Bürokratisierungsgrad und hohe Anpassungsfähigkeit an Marktveränderungen verschaffen kleinen Betriebseinheiten - insbesondere bei Nutzung moderner Techniken gegenüber den verkrusteten Organisationsstrukturen vieler Großunternehmen einen erheblichen Flexibilitätsvorteil (vgl. Sperling/Hilbert 1993).
7.3.6
Schlußbemerkungen
Die gegenwärtige berufspädagogische Konjunktur des Themas "Lernen im Prozeß der Arbeit" verweist zunächst auf einen Zusammenhang von Arbeiten und Lernen, den es immer schon gab, der der erziehungswissenschaftlichen Analyse und pädagogischen Nutzung aber weitgehend verschlossen blieb. Die Wiederentdeckung dieses Zusammenhangs eröffnet zunächst neue Chancen zur Aufklärung bisher weitgehend versteckter wechselseitiger Wirkungsmechanismen zwischen Lernen und Handeln, Persönlichkeit und Organisation, subjektiven Voraussetzungen und objektiven Arbeitsaufgaben. Der Verweis auf die Bedeutung der Arbeitsstrukturen für die Entwicklung der Persönlichkeit und auf die Bedeutung individuellen Lernens für die Entwicklung von Arbeitsstrukturen und Organisation relativiert die traditionelle Überschätzung von Plänen als Komponenten rationalen und effektiven Handelns. Die Grenzen zielorientierter Planung beziehen sich gleichermaßen auf den Menschen als Gegenstand wie auch als Subjekt des Planens. Das bedeutet zumindest in der Tendenz - eine Abkehr von der Illusion technokra-
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tischer "Machbarkeit" von Lehr-/Lernprozessen ebenso wie von Arbeitsprozessen. Damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die bisher eher vernachlässigten Aspekte von Organisationen, nämlich die nicht rationalen, nicht intentionalen, nicht formalen Elemente, also auf den heimlichen Lehrplan von Organisationen und Arbeitsstrukturen. Subjektive Faktoren wie Gefühle und Empfindungen, persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, Bedürfnisse und Bindungen geraten als wichtige Elemente des Arbeitshandelns ins Blickfeld. Diese Faktoren lassen sich nicht mehr nur als Störgrößen im Hinblick auf eine effiziente und reibungslose Bewältigung geplanter Arbeitsprozesse qualifizieren, sondern sie werden als wesentlicher Beitrag zur Organisationsentwicklung verstanden. Die Umsetzung dieser Erkenntnis ermöglicht und fördert die Entstehung spontaner Ordnungen im Wege der Selbstorganisation, die Verlagerung von Autonomie und Verantwortung von oben nach unten, die Bildung kleinerer, auch temporär angelegter Arbeitseinheiten, die Erweiterung von Handlungs- und Gestaltungsspielräumen. Die Nutzung solcher Optionen und die Wahrnehmung persönlichkeitsfördernder Lernchancen im Arbeitsprozeß hängen also nicht nur von der Organisationsform betrieblicher Arbeit ab, sondern auch davon, welche Motive, Kompetenzen und Lernerfahrungen die B e schäftigten in den Arbeitsprozeß einbringen. Die Beteiligung an betrieblichen Gestaltungsprozessen setzt die gedankliche Vorwegnahme der Gestaltungsmöglichkeiten und die Bereitschaft voraus, sich auf diese Möglichkeiten einzulassen. Die Offenheit und Veränderbarkeit von Arbeitssituationen nicht nur als Verunsicherung und B e drohung zu erleben, sondern auch als Entwicklungschance zu begreifen, erfordert vorangegangene und jenseits des unmittelbaren Arbeitszusammenhangs stattfindende Lernprozesse, in denen subjektive Ansprüche an das Arbeitshandeln entwickelt werden können. Insofern macht es wenig Sinn, das Plädoyer für eine Rückverlagerung des Lernens in den Arbeitsprozeß mit einem Abschied von der Notwendigkeit anderer Formen beruflicher Qualifizierung gleichzusetzen. Gerade wegen der gestiegenen Anforderungen an eine permanente Veränderung der Arbeits- und Organisationsstrukturen gewinnt das Erfordernis überbetrieblicher Berufsbildung an Bedeutung. Innovative Beiträge zur Arbeitsgestaltung können sich
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nicht allein auf ein arbeitsplatzbezogenes Erfahrungswissen berufen. Ohne theoretische Fundierung und ohne Einsicht in generelle, auch überbetriebliche Zusammenhänge könnte ein solches Erfahrungswissen nur wenig zu einer innovativen Organisationsentwicklung und ebenso wenig zur persönlichen Entwicklung beitragen, wenn die Erfahrung auf die vorgefundenen Strukturen der jeweiligen Organisation beschränkt bleibt. Eine auf Verbetrieblichung und arbeitsprozeßbezogene Partialisierung beschränkte Qualifizierung würde also gerade jene Effekte verhindern, die mit der Verlagerung des Lernens in den Arbeitsprozeß intendiert werden. Mit dem Verlust überbetrieblichen Lernens auf der Ebene des Berufs würde die Rückbindung betrieblichen und arbeitsplatzbezogenen Lernens an einen überbetrieblichen beruflichen Gesamtzusammenhang verlorengehen und damit auch die Handlungskompetenz zur subjektiven Mitgestaltung von Arbeit, zur langfristigen Lebensplanung und Lebensgestaltung. Insofern erscheint der Beruf noch immer als unverzichtbare Voraussetzung für den Erwerb möglichst umfassender, überbetrieblich einsetzbarer und ausbaufähiger Kompetenzen, die neben der Bewältigung vorgegebener Aufgaben auch die Befähigung zur Veränderung und Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen einschließen.
Zitierte Literatur ANTONI, Conny H. (1994): Qualifizierungs- und Beteiligungsstrategien innerhalb der Qualitätszirkelbewegung. In: PETERS, S. (Hrsg.): Lernen im Arbeitsprozeß durch neue Qualifizierungs- und Beteiligungsstrategien. Opladen, S. 29-49. ARNOLD, Rolf (1991): Betriebliche Weiterbildung. Bad Heilbronn/Obb. BAETHGE, Martin/OBERBECK, Herbert (1986): Zukunft der Angestellten. Frankfurt/M.,New York. BAETHGE, Martin (1991): Arbeit, Vergesellschaftung, Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit. In: Soziale Welt, H. 1, S. 620.
BAMME, Arno/HOLLING, Eggert/LEMPERT, Wolfgang (1985): Berufliche Sozialisation. München. BINKELMANN, Peter/BRACZYK, Hans-Joachim/SELTZ, Rüdiger (Hrsg.): Entwicklung der Gruppenarbeit in Deutschland. Frankfurt/M., New York. BITTMANN, Andreas/ERHARD, Heinz/FISCHER, Hans-Peter/NOVAK, Hermann (1992): Lerninseln in der Produktion als Prototypen und Experimentierfeld neuer Formen des Lernens und Arbeitens. In DEHNBOSTEL, P./
Lernen im Prozeß der Arbeit
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Lernen im Prozeß der Arbeit
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8.
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
P o l y t e c h n i s c h e B i l d u n g im östlichen E u r o p a 1
8.1
Wolfgang Hörner 8.1.1
Der gemeinsame theoretische Hintergrund
663
8.1.2 8.1.2.1 8.1.2.2 8.1.2.3 8.1.2.4
Das Beispiel Sowjetunion: Polytechnik und Berufsausbildung..664 Geschichtliche Aspekte 664 Die Lehrplankonzeption 665 Probleme der Realisierung 668 Polytechnische Bildung nach dem Umbruch 669
8.1.3 8.1.3.1 8.1.3.2 8.1.3.3 8.1.3.4
Das Beispiel Polen: Die unvollendete Polytechnisierung Geschichtliche und konzeptionelle Aspekte Die Lehrplankonzeption Probleme der Realisierung und der Effizienz Polytechnische Bildung nach dem Umbruch
671 671 674 675 676
8.1.4 8.1.4.1 8.1.4.2 8.1.4.3 8.1.4.4 8.1.4.5
Das Beispiel DDR: Polytechnische Bildung und deutsche Bildungstradition Die besonderen Rahmenbedingungen Die Fachkonzeption Die Lehrpläne Probleme der Realisierung Polytechnische Bildung nach dem politischen Umbruch
678 678 679 682 684 686
8.1.5
Fazit: Hat polytechnische Bildung noch eine Zukunft?
687
Zitierte Literatur
689
Weiterfuhrende Literatur
691
8.1.1
Der gemeinsame theoretische Hintergrund
A r b e i t s b e z o g e n e Bildung b e d e u t e t e in den ehemals sozialistischen L ä n d e r n des östlichen E u r o p a v o r allem "polytechnische" Bildung, die sich auf die marxistischen "Klassiker" berief. Karl M a r x h a t t e im "Kapital" (vgl. M a r x / E n g e l s 1968, S. 510; zit. nach A n w e i l e r 1969, S. 16ff.) erklärt, d a ß die " g r o ß e Industrie" a u f d e m Prinzip d e r A u f l ö s u n g des P r o d u k t i o n s p r o z e s s e s in seine konstituierenden E l e m e n te, nämlich der "Technologie" als A n w e n d u n g d e r N a t u r w i s s e n Unter dem Begriff "östliches Europa" werden im vorliegenden Zusammenhang die europäischen Staaten des früheren "Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW/Comecon) einschließlich der ehemaligen DDR verstanden.
664
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
schaft beruhe. Aus dieser Feststellung folgt die Notwendigkeit der "allseitige(n) Beweglichkeit des Arbeiters". Die ständige Bedrohung des Arbeiters im Kapitalismus, von anderen Gliedern der großen disponiblen Arbeiterreserve ersetzt zu werden, könne nur durch eine "absolute Disponibilität ... für wechselnde Arbeitsfordernisse" abgewendet werden. Aus diesem Grund sei die polytechnische Bildung für den Arbeiter im kapitalistischen Produktionssystem eine vitale Notwendigkeit. Bildung hatte bei Marx demnach einen dreifachen Aspekt: sie sollte geistig, körperlich und polytechnisch sein (zit. nach Anweiler 1969, S. 14f.). Diese Bildung sollte auch nach der Machtübernahme durch die Arbeiterklasse ihren Platz in den Schulen der Arbeiter haben. Um den "gemeinsamen Betrieb der Produktion durch die gesamte Gesellschaft" zu garantieren, bedürfe es allseitig entwickelter Menschen, "die imstande sind, das gesamte System der Produktion zu überschauen", einschließlich der politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge. Nach der Aufhebung der Arbeitsteilung wird die Erziehung "die jüngeren Leute das gesamte System der Produktion rasch durchmachen lassen", so daß sie in der Lage sein werden, von einem Produktionszweig in den anderen zu wechseln (F. Engels, zit. nach Anweiler 1969, S. 13f.).
8.1.2
Das Beispiel Sowjetunion: Polytechnik und Berufsausbildung
8.1.2.1 Geschichtliche Aspekte Auf diesem theoretischen Hintergrund entwickelten die frühsowjetischen Pädagogen das Konzept der "Einheitsarbeitsschule", in der für alle Kinder und Jugendlichen eine allgemeine und polytechnische Bildung verpflichtend sein sollte (vgl. Gock 1985, S. 14ff.; Anweiler 1978, S. 102ff.). Grundlegendes Prinzip des Schulwesens, das in der Schulreform von 1918 proklamiert wurde, war die Verbindung von Lernen und Arbeiten, von Schule und Fabrik. Nach einer Periode der revolutionären pädagogischen Experimente (projektartiger "Komplexunterricht" statt Fachunterricht) wurde 1927 ein eigenes Fach "Arbeit" in die sowjetische Schule eingeführt, in den 30er Jahren unter Stalin jedoch wieder abgeschafft und erst im Zuge der allgemeinen Entstalinisierung unter Chruscev
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
665
1958 neu entdeckt. Allerdings brachte die Reform Chruscevs zunächst eine "professionalistische" Variante polytechnischer Bildung: Während der letzten drei Jahre der Schulzeit sollten die Schüler mit der Hochschulreife zugleich eine Berufsausbildung als Arbeiter auf einem bestimmten Qualifikationsniveau erwerben. Die Versuchung des Professionalismus lag in der UdSSR insofern nahe, als das schulisch organisierte sowjetische Berufsausbildungssystem nur einen Teil der künftigen Arbeitskräfte ausbilden konnte. Die Mehrheit der künftigen Produktionsarbeiter absolvierte - bei immer höher werdendem formalem Bildungsniveau (Endziel: Hochschulreife für alle) - eine kurze Anlernphase im Betrieb. So lag es nahe, dem Arbeitsunterricht die Funktion der fehlenden Berufsausbildung zu übertragen (vgl. ausfuhrlicher Hörner 1993, S. 222 ff.). Die zunehmende Kritik der Hochschulen am sinkenden Bildungsniveau der Absolventen führte 1966 zur Deprofessionalisierung (Rücknahme der Verpflichtung zur Berufsausbildung), der 1977 wieder eine vorsichtige Ausweitung der beruflichen Komponenten folgte. Diese Fachkonzeption hat im Kern auch den nächsten Professionali sierungsversuch überdauert und ist auch heute die Ausgangsbasis der in der Russischen Föderation diskutierten Reformprozesse. Eine 1984 begonnene Schulreform, die eine fünktionale Angleichung von allgemeiner und beruflicher Bildung bringen sollte (die allgemeinbildende Mittelschule sollte wieder eine Berufsausbildung vermitteln, die Berufsschulen die Hochschulreife) scheiterte an ihrer inneren Widersprüchlichkeit und der einsetzenden Perestroika (vgl. Kuebart 1987; Anweiler/Kuebart 1988). Sie wurde 1988 wieder zurückgenommen, allerdings wurde die Möglichkeit der Ausbildung für einen Beruf in der allgemeinbildenden Schule auf fakultativer Basis bis heute aufrecht erhalten. 8.1.2.2 Die Lehrplankonzeption Der "Arbeitsunterricht" war bisher ein Pflichtfach der allgemeinbildenden Schule (vgl. Abb. 1), das von der 1. bis zur 8. Klasse im Umfang von zwei Wochenstunden erteilt wurde (zum folgenden ausführlicher Hörner 1993, S. 240ff; Hörner/Schlott 1983, S. 108 ff.). Sein Stundenvolumen verdoppelte sich in der 9. und 10. Klasse, in denen die Akzentuierung der vorberuflichen Funktion vier Wochenstunden notwendig machte. Der Unterricht folgte dem Grund-
666
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
satz der Verbindung von schulischem Lernen und produktiver Arbeit. Die außerschulische Arbeit der Schüler fand überwiegend in sogenannten "Zwischenschulischen Ausbildungs- und Produktionskombinaten" (russ. Abkürzung: UPK) statt, d.h. in bei größeren Betrieben eingerichteten Lehrwerkstätten, die auf die Bedürfnisse der Schüler der allgemeinbildenden Mittelschule abgestimmt sein sollten (vgl. Schlott 1982, S. 844). Ein Einsatz der Schüler in der "realen" Produktion war selten. Diese Lösung hatte den Vorteil, daß die Schüler gewisse Elemente der Industriearbeit (z.B. Arbeitsnormen) kennenlernten. Solche Erfahrungen waren möglich, ohne daß der Produktionsfluß gestört wurde und ohne daß arbeitsweltliche Faktoren in unkontrollierter Weise auf die Schüler einwirkten. Allerdings waren die sozialen Erfahrungen im Rahmen der UPK nur bedingt mit der realen Produktion vergleichbar. Aber auch am Lernort "Schule" sollte der weitaus größte Teil der Unterrichtszeit praktischen Herstellungsarbeiten gewidmet sein, nur etwa 20 % der Gesamtzeit blieb für theoretischen Unterricht. Der "gesellschaftlich nützliche" Charakter dieser Herstellungsarbeiten war spätestens von der 7. Klasse an dadurch sicherzustellen, daß die Schulen mit den Betrieben Herstellungsverträge abschlössen. Die Betriebe sorgten ihrerseits für die zur Produktion notwendige materielle Ausstattung und die Grundstoffe (Halbprodukte). Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Betrieben wurde durch ein Patenschaftssystem erleichtert. Die allgemeinen Lernziele dieses produktionsorientierten Arbeitsunterrichts waren auf der kognitiven Ebene zunächst praktische Kenntnisse und Fähigkeiten. Auf der affektiven und Verhaltensebene die Weckung der Liebe zur Arbeit und - in sozialistischer Zeit - die Herausbildung einer kommunistischen Einstellung zur Arbeit und zum sozialistischen Eigentum. All diese Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen sollten schließlich zur Entwicklung stabiler Berufsinteressen vor allem gegenüber "bestimmten Arten von Arbeit" (nämlich Fließbandarbeit in der industriellen Produktion) beitragen.
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
Abb. 1:
667
Die Struktur des sowjetischen Bildungswesens
Urivcnttltea and Hochtcbafca
19
n n v o i s f i n d i g e Ntttlebchnfe
Gruadtchole
VonchaMarkhtuB^ca
A
10. und 11. Klasse der allgemeinbildenden Schule = vollständige Mittelschule
B
Midiere beruflich-technische Schule
C
Einjlhnge Abteilung der Mittleren beruflich-technischen Schule (fOr Absolventen der allgemeinbildenden Mittelschule)
D
Mittlere F*hschule
=
vollständige mittlere Bildung (Hochschulreife)
(Sonderschulen für Behinderte. Spezialschulen für Begabte und die Abend-Mittelschulen sind nicht berücksichtigt)
Diese Ziele waren von den Anfangsklassen an zu verfolgen. Von der 4. bis zur 8. Klasse, waren die Lehrpläne nach den drei großen Wirtschaftszweigen differenziert: Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungsbereich (Handel, Verwaltung, Hauswirtschaft). Diese Lehrplanvarianten wurden schwerpunktmäßig je nach dem lokalen Bedarf unterrichtet. Von der 4. Klasse an sollte bereits "wissenschaftliche Arbeitsorganisation" (Planung, Organisation, Kontrolle) gelernt werden.
668
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Die konkret behandelten technischen Inhalte variierten je nach der lokalen Wirtschaftsstruktur. Die Industrievariante des Lehrplans sah für die Metallarbeiten ein planmäßiges Fortschreiten von der Behandlung von Hand-Werkzeugen bis hin zur Arbeit mit Werkzeugmaschinen (Bohren, Drehen, Fräsen) vor. Das setzte Grundkenntnisse in Mechanik voraus. Andererseits sollten die Schüler anhand von Laborarbeiten auch die Eigenschaften der verwendeten Werkstoffe kennengelernt haben. Der Arbeitsunterricht in den Oberklassen der Mittelschule (Klasse 9 und 10) hatte neben der allgemeinen Arbeitsvorbereitung die Grundlagen einer beruflichen Grundausbildung in einem bestimmten Berufsprofil zu vermitteln. Diese Grundausbildung fand in den UPK statt. Man erwartete von den nicht zum Studium zugelassenen Absolventen der 10. Klasse, also den Abiturienten, daß sie eine Arbeit in dem Berufsprofil aufnahmen, das sie in der "Mittelschule" gewählt hatten, um so den Anlernprozeß im Betrieb effektiver gestalten zu können. 8.1.2.3 Probleme der Realisierung Die Realisierung der vergleichsweise anspruchsvollen Lehrpläne des Arbeitsunterrichts stieß schon in sowjetischer Zeit auf eine Reihe struktureller Problem. Unter diesen kritischen Punkten erscheint das Lehrerproblem als das schwerwiegendste. Es zeigte sich, daß die mit der Erteilung des Arbeitsunterrichts beauftragten Lehrkräfte unter einem - sowohl wissenschaftlichen als auch praktisch-pädagogischen - Ausbildungsdefizit litten. Dies lag darin begründet, daß im sowjetischen Arbeitsunterricht eine große Zahl von Praktikern (Arbeitern) eingesetzt wurde, die über keine Hochschulbildung und keine pädagogische Ausbildung verfugten. Am Anfang der 80er Jahre waren noch mehr als die Hälfte (58 %) der tätigen Arbeitslehrer ohne Hochschulbildung, 15 % der Arbeitslehrer sogar ohne jede Ausbildung. Dieses Defizit an qualifiziertem Lehrpersonal erwies sich als besonders gravierend, denn die anspruchsvollen pädagogischen Zielsetzungen setzten eine besondere didaktische Kompetenz voraus, um die Verbindung zwischen den gesellschaftlich-politischen, psychopädagogischen, technischen und methodischen Unterrichtselementen deutlich zu machen. Bedingt durch die Ausbildungsdefizite
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
669
zeigten sich auch Defizite im Sozialprestige der Arbeitslehrer, die auf das Prestige des Faches im Fächerkanon zurückwirkten. Die Folgen dieser Defizite sind statistisch greifbar; die Funktion des Arbeitsunterrichts im Hinblick auf eine positive Berufsorientierung blieb in sozialistischer Zeit minimal (vgl. Avericev 1980, S. 6). Im Jahr 1980 wählten nach offiziellen Angaben 17 % der Schüler einen Beruf, der dem unterrichteten Profil des Arbeitsunterrichts entsprach (zit. nach Auweiler 1981, S. 807). Die Effizienz des Arbeitsunterrichts war gerade im Hinblick auf seine ökonomische Kernfiinktion, die Berufsorientierung, unbefriedigend. 8.1.2.4 Polytechnische Bildung nach dem Umbruch Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und das Auseinanderbrechen der Sowjetunion scheint im Bereich der arbeitsbezogenen Bildung in der Russischen Föderation (als Rechtsnachfolgerin der UdSSR) bisher relativ geringe Rückwirkungen zu haben. Ein Lehrplanentwurf für einen neuen Lernbereich "Technologie" - eine begriffliche Entlehnung aus dem Westen -, der an die Stelle des bisherigen Arbeitsunterrichts treten soll, vermeidet zwar alle Ankläge an sozialistische Bildungskonzepte, übernimmt aber in struktureller Hinsicht die Grundlinien des früheren Arbeitsunterrichts (zum folgenden Ministerstvo Obrazovanija 1993). Didaktische Hauptfunktion des Faches ist die zielgerichtete Berufsvorbereitung. Dabei ist neu, daß die Möglichkeit einer variablen Auswahl von Inhalten und Formen der Berufsvorbereitung vorgesehen ist. Leitziel ist die berufliche Selbstbestimmung - eine deutliche Abgrenzung von der kommunistischen "Kommandopädagogik". Die Begegnung mit der Arbeitswelt soll auf mehreren Ebenen stattfinden können, nämlich • • •
der Einfuhrung in die Arbeit, der Berufserprobung und der Ausbildung in einem Berufsfeld (Profil), der Ausbildung für einen bestimmten Beruf in der Anfangsphase.
Dabei sollen zuerst die Grundgewohnheiten für die Ausführung eines Berufes gesichert und das Orientierungsgerüst für die Vorbereitung einer beruflichen Karriere vermittelt werden. In der dritten Stufe werden Grundwissen und Fähigkeiten im Bereich eines ganzen Berufsfeldes vermittelt. Die vierte Stufe kann entweder den Schwer-
670
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
punkt auf die Berufswahl legen oder auf den Erwerb konkreter beruflicher Qualifikationen (in einfachen Berufen) oder schließlich auf eine vertieftere Vorbereitung für einen (komplexeren) Beruf. Diese ist für den fakultativen Teil des Unterrichts vorgesehen und natürlich vom Wunsch des Schülers bzw. der Eltern abhängig. Der russische Lehrplanentwurf versucht den Inhaltsbereich des neu konstituierten Faches unter Weiterentwicklung älterer sowjetischer Theorieansätze in Abhängigkeit von der jeweils zugrundeliegenden Subjekt-Objekt-Relation in fünf Beziehungsfelder zu gliedern, denen unschwer berufliche Tätigkeitsfelder zugeordnet werden können: 1. Mensch-Technik: technische Berufe (Produktion, Nutzung, Instandhaltung) 2. Mensch-Natur: landwirtschaftliche Berufe und Umweltschutz 3. Mensch-Mensch: Dienstleistung, Menschenführung, Erziehung und Gesundheit 4. Mensch-Zeichensystem: Berufe in der Text- und Informationsverarbeitung 5. Mensch-künstlerische Form: Berufe aus dem Bereich der Darstellungstätigkeit (musikalisch/künstlerisch/literarisch etc.). Im Vergleich zum früheren Arbeitsunterricht fällt zunächst auf, daß die einseitige Fixierung auf Produktionstechnik (die im Grunde im Widerspruch zum "poly-technischen" Anspruch stand) zugunsten eines weiteren beruflichen Tätigkeitsbegriffs korrigiert worden ist. Aus westlicher Sicht fällt aber auch die bleibende Fixierung des Konzepts auf eine vertiefte Berufsvorbereitung bis hin zur Berufsqualifizierung ins Auge. Das geht soweit, daß auch die ästhetische Dimension "professionell" unter dem Blickwinkel der Kenntnis künstlerischer Berufe (und nicht der individuellen Kreativität) eingeführt wird. Hier folgt der russische Lehrplan ganz deutlich der professionalistischen Tradition des sowjetischen Arbeitsunterrichts. Neu ist jedoch die Orientierung an den neuen Wirtschaftsstrukturen (stärkere Berücksichtigung von Konsumgüterindustrie, Bau und Dienstleistungen) und am entstehenden Arbeitsmarkt. Neu ist weiterhin die Formulierung des Lehrplans in Lernzielen (erreichten Qualifikationen) in der Form nationaler Standards und des inhaltlichen Aufbaus in Form von Ausbildungsmodulen, die so strukturiert
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
671
sein sollen, daß eine in der allgemeinbildenden Schule begonnene Ausbildung gegebenenfalls in der Berufsschule oder im Betrieb abgeschlossen werden kann. Durch die Betonung des fakultativen Elements und den Anschluß an moderne westliche (Berufsbildungs-) Didaktik versucht der neue "Technologie"-Lehrplan einen Kompromiß zu finden zwischen den traditionellen Gegebenheiten des russischen Schulsystems (Ersatz des defizienten Berufsausbildungssystems) und den Erfordernissen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. Die Verbreitung der "Sowjetpädagogik" in den nach dem 2. Weltkrieg von der UdSSR kontrollierten Territorien führte auch zur Einfuhrung der polytechnischen Bildung im gesamten sowjetischen Machtbereich. Dabei sind aber deutliche nationale Unterschiede zu beobachten, wie die folgenden beiden Beispiele zeigen.
8.1.3
Das Beispiel Polen: Die unvollendete Polytechnisierung
8.1.3.1 Geschichtliche und konzeptionelle Aspekte Die Einführung polytechnischer Inhalte in die polnische Schule der Nachkriegszeit erfolgte außerordentlich zögernd (vgl. zum folgenden Hörner 1989, S. 218 ff.). Erst im Jahr 1963 wurde in der neuen achtklassigen Grundschule (vgl. Abb. 2) die alte Handarbeit durch einen "praktisch-technischen Unterricht" ersetzt, dem in den ersten 6 Klassen 2, in der 7. und 8. Klasse dagegen 3 Wochenstunden zugeteilt wurden. Das Fach hatte auf der Ebene der achtjährigen polnischen Grundschule einen ausgeprägten handwerklich-manuellen Charakter. Deutlicher technisch ausgerichtet war das 1967/68 in das allgemeinbildende Lyzeum eingeführte Fach "Technische Erziehung", das erstmalig in Polen einen einheitlichen Techniklehrplan für Mädchen und Jungen zusammen umfaßte. Allerdings wurde die Realisierung dieses Lehrplans ausdrücklich von der bestehenden materiellen Ausstattung der Schulen abhängig gemacht. Eine Tätigkeit der Schüler in der realen Produktion war im Unterschied zu den anderen sozialistischen Staaten nicht vorgesehen.
672
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Es ist offensichtlich, daß das eigentlich polytechnische Element im Sinne einer sozialistischen Bildungskonzeption in diesen Lehrplänen kaum zum Ausdruck kam. So läßt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den fundierten theoretischen Arbeiten zur polytechnischen Bildung (z.B. Szaniawski 1972) und den eher bescheidenen schulischen Realisierungsversuchen feststellen (so z.B. auch Nowacki 1977, S. 131). Die polnische Zurückhaltung bezüglich des Schülereinsatzes im Betrieb erklären einige Didaktiker auch mit der Existenz eines stark entwickelten Berufsschulwesens, das fast alle Schüler umfaßt, die keinen weitergehenden Bildungsgang einschlagen (vgl. Pochanke 1985, S. 39). Deshalb war auch in Polen eine Übernahme von Funktionen eines nicht ausgebauten Berufsbildungssystems durch eine polytechnische Bildung (wie z.B. in der Sowjetunion) nicht notwendig. Der hohe Entwicklungstand des beruflichen Bildungswesens korrelierte mit einer entwickelten berufspädagogischen Debatte, die auch die Diskussion um die polytechnische Bildung beeinflußte. Seit den 60er Jahren wurde nämlich in Polen unter der Leitung des Berufpädagogen Tadeusz Nowacki das Konzept einer "Arbeitspädagogik" (pedagogika pracy) entwickelt. Dieses bildungsstufenübergreifende pädagogische Theoriekonzept sollte einer allgemeinen Arbeitsvorbereitung dienen - die polnische Formel spricht von "Erziehung durch die Arbeit zur Arbeit". Sie hat deshalb einen Schwerpunkt im Bereich der vorberuflichen Bildung, betrifft aber auch die Stufen der beruflichen Grund-, Fach- und Weiterbildung (zu einzelnen Problembereichen der Arbeitspädagogik vgl. Nowacki 1977, S. 129f.; ausfuhrlich siehe Wiatrowski 1985). Im Rahmen der allgemeinbildenden Schule diente die Arbeitspädagogik in der Sprache der sozialistischen Pädagogik der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit, d.h., sie zielte auf die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen intellektueller und praktischer Bildung und damit auf die soziale Aufwertung der praktischen Bildung. Weiter geht es ihr um die frühe Vermittlung allgemeiner Arbeitstugenden wie Ordnung, Disziplin, Kooperationsfähigkeit und die Unterstützung der Berufsorientierung (vgl. Szajek 1987, S. 95ff.). Die Integration der vorberuflichen polytechnischen Bildung in das Konzept einer übergreifenden Arbeitspädagogik unterscheidet das polnische Beispiel von einer polytechnischen Bildung nach sowjetischem oder DDR-Vorbild. Es ist im übrigen auffällig, daß
Polytechnische Bildung im östlichen Europa
673
selbst polnische Theoretiker der polytechnischen Bildung nicht die Abgrenzung gegenüber dem Westen, sondern die systemübergreifenden Aspekte der Notwendigkeit allgemeintechnischer Bildung betonten (z.B. Szajek 1985, S. 39).
Abb. 2:
Die Struktur des polnischen Bildungswesens Universität und Hochschule
Posüyzeale Studien anstait
Allgemeinbildendes Lyzeum
Technikum Berufslyzeum Berufsbildendes Lvzeum
Berufs gnmdschule
Vorschulerziehung
Trotzdem gab es in der Vergangenheit immer neue Versuche, die polnische Schule (oft im Zeichen des ideologischen Kampfes) zu "polytechnisieren". So wurde der praktisch-technische Unterricht in der achtjährigen Grundschule durch eine 1978 begonnene Lehrplanreform durch ein neues Fach "Arbeit/Technik" ersetzt, das in allen Klassen im Umfang von 2 Wochenstunden unterrichtet wurde. Im selben Zusammenhang wurden von der 6. Klasse an Schülerpraktika im Umfang einer Wochenstunde eingeführt. Auch in den Lyzeen wurde das Fach "Arbeit/Technik" eingeführt. Dort wurde es in den
674
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
ersten beiden Klassen im Umfang von 2 Wochenstunden unterrichtet, in der 3. Klasse war es nur noch in einigen Typen ("Profilen") des Lyzeums mit einer Wochenstunde vertreten. Auch auf der Ebene des Lyzeums war zusätzlich in allen 4 Klassen ein Schülerpraktikum von 2 Wochenstunden vorgesehen. 8.1.3.2 Die Lehrplankonzeption Hauptaufgabe des Faches "Arbeit/Technik" war (vgl. Ministerstwo Oswiaty 1985, S. 6), bei den Schülern eine "Arbeitskultur" und eine "technische Kultur" herauszubilden. Es erfüllte eine besondere Funktion in der Vorbereitung der Schüler auf praktische Tätigkeit, indem es systematisch die Fähigkeit der Handhabung einfacher Werkzeuge entwickelte. Es sollte dazu befähigen, wissenschaftliche Kenntnisse im praktischen produktiven Handeln anzuwenden, sollte Interessen für unterschiedliche Bereiche der Technik herausbilden und auf die Berufswahl vorbereiten. Damit wurde das Fach zum wichtigen Stützpfeiler der "Arbeitspädagogik" im vorberuflichen Bereich. Das Fach verfügte über 4 Lehrplanbereiche, deren Struktur von Klasse 1 bis 11 gleich war (vgl. zum folgenden Pochanke 1985, S. 4 7 f f ; Uzdzicki 1987). Sie umfaßten • • • •
Elemente der Arbeitskultur, Grundlagen der Technik, Ausgewählte Probleme aus Technik und Wirtschaft, Elemente der Berufsorientierung.
Im ersten Lehrplanbereich, der fur das Leitziel der "Erziehung durch die Arbeit zur Arbeit" grundlegend war, sollten die Schüler Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen bei der Organisation des Arbeitsprozesses erwerben: Kennenlernen verschiedener Arbeitsformen (individuelle Arbeit; Teamarbeit usw.) und der Grundzüge der Arbeitsökonomie. Die "Grundlagen der Technik" gliederten sich in Werkstoffkunde (vom Papier zum Metall) und Technologie (Maschinenkunde, Elektrotechnik, elektronische Systeme), Technische Anlagen und Technische Information. Der Bereich der Berufsorientierung sollte die Schüler über Anforderungen und Möglichkeiten wichtiger Berufe informieren. Dazu
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waren Betriebsbesuche, Informationsgespräche mit Berufsvertretern und Berufsschullehrern u.ä. vorgesehen. 8.1.3.3 Probleme der Realisierung und der Effizienz Vergleicht man diese umfassenden Zielsetzungen mit dem begrenzten Zeitkontingent und den materiellen Problemen der polnischen Schule generell, so kann man eine gewisse Diskrepanz zwischen den vorgegebenen Zielen und der Unterrichtswirklichkeit vermuten. Diese Vermutung wird durch eine Reihe von Praxisberichten bestätigt. So klagen zahlreiche Didaktiker über das mangelnde Verständnis der Naturwissenschaftslehrer und der Schulleiter für das Anliegen der polytechnischen Bildung. Das Fach besitze in der Schule nur ein geringes Ansehen, was sich als großes Hindernis für die Arbeit der Techniklehrer erweist. Viele Schulleiter seien der irrigen Meinung, Technikunterricht sei lediglich eine Gelegenheit zur Bastelei (vgl. Polny 1984, S. A38). Aus zahlreichen empirischen Untersuchungen zur Effektivität des Unterrichts im Fach Arbeit/Technik ergab sich Ende der 80er Jahre ein außerordentlich kritisches Bild. Ein systematisch angelegter Leistungstest (vgl. Grodzka-Borowska/Freyman 1991) im Bezug auf die vorgesehenen Lernziele bei Absolventen der 8jährigen Grundschule ergab im Durchschnitt nur ein bescheidenes Leistungsbild: kaum 52 % der vorgelegten Items waren richtig beantwortet, wobei im Bereich einfacherer Lernzielstrukturen (Gedächtniswissen und Verstehen) bessere, im Bereich der komplexeren Ziele (Anwenden auf bekannte oder neue Situationen) erheblich schwächere Ergebnisse erzielt wurden. Der Lehrplanbereich "Elemente der Arbeitskultur", ein Schlüsselbegriff der Arbeitspädagogik, brachte die schwächsten Ergebnisse (31-39 %). Positiv deuten kann man indessen eine deutliche Korrelation von besseren Leistungen im Fach Arbeit/Technik und der Wahl technischer Sektionen für den weiteren Bildungsgang. Der Leistungsunterschied gegenüber den Schülern, die in das allgemeinbildende Lyzeum übergewechselt waren, war besonders deutlich im Bereich der komplexeren Lernziele (Anwendung auf neue Situationen - 27 % Differenz). Ohne vorschnelle Schlüsse hinsichtlich Ursache und Wirkung zu ziehen, kann man daraus zumindest eine Förderung technischer Interessen durch das allgemeinbildende Fach Arbeit/Technik ableiten. Überraschend bleibt allerdings das geringe
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technische Interesse der Mädchen, obgleich über 80 % auch der Techniklehrkräfte im Bereich der 8jährigen Grundschule Frauen sind (vgl. Bober 1989, S. 47). Der niedrige Ertrag des Unterrichts wurde oft mit den schlechten Arbeitsbedingungen und dem niedrigen Ausbildungsstand der Lehrkräfte in Verbindung gebracht. Kaum mehr als ein Drittel der Lehrkräfte (38 %) hat eine volle akademische und pädagogische Ausbildung. Nach anderen Erhebungen hatte zur selben Zeit fast die Hälfte der Lyzeen unzureichend ausgestattete Schulwerkstätten (vgl. Drogosz 1988, S. 510). Mehr noch als vom Schulfach "Arbeit/Technik" erwartete man von den Schülerpraktika positive Impulse für die Arbeitserziehung. Die Schülerpraktika sollten je nach den örtlichen Verhältnissen in drei Varianten (Industrie, Handwerk, Landwirtschaft) angeboten werden. Ihr allgemeines Ziel war es, den Schülern über die unmittelbare Teilnahme insbesondere an physischer Arbeit eine positive Haltung gegenüber der Arbeit zu vermitteln. Darüber hinaus sollten die Praktika aber auch konkrete Erfahrungen im Hinblick auf die Berufswahl vermitteln. Das Praktikum wurde so als Bestandteil des erzieherisch-didaktischen Prozesses der Schule an einem anderen Lernort verstanden und sollte die nicht realisierte Produktionsarbeit der Schüler ersetzen. Allerdings konnten die Praktika auch in Berufsschulen oder sogar in den Schul Werkstätten der allgemeinbildenden Schulen stattfinden. Erfahrungsberichte aus den 80er Jahren stellten fest, daß die Betriebe wenig Interesse hatten, selbst Praktikanten aufzunehmen, da diese keinen ökonomischen Gewinn brachten (vgl. Kluczewski 1987, S. 33; Lelinska 1985, S. 111). Auf der Ebene der Lyzeen wurden die vorgeschriebenen Schülerpraktika nach Erklärungen der Schulleiter überhaupt nur von einem Drittel der Schulen durchgeführt. Von den durchgeführten Praktika betrafen 47 % wiederum ausschließlich den Bereich pädagogischer Berufsfelder (vgl. Drogosz 1988, S. 511), offensichtlich eine Folge der weitgehenden Feminisierung der allgemeinbildenden Lyzeen. 8.1.3.4 Polytechnische Bildung nach dem Umbruch Nach dem politischen Umbruch zeigten sich in Polen zunächst Tendenzen, die polytechnischen Elemente im Lehrplan ganz zu strei-
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chen, da manche der neuen bildungspolitischen Kräfte hier die Verkörperung der kommunistischen Bildungskonzeption sahen. Dem setzten sich zum einen die Theoretiker der Polytechnik entgegen, indem sie auf die vorkommunistischen Wurzeln der polnischen Technik- und Arbeitspädagogik und die sowjetische "Verirrung" der Reduzierung technischer Kultur auf Produktionstechnik im Betrieb hinwiesen (vgl. Polny 1993, S. 206). Zum anderen aber protestierten die betroffenen Lehrerverbände vehement und verwiesen auf westliche Vorbilder und die Notwendigkeit der technischen Modernisierung des polnischen Wirtschaftssystems. So entstand in den bisherigen Lehrplanentwürfen eine - im Vergleich zum bisherigen Stand - reduzierte Konzeption eines Faches "Technik" (die "Arbeit" verschwand bezeichnenderweise aus der Fachbezeichnung). Das Fach beruht inhaltlich auf dem Gedanken der Meisterung der technischen Umwelt, weist der Ökologie und der Ökonomie einen breiteren Raum zu und widmet einen Teil der Unterrichtszeit der Informatik. Allerdings ist die Stundenzahl nach den bisher veröffentlichten Stundentafeln sehr knapp bemessen. Die Technik wird dem musischen Lernbereich zugeordnet (!), wobei den 3 Fächern Musik, Kunst und Technik zusammen 2 Wochenstunden zur Verfügung stehen. In der 8. Klasse der Grundschule kann der Technikunterricht durch Informatik ersetzt werden. Die jüngsten veröffentlichten Stichprobenerhebungen (vgl. Stanowisko 1994; Matusz 1994) zeichnen so ein eher gedämpftes Bild von der Realität des technischen Unterrichts in der "Übergangsperiode": •
In einem Viertel aller Fälle wird das Fach auf 1 Wochenstunde reduziert; • nur in 60 % der Fälle wird Technik von Fachlehrern unterrichtet; • ein Drittel aller Schulwerkstätten findet sich in ungesunden Kellerräumen. Der nach dem Umbruch erfolgte Rückzug der Betriebe aus der materiellen Unterstützung des Technikunterrichts hätte eigentlich eine Ausweitung der regionalen "polytechnischen Zentren" zur didaktischen und materiellen Unterstützung des Technikunterrichts notwendig gemacht. Diese existieren zwar unter dem alten Namen weiter (vgl. Bober 1994), allerdings wurden sie im Zuge der Sparmaßnahmen zwischen 1991 und 1993 auf fast die Hälfte reduziert. Der Rückgang der polytechnischen Bildung wird so auch in der
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Schrumpfung der unterstützenden didaktisch-materiellen Infrastruktur offensichtlich.
8.1.4
Das Beispiel DDR: Polytechnische deutsche Bildungstradition
Bildung
und
8.1.4.1 Die besonderen Rahmenbedingungen Die DDR ist im vorliegenden Zusammenhang in zweifacher Hinsicht ein Sonderfall. Zum einen gehörte sie als deutschsprachiger Staat und Teil der deutschen Nation allenfalls politisch, nicht aber geographisch zu Osteuropa, zum anderen verband sich in der DDR die sozialistische Bildungstheorie mit deutscher Bildungstradition, die, verglichen mit den anderen Staaten des RGW, in mancherlei Hinsicht ein Sonderweg ist. Das Bildungssystem der DDR unterschied sich von den anderen sozialistischen Systemen vor allem durch eine betrieblich dominierte Berufsausbildung einerseits und eine hochselektive Abiturstufe andererseits. Trotzdem folgte die DDR bei der Etablierung der polytechnischen Bildung zunächst dem sowjetischen Modell, d.h. sie führte im Gefolge der Chruscev-Reform 1958 mit dem "Unterrichtstag in der Produktion" ein berufspädagogisch bestimmtes Konzept des polytechnischen Unterrichts ein, das Anfang der 60er Jahre noch deutlichere professionalistische Akzente bekam. Als die Chruscev-Reform Mitte der 60er Jahre in der UdSSR ohne großen Lärm rückgängig gemacht wurde, dachten auch DDR-Didaktiker über eine neue Polytechnikkonzeption nach, die schließlich im Zusammenhang mit der Arbeit am neuen "Lehrplanwerk" für die Allgemeinbildung entwikkelt wurde. Damit löste sich die DDR hier aus dem Schatten des "Großen Bruders" und vertrat selbstbewußt eine eigene Konzeption. Die DDR-Didaktiker hatten erkannt, daß die sowjetische Situation, wo der polytechnische Unterricht in der allgemeinbildenden Schule Ersatzfunktion für die fehlende Berufsausbildung übernehmen mußte, für ihr eigenes Bildungssystem nicht zutraf, da die betriebsgestützte Lehrlingsausbildung potentiell alle mit beruflicher Bildung versorgen konnte.
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8.1.4.2 Die Fachkonzeption Die DDR-Didaktik änderte zunächst den theoretischen Bezugsbegriff des polytechnischen Unterrichts. Der sowjetische Leitbegriff für die polytechnische Bildung, die Produktion, wurde ersetzt durch den Leitbegriff der Technik. Dabei lehnte sie sich vor allem an die Ingenieurpädagogik an, die bemüht war, die technische Tätigkeit als Zweck-Mittel-Zusammenhang zu deuten, der wesentlich durch das Moment des schöpferischen Erfindens gekennzeichnet ist (vgl. Frankiewicz 1968, S. 22f.; 45f.). Der Begriff der Technik schien zudem geeignet, als übergreifendes Konzept die (Natur-) Wissenschaft mit der Produktion zu verbinden. Dadurch konnte die polytechnische Bildung auf der didaktischen Ebene an den naturwissenschaftlichen Unterricht anknüpfen. Aber auch die Produktionsarbeit konnte als "schöpferisches technisches Handeln" gedeutet werden. So wurde es möglich, die polytechnische Bildung an den bildungstheoretischen Leitbegriff der "allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" anzuschließen. Die polytechnische Bildung erhielt in bildungstheoretischer Hinsicht primär die Aufgabe, diejenigen Persönlichkeitsaspekte zu entwickeln, die von den abstrakten Fächern vernachlässigt werden. Durch diese bildungstheoretische Verankerung erhielt die polytechnische Bildung drei wesentliche pädagogische Funktionen zugewiesen: •
eine Allgemeinbildungsfunktion: Beitrag zur allseitigen Bildung der Persönlichkeit; • eine Erziehungsfunktion: Vermittlung allgemeiner Arbeitstugenden und einer spezifisch sozialistischen Einstellung zur Arbeit; • eine Berufseingliederungsfunktion: Vermittlung berufsvorbereitender Inhalte und dadurch Verkürzung der Berufsausbildung (Qualifikationsaspekt) und Vermittlung sozialer Erfahrungen in der Arbeitswelt und Erwerb gewisser beruflicher Grundfertigkeiten als Orientierungshilfen für die Berufswahl (Sozialisationsaspekt). Im Bereich der vorberuflichen Sozialisation wurde dem polytechnischen Unterricht explizit die Aufgabe zugeschrieben, für die Wahl von Facharbeiterberufen in der materiellen Produktion zu motivieren (vgl. Frankiewicz 1985, S. 608). Leitprinzip der polytechnischen Bildung blieb die Verbindung von Schule und Produktion ("lernend arbeiten, arbeitend lernen";
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Wettstädt 1988, S. 345), das Rückwirkungen auf die Gesamtheit des Fächerkanons haben sollte. Die polytechnische Bildung sollte dadurch strukturbestimmend für die "allgemeinbildende polytechnische Oberschule" werden (vgl. Abb. 3). Man erwartete von den einzelnen Fächern (insbesondere den Natur- und Gesellschaftswissenschaften) nicht nur, daß sie polytechnisch relevante Themen akzentuierten, sondern auch, daß sie die Produktionserfahrungen der Schüler aufgriffen und fachspezifisch verarbeiteten. Die strukturbestimmende Bedeutung des polytechnischen Unterrichts hatte zur Folge, daß dieser Lernbereich in allen Klassen der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule (und sogar darüber hinaus in der Abiturstufe) im Stundenplan ausgewiesen war. In der Unter- und Mittelstufe (Klasse 1-6) wurde er durch den Werk- und Schulgartenunterricht vertreten, in den Klassen 7-10 durch die schulischen Fächer "Technisches Zeichnen" und "Einfuhrung in die sozialistische Produktion" sowie "Produktive Arbeit" im Betrieb. Die theoretischen Bemühungen der Polytechniker um den Anschluß ihres Faches an die Theorie sozialistischer Allgemeinbildung fanden ihre institutionelle Entsprechung in einer durchgängigen Differenzierung von theoretisch-technologischen Lehrplanelementen einerseits, praktischer (Produktions-) Arbeit andererseits. Die formale Differenzierung war bereits im "Werkunterricht" der Unter- und Mittelstufe angedeutet. Die Lehrpläne unterschieden dort systematisch zwischen analytisch orientierten Konstruktionsarbeiten - dem "technischen Modellbau" mittels technischer Baukästen - und der Herstellung gesellschaftlich nützlicher Gegenstände, der "Werkstoffbearbeitung". Die erste Gruppe der Unterrichtsaktivitäten hatte das Ziel, eine Reihe technologischer Grundfunktionen einzuführen und die Schüler mit ersten Elementen der Anwendung dieser Funktionen im Aufbau von Maschinen bekannt zu machen. Die Herstellung "gesellschaftlich nützlicher" Gegenstände dagegen wurde als Beginn der produktiven Arbeit angesehen. In den oberen Klassen nahm die Differenzierung zwischen theoretischen und praktischen Inhalten die Form einer Trennung in verschiedene Fächer an. Die "Einfuhrung in die sozialistische Produktion" (ESP) war als theoretisches, vorwiegend technologisch orientiertes Fach angelegt, das daneben auch ökonomische Aspekte behandelte. Die ESP wurde ihrerseits ergänzt durch den selbständigen
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Fachlehrgang "Technisches Zeichnen". Der Lernbereich "Produktive Arbeit" dagegen wurde davon abgetrennt und in die Betriebe selbst verlagert.
Abb. 3:
Die Struktur des Bildungswesens in der DDR
FacfcschalabetMal
Einrichtungen zur Aua- und Weiterbüdune(l)
Fachschule I (2)
Universitäten und Kochschulen
Fachschule II (3)
Abitar
Fackartotterabscl l « l (9)
betriebliche Berufsausbildung (nur bestimmte Berufe)
betriebliche Berufsauabildung Afrachlii *»t s r t a k l ^ w t g f POS
Abiturldassen in der Berufs aus bildung
A t e h J a l •• K J u m Zehiüduage ABgemembil dende Polytechnische Oberschule (POS)
V onchuleiiuichtungen
(1) (2) (3) (4) (">)
Betriebsakademien und Volkshochschulen Fachschule I (technischer und ökonomischer Dereich im Anschluß an abgeschlossenen Berufsausbildung Fachschule II (par »medizinischer und soaaler Bereich) direkt im Anschluß an die POS Vorkurs zur Erlangung der Hochschulreife schbefit auch "AngesteUtenquahfikationen' des tertiiren Bereiches ein
Mit dieser institutionellen Differenzierung von Technik und Produktion konnten die technologisch-ökonomischen Lerninhalte der polytechnischen Bildung ganz in das Lehrplansystem der allgemeinbildenden Schule eingepaßt werden. Der ESP-Unterricht war ein Schulfach wie alle anderen mit verbindlichen Lehrplänen, Stoffverteilungsplänen und vorgegebenen Unterrichtsmaterialien; bis hin
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zu den Details der zu verwendenden technischen Baukästen sollte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Aber auch die "Produktive Arbeit" in den Betrieben war teil-didaktisiert. Die reale Produktionsarbeit war - nach Maßgabe der betriebsorganisatorischen Möglichkeiten - den älteren Schülern (Klasse 9 und 10) vorbehalten. Die Schüler der Klassen 7 und 8 verrichteten ihre produktive Arbeit im "Polytechnischen Zentrum", das analog zur Lehrwerkstatt der Lehrlingsausbildung einen von der realen Produktion abgetrennten Lernort innerhalb des Betriebes darstellte. Das polytechnische Zentrum als originale, DDR-spezifische Lösung erlaubte eine intensivere pädagogische Betreuung und gewährleistete gleichzeitig die Nähe der realen Produktion mit der Möglichkeit zu sozialen Kontakten, ohne den Produktionsfluß zu beeinträchtigen. Dort konnte im übrigen auch der ESP-Unterricht erteilt werden, so daß in diesem Fall fast die Gesamtheit des polytechnischen Unterrichts an außerschulischen Lernorten stattfand. Die Schaffung eines selbständigen technologisch-ökonomischen Faches einerseits und die Teildidaktisierung der produktiven Arbeit andererseits sind Maßnahmen, um die polytechnische Bildung dem didaktischen Modell der allgemeinbildenden Schule anzupassen. Die interne Kohärenz dieser Maßnahmen war bemerkenswert und wurde in der internationalen Kritik besonders anerkannt (vgl. z.B. Szaniawski 1972, S. 544f.; Grant 1982, S. 134). 8.1.4.3 Die Lehrpläne Die Lehrpläne des Faches ESP gaben eine relativ ausfuhrliche Auflistung der im Unterricht zu behandelnden Inhalte. Für den Bereich "Produktive Arbeit" war diese Genauigkeit nicht möglich, da die Schülertätigkeiten von den Besonderheiten der jeweiligen Betriebe abhingen. Es gab lediglich nach den lokalen Gegebenheiten und nach Produktionssektoren ausdifferenzierte Rahmenpläne, die neben einer allgemeinen Aufgabenbestimmung eine Übersicht über die Arbeitsbereiche für den Schülereinsatz enthielten und die Tätigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten und Arbeitsgewohnheiten festlegten, die der Schüler dabei erwerben sollte. Die Betriebe wählten auf dieser Grundlage Arbeitsplätze und abrechenbare Arbeitsaufgaben aus ihren Produktionsplänen aus (vgl. Frankiewicz u.a. 1988, S. 26f.). Die Rahmenpläne sollten so die Abstimmung zwischen der produk-
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tiven Arbeit der Schüler und den theoretischen Teilen des polytechnischen Unterrichts garantieren. Wie der Name des Faches ESP andeutet, waren die ökonomischen, aber auch die technischen Inhalte des Faches auf die Bedürfnisse des "sozialistischen Betriebs" zugeschnitten. Der Lehrgang begann in Klasse 7 mit allgemeinen Problemen der Herstellung eines Erzeugnisses in einem sozialistischen Produktionsbetrieb und behandelte dann Probleme der Produktionstechnik, nämlich verschiedene Arten der Formgebung eines Gegenstandes. In Klasse 8 standen Fragen der Umwandlung von Energie und Bewegung in der Maschine im Mittelpunkt. Klasse 9 behandelt nach einem betriebswirtschaftlichen Thema, der EfFektivierung der Produktion, die Themenbereiche Elektrotechnik und "Automatisierung der Produktion", die in der 10. Klasse weitergeführt und vertieft wurden. Der Aufbau des Lehrplans folgte also technikwissenschaftlichen Einteilungskriterien und aktuellen wirtschaftlichen Bedürfnissen. Durch die Lehrplanrevisionen der 80er Jahre wurde im Zeichen der "wissenschaftlich-technischen Revolution" den "informationellen Prozessen" innerhalb der Produktion stärkere Aufmerksamkeit gewidmet. Auf die Behandlung der Mikroelektronik sollte in der 9. Klasse schrittweise hingeführt werden. Im Lehrplan der 10. Klasse wurde dieses Stoffgebiet durch die Behandlung des Einsatzes der Mikroelektronik in der Produktion weitergeführt. Außerdem behandelte das Stoffgebiet "Automatisierung der Produktion" in der 9. und 10. Klasse die Grundlagen analoger und digitaler Steuerung, einschließlich numerisch gesteuerter Werkzeugmaschinen. Der quantitative Anteil der "neuen Technologien" im Lehrplan sollte in der 9. Klasse 50 %, in der 10. Klasse 60 % der vorgesehenen Unterrichtszeit betragen. Im Schuljahr 1988/89 wurde zusätzlich ein geschlossener Informatiklehrgang in das Fach ESP eingeführt. Auch in diesem Bereich sollte die theoretische Behandlung dieser Stoffe durch praktisches Kennenlernen automatisierter Produktion während der "Produktiven Arbeit" ergänzt werden, wo die Schüler "zunehmend" an modernen, automatisierten Arbeitsplätzen eingesetzt werden sollten. Allerdings wurden hier die immer schon vorhandenen Probleme des Schülereinsatzes in der "realen Produktion" noch gesteigert. Das Risiko der Beschädigung der teuren Anlagen durch unsachgemäßes Bedienen war unvergleichlich höher, anderer-
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seits blieb der pädagogische Gewinn der praktischen Arbeit begrenzt, da die Schüler letztlich nur als Beobachter neben der automatischen Anlage standen. 8.1.4.4 Probleme der Realisierung Die materielle Ausstattung schien für den polytechnischen Unterricht in der DDR ohne besondere Probleme zu sein. Die Verlagerung der praktischen Arbeit in die Betriebe ersparte die Ausstattung der Schulwerkstätten mit komplexeren technischen Apparaturen. Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben und zwischen Schulklassen und einzelnen Arbeitsbrigaden erleichterten die Zusammenarbeit. Bei den Schülern schien insbesondere der Teilbereich "Produktive Arbeit" beliebt zu sein, da der in 14tägigem Rhythmus durchgeführte Betriebseinsatz als willkommene Abwechslung zum Schulalltag erlebt und der Ernstcharakter der Produktion - selbst im Polytechnischen Zentrum - von den meisten als Aufwertung ihrer Persönlichkeit empfunden wurde. Allerdings lag im Bereich der "Produktiven Arbeit" auch eines der bedeutendsten Probleme. Schüler klagten häufig darüber, daß viele Arbeitsplätze nur monotone Tätigkeiten ohne intellektuellen Anspruch darstellten. Das Monotonieproblem verweist einmal auf die Grenzen der Didaktisierbarkeit der realen Produktion, deren Eigengesetzlichkeit auf die pädagogischen Intentionen wenig Rücksicht nehmen kann. Das Problem der Monotonie verweist darüber hinaus aber auf ein Kernproblem des realen Sozialismus überhaupt: die Erfahrung, daß die reale Produktion oft im Widerspruch zu dem idealen Bild der sozialistischen Gesellschaft stehen kann, das in der Schule vermittelt wurde. Deshalb erlebten viele Schüler die reale Produktion in ideologischer Hinsicht nicht als Festigung, sondern regelrecht als Schock. Für einige Theoretiker der polytechnischen Bildung war das Monotonieerlebnis aber notwendiger Teil der Produktionserfahrungen der Schüler (vgl. Frankiewicz 1980, S. 547). Die Monotonieerfahrungen wurden als eine Herausforderung für die Arbeitsmoral verstanden: Der Einsatz auch bei wenig interessanten Tätigkeiten sollte die Schüler daran gewöhnen, aus gesellschaftlicher Verantwortung ohne Sträuben jede beliebige Arbeit anzunehmen, die gesellschaftlich für notwendig erachtet wurde.
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In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Effizienz der Berufsorientierungsfunktion der "Produktiven Arbeit" zu sehen. Die berufsvorbereitende Funktion des Teilfaches "Produktive Arbeit" sollte im wesentlichen darin bestehen, als Korrektiv der Hochschulorientierung der abstrakten Fächer die Aspirationen der Jugendlichen auf Facharbeiterberufe in der Produktion umzulenken (vgl. Frankiewicz 1985, S. 608). Gerade in dieser Hinsicht wurde aber immer wieder kritisiert (vgl. z.B. Schneider 1984, S. 556), daß "technische Berufe" im Berufswahl verhalten der Schüler, insbesondere auch der Mädchen, nicht die erforderlichen Rangplätze hätten. Das zeigen auch empirische Untersuchungen (z.B. von Fukarek 1987). Danach wurde das Unterrichtsfach "Produktive Arbeit" von den Schülern zwar positiv bewertet, doch eher als Ausgleich zum schulischen Lernen, ohne konkrete Beziehungen zum gewählten Beruf. Das galt auch hier im besonderen Maße für Mädchen. Zum Leitgedanken der Einheit von Schule und Produktion gehört die Forderung, die institutionell-organisatorische Differenzierung des Lernens auch durch einen Bezug des schulischen Fachunterrichts auf die Erfahrungen der Schüler im Betrieb aufzuheben (z.B. Honecker 1982, S. 459). Dieser Aspekt war auch in praktischideologischer Hinsicht äußerst wichtig. Er eröffnete nämlich den Pädagogen die Möglichkeit, die Widersprüche zwischen dem in der Schule vermittelten Idealbild der sozialistischen Gesellschaft und der betrieblichen Realität pädagogisch zu verarbeiten, um damit der ideologischen Verunsicherung der Jugendlichen zu begegnen (vgl. Clauss u.a. 1984, S. 98). Das Einbeziehen unsystematischer Realerfahrungen in das hochstrukturierte System des DDR-Lehrplanwerks stieß allerdings auf strukturelle Hindernisse (vgl. zusammenfassend Hörner 1986, S. 283 ff.; Hörner 1993, S. 295ff). Die Lehrer, insbesondere die der Naturwissenschaften, waren nicht bereit, die ihrer Fachsystematik fremde Logik der Produktion in ihren Unterricht einzubeziehen, da dies die "Lehrplanerfüllung" behinderte. Die angestrebte Synthese von Lernen und Arbeiten scheiterte letztlich an der didaktischen Perfektion des Lehrplansystems. Vor ganz neue Aufgaben wurde die polytechnische Bildung durch den Einzug der Informationstechnik in die produktive Arbeit gestellt. Die Forderung der Didaktiker, dies dürfte nicht zu ei-
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ner Loslösung der Arbeit der Schüler vom realen Produktionsprozeß fuhren, erwies sich schon bald als unhaltbar. Der Wunsch, die Schüler über die Maschinenbedienung hinaus nach einem "für die Allgemeinbildung bedeutsameren Handlungsmodell auszubilden", erwies sich nur "in einem geschlossenen unterrichtlichen Lehrgang" als realisierbar (Frankiewicz/Loos 1987, S. 52). Hier zeigt sich deutlich das Dilemma der "Neuen Technologien" im polytechnischen Unterricht. Durch die Computerisierung wurde die "Produktive Arbeit" selbst wieder abstrakt und fiir den Schüler undurchschaubar; er erlebte eine neue technische Entfremdung, die durch die polytechnische Bildung gerade aufgehoben werden sollte. Das Bemühen, den Schülern die computergestützten Arbeitsformen verständlich zu machen, erlaubte zwar eine stärkere Anbindung der polytechnischen Bildung an die Wissenschaft, aber nicht mehr in der Praxis selbst. Die scheinbare Chance, durch das Erleben der verwissenschaftlichten Produktion das theoretische Anliegen der polytechnischen Bildung - die Integration von Wissenschaft und Produktion - besser zu erfüllen, wurde zunichte durch den Zwang zur didaktischen Auslagerung des Erkenntnisprozesses. 8.1.4.5
Polytechnische Bildung nach dem politischen Umbruch Der politische Umbruch führte in der DDR schon Ende 1989 zu einer Infragestellung der polytechnischen Bildung. Diese läßt sich auf mehreren Ebenen beobachten. Auf der materiell-organisatorischen Ebene versuchten die Betriebe sich sofort ihrer Verpflichtungen zur Unterstützung des polytechnischen Unterricht zu entziehen, da sie angesichts der neuen ökonomischen Situation alle nicht kurzfristig rentablen Kostenfaktoren zu reduzieren bemüht waren. Schwerwiegender noch war die ideologische Krise: "Der polytechnische Charakter der Schule steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einem ganz spezifischen und mit den Erfordernissen der Erneuerung nicht mehr vertretbaren Verständnis von der gesellschaftlichen Funktion der Schule" (Frankiewicz 1990, S. 9). Die Ablehnung war um so heftiger, je enger man die polytechnische Bildung an die Ideologie gekoppelt sah, wie das bei zahlreichen Theoretikern aus der DDR tatsächlich der Fall war. Andererseits erhofften sich im Zuge des Prozesses der deutschen Vereinigung Vertreter der westdeutschen Arbeitslehre aus den Erfahrungen der DDR-Po-
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lytechnik neue Impulse für eine gesamtdeutsche Polytechnik-Diskussion. Diese Impulse sind bisher im wesentlichen ausgeblieben. Durch die im Einigungsvertrag festgeschriebene Übernahme des "gegliederten Schulwesens" übernahmen die "neuen Länder" auch die Grundzüge der westdeutschen Curriculumstruktur. Das Fach Polytechnik wurde ersetzt durch die Konzeptionen der westdeutschen Arbeitslehre (-> 4.2.3). Damit wurde die nach dem Umbruch in der DDR selbst heftig geführte Diskussion, was an der DDR-Polytechnik "bewahrenswert" sei (z.B. der hohe Praxisanteil) und was als ideologische Verirrung zu beseitigen sei (z.B. die einseitige Orientierung auf die industrielle Produktion), auf einen Schlag gegenstandslos. Die Übernahme der westdeutschen Lehrplanstruktur bedeutete insbesondere, daß Technik/Wirtschaft aus dem Pflichtbereich der Sekundarstufe I des Gymnasiums verschwand, dafür aber z.B. profilbildendes Fach in den Hauptschulzweigen der sächsischen Mittelschule bzw. der Sekundärschulen Sachsen-Anhalts wurde. Damit steht das arbeitsorientierte Bildungsprofil auch im formal zweigliedrigen System der südostdeutschen Bundesländer in Konkurrenz zum sprachlichen Profil, das nämlich die Voraussetzung für weiterfuhrende Bildung ist. Eine abweichende Regelung findet sich nur in Brandenburg: dort wurde die Arbeitslehre ab Schuljahr 1993/94 in der Pflichtstundentafel des Gymnasiums verankert, auch wenn die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Erteilung dieses Faches nicht überall günstig sind. Der alte polytechnische Unterricht der DDR-Zeit ist in den ostdeutschen Bundesländern somit allenfalls indirekt über die eingesetzten früheren Polytechniklehrer präsent.
8.1.5
Fazit: Hat polytechnische Bildung noch eine Zukunft?
Die skizzierten Erfahrungen der drei sozialistischen Bildungssysteme haben gezeigt, daß die polytechnische Bildung dort ihre "Daseinsberechtigung" verloren hat, wo sie sich in eine enge Abhängigkeit zur Ideologie begab. Das ist der Fall in der ehemaligen DDR, wo der relative didaktische Erfolg nur dadurch gesichert wurde, daß ein autoritär-dirigistisches Schul- und Gesellschaftssystem die Schü-
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lerströme lenkte und durch ideologischen Druck die Mitarbeit der Betriebe erzwang. In der Russischen Föderation hat die polytechnische Bildung im Kern aber auch trotz der früheren ideologischen Begründung unter einem neuen - westlichen - Namen überlebt. Das läßt sich auf pragmatische Ursachen zurückführen. Auch im "neuen" Rußland gibt es noch keinen Ersatz für einen technischen Unterricht in der allgemeinbildenden Schule, um die Defizite des Berufsbildungssystems auszugleichen. Auch der neue Technologieunterricht behält seine potentiell berufsqualifizierende Funktion bei. In Polen, wo die Polytechnisierung der Schule schon in sozialistischer Zeit stecken geblieben war, scheint es nach dem Umbruch zunächst gelungen zu sein, den Kern des früheren Faches "Arbeit/ Technik" zumindest in reduzierter Form und unter reduziertem Namen ("Technik") weiterzuführen, indem man sich an westliche Konzeptionen technischer Bildung anlehnt. Technik wird dabei nicht mehr zentriert auf Produktionstechnik, sondern als wichtige Komponente der Zivilisation angesehen. Was kann man aus diesen Erfahrungen für die "Zukunftsfähigkeit" der polytechnischen Bildung folgern? Dort, wo polytechnische Bildung die Einheit von Lernen und Arbeiten, von Schule und Produktion postuliert, wird sie wenig Zukunft zu erwarten haben. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und insbesondere die Ausdifferenzierung der schulischen Lernprozesse scheint über diese Leitidee marxistisch-leninistischer Pädagogik hinweggegangen zu sein. Das zeigt die Erfolglosigkeit aller noch so elaborierten Bemühung der DDR-Didaktiker in Bezug auf dieses Postulat ganz deutlich (ausführlicher Hörner 1993, S. 295ff.). Versteht man aber polytechnische Bildung in einem stärker etymologischen Sinn allgemeiner als Befähigung zum Lernen in einer vielfältig technisierten Welt (einschließlich ihrer gesellschaftlichen Dimension), in der die Arbeit - keinesfalls reduziert auf den Produktionssektor - einen, aber nicht den einzigen Sektor bildet, dann wird eine so verstandene polytechnische Bildung weiterhin eine pädagogische wie gesellschaftliche Bedeutung haben - und diese könnte sogar noch zunehmen.
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
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Polytechnische Bildung im östlichen Europa
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692
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
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8.2
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa Wolfgang Hörner
8.2.1
Vorbemerkung
693
8.2.2
Das Beispiel Frankreich: Arbeitsbezogene Bildung zwischen Manueller Erziehung und Hoch-Technologie Historische Aspekte Die Lehrpläne Realisierungsprobleme Der Technologieunterricht als Mittel der Strukturreform
694 694 697 700 702
8.2.2.1 8.2.2.2 8.2.2.3 8.2.2.4
8.2.3 8.2.3.1 8.2.3.2 8.2.3.3 8.2.3.4 8.2.3.5
8.2.4
Das Beispiel England: Praktisches Lernen für das Wirtschaftswachstum? Historische und gesellschaftliche Aspekte Die Fachkonzeption Realisierungsprobleme Technik und Arbeit im "National Curriculum" Eine Zwischenbilanz des arbeitsbezogenen Unterrichts in England Fazit: Schule und Arbeitswelt - Injektion oder Korrelation?
705 705 707 708 712 714 716
Zitierte Literatur
717
Weiterführende Literatur
719
8.2.1
Vorbemerkung
Die meisten Länder Westeuropas haben im Gegensatz zum dominant betrieblich ausgerichteten "Dualen System" der Berufsausbildung in Deutschland ein vorwiegend schulisch bestimmtes Berufsbildungssystem. Dadurch wird auf der oberen Sekundarstufe eine so strikte Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung, wie sie in Deutschland anzutreffen ist, nicht durchgeführt. Das hat einerseits zur Folge, daß in diesen Ländern auf der Sekundarstufe II doppeltqualifizierende Bildungsgänge ein stärkeres Gewicht haben, d.h. daß in diesen Zweigen die Hochschulvorbereitung mit dem Erwerb einer beruflichen Qualifikation auf mittlerer Ebene verknüpft ist. Zum anderen wird schon auf der Sekundarstufe I die Vorbereitung auf die künftige Arbeit in den Bereich der allgemeinbildenden
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Schule verlegt. Arbeitsbezogene Bildung wird verhältnismäßig leichter in den Bereich der Pflichtschule integriert. So ist es auffällig, daß in England und Frankreich, aber auch in Spanien und den Niederlanden durch die Schulreformen der 80er und 90er Jahre ein Fach "Technologie" in den Pflichtbereich der Sekundarstufe I eingeführt wurde, das eine berufsorientierende oder berufsvorbereitende Funktion hat und partiell - so explizit in Spanien - als Kompensation für eine Verstärkung der allgemeinbildenden Komponenten auf der Sekundarstufe II zu verstehen ist. Die Probleme der Einfuhrung solcher technik- und arbeitsbezogener Bildungsinhalte in den Allgemeinbildungsbereich westeuropäischer Bildungssysteme sollen im folgenden an zwei unterschiedlichen Fallbeispielen - Frankreich und Großbritannien (England) als Mitgliedstaaten der Europäischen Union - aufgezeigt werden.
8.2.2
Das Beispiel Frankreich: Arbeitsbezogene Bildung zwischen Manueller Erziehung und Hoch-Technologie
8.2.2.1 Historische Aspekte Zur selben Zeit, als in der Bundesrepublik Deutschland der "Deutsche Ausschuß" über die Einfuhrung der Arbeitslehre nachdachte (-> 4.2.2.2), wurde in Frankreich in einem Teil der Sekundärschulen versuchsweise ein neues Fach mit Namen "Technologie" eingeführt, das als Gegengewicht zur Schulzeitverlängerung die Jugendlichen auf indirekte Weise - durch die Aufnahme der Technik in die verlängerte Allgemeinbildung - auf die Berufswelt vorbereiten sollte. Die indirekte berufsvorbereitende Funktion stand in logischer Verbindung zum Schlüsselbegriff der Reform, dem Begriff der "Orientierung". Dieser Begriff besitzt sowohl einen individuellen (Kennenlernen der verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten im Hinblick auf die spätere Berufswahl) als auch einen sozialen Aspekt (Kanalisierung der Schülerströme im Hinblick auf die Zuweisung sozio-professioneller Positionen). Der Technologieunterricht hatte die Aufgabe, beide Aspekte miteinander in Einklang zu bringen, indem die Schüler zu einer "positiven" Orientierung zu technischen Ausbildungsgängen mittleren und gehobenen Niveaus motiviert werden sollten (vgl. Capelle 1962, S. 8). Diese Zielvorstellung stand im Einklang mit den wirt-
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
695
schaftspolitischen Optionen der 60er Jahre, die von einem erhöhten Bedarf an mittleren Fach- und Führungskräften ausgingen. Folgerichtig setzte der damalige Technologieunterricht erst in der 8. Klasse ein, d.h. nachdem die schwächeren Schüler bereits die allgemeinbildenden Zweige der Sekundärschule verlassen hatten. Das korreliert damit, daß der damalige Technologieunterricht stark theorieorientiert war. Technologie wurde in einem etymologischen Sinn verstanden als "Logik technischer Funktionen" (Géminard 1970). Diese Technologie war nicht in Produktionsabsicht zu betrachten, sondern "mit der Haltung eines Physikers" (Deforge 1970, S. 8). Trotzdem sollte das neue Fach der technischen Entfremdung des Arbeiters gegensteuern und so zu seiner Emanzipation beitragen (vgl. Géminard 1974, S. 4). Wichtigstes didaktisches Mittel des Technologieunterrichts war die Analyse (Demontage) einfacher technischer Objekte, um ihre Funktionsweise zu erkunden. Zu Beginn der 70er Jahre wurde die Technologie zum Pflichtfach für die 8. und 9. Klasse der zwischenzeitlich enttypisierten Sekundarstufe I erklärt. Die Rezession in der ersten Hälfte der 70er Jahre änderte mit der Interessenverschiebung der Wirtschaftspolitik auch die Zielrichtung der vorberuflichen Arbeitsvorbereitung. So wie die Arbeitskräftepolitik nun darauf hinzielte, im Zeichen einer Aufwertung manueller Arbeit die wenigqualifizierten Gastarbeiter durch inländische Arbeitskräfte zu ersetzen, so änderte sich auch die Konzeption des allgemeinbildenden Technikunterrichts: an die Stelle der abstrakten Technologie trat durch die Schulreform von 1975 (vgl. Abb. 1) eine "Manuell-technische Erziehung (EMT)" für die Gesamtheit der Sekundarstufe I mit allen normativen Konnotationen des Erziehungsbegriffs. Lernziele der manuell-technischen Erziehung (vgl. Classes 1977, S. 249ff.) waren das Verständnis der technischen Umwelt, die Vorbereitung auf das praktische Leben, die Einführung in die "technologische Vorgehensweise (démarche technologique)", in zweiter Linie die Entwicklung einer "Intelligenz der Handlung", die besonders den schwächeren Schülern mit Schwierigkeiten im Bereich des Abstraktionsvermögens einen "konkreten" Bereich eröffnen sollte, in dem sie Erfolge verzeichnen konnten. Schließlich sollte die E M T größeres Verständnis für die manuelle Arbeit und die manuell Arbeitenden wecken - mit der unverhohlenen Absicht, die Schüler zu motivieren, manuelle Berufe zu ergreifen.
696
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Abb. 1:
Die Struktur des französischen Schulsystems
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(in 3 Jahren)
(le) (m 2 Jahren)
(2e) (3e) Quatrième Cinquième
(4e)
3e
3e
technologique 4e technologique
préparatoire 4e préparatoire
X
betnebliche Lehre
CPA CPPN
Berufliche Bildung
(5e) (6e)
Classes maternelles
Legende. v o r b f f u f l icher/lehi"vorbereitenda' Z w e i g ( A u s l a u f )
Baccalauréat
(allgemeinbildendes) A b i t u r
BAC Tn
Technikerabitur
Classes Préparatoires a u x Grandes Écoles
BAC Pro
Benjfsabitur
D i p l o m e d'Études Universitaires Générales
BT
T e c h n i k e r Abschluß ( o h n e Abitur)
Institut Universilaire de T e c h n o l o g i e
BEP
F a c h a r t e i t e r - / A n g e s t e l l t e n - D i p l o m (breit profiliert)
Section de Techniciens Supérieurs
CAP
Facharbeiter-'Angestellten-Diplom (aigprollliert)
End e x a m e n
CEP
berufliche Kurzausbildung
Schulpflicht 6 - 16 Jahre
Die für das Fach vorgesehenen Inhalte standen allerdings in einem starken Spannungsverhältnis zu diesen Zielvorstellungen. Die Inhalte kamen zum größten Teil aus dem Bereich der traditionellen Werk- und Hauswirtschaftspädagogik. Tatsächlich wurden auch die bisherigen Werklehrer und Hauswirtschaftslehrerinnen für das neue Fach eingesetzt. Die traditionellen Inhalte wurden jedoch im Licht der neuen Lernziele technologisch uminterpretiert, indem sie die "Einheit des technologischen Prozesses" bei weitgehender Beliebigkeit der Techniken deutlich machen sollten. Dies konnte im Extrem-
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
697
fall zur Vorbereitung einer Schokoladencreme nach algorithmischen Arbeitsanweisungen aus der industriellen Großproduktion gehen. Aber auch dies konnte nicht zu einer Verbesserung des schwachen Prestiges des Faches beitragen. Da es sich zeigte, daß die erhoffte arbeitsmarktpolitische Entlastung durch die Propagierung "manueller Arbeit" im übrigen auf falschen Prämissen beruhte (die meisten Arbeitslosen waren wenig qualifiziert), brachte der politische Wechsel des Jahres 1981 auch eine erneute Änderung der Lehrplankonzeption in Gang. Ausgehend von dem Gedanken des sog. Legrand-Berichtes über die Weiterentwicklung der Sekundarstufe I (vgl. Legrand 1983), die "ManuellTechnische Erziehung" durch eine "technologisch-polytechnische" Bildung mit einem bedeutenden Anteil "Neuer Technologien" zu ersetzen (Legrand 1983, S. 52), wurde 1983/84 durch eine Lehrplankommission auf breiterer Basis eine neue Fachkonzeption entwickelt, die 1984 fast unverändert zum offiziellen Lehrplan gemacht wurde. Die neue Fachkonzeption versucht in gewissem Sinn eine Synthese zwischen dem älteren abstrakten Technologieunterricht, dessen intellektuellen Anspruch sie übernimmt, und der "ManuellTechnischen Erziehung", deren inhaltlich-methodischen Kern - die Herstellung von Gegenständen - sie beibehält. 8.2.2.2 Die Lehrpläne Der neue Technologieunterricht wird von der 6. bis zur 9. Klasse d.h. während der gesamten Sekundarstufe I - im Umfang von drei Wochenstunden erteilt. Die Lehrpläne der vier Klassen bilden eine einheitliche Konzeption. Die neuen Lehrpläne legitimieren den Technologieunterricht durch die bedeutende Rolle der Technik in der Gesellschaft. Der Schüler soll lernen, seine Beziehungen zur (Um-) Welt besser zu beherrschen und so seine Zukunft besser vorzubereiten. Aus dieser globalen Begründung leiten sich neben den aus dem früheren Fach bekannten Zielvorstellungen (Verständnis und Aneignung der Vorgehensweise der Technologie) eine Reihe neuer Leitziele ab. Der Schüler soll sowohl die Beziehungen zwischen der Technik und der Kultur als auch die zwischen dem technischen und dem sozio-ökonomischen Wandel verstehen. Dieses Leitziel läßt sich auf der Ebene
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
der Sekundarstufe I dahingehend konkretisieren, daß die Schüler lernen sollen, das "Wesen" jeglicher technischer Handlung zu verstehen. Diese aber wird definiert als integrierte Anwendung von Wissen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen im Hinblick auf eine konkrete Herstellung in einem projekthaften Verfahren. Eine solche Definition setzt Unterrichtsaktivitäten voraus, die Konzeption, Herstellung und Gebrauch von Gegenständen integrieren, wobei auch die ökonomischen Rahmendaten berücksichtigt werden sollen. Dafür müssen die Schüler allerdings genaue Kenntnisse über verschiedene Technologien (einschließlich ihrer Beziehungen zur Umwelt) erworben haben. Das entstehende technische Objekt muß als Ergebnis einer Arbeitsorganisation verstanden werden, die auf einer technischen und sozialen Arbeitsteilung aufbaut. Dazu schien die Öffnung des Unterrichts hin zu den Orten realer Produktion notwendig. Zum neuen didaktischen Zentrum wird die Herstellung von Gegenständen durch die Schüler nach der Logik des "technischen Projekts". Es geht von einer Bedarfsanalyse aus, die zur Konzeption hin fuhrt und sich in der Herstellung eines Produkts konkretisiert. Die Lehrplanautoren legen Nachdruck darauf, daß die Arbeiten der Schüler authentische Abbilder realer sozialer Handlungen darstellen sollen. Die "sozialen Bezugspraktiken" können unterschiedlich sein (Haushalt, Handwerk, Industrie), aber es ist eine klar begründete Wahl zwischen den sozialen Bezugssystemen zu treffen. Die Lehrpläne schreiben gleichzeitig vor, daß etwa zwei Drittel der vorgesehenen Unterrichtszeit denjenigen Techniken zu widmen ist, deren ökonomische Bedeutung besonders hoch eingeschätzt wird: Mechanik/Automatik, Elektronik und industrielle Informatik, automatisierte Wirtschafts-/Betriebsf!ihrung ("Bürotik"). Dazu kommt eine allgemeine Kenntnis der Arbeitswelt. Das verbleibende Drittel bleibt frei für beliebige technische Aktivitäten nach den spezifischen Interessen von Schülern und Lehrern im Rahmen der lokalen Möglichkeiten. Dieser offene Bereich des Lehrplans stellt faktisch ein Zugeständnis an die traditionelle Werkpädagogik dar, die vor allem hier ihren Platz finden kann. In diesem Zusammenhang betont man auch den pädagogischen Wert der handwerklichen und hauswirtschaftlichen Tätigkeit für eine harmonische Entwicklung der Persönlichkeit. Die ökonomischen Aspekte der Technik bilden in den neuen Lehrplänen keinen selbständigen Lernbereich. Sie sollen auf natürli-
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che Weise in die Herstellungsprojekte integriert werden. Das bedeutet, daß während der Durchfuhrung der Projekte ökonomische Aspekte des technischen Produktionsprozesses herausgestellt werden sollen (z.B. Bedarfsanalyse, ökonomische Organisation der Produktion, Probleme des Verkaufs). Kenntnisse, die nicht mittelbar durch Projekte zu erwerben sind (z.B. betriebswirtschaftliche Fragen), sollen durch komplementäre Unterrichtsformen vermittelt werden. Den Schwerpunkt der als "wirtschaftlich bedeutsam" angesehenen Technikbereiche bilden in den Lehrplänen jedoch die Anwendungen der "neuen Technologien", d.h. der Mikroelektronik. Die Betonung der Mikroelektronik auch im Technologieunterricht folgt einem allgemeinen Trend der Bildungspolitik seit dem Beginn der achtziger Jahre. Dieser schlug sich u.a. in einem umfangreichen Regierungsprogramm zur Ausstattung der Schulen mit Mikrocomputern nieder, dessen Aufwendungen von 17 Millionen Francs im Jahr 1980 auf 227 Millionen Francs im Jahr 1984 stiegen (vgl. Ministère 1983, S. 6). Die Schüsselstellung der Mikroelektronik in den Lehrplänen des Technologieunterrichts ist in allen technischen Subdisziplinen erkennbar. So sollen im Bereich der Fabrikationstechniken die Schüler fähig sein, nicht nur handwerkliche Werkzeuge zu bedienen, sondern auch vorprogrammierte, numerisch und computergesteuerte (Werkzeug-) Maschinen usw. Kenntnisse in einer Programmiersprache sind für die 879. Klasse vorgesehen, jedoch nur, um Möglichkeiten und Grenzen der Infomatik leichter zu verstehen, keinesfalls aus Gründen der Nützlichkeit für einen späteren Beruf. Ein didaktisch bevorzugtes Gebiet stellt die Anwendung der Mikroelektronik im kommerziellen Bereich dar, da sich dieser im Rahmen der Schule "authentischer" abbilden läßt als die industriellen Anwendungszusammenhänge. Darüber hinaus legen die Lehrpläne Wert darauf, interdisziplinäre Verbindungen herzustellen, wobei für die Schüler das Typische technischer Phänomene im Vergleich zur Naturwissenschaft wichtig ist. Die Lehrplanautoren haben also versucht, aus den früheren Erfahrungen zu lernen, indem sie das Verhältnis der Technologie zu den Naturwissenschaften systematisch reflektieren. Die Technologie soll zwar ihre Eigenständigkeit bewahren und sich keinesfalls in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Naturwissenschaft bringen lassen wie der alte Technologieunterricht der siebziger Jahre, andererseits
700
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
korreliert der Allgemeinbildungswert der Technologie aber auch mit ihrer Nähe zu den Naturwissenschaften. Hier zeigt sich, daß die Betonung der "Neuen Technologien" nicht nur ökonomisch-konjunkturell bedingt ist, sondern auch theoretisch-systematische Ursachen hat: sie sollen die Nähe zur Wissenschaft garantieren und damit eine mögliche gesellschaftliche Marginalisierung des Technologieunterrichts verhindern. Die inhaltlich-konzeptionellen Veränderungen beeinflussen auch die Darstellungsweise der Lehrpläne. An die Stelle einer Auflistung der zu behandelnden Themen tritt ein Überblick über die Kenntnisse und Fähigkeiten, die anhand der Projekte erworben werden sollen. Als eine weitere Folge stellt der Lehrplan die Schüleraktivitäten in den Mittelpunkt der empfohlenen Projektpädagogik. Hier liegen zugleich die Originalität und die Problematik der didaktischen Konzeption. Die Hervorhebung der Schülertätigkeit wirft nämlich paradoxerweise sehr pointiert das Problem der Lehrertätigkeit auf. Die Lehrer müssen sich nicht nur mit den neuen Techniken vertraut machen, die sie während ihrer Ausbildung oder ihrer früheren beruflichen Tätigkeit nie erlernt haben. Sie sind zugleich mit völlig neuen didaktischen Aufgaben konfrontiert. Die Lehrplankommission entwarf deshalb eine planmäßig gestufte Weiterbildungsstrategie für die Lehrer. Jeder Lehrer der bisherigen "Manuell-Technischen Erziehung" bekam einen "Weiterbildungskredit" von insgesamt einem Schuljahr. Unter Berücksichtigung der lokalen und regionalen Gegebenheiten konnte dieser "Kredit" in Bildungsmaßnahmen unterschiedlicher Dauer "verbraucht" werden. Die gesamte Weiterbildungsaktion erstreckte sich über einen Zeitraum von 10 Jahren, d.h. sie ist erst jetzt als abgeschlossen zu betrachten. Eine der Maßnahmen, um spontane Phänomene des Widerstandes von seiten der Lehrer zu vermeiden, war die allmähliche und flexible Implementierung der neuen Lehrpläne nach Maßgabe der personellen und materiellen Ausstattung der Schulen. 8.2.2.3 Realisierungsprobleme Grundproblem des älteren Technologieunterrichts zwischen 1962 und 1977 war die Lehrerfrage. Vor allem die nach 1970 beauftragten Physiklehrer hatten oft Schwierigkeiten, die subtile Dialektik des Faches zwischen Konkretion und Abstraktion zu verstehen. Andererseits aber war das Zurückgreifen auf die wenig motivierenden
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
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Gegenstände der technologischen Analyse Folge materieller Engpässe. Ganz ähnliche Phänomene zeigten sich nach der Einführung der "Manuell-Technischen Erziehung". Auch hier mußte auf vorhandene Lehrer anderer Fächer zurückgegriffen werden, denen es schon im Prozeß der Lehrplanerstellung gelang, eine gewisse Zahl von Inhalten aus dem Werk- und Hauswirtschaftsunterricht in das neue Fach "hinüberzuretten", die durch die vorgegebene Lernzielstruktur nachträglich „technologisiert" wurden. Es entstanden starke Inkohärenzen in der Lehrplanstruktur, die die Lehrer verunsicherten, zumal die angebotenen Umschulungsmaßnahmen nach dem Urteil der Teilnehmer kaum ausreichten, um die nötigen Fertigkeiten im Umgang mit den unbekannten Techniken zu vermitteln. Didaktische Fragen wurden in den Weiterbildungskursen überhaupt nicht angesprochen. Aus diesem Grund blieb die Vorbereitung der Lehrer das Hauptproblem der Realisierung der Manuell-Technischen Erziehung. Einen wichtigen Konfliktpunkt bildete dabei die Aufhebung der bisher üblichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung auf Lehrerebene. Während sich diese Aufhebung auf der Schülerebene im allgemeinen ohne nennenswerte Probleme vollzog, offenbarte sich die geforderte Polyvalenz der Lehrer in einer Vielzahl von "Techniken" als Haupthindernis für die Verwirklichung der Reform. Die spezifischen Umschulungsprobleme verstärkten noch das ohnehin vorhandene Prestigedefizit dieser Lehrerkategorie, die wegen ihrer mangelnden wissenschaftlichen Ausbildung im Kollegenkreis um ihre soziale Anerkennung kämpfen mußte. Die Lehrplankommission für den neuen Technologieunterricht hatte versucht, solche Implementationsprobleme von vornherein zu berücksichtigen, um aus den früheren Erfahrungen zu lernen. Trotzdem klagten auch hier zahlreiche "weitergebildete" Lehrer darüber, daß die angebotenen Weiterbildungsveranstaltungen angesichts des revolutionären Wandels der Fachkonzeption und der zu vermittelnden Technologien einfach nicht ausreichten. Auch in der neuen Fachkonzeption erwies sich zudem die Polyvalenz der geforderten technischen Kompetenz in den drei Bereichen Mechanik/Elektronik/Wirtschaft für die Lehrerausbildung als Problem. Im Interesse ihres Berufsprestiges wurde die Ausbildung der Technologielehrer zunehmend "akademisiert". Seit 1988 ist ein
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dreijähriges Universitätsstudium (Ein-Fachstudium!) die Voraussetzung für eine immer kürzer werdende pluridisziplinäre fachliche Vorbereitung auf den Lehramtswettbewerb. Hier ist ein struktureller Konfliktherd zwischen der innovativen, auf fachübergreifenden Projekten aufbauenden Unterrichtskonzeption und dem Wissenschaftssystem der Hochschulen angelegt. Eine interne Evaluation des Faches im Hinblick auf eine mögliche Überarbeitung der Lehrpläne ergab, daß gerade die Projektorientierung des Unterrichts Quelle von Realisierungsproblemen ist: ein gewisser linear-stereotyp angelegter Projektablauf ist auf Unsicherheiten der Lehrer zurückzuführen, die zu wenig auf die Progression der Projekte von der 6. bis zur 9. Klasse und die enge Verknüpfung der Projekte mit den kognitiven Lernzielen achten. Interessanterweise wird die bisherige informationstechnische Dimension des Lehrplanes weitgehend als überholt angesehen. Die Einfuhrung in Programmiersprachen ist angesichts des breiten Angebots an Anwendersoftware obsolet, wenn der Computer wie im Technologieunterricht vorwiegend als Arbeitsmittel angesehen wird. Einen gewissen Einfluß auf die Realisierungsbedingungen des "normalen" Technologieunterrichts übte auch eine schulstrukturelle Innovation aus, die einen Teil der Lehrkapazität für das Fach Technologie band: die Einrichtung der "technologischen Klassen" als Zwischenbereich zwischen der allgemeinbildenden Sekundarstufe I und der Berufsausbildung. Da diese Reformmaßnahme gerade unter arbeitsweltpädagogischen Aspekten ein bemerkenswertes Phänomen und zudem ein wichtiges Element der bildungspolitischen "Philosophie" Frankreichs darstellt (vgl. Hörner 1994), soll es im folgenden kurz skizziert werden. 8.2.2.4
Der Technologieunterricht als Mittel der Strukturreform Eine oft gerügte Inkonsequenz der Strukturreform des Jahres 1975, die eine einheitliche Sekundarstufe I für alle Schüler schaffen wollte, war die Beibehaltung von zwei Ausweichzweigen nach der 7. Klasse: es handelte sich dabei einerseits um den vorzeitigen Wechsel an die Berufsfachschulen, um dort eine 3jährige Ausbildung auf Facharbeiterniveau zu beginnen und andererseits um den Übergang in den vorberuflich-lehrvorbereitenden Zweig. Dieser Zweig über-
Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
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nahm die Funktion von Warteklassen für Schulversager bis zum Ende der Schulpflicht. Als mit Beginn der 80er Jahre als Ziel der französischen Bildungspolitik proklamiert wurde, keinen Jugendlichen ohne Ausbildung zu lassen und 80 % eines Altersjahrgangs auf Abiturniveau zu bringen, wurden beide Ausweichzweige einer Revision unterzogen. Im Rahmen der dreijährigen Ausbildungsgänge an der Berufsfachschule wurde die formale Möglichkeit gegeben, den vollständigen Abschluß der Sekundarstufe I („Mittlere Reife") zu erwerben. In Anlehnung an die Gepflogenheiten der allgemeinbildenden Schule wurde den ersten beiden Klassen die Bezeichnung „vorbereitende 8./9. Klasse (4 e /3 e préparatoires)" gegeben. Parallel dazu wurde 1986 ein „technologischer Zweig (4 e /3 e technologiques)" als Alternative zum normalen Unterricht auf der Orientierungsstufe (Klasse 8 und 9) der Sekundarstufe I geschaffen. In diesem Zweig sollten die vorberuflichen Klassen aufgehen, mittelfristig sollte er aber auch dazu dienen, die 3jährigen (Facharbeiter-) Ausbildungsgänge im Anschluß an die 7. Klasse zu absorbieren. Die Etablierung dieser "technologischen Klassen" hatte also das langfristige Ziel, durch eine gezieltere Förderung auch die schwächeren Schüler zum Abschluß der Sekundarstufe I und zu einer nachfolgenden Berufsausbildung zu fuhren, um ihnen die Möglichkeit offen zu halten, nach der Berufsausbildung über das Berufsabitur auf Abiturniveau zu kommen. Das didaktische Konzept für diese Ausschöpfung der "Begabungsreserven" war dem Technologieunterricht der normalen Klassen entlehnt: es war das "Technische Projekt", das durch ein hohes Stundenkontingent (anfangs 10 Wochenstunden) des Technologieunterrichts und die Einbeziehung der anderen Fächer (insbesondere des muttersprachlichen Unterrichts, der Mathematik und der Naturwissenschaften) zum strukturbestimmenden Element dieser Klassen werden sollte. Die Lehrpläne der einzelnen Fächer waren entsprechend dem didaktischen Gesamtkonzept im wesentlichen auf Lernzielangaben reduziert und sollten so die Verfolgung "transversaler" (disziplinübergreifender) Bildungs- und Erziehungsziele begünstigen. Der Projektansatz und die Betonung der praktischen Dimension sollte gerade den schwächeren Schülern über eine stärkere Motivation Erfolgserlebnisse vermitteln. Die "technologischen Klas-
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
sen" waren zunächst sowohl an Berufsfachschulen als auch (seltener) an allgemeinbildenden Schulen eingerichtet worden. In dem Maße, wie als Folge der berufsbildungspolitischen Optionen in Frankreich (vgl. Hörner 1994, S. 292f.) die 3jährigen eng profilierten Ausbildungsgänge im Anschluß an die 7. Klasse zugunsten breiterer Berufsbildungsprofile im Anschluß an die 9. Klasse eingetrocknet wurden, wurden auch die "technologischen Klassen" stärker an die allgemeinbildenden Schulen verlegt. Der Assimilationsdruck zum "normalen" Unterricht ist erheblich: durch die jüngsten Lehrplanrevisionen (1993) wurde das Stundenkontingent des Faches Technologie auf 7 Wochenstunden gekürzt und dafür den allgemeinbildenden "Kernfächern" (Muttersprache, Mathematik, Sozial- und Naturwissenschaften) mehr Raum gegeben - mit der Verpflichtung dieser Fächer, im Gegenzug stärker bei den "technischen Projekten" mitzuarbeiten. Erste Erfahrungsberichte über die Praxis dieser Unterrichtszweige (vgl. Hornemann 1989) stellen - genau wie anderswo - die Probleme der Lehrer mit dem Projektansatz heraus. Die Schüler scheinen in den technischen Komponenten des Unterrichts eher die Berufsorientierungsfunktion positiv aufzunehmen; die allgemeinbildende Dimension der Technologie wird weniger deutlich wahrgenommen. Nach ihren Selbstaussagen haben die Schüler dieser Klassen wieder mehr Lernerfolge aufzuweisen. Was den objektivierbaren Erfolg der "technologischen Klassen" betrifft, so zeigt eine repräsentative Stichprobenerhebung der Abgänger des Schuljahres 1990/1991 (vgl. Martin 1993), daß 78 % der Absolventen tatsächlich ihren (Aus-) Bildungsgang an einer Berufsfachschule fortsetzen, etwa 10 % brechen ihren Ausbildungsgang ab, 4 % nehmen ein Lehrverhältnis auf, 3 % wiederholen die Klasse. Nur 3 % wechseln in eine gymnasiale Oberstufe und wählen dort meist eine technische (doppeltqualifizierende) Sektion (zu deren Stellenwert vgl. Hörner 1992), wobei die Erfolgsquoten aber begrenzt bleiben: Weniger als die Hälfte von ihnen (44,7 %) gelangten ein Jahr später in die nächste (11.) Klasse. Ein Viertel wiederholt die Klasse, 19 % beginnen eine Berufsausbildung. Diese Zahlen zeigen deutlich die Tendenz des Erfolgs der "technologischen Klassen": Der didaktischen Konzeption scheint es über
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die technik-/arbeitsbezogene Projektpädagogik tatsächlich zu gelingen, die Schüler, die früher ohne jede Ausbildung auf den Arbeitsmarkt gelangt wären, für eine Ausbildung auf Facharbeiterniveau zu motivieren. Darüber hinausgehende Bildungsaspirationen sind selten und relativ wenig erfolgreich. Allerdings sagt die Statistik noch nichts darüber aus, wer von dieser Stichprobe nach der Berufsausbildung ein Berufsabitur anstrebt - generell setzt heute jeder 2. Absolvent der Facharbeiterausbildung nach einer vollständigen Sekundarstufe I seinen Ausbildungsgang fort (vgl. Hörner 1994, S. 293).
8.2.3
Das Beispiel England: Praktisches Lernen für das Wirtschaftswachstum?
8.2.3.1 Historische und gesellschaftliche Aspekte Die Klage über die Schwäche der britischen Industrie im Vergleich zur Wirtschaftskraft anderer europäischer Partner ist seit den siebziger Jahren ein wichtiger Topos in der wirtschaftspolitischen Literatur des Landes. So beklagen britische Politiker zum Beispiel, daß Großbritannien im Vergleich zu anderen europäischen Konkurrenten die wenigsten Techniker unter den Graduierten habe, und lasten dies einer "antitechnischen Tradition" der britischen Gesellschaft an (ausfuhrlicher Hörner 1993, S. 98ff.). Eine wichtige Ursache für dieses Problem sehen Sozialhistoriker und Bildungssoziologen in einer Fehlorientierung des Bildungswesens (vgl. Dore 1985, S. l l l f . ; Jamieson/Tasker 1988, S. 19; Lawton 1983, S. 45ff.; Young 1987, S. 75; Mathieson/Bernbaum 1988, S. 126ff.), die aber korrigierbar sei. Bildung wird deshalb zum "Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit" (Dore 1985, S. 112) erklärt. Das Versagen des Bildungswesens selbst versuchte man unter der Metapher der "englischen Krankheit" (Roderick/Stephens 1978; Mathieson/Bernbaum 1988) aus den traditionellen Gesellschaftsstrukturen des Landes zu erklären. Auch im Zeitalter der Industrialisierung blieb das soziale Verhaltensparadigma des aufstrebenden Bürgertums die Lebensart des adligen Grundbesitzers und dessen "snobistisch-ruralistische Verachtung der Technik" (Dore 1985, S. 110; vgl. außerdem Lawton 1983, S. 43; Wiener 1981; Mathieson/ Bernbaum 1988). Die Aufstiegsmotivation der Industrieunternehmer
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zielte lediglich auf den Eintritt in den gesellschaftlichen Kreis des grundbesitzenden Landadels ("gentrification of the industrialist", so Wiener 1981, S. 127). D a f ü r die dominierenden sozialen Gruppen die Bildung der Persönlichkeit und der Erwerb von Führungsqualitäten - nicht zuletzt im Hinblick auf spätere Leitungspositionen im Rahmen der Kolonialverwaltung - wichtiger war als spezielles Sachwissen, schien eine Adaptierung des klassisch-humanistischen Bildungskanons völlig ausreichend. Das Verhältnis von Schule und Wirtschaft wurde im Oktober 1976 vom damaligen Premierminister J. Callaghan (Labour Party) persönlich in einer berühmt gewordenen Rede im Ruskin College (Oxford) thematisiert (Wortlaut in "Times Educational Supplement" vom 22.10.1976; vgl. auch McCulloch u.a. 1985, S. 193ff.). Der Premier löste damit die sogenannte "Great Debate" über die gesellschaftliche Relevanz des Schulcurriculum aus. Er äußerte sich nämlich besorgt über Klagen der Unternehmer, die neu eingestellten jugendlichen Arbeitskräfte hätten nicht die richtigen "Grundwerkzeuge" für die Arbeit im Betrieb. Außerdem würden die leistungsfähigeren Studenten die Arbeit in der Industrie scheuen und stattdessen Tätigkeiten in Wissenschaft und Verwaltung vorziehen. Die Theorielastigkeit und Praxisferne des naturwissenschaftlichen Unterrichts sei dafür verantwortlich zu machen, daß Tausende von Studienplätzen in den Ingenieurwissenschaften unbesetzt blieben, während die Geisteswissenschaften überfüllt seien. Natürlich rief der Premierminister Schule und Industrie auf, in einen intensiveren Dialog zu treten. Die industriefreundliche Rede eines Labour-Führers über die ökonomische Funktion der Schule erregte erwartungsgemäß starke Reaktionen und gab den Kräften Auftrieb, die sich für einen stärkeren Praxis- und Technikbezug des Schulcurriculum einsetzten. Nationale und regionale Organisationen und Zentren der Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft, die im Umfeld von Curriculumprojekten entstanden waren, bekamen neuen Aufschwung und vernetzten sich (vgl. ausführlicher Hörner 1993, S. 107f.). Die "Große Debatte" hatte zugleich Rückwirkungen auf die Theoriediskussion über den Bezugsbegriff der "praxisrelevanten" Curriculuminhalte. Die englische Sprache hat kein eigenes Wort für "Technik" (im Unterschied zu "Technologie"). Beides, praktische
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Technik und theoretische Technologie, läßt sich nur durch dasselbe Wort "technology" ausdrücken (das Wort "technique" bedeutet "Fertigkeit"). Die etymologische Nähe von "technology" zum wissenschaftlichen "Logos" wirkte sich in der Schule aber dahingehend aus, daß die "school technology" - in den Augen "praxisnaher" Didaktiker - zu eng an den naturwissenschaftlichen Unterricht angelehnt war und so kein eigenes Profil bekommen konnte. Die Schule blieb bestimmt vom Dualismus der "zwei Kulturen" - arts/sciences (vgl. Snow 1959). Diese Polarisierung versuchten einige der Wirtschaft nahestehenden Theoretiker durch eine begrifflichen Entlehnung aus dem Deutschen aufzubrechen. Sie übernahmen den deutschen Begriff "Technik" und werteten ihn zur "dritten Kultur" auf, d.h. zur eigenständigen Bildungsdimension neben der sprachlich-künstlerischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung (vgl. DOI 1977, S. 2; Engineering 1980, S. 24; ähnlich Life/Wild 1981, S. 3; Raggatt 1988, S. 180). Dabei setzten sie voraus, daß die Bildungsdimension "Technik" auch in der deutschen Schule Wirklichkeit sei (zur Problematisierung Hörner 1985). Diese konzeptionell-terminologischen Erwägungen scheinen zur Öffnung der Schule für Dimensionen praktisch-vorberuflichen Lernens beigetragen zu haben, wie sie vor allem durch Initiativen der Wirtschaftsverwaltung am Rande der durch das Schulsystem selbst getragenen Curriculumentwicklung in die allgemeinbildende Schule eingebracht wurden. 8.2.3.2 Die Fachkonzeption Traditionell gab es in der englischen Schule (vgl. Abb. 2) einen handwerklich ausgerichteten Werkunterricht ("handicraft"), der später unter dem Einfluß von Theorien kreativer Problemlösung den Namen "Craft and Design" annahm. In den 70er Jahren wurde der Name vielfach noch durch den Begriff "technology" erweitert (und modernisiert), so daß das Fach nun meist als "Craft, Design and Technology" (CDT) geführt wurde. Dieses dritte Element, die "Technology" wurde wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutung aber auch in einzelnen Curriculumprojekten isoliert zum Unterrichtsgegenstand gemacht.
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Der CDT-Unterricht war seit den 70er Jahren konzeptionell bestimmt vom schwer übersetzbaren Begriff "design" (etwa: technischer Entwurf) (vgl. auch Bierhoff/Prais 1993, S. 221f.). Darunter verstanden die englischen Didaktiker einen kreativen Prozeß der Problemlösung, "die Entwicklung eines angemessenen Bewußtseins der ästhetischen und funktionalen Richtigkeit vom Menschen hergestellter Gegenstände" (Williams 1985, S. 7). Design stellte demnach eine "genuine Mischung intellektueller und praktischer Fähigkeiten dar" (Eggleston 1976, S. 14). Allerdings muß der Problemlösungsprozeß "mit dreidimensionalen Materialien" erfolgen (Eggleston 1971, S. 179; Eggleston 1976, S. 14). Der dritte Begriff in der Dreiergruppe CDT, die "technology" ist demgegenüber etwas stärker analytisch ausgerichtet. Die begrifflichen Abgrenzungen sind jedoch unscharf, denn einerseits wurde auch "technology" als Problemlöseprozeß verstanden, "durch den der Mensch alle ihm verfugbaren Mittel gebraucht, um ein menschliches Bedürfnis zu erfüllen" (Marriot 1973, S. 114), andererseits betonen moderne Definitionen von "design", daß sich der Prozeß nicht nur auf die Herstellung von Gegenständen bezieht, sondern auch auf die Planung von Systemen. Damit wurde der Weg frei, die Herstellungsaufgabe, die unverzichtbarer Bestandteil der CDT-Konzeption ist, auf "nicht-materielle" Gegenstände (Informatik) auszudehnen. 8.2.3.3 Realisierungsprobleme In der traditionellen dezentralen Curriculumstruktur Englands war es bis in die jüngste Vergangenheit Angelegenheit der Schule, welche Fachkonzeption sie tatsächlich implementierte. So standen CDT und Curriculumprojekte um "School Technology" in Konkurrenz zueinander. Eine gewisse koordinierende Lenkung dieser dezentralen Implementation erfolgte nur über die Abschlußexamina. So ist die Examensstatistik auch der zuverlässigste Indikator für die tatsächliche Verbreitung des technischen Lernbereichs. Für das Jahr 1985/86 weist die offizielle Statistik für England 10,9 % der Schüler aus, die ein Examen in CDT als Abschluß der Sek. I ablegten (vgl. Statistical Bulletin 1988, Tab. 8). Im Jahr 1985/86 wählten nur 1,1 % der Schüler und 0,3 % der Schülerinnen das Fach für eine Prüfung auf Abitursniveau (vgl. Statistical Bulletin 1988, Tab. 10). Diese Proportionen wurden auch für die neuere Zeit (1989) durch die Examensstatistik einer zufällig gewählten Einzelschule bestätigt (ausfuhrlicher Hörner 1993, S. 136).
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Probleme mangelnder Unterrichtsmaterialien für den technischen Unterricht sind in England vergleichsweise seltener - sie werden resorbiert durch die Flexibilität dezentraler Lösungsmöglichkeiten und das Netz der Organisationen, die die Einführung technischer Inhalte in der Schule unterstützen. Hier wirkt sich auch die Möglichkeit einer stärkeren Verflechtung der dezentralen Schulverwaltung mit dem sozio-ökonomischen Umfeld ("links with industry") positiv aus. Allerdings weisen Erfahrungsberichte auch auf das Problem hin, daß gerade der Unterricht, der durch die "school technology" beeinflußt wird, oft einfach auf technische Baukästen zurückgreift. Dabei wird die Ganzheitlichkeit der technischen Arbeit aufgegeben. Der Realitätscharakter der Aufgabe geht verloren, ästhetische und soziale Aspekte werden nicht mehr thematisiert (vgl. DES 1982, S. 24). Die Zuflucht zum Baukasten ist oft ein Problem der Lehrer. Wie in anderen Ländern leiden die Lehrer für den technischen Unterricht unter Ausbildungsdefiziten und, damit verbunden, unter einem niedrigen Prestige im Kollegenkreis. Es ist im übrigen auffallend, daß es nur eine verschwindend geringe Zahl von Lehrerinnen im CDTFachbereich gibt. Dies steht der angestrebten größeren Motivation von Mädchen für den technischen Lernbereich aber diametral entgegen (vgl. DES 1982, S. 20). Überraschend ist eine unterrichtsorganisatorische Erklärung für die bescheidenen Ergebnisse des Unterrichts und damit auch dessen niedriges Prestige. Während z.B. in Deutschland Klassenprojekte die Regel sind - alle Schüler haben dieselbe Herstellungsaufgabe kann in England jeder Schüler eine individuelle Aufgabe wählen. Negative Folge ist ein Dispersion der Lehrertätigkeit in Anleitung und Hilfe, die zu einem niedrigen Bearbeitungsniveau und langen Wartezeiten beim Schüler führt - all dies ist letztlich demotivierend (vgl. BierhoffTPrais 1993, S. 222f.). Die Akzentuierung des Planungsaspekts im "Design" führt im übrigen in den Augen kritischer Evaluatoren zu einer Hypertrophie von Papierarbeit zu Lasten der praktischen Herstellung (vgl. BierhofFPrais 1993, S. 223). Ein wichtiger Indikator für den "Erfolg" des technischen Lernbereichs ist die Haltung der Abnehmer. Während die Schüler, die den Bereich gewählt haben, darin oft einen willkommenen Ausgleich zu den abstrakten Fächern sehen oder ganz einfach der zweiten Fremdsprache ausweichen wollen, sehen die Eltern die technischen Aktivi-
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täten eher als marginal und als Zeitverlust an. Das gilt noch stärker für die Universitäten, die als Zugangsqualifikation nach wie vor "klassische" Naturwissenschaften bevorzugen (vgl. DES 1982, S. 18). Es ist "die vorherrschende Emphase des Examenssystems auf akademischer Leistung selbst auf der Ebene der jüngeren Schulkinder", die weiter fortfährt "die wünschenswerte Bewegung hin zu einer technologisch alphabetisierten Gesellschaft zu verhindern" (Mc Culloch u.a. 1985, S. 203). Dem Mißtrauen der Universitäten gegenüber den "angewandten" technischen Abschlüssen schließen sich paradoxerweise auch viele einstellende Betriebe an (vgl. Jamieson/ Tasker 1988, .S. 20). Die vergleichsweise geringe Wirkung des Technikunterrichts in Bezug auf das gewünschte Ziel der stärkeren Verbindung der Schule mit der Arbeitswelt veranlaßte die dem Wirtschaftsressort zugeordnete "Manpower Services Commission" zur Durchführung und Finanzierung verschiedener Programme zur Berufseingliederung (arbeitsloser) Jugendlicher. Als Ergänzung zu den Arbeitslosenprogrammen wurde 1983 die "Technical and Vocational Education Initiative" (TVEI) ins Leben gerufen. Durch den Schulversuch sollten die teilnehmenden Schulen für die Altersgruppe der 1418jährigen - also zwei Jahre vor Ende der Pflichtschulzeit bis zum Ende der Sekundarstufe II - besondere Angebote an berufsvorbereitenden (vor allem technischen und ökonomischen) Inhalten machen. Die MSC finanzierte die zusätzlichen Sach- und Personalkosten und vermittelte Kontakte zur Industrie, da in dem Versuch auch praktische Arbeitserfahrungen der Schüler vorgesehen waren. Die einzelnen Kurse des Programms konnten durch anerkannte allgemeinbildende oder berufsqualifizierende Prüfungen abgeschlossen werden. Das Versuchsprogramm bemühte sich somit, dem Mangel an formaler Berufsbildung dadurch zu begegnen, daß die Trennung von allgemeinbildenden und berufsvorbereitenden Inhalten schon vor Ende der Pflichtschulzeit aufgehoben und die Integration beider Elemente in der Sekundarstufe II beibehalten wurde. Die beteiligten Schulen hatten in der didaktischen Ausgestaltung der sehr allgemeinen Rahmenvorgaben weitgehende Gestaltungsfreiheit und konnten somit gerade im Bereich technischer Bildung auf unterschiedliche didaktische Modelle zurückgreifen. Die Konkretisierung des TVEI-Programms kann etwa folgende Gestalt an-
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Abb. 2:
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Die Struktur des Bildungssystems in England und Wales
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GCE (A-level)
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GCE (A-level)
- General Certificate of Education (Advanced Level)
GCSE
= General Certificate of Secondary Education
nehmen (nach Ewen 1988). Die beteiligten Schüler besuchen in einem Jahr ein Pflichtfach "Lebenskunde" und müssen aus einem Angebot von 8 Wahlpflichtkursen aus dem Bereich Technik und Wirtschaft (einschließlich Deutsch für Wirtschaftszwecke) drei Kurse auswählen. Diese TVEI-Angebote nahmen etwa 40 % der Gesamtstundenzahl ein. Der zunächst vorgesehene Wahlmodus hatte
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allerdings zur Folge, daß die Mädchen die technischen Kurse durchweg vermieden und in ihrem Wahlverhalten die herrschenden Geschlechtsstereotypen reproduzierten. Sie wählten schwerpunktmäßig Ernährungslehre, Wirtschaftskunde und Deutsch. Die Initiatoren des Versuchs versuchten, dem in der Folge gegenzusteuern, indem sie Technologie zum Pflichtfach machten. Allerdings zeigt auch hier eine breitere regionale Evaluation des Programms (vgl. Saunders 1988), daß die Mehrzahl der einbezogenen Schulen die Wahlangebote oft in die vorhandene eigene Curriculumstruktur integrierte, d.h. die zusätzlichen Mittel in Anspruch nahm, ohne das Gesamtkonzept zu realisieren. Selbst grundsätzliche Befürworter des TVEI-Programms räumen ein, daß TVEI "im realen sozialen Kontext" faktisch als sozial selektives Differenzierungsinstrument wirken kann, in dem wissenschaftsorientierte ("academic") Inhalte flir die zukünftige "professional class", dagegen "praktische Inhalte aber für die übrigen" (Pring 1985/86, S. 14) angeboten werden. Kritiker sahen in diesem Programm generell den Versuch einer "Verberuflichung" (vocationalisation) der Sekundärschule, d.h. ihrer Unterwerfung unter unmittelbare ökonomische Verwertungsinteressen zu Lasten ihres pädagogischen Auftrags (so Young 1987, S. 77), während eine eher positive Wertung dieser Initiative darin das begrüßenswerte Bestreben anerkannte, die negative soziale Haltung der britischen Gesellschaft gegenüber der Technik aufzubrechen (vgl. Raggatt 1988, S. 180). Es mag bezeichnend sein, daß diese Initiative sozusagen an der traditionellen Bildungsverwaltung vorbei durchgeführt wurde, um mögliche bürokratische Blockierungen zu umgehen. 8.2.3.4 Technik und Arbeit im "National Curriculum" Im Gefolge des Bildungsreformgesetzes vom 29.07.1988, das darauf abzielte, die zentrale Aufsicht über das Bildungswesen zu etablieren, wurde erstmalig ein "Nationales Curriculum" eingeführt, d.h. ein verbindlicher Fächerkanon, dem verbindliche "Lehrplantexte" für die einzelnen Fächer folgen sollten. Das Nationale Curriculum hat 10 Pflichtfächer. Dazu gehört auch "Technology". Alle 10 Fächer müssen über die ganze Zeit der Schulpflicht unterrichtet werden. In der Begründung der Einfuhrung eines solchen Pflichtkerns wird ausdrücklich darauf verwiesen, daß im Wahlfachsystem
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die Mädchen den technischen Inhalten aus dem Wege gegangen seien und daß es dies zu vermeiden galt. Deshalb gehörte die Einführung eines obligatorischen M Technologie"-Unterrichts zu den tiefgreifendsten Maßnahmen der Einfuhrung des Nationalen Curriculum. Die "Lehrpläne" der einzelnen Fächer legen die zu erreichenden globalen Lernziele fest. Für den Bereich Technologie sind das z.B. 5 (Identifizierung von Bedürfnissen; Erstellung eines Design; Planung und Herstellung; Evaluierung; Fähigkeit zum Umgang mit Informationstechnik), wovon die ersten 4 sich auf die Etappen des "Design" beziehen, das letzte auf Informationstechnik. Die Ziele selbst sind in 10 Niveaustufen eingeteilt, die in der Beschreibung des Fachcurriculum den 4 Altersstufen des Pflichtschulbereichs zugeordnet werden (vgl. Moon 1991, S. 2f.; S. 66f). Dann erst folgen im Curriculum noch relativ abstrakte Hinweise auf die zu behandelnden Themen (programs of study) mit Beispielen. Das "Nationale Curriculum" ist also hoch komplex aufgebaut, stark formalisiert, lernzielorientiert und soll eine objektive Evaluation und einen hohen gemeinsamen Standard sichern. 1990 wurde eine erste Curriculumversion für das Fach Technologie eingeführt. Das so benannte Fach besteht eigentlich aus einer Integration der alten Fächer CDT und Hauswirtschaft. Dazu kommt noch als getrennter Bereich Informationstechnik (vgl. Moon 1991, S. 66f.). Leitgedanke ist die Verbindung von Denken/Planen und Tun als Ausgleich zu den abstrakten Fächern. Im Vordergrund steht also das Ziel einer ausgeglichenen Persönlichkeitsentwicklung. Zugleich aber wird der Bezug zur Arbeitswelt hergestellt, da die Technik Arbeitsplätze verändert und auf die Lebensstile der Menschen einwirkt. Neben dem arbeitsweltlich-beschäftigungspolitischen Aspekt wird auch die Notwendigkeit von Technikakzeptanz als gesellschaftliche Begründung für das Fach angeführt. Es gelte deutlich zu machen, daß die technische Entwicklung unumkehrbar ist. Die erste Version des Fachcurriculum blieb allerdings umstritten und wurde nach negativen Erfahrungsberichten zur erneuten Überarbeitung gegeben. Die Neuformulierung des Technologiecurriculum fügte sich schließlich in eine Revision des gesamten "Nationalen Curriculum" ein.
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Der jetzt vorliegende Neuentwurf (vgl. SCAA 1994) bemüht sich um eine Vereinfachung der Darstellung im Interesse größerer Klarheit und Praktikabilität, zugleich aber auch um eine Erweiterung des Spielraums der Lehrer, indem z.B. die vergleichsweise enge Festlegung der 10 Niveaustufen in eine weiter gefaßte Beschreibung der Lernzielebenen umgewandelt wurde. Die Grundstruktur des Lehrplans bleibt jedoch bestehen. Jede Altersstufe soll je unterschiedlich ausdifferenzierte Fähigkeiten im Entwerfen, Herstellen, Planen und Evaluieren von Objekten entwickeln und dabei Kenntnisse und Verständnis von Zusammenhängen erwerben. Dieser bekannte Grundgedanke der Design-Konzeption - die Verbindung von Tun und Verstehen - wird quasi stereotyp für jede Altersstufe wiederholt. Das Curriculum bleibt also in der englischen Tradition "designorientiert". Die Informationstechnik wird als eigenständiger Bereich behandelt. 8.2.3.5
Eine Zwischenbilanz des arbeitsbezogenen Unterrichts in England In seiner kritischen Analyse der Entwicklung des "arbeitsbezogenen Curriculum" in England betont Jamieson (vgl. Jamieson 1993) die Ambivalenzen dieses Begriffs und dies sowohl in der Konzeption als auch in der Realisierung. Die Ambivalenz bezieht sich zunächst auf die (bildungspolitische) Wertung des Gegensatzes von "zweckfreier" (liberal) und "verberuflichter" (vocationalised) Bildung. Die "Verberuflichung" kann sowohl als Diktat der Industrie als auch als reformpädagogisch ("progressive") inspirierte Bewegung gegen die Entfremdung von Schule und Leben gedeutet werden. Analoges gilt für den Arbeitsbegriff. Die Arbeit ("work") als didaktischer Bezugsbegriff erlaubt die Referenz auf einen anerkannten Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft (Ergonomie, Industriesoziologie usw.). Dennoch ist die Fokussierung des Curriculum auf "Arbeit" für viele Lehrer, für die das Vermitteln von Fachkenntnissen im Vordergrund steht, zu einseitig instrumenten. Eine ähnliche Ambivalenz läßt sich im bildungspolitischen Begründungszusammenhang des arbeitsbezogenen Curriculum feststellen: •
Der mögliche Beitrag zur volkswirtschaftlichen Prosperität bleibt unklar, solange der volkswirtschaftliche Bedarf und seine Verknüpfung mit der Schule nicht präzisiert werden kann;
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•
der mögliche Beitrag zum Übergang von der Schule in die Arbeitswelt bleibt unklar, solange nicht die entscheidenden Brüche zwischen beiden Bereichen und die Möglichkeiten der Schule, sie zu überwinden, identifiziert werden können; • der mögliche Beitrag zu einer (arbeitsbezogenen) Persönlichkeitsentwicklung bleibt unklar, solange nicht sicher ist, daß der Ansatz des erfahrungsbezogenen Lernens wirklich für alle Schüler die besten Lernergebnisse erzielt; • der mögliche Beitrag zur Entwicklung kritischer Staatsbürger (als Produzenten und Verbraucher) bleibt unklar, solange das "Verständnis für ökonomische Prozesse" - in der Formulierung der Richtlinientexte - nicht näher bestimmt wird. Was die Praxis des arbeitsbezogenen Curriculum angeht, so hebt Jamieson die trotz des "Nationalen Curriculum" immer noch bestehenden Unterschiede zwischen den Schulen hervor. Unter dem Zwang der Anpassung an die Wünsche der Eltern (zur kritischen Haltung der Eltern, siehe oben Kap. 8.2.3.3 und Hörner 1993, S. 142) - eine Konsequenz des stärkeren Konkurrenzkampfes der Schulen untereinander - bewegen sich viele Schulen gerade "weg vom arbeitsbezogenen Curriculum" (Jamieson 1993, S. 207). Die "Macht" der "akademischen" Schulfächer bleibt ungebrochen überladene Fachcurricula dienen nach wie vor als Argument gegen einen stärkeren Bezug zur Arbeitswelt. Von besonderem Interesse ist auch für Jamieson das Fach "Technology", das sich aber vom "glänzenden Juwel" des "National Curriculum" zu dem Curriculumbereich entwickelt hat, der dringend einer Reform bedarf (vgl. Jamieson 1993, S. 209). Insbesondere ist das schon anderweitig beschriebene Dilemma der je nach Schülerpopulation zu weit bzw. nicht weit genug gehenden Intellektualisierung der praktischen Tätigkeit (vgl. auch Hörner 1993, S. 134) eine Quelle der Kritik. Besonders die Intellektualisierung der praktischen Tätigkeit wird unter sozialpolitischen Aspekten als Gefahr beargwöhnt, ein so verstandener Technikunterricht "produziere zu viele Häuptlinge, aber nicht genügend Indianer" (Eggleston, zit. nach Jamieson 1993, S. 210).
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Ein weiteres Problem des Technologieunterrichts wird - wie in Frankreich - in der diffusen Pluralität der Techniken und insbesondere im Gegensatz der Traditionen "weiblicher" Hauswirtschaft und "männlicher" CDT gesehen. Hier erscheint der diffuse Charakter des Unterrichtsgegenstandes "Technology" als Abbild des unbestimmten Gegenstandsbereiches "Arbeitsbeziehung" schlechthin. Das fachübergreifende Thema des Nationalen Curriculum "Verständnis von Wirtschaft und Industrie" hat in der Schulpraxis den entscheidenden Fehler, kein verbindliches Curriculumelement zu sein, so daß es - auch infolge seiner mangelnden inneren Kohärenz - leicht Gefahr läuft, geopfert zu werden. Der Mangel an innerer Kohärenz - ein Gedanke auf dem Jamieson insistiert - bringt das arbeitsbezogene Curriculum aber auch in die Gefahr, einem kurzatmigen "occupationalisme" zu verfallen (d.h. der Zentrierung auf die Bedürfnisse des lokalen Arbeitsmarkts), der in Gegensatz zum universellen Anspruch der akademischen Schulfächer steht und deshalb in der Schule nicht konkurrenzfähig sein kann (vgl. Jamieson 1993, S. 214).
8.2.4
Fazit: Schule und Arbeitswelt - Injektion oder Korrelation?
Die beiden ausfuhrlicheren Fallstudien zeigen ganz deutlich den festen bildungspolitischen Willen in unseren westeuropäischen Nachbarstaaten, technische Bildung als eine Brücke zur Arbeitswelt im obligatorischen Bereich der allgemeinbildenden Schule zu verankern, um damit die Kluft zwischen Schule und Leben zu verringern. Auf dem Hintergrund der - vorläufig gescheiterten - deutschen Versuche, ein "Lernfeld Arbeitslehre" bundesweit im Pflichtbereich aller Schulformen zu verankern, gewinnen diese Beispiele eine besondere Bedeutung. Das Studium der Entwicklung der unterschiedlichen Lösungsversuche - und hier liegt der Sinn der etwas ausführlicheren historischen Betrachtungsweise - zeigt aber auch die Widerstände und die strukturellen Schwierigkeiten, die ein solcher Versuch überwinden muß, wenn unterschiedliche Bezugssysteme (wie Schule und Arbeitswelt) mit unterschiedlichen "Logiken" (wie Wissenschaft und Technik) (vgl. Hörner 1993, S. 326ff.) zueinander in Korrelation gesetzt werden. Die Analyse der strukturell bedingten und deshalb in den Fallbeispielen analoge Phänomene erzeugenden Probleme
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k ö n n t e v o r einer naiven Injektion arbeitsweltlicher Curriculuminhalte in die Schule b e w a h r e n , die von vornherein z u r Erfolgslosigkeit bestimmt w ä r e , und stattdessen eine b e h u t s a m e "Korrelation" u n t e r K o n t r o l l e wichtiger R a h m e n f a k t o r e n - ratsam erscheinen lassen (vgl. H ö r n e r 1993, S. 3 2 7 f f ) . D i e positiven w e s t e u r o p ä i s c h e n Beispiele scheinen zu zeigen, d a ß eine solche Korrelation tatsächlich möglich ist, soweit die A k t e u r e des I n n o v a t i o n s p r o z e s s e s sich damit identifizieren.
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Arbeitsbezogene Bildung in Westeuropa
719
Weiterführende Literatur BIERHOFF, Helvia/PRAIS, S.J. (1993): Briain's Industrial Skills and the School-teaching of Practical Subjects: comparisons with Germany, the Nederlands and Switzerland. In: Compare, H. 3, S. 219-245. LEVRAT, René (1992): Technologie. Textes de référence. Sèvres. DEFORGE, Yves (1970): L'éducation technologique. Paris. HÖRNER, Wolfgang (1993): Technische Bildung und Schule. Eine Problemanalyse im internationalen Vergleich. Köln. McCULLOCH, G./JENKINS, E./LAYTON, D. (1985): Technological Revolution? The Politics of School Science and Technology in England and Wales Since 1945. London. WELLINGTON, J.J. (Hrsg.) (1993): The Work Related Curriculum. London.
8.3
Lernen für die Arbeitswelt in den USA Felix Rauner
8.3.1
"Vocational Education" jenseits der Arbeitswelt
721
8.3.2
Berufsorientierung und Berufsberatung (Career Guidance)
727
8.3.3
Semi-akademische (Berufs-)Bildung an den Community-Colleges
729
900 ausbildungsrelevante Beschäftigungen (apprenticeshiple occupations) und kein Berufsbildungssystem
734
Job Design und Arbeitsorganisation als Dreh- und Angelpunkt für die Berufsbildungsreform in den USA
741
8.3.4
8.3.5
Zitierte Literatur
743
Weiterführende Literatur
745
8.3.1
"Vocational Education" jenseits der Arbeitswelt
In einer Reihe von Untersuchungen zum Zusammenhang von Bildung und Wettbewerbsfähigkeit in den USA Ende der 80er Jahre wird in großer Deutlichkeit das Bildungssystem für die Schwächen der US-Wirtschaft, insbesondere im Bereich der produzierenden Industrie, verantwortlich gemacht (US-Congress 1988; US-Congress 1990; Hatsopoulos et al. 1988; Katzis 1989; Berger et al. 1989; Tenbrock 1994). Die MIT-Studie "Made in America" kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluß: "We have concluded that with our major changes in the way schools and firms train workers over the course of a lifetime, no amount of macroeconomic fine-tuning or technological innovation will be able to produce significantly improved economic performance and a rising standard of living" (Dertouzos et al. 1989, S. 81). Die politische Antwort auf die in ihren Analyseergebnissen weitgehend übereinstimmenden Studien wurde in einem Vier-PunktePlan des Präsidenten (Bush) und der Gouverneure "America 2000: An Educational Strategy" am 18.4.1991 bekannt gegeben. Herausgestellt wird, daß es sich dabei nicht um ein Bundesprogramm
722
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
handelt, sondern um eine nationale, langfristige Initiative. "It honors the local control, relies on local initiative, affirms states and localities as the senior partner in paying for education. It recognizes that real education reform happens community by community, school by school, and only when people come to understand what they must do for themselves and their children and set about to do it" (USDepartment of Education, 1991, S. 5 f.). Die jüngste Bildungsinitiative zielt darauf ab, die Kernfächer Englisch, Mathematik, Sciences und Geographie zu stärken, sowie die große Zahl der "dropouts" (30%) zu reduzieren. Diese umfassende Bildungsinitiative zielt, ganz in der Tradition der amerikanischen Bildungsgeschichte, zunächst auf "responsible citizenship" und erst dann auf "productive employment". Berufliche Bildung kommt in dieser nationalen Bildungsinitiative nicht vor. Berufliche Bildung, die die Qualifizierung für den Beruf einschließt, ist in der Tradition amerikanischer Industriekultur ein Widerspruch in sich. Qualifizierung wird traditionell als "inplant-training" und "on-the-job-training" aufgefaßt. Vocational education ist ein Bestandteil des öffentlichen Bildungssystems und zielt weniger auf berufliche Fähigkeiten, sondern eher auf Berufsorientierung und vorberufliche Bildung (vgl. Abb. 1). "Schools should educate, industry must train" (Phillips, 1984, S. 253) ist eine in diesem Zusammenhang von Unternehmern, Gewerkschaften sowie auch von Erziehungswissenschaftlern und -praktikern weithin geteilte Auffassung. Unabhängig hiervon hat es jedoch immer wieder Versuche gegeben, das Schulsystem (vor allem die High School) enger an die Qualifikationsanforderungen des Beschäftigungssystems anzupassen. Die Entstehung des Schulsystems in den Vereinigten Staaten von Amerika war im 19. Jahrhundert primär ein lokales Unternehmen und weniger ein staatlich oder gar bundesstaatliches Anliegen. Die Familie und vor allem die Gemeinden waren die Träger der Schulentwicklung. Aus dieser Zeit stammt die programmatische Formulierung: "Left to themselves, they (common folk) were ignorant and vicious men who contaminated children of the better sort and disobeyed the laws, and endangered the states. But good schools would save the society, for even the poor were rational beings who might be guided rather than driven like beasts. Education would uphold law and order, and protect the government" (Main 1965, S. 251). Zwei Elemente des Schulsy-
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
723
stems, die auf die Gründungszeit zurückgehen, haben in der widersprüchlichen Entwicklung des US-Bildungssystems bis heute eine prägende Rolle gespielt, Schule als eine zentrale soziale und kulturelle Einrichtung der Community und nicht selten das gesellschaftliche Zentrum der Gemeinde und die Schule als regionale Agentur demokratischer Entwicklung. Abb. 1: Struktur des US-amerikanischen Bildungssystems
Advanced study and research
Doctor of philosophy or professional degree
Doctor's degree study
Master o f arts or sciences
Master's degree study
Bachelor of arts or sciences
Colleges and universities Associate in Junior and
Vocation and
community
technical
colleges
colleges
I raäitiottti iijüi schools
Combined junior-and seniorhigh schools
Senior-high schools
arts or sciences High school
Technical and vocational high schools
diploma
Junior-bigh schools
Elementary schools
7 6 5 -\ 4 3
Nursery schools
Quelle: International Encyclopedia of Education. Oxford. UK: Pergamon 1985 S. 5361.
Mit der raschen Industrialisierung gewinnt das Bildungssystem gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmende ökonomische Bedeutung und gerät entsprechend unter den Druck der Wirtschaft. Um die Jahrhundertwende nehmen die Initiativen in Regionen expansiver Industrialisierung zu, die Schule den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen. Wesentliche Funktion der Schule sollte der berufsbildende Unterricht werden: "It was not until the end of the
724
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
century, after an already enormous expansion of schooling throughout the country, that businessmen and professional educators organized themselves to take control of school boards in cities and began running schools according to modern business practices" (Tyack 1974). Die Einführung berufsbildender Inhalte in die Schule geht in den USA einher mit Versuchen, ein nach sozialen Klassen und nach Rassen organisiertes Schulsystem durchzusetzen. "Moreover, the concept of schools as creators of democracy in the form of the progressive education movement. This was a response to, and to this day remains an open conflict with, the cult of efficiency pushed by businessmen allied with vocational educators" (Wirth 1972). Daher steht "Vocationalism" im Bildungssystem der USA von Anfang an unter dem Verdacht einer antidemokratischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik. Der Versuch des großen US-Pädagogen John Dewey, Berufsorientierung und politische Emanzipation in einer egalitären und demokratischen Bildung miteinander zu versöhnen, liegt in einer kritischen erziehungswissenschaftlichen Tradition begründet, die sich bis heute als ein aufklärerisches Gegengewicht gegen die anhaltenden Versuche einer einseitigen Funktionalisierung der Bildung für die Zwecke der Wirtschaft versteht. In einer arbeitsbezogenen Bildung sieht Dewey einen Beitrag für eine demokratische Erziehung, da die Jugendlichen so lernen können, über ihre eigenen Lebensverhältnisse zu verfügen: Schule als Experimentierfeld für arbeitsbezogene Inhalte, die dem unmittelbaren Zugriff und Einfluß der Industrie entzogen sind, "Vocational Education" als Mittel zur Reform der industriellen Gesellschaftsordnung: "Es besteht die Gefahr, daß die 'Berufsbildung' in Theorie und Praxis zu gewerblicher Schulung wird, zu einem Mittel, technische Leistungsfähigkeit in einem ganz speziellen Beruf sicherzustellen. Dann würde die gegenwärtige industrielle Gesellschaft immer dazu dienen, die industrielle Gesellschaftsordnung unverändert fortzupflanzen, nicht aber als Mittel zu ihrer Neuordnung... Dieses Ideal hat schwer zu kämpfen, nicht nur mit der Beharrung der bestehenden Bildungseinrichtungen und -Überlieferungen, sondern auch mit der Feindschaft derjenigen, die heute die Industrie beherrschen, und die natürlich sehen, daß ein derartiges Erziehungssystem, wenn es verallgemeinert würde, ihre Fähigkeit, andere für ihre Zwecke auszunutzen, bedrohen würde" (Dewey 1966). Ein deutlicher Einschnitt in die Schulentwicklung ist das SmithHughes-Gesetz (Bundesgesetz für Vocational Education von
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
725
1917). Es wurde vor allem von der National Society for the Promotion of Industrial Education (NSPIE) durchgesetzt. Die Ausgestaltung von Vocational Education an der High School fand immer im Spannungsverhältnis der demokratischen Erziehungsideale auf der einen und den Qualifizierungsinteressen der Wirtschaft für einen hoch arbeitsteiligen Arbeitsprozeß auf der anderen Seite statt. Überwogen um die Jahrhundertwende und bis in die 20er Jahre hinein deutlich diejenigen Kräfte, die eine Ausrichtung der schulischen Inhalte an den ökonomischen Interessen der Industrie beabsichtigen, so gewannen danach deutlich die reformpädagogischen Kräfte an Einfluß. Ergebnis djeser Kräfteverschiebung war eine konsequente Rückbesinnung auf die demokratische Tradition der Schule und unter anderem die Einsetzung einer Untersuchungskommission durch die Federal Trade Comission des Senates (1928), die die "Verfilzung" der technischen Bildung mit der Industrie zu untersuchen hatte. Vocational Education bildete sich schließlich zu einem Aufgabenbereich des öffentlichen Schulwesens heraus, eine unmittelbare Verknüpfung mit betrieblicher Ausbildung wurde jedoch weitgehend vermieden. Berufsbezogene Inhalte werden bis heute als Teil des allgemeinen Bildungsauftrages der High School aufgefaßt. Die in der US-amerikanischen Kultur verwurzelte Trennung in 'Education' als einer Angelegenheit der Communities und in 'Training' the 'workforce' als einer Angelegenheit der einzelnen Unternehmen (und nicht "der Wirtschaft") läßt bis heute wenig Spielraum für eine in die High School integrierte berufliche Bildung, die zu berufsqualifizierenden Abschlüssen fuhrt. Mit der Einführung der Schulpflicht auch für ältere Schüler, beginnend gegen Ende des vorigen Jahrhunderts und abgeschlossen um 1920, verändert die High School ihren Charakter als Vorbereitungsschule für die Hochschule. Sie wird zur Gesamtschule. Unter den ca. 24.000 High Schools in den USA befinden sich ca. 230 "Vocational" oder "Technical" High Schools. Diese Schulen oder Zentren ergänzen das vielfältige Bildungsangebot der High Schools vor allem für diejenigen Schüler, die von vornherein eine berufliche Tätigkeit oder den Besuch eines Community College für berufliche Bildung im Auge haben. Diese Berufsbildungs-Zentren - in einigen Staaten auch Career Centers genannt - sind in der Regel einer oder mehreren High-Schools zugeordnet und ergänzen die
726
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
große Zahl der angebotenen Fächer (Subjects). Nicht selten liegt die Zahl der Fächer deutlich über 100 (vgl. dazu Münch 1989). Zur vorberuflichen Bildung zählen auch die von den High Schools vermittelten Praktika, die häufig im Zusammenhang mit den einschlägigen "Vocational Courses" durchgeführt werden. Der große Anteil der Schüler, der neben der Schule einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, in einigen Regionen sind dies über 30%, betrachtet diese Beschäftigung jedoch nicht als Teil ihrer 'Education'. Im Einzelfall verfugen High-Schools bzw. die dazugehörigen Bildungs-Zentren über gut ausgestattete Werkstätten. Über die Qualität der berufsbildenden Angebote der High-Schools entscheiden vor allem die örtlichen Verhältnisse. Interessiert sich ein örtliches, größeres Unternehmen für die Ausstattung von Fachräumen an der High-School, die Bereitstellung von Praktikumsplätzen und die Weiterbildung der Ausbilder bzw. Lehrer für berufliche Bildung, dann erreichen die Angebote in Vocational and Technical Education eine Qualität, die an die der Facharbeiterausbildung in Deutschland heranreicht. An der verbreiteten Geringschätzung gegenüber beruflicher Bildung in den High-Schools ändert dies jedoch nichts. Sie findet ihren Ausdruck vor allem darin, daß nur in einem Drittel der Bundesstaaten berufliche Kurse zum Pflichtprogramm der Schüler gehören. Dagegen kommt seit den 60er und 70er Jahren der Berufsorientierung und Berufsberatung, den Career Guidance Programmen, eine zunehmende Bedeutung in den High-Schools zu. Die bis heute beibehaltene konsequente Trennung zwischen Education und Arbeitswelt hat die Probleme des Übergangs von der Schule in den Beruf ('School-to-work transition') verschärft. Eine relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie eine verhältnismäßig lange Zeit des "jobbens" in schlecht bezahlten und wenig qualifizierten Arbeitsverhältnissen nach Beendigung der High School (floundring period) ist die Folge. Alle regionalen und nationalen Anstrengungen, dieses Problem zu lösen, blieben relativ folgenlos. Versuche, eine "Career Education" zu entwickeln, die einen Beitrag zur Lösung des "Transition-Problems" leistet, sind wohl deshalb relativ erfolglos geblieben, weil als wesentlicher Orientierungspunkt für den Arbeitsmarkt bzw. für die innerbetriebliche Organisation das "Dictionary of Occupational Titles" (DOT) dient. Lediglich die in den letzten zwei Jahrzehnten in ihrer Zahl rasch angestiegenen Com-
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
727
munity-Colleges haben für die berufliche Bildung einige Bedeutung erlangt. Ihre Zahl liegt mittlerweile bei über 1.500.
8.3.2
Berufsorientierung Guidance)
und
Berufsberatung
(Career
Berufsberatung als elementarer Bildungsauftrag für die High-School hat das Ziel, das Individuum in den komplexen Entscheidungssituationen von der Schule in die Arbeitswelt zu unterstützen. Die Komplexität der Entscheidungssituation resultiert für US-amerikanische Schüler der Senior-High-School insbesondere aus der Offenheit des High-School-Curriculums und der damit einhergehenden großen Vielfalt der Fächer und Kurse auf der einen sowie eines flexiblen Arbeitsmarktes auf der anderen Seite. Da der Arbeitsmarkt weniger durch berufsförmige Arbeit geprägt ist, verliert er für die "Berufsorientierung" an Übersichtlichkeit. Die zu Beginn dieses Jahrhunderts gebräuchliche Formulierung "Vocational Guidance", die mit Berufsorientierung übersetzt werden kann, wurde verdrängt durch den Begriff "Career Guidance". Dieser Begriffswandel ist Ausdruck für einen ausgeprägten Bedeutungsverlust der berufsförmig organisierten Arbeit vor allem in den modernen Industrien und einer darauf bezogenen Berufsbildung. Mit diesem Wandel nimmt jedoch die Bedeutung der Berufsorientierung und Berufsberatung an der High-School nicht etwa ab, sondern Career Guidance wird zu einer zentralen Aufgabe der High-School: Je weniger die berufsförmige Arbeit das konstituierende Moment für spezifische Berufs-Arbeitsmärkte ist, um so größeres Gewicht kommt der Berufsorientierung und -beratung im Sinne des Career Guidance zu. International bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang das "Carrier Support System - CPSS". Das CPSS-Curriculum ist ein offenes Beratungssystem, das den Benutzer mit der ganzen Breite der Beratungs- und Berufsorientierungsmöglichkeiten und -hilfen vertraut macht. Es korrespondiert mit den für die Berufsorientierung und -beratung formulierten vier Carrier Development Skills": * Self-Awareness, Social Awareness and Personal Decision-Making: Diese Fähigkeiten sind notwendig für ein besseres Verständnis der eigenen Interessen, Fähigkeiten und Wertvorstellungen sowie für die Berufswahl (Career Decision).
728
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
* Career-Exploration: Diese Fähigkeit ist notwendig, um sich der eigenen Fähigkeiten und Interessen in bezug auf die unterschiedlichen Berufsanforderungen zu vergewissern. * Job Acquisition and Adjustment: Diese Fähigkeiten sind erforderlich, um die konkreten Beschäftigungsmöglichkeiten zu lokalisieren, eine Einstellung/Beschäftigung zu erreichen und sich an den Job anzupassen, unabhängig davon, ob es sich um die erste oder eine nachfolgende Beschäftigung (Job) handelt. * Education and Training Acquisition and Adjustment: Diese Fähigkeiten sind erforderlich, um die Möglichkeiten und Angebote für Weiterbildung und Training zu erkunden, die Aufnahme in entsprechende Bildungseinrichtungen zu organisieren und sich darauf vorzubereiten und einzustellen (vgl. Loose 1988, S. 324 f.). Diese übergeordneten Leitziele für die Berufsorientierung und -beratung zeigen, daß die Flexibilität des Arbeitsmarktes auf seiten der High-School zu einem Bildungs- und Trainingskonzept geführt hat, das konsequent auf höchste Mobilität und Anpassungsfähigkeit zielt. Emanzipatorische Bildungsziele, wie sie Dewey für die berufliche Bildung formuliert und begründet hatte, haben keinen oder kaum Eingang in den "Bildungsauftrag" für die Berufsorientierung und -beratung gefunden. Zu diesen vier übergeordneten Leitzielen wurden Anfang der 70er Jahre detaillierte Materialien für die Berufsorientierung entwickelt. Das Curriculum zielt dabei nicht nur auf die Ressourcen der High-School, sondern auch auf die Möglichkeiten, die die Region (Community) für Berufsorientierung und -beratung sowie für eine spätere Beschäftigung bietet. Das Ergebnis besteht aus einem sehr differenzierten Curriculum, das es den HighSchools erlaubt, ein spezifisches Curriculum zu entwickeln, das auf die besonderen Bedingungen der jeweiligen High-School und der Community zugeschnitten ist. Für die Entwicklung eines regionalspezifischen Career Guidance Curriculums stellt das CPSS als Rahmen curriculum umfangreiche Planungsunterlagen zur Verfügung. Sie reichen von methodischen Handreichungen für die Durchfuhrung der erforderlichen Untersuchungen und Erkundungen des regionalen und überregionalen Arbeitsmarktes und der einschlägigen Weiterbildungsmöglichkeiten bis zu den detaillierten Unterlagen zur schrittweisen Einarbeitung der CPSS-Arbeitsgruppe in die Planung, Erstellung, Implementation und Evaluation des schul- und communityspezifischen Berufsorientierungs- und Berufsberatungspro-
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
729
gramms. Zur Planung und Entwicklung des Programmes gehören vor allen die folgenden Schritte: * Organisation of SchoolstafF (Organisation der schulischen Arbeitsgruppen) * Assessment oft Resources (Ermittlung der Ressourcen) * Assessment of Student Needs (Ermittlung der Schülerinteressen) * Goals and Behavoural of Objectives (Bildungs- und Lernziele) * Creating Career Developments (CDUs) (Entwicklung von Berufsorientierungseinheiten) * Annual redial (jährliche Programmüberprüfung) * Programme reassessment (Programmbewertung) (vgl. Miller/ Campbell 1988, S. 131 ff.). Das CPSS "Package" beinhaltet umfangreiche und detaillierte Handreichungen wie * den Coordinator's Trainingguide, ein Handbuch für das Selbststudium * das Coordinator's Handbook, eine detaillierte Anleitung für die "Step-by-Step" Realisierung und Organisation des CPSS * das Advisory Resource Handbook * das Manual zur Entwicklung und Formulierung von Verhaltenszielen * das Handbuch zur Entwicklung von Career Development Units * alle notwendigen Vorlagen (Camera ready): Formulare, Tests, Fragebögen usw. Neben dem CPSS wurden in den USA andere Berufsorientierungs- und Beratungssysteme für die Lehrerbildung und die HighSchools entwickelt, die die Besonderheiten einzelner Staaten und Regionen berücksichtigen. Bekannt geworden ist das Corporative Rule Carrier Guidance System, das besonders auf die Bedingungen ländlicher Regionen zielt, sowie das Missouri Comprehensive Guidance Programme. Letzteres beinhaltet ein Inhalts-, ein Prozeß- und ein Implementationsmodell. Keines dieser spezifischen Programme hat jedoch die Qualität des CPSS erreicht.
8.3.3
Semi-akademische (Berufs-)Bildung an den Community-Colleges
Community-Colleges sind Einrichtungen der beruflichen Bildung, die in ihren flexiblen 1- bis 2jährigen Ausbildungsangeboten eine
730
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Form semi-akademischer Berufsbildung darstellen. Die Abschlüsse entsprechen in ihrem Niveau etwa denen von Technikern und Assistentenberufen in Deutschland. Bei den einjährigen Kursen liegt das Ausbildungsniveau entsprechend darunter. In ihrer Qualität entspricht diese Berufsausbildung eher der einer Assistentenausbildung als der einer Technikerausbildung, da als Eingangsvoraussetzung keine berufliche Erstausbildung vorausgesetzt wird und sich der praktische Anteil dieser Ausbildung im Regelfall allenfalls auf Praktika beschränkt. Im Einzelfall kann diese Ausbildung jedoch eine ausgeprägte Praxisnähe erreichen. Die Ausbildung zum Automobiltechniker ist dafür ein interessantes Beispiel. Vorreiter für diese Art der Ausbildung war General Motors. 1979 startete das Unternehmen eine "duale" Ausbildungsform nach dem Konzept: "On-the-job Training" bei einem Händler und eine theoretische Ausbildung in der Regel in Kooperation mit einem Community College. Diese, meist als "Corporate Programme" bezeichnete Ausbildung, wird inzwischen mit unterschiedlicher Intensität von allen amerikanischen Automobilherstellern und den japanischen Importeuren betrieben. Sie umfaßt zwei Jahre und findet abwechselnd in Blockform beim Händler und im College statt. Die Blocklänge der meisten Programme dieser Art ist 9 oder 12 Wochen in einer der beiden Einrichtungen. Dieses Rotationssystem wird bis zum Abschluß der Ausbildung praktiziert. Abb. 2 zeigt ein Schema des Ausbildungsablaufes. Aus Tab. 1 wird ersichtlich, daß im College sowohl technische Inhalte als auch sogenannte "akademische Inhalte" Lehrgegenstand sind. Das Verhältnis der technischen zu den akademischen Inhalten ist ca. 1:1 und eröffnet die Option für ein späteres Studium. Ziel der Ausbildung ist allerdings bei allen Programmen die Vorbereitung zur Wahrnehmung hochqualifizierter Serviceaufgaben beim Kfz-Händler. Darauf ist auch die praktische Ausbildung im Betrieb ausgerichtet. Sie erfolgt meist unter Anleitung eines besonders qualifizierten Mechanikers. Ca. 75 bis 80 Prozent der Absolventen verbleiben bei ihrem "Ausbildungshändler" oder wenigstens bei der gleichen Marke und haben gute Chancen für einen beruflichen Aufstieg in mittlere Führungspositionen.
Lernen fur die Arbeitswelt in den USA
Abb. 2:
731
Automotive Service Educational Programme Cerritos College - Typical Two-Year Schedule Weeks on 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12113 14 15 16 17 18 Campus
1 s ' Year Fall Semester Brakes/Alignment & General Education
On Campus
Dealership
Work
experience
9
Spring Semester Electricity/S. E. T & General Education
On Campus
Dealership
Work
experience
9
Summer Semester Engines & General Education
On Campus
Dealership Work experience
6
2 nd Year Fall Semester Tune-Up/Emission Control & General Education
On Campus
Dealership
Work
experience
9
Spring Semester Power Train & General Education
On Campus
Dealership
Work
experience
9
Summer Session Air Conditioning
On Campus
Dealership Work experience
6
Quelle: Spöttl / Rauner / Moritz 1994, S. 79
Quantitativ kommt diesen Programmen bisher noch keine größere Bedeutung zu. Beim Marktfuhrer General Motors absolvieren dieses Programm derzeit ca. 750 Personen jährlich, andere Hersteller sind bei 300 bis 350 angelangt oder beginnen gerade damit, diese Ausbildung einzuführen. Die vielfältigen Bemühungen zur Intensivierung dieser Programme durch die Automobilhersteller können als Beleg für einen Trend hin zu Formen der dualen Organisation beruflicher Bildung gewertet werden, der einhergeht mit einer Abkehr von kurzfristig angelegten Rekrutierungsstrategien. Der relativ große Erfolg der Community-Colleges, die sich von ihrer ursprünglichen Funktion als Junior-College, die auf das Studium an einer Universität vorbereiten, schwerpunktmäßig hin zu Einrichtungen beruflicher Bildung entwickelt haben, sieht Münch in den folgenden Punkten (vgl. Münch 1989):
732
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
T a b . 1:
Course Requirements
SEMESTER
UNITS
1.
AUTO 12.1 PSYC 1 ENGL 50.2 TECH 73
PD/Lube/Brake Introduction of Psychology Basic Writing Work Experience
6 3 3 3 15
2.
AUTO 13.1 TM 1.2 HED & Health TECH 73
Auto Electrical/Electronics Technical Health
7 3 3 3 16
3.
AUTO 14.1 PHIL 5 TECH 73
Engines Introduction of Philosophy Work Experience
7 3 3 13
4.
AUTO 43.1 HIST 27 PS 20 TECH 73
Tune-Up/Emission control History of the United States Physical Science Work Experience
7 3 3 3 16
5.
AUTO 16.1 POL 5 THEA 51 TECH 73
Power Train American Political Institutions Motion Picture/Radio/TV Work Experience
6 3 3 3 15
6.
AUTO 19.1
Auto Air Conditioning
Work Experience
4 4 TOTAL
79
Quelle: Spöttl/Rauner/Moritz 1994, S. 79 *
D a s A u s b i l d u n g s a n g e b o t orientiert sich am regionalen Qualifikat i o n s b e d a r f u n d die Colleges füllen die Qualifizierungslücke, die d u r c h ein f e h l e n d e s Berufsbildungssystem und die Z u r ü c k h a l t u n g der Industrie bei d e r Qualifizierung der B e s c h ä f t i g t e n entsteht. * D i e C o m m u n i t y - C o l l e g e s sind in ihren Z u g a n g s b e r e c h t i g u n g e n und A n g e b o t e n in h ö c h s t e m M a ß e flexibel u n d m o d u l a r organi-
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
733
siert. Sie eröffnen vor allem auch sozial Benachteiligten Bildungs- und Ausbildungschancen (Münch 1989, S. 74). Das breite Spektrum an (Aus-)Bildungsangeboten wird von Münch ausführlich beschrieben. Fünf Ausbildungsschwerpunkte lassen sich hervorheben: * Vocational Training. Diese schulische Berufsausbildung, die auch Betriebspraktika einschließen kann, ist die Hauptaufgabe der Community-Colleges, sie machen etwa 50% ihrer Ausbildungsangebote aus. * Anpassungs-, Aufstiegsqualifizierung und Umschulung (updating, upgrading, retraining). Mit diesen Angeboten der Weiterbildung reagieren die Community-Colleges sehr flexibel auf den regionalen Arbeitsmarkt. * Begleitender Theorieunterricht für die Programme des Apprenticeship-Training (Lehrlingsausbildung). Die ApprenticeshipProgramme (siehe Kap. 8.3.3) umfassen eine bestimmte Stundenzahl an begleitendem theoretischen Unterricht. Dieser Unterricht wird u.a. auch von Community-Colleges angeboten. * Transfer-Kurse. In Transfer-Kursen können sich vor allem HighSchool-Absolventen auf das Hochschulstudium vorbereiten. Dies ist dann von einiger Bedeutung, wenn der erworbene HighSchool-Abschluß nur unzureichend auf das spätere Studium vorbereitet. Es ist eher Regel als die Ausnahme. * Programme zur Förderung der Studierfähigkeit, der Vermittlung von Grundkenntnissen (Basic-Skills) und Ergänzungsprogramme für Studenten (advanced assistent service). Vor allem in den öffentlichen Community-Colleges werden solche Programme im Bereich der allgemeinen Bildung angeboten. (Vgl. dazu ausführlich Münch 1989, S. 74 ff.). Die Community-Colleges verdanken ihre rasche Expansion und ihren relativ großen Erfolg ihrer Vermittlungsfunktion zwischen dem allgemeinen Bildungssystem und den Arbeitsmärkten. Sie haben sich damit zu einem Teil des amerikanischen Bildungssystems herausgebildet, der es offenbar der High-School und den Universitäten weiterhin ermöglicht, am traditionellen Dualismus von 'Education' und 'Work' festzuhalten. Insofern haben die Community-Colleges, trotz allen Erfolges, auch eine stabilisierende Funktion für das problematisch gewordene Verhältnis zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Ob die Community-Colleges trotzdem zum
734
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Kristallisationspunkt für ein sich herausbildendes Berufsbildungssystem werden oder ob sie das Alibi für das ungelöste School-toWork-Transition-Problem bleiben, ist schwer vorauszusagen.
8.3.4
900 ausbildungsrelevante Beschäftigungen (apprenticeshiple occupations) und kein Berufsbildungssystem
Ca. 300.000 Beschäftigte nehmen in den Vereinigten Staaten an einer dualen Berufsausbildung teil, die mit der hiesigen Facharbeiterausbildung vergleichbar ist. Dieses Apprenticeship Training wurde von Handwerkern aus Europa in die USA eingeführt und hat vor allem in den Bauberufen (im weitesten Sinne) überlebt. Geprägt wurde die Lehrlingsausbildung in den USA im 19. Jahrhundert noch stärker als in Europa durch die frühkapitalistischen Formen der Lehrlingsausbeutung. Begünstigt wurde dies durch eine bedingungslose Unterordnung des Lehrlings unter den Meister und eine Lehrzeit von 7 Jahren (vom 14. bis zum 21. Lebensjahr). Erst mit dem Entstehen der Gewerkschaftsbewegung bildete sich die heutige Form des Apprenticeship Training heraus. Damit einher ging auch eine Ausweitung der Lehrlingsausbildung auf einzelne Gebiete industrieller Arbeit. Die Geschichte der Lehrlingsausbildung verlief in den Bundesstaaten sehr unterschiedlich, schon wegen ihrer verschiedenen ökonomischen Strukturen und den sehr unterschiedlichen landsmannschaftlichen Einflüssen durch die europäischen Einwanderer. Nach der Jahrhundertwende wurde zeitweise versucht, auf bundesstaatlicher Ebene ein duales System beruflicher Bildung durchzusetzen. Darin wurde jedoch der Versuch gesehen, den Einfluß der Wirtschaft auf das Schulsystem der USA zu verstärken. Die Initiative scheiterte. Die Lehrlingsausbildung blieb eine Angelegenheit der Wirtschaft. Dem vorgeschriebenen begleitenden theoretischen Unterricht kommt eine untergeordnete Bedeutung zu. Ein wesentlicher Impuls für die Unterstützung und die Sicherung der Lehrlingsausbildung ging von einer expandierenden Wirtschaft nach dem 1. Weltkrieg und der Drosselung der Einwanderungsquote aus. Damit versiegte auch die traditionelle Hauptquelle für qualifzierte Arbeitskräfte, die Einwanderer aus Europa. In einer gemeinsamen Anstrengung vor allem zwischen Organisationen der Arbeitgeber und der Gewerkschaften,
Lernen fiir die Arbeitswelt in den USA
735
weniger des Bildungswesens, jedoch unter Mitwirkung des Arbeitsministeriums und des Kongresses verabschiedete am 16. August 1937 der Kongreß den National Apprenticeship Act (Fitzgerald Act), das Berufsbildungsgesetz. In diesem Gesetz wurden Regelungen zusammengefaßt und weiterentwickelt, wie sie bereits in diversen Gesetzen einzelner Bundesstaaten enthalten waren. Verglichen mit aktuellen Gesetzen über Beschäftigung und Ausbildung wie das "Job Training Partnership Gesetz" (1982) oder das "Vocational Education Gesetz" von 1989, die immerhin 77 bzw. 56 Seiten umfassen, hat das Bundesgesetz für Apprenticeship Training von 1937 gerade einen Umfang von einer Seite. Es wurde bis heute nicht novelliert. Darin kommt bereits die untergeordnete politische und ökonomische Bedeutung zum Ausdruck, die dieser Form der Berufsausbildung in den USA zukommt. Das Berufsbildungsgesetz autorisiert das Arbeitsministerium lediglich dazu, in Kooperation mit den zuständigen Stellen der Staaten die "Standards of Apprenticeship" zu entwickeln und zu überwachen und Apprenticeship-Programme zu beraten und zu initiieren. Das geringe Interesse des Gesetzgebers (Congress) an der Berufsausbildung findet darin seinen Ausdruck, daß im Laufe von 50 Jahren nach in Kraft treten dieses Gesetzes lediglich drei Hearings durch den Kongreß zu Fragen der Berufsausbildung stattfanden. 1960/61 wurde die Frage der Gleichstellung von "Schwarzen" (black mails) gesetzlich geregelt, 1963 untersuchte eine Unterkommission die Berufsausbildungspraxis in Europa. Daraus resultierten keine Gesetzgebungsaktivitäten. Schließlich evaluierte ein Unterausschuß 1984 in einem Oversight Hearing das Berufsbildungsgesetz, ohne daß dieses Hearing (Oversight Hearings on the National Apprenticeship Training Act, Washington 1984) nennenswerte gesetzgeberische Folgen hatte. Eine wesentliche Einsicht bestand darin, daß der Gesetzesauftrag von 1937 an das Arbeitsministerium, nämlich in Angelegenheiten der Berufsausbildung mit dem Bildungsministerium zu kooperieren, nicht eingelöst wurde. Da zu einem Apprenticeship Training ein begleitender theoretischer Unterricht gehört, der in der Regel an Schulen angeboten wird, hat sich ein Minimum an regionaler Abstimmung zwischen praktischer und theoretischer Berufsausbildung herausgebildet.
736
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Die Ergebnisse des Oversight Hearings von 1984 haben zwar nicht zu einer Novellierung des Apprenticeship Act geführt, wohl aber zu einer Aufnahme von Regelungen zur Förderung der Kooperation zwischen schulischer Berufsbildung und Apprenticeship Training im "Vocational Education Act" von 1984. Wesentlicher Zweck des National Apprenticeship Act sind die Festlegungen von "Labor Standards". Unter Titel 29 (Labor), Part 29, sind vom Arbeitsministerium die Ausfuhrungsbestimmungen für die Einrichtung von Apprenticeship Programmes festgelegt. In § 29.4 sind die Kriterien für eine ausbildungsfähige Beschäftigung (Apprenticeship Occupation) festgelegt. Solche Beschäftigungen (Berufe) müssen den folgenden vier Kriterien genügen: 1. Sie müssen üblicherweise praktisch erlernt werden durch eine strukturierte, systematische und angeleitete on-the-job-Ausbildung. 2. Sie sind klar identifizierbar und allgemein anerkannt in einem Wirtschaftszweig. 3. Sie beinhalten manuelle, mechanische oder technische Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche ein Minimum von 2.000 Stunden Arbeitserfahrung erfordern. 4. Sie erfordern ergänzende Unterweisung (related instruction). Das Bureau of Apprenticeship Training (BAT), das die zuständige Stelle des Department of Labor (DOL) für das Apprenticeship Training ist, geht davon aus, daß es ca. 900 registrierte Berufe (Apprenticeshiple Occupations) gibt. Die zentrale Registratur des BAT ist jedoch ungenau, da auf regionaler Ebene, unter Anwendung dieser Ausführungsbestimmungen, Beschäftigungen als "apprenticeshiple" anerkannt werden können. Die Ausführungsbestimmungen zum Apprenticeship Act führen dazu, daß der Umfang an Ausbildungsberufen stetig zunimmt. Alle Versuche, die Zahl der Ausbildungsberufe zu beschränken und auf entsprechend breit angelegte Berufe zu reduzieren, sind bisher gescheitert. Auf lokaler Ebene existierten ca. 44.000 Apprenticeship Programme. Sie sind zwischen den Berufsbildungsverwaltungen und den Trägern von Lehrlingsprogrammen, den Joint Apprenticeship Commitees (JAC), vereinbar. Diese Programme enthalten Vereinbarungen über Inhalte und Form der Ausbildung. Ausbilden darf, wer nach § 29.3 eine Genehmigung durch das "State Apprenticeship Agency or Council" bzw. des regionalen BAT-Büros erhält. Jede
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
737
Berufsausbildung vollzieht sich im Rahmen eines "Apprenticeship Programmes". Ein solches Programm basiert auf einem organisierten, schriftlichen und dokumentierten Plan, der die Bedingungen für Beschäftigung, Ausbildung und Betreuung von einem oder mehreren Auszubildenden beinhaltet. Als Träger eines Programmes fungieren in der Regel "Joint Apprenticeship and Training Commitees (JATC)". Aus der Statistik des US-Department of Labor, in der die registrierten Ausbildungsprogramme erfaßt sind, geht deutlich der handwerkliche Charakter der Lehrlingsausbildung hervor. Einschränkung ist, daß die "Apprenticeship Registration" bisher nicht flächendeckend durchgeführt wurde. Die Berufe mit den meisten Ausbildungsverhältnissen sind der Electrician (Elektroinstallateur) und der Carpenter (Tischler/Schreiner). Es folgen mit einigem Abstand andere traditionelle Handwerksberufe. Genau 50% aller Auszubildenden absolvieren ihre Lehre in einem Bauberuf (Construction), dagegen nur etwas mehr als 6% in einem Produktionsberuf (Manufacturing). Anstelle eines Berufsbildes bzw. einer Ausbildungsordnung wird eine ausbildungsfähige Beschäftigung durch Ausbildungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte beschrieben, in denen für eine festgelegte Zeit unter Anleitung Arbeitserfahrung erworben werden kann und ein on-the-job-training erfolgt (siehe Tab. 4).
Tab. 2:
Die 10 verbreitetsten Berufe (Stand 1990) Electrician Carpenter Sheet Metal Worker Pipe Fitter Machinist Fire Fighter Tool-and-Die Maker Cook Painter
32.639 26.787 10.883 10.020 5.932 5.753 5.270 4.571 4.112
Nach Statistiken des U.S.-Department of Labor (DOL), Bureau of Apprenticeship Training (BAT) 1990
738 T a b . 3:
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland V e r t e i l u n g der L e h r l i n g e ( S t a n d 1990) Agriculture Mining Construction Manufacturing Transportation, Communication, Electric, Gas and Sanitary, Service Whole Sale and Retail Trade Finance, Insurance and Real Estate Services Public Administration
a u f die
"Berufsfelder"
120 30 114.837 33.719 6.001 2.701 400 7.454 66.004
Nach Statistiken des DOL, BAT 1990
T a b . 4:
D a s B e r u f s b i l d des W e r k z e u g m a c h e r s
Tool and Die Maker (open Shop) (DOT: 601.280.046) Work Process Approximate Hours A. Tool Crib 250 B. Drill Press - sensitive, radial heavy duty 600 C. Engine Lathe - small & large capacities 1.000 D. Milling Machines - universal & vertical 1.000 E. Grinders - universal; tool & cutter surface 1.400 F. Jig Bover - die sinking & EDM 600 G. Bench Work - reparing tools & dies 1.000 H. Heat treatment 200 I. Construction of Tools & Die 1.400 300 J. Precision Inspection K. Miscellaneous 250 8000
D i e t h e o r e t i s c h e U n t e r w e i s u n g m u ß ein M i n i m u m v o n 144 U n t e r r i c h t s s t u n d e n p r o Jahr umfassen. D i e s e Zeit k a n n auch im Selbststudium erbracht werden. In der R e g e l zählt diese Zeit nicht als Arbeitszeit. In d e n B u n d e s s t a a t e n gibt es dazu j e d o c h sehr u n t e r schiedliche R e g e l u n g e n . Im allgemeinen hat der t h e o r e t i s c h e U n terricht e h e r die F o r m einer betrieblichen U n t e r w e i s u n g als die eines
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
739
berufsschulischen Unterrichts wie in Deutschland. Darauf weist bereits die Bezeichnung "related instruction" oder "related (classroom) training" hin. Diese Unterweisung wird an unterschiedlichsten Schulen (High School, Vocational Training Centers, Technical Schools, Trade Schools Community Colleges) sowie in eigenen Einrichtungen der Betriebe und in Ausbildungszentren von Joint Apprenticeship and Training Commitees (JATC) erteilt. Schon vor Beginn einer Lehrlingsausbildung erworbene theoretische Kenntnisse können angerechnet werden. Erfolgt der Schulbesuch in Form von Blockunterricht, so ist der Lehrling in dieser Zeit arbeitslos und erhält Arbeitslosenunterstützung, falls dies im Einzelfall tarifVertraglich oder durch die vereinbarten Standards nicht anders geregelt ist. Wesentlicher Bestandteil der Apprenticeship Standards ist die Festlegung des Lohnes. Meist basiert er auf einer Vereinbarung in einem Tarifvertrag. Der Lohn beträgt mit Beginn der Ausbildung im Normalfall bereits 50% eines Facharbeiterlohnes. Die Festlegung der Ausbildungszeit gehört ebenfalls zu den vom jeweiligen JATC festzulegenden Apprenticeship Standards. Dabei darf eine Mindestzeit von 2.000 Stunden nicht unterschritten werden. Neben den regionalen "Apprenticeship"-Programmen gibt es auch nationale Programme, die auf Bundesebene in Verträgen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vereinbart werden. Diese bilden dann eine gemeinsame Ausbildungskommission. Eine der bekanntesten ist das "National Joint Apprenticeship and Training Committee for the Electrical Industry". Die "Apprenticeship Standards" werden in diesem Fall direkt mit dem BAT und den "State Apprenticeship Councils" ausgehandelt und vertraglich vereinbart. Diese Programme haben eine deutlich höhere Qualität als die regionalen Programme. Das Apprenticeship System ist ein Berufsbildungssystem fur Erwachsene. Die Teilnehmer verfügen bereits über einschlägige Berufserfahrungen und sind durchschnittlich 26 Jahre alt. Dieses hohe Durchschnittsalter kommt u.a. auch dadurch zustande, daß in einigen der begehrten Ausbildungsberufe hohe Eingangsvoraussetzungen gefordert wurden. So wurde z.B. in das nationale Programm fur
740
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Elektroinstallateure 1989 nur jeder 10. Bewerber aufgenommen. Ein normaler High-School-Abschluß reicht in der Regel als Eingangsqualifikation nicht aus. Trotz eines kontinuierlichen Anstiegs der Beschäftigten seit 1950 gehen in den Apprenticeship-Programmen die Ausbildungszahlen zurück. David Nobel hat dies für den Bereich "Manufacturing" interpretiert. Danach stellte das Bureau of Labor Statistics" 1952 fest, daß es eine dramatische Lücke an qualifizierten Facharbeitern in der Flugzeug- und Automobilindustrie aber auch in anderen Bereichen des Metallgewerbes gab (vgl. Noble 1986, S. 36). Vor die Entscheidung gestellt, einige hunderttausend fehlende Facharbeiter durch nationale Anstrengungen im Bereich des "Apprenticeship Training" zu qualifizieren oder in der Tradition amerikanischer 'Arbeit und Technik-Entwicklung auf konsequente Automatisierung einerseits und "College-trained people" andererseits zu setzen, wurde die Entscheidung gegen eine Förderung der Lehrlingsausbildung getroffen. Verstärkt wurde und wird diese Tradition dadurch, daß die Gewerkschaften über die "Joint Programmes" einen erheblichen Einfluß auf die Lehrlingsausbildung haben. Ca. 75% der Lehrlinge werden in "Joint Apprenticeship Programs" ausgebildet. Dies ist ein Grund dafür, daß "Apprenticeship" in der Regel mit den Gewerkschaften assoziiert wird. Da aber der Organisationsgrad amerikanischer Beschäftigter mittlerweile unter 20% liegt und es insbesondere in den "modernen" Industrien zum Image gehört, "union free" zu sein, gibt es fast keine industrielle Lehrlingsausbildung, die nach dem "National Apprenticeship Act" geregelt ist. Die Lehrlingsverwaltung hat daher auch keinen Einblick in die Aus- und Weiterbildung der High Tech-Branchen. Die vom Arbeitsministerium 1987 gestartete Initiative "Apprenticeship 2000" hat insgesamt auch nicht dazu geführt, die Situation der Berufsbildung in den Vereinigten Staaten erkennbar zu verbessern.
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
8.3.5
741
Job Design und Arbeitsorganisation als Dreh- und Angelpunkt für die Berufsbildungsreform in den USA
Spätestens mit der vom Office of Technology Assessment (US Congress 1989) vorgelegten Studie "Worker Education - Competing in the International Economy" wird die eingeschränkte Sichtweise aufgegeben, nach der die Bildungsprobleme nur im Bildungssystem gelöst werden können und wonach es vor allem darauf ankommt, das Bildungssystem nach den Wünschen der Unternehmen auszurichten. Immer häufiger wird im Anschluß an die wegweisende Publikation von Piore und Säbel (1985) dem traditionellen und weit verbreiteten Massenproduktionsmuster, das mit den Namen Ford und Taylor verbunden ist, das Konzept der flexiblen Spezialisierung und Dezentralisierung gegenüber gestellt. Danach stellt sich die Herausforderung fur die berufliche Bildung neu. Qualifizieren für die betriebliche Organisationsentwicklung und für die dringend notwendige Abkehr von der Tradition des Taylorismus, gilt als entscheidener Lösungsansatz. "New forms of work organisations push responsibility and authority downwards in the operate hierarchy, from the managers and staff towards the shopfloor (US Congress 1990, S. 5). Nach der Einschätzung von Experten verharrt die Majorität der amerikanischen Unternehmen noch immer im Konzept der Massenproduktion und, damit verbunden, in einer Tradition, nach der die ausfuhrenden Tätigkeiten möglichst als Jedermann-Arbeitsplatz mit niedrigsten Qualifikationsanforderungen gestaltet werden. Der "America's Choice Report" des "National Centre on Education and the Economy" bestätigt, daß ca. 95% der US-Firmen an den traditionellen Formen der Arbeitsorganisation bis heute festhält. Daher wirkt sich nach Marshall ein großer Teil der On-the-j ob-Training Projekte, wie sie etwa auf der Basis des Job-Training-Partnership Act (JTPA) gefördert werden, eher kontraproduktiv aus (vgl. Marshall 1992). Er kommt zu der für die Reform der US-amerikanischen Berufsbildung entscheidenden Schlußfolgerung: "Effective training systems and continuous learning must be part of a broad workplace transformation that allows workers to participate in a broad range of decisions traditionally made by mangement" (Marshall 1992, S. 14). /
742
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Eine Neuorientierung wird jedoch als außerordentlich schwierig eingeschätzt (vgl. Roger 1992), da die meisten US-Arbeitsmärkte sich 1. auf ein niedriges Lohnniveau und 2. auf ein damit korrespondierendes niedriges Qualifikationsniveau stützen, um auf dem Weltmarkt konkurrieren zu können. Aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive sehen die meisten Unternehmen keine Notwendigkeit, dem Qualitätswettbewerb, wie er durch die Globalisierung der Märkte nun auch deutlich auf die US-Binnenmärkte durchschlägt, mit einer Offensive zur Qualitätsarbeit und einer Qualifizierung zu begegnen. Wesentlich stabilisiert wird diese Barriere gegen eine Berufsbildungsreform durch die Job-Klassifikation, wie sie im Dictionary of Occupational Titles (DOT) ihren Niederschlag findet. Das DOT ist ein im US-amerikanischen Arbeitsrecht verankertes Klassifikations-System für die ca. 16.000 formalisierten "Berufe". Knappe 1.000 dieser Berufe werden als apprenticeshiple ausgewiesen. Schon die große Zahl zeigt, daß diese Berufsklassifikation einem tayloristischen Job-Design entsprungen ist. Das DOT spielt eine wesentliche Rolle bei den TarifVerhandlungen und Tarifverträgen. Aus der Sicht deutscher Gewerkschaften mutet es geradezu paradox an, daß Gewerkschaften an dieser Job-Klassifikation festhalten, obwohl sie damit eine Entwicklung hin zu anspruchsvollen Berufen bzw. Tätigkeiten verhindern. Als eine wesentliche Ursache für dieses Verhalten wird angegeben, daß die US-amerikanischen Gewerkschaften in ihrer Entstehung eng mit der Herausbildung des Fordismus verbunden sind (Job-Control-Unionism). Eine Reduzierung der Anzahl unterschiedlicher Jobs führt danach automatisch zu einer Einschränkung gewerkschaftlicher Mitbestimmung in den Betrieben, die primär darauf gerichtet ist, Einstellungen, Entlassungen und Entlohnung strikt an der offiziellen Jobklassifikation auszurichten. "The extensive use of job Classification proceeded widespread unionization" (Kaßebaum/Thelen 1989, S. 113). Obwohl der gewerkschaftliche Organisationsgrad mittlerweile deutlich unter 20% abgesunken ist, hat das DOT kaum an Bedeutung eingebüßt. Es ist immer noch die Basis für die Berufsberatung durch die "Vocational Committees" und zwar vor allem in der Endphase der Beratung (Vocational Guidance), dem "Placement on the Job". Das vom Department of Education 1970 herausgegebene eigene Klassifikationssystem (Career Education Clusters) ist zwar leichter zu handhaben, es basiert jedoch ebenfalls auf dem DOT und enthält daher auch in
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
743
einem Cross-Index die entsprechenden Querverweise. Das DOT wird regelmäßig aktualisiert und durch ein 'Occupational Outlook Handbook' ergänzt. Da die im DOT definierten und formalisierten Berufe offenbar bis heute das zentrale und konstitutive Moment für betriebliche und überbetriebliche Arbeitsmärkte sind und eine deutliche Rücknahme horizontaler und vertikaler Arbeitsteilung im Sinne moderner Produktionskonzepte quasi automatisch die gewerkschaftlichen Rechte deutlich reduziert, liegt hier, in der US-amerikanischen Berufsklassifikation, offenbar eine der zentralen Ursachen für die Schwäche der beruflichen und vorberuflichen Bildung. Eine erfolgreiche (Berufs-)Bildungsreform kann daher nur gelingen, wenn Arbeitsstrukturen, betriebliche Organisationsentwicklung und (berufliche) Bildung als ein zusammenhängendes Reformprojekt aufgefaßt werden. Diese Einsicht gewinnt in den USA zunehmend an Gewicht. Die American-Skill-Crisis ist nicht in erster Linie eine Krise des Bildungssystems, sondern eine Krise, die durch den noch immer verbreiteten Taylorismus verursacht wird. Das National Centre on Education and the Economy fordert in seinem Bericht "America's Chance: High Skills or Low Wages!" folgerichtig eine Abkehr vom Taylorismus und die Einführung von "high performance work organisation". Nur so lasse sich das Bildungssystem grundlegend reformieren: "Work organisation changes drive the demand for high skills. But without a skilled workforce, most companies will settle into low wage work organisation" (National Center on Education and the Economy 1990, S. 42).
Zitierte Literatur BERGER, Suzanne et al (1989): Towards a New Industrial America. In: Scientific America. June, Vol. 200, No. 6, S. 21-39. DEWEY, John (1966): Democracy and Education. New York: Free Press. HATSOPOULOS, Georg N. et al. (1988): US Competitiveness: Beyond the Trade Deficit. Science 241, S. 299-307. KASSEBAUM, Bernd/THELEN, Kathleen (1989): Arbeitsstrukturierung und Beteiligung. Betriebliche Fallstudien aus den USA, Schweden und der Bundesrepublik. Zwischenbericht (Teil 1). IG Metall. Frankfurt/M. KATSIS, Richard (1989): Education in the United States. In: Working Paper of the MIT Commission on Industrial Productivity. 2 Vol. Cambridge: MIT Press.
744
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
LOOSE, Gert (1988): Vocational Education and Transition: A seven-country study of curricula for lifelong vocational learning. UNESCO Institute for Education. Hamburg. MAIN, Jackson B. (1965): The Social Structure of Revolutionary America. Princeton. MARSHALL, Daniel (1992): The Roll of Organized Labor in the United States Apprenticeship. In: DETTKE, Dieter and WEIL, Carola (Ed): Challenges for Apprenticeship and Vocational Training in the 1990's: German and American Perspectives (Friedrich-Ebert-Stiftung), Bonn, S. 10-15. MILLER, Juliet V./CAMPBELL, Robert E. (1988): Using Career Guidance to Support Career Development: The Career Planning Support System (CPSS). An illustrative innovation. In: LOOSE, G.: Vocational Education in Transition: A seven-country study of curricula for lifelong vocational learning. UNESCO Institute for Education. Hamburg. MÜNCH, Joachim (1989): Berufsbildung und Bildung in den USA: Berlin. National Center on Education and the Economy (Commission on the Skills of the American Workforce) (1990): Americans Choice: High skills or low wages! Washington. NOBLE, David F. (1986): Forces of Production. A Social History of Industrial Automation. New York. PHILLIPS, Andrew J. (Director of the National Joint Apprenticeship and Training Committee) (1984): Statement zum Apprenticeship-Training im Rahmen des Oversight Hearing on the National Apprenticeship Act. NinetyEighth Congress. First Session, S. 253-261. PIORE, Michael J./SABEL, Charles F. (1985): Das Ende der Massenproduktion. Berlin. SPÖTTL, Georg/RAUNER, Felix/MORITZ, Eckard: Beschäftigung, Arbeit und Weiterbildung im US-amerikanischen Kfz-Handwerk. Eine Studie im Rahmen des FORCE-Programms. Hrsg.: Task Force Human Resources, Education, Training and Youth/Institut Technik und Bildung. Bremen 1994. TENBROCK, Christian (1994): Abschied vom amerikanischen Traum. Die Zeit, Nr. 20, S. 42. THELEN, Kathleen (1989): Workorganization and Workinvolvement in the US-Industry. In: Kaßebaum, B./THELEN, K.: Arbeitsstrukturierung und Beteiligung. Betriebliche Fallstudien aus den USA, Schweden und der Bundesrepublik. Zwischenbericht (Teil 1). IG Metall. Frankfurt/M. TITEL 29-LABOR (1977): Subtitle A - Office of the Secretary of Labor, Part 29 - Labor Standards for the Registration of Apprenticeship Programmes. Federal Register. Vol. 42, No. 34. Febr. 18th. TYACK, David B. (1974): The One Best System. Cambridge/Mass. U.S. CONGRESS, Office of Technology Assessment (1988): Paying the Bill: Manufacturing and American's Trade Deficit. Report 10. Washington. U.S. CONGRESS, Office of Technology Assessment (1989): Worker Education-Competing in the International Economy. Washington. U.S. CONGRESS, Office of Technology Assessment (1990): Worker Training. Competing in the New International Economy. Washington. US-DEPARTMENT OF EDUCATION (1991): America 2000. An Educational Strategy. Washington.
Lernen für die Arbeitswelt in den USA
745
WIRTH, Arthur G. (1972): Education in the Technological Society: The Vocation - Literal Studies Controversy in the Early Twentieth Century. Scranton/Penn., Index Educational.
Weiterführende Literatur BAILEY, Thomas (1990): Changes in the Natur and Structure of Work: Skill Requirements and Skill Formation. University of California. Berkeley. DETTKE, Dieter/WEIL, Carola (Hrsg.) (1992): Challenges for Apprenticeship and Vocational Training in the 1990's: German and American Perspectives. Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn. GROSSMANN, Gary N./DRIER, Harry N. (1988): Apprenticeship 2000: Columbus: Nation Centre for Research in Vocational Education. The Ohio State University. NOBEL, David (1979): America by Design. New York. NATIONAL CENTER FOR EDUCATIONAL STATISTICS: Digest of Education Statistics (erscheint jährlich).
8.4
Arbeit und Lernen in der Dritten Welt Raimund Dröge und Gerd Neumann
8.4.1
Zur defizitären Situation arbeitsorientierter Bildung in Ländern der Dritten Welt
747
8.4.2
Notwendigkeit und Nachhaltigkeit von Berufsbildungshilfe
750
8.4.3
Der Arbeits- bzw. Erwerbsbereich von Menschen in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit Der informelle Sektor Der formelle Sektor
752 753 758
8.4.3.1 8.4.3.2 8.4.4
8.4.4.1 8.4.4.2
8.4.5
Die Lernvoraussetzungen, -möglichkeiten und -interessen potentieller Teilnehmer von beruflichen Bildungsmaßnahmen Beobachtung und Kommunikation: Komplexe Arbeitssituationen als Referenzrahmen Arbeitsorientierte Kompetenzen zur Bewältigung von Anforderungen an der Schnittstelle zwischen formellem und informellem Sektor Schlußbemerkung
760 761 764 766
Zitierte Literatur
768
Weiterfuhrende Literatur
768
8.4.1
Zur defizitären Situation arbeitsorientierter Bildung in Ländern der Dritten Welt
In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern sind Bildungssysteme errichtet worden, die in ihren Grundstrukturen und curricularen Mustern denen von Industrienationen entsprechen. Diese Strukturen sind in der Regel gekennzeichnet durch zwei relativ autonome Linien der Allgemeinbildung und der beruflichen Bildung. Nachdem lange Zeit die Allgemeinbildung im Mittelpunkt der internationalen Förderung gestanden hat, ist in der letzten Dekade die Berufsbildung stärker in den Vordergrund gerückt worden. Die bilaterale deutsche Berufsbildungshilfe richtet sich überwiegend auf den Ausbau und die Ausdifferenzierung der Strukturen bestehender
748
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Berufsbildungssysteme oder auf spezifische Problem- und Defizitbereiche in ihnen wie beispielsweise die Lehreraus- und Lehrerfortbildung, Ausbilderqualifizierung, materielle Ausstattungen, Schulmanagement, aber auch auf Curriculumplanung und -entwicklung. Die curricularen Verbindungen zwischen den beiden Linien der allgemeinen und beruflichen Bildung sind in Entwicklungs- und Schwellenländern fast immer sehr schwach ausgeprägt. Innerhalb der jeweiligen Bereiche überwiegen fachbezogene allgemein- oder berufsbildende fachdidaktische Konzepte. Arbeitsorientierte Ansätze haben in der bilateralen Berufsbildungskooperation dagegen zur Zeit praktisch keine Bedeutung. Vielmehr ist die staatliche bilaterale Berufsbildungshilfe überwiegend auf berufliche Tätigkeiten in industrialisierten und hochgradig arbeitsteilig organisierten Produktionsprozessen ausgerichtet. Die dabei angewendeten Bildungskonzepte richten sich auf die Ausbildung von Facharbeitern oder Meistern verschiedener Anforderungsbereiche und -stufen und werden in der Regel berufsvorbereitend durchgeführt, das heißt abseits realer Produktionstätigkeiten. Für die meisten Zielländer der Berufsbildungshilfe gilt aber, daß Industrialisierungssektoren relativ schwach ausgeprägt sind und deren Entwicklungsperspektive auf absehbare Zeit nicht ausreicht, breiten Bevölkerungsschichten Erwerbs- und Existenzmöglichkeiten zu eröffnen. Kritiker der gegenwärtigen Berufsbildungshilfe (z.B. Arnold 1991, Lohmar-Kuhnle 1991) verweisen auf den Sachverhalt, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung von Entwicklungs- und Schwellenländern in traditionalen, eher informellen Sektoren sowie in ländlichen Bereichen tätig ist und so von der bilateral organisierten Berufsbildungshilfe, die industriebezogen und stark auf städtische Regionen konzentriert ist, weitgehend ausgeschlossen wird. Dem als zu einseitig auf Industrieentwicklung ausgerichteten gegenwärtigen Förderansatz wird als Alternative oder Ergänzung ein arbeitsorientiertes Produktionsschulkonzept gegenübergestellt (vgl. Greinert/Wiemann 1992). Dabei handelt es sich um verschiedene Versuche, die Trennung von Arbeit und Lernen durch organisatorische und methodische Maßnahmen in der Ausbildung zu reduzieren oder aufzuheben.
Arbeit und Lernen in der Dritten Welt
749
Greinert/Wiemann (vgl. GreinertAViemann 1992, S. 33) unterscheiden zwischen drei Typen von Produktionsschulen (-»• 5.6.3.2): 1. Der 'einfache Produktionsschultyp', bei dem Ausbildung und Produktion in einer meist schulischen Institution zusammengefaßt sind; 2. Der 'entwickelte Produktionsschultyp', der eine produzierende Lehrwerkstatt und eine eigenständige Produktionsabteilung beinhaltet; 3. Die Produktionsschule als 'Lernfabrik', bei der organisatorisch konsequent ein (moderner) Produktionsbetrieb simuliert wird. Kennzeichnendes Merkmal der Modelle 1 und 2 ist, daß sie produzierende Bereiche aufgenommen haben, um die Ausbildungsaktivitäten (wie z.B. Ausbildungsmaterialien, Lehrergehälter) wenigstens teilweise über den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen finanzieren zu können. Curriculare und fachdidaktische Überlegungen sind der (ökonomischen) Finanzierungsfunktion nachgeordnet. Modell 3 weist hingegen ein explizit fachdidaktisches (technikdidaktisches) Konzept auf, da hier mit der Simulation von Fertigungsabläufen produktionstechnisch relevante Fertigkeiten und Kenntnisse über organisatorische Zusammenhänge vermittelt und erarbeitet werden sollen. Nur zum Modell 3, das bisher einmal in Singapore (German-Singapore-Institute; GSI) angewendet wurde, stehen umfassendere Informationen (und SelbstdarStellungen) zur Verfügung. Die dort umgesetzten komplexen, produktionsbezogenen Simulationsmodelle orientieren sich an den Anforderungen der (überschaubaren und in weiten Teilen hochmodernen) Produktionsstruktur und Entwicklungsplanung des Stadtstaates. Der enorme Finanzierungsbedarf wird durch Industrieaufträge und -Sponsoren sowie durch staatliche Subventionen gedeckt. Das Modell wird als erfolgreich bezeichnet, ist aber nach unserer Auffassung als entwicklungspolitischer Sonderfall zu betrachten, der nur auf dem Hintergrund einer spezifischen Wirtschaftsverfassung und -planung verstanden werden kann. Diese Bedingungen sind in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern nicht gegeben. Die Übertragbarkeit auf andere Projekte ist damit nicht gesichert. Der aktuelle Informationsstand über die curricularen und fachdidaktischen Implikationen der verschiedenen und weit weniger
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
spektakulären Produktionsschulen der Modelle 1 und 2 ist dagegen dürftig. Doch gerade diese Modelle, die sowohl von staatlichen als auch von karikativen, politischen und kirchlichen Trägern gefördert werden, versuchen Ansatzpunkte für angepaßte Qualifizierungskonzepte zu bieten, die den Bedürfnissen und Anforderungen von Entwicklungs- und Schwellenländern mit ihren stark ausgeprägten informellen Sektoren entgegenkommt. Mit unseren folgenden Ausführungen konzentrieren wir uns allerdings nicht auf Produktionsschulen, denn auch sie sind technikund arbeitsprozeßlastig. Unsere Fragestellung geht darüber hinaus und richtet sich auf die Analyse von Förderkonzeptionen und -bedingungen und die Entwicklung von Kriterien für eine arbeitsorientierte Ausbildung in verschiedenen Organisationsformen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Dabei soll insbesondere der für den informellen Sektor aber auch noch für viele (Klein-)Betriebe des formellen Sektors bestehende zeitliche, inhaltliche und personelle Zusammenhang zwischen den Wirtschaftsbereichen der Produktion, Distribution und Konsumtion als didaktische Leitfigur einer arbeitsorientierten Ausbildungskonzeption beachtet werden.
8.4.2
Notwendigkeit und Nachhaltigkeit von Berufsbildungshilfe
Die Diskussion über die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der internationalen und bilateraten - staatlichen - Berufsbildungshilfe als eine Fördermaßnahme im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit wird kontrovers geführt. Mangels geeigneter und auf Vergleichbarkeit angelegter Evaluierungsinstrumente (vgl. Stockmann 1992) stützt sich diese Diskussion verstärkt auf unterschiedliche Grundpositionen und die ihnen zugrundeliegenden Prämissen und Implikationen. Global können die unterschiedlichen Ansätze bezeichnet werden als Industrialisierungs- und als Systementwicklungs- und Beratungsansatz. Vertreter des Industrialisierungsansatzes gehen davon aus, daß Entwicklungs- und Schwellenländer u.a. durch eine gezielte Förderpolitik im formellen industriellen Sektor Anschluß an internationale Standards der Produktionstechnik, Produktentwicklung und -gestaltung gewinnen und damit auch ökonomische, politische und soziale
Arbeit und Lernen in der Dritten Welt
751
Stabilität erreichen können. Als Aufgabe der Berufsbildungshilfe gilt in diesem Zusammenhang die Qualifizierung von (überwiegend technischen) Fachkräften. Die Systemstrukturen und Handlungsmuster hochentwickelter und ökonomisch erfolgreicher Industrieländer dienen dazu als Vorbild. Ausdruck dieses Ansatzes sind in der bilateralen deutschen Entwicklungspolitik in der Regel Einzelprojekte in gewerblich-technischen Bereichen auf der Grundlage deutscher Berufsbildungskonzepte. Vertreter des Systementwicklungs- und Beratungsansatzes wollen dagegen an den in Zielländern vorhandenen bzw. sich abzeichnenden Strukturen ansetzen, Traditionen, Mentalitäten und landesspezifische Zielvorstellungen berücksichtigen und über die Entwicklung bzw. Stärkung von Funktionen gesellschaftlicher (Teils y s t e m e einen eher evolutionär systemischen Entwicklungsprozeß begleiten, der sich im Unterschied zum Industrialisierungsansatz nicht auf einen wirtschaftlichen Sektor konzentriert, sondern verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche gleichmäßig erfaßt, also umfassender wirksam wird (vgl. Greinert/Wiemann 1993). Ausdruck dieser Strategie sind differenzierte Förderprogramme der Berufsbildungshilfe in Bereichen wie Lehreraus- und Lehrerfortbildung, Regierungsberatung, Qualifizierung von Fach- und Führungskräften verschiedener Ebenen, betriebliche Ausbildungsprojekte, Aufbau von Curriculum- und Medienzentren (Greinert/Wiemann 1993, S. 15). Die Berechtigung dieser beiden Grundkonzepte möchten wir an dieser Stelle nicht in Frage stellen. Dazu sind differenzierte Analysen der Ausgangslagen, Bedingungen und Zielperspektiven der jeweiligen Partnerländer wie auch der Intentionen der bilateralen Konzepte der Entwicklungszusammenarbeit erforderlich. Ansatzpunkte unserer Kritik liegen aber in den problematisierten Gemeinsamkeiten der beiden Positionen, die sich vor allem ausdrücken in: - einer Konzentration auf die vorhandenen oder als wünschenswert bezeichnete formelle Struktur der Partnerländer; - einer Konzentration auf gewerblich-technische Ausbildungsmaßnahmen in Industrie und Handwerk in überwiegend städtischen oder stadtnahen Industrialisierungszonen; - einem Mangel an curricularer Begründung sowie fachdidaktischer Fundierung und Strukturierung der Förderprojekte.
752
Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Im Gegensatz dazu ist die Frage nach der curricularen und fachdidaktischen Begründung von Maßnahmen der Berufsbildungshilfe das Leitmotiv unserer konzeptionellen Überlegungen. Dazu konzentrieren wir uns auf zwei zentrale Bedingungsfelder berufspädagogischer Tätigkeit: 1. Der Arbeits- bzw. Erwerbsbereich von Menschen in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit; 2. Die Lernvoraussetzungen, -möglichkeiten und -interessen potentieller Teilnehmer von beruflichen Bildungsmaßnahmen.
8.4.3
Der Arbeits- bzw. Erwerbsbereich von Menschen in Partnerländern der Entwicklungszusammenarbeit
Die wirtschaftlichen, d.h. existenzsichernden Tätigkeiten der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern lassen sich global drei Sektoren zuordnen, die allerdings nicht genau abgrenzbar sind und eine stetige Veränderungsdynamik aufweisen: Die Subsistenzwirtschaft, der informelle Sektor, der formelle Sektor. Die Subsistenzwirtschaft ist gekennzeichnet durch einfache Tätigkeiten vor allem in der Land- und Hauswirtschaft und dient überwiegend der Produktion von Lebensmitteln vor allem für den eigenen Bedarf bzw. den der Familie. Ein Anschluß an die Geldwirtschaft des Landes wird damit kaum erreicht, vielfach werden über den eigenen Bedarf hinaus erwirtschaftete Güter gegen andere erforderliche Güter und Gegenstände getauscht. Für den informellen Sektor gilt als grundlegendes Merkmal, daß er wirtschaftliche Tätigkeiten unterhalb eines formal gegebenen gesetzlichen, sozialen, ökonomischen Rahmens in der Form von Kleinund Kleinstbetrieben erfaßt, die in der Regel keine dauerhafte Entwicklungsperspektive haben. Die wirtschaftlichen Aktivitäten umfassen ein breites Spektrum von Tätigkeiten in den Bereichen Handel, Produktion von Gütern und Angebote diverser Dienstleistungen. Die Erträge dieser Tätigkeiten erreichen vielfach nicht einmal das Existenzminimum, können aber auch erheblich über Einkommen liegen, die in oder mit formellen Betrieben erreicht werden.
Arbeit und Lernen in der Dritten Welt
753
Informelle Betriebe sind vielfach als Familienbetriebe organisiert. Die wirtschaftliche Tätigkeit ist meist das Rückgrat der materiellen Existenz der (Groß-)Familien und erfüllt damit einerseits eine ökonomische Funktion, andererseits aber auch eine soziale Funktion, indem nicht beschäftigte oder unselbständige Familienmitglieder in diesem sozialen Kontext aufgefangen werden. Diese Verbindung von ökonomischer und sozialer Funktion bewirkt oder verstärkt allerdings Tendenzen zur Selbstausbeutung, da die Arbeitsleistung auf den sozialen Zusammenhalt der Familie und nicht auf ein Marktgeschehen ausgerichtet ist. Der formelle Sektor entspricht am weitesten den Vorstellungen von Betrieben industrialisierter Länder. Betriebe dieses Sektors haben sich in das vorhandene staatliche und ökonomische System eingeordnet, sie orientieren sich an gegebenen Regeln und Gesetzen, ihre Produktionsprozesse sind gekennzeichnet durch Arbeitsteilung, Hierarchien, Rollen- und Positionszuweisungen. 8.4.3.1 Der informelle Sektor Dem informellen Sektor kommt in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern eine wirtschaftliche und soziale Bedeutung zu, die teilweise erheblich über der des formellen Sektors liegt. Er wird daher zunehmend von "Geberländern" in verschiedenen Fördermaßnahmen beachtet (vgl. Arnold 1991, S. 69 ff.). Allerdings bereitet es angesichts einer Vielzahl von Erscheinungsformen erhebliche Schwierigkeiten, genauer zu bestimmen, welche Merkmale und Funktionsweisen den informellen Sektor genauer kennzeichnen, zumal die Grenzen nach "unten" wie "oben" offensichtlich fließend sind (vgl. Lohmar-Kuhnle 1991, S. 23 f.). Als Abgrenzung nach "unten" kann die Subsistenzwirtschaft mit Eigenarbeit im land- und/oder hauswirtschaftlichen Bereich gelten, als Abgrenzung nach "oben" werden Schnittstellen zur formalen Wirtschaft genannt, beispielsweise durch Zulieferfunktionen. Wichtig ist weiter, daß die in diesem Sektor agierenden Personen keine eindeutige Position einnehmen, sondern situativ zwischen Subsistenzwirtschaft und formalem Sektor pendeln (müssen). "In diesem Sinne ist der informelle Sektor ein wirtschaftliches und soziales Auffangbecken für alle diejenigen, die ihr Leben nicht (mehr) auf der Basis der im modernen Sektor geltenden Normen, Regeln und
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
Entwicklungsperspektiven organisieren können" 1991, S. 25).
(Lohmar-Kuhnle
* Soziale und wirtschaftliche Funktionen des informellen Sektors Auch wenn der informelle Sektor für die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer der bedeutendste Raum binnenwirtschaftlicher Aktivitäten ist, kann dies allein kein Grund sein, ihn in bilaterale Förderaktivitäten einzubeziehen. Wir fragen daher nach seinen Funktionen und Leistungen, die er für die Menschen eines Landes und für dessen wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität und Entwicklung bewirkt. Folgende Funktionen und Leistungen werden dem informellen Sektor zugeschrieben: 1. Der informelle Sektor ist Auffang- bzw. Ausgleichsbecken für Menschen aus der Subsistenzwirtschaft, die aus verschiedenen Gründen ihre Existenzgrundlagen verlieren oder in diesem Bereich das ergänzende Geldeinkommen zur Beschaffung solcher Güter oder Dienstleistungen finden, die durch die Subsistenzwirtschaft nicht erstellt werden können. 2. Er ist Auffang- bzw. Ausgleichsbecken für Arbeitnehmer aus dem formellen Sektor, die dort aufgrund wirtschaftlicher Instabilitäten ihren Arbeitsplatz verlieren oder er bietet denjenigen, denen der formelle Sektor nur ungenügende Einkommensmöglichkeiten bietet, eine ergänzende Einkommensquelle. 3. Der informelle Sektor ergänzt oder ersetzt Systeme der sozialen Absicherung, die in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern in der Regel nicht vorhanden oder allenfalls sehr schwach ausgeprägt sind. 4. Er erfüllt Zulieferfünktionen für Betriebe des formellen Sektors. Oft ermöglichen erst die Angebote des informellen Sektors mit ihren billigen Komplementärleistungen eine kostengünstige und wettbewerbsfähige Produktion der formellen Betriebe. Weiter werden Marktschwankungen durch Reduzierung, Erhöhung oder Erweiterung des Auftragsvolumens an den informellen Sektor ausgeglichen. Damit gewinnt der formelle Betrieb ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Stabilität. 5. Der informelle Sektor leistet einen wesentlichen Beitrag zur angepaßten, bedarfsgerechten Versorgung für weite Teile der Be-
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völkerung, die sich die teueren Produkte des formellen Sektors oder gar Importprodukte nicht leisten können. * Der informelle Sektor als Schnittstelle zwischen traditionalen und modernen Gesellschaftsbereichen Zwar soll die Problematik des informellen Sektors mit seinen auch vielfach illegalen Aspekten wie Kinderarbeit, Prostitution, Diebstahl, Schmuggel nicht verschwiegen werden, dennoch muß das wirtschaftlich und sozial ausgleichende Potential der überwiegend außerlegalen Tätigkeiten hervorgehoben werden. Zwischen den eher traditionellen Bezügen der Subsistenzwirtschaft und den mehr technikzentrierten, an EfFizienzansprüchen des modernen, aber labilen formellen Sektors steht damit ein Sektor, dessen Menschen sich aus Gründen der Existenzsicherung mit einer enormen Flexibilität immer neue Einkommensmöglichkeiten erschließen müssen. Gerade in diesem Bereich treten Marktmechanismen mit so harten Selektionswirkungen in Erscheinung, wie sie in Industrienationen kaum vorstellbar sind. Die vom informellen Sektor in vielfacher Ausprägung wahrgenommenen sozialen und wirtschaftlichen Ausgleichsfunktionen zeigen zugleich aber auch, daß dieser Bereich eine für Entwicklungs- und Schwellenländer unverzichtbare und zugleich oszillierende Schnittstelle zwischen traditionellem und modernem Sektor darstellt. Dies ist für uns der Grund, diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit zu widmen und der Frage nachzugehen, in welcher Weise diese Schnittstellenfunktion so verbessert und unterstützt werden kann, daß sowohl ein Beitrag zum Erhalt traditionaler als auch zur Entwicklung modernen Bereiche geleistet werden kann. Der informelle Sektor soll aber nicht als eigenständiger Förderbereich hervorgehoben werden. Uns geht es vielmehr darum, das Streben der Menschen nach sicheren Existenzgrundlagen aufzunehmen und die darauf beruhende Dynamik zur Entwicklung formaler Strukturen durch Qualifizierung zu unterstützen. Wir richten unser Erkenntnisinteresse also nicht auf spezielle Sektoren und vorhandene oder zu planende Systeme einer Gesellschaft, sondern auf Leistungen von und Anforderungen an Aktoren, die zwischen Sektoren und Systemen agieren und die durch ihr spezifisches Beobachtungs-, Kommunikations- und Entscheidungs-
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verhalten die Ausprägung, Entwicklung und Verlagerung von Schnittstellen prägen und erst damit einen Beitrag zur Entwicklung der sozialen Systeme in ihrem Land leisten. Als Ausgangsthese unserer Überlegungen kann gelten, daß Berufsbildungsprojekte unter diesem Erkenntnisinteresse einen originären und derivativen Beitrag leisten, indem sie ihre Absolventen so qualifizieren, daß diese zugleich als Informationsträger und Agenten der Systementwicklung gleichsam unbewußt innovative Funktionen gewinnen können. * Berufliche Tätigkeiten in formellen und informellen Sektoren Spezifische und mit Personen verbundene Erwartungen und Handlungen werden in Industrienationen unter der sozialen Kategorie "Beruf oder Profession" zusammengefaßt. Damit wird ein Vorgang erfaßt, der entweder historisch gewachsen oder auf einem gesellschaftlich organisierten und akzeptierten Ordnungsmechanismus beruht. Auf solche Entwicklungslinien und Traditionen können wir in Entwicklungs- und Schwellenländern selten zurückgreifen, vor allem nicht, wenn es um Tätigkeiten im informellen und in modernen Bereichen geht. Daher wollen wir auf den den Berufen zugrundeliegenden Arbeitsbegriff zurückgreifen und ihn durch bestimmte Tätigkeitsmerkmale genauer bestimmen. Bezogen auf die Schnittstelle zur Subsistenzwirtschaft mit ihren eher traditionalen Anforderungen können wir von einer eher handwerklichen Tätigkeit sprechen; bezogen auf die Schnittstelle zum formalen Sektor mit seinen eher modernen Arbeitsstrukturen und techniken können wir die Ausprägung der Arbeitstätigkeiten eher als arbeitsteilige Industriearbeit bezeichnen. Die Leistungserstellung in informellen Sektoren ist in der Regel einerseits durch knappe finanzielle und materielle Ressourcen, andererseits aber auch durch ganzheitliche Arbeitsprozesse gekennzeichnet. Da es kaum auf Dauer angelegte Arbeitsverhältnisse gibt und Schwankungen im Arbeitsbedarf durch ad-hoc-Einstellungen und Entlassungen ausgeglichen werden, gibt es auch keine organisierte
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und institutionalisierte Arbeitsteilung. Sichtbar werden allenfalls spontane, aber überschaubare Aufgliederungen des Arbeitsprozesses. Planung, Durchführung und Kontrolle des Arbeitsprozesses liegen im Normalfall im Organisationsbereich einer Person oder kleiner Personengruppen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Erstellung eines Produktes, sondern oft auch auf die der Produktion vor- und nachgelagerten Prozesse der Beschaffung von Materialien und des Absatzes von Produkten. In (meist familiären) Kleinst- und Kleinbetrieben übernehmen die Inhaber auch die weiteren 'kaufmännischen Arbeiten' und Entscheidungen wie Kalkulation und Preisfestsetzung, Buchführung, Beschaffüngs- und Absatzorganisation, Produktgestaltung und Marktforschung - wenn auch in einfachster Form. Eine planmäßig organisierte, marktbezogene und mit zeitlichen Dimensionen planend vorausschauende Produktion ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht anzutreffen. Unter diesen Bedingungen ist auch eine systematische und zeitlich strukturierte Ausbildung nicht denkbar. Arbeitskräfte können immer nur am Produkt und an den gegebenen Produktionstechniken lernen bzw. haben bei einer stetigen Produktnachfrage Möglichkeiten, das Gelernte zu habitualisieren. Damit besteht zumindest die Chance, über die Quantität der Produkte den eigenen Profit zu erhöhen. Die Zeit für Experimente, Erprobungen neuer Arbeitstechniken, Entwicklung neuer Produkte, Arbeitsmittel und -methoden ist dagegen weder im Produktionsprozeß noch in den wenigen Möglichkeiten des Lernens während der Produktion angelegt. Im Normalfall sind solche innovativen Versuche eher mit dem Risiko von Einkommenseinbußen verbunden. So sind "Innovationsräume" meist nur für Betriebsinhaber verfügbar, die damit auftragsarme Zeiten überbrücken können. Die schon benannte Flexibilität des informellen Sektors ist daher auch überwiegend eine Flexibilität in den Produktvariationen und mengen, aber kaum in der Produktqualität und Produktinnovation. Aus den Produktionsbedingungen des informellen Sektors und den damit verbundenen sehr begrenzten Lernmöglichkeiten erklärt sich auch, warum dieser Sektor aus eigener Kraft weder den Anschluß an den modernen Sektor noch eine Stabilität im handwerklichen Bereich erlangen kann, obwohl ihm eine starke Entwicklungsdyna-
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
mik bescheinigt wird. Neben verschiedenen anderen Unterstützungsmaßnahmen könnte aber eine dem informellen Sektor angepaßte Berufsbildungshilfe einen Beitrag zur Weiterentwicklung und Anbindung dieses Sektors an den formellen, modernen Sektor leisten. * Die Schnittstelle zum formellen modernen Sektor Wir hatten beschrieben, daß der informelle Sektor Auffangbecken für den formellen Sektor ist und unter bestimmten Bedingungen auch Zulieferfunktionen wahrnimmt (wie Ausgleich von Marktschwankungen, Kostenreduzierung). Diese Funktionen sind quantitativer, aber nicht qualitativer Natur. Diese struktuelle Kopplung kann nach unserer Auffassung aber auch um qualitative Dimensionen erweitert werden. Ansatzpunkte liegen in den ganzheitlichen Arbeitsanforderungen des informellen Sektors und ihren Lernpotentialen. Von hieraus ist die Perspektive auf die im modernen, arbeitsteiligen Produktionsprozessen des formellen Sektors angelegten, aber im Arbeitsprozeß selbst nicht mehr erlernbaren Anforderungen nach Koordinierung und kaufmännischer, organisatorischer und administrativer Verschränkung zu öffnen. An dieser Stelle setzen wir unsere konzeptionellen Überlegungen an. 8.4.3.2 Der formelle Sektor Im Unterschied zum informellen Sektor, der fast durchgängig auf einfachem Niveau durch ganzheitliche Arbeitsvorgänge mit Anforderungen an Planung, Durchfuhrung und Kontrolle in kaufmännischen und technischen Bereichen gekennzeichnet ist, können wir im modernen formellen Sektor zwei Linien feststellen: 1. In Handwerks- bzw. Manufakturbetrieben, die Produktionsoder Dienstleistungsfunktionen wahrnehmen, sind die Arbeitsvollzüge weiterhin stark ganzheitlich orientiert, unterscheiden sich von informellen Betrieben aber durch eine stärkere Systematisierung, durch den Einsatz modernerer Arbeitsmittel mit komplexeren Arbeitsanforderungen und durch technisch höherwertige Produkte und Dienstleistungen. Neben dem Faktor "Arbeit" gewinnt hier auch der Faktor "Kapital" eine eigenständige Bedeutung. Damit verbunden, kristallisieren sich auch Anforderungen in Bereichen wie Finanzierung und Kostenrechnung heraus. Eine kostenbewußte Produktion, marktbezogene Planungen, Ent-
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Scheidungen und Verhaltensweisen werden in diesem Bereich zur Bedingung einer dauerhaften Existenz des Betriebes. 2. Industriebetriebe zeigen hingegen auf den ersten Blick das aus Industrienationen bekannte Bild einer in Teilaufgaben zerlegten Arbeit in der Produktion und einer als eigenständige Funktionseinheit ausgelegten kaufmännischen Verwaltung. Eine genauere Analyse zeigt aber fast immer erhebliche Probleme in den Organisationsstrukturen der Arbeit, in der Anwendung und Instandhaltung moderner Arbeits- und Produktionsmittel, in der Zusammenarbeit zwischen kaufmännischen Abteilungen und Produktionsbereichen, in der Qualität der Produkte, in einer dynamischen Orientierung an Markterfordernissen beispielsweise bei der Produktentwicklung und -diversifikation. Als Ursache für eine unbefriedigende qualitative Weiterentwicklung und quantitative Ausweitung des modernen Sektors wird in fast allen Entwicklungsländern ein erheblicher Mangel an qualifizierten technischen Fachkräften vor allem auf mittleren Ebenen der betrieblichen Hierarchie gesehen. Ziel der meisten Berufsbildungsprojekte ist daher, Unterstützung zur Beseitigung dieses Mangels durch Ausbildung von Facharbeitern, Vorarbeitern, Meistern und Supervisoren zu geben. Die Bedeutung dieser Maßnahmen soll nicht unterschätzt werden. Wir meinen aber, daß sie zu kurz greifen und in ihrer einseitigen Schwerpunktsetzung auf technische Qualifizierung und in einer dabei angenommenen Orientierung an gewerblich-technischen Berufsbildern die tatsächlich umfassenderen Probleme moderner Handwerks- und Industriebetriebe in Entwicklungsländern nur partiell berücksichtigen. Die Problemstellung wollen wir am Beispiel der Industriearbeit verdeutlichen: Kennzeichen moderner Industriearbeit ist ihre (teilweise extreme) Arbeitszerlegung und Funktionsdifferenzierung. An der Produkterstellung wirken eine Vielzahl von Personen mit, deren Leistungen zeitlich und sachlich voneinander getrennt sind, aber aufeinander abgestimmt werden müssen. Die dazu erforderlichen Instrumente werden von der Organisationslehre bereitgestellt. Global werden sie mit den Begriffen Aufbau-, Ablauf- und Führungsorganisation bezeichnet. Industriearbeit ist demnach durch eine strukturelle Verbindung von Arbeitsteilung, Funktionsbereichen und -ebenen gekennzeich-
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net, die durch Organisationsprinzipien abgesichert wird. Ihre Effektivität erklärt sich aber nicht allein aus der Anwendung dieser Strukturprinzipien, sondern vor allem aus der prozessualen Umsetzung. Während die Bedeutung der strukturellen Merkmale moderner (Industrie-) Arbeit auch in Entwicklungs- und Schwellenländern anerkannt und in Anlehnung an Vorbilder aus Industrienationen beispielsweise durch eine Differenzierung in technische und kaufmännische Berufs- oder Positionsbezeichnungen abgebildet wird, wird die prozessuale Umsetzung und die dazu erforderliche Qualifizierung weitgehend vernachlässigt. Unbefriedigende Zustände in Produktivität und Effektivität des Produktionsprozesses und in der Flexibilität und Qualität marktbezogener Prozesse in Handwerk und Industrie sind die Folge. Es wurde bisher zu wenig beachtet, daß neben den kapitalbezogenen Faktoren wie Produktionsmitteln und Produktionstechniken nicht nur technische Fertigkeiten die Leistungen eines Unternehmens/Systems bestimmen, sondern dazu weitere personale Qualifikationen einen bedeutsamen Beitrag leisten.
8.4.4
Die Lernvoraussetzungen, -möglichkeiten und -interessen potentieller Teilnehmer von beruflichen Bildungsmaßnahmen
Moderne Produktionsweisen sind in besonderem Maße und in vielfältiger Weise auf Abstimmung und Koordinierung angewiesen. Organisations- (oder System-) intern ergibt sich diese Notwendigkeit aus Arbeitszerlegung und Funktionsdifferenzierung. Gleichzeitig sind Industrie- und Handwerksbetriebe auch an einen gesellschaftlichen Prozeß der Arbeitsteilung angebunden: Sie produzieren nicht nur für konkrete Personen oder Vorhaben, sondern auch für einen unbestimmten Markt, auf dem sie ihre Angebote aufgrund einer vorher nicht spezifizierten Nachfrage umsetzen müssen. Moderne Märkte sind abstrakte Gebilde, die wenig unmittelbare sachliche und zeitliche Bezugspunkte für konkrete Unternehmensplanungen und -entscheidungen zur Verfügung stellen.
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Ein dauerhafter Bestand des Betriebes wird auch hier nur gesichert, wenn eine Anbindung an andere gesellschaftliche Organisationen oder Personen, also an abstrakte Systeme gelingt oder einfacher ausgedrückt, wenn die produzierten Güter und Dienstleistungen von irgendwelchen Käufern auch abgenommen werden. Das Problem der Abstimmung und Koordinierung besteht also organisationsintern und -extern. Die Qualität der Beziehungen in Unternehmen wie auch zwischen Unternehmen ist ein Indikator für deren Stabilität und Entwicklungsfähigkeit. Wichtige Steuerungsmechanismen der Abstimmung und Koordinierung in sozialen Systemen (hier Betrieben) sind Beobachtung und Kommunikation (vgl. Luhmann 1987). Wir vertiefen unsere Argumentation an diesen beiden Aspekten, da sich nach unserer Auffassung Bildungsmaßnahmen darauf beziehen müssen. * Erstens gilt es, die allgemeinen Kategorien Beobachtung und Kommunikation auf wirtschaftliche Tätigkeiten zu beziehen, d.h. durch einen Referenzrahmen auszudifferenzieren und * zweitens gilt es, den allgemeinen Anspruch der Funktionsfähigkeit von Unternehmen auf erforderliche Kompetenzen von Personen zu richten, die in der Lage sein müssen, im Schnittstellenbereich von formellen und informellen Sektoren einer Gesellschaft zu pendeln, um so ihre eigene (physische und psychische) Existenz absichern zu können. 8.4.4.1
Beobachtung und Kommunikation: Komplexe Arbeitssituationen als Referenzrahmen Wir hatten erläutert, warum Menschen im informellen Sektor kaum in der Lage sind, diesen aus eigener Kraft zu verlassen oder in formelle Strukturen zu überfuhren. Weiter hatten wir darauf verwiesen, daß der formelle Sektor Entwicklungsgrenzen aufgrund unbefriedigender organisatorischer und marktbezogener Regelungen und Handlungsprozesse aufweist. Der Problembereich wurde mit einem Mangel an technischen Qualifikationen und materiellen Ressourcen einerseits und Defiziten an internen und externen Abstimmungs- und Koordinierungsleistungen andererseits bezeichnet. Berufsbildungshilfe soll neben dem Einsatz anderer Instrumente (wie z.B. Kapitalhilfe) dazu beitragen, die bisherigen Begrenzungen
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aufzuheben. Dazu ist nach unserer Auffassung die technische Qualifizierung der Menschen in beiden Sektoren zwar eine unersetzliche Voraussetzung, allerdings zu stark an in Industrieländern gängigen spezialisierten Berufsbildern, Tätigkeitsfeldern und Positionszuweisungen orientiert und damit zu eindimensional ausgelegt. Der weitaus geringere Entwicklungsstand und Differenzierungsgrad der Arbeit in den Zielländern ist durch Anwendung eines differenzierten Arbeitsbegriffs zu berücksichtigen. Neben technischen Qualifikationen spielt dabei nach unserer Auffassung die Fähigkeit zur Beobachtung und Kommunikation eine herausragende Rolle. Beobachten bedeutet nach Luhmann Diskrepanzen wahrnehmen oder anders formuliert: einen Vergleich vornehmen können. Unter Kommunikation wird die Fähigkeit verstanden, den eigenen Standpunkt zu formulieren und mitzuteilen und sich so gegenüber den Mitteilungen der Beobachtung anderer abgrenzen zu können bzw. dem Gegenüber Abgrenzungen zu ermöglichen. Über die Mechnismen von Beobachtung und Kommunikation erfolgen wechselseitige Abstimmungen. Die agierenden Personen verhalten sich dabei selektiv und koordinierend zugleich, indem sie einerseits ihre Beobachtung und ihr Verhalten auf spezifische Funktions- und Positionserfordernisse beschränken und andererseits das eigene und das fremde Verhalten unter den Bedingungen und Erfordernissen des spezifischen Organisations-(Betriebs-) ziels interpretieren, ordnen und zum Gegenstand der Kommunikation machen. Arbeitstätigkeiten dienen der Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten. Neben technischen Aspekten der Produkterstellung beinhalten sie soziale, organisatorische, administrative und kaufmännische Funktionen. Sie sind damit immer auch wirtschaftliche Tätigkeiten. Daraus folgt, daß der Referenzrahmen zum einen technisch bestimmt ist, z.B. um die eigenen Fertigkeiten mit denen anderer Personen vergleichen, sich abgrenzen und darüber gleichzeitig eine Aufgabenverteilung und -verschränkung vornehmen zu können. Zum anderen muß der Referenzrahmen auch kaufmännische und organisatorische Kenntnisse beinhalten, z.B. um durch Beobachtung Preisvergleiche vornehmen und (sich oder anderen) Unterschiede erklären zu können, um den rationellen Einsatz von Produktionsmitteln und -techniken beurteilen zu können.
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Bezogen auf den Umgang mit und die Förderung von wirtschaftlichen Tätigkeiten im formellen und informellen Sektor bedeutet das, daß den Menschen die Bezugswerte für ihre Beobachtung zu vermitteln sind. Das sind im weitesten Sinne kaufmännische Kenntnisse, deren Umfang und Niveau allerdings noch genauer aus den jeweiligen Funktionen und Entwicklungsmöglichkeiten des Erwerbsbereichs zu bestimmen ist. Für fast alle Tätigkeiten des informellen Sektors gilt, daß sie tendentiell nur kurzfristig angelegt sind und überwiegend in familiären Strukturen abgewickelt werden. Geleistet wird damit zwar ein Beitrag zur Existenzsicherung, selten aber eine Verbesserung der Lebenssituation insgesamt erreicht. Das Risiko, durch falsche oder unangemessene Tätigkeitsfeldentscheidungen in eine weitere Verschlechterung der Lebenssituation zu geraten, wird durch die Existenznot und die Verfügbarkeit kostenloser Familienarbeit dagegen als hoch betrachtet. Durch die Anbindung einfachster kaufmännischer Grundkenntnisse und kaufmännischer Routinen an technische Fertigkeiten sollen die Risiken der Selbstausbeutung reduziert und Ansatzpunkte für Übergänge in formelle Strukturen angelegt werden. Vor allem für diesen, aber auch für die folgenden Sektoren gilt weiter, daß der Referenzrahmen für die Fähigkeit zur Beobachtung und Kommunikation arbeitsbezogen zu bestimmen ist. Grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen sind in diesen Kontext einzuordnen, damit Beobachtung und Kommunikation über den direkten Bezug der Arbeit hinaus auch einen ersten Zugriff auf meist abstrakte Informations- und Handlungsbereiche des formellen Sektors eröffnet (Nutzung öffentlicher Informationen wie Zeitungen, aber auch Umgang mit Schriftverkehr, amtlichen Vorgängen und Gesetzen, Verträgen usw.). Diese Informationsquellen sind auch Ansatzpunkte fiir neue Wege bei der Gestaltung der Arbeit. Für den Industriebereich des formellen Sektors kann gelten, daß qualifizierte Facharbeiter gegenüber der Mehrzahl der weniger ausgebildeten Arbeiter und aufgrund eines ungenügenden Angebots mittlerer Führungskräfte (wie Vorarbeiter, Meister) für gehobene Positionen prädestiniert sein können und damit für Abstimmungs-, Organisation- und Koordinierungsaufgaben sowohl zwischen tech-
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
nischen Bereichen als auch zu kaufmännischen Funktionen eingesetzt werden können. Kaufmännische und organisatorische Grundkenntnisse, bezogen auf die verschiedenen Funktionsbereiche und -ebenen von Unternehmen und deren Zusammenwirken in Unternehmen bieten dazu einen Einstieg. Für den Handwerksbereich des formellen Sektors spielen hingegen die kaufmännischen und sozialen Aspekte des Marktes eine herausragende Rolle: Produkte präsentieren, mögliche Produktqualitäten darstellen und ihre (z.B. preislichen) Konsequenzen erläutern, Bedürfnisse von Verbrauchern erkunden können sind dazu einige Beispiele. Kaufmännische Kenntnisse und Fähigkeiten zur Betriebsführung und zur Organisation der Marktbeziehungen sollten daher die technische Ausbildung des Handwerksbereichs ergänzen. Zusammengefaßt: Die Schnittstelle zwischen formellem und informellem Sektor wird nach diesen Überlegungen prozessual durch Beobachtungs- und Kommunikationsleistungen verbunden und gestaltet. Das Referenzsystem stellt sich als eine integrativ gefaßte Einheit von vor allem kaufmännischen Kenntnissen und Fähigkeiten und technischen Fertigkeiten dar. 8.4.4.2
Arbeitsorientierte Kompetenzen zur Bewältigung von Anforderungen an der Schnittstelle zwischen formellem und informellem Sektor Die Arbeitsmärkte bzw. Erwerbsmöglichkeiten in Entwicklungsund Schwellenländern sind unüberschaubar, dynamisch und labil. Beobachtungssysteme, wie beispielsweise die Arbeitsmarkt- und Berufsforschungsinstitutionen der Industriestaaten, sind allenfalls in Ansätzen vorhanden. Veröffentlichte Ergebnisse haben praktisch aber weder einen analytischen noch einen prognostischen Wert. Sie dienen allenfalls einer summarischen Einschätzung von Tendenzen in Sektoren und sind damit keine Entscheidungshilfe für arbeitssuchende Menschen. Arbeitskräfte werden in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern informell und meist spontan in lokalen Einzugsbereichen rekrutiert. Ebenso werden Erwerbsmöglichkeiten und "Betriebsgründungen" lokal und auf der Basis informeller Informations- und Auswahlkriterien erschlossen.
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Berufsbildungsprojekte müssen diese Intransparenz und Dynamik der Arbeits- und Erwerbsmärkte aufnehmen und von einer Spezialisierung Abstand nehmen, die auf bestimmte Positionen oder Tätigkeiten gerichtet sind und die Einsatz- und Erwerbsmöglichkeiten der Absolventen angesichts der o.g. Bedingungen unzulässig einengen. Wir meinen daher, daß bei dem betroffenen Personenkreis ein Referenzsystem aufzubauen ist, das umfassender angelegt ist und Möglichkeiten eröffnet, Brücken zwischen formellem und informellem Sektor mit jeweils unterschiedlichen Beschäftigungsmöglichkeiten herzustellen. Als Konsequenz unserer Überlegungen schlagen wir vor, der Planung von Berufsbildungshilfe eine umfassenden Arbeitsbegriff zugrundezulegen, der auf technische, soziale, organisatorische und kaufmännische Anforderungsdimensionen abhebt. Anzustreben ist damit ein Qualifikationsprofil, welches den künftigen Absolventen von Ausbildungsprojekten ermöglicht, sich in einem weiten, undurchschaubaren und nicht exakt bestimmbaren Feld von Erwerbsmöglichkeiten zwischen formellem und informellem Sektor zu bewegen. Das Dilemma, durch curriculare Entscheidungen auch Vorentscheidungen für berufliche Werdegänge und Erwerbsfelder zu treffen, ist zwar grundsätzlich unvermeidbar. Es wird aber in seiner Problematik durch die von uns angestrebte umfassende Qualifizierung zumindest abgefedert. Die nach unserer Auffassung wichtigen Merkmaie einer angepaßten und nachfrageorientierten Berufsbildungshilfe fassen wir in Thesen zusammen: 1. Grundlage der bilateralen Berufsbildungshilfe ist weiterhin die technische Ausbildung. Teilnehmer von Ausbildungsprojekten müssen in die Lage versetzt werden, angepaßte und marktgerechte Produkte und Dienstleistungen zu produzieren und Geldeinkommen zu erwirtschaften. 2. Ansatzpunkte der Curriculumentwicklung sind nicht Berufsbilder oder abstrakte, auf technische Industriearbeit ausgerichtete Fertigkeitskombinationen, sondern in lokalen und regionalen Zusammenhängen als erforderlich begründete Arbeitstätigkeiten. Aus diesen Zusammenhängen sind die Qualifizierungsbereiche
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
und die Relationen zwischen informeller und formeller Tätigkeit in der Gestaltung der Ausbildungsprojekte zu bestimmen. Zielperspektiven bleiben der Entwicklungsstand und die Entwicklungspotentiale des modernen formalen Sektors, sei es im Handwerk (z.B. in ländlichen Regionen), sei es in der Industrie (z.B. in städtischen Bereichen, Industriezentren, Industrialisierungszonen). Die Ausgangsbedingungen und die Erwerbsmöglichkeiten der potentiellen Teilnehmergruppen sind konstitutiver Bestandteil der inhaltlichen und methodischen Ausbildungsorganisation (Erfahrungs- und Zukunftsbezug der Projekte). Die sowohl im informellen als auch im formellen Sektor erforderlichen Tätigkeiten des Planens, Durchfuhrens und Kontrollierens von Arbeitsvorgängen in Produktion und Dienstleistung sind als Einheit zu betrachten und die technische Ausbildung begleitend zu behandeln. Dies umfaßt auch die mit der Produkterstellung einhergehenden kaufmännischen, organisatorischen und sozialen Prozesse. Die inhaltlichen Dimensionen sind mit dem Zusammenhang und dem Niveau der erforderlichen Arbeitsvorgänge abzustimmen und möglichst zeitnah in den technischen Lernprozeß einzubinden. Die Diskrepanz zwischen Lernen in speziellen Ausbildungsinstitutionen und Lernen in Arbeitsprozessen ist durch lernorganisatorische Maßnahmen zu minimieren. Das bedeutet u.a. eine möglichst weitgehende Auflösung von Fächerstrukturen mit ihren zeitlichen und sachlichen Abgrenzungen zugunsten einer Förderung integrativer Lernangebote wie Fallstudien, Projekte, aufgabenbezogene Lernarrangements. Allgemeinbildende Fachgebiete wie Schreiben, Lesen, Rechnen sind tätigkeitsfeldbezogen aufzunehmen und zu vertiefen.
8.4.5
Schlußbemerkung
Angesichts der gegebenen Bevölkerungsdimensionen und absehbarer Entwicklungen wird Berufsbildungshilfe - in welcher Form auch immer - nie eine unmittelbar nachvollziehbare Breitenwirkung entfalten können. "Projekterfolge" wie beispielsweise die Übernahmequote von Absolventen in geplante Berufspositionen in formellen Betrieben sind als kurzfristige "Erfolgsrechnungen" zu relativieren.
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Letztlich sagen sie wenig aus über die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Berufsbildungskonzepten. Langfristig angelegte Beurteilungen beruhen dagegen auf Annahmen über die Plausibilität von Annahmen, d.h. sie sagen nur etwas über den int er subjektiven Konsens der an der Berufsbildungshilfe Beteiligten in der Planungs- und in der Bewertungsphase aus. Der Industrialisierungsansatz beruht auf der Prämisse, daß über die Förderung eines spezifischen Sektors eine Sogwirkung auf andere Sektoren entsteht, die langfristig zu einer Industrienationen vergleichbaren Stabilisierung und Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems führt. Dahinter steht die weiterfuhrende Prämisse, daß Wirtschaftssysteme dominierende Systeme sind, d.h. auch andere gesellschaftliche Teilsysteme prägen. Der Systementwicklungs- und Beratungsansatz beruht dagegen auf der Prämisse, daß eine Gesellschaft durch verschiedene, aber gleichwertige Teilsysteme und durch deren geordneten Zusammenhang gekennzeichnet sei. Gegenstand des Entwicklungs- und Beratungsansatzes ist hier der Aufbau der intra- und intersystemischen Ordnungsstrukturen und -mittel. Auch hier stehen überwiegend Modelle aus Industriestaaten Pate. Beiden Ansätzen gemein ist die Vermutung oder Hoffnung und vielleicht auch das Risiko, daß ein "gedachtes Modell" Realität wird und die geplanten Entwicklungs- und Ordnungsmechanismen ihre Funktionsfähigkeit entfalten. Der von uns skizzierte Ansatz setzt hingegen auf evolutionäre Prozesse. Wir gehen von der Prämisse aus, daß die systemische Entwicklung und Differenzierung nicht von außen steuerbar, aber gleichwohl äußeren Einflüssen unterliegt. Sie erwächst aber aus bestehenden Gesellschaften mit spezifischen Traditionen, Verhaltensweisen und Bedarfslagen. Subjekte oder präziser psychische Systeme wirken in diesem Prozeß in mehr oder weniger qualifizierter Weise. Ein arbeitsorientiertes Konzept setzt hier an und zielt auf qualitative und quantative Erweiterung der Handlungsinstrumente (und weniger der Handlungsinhalte) des Einzelnen. Damit verbunden ist
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Arbeitsorientierte Bildung im Ausland
die Hoffnung, daß vorhandene Systeme sich bedarfsgerecht und angepaßt entwickeln und stabilisieren. Auch dieses Konzept beinhaltet Risiken, die gegenüber den anderen Konzepten abwägend zu diskutieren sind.
Zitierte Literatur ARNOLD, Rolf (1991): Interkulturelle Berufspädagogik. Oldenburg. DRÖGE, Raimund/NEUMANN, Gerd (1994): Die Integration kaufmännischer Inhalte in technisch gewerbliche Ausbildungsprojekte der internationalen Berufsbildungskooperation. In: KIPP, M./NEUMANN, G./SPRETH, G. (Hrsg.): Kasseler berufspädagogische Impulse. Festschrift für Helmut Nölker. Frankfurt/M., S. 295-314. GREINERT, Wolf-Dietrich/WIEMANN, Günter (Hrsg.): (1992): Produktionsschulprinzip und Berufsbildungshilfe. Baden-Baden. LOHMAR-KUHNLE, Cornelia (1991): Konzepte zur beschäftigungsorientierten Aus- und Fortbildung von Zielgruppen aus dem informellen Sektor. Köln. LUHMANN, Niklas (1987): Soziale Systeme. Frankfurt/M. STOCKMANN, Reinhard (1992): Die Nachhaltigkeit von Entwicklungsprojekten. Opladen 1992.
Weiterführende Literatur GREINERT, Wolf-Dietrich/BEERMANN, Horst/JANISCH, Rainer (1994): Systementwicklung in der Berufsbildung. Wiesbaden.
(Hrsg.)
Dritter Teil Hochschulausbildung
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Arbeitsorientierte Studiengänge
9.1
Lehrerausbildung für das Lernfeld Sachunterricht Astrid Kaiser
9.1.1
Geschichte des Faches Sachunterricht
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9.1.2
Erste Ansätze zur Etablierung einer formellen Ausbildung für das Fach Sachunterricht
776
9.1.3
Gegenwärtige Problembereiche
778
9.1.4
Gegenwärtige Lösungsversuche in den verschiedenen Bundesländern
782
9.1.5
Kriterien für ein zukunftsorientiertes Sachunterrichtsstudium.. 787
Zitierte Literatur
790
Weiterführende Literatur
791
9.1.1
Geschichte des Faches Sachunterricht
Die Lehrerausbildung für das Lernfeld Sachunterricht setzt voraus, daß dieses Fach sich überhaupt als Schulfach herausgebildet hat. Dies ist unter diesem Begriff "Sachunterricht" erst Anfang der 70er Jahre dieses Jahrhunderts nach einer fast dreihundertjährigen Geschichte erfolgt (vgl. Kaiser 1995). Die ersten Vorläufer des Sachunterrichts reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück, als Comenius das erste umfassende Sachbuch, Orbis pictus sensualium, veröffentlichte. Derartige frühe Ansätze waren noch singulär. Erst im 18. Jahrhundert errang die Auseinandersetzung um die Realien, d.h. vor allem Geschichte, Geographie und Naturlehre als Fächer der Schule, öffentliche Bedeutung. Im Zuge dieser Auseinandersetzung der Sachfächer gegen die tradierte Latein- und Grammatikschule sind stärker sachunterrichtlich orientierte Schulformen, das Realgymnasium und die Realschule, entstanden. Durch diese Abspaltung blieb aber der Anspruch der Realien als Allgemeinbildung für alle weiterhin fragwürdig. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde vor allem für die Volksschulunterstufe der Anspruch auf einen eigenständigen Anschauungsunterricht in den ersten beiden Schuljahren und als Heimatkunde im dritten und
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Arbeitsorientierte Studiengänge
vierten Schuljahr in die pädagogische Diskussion eingebracht (-> 4.1.2). Dieser Anschauungsunterricht setzte sich inhaltlich von der weit verbreiteten biblischen Geschichte ab. Der zumeist durch visualisierte Anschauung praktizierte Unterricht hatte den Anspruch, die Dinge der Umwelt durchschaubar zu machen. Nach der allmählichen Ausbreitung wurde dem Anschauungsunterricht in Preußen durch die Stiehl'schen Regulative von 1852 ein deutliches Ende zugunsten wieder von mehr Religion gesetzt. Erst mit der Weimarer Grundschulreform hat der Vorläufer des Sachunterrichts, die Heimatkunde, endgültig offizielle Anerkennung als Schulfach gefunden. Dieses Fach war aber auch damals kein wissenschaftsorientiertes, sondern ein vor allem ideologisch geprägtes Fach, in dem Liebe zur Heimat als herrschende Orientierung galt und das weg von der Industrialisierung hin zur ländlichen Idylle und Bodenverbundenheit ausgerichtet war. Jahrzehntelang blieb die Heimatkunde weitgehend unberührt von Diskussionen über ihr Konzept und Ziel. Auch nach 1945 wurde sie in den Lehrplänen der Bundesländer - unhinterfragt auf ideologische Implikationen - wieder aufgenommen. Erst zu Beginn der 60er Jahre, vor allem durch Ilse LichtensteinRother vorangetrieben, entwickelte sich in der Bundesrepublik allmählich eine Diskussion um Sinn und Aufgaben des Heimatkundeunterrichts. Ilse Lichtenstein-Rother brachte schon sehr früh den Begriff Sach- und Weltorientierung als Zieldimension von Heimatkunde in die Diskussion (vgl. Lichtenstein-Rother 1968). Neben Ilse Lichtenstein-Rother war es vor allem Walter Jeziorsky, der durch seinen Begriff des allgemeinbildenden Unterrichts, mit dem er Heimatkunde faßte, eine Neuorientierung der Heimatkunde im Sinne von gegenwartsorientierter Weltorientierung oder Umweltorientierung in die Wege leitete (vgl. Jeziorsky 1968). Beginnend vor allem durch die Anfang der 60er Jahre herausgegebenen Richtlinien für die niedersächsischen Volksschulen, an denen Ilse Lichtenstein-Rother maßgeblich mitgewirkt hat, wurde der Begriff Sachunterricht allmählich in die Diskussion eingebracht. Ilse Lichtenstein-Rother ging dabei vor allem von der Perspektive aus, den Kindern einen ihnen gemäßen Aufklärungsprozeß ihrer Umwelt, ihrer Lebenswelt, zu ermöglichen. Ein weiterer Impuls zur Entstehung des Sachunterrichts war die Diskussion gegen Ende der 60er Jahre vor allem über den affirmativen Wert der Heimatkunde (vgl. Müller 1970), in der auch auf die historisch überholten Inhalte und die systemstabilisierenden Dimensionen der ländlichen Orientierung der
Lehrerausbildung für das Lernfeld Sachunterricht
775
Heimatkunde verwiesen wurde. In dieser Diskussion spielten insbesondere die Empfehlungen des Bildungsrates, der ebenfalls die Etablierung eines wissenschaftsorientierten Faches Sachunterricht empfahl, eine entscheidende Rolle. Daraufhin wurde das Fach Sachunterricht in den meisten Länderrichtlinien etabliert. Die damals gleichzeitig vorherrschende Entwicklung zum wissenschaftsorientierten Sachunterricht wurde jedoch häufig falsch verstanden im Sinne eines fach- und fachwissenschaftsorientierten Sachunterrichts, so daß in den Schulrichtlinien die Begriffe einen zentralen Strukturierungsstellenwert bekamen. Sachunterricht war nach seiner Etablierung aber immer noch ein Fach, das ohne jegliche dazugehörige Ausbildung von Lehrkräften existierte. Während für die 'alte' Heimatkunde weitgehend noch eine ideologische Orientierung in der seminaristischen Ausbildung vorherrschte, gab es für das wissenschaftsorientiert verstandene Fach Sachunterricht in den ersten Jahren überhaupt kein Pendant in der Lehrerausbildung. Lehrkräfte wurden in den traditionellen Fächern - Geschichte, Geographie, Hauswirtschaft, Physik, Chemie, Biologie - ausgebildet. Gleichwohl mußten sie auch in der Schulpraxis der damaligen Grundschule oder Volksschulunterstufe Sachunterricht erteilen. Den Entwicklungsaspekt des Faches dokumentiert auch, daß heute immer noch verschiedene Fachbezeichnungen in den Bundesländern existieren. So heißt das Fach in Baden-Württemberg Heimat- und Sachunterricht Bayern Heimat- und Sachkunde Berlin Sachkunde Brandenburg Sachunterricht Bremen Sachunterricht Hamburg Sachunterricht Hessen Sachunterricht Mecklenburg-Vorpommern Heimat- und Sachkundeunterricht Niedersachsen Sachunterricht Nordrhein-Westfalen Sachunterricht Rheinland-Pfalz Sachunterricht Saarland Sachunterricht Sachsen Heimatkunde/Sachunterricht Sachsen-Anhalt Heimatkunde Schleswig-Holstein Heimat- und Sachunterricht Thüringen Schulgarten/Werken bzw. Heimat- und Sachunterricht
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Arbeitsorientierte Studiengänge
Diese vielfältigen Fachbezeichnungen dokumentieren, daß der Diskussionsprozeß um Inhalte und Ziele von Sachunterricht keinesfalls schon abgeschlossen ist. Diskutiert werden auch neuere Fachbezeichnungen wie der niederländische Begriff "Soziale Weltorientierung" (Annink u.a. 1984) oder "Sach- und Sozialunterricht" (Klafki 1992). Sie kommen dem sich seit Beginn der 90er Jahre abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Sachunterrichtsdidaktik näher, der sich von monofachlichen Orientierungen der geographisch orientierten Heimatkunde und der Sachkunde der 60er/70er Jahre über fachübergreifende Ansätze der 80er Jahre hin zu mehrdimensionalen Konzepten, die über ästhetische, psychologische und philosophische Dimensionen den klassischen Gegenstandsrahmen der hergebrachten Sachunterrichtsdidaktik transzendieren, vollzieht.
9.1.2
Erste Ansätze zur Etablierung einer Ausbildung für das Fach Sachunterricht
formellen
Das Fach Sachunterricht hat sich also quasi von unten herauf aus der Schulpraxis über die Studienseminare, die sich im Laufe der 70er Jahre herausgebildet hatten, hin zur hochschuluniversitären Ausbildung fortentwickelt. Die ersten Ansätze formeller Sachunterrichtsausbildung sind in den Studienseminaren entstanden. Hier wurde zuallererst versucht, für dieses Schulfach entsprechende Seminare und Ausbildungsinhalte zu entwickeln. Angesichts der Disparität dieser Studienseminare, die nicht in einer überregionalen Kommunikation standen, waren entsprechend die Ausbildungsmodelle und -konzepte weitgehend inkompatibel und jeweils davon abhängig, von welchen Personen vor Ort sie getragen wurden. Es wurden in den 70er Jahren an einigen wenigen Orten und Hochschulstandorten auch Lehrstühle für Sachunterrichtsdidaktik eingerichtet, z.B. in Hannover und Kassel. Je nach der jeweiligen Ausbildungsstruktur wurden diese nach sozialwissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Schwerpunkten spezifiziert. Selten wurde eine allgemeine Sachunterrichtsdidaktik eingerichtet. Größtenteils mußte sich die Ausbildung des Sachunterrichts aus der Grundschulpädagogik oder der Schulpädagogik heraus etablieren. So wurde in Frankfurt die Sachunterrichtsdidaktik im Kontext der Grundschulpädagogik gelehrt. Somit blieb die universitäre Ausbildung deutlich abhängig von dem persönlichen Engagement und der inhaltlichen Motivation der Lehrenden für Sachunterricht. Einen
Lehrerausbildung für das Lernfeld Sachunterricht
III
Rechtsanspruch auf eine spezifische Sachunterrichtsausbildung gab es für die Studierenden meist nicht. Seit Beginn der 80er Jahre wurde der Sachunterricht in verschiedenen Bundesländern zu einem offiziell anerkannten universitären Prüfungsfach. So wurde in Niedersachsen im Jahre 1980 mit der Neuordnung der staatlichen Prüfungen für die Lehrämter das Fach Sachunterricht etabliert. In mehreren Bundesländern dagegen gibt es bis heute keinen speziellen Lehramtsstudienschwerpunkt Sachunterricht. Im Saarland ist zudem als einzigem Bundesland nicht einmal ein Lehramtsstudiengang für das Lehramt der Primarstufe eingerichtet. Die damals in vielen Bundesländern abgeschlossene Integration Pädagogischer Hochschulen in Universitäten hatte zur Folge, daß universitäre Fachbereiche zwar die Aufgabe hatten, für die Ausbildung zukünftiger Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrer Lehrdeputate bereitzustellen, daß dies aber weitgehend in Form geöffneter Lehrveranstaltungen, die allgemein für Lehrämter oder Diplomstudiengänge ausgelegt waren, erfolgte. Der Prozeß der Etablierung universitärer Sachunterrichtsdidaktik ist heute immer noch nicht abgeschlossen. Wir können feststellen, daß es keine flächendeckende Versorgung mit expliziter Sachunterrichtsausbildung an allen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten in Deutschland gibt. Oft ist es auch innerhalb der Bundesländer jeweils von den Initiativen vor Ort abhängig, ob Sachunterricht gelehrt wird oder ob die Studierenden sich die Ausbildung für den Sachunterricht informell aus verschiedenen Fachveranstaltungen selbst kombinieren müssen. Hingegen sind in den neuen Bundesländern, in denen in der Vergangenheit Sachunterricht einen deutlichen Stellenwert in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer spielte, auch entsprechend Lehrstühle in dem Schwerpunkt Sachunterricht eingerichtet worden. Obgleich gegenwärtig die Probleme der Etablierung von Sachunterrichtsdidaktik in der Ausbildung noch nicht abgeschlossen sind, hat sich im schulischen Bereich das Fach Sachunterricht immer deutlicher differenziert und profiliert und wegentwickelt von einem einzelfachdidaktisch abbildhaften Unterrichtsfach hin zu einem integrativen und vor allem handlungsorientierten und kindorientierten Unterrichtsfach. Die relativ späte und keineswegs bundeseinheitliche Einrichtung formeller Studiengänge hatte zur Folge, daß
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Arbeitsorientierte Studiengänge
mit der gleichzeitig einsetzenden restriktiven Einstellungspolitik an den Schulen nur wenige im Fach Sachunterricht ausgebildete Lehrkräfte auch tatsächlich unterrichteten. So verfugten von 1500 befragten Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrern nach einer Erhebung von Schaub in Niedersachsen nur 3,6% über eine Abschlußprüfung in Sachunterricht, 46,4% waren gar nicht vorbereitet, 32,8% gaben an, nur unzureichend vorbereitet zu sein (vgl. Schaub 1991, S. 35). Für ein innovatives Fach, das sein eigenes pädagogisches und didaktisches Profil erst herauszuarbeiten beginnt, kann die subjektive Unsicherheit der Lehrenden außerordentlich hemmend für die weitere Entwicklung wirken.
9.1.3
Gegenwärtige Problembereiche
Lehrerausbildung kann nicht aus einem Guß sein, weil sie immer ein Kompromiß aus verschiedenen Ausbildungsanforderungen ist. Schulpraktische Studien, Fachstudien und Fachdidaktik, Erziehungswissenschaft, Gesellschaftswissenschaft und Psychologie sind die zentralen Ausbildungsbestandteile, die in ihrer Aufeinanderfolge, in ihren Anteilen und in ihren Bezügen zueinander wiederum differenziert sein können. Als weitere Differenzierung kommt hinzu, ob das Fachstudium in einem Fachgebiet oder in mehreren, in gleichwertigen oder als Haupt- und Nebenfach definierten Fachgebieten stattfindet. Für den Sachunterricht kompliziert sich diese Heterogenität der Ausbildung noch dadurch, daß für den Sachunterricht an der Schule kein einheitliches universitäres Bezugsfach existiert. Hier ist es entscheidend, welcher Stellenwert der "Sache", d.h. konkret den Bezugsfächern im Sachunterrichtsstudium, beigemessen wird. Sachunterricht kann ohne konkrete Sache, ohne Inhalte natürlich nicht stattfinden. Dieses scheint aktuell noch ein besonderes Problem zu sein. So weist Schreier darauf hin, daß mittlerweile eine neue Studierendengeneration ohne Sachenthusiasmus heranwachse, die nur eine didaktische Dimension, nämlich den Anspruch des Kindes vertrete, aber von sich aus keine Motivation einbringe, auch einen Anspruch an der Sache zu vertreten (vgl. Schreier 1992, S. 60). Nach seiner Einschätzung ist das Verhältnis von Sachinhalten und allgemeiner pädagogischer Orientierung bereits umgedreht. Es gibt also kein Spannungsverhältnis mehr, sondern in den subjektiven didaktischen Konzeptionen der Auszubildenden herrscht eine allgemeine pädagogische Orientierung vor, und
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die Sachorientierung wird subjektiv gar nicht getragen. Auch wenn dieser Standpunkt etwas überspitzt sein mag, trifft er dennoch ein wichtiges Problem, nämlich das der Motivierung von Studierenden für eine Sache. Hier müssen neue Wege im Verhältnis der Vermittlung der Sachinhalte zur allgemeinen pädagogischen Orientierung gefunden werden. Nach dem traditionellen Weg, der sich vor allem durch die Hochschulstrukturen und die fachlichen Domänen an den Hochschulen etabliert hat, ist die Sachmotivation über das Studium von sogenannten Bezugsfächern einzubringen. Dabei gibt es verschiedene Modelle: Das eine Modell ist das in Nordrhein-Westfalen existierende Multibezugsfachmodell, wonach ausschließlich in den Lernbereichen Naturwissenschaft oder Gesellschaftswissenschaft studiert wird und in diesen Bereichen dann mehrere Bezugsfächer jeweils als verbindlich deklariert werden. Für den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich sind das Geographie, Geschichte, Ökonomie und Soziologie. Das andere Modell ist das Monobezugsfachmodell, wie es etwa in Niedersachsen praktiziert wird. Hier wählen die Studierenden unter acht verschiedenen Bezugsfächern jeweils ein Fach als Schwerpunktfach aus. Da diese Fächer wiederum selbst nicht primarstufenspezifisch ausgelegt sind, insbesondere im naturwissenschaftlichen Bereich, fuhrt dieses zu einer wenig sachmotivierten, sondern zu einer studienstrategisch orientierten Auswahl von Bezugsfächern, indem diejenigen Bezugsfächer gewählt werden, in denen das Lehrangebot am ehesten primarstufenspezifisch ausgelegt ist. Dies ist in der Tat kein Weg, um inhaltlich engagierte Fachmotivation zu fordern. Wenn wir bedenken, daß auch die Studienkonzeptionen mit nur einem Bezugsfach in der Realität bei einem breit gestreuten Lehramtsstudium, in dem viele Anteile studiert werden müssen, für das gesamte Studium nur acht bis neun Semesterwochenstunden umfassen, wird deutlich, daß das Einbringen der Inhalte in die Ausbildung für den Sachunterricht über ein Bezugsfachstudium außerordentlich problematisch ist. Integrative Sachvermittlungsansätze wiederum sind kaum vorhanden, weil die universitären Ausbildungsstrukturen wenig auf Integration, sondern mehr auf Fachspezialisierung angelegt sind. Von daher steht die Ausbildung für den Sachunterricht in dem Dilemma, einerseits Inhalte bereitstellen zu müssen und andererseits diese Inhalte oft nur in Formen anbieten zu können, die nicht auf die Komplexität des Sachun-
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terrichts ausgerichtet sind. Gegenwärtig gibt es mehrere Lösungsvarianten, um aus diesem Dilemma herauszukommen: * Das Bezugsfachstudium wird ausgeklammert, Sachunterricht wird als ein ausschließlich pädagogisches Problemfeld definiert. Dementsprechend werden nur allgemeine sachunterrichtsdidaktische Lehrveranstaltungen in den Studienordnungen verlangt. * Das Bezugsfachstudium erfolgt separat von der grundschulpädagogischen Ausbildung. Je nach Wahl wird eines der klassischen Sekundär schulfächer ohne lernbereichsbezogene Gliederung gewählt, das dann isoliert je nach dem erforderlichen Stundenumfang studiert wird. * Das Bezugsfachstudium erfolgt innerhalb des Studienganges Sachunterricht. Es kann eines von mehreren natur- und sozialwissenschaftlichen Bezugsfächern gewählt werden. * Das Bezugsfachstudium erfolgt in mehreren zur Wahl gestellten Bezugsfächern mit entsprechend geringerem Stundenumfang. * Das Bezugsfachstudium erfolgt nach Lernbereichen getrennt. In den jeweiligen - zumeist zwei oder manchmal drei Lernbereichen (Sachunterricht-Natur, Sachunterricht-Gesellschaft, Sachunterricht-Technik) - werden feste Fachanteile der dem Lernbereich zugeordneten Fächer vorgeschrieben. * Das Bezugsfachstudium erfolgt weitgehend fachübergreifend. Sachinhalte werden in fachübergreifenden Veranstaltungen oder Projekten eingebracht. Es bleibt das Dilemma, daß einerseits projektorientierte Studienstrukturen am ehesten den Ausbildungsnotwendigkeiten in dem Integrationsfach Sachunterricht entsprechen können, daß andererseits aber vor allem die personellen Voraussetzungen dafür an den einzelfachlich ausgerichteten Hochschulen fehlen. Eine weitere Problemdimension in der Ausbildung für das Lernfeld Sachunterricht liegt im Stellenwert der Dimension "Kind". Damit ist die Vermittlung allgemeindidaktischer Orientierungen für den Sachunterricht gemeint. Je nach dem, wie weit die Dimension Kind ernstgenommen wird, wird die Ausbildung für den Sachunterricht mit allgemeindidaktischen Fragestellungen verbunden. Es ist unzweifelhaft, daß für die Lehrerausbildung in Gegenwart und Zukunft sozialwissenschaftliche Fähigkeiten zur Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf die beson-
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dere Lage von Kindern von großer Bedeutung sind. Ebenfalls ist es unstrittig, daß zur Analyse der Lebenswelt und Wirklichkeit von Kindern pädagogisch-psychologische Grundlagenkenntnisse vermittelt werden müssen. Diese Dimensionen werden weitgehend im Zusammenhang mit den erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Studien im Rahmen der Lehrerausbildung vermittelt. Hierbei eröffnen sich wiederum zwei Problemaspekte: 1. Häufig werden fachwissenschaftliche Studieninhalte vermittelt, die aber keinen Bezug zur Lebenswelt von Kindern haben. Eine didaktische Orientierung universitärer Ausbildungsinhalte am Bildungsanspruch von Sachunterricht ist bislang nur selten zu erkennen. 2. Aber auch innerhalb des Studienganges Sachunterricht ist es schwierig, allgemeindidaktische Erkenntnisse auf die vermittelten Fachinhalte zu beziehen. Zwar sind fast bundeseinheitlich Veranstaltungen mit dem Titel "Konzeptionen des Sachunterrichts" oder "Aufgaben und Inhalte des Sachunterrichts" vorgeschrieben, aber die Verbindungen dieser Lehrveranstaltungen mit der übrigen Ausbildung sind bislang noch äußerst dürftig gestaltet. Studienorganisatorisch stellt sich die Grundfrage, inwieweit Fachanteile gegenüber erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen Anteilen gewichtet werden. Dabei gibt es zwei grundlegende Modelle für die Ausbildung zur Sachunterrichtslehrerin bzw. zum Sachunterrichtslehrer. Die eine Variante ist, im Rahmen einer generellen Grundschulpädagogik den Sachunterricht als fachlichen Unteraspekt zu etablieren und aus den Analysen von Kindheit, von psychologischen Problemen der Kinder, von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und von allgemeinen grundschulpädagogischen Konsequenzen Sachunterricht als Fach sekundär oder als Teilmenge zu definieren. Das zweite Modell sieht ein separates erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Studium mit geringerer Semesterwochenstundenzahl vor. Stattdessen wird Sachunterricht als stundenmäßig wichtiger gewertetes Fach oder Fachgebiet studienmäßig verankert. Das hier angedeutete prinzipielle Spannungsverhältnis findet sich auch heute in den neueren Studienordnungen für Grundschulpädagogik bzw. Sachunterricht. So steht in Bayern, im Saarland und in Rheinland-Pfalz das allgemeine Fach Grundschulpädagogik im Zentrum der Ausbildung. Dabei ist z.B. in Bayern Sachunterricht mit zwei Semesterwochenstunden für alle Lehramtsstudierenden ver-
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pflichtend. Demgegenüber macht in anderen Bundesländern, z.B. in Bremen oder Nordrhein-Westfalen, das erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliche Studium nur einen geringen Stundenumfang aus. Stattdessen wird ein hoher Stundenanteil für das explizite Studium der Lernbereiche des Sachunterrichts zur Verfügung gestellt.
9.1.4
Gegenwärtige Lösungsversuche in den verschiedenen Bundesländern
Die Heterogenität in der Bezeichnung des Schulfaches Sachunterricht wird von der Heterogenität der Lösungsversuche zur Vorbereitung angehender Lehrerinnen und Lehrer in der ersten Phase der Ausbildung noch bei weitem übertroffen. Zunächst einmal gibt es nicht einmal einen Konsens beim Zuschnitt der Lehrämter. Einige Länder bilden Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrer im Rahmen eines Stufenlehramtes für die Primarstufe aus (Nordrhein-Westfalen, Bremen), andere Länder bilden für die Grundschule als Schulform aus (Bayern), wiederum andere für zwei Stufen, nämlich hier das Lehramt an der Grund- und Mittelstufe (Hamburg). In vielen Ländern können Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrer nur für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen ausgebildet werden (z.B. Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz). In Berlin gibt es neben dem Lehrer an Sonderschulen nur die Ausbildung zum "Lehrer". Daneben werden Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrer auch in den ebenfalls sehr heterogenen sonderpädagogischen Studiengängen ausgebildet. Meist unterscheidet sich das grundständige Sonderpädagogikstudium mit dem Fachschwerpunkt Sachunterricht nur durch ein um zwei Semester verlängertes Studium und durch Ersatz des zweiten Unterrichtsfaches durch eine am jeweiligen Hochschulort studierbare sonderpädagogische Fachrichtung (wie Geistigbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik, Lernbehindertenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Verhaltensgestörtenpädagogik, Gehörlosenpädagogik, Sehgeschädigtenpädagogik, Schwerhörigenpädagogik, Blindenpädagogik). Aber auch innerhalb eines Lehramtes an einem Ort gibt es häufig noch zahllose Differenzierungen. So sind Lehrerprüfungsordnungen
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novelliert worden, und die Studierenden studieren nebeneinander nach der alten oder nach der neuen Prüfungsordnung. Hinzu kommt die in den Lehramtsstudiengängen mehr oder weniger stark ausgeprägte Struktur wahlfreier Unterrichtsfächer. Diese Wahlfreiheit wird in einigen Bundesländern - neben den weiterhin auch bestehenden Fachwahlmöglichkeiten - partiell durchbrochen durch Verordnung von Pflichtanteilen, besonders der Fächer Deutsch und/oder Mathematik für das Lehramt an Grundschulen. Die Heterogenität nimmt noch dadurch zu, daß auch innerhalb der Lehrämter auf Sachunterricht unterschiedlich vorbereitet wird. Im folgenden soll ein Vergleich zwischen verschiedenen Lösungsmodellen der Bundesländer anhand bestimmter Kriterien gezogen werden. 1) Ausbildungsort für die 1. Phase In den Bundesländern Thüringen und Baden-Württemberg erfolgt die Ausbildung zukünftiger Grund- und Hauptschullehrkräfte in der 1. Phase an Pädagogischen Hochschulen, in den anderen Bundesländern an Universitäten. 2) -
Art des Lehramtes Keine Ausbildung für ein entsprechendes Lehramt im Saarland Grund- und Mittelstufe in Baden-Württemberg und Hamburg Grundschule in Bayern, Thüringen und Hessen Lehrer (keine Stufenbegrenzung) in Berlin Grund- und Hauptschule in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz - Primarstufe in Nordrhein-Westfalen und Bremen
3) Studiendauer In der Regel wird ein sechssemestriges Studium mit 7. Prüfungssemester für das Lehramt an Grundschulen veranschlagt. Lediglich in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern ist ein achtsemestriges Studium vorgesehen; in Kassel beträgt die Regelstudienzeit 7 Semester. 4) Fachbezeichnung Die Fachbezeichnungen an den Hochschulen variieren noch deutlicher als bei der schulischen Fachbezeichnung: - 'Sachunterricht' in Niedersachsen, Hamburg, Berlin, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hessen
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-
'Natur und Gesellschaft' in Mecklenburg-Vorpommern 'Sach- und Heimatunterricht' in Weingarten/Baden-Württemberg 'Heimat- und Sachkunde' bzw. 'Schulgarten/Umwelterziehung' in Thüringen - Gegenstandsbereich 'Sachunterricht' in Ludwigsburg/BadenWürttemberg 5) Eigenständiges Fach Sachunterricht oder Teil der Grundschulpädagogik - Nicht explizit in der Lehramtsprüfungsordnung (von 1969) als Bestandteil von Grundschulpädagogik erwähnt in Hessen - Teil von Grundschulpädagogik: In Bayern, Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Rheinland-Pfalz, Sachsen (unterschiedlicher Stundenumfang wiederum von Grundschulpädagogik insgesamt, z.B. 36 SWS in Berlin und Hamburg, 56 SWS Rheinland-Pfalz, 60 SWS Mecklenburg-Vorpommern) - eigenständiges Fach: u.a. in Baden-Württemberg (einzelne Orte) und Niedersachsen 6) Integriertes Fach Sachunterricht oder Lernbereiche - Integriert: Niedersachsen, Bremen (jeweils mit zusätzlichem Bezugs- bzw. Vertiefungsfach), Bayern, Rheinland-Pfalz - zum Teil im Pflichtbereich integriert: Thüringen - aufgeteilt in Lernbereiche, und zwar: - Sachunterricht selbst in zwei Lernbereiche (Natur und Gesellschaft, naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Bereich, Heimat- und Sachkunde bzw. Schulgarten/Umwelterziehung) unterscheiden: Berlin, Weingarten/BadenWürttemberg, Ludwigsburg/Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Thüringen - Weiter differenziert nach den übrigen, in Grundschulpädagogik hinzu kombinierten Fächern Deutsch oder Mathematik; nach 4 von 7 wählbaren Lernbereichen in Bayern (2 dieser 7 Lernbereiche sind wählbar): a) Deutsch und Sachunterricht (technisch-naturwissenschaftlich) b) Deutsch und Sachunterricht (sozialwissenschaftlich) c) Mathematik und Sachunterricht (technisch-naturwissenschaftlich) d) Mathematik und Sachunterricht (sozialwissenschaftlich), Berlin;
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nach zwei Lernbereichen (Naturwissenschaft und Gesellschaftslehre) unterschieden, es müssen aber auch zwei Drittel der Stunden aus dem anderen Lernbereich gewählt werden (Weingarten/Baden-Württemberg); nach drei wählbaren Lernbereichen Sachunterricht 'Natur' oder 'Gesellschaft' oder 'Technik' aufgegliedert in Hamburg, Kassel/Hessen (in Kassel gibt es außerdem einen Integrationsbereich), Einzelfächer und allgemeine Sachunterrichtsdidaktik in Bayern, Gießen/Hessen, Frankfurt/Hessen. 7) Wahlfach oder Pflichtfach - Wahlfach: Weingarten/Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin, Kassel/Hessen, Bremen - Pflichtfach: in allen Ländern, in denen Sachunterricht als Teil der Grundschulpädagogik nachgewiesen werden muß (Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen); - die Stundenzahl schwankt dabei von keinen Festlegungen in Hessen - mit Ausnahme von Kassel - über 2 SWS Sachunterricht obligatorisch für alle in Bayern, was z.T. in Studienordnungen (z.B. Universität München, Universität Eichstätt) auf 6 SWS ausgedehnt wird, 8 SWS in Baden-Württemberg, 10 SWS in Rheinland-Pfalz, 14 SWS Thüringen, 15 SWS in Mecklenburg-Vorpommern - Sachunterricht immer als Pflichtfach, aber als Schwerpunkt erweiterbar (Thüringen), Wahlpflichtfach im Rahmen der Grundschulpädagogik zwischen Heimat- und Sachkunde und Schulgarten/Umwelterziehung (Thüringen) 8) Stundenanteil im Studium 48 SWS oder 34 SWS (Weingarten/Baden-Württemberg), 50 SWS oder 34 SWS (Ludwigsburg/Baden-Württemberg), 45 SWS Lernbereich Nordrhein-Westfalen, 40 SWS Kassel/Hessen (hier incl. 4 SWS Schulpraktische Studien), 8 SWS Hamburg, 2-8 SWS Bayern (in Würzburg nur die nach Landesprüfungsordnung vorgesehenen 2 SWS, in Bamberg oder an der Uni München 6 SWS, 8 SWS Erlangen/Bayern), 10 SWS Rheinland-Pfalz, 30 SWS Sachunterricht Niedersachsen, 14 bzw. 24 SWS Thüringen, 15 SWS in MecklenburgVorpommern, mindestens 14 SWS Pflicht für alle und weitere Vertiefung um 24 SWS wählbar. In Bremen ist die Stundenzahl für den Lernbereich Sachunterricht nicht genau berechenbar, aber mehr als 46, mindestens sind 24 SWS
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allein für ein Bezugsfach (auch Biblische Geschichte neben Biologie, Physik, Geschichte, Erdkunde, Gemeinschaftskunde) vorgesehen, hinzu kommen sachunterrichtsdidaktische Anteile in der integrierten Eingangsphase (8 SWS), im obligatorischen Projekt, in der allgemeinen Didaktik des Anfangsunterrichts (20 SWS). 9) Bezugsfachstudium oder Fachstudium - Kein Bezugsfachstudium: Sachsen, Bayern, Rheinland-Pfalz - Fachstudium neben Grundschulpädagogik, 1 zus. Fach: Bayern, 2 zus. Fächer: Berlin, Niedersachsen, 1 zus. Fach: Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern - Fachstudium von Wahlfächern (u.a. auch Geschichte, Sozialkunde, Geographie, Physik, Chemie, Biologie) mit Nachweis des Studiums der "Didaktik der Grundstufeninhalte": Gießen, Frankfurt/Hessen - kein Wahlfachstudium, sondern nur innerhalb der Grundschulpädagogik Pflicht in Deutsch und Mathematik sowie zusätzliche Schwerpunktsetzungen darin möglich: Thüringen - Bezugsfächer in: Weingarten/Baden-Württemberg, Ludwigshafen/Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen (z.T. nur im Hauptstudium nach fachübergreifendem Grundstudium), Bremen - pro Lernbereich: 4 Bezugsfächer Weingarten/Baden-Württemberg bzw. mehrere Bezugsfächer integriert in der Studienordnung vorgeschrieben: Kassel/Hessen. 10) Obligatorische Bezugsfächer - Jeweils 4 Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik, Technik), 4 Fächer der Gesellschaftslehre (Gemeinschaftskunde/Politik, Geschichte, Geographie, Hauswirtschaft/Textil) Weingarten/ Baden-Württemberg oder 3 Fächer der Gesellschaftslehre Ludwigsburg/Baden-Württemberg, Kassel/Hessen - 4 für Sachunterricht/Gesellschaftslehre und 3 für Sachunterricht/ Naturwissenschaften (Biologie, Physik, Chemie) mit zusätzlich 2 Aspektfächern (Technik, Hauswirtschaft) in Nordrhein-Westfalen, 8 verschiedene Bezugsfächer: Sozialkunde, Biologie, Physik, Chemie, Geographie, Hauswirtschaft, Technik, Geschichte Niedersachsen - Bezugsfächer (Vertiefungsfach): 6 (Biblische Geschichte neben Biologie, Physik, Geschichte, Erdkunde, Gemeinschaftskunde),
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Bremen; ein Vertiefungsfach im Hinblick auf Sachunterricht im Rahmen des Anfangsunterrichts, Baden-Württemberg 11) Wahlfreie Bezugsfächer - ein Bezugsfach ist mit 6 SWS vertieft wählbar: Weingarten/Baden-Württemberg - eines von 8 ist mit 8 SWS vertieft wählbar: Niedersachsen - eines von 6 ist mit 24 SWS vertieft wählbar: Bremen - alle zum Lernbereich zugehörigen im Grundstudium Pflicht, im Hauptstudium ist ein Bezugsfach als Schwerpunkt zu wählen: NRW Welche sachunterrichtsnahen Fächer sind studierbar? Die Bezugsfächer in Weingarten/Baden-Württemberg, die klassischen Sekundarstufenfächer (Biologie, Chemie, Erdkunde, Geschichte, Physik, Sozialkunde) in Bayern, aber auch als Wahlpflichtfach etwa durch Religion (Eichstätt) abwählbar. 12) Sachunterricht als Hauptfach und/oder Nebenfach - Als Hauptfach oder als Nebenfach: Ludwigshafen, Weingarten/ Baden-Württemberg, Niedersachsen - in Studiengängen mit Sachunterricht als Bestandteil von Grundschulpädagogik entfällt die Schwerpunktbesetzung (Ausnahme: Thüringen) - Sachunterricht nur als Hauptfach möglich in Nordrhein-Westfalen, dann Mathematik und Deutsch Pflichtnebenfächer. Die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten bei der strukturellen Einlösung der Aufgabe, zukünftige Lehrerinnen und Lehrer für das Fach Sachunterricht auszubilden, zeigt bereits, daß es noch großer Verständigungsprozesse bedarf. Wichtig ist es zur Lösung der strukturellen Fragen, daß vorweg eine Verständigung über Sinn und Inhalt der Ausbildung für das Fach Sachunterricht erfolgt.
9.1.5
Kriterien für ein zukunftsorientiertes Sachunterrichtsstudium
Eine zukunftsorientierte Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den Sachunterricht muß zunächst die gegenwärtig problematischen Strukturprobleme der Ausbildung in der 1. Phase erkennen und überwinden. Dagmar Hänsel hebt besonders die folgenden Kri-
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tikpunkte an der gängigen Praxis hervor (vgl. Hänsel 1994, S. 46ff.): 1) Die Hochschule ist durch eine "Beliebigkeit des Curriculums" gekennzeichnet. Es gibt keine inhaltlichen Maßstäbe. Die qualitativen Lehrangebote sind abhängig von den Schwerpunkten der jeweilig Lehrenden. Hier kommt es auf einen Diskussionsprozeß an, die Inhalte der Lehre von den Entwicklungsmöglichkeiten von Schule und Sachunterricht her zu entfalten. 2) Die Lehrerausbildung erfolgt aufgesetzt und nicht aus den bisherigen Erfahrungen der Auszubildenden heraus. Deren eigene Kindheits- und Schulzeiterfahrungen werden abgespaltet. "Lehrerbildung geschieht aber nicht nur durch Lehre in formalisierten Bildungsprozessen an der Universität, im Studienseminar oder im Landesinstitut, sondern auch und wesentlich im Leben und in der Schule, und zwar sowohl in als auch vor der Lehrerberufstätigkeit" (Hänsel 1994, S. 48). Die Lebensferne bei der Bildung von Lehrerinnen und Lehrern aufzuheben heißt auch, in allen Phasen Raum für subjektive Zugangsweisen zu ermöglichen. Projektartige Studienanteile sind dafür besonders geeignet. 3) Die Bildungsphasen vom Studium in der Universität über das Referendariat in Schule und Studienseminar bis hin zur Fort- und Weiterbildung in Fortbildungsinstitutionen sind voneinander getrennt, obgleich eine "Vernetzung der Bildungsphasen, -institutionen und -aufgaben" (Hänsel 1994, S. 49) bei der gleichartigen Aufgabe dringend geboten ist. Anstelle dieser strukturellen Defizite fordert Hänsel eine regionale Kooperation und eine Orientierung an den Lernenden und nicht am Einzelfach. Dies ist gerade für den Sachunterricht von fundamentaler Bedeutung, weil er die Aufklärung von Lebenswelt und nicht die Vermittlung von Fachsystematiken zur Aufgabe hat. 4) Die Erfahrung der Studierenden muß "zum Ausgangspunkt und Integrationskern formalisierter Bildungsprozesse" werden. Dies bedeutet: "Die Schule, aber auch andere pädagogische Praxisfelder, werden ... zu Integrationskernen in der Lehrerbildung" (Hänsel 1994, S. 50). Erfahrungen allein sind aber noch nicht bildungswirksam, sondern erst das Gespräch darüber kann die bildenden Momente herausarbeiten. Deshalb kommt es studienstrukturell vor allem darauf an, Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen. Insofern gewinnt die Kategorie vom Integrationskern auch bildungstheoretisch einen hohen Stellenwert.
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5) Die Lehrerausbildung an der Hochschule besteht nicht allein aus formalisierten Veranstaltungen. Dies heißt von der Konsequenz her, daß auch bewußt Raum geschaffen werden muß für lehrerbildende Kommunikationsprozesse, die im gegenseitigen Austausch aktuelle und biographische Erfahrungen aufgreifen. Dieses Moment der "kommunikativen Verschränkung" konnte empirisch als wirksam für die Herausbildung progressiver bildungspolitischer und pädagogischer Einstellungen nachgewiesen werden (vgl. Kaiser 1982). Denkbar ist dabei vor allem die Reanimation der in der ehemaligen DDR verbreiteten Form der studentischen Studiengruppe im Sinne von selbstorganisierten, aber als offizielle Studienelemente anerkannten Selbstbildungsgruppen. Neben diesen generellen Momenten einer zeitgemäßen Bildung von Lehrerinnen und Lehrern kommt es konkret für den Sachunterricht auf die Vermittlung von Fähigkeiten an, die es ermöglichen, einen zukunftsorientierten Sachunterricht zu praktizieren. 6) An erster Stelle muß die Ausbildung die Fähigkeit vermitteln, autonome didaktische Entscheidungen über Ziele und Inhalte, über Konzeptionen und Methoden des Sachunterrichts zu treffen. Dazu gehören auch gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenkenntnisse, um gesellschaftliche Entwicklungen zu analysieren und auf ihre didaktische Relevanz hin zu bewerten. Gertrud Beck unterscheidet die unter den folgenden Punkten genannten Qualifikationsvoraussetzungen (vgl. Beck 1993, S. 6ff.). 7) Für den Sachunterricht ist ein Fachwissen erforderlich, das nicht an fachdisziplinären Strukturen orientiert ist, sondern den Studierenden den Zugang über Phänomene ermöglicht. Zumindest muß - da eine vollständige Ausbildung im Sachunterricht weder möglich noch erstrebenswert ist - gelernt werden, zu recherchieren, um offen für immer wieder aktuelle neue Inhalte des Sachunterrichts zu bleiben. 8) Didaktische Entscheidungen können immer nur aus der Trias von Sache-Gesellschaft-Kind getroffen werden. Insofern ist es neben einem ädaquaten Sachwissen gleichrangig, ein Wissen über Kinder zu erwerben, einen Zugang zu den Lernvoraussetzungen über Zuhören und Beobachten zu gewinnen. Beck formuliert diese Qualifikationsvoraussetzung für zukünftige Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrer: "Diagnostizieren des Entwicklungsstandes und der Zugangsmöglichkeiten als Qualifikation" (Beck 1993, S. 7).
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9)
Sachunterricht entwickelt sich immer mehr von der belehrenden Kunde hin zu differenzierten Lern- und Arbeitsprozessen der Kinder. Beck sieht in der Bereitstellung von Lernmitteln, im Zugang über Materialbeschaffung und -aufbereitung eine zentrale Qualifikation von Sachunterrichtslehrerinnen und -lehrern, die Qualifikation des Organisierens. 10) Damit Sachunterricht nicht zu einem Warenlager von Anregungsmaterialien und vor allem nur Arbeitsblättern verkommt, muß verstärkt der Blick auf die Gestaltung von Lernsituationen gelegt werden. Beck nennt diese Fähigkeit der didaktischen Planung das "Arrangieren als Qualifikation" (Beck 1993, S. 7). 11) Je differenzierter die Lernprozesse werden, je heterogener die Kinder einer Lerngruppe sind, je weniger bürokratisch die Bewertungsmaßstäbe angelegt werden, um so wichtiger ist es zu lernen, Lernprozesse zu begleiten und einen Zugang über das Beobachten und Sammeln zu gewinnen, also das "Dokumentieren als Qualifikation" (Beck 1993, S. 7) zu erlernen. Eine an diesen Qualifikationserfordernissen orientierte Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für das Lernfeld Sachunterricht würde den Entwicklungsprozeß von Lehrerausbildung und Unterrichtspraxis wieder aufeinander zu bewegen lassen, anstatt die Schere zwischen ihnen immer weiter zu öffnen.
Zitierte Literatur ANNINK; Hans u.a. (1984): Zu mogelijk in samenhang. Doel, structuur en inhoud van sociale wereldorientatie. Enschede. Stichting voor de Leerplanontwikkeling. BECK, Gertrud (1993): Lehren im Sachunterricht - zwischen Beliebigkeit und Wissenschaftsorientierung. In: Die Grundschulzeitschrift, H. 67, S. 6-8. HÄNSEL, Dagmar (1994): Erfahrung statt Belehrung, Vernetzung statt Hierarchie. Thesen zur Reform der Lehrerbildung. In: Die Grundschulzeitschrift, H. 71. S. 46-50. JEZIORSKY, Walter (1968 2 ): Allgemeinbildender Unterricht. Braunschweig. KAISER, Astrid (1982): Sozialisation von Lehrerstudenten. Frankfurt. KAISER, Astrid (1995): Einfuhrung in die Didaktik des Sachunterrichts. Baltmannsweiler. KLAFKI, Wolfgang (1992): Allgemeinbildung in der Grundschule und der Bildungsauftrag des Sachunterrichts. In: LAUTERBACH, R. u.a. (Hrsg.): Brennpunkte des Sachunterrichts. Kiel, S. 11-31. LICHTENSTEIN-ROTHER, Ilse (1968): Sachunterricht und elementare Weltkunde in der Grundschule. In: Die Grundschule. Beiheft zu Westermanns Pädagogischen Beiträgen. Braunschweig, S. 1-16.
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MÜLLER, Hermann (1970): Affirmative Erziehung: Heimat- und Sachkunde. In: BECK, J. u.a.: Erziehung in der Klassengesellschaft. München, S. 202223. SCHAUB, Horst (1991): Zur Situation der Didaktik des Sachunterrichts im Studiengang Lehramt an Grund- und Hauptschulen. In: LÜCHT, A.: Lehrerausbildung an den Universitäten Niedersachsens - Bilanz und Perspektiven. Oldenburg, S. 33-40. SCHREIER, Helmut (1992): Sachunterricht und Erfahrung. In: LAUTERBACH, R. u.a. (Hrsg.): Brennpunkte des Sachunterrichts. Kiel, S. 47-65.
Weiterführende Literatur BECK, Gertrud (1993): Lehren im Sachunterricht - zwischen Beliebigkeit und Wissenschaftsorientierung. In: Die Grundschulzeitschrift, H. 67,. S. 6-8. HANSEL, Dagmar (1994): Erfahrung statt Belehrung, Vernetzung statt Hierarchie. Thesen zur Reform der Lehrerbildung. In: Die Grundschulzeitschrift, H. 71, S. 46-50. LAUTERBACH, Roland u.a. (Hrsg.) (1995): Lehrerausbildung Sachunterricht. Kiel.
9.2
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre Gerd-E. Famulla
9.2.1
Ausgangssituation und Dilemma der Arbeitslehre: wissenschaftlich fundiertes Lernen und pädagogisch orientiertes Handeln
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Zum Stand der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Lernfeld Arbeitslehre
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Die Schlüsselrolle der Arbeit für Leben und Lernen in der modernen Gesellschaft
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9.2.4
Neue "Bildungsidee Arbeitslehre" gesucht
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9.2.5
Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudium Arbeitslehre
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Der GATWU-Vorschlag zu einem Studiengang Arbeitslehre in der Diskussion
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9.2.2
9.2.3
9.2.6
Zitierte Literatur
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Weiterfuhrende Literatur
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9.2.1
Ausgangssituation und Dilemma der Arbeitslehre: wissenschaftlich fundiertes Lernen und pädagogisch orientiertes Handeln
Seit die Kultusministerkonferenz im Jahre 1969 in einem Beschluß die Einfuhrung der Arbeitslehre in der Hauptschule empfohlen hatte ( - • 4.2.2.2), wurden in den elf Bundesländern für diesen Lernbereich Richtlinien und Lehrpläne entwickelt und Studiengänge an Hochschulen eingerichtet. Obwohl nach den Lehrplänen der Bundesländer heute zumindest allen Hauptschulen in irgendeiner Form die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt obliegt (vgl. Ziefuß 1992, 1992a), bietet der Entwicklungsstand des Faches in Schule und Hochschule noch immer erheblichen Anlaß zur Kritik. So gibt es immer noch kein bundesweit etabliertes Unterrichtsfach wie auch keinen Studiengang "Arbeitslehre". Für die Haupt- und Realschulen gibt es allenfalls einen je nach Bundesland aus unterschiedlichen Gebieten oder Fächern wie Arbeit, Wirtschaft,
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Technik, Hauswirtschaft und Politik verschieden komponierten Lernbereich. Immerhin war und ist man sich über dessen oberste bildungspolitische beziehungsweise pädagogische Zielsetzung weitgehend einig: Jugendliche sollen im Rahmen der Allgemeinbildung auf die Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt vorbereitet werden. Nicht mehr einig ist man sich hingegen bereits bei der Frage, ob diese Vorbereitung "arbeitsorientiert" erfolgen soll, das heißt, die Kategorie der Arbeit als Schlüsselkategorie und fächerübergreifendes didaktisches Zentrum beispielsweise für die Formulierung von Lernzielen und Konstruktion von Curricula gelten soll. Auch gibt es eine anhaltende Diskussion darüber, ob man beispielsweise zugehörige Schulfächer wie Wirtschaft oder Technik primär wissenschaftsorientiert, das heißt am Erkenntnisstand der jeweiligen Bezugsdisziplin, ob man sie anthropologisch (insbesondere Technik) oder ob man sie pädagogisch fundieren müsse. Strittig ist auch die Frage, welcher Erkenntniswert und welche pädagogische Bedeutung der Arbeit von Schülerinnen und Schülern in der Schule zukommt. Das diesen Diskussionen zugrunde liegende Fundamentalproblem der Arbeitslehre, nämlich die Integration von wissenschaftlich fundiertem Lernen und pädagogisch begründetem Handeln, erhoffte man lange Zeit, durch Verwendung und Weiterentwicklung der "Arbeit als Schlüsselkategorie" lösen zu können. Dabei spielte das Verhältnis von "Arbeit und Emanzipation" eine entscheidende Rolle. Diese Bezugnahme auf Arbeit ist heute - so die hier vertretene These (vgl. 9.2.3) - durch neue, vor allem technologisch, arbeitsorganisatorisch und ökologisch begründete Herausforderungen nicht überholt, doch ist ihre erneute Vergewisserung im Kontext von Wirtschaft, Gesellschaft und Natur erforderlich geworden. Von der Reformulierung des Arbeitsbegriffs wird nicht allein - jedoch in entscheidendem Maße - abhängen, ob die dringend notwendige Konsolidierung des Lernbereichs Arbeitslehre und des entsprechenden Studienfaches in der Hochschule gelingt. Immerhin signalisiert eine Reihe von Initiativen im schulischen und hochschulischen wie auch bildungspolitischen Bereich in den letzten Jahren eine neue Aufmerksamkeit für den Lernbereich Arbeitslehre. Zu diesen Aktivitäten gehört die detaillierte Bestandsaufnahme zur Arbeitslehre in den 16 Bundesländern (vgl. Ziefuß 1992a, 1992b) ebenso wie die von den Sozialparteien neu gefaßten Vor-
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Schläge zur Absicherung der Arbeitslehre in der Sekundarstufe I (vgl. DGB 1990, Bundesarbeitsgemeinschaft Schule/Wirtschaft 1991). Hierzu gehören aber auch die Vorlage mehrerer zum Teil alternativer, zum Teil sich ergänzender Konzepte für eine verbesserte Lehrerausbildung (vgl. GATWU 1992, Kahsnitz 1992, Meier 1993b, Spitzley 1993) und nicht zuletzt Reformvorschläge zum Lernbereich Arbeitslehre aus dem parlamentarischen Bereich (vgl. EK "Bildung 2000", 1990, 132 ff.). Wie groß der bildungspolitische Handlungsdruck für eine Verbesserung des Lernbereichs sowie des Studienfaches Arbeitslehre inzwischen geworden ist, wird daran deutlich, daß angesichts wachsender Probleme für die Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Arbeitsprozeß der allgemeinbildenden Schule über alle bildungspolitischen Positionen hinweg ein hohes Gewicht beigemessen wird (vgl. EK "Bildung 2000", 1989, S. 70 f.). Allerdings ist auch bei keinem anderen Fach die Liste an Defiziten so umfänglich, wie sie von den Fachvertretern im Lern- und Studienbereich Arbeitslehre in Schule und Hochschule sowie von Vertretern bildungspolitischer Institutionen und Organisationen festgestellt wird. Diese Defizite betreffen zum Beispiel seine bislang fehlende schlüssige wissenschaftliche Fundierung, das Fehlen einer wissenschaftlichen Bezugsdisziplin "Arbeitslehre", die auf Länderebene fehlende Kompatibilität von schulischen Lehrplänen und mangelnde gegenseitige Akzeptanz von Lehrerexamina, die geringe Zahl fachlich qualifizierter und die hohe Zahl "fachfremd" unterrichtender Lehrerinnen und Lehrer, zu geringe Stundenanteile für eine fundierte Qualifizierung im Lehramtsstudium, die fast unüberschaubar gewordene Vielfalt curricularer Strukturen und institutioneller Verankerungen, die mangelhafte personelle und sächliche Ausstattung des Faches in Schule und Hochschule und schließlich die unzulängliche Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung. Weil die Probleme des Übergangs von der Schule in den Beruf eher größer geworden sind, ist eine Konsolidierung des Lernbereichs wie auch Studienfaches Arbeitslehre dringlich geboten. Die Chancen hierzu hängen in starkem Maße davon ab, ob der geringe Professionalisierungsgrad von Lehrerinnen und Lehrern, die im Lernbereich Arbeitslehre unterrichten, als gravierendes bildungspolitisches Problem mit weitreichenden Folgen für den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß erkannt und behoben wird (vgl. 9.2.2). Weiter-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
hin kann es angesichts der wachsenden Herausforderungen und veränderten Problemlagen, denen sich die Jugendlichen heute beim Übergang vom Bildungssystem in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß gegenübersehen, nicht nur um einen Verbesserung des Berufswahlunterrichts gehen. Entscheidend ist auch das vertiefte Verständnis der vielfältigen Formen gesellschaftlicher Arbeit im sozialhistorischen Kontext. Eine erneute Vergewisserung des Arbeitsbegriffs und - hiermit eng zusammenhängend - des Berufsbegriffs erscheint hierzu unumgänglich (vgl. 9.2.3). Von großer Bedeutung ist aber auch, ob eine neue tragfähige Arbeitslehre-Idee in einem theoretischen Bezugsrahmen konsensual entwickelt werden kann (vgl. 9.2.4). Für die Hochschulausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den Lernbereich Arbeitslehre ist darüber hinaus ein produktives Verhältnis zwischen den fachwissenschaftlichen und den pädagogischen bzw. fachdidaktischen Ansprüchen zu entwickeln (vgl. 9.2.5). Dabei geht es nicht allein um die Frage, wie im Idealfall - und bundesweit vereinheitlicht - Studienordnung, Stundentafel und Lehrplan aussehen könnten, sondern erst einmal um eine Verständigung zwischen Wissenschaft, Schulpraxis und Bildungspolitik über veränderte Ziele und Grundprobleme der Arbeitslehre angesichts neuer Herausforderungen bei der ökologisch-ökonomischen Modernisierung der Arbeitswelt. Erst in Verbindung mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer revidierten Lehrerausbildung für den Lernbereich Arbeitslehre, in dem die kompetente Vorbereitung auf den Übergang vom Bildungssystem in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß als bedeutsame Teilaufgabe einer Modernisierung der Gesellschaft begriffen wird, könnten die zukunftsträchtigen Ideen, die in den mittlerweile vorliegenden Modellvorschlägen und Praxisversuchen zur Lehrerausbildung für den Lernbereich Arbeitslehre stecken (vgl. 9.2.6), auch die ihnen gebührende öffentliche Aufmerksamkeit erringen und das notwendige und zur Zeit noch fehlende bildungspolitische Gewicht erhalten. Die Konsolidierung eines Studienganges wie auch eines Lernbereichs Arbeitslehre wird aber schließlich nur gelingen können, wenn die erheblichen Forschungsdefizite beim "Übergangsproblem" Schule-Beruf behoben werden und auch die Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung hinsichtlich Struktur und Umfang erheblich verbessert wird.
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
9.2.2
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Zum Stand der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Lernfeld Arbeitslehre
Konzentriert man den Blick etwas näher auf den hier besonders interessierenden Bereich der Lehrerbildung als eine der Schlüsselgrößen im "magischen Dreieck der Arbeitslehre" (wozu nach Spitzley [1992] noch der Lehrplan und die Stundentafel gehören), so ist wie schon erwähnt - durchweg eine hohe Zahl fachfremd unterrichtender Lehrerinnen und Lehrer im Bereich Arbeitslehre festzustellen. Auch wenn schon aufgrund der Fächervielfalt im Lernbereich Arbeitslehre bislang kaum länderübergreifend präzise inhaltlich definiert werden kann, was ein "Fachlehrer" oder eine "Fachlehrerin" oder eine "fachfremd unterrichtende Lehrkraft" ist, so zeigen doch verschiedene Untersuchungen und Einschätzungen, daß nur etwa 10-20% schulfachbezogen studiert haben (vgl. Kruber 1989; Spitzley 1992). Oberliesen (1993): "90% der Lehrerinnen und Lehrer (in den alten Bundesländern), die im Lernfeld Arbeitslehre unterrichten (müssen), verfugen über keine grundständige Ausbildung." Zwar sagt der Professionalisierungsgrad nicht unbedingt etwas aus über didaktische Fähigkeiten, Unterrichtsqualität und Unterrichtserfolge von einzelnen Lehrerinnen und Lehrern, auch ist das Engagement von einigen Autodidakten nicht zu unterschätzen, die sich hochmotiviert, selbständig und durch punktuelle Weiterbildung für Fächer des Lernbereichs Arbeitslehre Kompetenzen erworben haben, doch schafft ein Hochschulstudium spezifisch günstigere Voraussetzungen für die Unterrichtspraxis. Nach einer in Schleswig-Holstein von Kruber durchgeführten Befragung von Lehrerinnen und Lehrern des Faches Wirtschaft/Politik - das Fach Arbeitslehre hat es hier nur im Jahre 1970 für eine kurze Erprobungsphase gegeben (vgl. Christensen 1992) - liegen diese Vorteile vor allem im inhaltlichen Bereich: "Fachlehrer sind gegenüber ihrer eigenen Unterrichtspraxis und gegenüber Vorgaben (Lehrplan, Stundentafel...) kritischer und anspruchsvoller. Sie sind aufgrund ihrer Ausbildung besser in der Lage, mit Schwierigkeiten (Theorielastigkeit, schwierige volkswirtschaftliche Inhalte, Einbettung des Betriebspraktikums in den berufsorientierenden Unterricht usw.) umzugehen, sie sind methodisch variabler" (Kruber 1989, S. 10). Dieser Kompetenzvorsprung der fachlich an einer Hochschule ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer gegenüber den fachfremd unterrichtenden Lehrkräften korrespondiert allerdings nicht mit ei-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
ner positiven Beurteilung der didaktischen und fachwissenschaftlichen Ausbildung im Studium. Nach den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung "empfinden 76% der Lehrer die didaktische Ausbildung als unbefriedigend und 69% die fachwissenschaftliche (Reuel 1984, S. 135). Mit den an den allgemeinbildenden Schulen festzustellenden unzulänglichen Lehrkompetenzen im Lernfeld Arbeitslehre gehen Defizite hinsichtlich der Wirksamkeit des Arbeitslehreunterrichts einher. Untersuchungen zeigen, daß die "Kenntnisse der Schüler über Berufsinhalte, -anforderungen, -aussichten, Arbeitsbedingungen und Ausbildungsvoraussetzungen ihrer Wunschberufe und erst recht ihre Kenntnisse über das berufliche Ausbildungs- und Beschäftigungssystem im allgemeinen .. sehr dürftig" sind (Kahsnitz 1987, S. 2). Beide Seiten, die schulische wie die hochschulische oder wissenschaftliche, bedürfen mithin einer grundlegenden Erneuerung und Konsolidierung. Der Weg dahin scheint heute nur über eine Vergewisserung der zentralen Kategorie der Arbeit und über die Neubestimmung der tragenden "Idee der Arbeitslehre" sowie des Verständnisses von Fachwissenschaft und Fachdidaktik möglich zu sein. Sollen neue Konzepte und Alternativen zur Arbeitslehre in Schule und Hochschule nachhaltige Wirkung erzeugen und Bestand haben, müssen sie zuvörderst auf diese Grundfragen Antworten geben können.
9.2.3
Die Schlüsselrolle der Arbeit für Leben und Lernen in der modernen Gesellschaft
Die Etablierung und Konsolidierung eines allgemeinbildenden Faches Arbeitslehre ist notwendig, weil es übergreifende Strukturen und Entwicklungen der Arbeit in der modernen Gesellschaft gibt, die für alle Schüler in der allgemeinbildenden Schule von Bedeutung sind. Die Begründung für diese These kann nur im gesellschaftstheoretischen Erklärungszusammenhang erfolgen. In der Vergangenheit ist die theoretische Fundierung der Arbeitslehre stets von gesellschaftlichen Zielvorstellungen wie auch von emanzipatorischen Hoffnungen und Utopien begleitet gewesen. Heute wird - ohne explizite Bezugnahme auf einen sozialhistori-
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sehen Kontext und weltgeschichtliche Ereignisse wie der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa - die Notwendigkeit einer Revision wie auch einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs in der Arbeitslehre häufig nur mit dem Hinweis auf tiefgreifende technische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Veränderungen in der Arbeitswelt begründet. Doch ist mit dem Verweis auf das Ausmaß und die Intensität dieser Veränderungen (vgl. Oberliesen 1994) allein nicht das grundlegende Legitimationsproblem gelöst, das mit dem Anspruch auf Schaffung beziehungsweise Konsolidierung eines Lernbereichs Arbeitslehre, einer "Arbeitsorientierten Allgemeinbildung" und eines integrierten Studiengangs Arbeitslehre aufgeworfen ist. Die hierzu vielmehr mögliche und notwendige Reflexion des Zusammenhangs von Arbeit und Gesellschaft erübrigt sich auch nicht durch die Konzentration auf einzelne Dimensionen oder "Säulen" der Arbeit wie Technik, Wirtschaft oder Hauswirtschaft - möglicherweise noch aus dem Blickwinkel von Einzeldisziplinen wie Ingenieurwissenschaften, Arbeitswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften oder Soziologie. Wie Kurz-Scherf (vgl. Kurz-Scherf 1994, S. 40) zu Recht anmerkt, fehlt - trotz Befassung in nahezu jeder Disziplin im Bereich der Humanwissenschaften mit menschlicher Arbeit - für eine umfassende Analyse der Arbeit noch der "Blick aufs Ganze", über den beispielsweise Hannah Arendt (vgl. Arendt 1956) bei ihrer Frage nach dem "Sinn der Arbeit" - wenn auch mit einer gewissen Idealisierung der Antike - noch verfugte. Nun könnte das Fehlen einer kohärenten Theorie der Arbeit heute mit dem historischen Wandel des Verhältnisses von Wirtschaft und Gesellschaft zusammenhängen, der seit den Zeiten der Arbeitswerttheoretiker Smith, Ricardo und Marx stattgefunden hat. Letztere sahen bekanntlich in der Arbeit die wesentliche Quelle des "Wohlstands der Nationen" und speziell für Marx war die Arbeit nicht nur der wichtigste "Entäußerungsbereich" des Menschen; ein wesentliches Ziel bestand für ihn darin, "daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur (sprich: die Arbeit, d. Verf.) rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ..." (Marx 1969, S. 828). Stimmte hingegen die These vom "Entschwinden der Arbeitsgesellschaft" (Dahrendorf 1980), dann hätte die Arbeit ihre aktuelle und - mehr noch - ihre utopische Bedeutung eingebüßt. Pädagogisch bedeutsam bliebe allenfalls die
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Arbeitsorientierte Studiengänge
Befassung mit der "protestantischen Arbeitsethik" und den daraus abgeleiteten Arbeitstugenden. Doch für deren Vermittlung brauchte man kein eigenes Fach Arbeitslehre, allenfalls einen "heimlichen Lehrplan". Neuen Vorschlägen zur Lehrerbildung für einen "Lernbereich Arbeitslehre", bei denen die Kategorie der Arbeit als didaktisches Zentrum im Mittelpunkt steht (vgl. GATWU 1992), wird heute vorgeworfen, "einen gleichsam ideologisch neutralisierten Marxismus-Leninismus zu verordnen" (Sachs 1993, S. 67). Dieser Vorbehalt entbehrt nicht nur der Kenntnis der Kritik der Politischen Ökonomie, er negiert auch die bereits vorhandenen grundlegenden theoretischen und empirischen Einsichten zur sozialen und individuellen Bedeutung der Arbeit. Obwohl (mit Marx) in der Arbeit der Schüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft zu sehen ist (vgl. Engels 1886, S. 307), steht - auch und gerade für Marx - die Arbeit keineswegs im Zentrum der modernen Vergesellschaftung, sondern der Austausch von Waren und Geld, dem auch und zumal die Arbeit mit weitreichenden Konsequenzen unterworfen ist. Mit der Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft wurden die Lebens- und Arbeitsbedingungen den Notwendigkeiten des Marktes unterworfen, aus Arbeit wurde Lohnarbeit und aus Menschen Arbeitskräfte. Die mit diesem Ökonomisierungsprozeß einhergehenden Belastungen für Mensch und Natur, die im übrigen für Mann und Frau durchaus ungleich verteilt wurden (vgl. Becker-Schmidt 1987), schienen lange Zeit durch wachsenden gesellschaftlichen Reichtum in Form einer "ungeheuren Warensammlung" (Marx) kompensierbar. So kann auch ein "Ende der Arbeitsgesellschaft" deshalb nicht eingeläutet werden, weil es nie eine Gesellschaft gegeben hat, in der - ungeachtet der hohen Bedeutung der Arbeit - der soziale Zusammenhang wesentlich über Arbeit hergestellt wurde. Historisch zutreffender ist da schon der Begriff der "Wirtschaftsgesellschaft", weil gerade die moderne Gesellschaft durch die Verselbständigung der Ökonomie in Form von (dominanten) Waren-, Geld- und Kapitalbeziehungen geprägt ist und die Arbeit unter sich subsumiert hat (vgl. Polanyi 1977). Zwischenfazit: Mit Marx ließe sich also ein Schulfach "Politische Ökonomie" oder "Wirtschaft und Gesellschaft" viel eher begründen als ein Schulfach "Arbeitslehre". Letzteres ist notwendig, weil die Arbeit in ihren verschiedenen Formen, Strukturen und Entwicklungen für alle Schüler der allgemeinbildenden Schulen von Bedeutung ist.
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
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Mit dem Verweis auf den historisch, das heißt hier auch veränderbaren, übergeordneten (ökonomischen) Verwertungszusammenhang von Arbeit soll weder die Dynamik noch die Vielfalt der Formen industriekapitalistischer Arbeitsorganisationen und -beziehungen geleugnet werden. Der moderne wohlfahrtsstaatliche Industriekapitalismus unterscheidet sich erheblich vom Frühkapitalismus und ist heute mit sehr unterschiedlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen nicht nur nicht vereinbar, er benötigt sie sogar für seine Fortdauer. Arbeit war und ist von außerordentlich hoher Bedeutung für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft, auch wenn ihr gesellschaftlicher Zusammenhang nach wie vor wesentlich über Geld, Tausch und Kapital vermittelt ist. Der forschende Blick auf die Arbeit in der modernen Gesellschaft, und das ist die kapitalistische Industriegesellschaft, erweitert sich zwangsläufig zum gesellschaftshistorischen Blick auf den Zusammenhang von Arbeit und Ökonomie, in deren Zentrum nach wie vor die Erwerbsarbeit steht (-• 1.2.3.2). Mit dieser historischen Bestimmung wird die Kategorie der Arbeit in ihrer hohen individuellen wie sozialen Bedeutung faßbar und ihre ökonomische Einbindung verdeutlicht. Andere Tätigkeiten wie auch die Freizeit haben zwar gegenüber der Erwerbsarbeit erheblich an Bedeutung gewonnen, doch bleiben sie durch die ökonomische Klammer noch immer weitgehend an die Erwerbsarbeit gebunden. König hat diesen Sachverhalt in aller Deutlichkeit herausgearbeitet: "... bei aller Differenzierung der Sozialstruktur ... spricht vieles dafür, daß die Erwerbsarbeit auch heute noch einen herausragenden Rang im Leben der meisten Menschen einnimmt. Das gilt sowohl für die Persönlichkeit, das Alltagsbewußtsein und die psychische Konstitution wie für die Ausfüllung der sozialen Rollen und Aktivitäten, die dem Einzelnen offenstehen. Immer noch ist die Arbeit für die Entfaltung der menschlichen Potentiale von großer Bedeutung, immer noch ist sie der Kristallisationspunkt, an dem sich Wünsche und Bedürfnisse anlagern, immer noch ist sie der Boden, den man unter den Füßen haben muß, bevor für diejenigen Aktivitäten und Rollen frei wird, die sich mehr oder weniger von der Sphäre der Erwerbsarbeit entfernen" (König 1990, S. 331). Das hohe spezifische Gewicht der Erwerbsarbeit gegenüber anderen Tätigkeiten wie etwa der Hausarbeit als ihrer stillschweigenden, überwiegend von Frauen bereitgestellten Gratisvoraussetzung oder gegenüber der Freizeit wird deutlich erst in der sozialökonomischen Analyse. Damit ist aber weder etwas über die weitere Zukunft
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Arbeitsorientierte Studiengänge
der Erwerbsarbeit ausgesagt, noch ihre Revisionsbedürftigkeit bestritten. Wie die seit Mitte der siebziger Jahre bestehende Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland und Europa zeigt, ist zum Beispiel nicht von der unbegrenzten Fortdauer eines "Normalarbeitsverhältnisses" auszugehen (->• 1.4.2), zu dem - als Idealtypus - arbeitsrechtliche und soziale Grundsicherheiten sowie der einmal gelernte Beruf als Lebensberuf gehören. Andererseits haben andere unbezahlte, informelle oder auch alternative Formen der Arbeit oder Eigenarbeit nicht oder noch nicht sich aus der ökonomischen Klammer zur Erwerbsarbeit, zur Geldökonomie, zu lösen vermocht. Sie haben bislang auch nicht die öffentliche Akzeptanz und finanzielle Mindestabsicherung gefunden, die zumindest den ökonomischen Druck auf den einzelnen "Eigen- oder Andersarbeitenden" zu mindern vermag. Könnte mit der Forderung nach einer ökonomischen Mindestabsicherung immerhin eine soziale Antwort gegenüber der Dominanz der - für einen erheblichen Teil der erwerbsfähigen Bevölkerung fehlenden - Erwerbsarbeit gegeben werden (vgl. Gorz 1989, bes. S. 332 ff.), so steht angesichts der neuen arbeitsorganisatorischen wie auch ökologischen Herausforderungen eine positive Antwort auf die Frage nach einem anderen Arbeitsinhalt noch aus. Diese Antwort muß über das "Normalarbeitsverhältnis" (vgl. dessen Kritik bei Mückenberger 1985) wie auch über das traditionelle Berufskonzept (zur Kritik vgl. Famulla 1987a; 9.3.5) hinausgehen. Beides sind einander zugehörige, noch positiv auf die ökonomische Determinierung von (Erwerbs-)Arbeit fixierte "Defensivkonzepte", die solange ihre uneingeschränkte Attraktivität behalten konnten, wie die ökonomische Instrumentalisierung von Mensch und Natur nicht an öffentlich wahrnehmbare Grenzen stößt. Solange noch eine große Zahl von Erwerbstätigen fiir eine steigende Arbeitsleistung ein steigendes Einkommen und einen wachsenden Güterkorb erhält und von den sozialen und ökologischen Folgekosten nicht oder kaum unmittelbar tangiert ist, behält das ökonomische Wohlstandkonzept seine Anziehungskraft. Doch es ist weder global zu realisieren, noch in den Industriestaaten auf Dauer aufrechtzuerhalten. Deshalb sind die Konzepte und Praxisformen von hoher und wachsender Bedeutung, die - entgegen dem noch vorherrschenden Ökonomismus in Gesellschaft und Unternehmen - auf eine dauerhafte Entwicklung ("Sustainability") orientieren. Der Bildungsbereich kann seine ideelle und gestalterische Kraft nur wiedergewinnen, wenn er - zumal bei
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der Arbeits- und Berufsvorbereitung - nach der pädagogischen Vergewisserung ("Persönlichkeitsentwicklung bleibt Ziel") und der sozialen Öffnung ("Arbeit und Emanzipation") heute den Blick zugleich auf den Erhalt der Arbeits- und Lebensbedingungen ("ökologische Bildung") richtet.
9.2.4
Neue "Bildungsidee Arbeitslehre" gesucht
Die Erwartungen an das "Reformfach" oder die "Bildungsidee Arbeitslehre" waren von Beginn an sehr hoch gesteckt. Viele engagierte Pädagogen sahen in ihm die "Chance zur Erneuerung der allgemeinen zu einer zeitgemäßen Bildung schlechthin", doch diese Erwartungen sind "bisher nur unzureichend erfüllt worden" (Ziefuß 1992a, S. 150). Ursache dafür aber ist nicht nur der zeitweise unüberbrückbare ideologische Streit um Lernziele und Curricula der Arbeitslehre, ein Streit, der heute im übrigen zumindest im schulischen Bereich zugunsten einer stärkeren Konzentration auf die wachsenden Probleme des Übergangs vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem eher in den Hintergrund tritt. Ziefuß kommt nach seiner umfassenden Analyse der Lehrpläne in den Bundesländern zu dem Schluß: "Insgesamt geht es also nicht, wie man meinen möchte, um Arbeit als den zentralen Begriff der Arbeitslehre, sondern weitestgehend um die Vorbereitung auf die Berufswahl, wobei die Vermittlung berufskundlicher Informationen vorrangig erscheint" (Ziefuß 1992a, S. 144). Zu konstatieren ist das Dilemma, daß mit der gegenwärtig konstatierbaren Abkehr von "alten Zielen" wie Förderung von Arbeitnehmerinteressen hin zu einer stärkeren Arbeitsmarkt- und Berufsorientierung auch die alte Idee der Arbeitslehre ("Arbeit und Emanzipation") allein nicht mehr trägt. Eine veränderte oder neue, auf der Kategorie der Arbeit aufbauende "Bildungsidee", die die vorhandenen vielfältigen Interessen und Positionen bündeln, sie integrieren und ihnen die zur Konsolidierung des Faches dringend benötigte Schubkraft verleihen könnte, ist aber systematisch nicht entwickelt. An Stelle einer fundierten, sowohl persönlichkeitsorientierten wie problembezogenen Vorbereitung auf die Berufs- und Arbeitswelt steht heute im Lernbereich Arbeitslehre der Beruf, die Berufswahl und möglichst frühe Suche nach einem Ausbildungsplatz im Vordergrund (vgl. Ziefuß 1992a, S. 151). Weil trotz vorhandener Qua-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
lifikation in der bereits seit Mitte der siebziger Jahre anhaltenden Strukturkrise der Erhalt eines zukunftsträchtigen Ausbildungs- und Arbeitsplatzes nicht mehr garantiert werden kann ("Qualifikationsparadox", vgl. Mertens 1984), gewannen primär ökonomisch begründete Arbeitsmarkterfordernisse wie Flexibilität und Mobilität als "Schlüsselqualifikationen" an Gewicht und schoben Eigeninteressen am Beruf und Arbeitsinhalt in den Hintergrund. Seitdem verstärkt sich das Problem, daß die durchaus vorhandenen Interessen der Jugendlichen an einem persönlich befriedigenden, sinnvollen Beruf bzw. Arbeitsinhalt negiert werden und sie im Bereich der Allgemeinbildung keine Möglichkeit zu einer konstruktiven Auseinandersetzung über die mit der Professionalisierung von Arbeit verbundenen strukturellen Probleme und Handlungsmöglichkeiten gegenüber sozialen, technischen sowie ökologischen Herausforderungen erhalten. Nicht nur aus pädagogischen Gründen ist eine verstärkte Orientierung auf konjunkturell geprägte Ausbildungs- und Arbeitsmarkterfordernisse ("Besser irgendeine Ausbildung als keine") abzulehnen. Sie ist in langfristiger Betrachtung auch volkswirtschaftlich teurer, schafft wachsende sozialpolitische Risiken und läßt die bei den Jugendlichen durchaus vorhandenen und mehrfach belegten Interessen an sinnerfiillter, verantwortlicher Berufstätigkeit (vgl. Bertram u.a. 1991) unberücksichtigt. Notwendig ist heute eine Neubestimmung und weitere Konkretisierung der Arbeitslehreidee, in der das wachsende persönliche Interesse der Jugendlichen am Arbeitsinhalt und die tiefgreifenden Probleme und Herausforderungen in einer modernen Gesellschaft aufeinander bezogen sind. Die Forderung nach mehr bzw. anderen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen kann und muß heute qualifiziert begründet werden und überschreitet und relativiert insofern das ökonomische Kalkül bei der Schaffung und Gestaltung von Arbeit und Ausbildung. Der Perspektivenwechsel mit stärkerem Akzent auf den Arbeits- und Lerninhalt aber muß bereits in der allgemeinbildenden Schule und hier zuvörderst im Lernbereich Arbeitslehre beginnen. Frühere Versuche einer Reformulierung der Arbeitslehreidee unter Zugrundelegung der von Beck u.a. (vgl. Beck u.a. 1980, S. 263 ff.) skizzierten "kritischen Berufspraxis", wie etwa das "kritische Berufsrollenverständnis" bei Feldhoff u.a. (1985) waren noch zu stark dem Gedanken der Interessenwahrnehmung und Emanzipation der Lohnarbeiter verpflichtet als der bereits damals sich abzeichnenden Frage nach
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der Verbindung von Persönlichkeitsbildung und Arbeitsinhalt (vgl. Famulla 1987b). Zumal unter Aspekten der Berufsorientierung rückt dieser Zusammenhang erst allmählich in den Vordergrund und wird in neueren arbeitssoziologischen Untersuchungen an Hand der beiden Kategorien Arbeitsidentität bzw. "Subjektperspektive" und Sinn der Arbeit bzw. "gesellschaftliche Perspektive" analytisch entfaltet, aber noch nicht in seiner Einheit empirisch-inhaltlich näher bestimmt (vgl. Jacke/Feldhoff 1994, bes. S. 10-16). Die ökonomisch-ökologische Krise entzieht heute allen Bildungskonzepten, insbesondere allen arbeits- und berufspädagogischen Konzepten, die unabhängig vom Arbeitsinhalt auf Persönlichkeitsentwicklung und auf soziale Emanzipation setzen, zunehmend den Boden oder genauer die stofflich-energetische Basis. Damit stehen wir vor einer für die Arbeitslehre wie für den gesamten Bildungsbereich neuartigen Situation: Es geht nicht mehr nur um die nach wie vor wichtige Integration individueller Bildungsansprüche und sozial begründeter Qualifikations- und Emanzipationserfordernisse (Integration allgemeiner und beruflicher Bildung), es geht zugleich und immer nachdrücklicher um den Erwerb von Kompetenzen zur Sicherung des Überlebens von Natur und Gesellschaft (vgl. näher hierzu Famulla 1993, Famulla 1994). Eine Reformulierung der Arbeitslehreidee und hier insbesondere des zugrundeliegenden Arbeits- und Berufsbegriffs scheint heute nurmehr unter Rekurs auf das Ziel einer ökologischen Modernisierung, in dessen Zentrum der Arbeitsinhalt steht, möglich.
9.2.5
Fachwissenschaft und Fachdidaktik im Lehramtsstudium Arbeitslehre
Auch wenn die Schaffung eines "Studienganges Arbeitslehre" ebenso wie die Konsolidierung des schulischen "Lernbereichs Arbeitslehre" letztlich eine bildungspolitische Entscheidung ist, werden Fortschritte hier nur erzielt werden können, wenn gegenüber den Problemen und Vorbehalten eines "Studiengangs Arbeitslehre" überzeugende Antworten gegeben werden können. Dabei ist davon auszugehen, daß im Vergleich zu bereits etablierten Lehramtsstudienfächern sich ein zu schaffendes Studienfach Arbeitslehre heute ungleich höheren wissenschaftlichen und pädagogischen Ansprüchen und Kriterien gegenübersieht.
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Arbeitsorientierte Studiengänge
Fragt man, welche Anforderungen heute an einen Arbeitslehrelehrer bzw. eine Arbeitslehrelehrerin gestellt werden, so ergibt sich aus der aktuellen Diskussion zunächst ein ganzes Spektrum von allgemeinen Qualifikationsmerkmalen, wie zum Beispiel Wissenschaftlichkeit, Interdisziplinarität, Problemorientierung, Kritikfähigkeit, Professionalität und Handlungsfähigkeit. Könnte man diese Anforderungen unter dem Aspekt bis heute weitgehend uneingelöster Reformversprechen noch als Studienziele für alle Studierenden wissenschaftlicher Studiengänge nennen, so sind auf einer weiteren Konkretionsstufe für die Lehrerausbildung im Lernbereich Arbeitslehre vor allem drei Kompetenzen zu nennen (hier in Anlehnung an Zöllner 1993, S. 45): -
wissenschaftliche Kompetenz zur inhalts-, beziehungsweise problemorientierten Analyse von Arbeits- und Lebenswelt unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher, sozialer, technischer und ökologischer Interdepenzen; - pädagogische Kompetenz unter dem Aspekt der Identitätsbildung von Jugendlichen im Lern- und Handlungsbereich Arbeitsund Berufsorientierung; - didaktische Kompetenz zur Verknüpfung von Theorie und Praxis im Lernfeld Arbeitslehre. Für eine professionalisierte Lehrerausbildung in einem Studiengang Arbeitslehre dürfte die Bedeutung dieser drei "Schlüsselkompetenzen" unstrittig sein. Strittig ist die Frage der Verbindung zwischen Fachwissenschaft und Unterrichtspraxis, wobei die einen eher die Sorge um die Eigenständigkeit einer Fachwissenschaft gegenüber einer Fachdidaktik Arbeitslehre umtreibt (vgl. u.a. Schmidt 1982), und andere bereits im gesamten Hochschulstudium möglichst umfassend den pädagogischen Anspruch bzw. die Unterrichtspraxis und Schülerorientierung (die "Befähigung zur Bewältigung von Lebenssituationen") betont wissen wollen. Bei letzteren wird die strukturelle Differenz zwischen pädagogischem und wissenschaftlichem Anspruch zwar hervorgehoben (vgl. z.B. Oberliesen 1993, S. 86), doch wird hier auffallend wenig zur inhaltlichen und methodischen Rezeption der Fachwissenschaften ausgeführt. Unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit ist aber vor oder neben der pädagogischen oder fachdidaktischen Qualifizierung auf einer eigenständigen Rezeption der Fachwissenschaften im Studium zu bestehen, um nicht durch eine begrifFslose (vorwissenschaftliche) Orientierung auf "Le-
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benssituationen" schließlich "mit leeren Händen" dazustehen, wenn es um die "integrierte, interdisziplinäre oder projektorientierte" Erarbeitung von Unterrichtsthemen geht. Bekanntlich setzt Interdisziplinarität Kompetenzen in den Disziplinen voraus. Die Wissenschaften unterliegen einem permanenten Prozeß der Veränderung nach den ihnen eigenen Gesetzen und Formen (vgl. Kuhn 1967). Wer sie rezipieren und vielleicht auch aus guten pädagogischen Gründen inhaltlich kritisieren will, etwa unter dem Aspekt ihres Beitrags zur "Bewältigung von Lebenssituationen" (vgl. Robinsohn 1967), zur Lösung von "Schlüsselproblemen der Gesellschaft" (vgl. Klafki 1985, S. 20 f.), zur Aufhebung der geschlechtlichen Arbeitsteilung (vgl. Lemmermöhle-Thüsing 1994) oder unter der Frage, ob sie "eher lebenserhaltend oder eher lebenszerstörend" (Meyer-Abich 1988) wirken, muß dies nach den Grundregeln der wissenschaftlichen Diskussion tun. Hierzu gehören wesentlich die immanente Rezeption und Kritik von Theorien sowie die Anstrengung, eigene Einsichten und Erkenntnisse in theoretisch-systematischer Form darzulegen und mehrheitsfähig zu machen. Beispielsweise fehlen dem in der Arbeitslehre-Diskussion häufig gegebenen Hinweis auf die Gegensätzlichkeit zwischen "Schülerinteresse" und wirtschaftswissenschaftlicher Behandlung der "Arbeit als Produktionsfaktor" eine ganze Reihe vermittelnder Kategorien, um als wissenschaftliche Kritik überhaupt Gewicht zu erlangen. Trotz einer seit etwa 20 Jahren geführten Debatte um das Konzept einer integrierten Arbeitswissenschaft (vgl. Dedering 1974; Fürstenberg 1975; Spitzley 1980; Spitzley 1994; Famulla 1981), das wesentlichen Kriterien wie auch Inhaltsbereichen einer zu entwikkelnden "Arbeitslehre als Hochschulfach" (vgl. Schmidt 1982) entgegenkommen dürfte, ist mit dem erreichten Entwicklungsstand noch nicht das gesamte Spektrum "arbeitsrelevanter" Disziplinen und ihrer Gegenstände und Methoden als eine neue Fachwissenschaft zusammengeführt. Dies gilt insbesondere unter dem Aspekt einer neuen Fundierung des Verhältnisses von Arbeit, Ökonomie und Ökologie (siehe dazu Kap. 9.2.3). Bereits zu Fragen der Auswahl "arbeitsrelevanter" Fachdisziplinen, ihrer jeweiligen Anteile und ihrer Gewichte in einem Lehramtsstudium "Arbeitslehre" gibt es ganz unterschiedliche Positionen, auch wenn über die Notwendigkeit des Erwerbs fachwissenschaftlicher Kompetenzen Einigkeit herrscht.
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Arbeitsorientierte Studiengänge
Den Ausgangspunkt für alle Integrationsbemühungen können nur die etablierten Fachdisziplinen, wie beispielsweise Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und ingenieurswissenschaftliche Fachrichtungen bilden. Erst der kompetente und kritische Umgang mit ihnen befähigt zur wissenschaftlichen Bearbeitung von Problemlagen der Arbeits- und Berufswelt. Wird - wie offenbar beim konzeptionellen Ansatz für das Lernfeld Arbeitslehre an der Universität Potsdam (vgl. Meier 1993b) - von Anfang an und ohne eigenständige Rezeption der Fachdisziplinen die Arbeit als Schlüsselkategorie in den Mittelpunkt gerückt, so unterstellt dies fälschlich eine bereits erfolgte wissenschaftliche Konsolidierung des Faches und seiner Gegenstandsbereiche. Bei der fachdidaktischen Qualifizierung, die aus den genannten Gründen von der fachwissenschaftlichen Qualifizierung ein Stück weit entkoppelt sein muß, erfolgt die Aufbereitung von Themen und Problemen der Berufs- und Arbeitswelt wesentlich unter pädagogischer Zielsetzung. Mit der Positionierung der Fachdidaktik als einer reflektierenden Instanz zwischen Fachwissenschaft und Pädagogik (sie ist die pädagogische Reflexion "eines Faches, einer Fächergruppe oder eines Lernbereichs"; vgl. Kaminski 1981, S. 117) ist der wissenschaftstheoretische Ort fachdidaktischer Arbeit zutreffend beschrieben (vgl. auch grundlegend hierzu Kaminski 1977).
9.2.6
Der GATWU-Vorschlag zu einem Studiengang Arbeitslehre in der Diskussion
Die Besonderheit des GATWU-Vorschlags (vgl. GATWU 1992; Oberliesen 1993) liegt darin, daß mit ihm zum erstenmal ein Studienrahmen für den "Erwerb einer umfassenden Kompetenz im gesamten Lernfeld Arbeitslehre" vorgelegt wird. Entwickelt wurden zwei Grundmodelle, die - aufbauend auf einem fächerübergreifenden Grundstudium der "Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" - die Unterrichtsbefähigung für die Gegenstandsbereiche Wirtschaft und Beruf vermitteln sollen. Im Modell I ("Zwei-FächerKonzept") wird darüber hinaus entweder die Lehrbefähigung im Bereich Technik oder im Bereich Haushalt erworben; im Modell II ("Drei-Fächer-Konzept") ist zusätzlich die Wahl des Gegenstandsbereiches Wirtschaft möglich. Vorgesehen ist in beiden Modellen
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
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das Studium einer "Didaktik des Lernfeldes" sowie im Anschluß daran das fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studium der Fächer. Schul- und Betriebspraktika gehören ebenso zum Studiengang wie die Möglichkeit, Teile des Studiums in Projektform gestalten zu können. Das Studienzeitvolumen mit dem Studium eines Studienfaches beträgt 60 Semesterwochenstunden (SWS) zuzüglich Betriebs- und Schulpraktikum. Wird ein zweites oder drittes Studienfach hinzugenommen, erhöht sich der Zeitaufwand hierfür um jeweils 40 SWS. Die Vorschläge gehen offenbar von der Annahme aus, daß der geringe Professionalisierungsgrad von Lehrkräften, die derzeit im Lernfeld Arbeitslehre unterrichten, nicht durch eine nach Fächern oder Gegenstandsbereichen differenzierte Einstellungspraxis an den Schulen korrigiert wird. Insofern ist es realistisch, für die spätere Unterrichtspraxis in der Schule eine möglichst umfassende Qualifikation im gesamten Lernfeld Arbeitslehre anzustreben. Beide Modelle bieten die Möglichkeit, die Lehrbefähigung in einem zweiten Fach des Lernfeldes zu erwerben; im Modell II kann darüber hinaus eine vertiefte Kompetenz im Fach Wirtschaft erworben werden. Die Modelle nehmen Bezug auf die in den KMK-"Materialien zum Lernfeld Arbeitslehre" (KMK 1987) formulierten Gegenstandsbereiche (Technik, Wirtschaft, Haushalt und Beruf), wobei die Hervorhebung dieser Bereiche nicht weiter schlüssig begründet wird (vgl. auch die detaillierte Kritik von Sachs 1993, S. 67 f.), sondern es wird nur pragmatisch auf deren "Zugehörigkeit zum unbestreitbaren Bildungskanon aller Heranwachsenden in der Bundesrepublik" (GATWU 1992) verwiesen. Die von Ziefuß durchgeführte umfängliche Analyse der Lehrpläne zur Arbeitslehre bestätigt allerdings das Vorhandensein der vier Gegenstandsbereiche in den Lehrplänen fast aller Bundesländer (vgl. Ziefuß 1992, S. 150). Weiterhin wird die Kategorie der Arbeit bei den inhaltlichen Erläuterungen im Anhang zum Vorschlag der GATWU zwar mit einer Reihe von wichtigen Einzelthemen in den Bereichen Beruf, Haushalt, Betrieb und Technik in Verbindung gebracht, doch ihre "Schlüsselrolle" für das Leben in (und für die Analyse) der modernen Gesellschaft als "Wirtschaftsgesellschaft" (siehe oben Kap. 9.2.3) wird als eigenständiges Studienelement nicht deutlich genug herausgehoben. In diese Lücke stoßen die Vorschläge von Ziefuß (vgl. Ziefuß 1993) und Kahsnitz (vgl. Kahsnitz 1992), die beide für
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Arbeitsorientierte Studiengänge
eine Studiengangskonzeption mit zwei Teilstudiengängen, nämlich Erwerbsarbeit und Eigenarbeit, plädieren. Ziefuß hebt den - auch in den meisten Arbeitslehrekonzeptionen der Bundesländer - fehlenden - gemeinsamen Ausgangspunkt "Arbeit" für alle Analysen im interdependenten Zusammenhang von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft hervor. Er konkretisiert seinen Vorschlag für ein achtsemestriges, 80 Semesterwochenstunden umfassendes Zwei-Fach-Studium dann im Hinblick auf die Teilstudiengänge "Pädagogik der Arbeitsund Berufswissenschaften" und "Pädagogik der Hausarbeitswissenschaften". Im Unterschied dazu bemängelt Kahsnitz im GATWUVorschlag vor allem die fehlende Schlüssigkeit und starke Anlehnung an die Gegenstandsbereiche der KMK-Materialien und konzentriert sich auf die strukturelle Differenz von Erwerbsarbeit und Eigenarbeit, wobei für ihn die Erwerbsarbeit als Lehr- und Forschungsgegenstand eindeutig im Vordergrund steht. Beide Vorschläge - sowohl derjenige von Kahsnitz wie derjenige von Ziefuß - gehen aber ebenso wie der GATWU-Vorschlag nicht explizit auf einen dritten Arbeitsbereich ein, der angesichts wachsender gesellschaftlicher Problemlagen sowie freiwilliger oder erzwungener Freizeit zunehmende Bedeutung erlangt. Es ist der Bereich "öffentlicher Arbeit", der dem wachsenden Interesse vor allem der Jugendlichen am Arbeitsinhalt, an sinnvoller, gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit entgegenkommt und der weder in der betrieblichen Erwerbsarbeit noch in der Eigenarbeit, als wesentlich individuell bestimmter aufgeht. Manche Autoren denken hier an die "öffentliche Arbeit" in Politik und Verbänden (vgl. EK "Bildung 2000", 1990, S. 132), andere nennen hier "soziale Arbeit" oder "Gesellschaftsarbeit" und verstehen darunter Nachbarschaftshilfe, Stadtteilarbeit sowie politische und karitative Tätigkeiten (vgl. Bojanowski u.a. 1991, S. 23; -> Einfuhrung). Entscheidend ist, daß angesichts anhaltender struktureller Erwerbslosigkeit auf der einen Seite und wachsender sozialer und ökologischer Belastungen auf der anderen Seite bereits im Lehramtsstudium Arbeitslehre nicht mehr allein auf die ökonomisierte Erwerbsarbeit oder private Eigenarbeit orientiert wird. Die Reform oder besser Rückführung der wohlstandsorientierten Marktwirtschaft auf ein sozial- und umweltverträgliches Maß setzt arbeitsinhaltlich interessierte, über die Probleme der gesamten Berufs- und Arbeitswelt gut informierte und politisch engagierte Menschen voraus.
Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
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Arbeitsorientierte Studiengänge
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Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
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Arbeitsorientierte Studiengänge
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Lehrerausbildung für das Lernfeld Arbeitslehre
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MEIER, Bernd (Hrsg.) (1993a): Lehrerbildung im Lernfeld Arbeitslehre. Hamburg 1993. ZIEFUSS, Horst (Hrsg.) (1992a): Arbeitslehre. Eine Bildungsidee im Wandel. Arbeitslehre zwischen Arbeit und Freizeit, neuen Technologien und Technikfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit und Ökologie. Seelze-Velber.
9.3
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern Walter Georg
9.3.1
Heterogenität der Handlungsfelder und Ausbildungsgänge
817
9.3.2
Gewerbelehrerbildung zwischen Bürokratie und Professionalisierung
819
9.3.3
Handelslehrer
823
9.3.4
Lehrer fiir Fachpraxis
825
9.3.5
Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Integrationsfach
9.3.6
in der Ausbildung der Lehrer an beruflichen Schulen
826
Betriebliches Ausbildungspersonal
832
Zitierte Literatur
836
Weiterfuhrende Literatur
838
9.3.1
Heterogenität dungsgänge
der
Handlungsfelder
und
Ausbil-
Mit der institutionell-organisatorischen Trennung der Sekundarstufe II in ein "allgemeinbildendes" (gymnasiale Oberstufe) und ein "berufsbildendes" Schul- und Ausbildungswesen und der Vielfalt der Ausbildungsgänge und -institutionen im Berufsbildungssystem korrespondieren die Besonderheiten in der Ausbildung von Gymnasiallehrern, Berufsschullehrern und Ausbildern. Während man im allgemeinbildenden Schulwesen in grober Rasterung dem jeweiligen Schultyp den entsprechenden Lehrertyp und dem jeweiligen Schulfach den Lehrer mit der entsprechenden Lehrbefähigung zuordnen kann, gelten beide Koordinationen im Bereich der berufsbildenden Schultypen nur sehr eingeschränkt. Die weit verbreitete (inoffizielle) Bezeichnung "Berufsschullehrer" ist insofern mißverständlich, als sie nur einen Teil des tatsächlichen Tätigkeitsfeldes berücksichtigt. Lehrer an beruflichen Schulen unterrichten in der Berufsschule, dem Berufsgrundbildungsjahr, der Berufsfachschule, der Berufsaufbauschule, der Fachoberschule, der Fachschule, dem Beruflichen Gym-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
nasium und weiteren Formen des beruflichen Schulwesens. Damit verbunden ist eine weit gespannte Heterogenität der Schüler nach Alter, sozialer Herkunft, angestrebtem Bildungsabschluß und der jeweiligen außerschulischen Lebens-, Ausbildungs- und Arbeitssituation. In Abgrenzung zur Ausbildung des Gymnasiallehrers, in deren Mittelpunkt das fachwissenschaftliche Studium, ergänzt um ein pädagogisches Begleitstudium, steht und in der noch immer kaum Bezüge zur beruflichen oder außerberuflichen Arbeitswelt hergestellt werden, ist die Bezugnahme auf die Berufsarbeit das gemeinsame Kennzeichen aller Ausbildungsgänge für Lehrer an beruflichen Schulen. Diese Verpflichtung auf eine arbeitsweltorientierte Berufsschullehrerausbildung formulierte der Deutsche Bildungsrat im "Strukturplan für das Bildungswesen": "Ein Lehrer an beruflichen Schulen muß die Arbeitswelt als die Welt seiner Schüler und insbesondere als Ausbildungsstätte der Auszubildenden kennen und die Verflechtung eines speziellen Arbeitsbereiches mit der Gesamtwirtschaft sehen. Darüber hinaus muß er in einem Spezialbereich die Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen, die für die Ausübung seines Berufes notwendig sind. Fachpraktische Erfahrung wird also auch in Zukunft zum Studium für das Lehramt an beruflichen Schulen gehören." (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 243). Auch die KMK-"Rahmenvereinbarung über die Ausbildung und Prüfung für das Lehramt mit Schwerpunkt Sekundarstufe II - Lehrbefähigung für Fachrichtungen des beruflichen Schulwesens" von 1973 und die jüngste Rahmenvereinbarung vom 12.05.1995 sehen neben dem fachwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Studium eine fachpraktische Ausbildung vor und verlangen, im Studium die arbeitswissenschaftlichen, betriebspsychologischen und betriebssoziologischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Trotz gewisser Vereinheitlichungen sind die Ausbildungsgänge, Abschlüsse, Amtsbezeichnungen und Laufbahnen der Berufsschullehrer zwischen den einzelnen Bundesländern noch immer sehr unterschiedlich. Das gilt auch für die neuen Bundesländer, die sich in ihren Konzepten zur Neugestaltung der Lehrerausbildung an unterschiedlichen Modellen der alten Bundesländer orientieren. Die Berufsschullehrer an den betrieblichen und kommunalen Berufsschulen der DDR hatten in der Regel eine einphasige universitäre Lehrerbildung zum Diplom-IngenieurPädagogen (in der jeweiligen Fachrich-
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
819
tung) bzw. zum Diplom-Ökonompädagogen oder Diplom-Agrarpädagogen abgeschlossen. In grober Gliederung lassen sich drei Grundtypen von Lehrern an beruflichen Schulen unterscheiden: Gewerbelehrer (einschließlich Landwirtschafts- und Hauswirtschaftslehrer), Handelslehrer und Lehrer für Fachpraxis. Weitaus vielfaltiger noch sind die Qualifikationsprofile, Tätigkeitsfelder und Positionen der für die Ausbildung Verantwortlichen im Lernort Betrieb; sie unterscheiden sich wesentlich je nach Betriebsgröße, Wirtschaftszweig, Berufsbild und betrieblicher Ausbildungs- und Arbeitsorganisation.
9.3.2
Gewerbelehrerbildung zwischen Bürokratie und Professionalisierung
Der Zusammenhang zwischen Lehramtsdifferenzierung, Lehrerbildungspolitik und Professionalisierungsstrategien läßt sich seit den Anfängen eines differenzierten Schulwesens nachvollziehen. Seitdem nämlich das Schulwesen mit zunehmender Hierarchisierung nicht nur Qualifizierungs- und Sozialisationsfiinktionen übernahm, sondern verstärkt auch Selektions- und Statuszuweisungsfunktionen, intensivierte auch die staatliche Verwaltung ihre Bemühungen, die Vorbildung der Kandidaten für öffentliche Ämter zu standardisieren und zu kontrollieren. Die mit der Einrichtung einer speziellen Zulassungsprüfung "pro facúltate docendi" 1860 beginnende Professionalisierung der Gymnasiallehrer und deren weitere Stationen mit der Fortentwicklung akademischer Prüfungsordnungen, der Einrichtung des Vorbereitungsdienstes und der Gründung von Philologenverbänden bildeten das Muster für alle übrigen seit Ende des 18. Jahrhunderts seminaristisch ausgebildeten Lehrergruppen. Der Mangel eines anderen Maßstabs für die Angemessenheit der besoldungs- und statusrechtlichen Eingruppierung der verschiedenen Lehrergruppen ließ die Unterscheidung in akademische und nichtakademische Ausbildungsformen zum zentralen Orientierungspunkt der Professionalisierungspolitik der Lehrerverbände wie auch der Abwehrstrategien staatlicher Verwaltungspolitik werden. In der Interessenauseinandersetzung um eine angemessene Ausbildung der Lehrer an beruflichen Schulen steht deshalb seit über 150 Jahren weniger das inhalt-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
liehe Konzept als vielmehr die formale Qualität des Ausbildungsganges. Während die Handelslehrerausbildung von Beginn an zu den zentralen Aufgaben der Handelshochschulen gehörte und sich deshalb in strenger Parallelität zu den übrigen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen im Zuge der Integration bzw. Umwandlung der Handelshochschulen in Universitäten zum vollakademischen Studiengang entwickeln konnte, verharrte die Gewerbelehrerausbildung viele Jahrzehnte auf dem seminaristischen Niveau, obwohl bereits 1834 spezielle Ausbildungsgänge für Gewerbelehrer an der "Polytechnischen Schule", der späteren Technischen Hochschule Karlsruhe, eingerichtet worden waren. Aber auch nach der in den sechziger Jahren erfolgten Verlagerung der Gewerbelehrerausbildung von den "Berufspädagogischen Instituten" an die Universitäten blieben die Ausbildungsbedingungen außerordentlich heterogen (vgl. Georg/Lauterbach 1979; Lipsmeier 1992). Inzwischen einheitliches Merkmal aller Ausbildungsgänge für die Kategorie der "Theorielehrer" an beruflichen Schulen ist ihre Einteilung in zwei Phasen, das Studium (von in der Regel mindestens acht Semestern) und das Referendariat (von unterschiedlich 18 bis 24 Monaten). Im übrigen wechseln die Ausbildungsbedingungen je nach Bundesland, Hochschule und Fachrichtung, ohne daß diese Unterschiede in irgendeiner Weise mit dem Tätigkeitsfeld in Verbindung zu bringen sind. Unterschiede lassen sich ausmachen in den schulischen und berufspraktischen Zulassungsvoraussetzungen, in der Dauer und Gliederung der Ausbildungszeit, der Anrechnung vorangegangener Studien, der Gewichtung der Studienanteile, der inhaltlichen Schwerpunkte innerhalb der Studiengebiete, der formalen Struktur und der inhaltlichen Ausrichtung der Prüfungen. Die offiziellen Begründungen und die tatsächlichen Hintergründe dieser Differenzen sowie ihrer Veränderungen im Zeitverlauf sind vielfältig, mit sachlichen Notwendigkeiten lassen sie sich selten erklären. Zwar gab es in der Folgezeit der KMK-Rahmenvereinbarung von 1973 in mehreren Bundesländern deutliche Tendenzen zur Annäherung an die Inhalte der Vereinbarung, d.h. Bindung der Lehrbefähigung an zwei Staatsprüfungen, die formale Gleichsetzung von beruflicher Fachrichtung und Unterrichtsfach, die Aufteilung der Studienanteile Erziehungswissenschaften, berufliche Fachrichtung und
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
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zweites Fach im Verhältnis 1:2:1, die Auflage einer mindestens einjährigen fachpraktischen Ausbildung und die Einteilung der Lehramtsstudiengänge nach 13 an Berufsfeldern orientierten Fachrichtungen. Insgesamt jedoch haben sich in den letzten Jahren die Divergenzen eher verstärkt als abgeschwächt. Neben den historisch gewachsenen Besonderheiten der verschiedenen Ausbildungsgänge und den sich aus der fachwissenschaftlichen Einbindung ergebenden Unterschiede sind es vor allem die von der Kultusbürokratie in Reaktion auf tatsächliche, vermeintliche oder prognostizierte Bedarfs- und Angebotslagen auf dem Lehrerarbeitsmarkt getroffenen Entscheidungen, von denen die inhaltliche und organisatorische Studienstruktur bestimmt wird. Nicht Qualifikationsdefizite und pädagogische Überlegungen zu ihrer Überwindung haben in der Vergangenheit staatliches Handeln gelenkt, sondern vor allem politisch-ökonomische Kalküle. Die legislativen und administrativen Maßnahmen zur Veränderung von Studien- und Ausbildungsgängen, Anrechnungen und Berechtigungen sind in erster Linie auf die Beeinflussung der Marktsituation für Berufsschullehrer gerichtet und werden ihrerseits von eben dieser Marktsituation bestimmt. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezession und verbreiteter Arbeitslosigkeit legitimierte der Staat bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren Besoldungskürzungen über die Kürzung der Ausbildungszeiten und die Senkung des formalen Ausbildungsniveaus. Umgekehrt war es in den sechziger Jahren vor allem der extreme Lehrermangel, der die Statusaufwertung und Akademisierung beförderte. Am augenscheinlichsten aber wurde die Bedarfsorientierung der Lehrerbildungspolitik an den in der Vergangenheit wechselnden Modalitäten zur Anrechnung von Studienleistungen bei Fachhochschulabsolventen, die über die Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme des Studiums an einer wissenschaftlichen Hochschule ein Lehramt an beruflichen Schulen in ihrer Fachrichtung anstreben. Nur in Ausnahmefällen waren mit der besonderen Anrechnungsform auch Ansprüche an eine curricular begründete Studienkonzeption und damit wenigstens der Versuch hochschuldidaktischer Legitimation verbunden. Im übrigen richtete sich die Anrechnungspraxis nach der jeweiligen Bedarfseinschätzung. Das Gleiche gilt für sogenannte Sonderaktionen wie etwa die Einstellung von Diplom-Inhabern ohne pädagogisches Studium. Diese Maßnahmen verweisen
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Arbeitsorientierte Studiengänge
nicht nur auf die relative Geringschätzung der spezifisch-berufsqualifizierenden Funktion der besonderen Strukturelemente eines Lehramtsstudiums, insbesondere des erziehungswissenschaftlichen Studienanteils, sondern generell auf eine staatliche Lehrerbildungspolitik, die über eine weitgehend prozyklische Veränderung von Qualitätsstandards die Quantitäten auf dem Lehrerarbeitsmarkt zu steuern versucht. Die Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt für Berufsschullehrer werden verstärkt durch die extrem geringe Polyvalenz der Abschlußprüfung in Form des Staatsexamens, die sowohl ein Ausweichen auf alternative schulexterne Teilarbeitsmärkte als auch eine schulinterne Umsetzung erschwert. Die bildungspolitischen Überlegungen richten sich deshalb wieder verstärkt auf die Aufhebung dieser eindimensionalen Ausbildung durch die Suche nach polyvalenter verwertbaren Abschlüssen, z.B. die Beibehaltung oder Wiedereinführung von Diplomstudiengängen bzw. die Koppelung des Diplomgrades mit dem Staatsexamen (vgl. Stellungnahmen in Bader/Weber 1994; Lipsmeier 1991; ->• 10.1). Nach der jüngsten KMK-Vereinbarung kann aufgrund der Ersten Staatsprüfung ein Diplomgrad verliehen werden. Bisher hat die Einrichtung entsprechender Diplom-Studiengänge die Attraktivität eines Berufsschullehrerstudiums jedoch kaum erhöht. Vielmehr scheint das Interesse an einem solchen Studium ein Reflex auf die Arbeitsmarktsituation von Ingenieuren zu sein; die Studentenzahlen in den Gewerbelehrerstudiengängen steigen deutlich mit der Beschränkung der Arbeitsmarktperspektiven von Ingenieuren, während sie umgekehrt bei einem großen Ingenieurbedarf drastisch sinken. "Eine eigene, in der Profession und der Qualität des Hochschulstudiums wurzelnde Attraktivität wird offenbar von Seiten der Berufsschullehrer-Studenten ihrem Studium nicht zugemessen" (Rauner 1994, S. 286). Die weitgehend prozyklisch ausgerichtete Lehrerbildungspolitik, die die Ausbildungsstrukturen zum Objekt kultusbürokratischer Entscheidungen in jeweiliger Reaktion auf Marktsituationen macht, erhöht zwar das Handlungs- und Reaktionspotential staatlicher Verwaltungspolitik, begrenzt aber zugleich die Chancen der Entwicklung und Realisierung pädagogisch überzeugender Konzepte im Rahmen von Hochschul- und Studienreform. Sie läßt auch erkennen, daß der Professionalisierungsprozeß der Lehrer an beruflichen Schulen kein abgeschlossenes Kapitel ist, sondern eine höchst ak-
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
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tuelle Aufgabe bleibt. Das gilt um so mehr, als die vom Wissenschaftsrat in Reaktion auf den Lehrermangel an beruflichen Schulen kürzlich angestellten Überlegungen zu einer Verlagerung des Berufsschullehrerstudiums von der Universität an die Fachhochschule erneut heftige Kontroversen um ein Studienkonzept ausgelöst hat (vgl. die Beiträge in Bader/Weber 1994; Bader/Pätzold 1995). Nach wie vor ist die Qualifizierung des Gewerbelehrers "eine ungelöste Aufgabe" (Stratmann 1988).
9.3.3
Handelslehrer
Im Vergleich zu anderen Lehrergruppen an beruflichen Schulen verlief der Professionalisierungsprozeß der Lehrer an kaufmännischen Schulen (Handelslehrer) auffallend kontinuierlich. Eine wesentliche Ursache dafür liegt in der Startphase der Handelslehrerausbildung, die zeitlich mit den Anfängen einer akademischen "Kaufmanns"Ausbildung zusammenfiel. Der Anspruch, ein eigenständiges - vom weiterfuhrenden allgemeinen wie vom übrigen beruflichen Schulwesen gleichermaßen getrenntes - kaufmännisches Schulwesen zu installieren, wurde mit der Stufung Kaufmännische Fortbildungsschule, Handelsschule, Wirtschaftsoberschule (ab 1925), Handelshochschule schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht (vgl. Georg/Kunze 1981). Im Gegensatz zum gewerblich-technischen Bereich, wo der berufspraktischen Vermittlung motorischer Fertigkeiten als Voraussetzung der Brauchbarkeit fiir die Produktion in Handwerk und Industrie hohe Priorität zugeschrieben wurde, begünstigten die wirtschaftlichen Konzentrationserscheinungen die Nachfrage nach Qualifikationen, die konzentriert und kostengünstig (auch) in Schulen vermittelt werden konnten. Krönung dieses gestuften kaufmännischen Schulwesens waren die Handelshochschulen, deren erste 1898 in Leipzig gegründet wurde und von Beginn an die Handelslehrerausbildung integrierte, allerdings mit der Maßgabe, daß der Ausbildungsgang streng am Bild der Fachwissenschaften orientiert war und die Frage der besonderen Qualifikation als Lehrer weitgehend vernachlässigte. Auch in den späteren Stationen einer Konsolidierung der Handelslehrerausbildung und nach der frühzeitigen Umwandlung bzw. Integration der Handelshochschulen in Universitäten änderte sich am ursprünglichen Konzept wenig; kennzeichnend blieb die weitgehende Iden-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
tität des Studiengangs des Diplont-Handelslehrers mit dem des Diplom-Kaufmanns. Damit sind die Absolventen nicht nur auf Tätigkeiten im staatlichen Schuldienst angewiesen, vielmehr übernehmen sie zu einem erheblichen Anteil Tätigkeiten im Bereich des betrieblichen Ausbildungs- und Personalwesens, aber auch des kaufmännischen Managements. Mit Verweis auf die größere Polyvalenz des Diploms im Vergleich zum Staatsexamen kann sich auch die Kultusbürokratie leichter der Erwartungshaltung entziehen, die Absolventen entsprechender Studiengänge in den Schuldienst zu übernehmen. Während bei Studiengängen mit Staatsexamen die Kultusbürokratie unmittelbar in die Ausbildungsgestaltung eingreift, bleibt das Recht zur Studiengestaltung von Diplomstudiengängen bei der Universität. Mit der KMK-Rahmenvereinbarung von 1973, die sich auch auf Lehramtsstudiengänge mit wirtschaftswissenschaftlicher Fachrichtung erstreckte, waren ursprünglich auch eine durchgreifende strukturelle Reform der Handelslehrerausbildung und eine Angleichung aller Lehramtsstudiengänge für die Sekundarstufe II intendiert. Ziel der Rahmenvereinbarung war die Ablösung eines auf Schularten bezogenen Lehrertypus durch einen auf Schulstufen bezogenen Lehrer, dessen Ausbildung - zumindest formal - nach einheitlichen Kriterien gestaltet wird. Die durchgängige Realisierung des Konzepts des Stufenlehrers hätte die "Liquidierung einer auf spezielle Ziele bezogenen Handelslehrerausbildung" (Zabeck 1976), die Subsumtion der Fachwissenschaften unter die einheitlich strukturierten "Fachrichtungen des beruflichen Schulwesens" und die formale Egalisierung der Berufsschullehrerausbildung mit der Gymnasiallehrerausbildung bedeutet. Tatsächlich aber blieben die Studiengänge für Diplom-Handelslehrer davon weitgehend unberührt. Es kamen lediglich weitere Studiengänge mit der beruflichen Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften hinzu, die mit einem Staatsexamen abschließen. Ob und inwieweit die Prüfung zum Diplom-Handelslehrer dem ersten Staatsexamen gleichgestellt wird, bleibt den jeweiligen Regelungen der einzelnen Bundesländer überlassen.
Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
9.3.4
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Lehrer für Fachpraxis
Die horizontale Differenzierung der "Berufsschullehrer" nach Fachrichtungen wird in den meisten Bundesländern noch ergänzt durch die vertikale Differenzierung in Lehrer für den berufstheoretischen Unterricht einerseits und Lehrer für Fachpraxis andererseits. "Lehrer für Fachpraxis" (in einigen Bundesländern auch "Fachlehrer", "Werkstattlehrer" u.a.) erteilen den berufspraktischen Unterricht in Schulwerkstätten, Übungsfirmen, Schulküchen usw. Dieser berufspraktische Unterricht kann in beruflichen Teilzeitschulen der Kompensation betrieblicher Ausbildungslücken und der Ergänzung und Veranschaulichung des berufstheoretischen Unterrichts dienen. Größere Bedeutung kommt ihm in den beruflichen Vollzeitschulen zu, wo die entsprechenden Werkstätten den kompletten berufspraktischen Ausbildungsanteil übernehmen. Die Aufgaben des Fachpraxislehrers liegen in der Vermittlung von Fertigkeiten für die praktische Grund- und Fachausbildung in den verschiedenen Ausbildungsgängen beruflicher Schulen und in der Mitwirkung bei der Verbreitung und Durchführung von Laborversuchen und Übungen. Die vertikale Hierarchisierung der Lehrer an beruflichen Schulen folgt also nicht etwa der vertikalen Struktur des beruflichen Schulwesens, sondern der Unterscheidung zwischen den Unterrichtstypen "Fachtheorie" und "Fachpraxis". Mit der 1973 verabschiedeten KMK-"Rahmenordnung für die Ausbildung und Prüfling der Lehrer für Fachpraxis im beruflichen Schulwesen" einerseits und der im selben Jahr beschlossenen KMK-Rahmenvereinbarung für die Ausbildung der Theorielehrer andererseits wurde eine vertikale Zweiteilung festgeschrieben, die sich in Ansätzen bereits in den Anfangen des beruflichen Schulwesens abzeichnete. Sie ist nicht zuletzt das Resultat des Professionalisierungsprozesses der Lehrer für den berufstheoretischen Unterricht, in dessen Verlauf der Kampf um die Akademisierung auch die Aussonderung "rangniederer" Unterrichtsfünktionen aus dem Berufsbild und deren Zuordnung zu einem formal geringer qualifizierten und mit geringerem Status ausgestatteten Lehrer bedeutete. Die Rahmenvereinbarung sieht eine 18monatige theoretische und schulpraktische Ausbildung in einem Fachseminar und als Zugangsvoraussetzungen den mittleren Bildungsabschluß, eine abgeschlossene Berufsausbildung, die Meister- bzw. Technikerprüfling und
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Arbeitsorientierte Studiengänge
eine mindestens zweijährige Berufstätigkeit vor. Die Regelungen in den einzelnen Bundesländern weichen hiervon zum Teil erheblich ab. Die Spaltung beruflicher Qualifizierung in die Vermittlung von Fachtheorie und Fachpraxis und die Etablierung darauf bezogener, hierarchisch getrennter Lehrerlaufbahnen waren immer wieder Anlaß der Kritik und kontroverser Debatten (vgl. Rauner 1980; Lipsmeier 1979; Gerds/Linke/Passe-Tietjen 1989; Gerds 1991). Die allseits betonte Unteilbarkeit von Theorie und Praxis in beruflichen Schulen erscheint schwer vereinbar mit der Institutionalisierung zweier Lehrertypen, deren fachliche Qualifizierung und berufliche Kompetenzen sich zunehmend auseinanderentwickeln. Die ohnehin im Ausbildungsgang des "Theorielehrers" angelegte Distanz gegenüber der betrieblichen Arbeitswelt entfernen diesen immer mehr von den Sozialisationsbedingungen seiner Schüler. Mit der getrennten Vermittlung handlungsferner theoretischer Kenntnisse und theoriearmer Praxiskompetenz droht der Prozeß beruflicher Qualifizierung immer weniger zum Aufbau komplexer beruflicher Handlungsfähigkeit beizutragen. Gefordert wird deshalb eine "Reintegration der geteilten Lernprozesse, die glaubwürdig durch einen Lehrer für Theorie und Praxis hergestellt wird" (Gerds 1991, S. 733).
9.3.5
Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Integrationsfach in der Ausbildung der Lehrer an beruflichen Schulen
Mit der Institutionalisierung spezifischer akademischer Studiengänge verschafften sich die Lehrer des Theorieunterrichts an beruflichen Schulen die wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung eines professionellen Selbstverständnisses und für die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Berufsgruppen. Als Legitimation für die Akademisierung diente notwendigerweise der Verweis auf die handlungsanleitende Funktion von Wissenschaft für die Ausübung des Lehrerberufs. Im Gegensatz zu solchen Professionen wie denen des Juristen oder Mediziners ist die Frage nach der Berufswissenschaft des Berufsschullehrers jedoch schwer zu beantworten. Ist es die jeweilige Fachwissenschaft oder die Erziehungswissenschaft in ihrer besonderen Ausprägung als Berufs- und Wirtschaftspädagogik,
Arbeitsorientiening in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
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die fiir die Handlungsorientierung des Lehrers zentrale Bedeutung hat? Mit dem jeweiligen Ausbildungskonzept zum Lehrer an beruflichen Schulen wechseln auch die Leitbilder, deren Extreme mit den Polen Fachwissenschaftler einerseits und Pädagoge andererseits die Situation nur unvollkommen kennzeichnen. Die Professionalisierungsbemühungen der Berufsschullehrer und ihrer Verbände orientierten sich in enger Anlehnung an die Leitbilder des Diplom-Ingenieurs (bzw. des Diplom-Kaufmanns) oder auch des Gymnasiallehrers an den fachwissenschaftlichen Inhalten der Studiengänge. Diese fragwürdigen Leitbilder behindern bis heute eine stärkere Handlungs- und Arbeitsorientierung in der Berufsschullehrerausbildung in mehrfacher Hinsicht: Da die an beruflichen Schulen unterrichteten Inhalte kein reduziertes Abbild entsprechender Hochschuldisziplinen sind, korrespondiert die fachliche Struktur der Studiengänge nur wenig mit den Berufsfeldern, Fachrichtungen und Fächern der beruflichen Schulen; auf die Ebene der Arbeit und Ausbildung von Facharbeitern und anderen Fachkräften lassen sich die akademischen Inhalte der Fachwissenschaften kaum beziehen. Das geforderte einjährige Betriebspraktikum, das vor und während des Studiums abgeleistet werden kann, vermittelt bestenfalls isolierte Eindrücke, steht im übrigen aber in keinem Zusammenhang mit den Inhalten des Studiums. Soweit die Studiengänge unterrichtspraktische Ausbildungsanteile vorsehen (und sie nicht ganz dem Referendariat überlassen), werden diese nur selten erziehungswissenschaftlich begleitet und aufbereitet. Seit der Akademisierung hatte das erziehungswissenschaftliche Studienangebot wie in der Gymnasiallehrerausbildung nur akzidentielle Bedeutung. Hinzu kam, daß die akademische Pädagogik sich auf eine kulturphilosophisch fundierte, normative Reflexion beschränkte, die einen idealistischen Bildungsbegriff zum Maßstab ihrer Auseinandersetzung mit Phänomenen pädagogischen Handelns erhob. Der Auffassung, daß "wahre Menschenbildung" nur durch zweckfreie Allgemeinbildung möglich sei, setzten die Vertreter der klassischen Berufsbildungstheorie zwar die These entgegen, daß gerade der Beruf wesentliches Mittel und Ziel menschlicher Bildung sei. Aber in diesen Ansätzen wurden Berufsbildung und Berufstätigkeit - ohne Bezug zu den Realitäten industrieller Ausbildungs- und Arbeitsprozesse - zum Medium persönlicher Selbstverwirklichung
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verklärt. Der fehlende Zugang der Berufsbildungstheorie zur Ausbildungs- und Arbeitspraxis verhinderte die Aufklärung über die Interessen und Abhängigkeiten, die diese Wirklichkeit bestimmten. Andererseits aber entfaltete die Berufsbildungstheorie eine erstaunliche Wirksamkeit: Die allmähliche Durchsetzung des dualen Systems der Berufsausbildung als zumindest teilautonome Vermittlungsinstanz zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem ist nicht zuletzt auch das Resultat seiner ideologischen Legitimation. Die Übernahme der Berufsidee in die schrittweise institutionalisierte und systematisierte Facharbeiterqualifizierung war die entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung eines besonderen Berufsbewußtseins von Facharbeitern mit spezifischen Qualitäts-, Kooperations- und Karriereansprüchen. Industrielle Lohnarbeit war nicht mehr nur Mittel der Reproduktion, sondern in ihrer beruflichen Form bot Facharbeit Möglichkeiten zur Identifizierung mit Arbeitsaufgaben und zur Realisierung subjektiver Interessen. Die noch immer gültige Dominanz berufsfachlicher Arbeitsmärkte in Deutschland verweist auf die hohe kulturelle und faktische Bedeutsamkeit einer an den Berufsbildungsabschluß gebundenen beruflichen Identität. Der im Anschluß an die Akademisierung der Gewerbelehrerausbildung in den sechziger Jahren an den Universitäten forcierte Ausbau der Berufs- und Wirtschaftpädagogik und die Einrichtung außeruniversitärer Institute für Berufsbildungsforschung (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit; Bundesinstitut für Berufsbildung) waren verbunden mit einer allmählichen Ablösung der traditionellen Orientierung am kulturphilosophisch-geisteswissenschaftlichen Paradigma zugunsten einer verstärkten Öffnung der Disziplin gegenüber der Methodologie der empirischen Sozialwissenschaft (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft 1990). Diese Entwicklung setzte eine erhebliche Ausweitung des Problemhorizonts der Berufsbildungsforschung wie auch der berufs- und wirtschaftspädagogischen Theoriediskussion in Gang. An die Stelle der unter Ideologieverdacht geratenen Begriffe "Bildung" und "Beruf' trat zunehmend der Begriff der "Qualifikation": Er steht im Kontext von technisch-organisatorischem Wandel und Arbeitsanforderungen einerseits und individuellen Arbeits- und Lernvoraussetzungen andererseits und stellt damit auch theoretisch einen Zusammenhang her, den es empirisch immer
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schon gab. Das bedeutet auch, die berufspädagogischen Institutionen, Handlungszusammenhänge und Ideen als Bestandteil gesellschaftlicher Strukturentwicklungen und historischer Prozesse zu begreifen, sie nicht als quasi-naturgegebene Voraussetzungen, sondern als gemacht und damit als veränderbar zu verstehen. Die Erforschung der Arbeitsprozesse wird für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik nun zur Voraussetzung für die Planung und Gestaltung von Ausbildung als schulischem und betrieblichem Lernprozeß. Neben den geplanten geraten auch die ungeplanten Effekte von Lernen und Arbeiten, die berufliche Sozialisation, in das Blickfeld berufspädagogischer Forschung. In Kooperation mit der Arbeitsmarktforschung werden verstärkt die Übergangsprozesse von der Schule in die Ausbildung und in die Beschäftigung untersucht, die beruflichen Mobilitätsprozesse, die Ursachen und Risiken von Arbeitslosigkeit, die Strukturen von Arbeitsmarkt und betrieblichen Personalrekrutierungsmustern, die Struktur der Arbeitskräfte und ihres Erwerbsverhaltens, die Veränderungen von Berufstätigkeiten und Qualifikationanforderungen. Eine Vielzahl von Modellversuchen und Projekten zum schulischen und betrieblichen Lernen hat die Nachfrage nach Ergebnissen angewandter Berufsbildungsforschung verstärkt und zum Ausbau berufspädagogischer Forschungskapazitäten beigetragen. Bei aller Unterschiedlichkeit in den Zielsetzungen und theoretischen Ausgangspositionen geht es der berufspädagogischen Forschung nicht in erster Linie um eine Steigerung der Effizienz und Effektivität schulischer und betrieblicher Lernprozesse, sondern um die Aufklärung der Bedingungen, unter denen dieses Lernen stattfindet. Dazu gehört auch die Frage, inwieweit der Beruf noch eine angemessene Kategorie zur Organisation von Ausbildung und Arbeit darstellt. Da ja berufliche Qualifizierungsprozesse auf die Erzeugung "marktrelevanter Arbeitsfähigkeiten" gerichtet sind (vgl. Beck/Brater/Daheim 1980), werden in diesen Prozessen solche menschlichen Potentiale eher nicht gefordert, die nicht vermarktbar erscheinen. Die Konzentration auf die im Berufsbild kodifizierten ökonomisch nutzbaren Qualifikationen läßt andere Kräfte und Fähigkeiten verkümmern, oft wird deren Entfaltung sogar behindert. Damit ist die Ambivalenz einer am Berufszuschnitt orientierten Qualifizierung angedeutet: Einerseits liefert der Beruf die Grundlage persönlicher Identifizierung und sozialer Orientierung, anderer-
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seits beschränkt er immer auch die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten. Insofern ist nicht verwunderlich, daß das Festhalten am Beruf als Qualifizierungs- und Arbeitskräftemuster in der Berufsund Wirtschaftspädagogik seit langem kontrovers diskutiert wird (vgl. dazu Georg 1993). Unstrittig ist, daß sich der Stellenwert des Berufs als Sinnbezug von Lernprozessen verändert. Die zunehmende Labilität der Übergänge vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem und die wachsende Diskontinuität von Erwerbsbiographien lassen den Aufbau berufsbezogener Identitäten und Karriereperspektiven immer weniger zu. Wenn sich Arbeit zunehmend aus den traditionalen beruflichen Kollektiven löst, dann verliert der Beruf seine Strukturierungsfunktion für die individuelle Lebensführung. Damit verliert auch das - ja immer auf eine gewisse Kontinuität angelegte - Berufskonzept als Sinnbezug von Ausbildungsgängen an Legitimität. Immer neue Statuspassagen erfordern neue Orientierungen und Kompetenzen; arbeitsbezogenes Lernen wird als permanentes Erfordernis in die Erwerbsbiographie verlagert. Dieser als "Individualisierung" beschriebene Prozeß der Auflösung von Normalbiographien und der traditionellen Sicherheiten und Schutzmechanismen industriegesellschaftlicher Lebensformen stellt neue Anforderungen insbesondere auch an die Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Die in der berufspädagogischen Diskussion gängigen Schlagworte wie Handlungs-, Erfahrungs-, Situations- oder Subjektorientierung, Schlüsselqualifikationen oder Ganzheitlichkeit verweisen darauf, daß an die Stelle des Berufs zunehmend die Arbeit als zentrale Kategorie menschlicher Entfaltung und damit als pädagogische Kategorie in den Vordergrund rückt (-> 9.2.3). Eine solche stärker arbeitsorientierte Berufspädagogik geht davon aus, daß sich arbeitsbezogene Lernprozesse nicht mehr nur mit einem wie auch immer definierten gesellschaftlichen Qualifikationsbedarf begründen lassen, sondern daß auch umgekehrt die subjektiven Qualitätsansprüche an Arbeit und Beruf über die Formen der Nutzung von Arbeitsvermögen mitentscheiden. Diese Ansprüche zu stärken und ihnen Geltung zu verschaffen, bedeutet, den Lernenden nicht nur berufsspezifische fachliche Kompetenzen zu vermitteln, sondern von den Entwicklungsbedürfnissen und -möglichkeiten der Individuen auszugehen und die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des Subjekts zu stärken. Angesichts unschärfer werdender Zuordnungen
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von Ausbildungsabschlüssen und Erwerbskarrieren erhalten außerberufliche arbeitsbezogene Kompetenzen ein zunehmendes Gewicht. Im Hinblick auf die Gestaltung schulischen und betrieblichen Lernens bedeutet das insbesondere die Ermöglichung und Unterstützung selbstgesteuerter Lernprozesse. Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ableiten, daß die pädagogische Fähigkeit zur Initiierung und Begleitung von Selbstlernprozessen (->• 7.3.4) einen (Selbst-)Erfahrungsprozeß in der Lehrerausbildung voraussetzt, in dem die Aneignung fachlichen und pädagogischen Wissens verbunden wird mit autobiographischer Reflexion und dem Bemühen um die Überwindung verinnerlichter Muster fremdgesteuerten Lernens (vgl. Arnold 1992). Die organisatorischen Strukturen des Lehramtsstudiums lassen ein solches Postulat jedoch wenig realistisch erscheinen. Die Dominanz der Fachwissenschaften und deren je spezifisches Erkenntnis- und Verwertungsinteresse prägen wesentlich das Selbstverständnis der Lehramtsstudenten (vgl. Giesbrecht 1981); sie erschweren gleichermaßen den Zugang zum erziehungswissenschaftlichen Studienanteil wie auch eine berufspädagogisch reflektierte Analyse und Deutung der Handlungssituationen von Auszubildenden. In dem nach Fachwissenschaften getrennten Forschungs- und Lehrbetrieb der Universität fuhrt die Berufsschullehrerausbildung und mit ihr die Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht selten ein eher randständiges Dasein. Andererseits kann nur die Berufs- und Wirtschaftspädagogik als einzige speziell an den Berufsschullehrer adressierte Disziplin- den Bezugsrahmen professioneller Orientierung liefern. Für die Wahrnehmung dieser identitätsstiftenden Qualifizierung und Sozialisation wäre der - bisher nur an wenigen Hochschulen realisierte - Ausbau eigenständiger berufspädagogischer Institute innerhalb der Universitäten notwendig, die als Studien- und Integrationszentrum der Studiengänge für Lehrer an beruflichen Schulen fungieren (vgl. Schächl 1994). Als curriculares und organisatorisches Integrationsfach und als Vermittlungsinstanz zwischen den am Studiengang beteiligten technik-, wirtschafts-, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Disziplinen muß die Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht nur für den reflexiven Zugang zu den Fachwissenschaften vor dem Hintergrund der späteren Lehrtätigkeit sorgen, sondern auch für eine systematische Aufarbeitung der betriebspraktischen Erfahrungen und der unterrichtspraktischen Ausbildungsanteile. Erst dann stellt sich
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die Frage nach der professionellen Leitdisziplin der Berufsschullehrerbildung nicht mehr. Das Leitbild der Ausbildung kann weder nur der "Fachmann" noch nur der "Pädagoge" sein; die Legitimation als "Experte" gewinnt der Lehrer an beruflichen Schulen vielmehr durch die Aufgabe, "Schüler und Schülerinnen zu befähigen, komplexe berufliche Situationen zu bewältigen und die für ihre berufliche Laufbahn erforderlichen Voraussetzungen zu erwerben" (Kutscha 1989, S. 767).
9.3.6
Betriebliches Ausbildungspersonal
Mißt man die Ausbildung, das Selbstverständnis und die berufsständische Organisation des betrieblichen Aus- und Weiterbildungspersonals an den Kriterien eines Professionalisierungsprozesses, so ist diese Berufsgruppe unter den Lehrenden der Sekundarstufe II sicherlich noch am weitesten vom Ziel der Professionalisierung entfernt. Allein die Abgrenzung des Personenkreises mit der Berufsbezeichnung "Ausbilder" ist problematisch. Bis 1969 war die Berechtigung zum Einstellen und Ausbilden von Lehrlingen nur im Bereich des Handwerks geregelt; seit 1908 ist dieses Recht hier an den Nachweis der Meisterprüfung gebunden ("kleiner Befähigungsnachweis"). Erst mit dem Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes (01.09.1969) wurden auch für die übrigen Ausbildungsbereiche Eignungsvorschriften für das betriebliche Ausbildungspersonal erlassen, ohne daß das Gesetz jedoch eine Definition des "Ausbilders" liefert und den Kreis der Personen präzisiert, an den die Voraussetzungen der persönlichen und fachlichen Eignung zu stellen sind. Einerseits werden die gesetzlichen Eignungsvorschriften so interpretiert, daß nur die gegenüber der "zuständigen Stelle" (Kammer) als verantwortlich gemeldeten Ausbilder (insbesondere Ausbildungsleiter) die vorgeschriebenen Voraussetzungen zu erfüllen haben, von anderer Seite wird dagegen verlangt, daß alle tatsächlich mit betrieblichen Ausbildungsfünktionen beauftragten Personen unter die gesetzlichen Vorschriften fallen. Von den über fünf Millionen Erwerbstätigen, die 1992 in irgend einer Form Ausbildungsaufgaben im Rahmen betrieblicher Ausbildungsverhältnisse wahrnahmen, waren rund 685.000 Personen bei den zuständigen Stellen als "persönlich und fachlich geeignet" registriert (vgl. Bausch/Jansen 1995). Die überwiegende Mehrheit der als Ausbilder gemeldeten Personen (rund 94 Prozent) nimmt diese Aufgabe nebenberuflich im
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Rahmen ihrer betrieblichen Produktions- oder Dienstleistungsfunktion wahr. Dabei sind die Grenzen zwischen Fachkräften, die nebenbei auch ausbilden, und hauptamtlichen Ausbildern je nach betrieblicher Arbeits- und Ausbildungsorganisation fließend. Da betriebliche Ausbildung überwiegend im Kontext betrieblicher Produktion stattfindet - schließlich macht das den eigentlichen Stellenwert betrieblicher im Vergleich zu schulischer Ausbildung aus bleibt es schwierig, ein einheitliches Handlungsfeld betrieblicher Ausbilder zu definieren. Die in aller Regel betriebsinterne Ausbilderrekrutierung orientiert sich überwiegend an der Betriebs- und Berufserfahrung als Facharbeiter bzw. Fachangestellter und vernachlässigt im übrigen die pädagogischen Spezifika der Ausbildertätigkeit. Der Ausbilderberuf gerät deshalb kaum als Zielvorstellung zu Beginn einer individuellen Berufslaufbahn ins Blickfeld, sondern wird eher als eine spezifische Variante des Facharbeiterberufs begriffen. Die hohe Fluktuation zwischen Ausbilder- und Facharbeiterfunktion erschwert die Abgrenzung eines Handlungsfeldes und begünstigt betriebliche Rekrutierungsmuster nach den jeweiligen betriebsinternen Zwecksetzungen. Das Sozialprestige des Ausbilders ist weniger gekoppelt an die Inhalte seiner Berufstätigkeit, sondern stärker vermittelt über seine Einordnung in die betriebliche Hierarchie, die je nach der Position (Ausbilder, Ausbildungsmeister, Ausbildungsleiter), der betrieblichen Organisationsstruktur, der Betriebsgröße und dem Intensitätsgrad betrieblicher Ausbildung variiert. Angesichts der ausschließlichen unternehmerischen Entscheidungsgewalt über die betriebliche Berufsausbildung unterliegt auch der Ausbilder in seinem Handlungsspielraum unmittelbar den unternehmerischen Verwertungsinteressen. Sein Einsatz als Ausbilder steht ständig zur Disposition. Verstärkt wird dies durch seine rechtlich und tarifvertraglich ungeklärte Situation. Die Ausbildungsinteressen der Auszubildenden kommen dabei oft zu kurz, selbst wenn sich der Ausbilder als "Anwalt" dieser Interessen versteht, eine viel gebrauchte pädagogische Metapher, die die strukturellen Restriktionen von Ausbilderhandeln unberücksichtigt läßt. Während zu den Kennzeichen eines hohen Professionalisierungsgrades nicht zuletzt eine gewisse Distanz des Berufsinhabers gegenüber den Zielen des institutionellen Bezugsrahmens und die
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Arbeitsorientierte Studiengänge
Orientierung des beruflichen Handelns an einem extern fixierten Berufsethos und an (wissenschaftlichen) Standards zählt, sind die Handlungsspielräume des Ausbilders eng gebunden an die Zielvorgaben der Unternehmenspolitik und die hierarchischen Strukturen des Betriebes. Das gilt um so mehr, als von betrieblicher Seite dem Bildungspersonal entscheidende Funktion bei der Loyalitätssicherung im Rahmen der Aus- und Weiterbildungsprozesse zugeschrieben wird (vgl. Arnold 1983, S. 133 f f ) . Die unternehmerische Erwartungshaltung an den Ausbilder zielt auf eine möglichst friktionslose und kostengünstige Ausbildung nach den Vorgaben der Ausbildungsordnung und der spezifischen betrieblichen Erfordernisse, die sich gleichermaßen auf eine funktionale Qualifizierung wie auch auf eine im betrieblichen Interesse definierte Sozialisation und Integration beziehen. Insofern ist kaum verwunderlich, daß Ausbilder stärker als andere Berufsgruppen zu konservativen Einstellungen neigen und im Rahmen ihres Ausbildungsauftrags "Arbeitstugenden" wie Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin einen besonderen Stellenwert einräumen. Das Berufsbildungsgesetz bindet das Recht zum Ausbilden von Auszubildenden an die persönliche und fachliche Eignung. Persönlich geeignet ist im allgemeinen jeder, der nicht gegen bestimmte Rechtsvorschriften verstoßen hat. Fachlich geeignet ist, wer die erforderlichen beruflichen Fertigkeiten und Kenntnisse (im allgemeinen in Form der Abschlußprüfung im entsprechenden Ausbildungsberuf), ein bestimmtes Mindestalter und die erforderlichen berufsund arbeitspädagogischen Kenntnisse nachweisen kann. Nach den verschiedenen, jedoch inhaltsgleichen Rechtsverordnungen, die den Nachweis der berufs- und arbeitspädagogischen Kenntnisse regeln, müssen Ausbilder Kenntnisse in den Sachgebieten -
Grundlagen der Berufsbildung, Planung und Durchfuhrung der Ausbildung, Der Jugendliche in der Ausbildung und in Rechtsgrundlagen
erwerben und in einer Prüfung nachweisen. Die Art des Erwerbs dieser Kenntnisse ist nicht geregelt. Der 1972 vom früheren Bundesausschuß für Berufsbildung in Form einer Empfehlung entwikkelte Rahmenstoffplan zur Vorbereitung auf die Ausbilder-Eignungsprüfung hat den in der AEVO vorgegebenen Inhaltskatalog
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weiter differenziert und bei einer vorgesehenen Mindeststundenzahl von 120 Stunden für einen Vorbereitungslehrgang die zeitlichen Anteile der zu vermittelnden Sachgebiete gewichtet. Zwar war in der berufspädagogischen Diskussion die Vorgabe einer pädagogischen Ausbilderqualifizierung generell begrüßt worden, im einzelnen blieben Art und Inhalte der Qualifizierung jedoch umstritten. Kritisiert werden insbesondere die geringe Berücksichtigung des heterogenen Handlungsfeldes betrieblicher Ausbilder, die Prüfungsorientierung der Lehrgänge, die damit verbundene Kluft zwischen den vermittelten, weitgehend auf Faktenwissen beschränkten "Kenntnissen" und den tatsächlichen Handlungsanforderungen sowie die Unverbindlichkeit im Hinblick auf die methodisch-didaktische Gestaltung der Lehrgänge und die Anforderungen an die Qualifikation der Lehrgangsdozenten (vgl. Paffenholz 1994, s. 354 ff.). Inzwischen hat der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung 1994 nach einer zweijährigen Erprobungsphase einen neuen Rahmenstoffplan für die Ausbildung der Ausbilder beschlossen, der jedoch hinsichtlich der formalen Vorgaben und der Inhalte wenig Veränderungen enthält. Die Neuerungen beziehen sich eher auf eine veränderte Rollenzuweisung an den Ausbilder, die sich z.B. aus dem technisch-organisatorischen Wandel, der Neuordnung der Ausbildungsordnungen, der erhöhten Vorbildung und dem gestiegenen Durchschnittsalter der Auszubildenden ergibt. Der Rahmenstoffplan geht von dem in den neuen Ausbildungsordnungen verbindlich vorgegebenen Ausbildungsziel "selbständiges Planen, Durchfuhren und Kontrollieren" aus und ergänzt die traditionelle Ausbilderaufgabe einer Vermittlung fachlicher Qualifikationen um die Dimension der Planung, Organisation und Gestaltung von Lernprozessen. Zur Förderung der beruflichen Handlungsfähigkeit der Ausbilder sollen die entsprechenden Lehrgänge praxis-, aufgaben- und problemorientiert strukturiert werden.
Die Skepsis der Ausbilder selbst gegenüber der ihnen verordneten pädagogischen Qualifizierung hat ihren Grund vor allem in ihrem Selbstverständnis als berufsfachliche Experten, die ihre pädagogische Perspektive auf methodische Fragen der Vermittlung und auf Disziplinprobleme im Umgang mit Auszubildenden beschränken. Ihre Erwartungshaltung an berufs- und arbeitspädagogische Veranstaltungen richtet sich vor allem auf Rezepte und Hand-
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lungsanweisungen, die zu einer Effektivierung ihrer konkreten Ausbildungsarbeit beitragen. Soweit Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung betriebliche Ausbildungsprobleme zum Gegenstand ihrer Theoriediskussion machen, liefern sie jedoch kaum wissenschaftlich begründete Regeln und Kriterien, an denen sich der "Erfolg" betriebspädagogischen Handelns festmachen ließe. Die Übernahme berufspädagogischer und anderer sozialwissenschaftlicher Versatzstücke in die Qualifizierungsveranstaltungen für Ausbilder begründet kaum eine verbindliche Orientierung beruflichen Ausbilderhandelns. Die vielfach erhobenen Forderungen nach einer theoretisch fundierten Didaktik und Methodologie beruflicher Ausbildung, die auf aktivierende, die individuelle Handlungsfähigkeit stärkende Lernformen setzt und die Entfaltung nicht nur der funktionalen, sondern auch der sozialen, Partizipation ermöglichenden Kompetenzen fördern will, bleiben noch immer weitgehend abstrakt. Das Alltagshandeln der Ausbilder beruht eher auf Intuition, subjektiven Erfahrungen und stereotypen Handlungsmustern. Diese praxisimmanente "Theorie" wird von der wissenschaftlichen Diskussion nur selten aufgegriffen, während umgekehrt die an Hochschulen und Forschungseinrichtungen produzierte Theorie wegen ihrer empfundenen Irrelevanz und geringen Anwendbarkeit das Alltagshandeln von Ausbildern kaum beeinflußt. Ohnehin dürften die durch den betrieblichen Bedingungsrahmen gesetzten reduzierten Autonomiespielräume durch pädagogische Qualifizierung nur begrenzt erweiterbar sein.
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Arbeitsorientierte Studiengänge
bildungsforschung (Beiheft 9 zur Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik), Stuttgart, S. 258 - 279. PÄTZOLD, Günter/DREES, Gerhard (1989): Betriebliche Realität und pädagogische Notwendigkeit. Tätigkeitsstrukturen, Arbeitssituationen und Berufsbewußtsein von Ausbildungspersonal im Metallbereich. Köln, Wien. PFAFFENHOLZ, Heiner (1994): Der neue Rahmenstofliplan für die Ausbildung der Ausbilder. Aufbruch zu neuen Ufern? In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 4, S. 361 - 375. RAUNER, Felix (Hrsg.) (1980): Berufliche Bildung. Perspektiven für die Weiterentwicklung der Berufsschule und die Ausbildung ihrer Lehrer. Braunschweig. RAUNER, Felix (1994): Anmerkungen zur Ausbildung der Lehrer an Berufsbildenden Schulen. In: RÜTZEL, J. (Hrsg.): Gesellschaftlicher Wandel und Gewerbelehrerausbildung: Alsfeld. S. 285 - 290. RAUNER, Felix (1993): Auf der Suche nach den "Beruflichen Fachrichtungen" in der Berufsschullehrerausbildung". In: Die berufsbildende Schule, 6, S. 196 - 202. RÜTZEL, Josef (Hrsg.) (1994): Gesellschaftlicher Wandel und Gewerbelehrerausbildung. Alsbach. SCHÄCHL, Hans (1994): Lehrerausbildung und Nachwuchssicherung für berufliche Schulen - unlösbare Probleme? In: Die berufsbildende Schule, 6, S. 204 -210. SCHLÖSSER, Manfred/DREWES, Claus/OSTHUES, Ernst, Wilhelm (1989): Vom Lehrgesellen zum Betriebspädagogen. Eine empirische Untersuchung zur Professionalisierung betrieblicher Bildungsarbeit. Frankfurt/New York. SCHULZ, Winfried (1989): Veränderte Anforderungen und Qualifikationen betrieblicher Ausbilder. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 4, S. 6 10. STRATMANN, Karlwilhelm (1988): Die Qualifizierung des Gewerbelehrers eine ungelöste Aufgabe. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 6, S. 483 - 494. THOMAS, Werner (1992): Aufgaben und Ausbildung von Diplom-Ingenieurpädagogen in der ehemaligen DDR vor dem Hintergrund neuer Anforderungen. In: BONZ, B./SOMMER, K.-H./WEBER, Günter (Hrsg.): Lehrer für berufliche Schulen. Esslingen, S. 331 - 351.
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Arbeitsorientierung in der Ausbildung von Berufsschullehrern und betrieblichen Ausbildern
839
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9.4
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge Manfred Schweres
9.4.1 9.4.1.1 9.4.1.2
Zur Entwicklung der universitären Lehre in der Arbeitswissenschaft Vergleichsbasis: DFG-Denkschrift aus 1980 Positive Entwicklung der Studiengänge (Erst-Ausbildung)
841 841 844
9.4.2 9.4.2.1 9.4.2.2 9.4.2.3
Studiengänge zur Fort- und Weiterbildung Aufbaustudiengänge und weiterbildende Studiengänge Fernstudiengänge Sonstige Ansätze
848 848 850 852
9.4.3
Exkurs: Arbeitswissenschaftliche Studiengänge in der DDR....853
9.4.4
Chancen aus neuen Entwicklungen
854
Zitierte Literatur
857
Weiterfuhrende Literatur
862
9.4.1
Zur Entwicklung der universitären Lehre in der Arbeitswissenschaft
9.4.1.1 Vergleichsbasis: DFG-Denkschrift aus 1980 Die Ausführungen orientieren sich an der DFG-Erhebung Ende der 70er Jahre, in der Luczak hierzu seine Untersuchungsergebnisse unter "Ergonomische/arbeitswissenschaftliche Aus- und Weiterbildung an Deutschen Universitäten" (DFG 1980, S. 137 ff.) zusammenfaßt. Der Bezug zur DFG-Denkschrift hat den Vorteil, daß damit ein Vergleich zum Entwicklungsstand Ende der 70er Jahre ermöglicht wird. Gleichzeitig ist aber daran zu erinnern, daß diese DFG-Denkschrift u.a. wegen ihrer einseitigen ergonomischen Verengung seinerzeit aus unterschiedlichen Richtungen der westdeutschen Wissenschaftslandschaft kritisiert wurde (u.a. Abholz et al. 1981; Arbeitsausschuß 1980; Autorenteam 1980; Schweres 1980). Tolksdorf (vgl. Tolksdorf 1986; Tolksdorf 1984) widerlegt in seinen Forschungen mit aussagefähigen empirischen Befunden den Versuch der Autoren der DFG-Denkschrift, die Sozialwissenschaften und damit emanzipatorische Elemente aus der Arbeitswissenschaft auszugrenzen, Interessenorientierungen (wie "arbeitsorientiert") zu
842
Arbeitsorientierte Studiengänge
ideologisieren und die neuen Forschungsansätze im HdA-Programm (BMFT) zu kritisieren. Nach Tolksdorf werden sozialwissenschaftliche Methoden in der tatsächlichen arbeitswissenschaftlichen Forschungspraxis zunehmend eingesetzt. In den untersuchten arbeitswissenschaftlichen Veröffentlichungen (bis zum Jahr 1981) dominierten die Meinungsbilder aus dem Unternehmerlager zu den arbeitnehmerbezogenen im Verhältnis 9:1 (!); allerdings stellt er ab 1977 eine Zunahme von Arbeiten mit "interessenneutralen" Positionen fest. Dem Humanisierungsprogramm der Bundesregierung bescheinigt Tolksdorf, daß von ihm Orientierungsänderungen ausgegangen sind. Die Laborforschung habe - entgegen der DFG-Kritik sogar zugenommen. Humanisierungsfragen haben in den 70er Jahren allerdings die bis dahin vorherrschende Rationalisierungsausrichtung in der Forschung überflügelt. "Die beklagte Forschungspolitik der 70er Jahre ist, sofern sie Wandlungen und Neuerungen unterstützen sollte, durchaus erfolgreich gewesen" (Tolksdorf 1986, S. 148). Wenn also hier auf die DFG-Denkschrift von 1980 als Vergleichsbasis zurückgegriffen wird, so rückt damit notwendigerweise nur ein Ausschnitt der gesamten arbeitswissenschaftlichen Universitätsausbildung in den Mittelpunkt der Betrachtung. In Anlehnung an Moede, Jungbluth und DFG lassen sich folgende Entwicklungslinien der Arbeitswissenschaft im deutschsprachigen Raum unterscheiden (vgl. Moede 1954; Jungbluth 1975; DFG 1980): 1. Technisch-physiologische bzw. physiologisch-ergonomische Richtung (ingenieurwissenschaftlich, physiologisch/medizinisch, also technisch- und naturwissenschaftlich orientiert; vgl. Autorenkollektiv/Kulka 1988; Baader 1961; Hettinger/Wobbe 1993; Jungbluth/Mommsen 1968; Luczak 1993; Rohmert/Rutenfranz 1983; "arbeitsorientiert" u.a. Martin 1994). 2. Technisch-psychologische Richtung (ingenieurwissenschaftlich und individualpsychologisch ausgerichtet; vgl. Hacker 1978; Hoyos 1974; Ulich 1992 und Neubauer 1976). 3. Technisch-wirtschaftliche Richtung (betriebswirtschaftlich/personalwirtschaftlich oder betriebswissenschaftlich; vgl. Gaugier/ Kolb 1977; Gaugler/Weber 1992; Hasenack 1977; "arbeitsorientiert" z.B. Jungbluth u.a. 1990; Koubek 1973). 4. Psychosoziale, politökonomische Richtung (sozialpsychologisch, soziologisch, pädagogisch, arbeitsökonomisch, arbeits-/sozial-
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
843
rechtlich, also sozialwissenschaftlich orientiert; vgl. dazu die "arbeitsorientierten" Veröffentlichungen von Georg et al. 1985; Gerum 1981; Groskurth/Volpert 1975; Jäger 1984; Oppolzer 1993; Projektgruppe 1974). Vor allem die 1. Richtung ist im Text angesprochen. Das beruht nicht nur auf dem Bezug zur DFG-Denkschrift. Die Humanisierung der Arbeit - so das durchgängige Grundverständnis im deutschsprachigen Raum - soll vorrangig als sog. primäre Prävention geschehen, also als Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Bedingungen und Bedürfnisse des arbeitenden Menschen. "Gestaltung der Arbeit nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen umfaßt damit alle Maßnahmen, durch die das System Mensch und Arbeit menschengerecht, d.h. gemessen am Maßstab Mensch und seinen Eigengesetzen, beeinflußt werden kann" (GfA 1973). Menschengerechte Gestaltung der Arbeit unter Einsatz arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse wird daher erstrangig als eine Ingenieuraufgabe angesehen. Unter marktwirtschaftlichen Produktionsbedingungen ist Humanisierung der Arbeit darauf angelegt, "... durch innovative Gestaltung von Arbeit und Technik gefährdende Belastungen und Beanspruchungen des Menschen zu vermeiden sowie die arbeitenden Menschen durch entsprechende Qualifizierung und Beteiligung in ihrer beruflichen und allgemeinen Entwicklung zu fördern." Das wird in der Regel nur dann einzulösen sein, wenn diese Gestaltung "... auch betrieblichen Zielen, wie der Verbesserung von Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Anpassungsfähigkeit" (BMFT u.a. 1989) dient. Von daher wäre zu erwarten, daß neben der technisch-physiologischen (ergonomischen) Richtung der Arbeitswissenschaft auch die arbeitsökonomische/arbeitswirtschaftliche (technisch-wirtschaftliche) Ausrichtung in der universitären Ausbildung weit entwickelt wäre. Das ist nur an Einzelstandorten der Fall (u.a. im Wirtschaftsingenieurwesen). In der Regel werden Themenstellungen wie Arbeitsstudium, Arbeitsbewertung, Leistung/Lohn, neue Formen der Arbeitsorganisation, Arbeitsmotivation usw. in den Wirtschaftswissenschaften innerhalb der Personalwirtschaftslehre (Personal und Arbeit) mit vertreten.
844
Arbeitsorientierte Studiengänge
In der ehemaligen DDR war der Ausbildungsstand arbeitsökonomischer Hochschulausbildung ungleich breiter und tiefer (siehe Konzeption 1983; Sachse/Stiller 1974; vgl. Kap. 9.4.3). 9.4.1.2
Positive Entwicklung der Studiengänge (Erst-Ausbildung) Bereits zu Beginn er 60er Jahre wurde mit dem Argument für den Ausbau der universitären Erst-Ausbildung in Arbeitswissenschaft geworben, daß dies die Arbeitsproduktivität (Rationalisierung) fördere und gleichzeitig die Beschäftigten vor Überforderungen im Arbeitsprozeß schütze (vgl. GfA 1963). Vergleicht man den in dieser Denkschrift geschilderten Ausbaustand arbeitswissenschaftlicher Hochschuleinrichtungen mit dem 1994/95 erreichten Stand, so sind speziell für die hier ausschnitthaft betrachtete technisch-physiologische bzw. physiologisch-ergonomische Ausrichtung die Fortschritte in der Erst-Ausbildung (Lehre) unübersehbar. Arbeitswissenschaftliche Lehre für Studierende der Ingenieurwissenschaften findet inzwischen im deutschsprachigen Raum praktisch an allen (Technischen) Universitäten statt, einschließlich der Alteinrichtungen (Chemnitz, Dresden, Magdeburg) und der Neugründungen (z.B. TU Cottbus) in den neuen Ländern. Im Vergleich zu der Erhebung von Luczak konnten sich also zwischenzeitlich arbeitswissenschaftliche Studiengänge auch in den westdeutschen Neugründungen etablieren, so z.B. in NRW (Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Siegen, Wuppertal), in Hamburg (Hamburg-Harburg), in Rheinland-Pfalz (Kaiserslautern) und in Hessen (Kassel). Das von Luczak noch wahrgenommene Leerfeld Baden-Württemberg ist inzwischen u.a. in Karlsruhe und Stuttgart ergänzt worden. Die mit der Neuentwicklung der Studienrichtung Produktionstechnik eng verbundene arbeitswissenschaftliche Erstausbildung von Maschinenbau-Studierenden der Universität Karlsruhe (TH), wird exemplarisch für ähnliche Ingenieurstudiengänge beschrieben (siehe Abb. 1) Die Gesamtsituation der Arbeitswissenschaft in der Universität Karlsruhe stellt sich noch besser dar, da im Institut für Industriebetriebslehre und Industrielle Produktion (IIP) eine Abteilung für Arbeitswissenschaft die Studierenden im Simultanstudium Wirtschaftsingenieurwesen (sowie Volkswirte, Informatiker usw.) mit arbeitswissenschaftlichen Lehrinhalten versorgt.
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Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
Abb. 1:
Struktur des Lehrangebotes im Hauptfach Arbeitswissenschaft für Produktionstechnik an der Universität Karlsruhe
Pflichtfach Vorlesung
SWS
Arbeitswissenschaft I/n
Übungen zur AW I/II Ergonomische Richtung
Vorlesung
Betriebsorganisatorische Richtung SWS
Vorlesung
SWS
Betriebsorganisation I
2
Betriebsorganisation I
2
Ergonomische Meßtechnik
2
Betriebsorganisation II
2
Kommunikationsergonomie
2
Produktionsw. Controlling
2
Arbeits- und Umweltschutz
2
Arbeitssteuerung
2
oder
Arbeitsstrukturierung
2
oder
Arbeitswissenschaftliches Labor (als Haupt- oder Wahlfach)
2
oder
Simulation Aided Management (in englischer Sprache)
Quelle: ifab (G. Zülch)
Wie bereits von Luczak beschrieben, ist die Arbeitswissenschaft als Pflichtfach vor allem in Studiengängen des Maschinenbaus (Produktionstechnik; Verfahrenstechnik), des Wirtschaftingenieurwesens und der Sicherheitstechnik (Wuppertal) vertreten, teilweise auch im Studium des Lehramtes der Beruflichen Schulen (z.B. Bautechnik; Elektrotechnik; Metalltechnik; Bekleidungs-/Textiltechnik). Langsam setzt sich der Trend durch, die Arbeitswissenschaft aus dem Status eines Wahlpflichtfaches (oder nur Wahlfaches) in den eines verbindlichen Pflichtfaches zu überführen. Mit der neuen "Rah-
846
Arbeitsorientierte Studiengänge
menordnung für die Diplomprüfung im Studiengang MASCHINENBAU" (KMK/HRK 1991) werden "Arbeitswissenschaft und Technische Betriebsführung/Betriebswirtschaftslehre" mit 4 + 3 SemesterWochenstunden (SWS) als Pflichtfach im Hauptstudium empfohlen. Im Kapitel 9.4.4 wird darauf noch näher eingegangen. Diese Rahmenordnung stützt den Trend zum Einbau der Arbeitswissenschaft als Pflichtfach in die Studien- und Prüfiingspläne der MaschinenbauLehre. So wird im Entwurf der neuen Studien- und Prüfungsordnung des Maschinenbaus/Universität Hannover (vormals TH bzw. TU) erstmals Arbeitswissenschaft im Hauptstudium ausgewiesen. Bernotat/Hunt (vgl. Bernotat/Hunt 1977; Bernotat 1977) hatten einen Vorschlag für die Aufteilung arbeitswissenschaftlicher Studiengänge (University Curricula in Ergonomics) unterbreitet. In Abb. 2 sind die Programmvorschläge A bis F skizziert (vgl. Abb. 2). Das "Vollstudium Ergonomie" (= Programm A) ist ansatzweise im Studium der Sicherheitstechnik in Wuppertal verwirklicht. In einem viersemestrigen Postgraduierten-Studiengang des Instituts für Arbeitswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum kann der Abschluß "Diplom-Arbeitswissenschaftler/-in" erworben werden (vgl. Kap. 9.4.2.1). Überwiegend herrscht aber in der Fachwelt die Meinung vor, daß für eine derartige Spezialisierung im Ingenieurstudium die berufliche Nachfrage fehlt. Flexibler und breiter einsetzbar sind jene Studierenden, die z.B. in der Produktionstechnik oder Verfahrenstechnik, in der Bautechnik/Baubetriebslehre oder in der Elektrotechnik das Programm B, also das Spezialisierungsprogramm für Studierende der Ingenieurwissenschaften wählen. Das Konzept B ist in den meisten Erststudiengängen des Maschinenbaus verwirklicht bzw. in Vorbereitung. Im (arbeits- und) wirtschaftswissenschaftlichen Aufbaustudium in Aachen, Braunschweig und München bzw. in entsprechenden Simultanstudiengängen (wie in Karlsruhe) ist die Arbeitswissenschaft für die Diplom-Wirtschaftsingenieure ebenfalls fest verankert. Das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) von 1973 (vgl. Kliesch et al. 1978) hat nicht nur umfangreiche arbeitswissenschaftlich/ergonomische und sicherheitstechnische Aufgaben für die Sicherheitsfachkräfte (u.a. Sicherheitsingenieure; § 6 ASiG) gebracht; damit sind auch die Anforderungen an die "Fachkunde" (vgl. Schulte 1974; Bieneck
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
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Arbeitsorientierte Studiengänge
1992; B M A 1990; BAU 1993; Lehder 1990; Schweres 1991a) erheblich gestiegen, was die Nachfrage nach arbeitswissenschaftlichen Lehrinhalten und Studiengängen insgesamt verstärkt hat. Gleichzeitig sind im § 3 ASiG die Aufgaben der Betriebsärzte sowie die dafür notwendige arbeitsmedizinische Fachkunde (einschließlich Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie, Ergonomie usw.) festgehalten worden, was nicht nur die Facharztausbildung und Arbeitsmedizin gefördert hat. Die in der Zeitschrift Arbeitsmedizin/ Sozial-/Umweltmedizin abgedruckten Aufstellungen zur Arbeitsmedizin an deutschen Hochschulen (u.a. medizinische Fakultäten) verdeutlichen die Verbreitung. Seit 1970 ist gemäß der Approbationsordnung für Ärzte ein "ökologischer Kurs" (Dräsche et al. 1976) im 2. klinischen Abschnitt des Humanmedizinischen Studiums verbindlich, in dem arbeitshygienische und ergonomische Grundlagen vermittelt werden.
9.4.2 9.4.2.1
Studiengänge zur Fort- und Weiterbildung
Aufbaustudiengänge und weiterbildende Studiengänge In dem Übersichtsbeitrag von Mitschke-Collande et al. (vgl. Mitschke-Collande et al. 1989) wurde aufgezeigt, daß ursprüngliche Vorstellungen von einem postgradualen "arbeitswissenschaftlichen Aufbaustudium" sich in der Fort- und Weiterbildungslandschaft nur schwer realisieren lassen (vgl. Schweres 1987). Die wirklich interessanten Ansprechpartner - wie Ingenieure, Ökonomen und Pädagogen - werden in der Regel von ihren Arbeitgebern nicht die für ein Aufbau- oder Zusatzstudium erforderlichen monatelangen Freistellungszeiten erhalten. Das war auch ein Grund mit dafür, daß nach dem Test in einem entsprechenden Modellversuch Anfang der 80er Jahre in der Universität Hannover die Zentrale Einrichtung Weiterbildungsstudium Arbeitswissenschaft eingerichtet wurde (also kein postgradualer Studiengang mit Diplomabschluß; vgl. Bösterling/Wienemann 1982; Mitschke-Collande et al. 1989; Schäffel/Heibutzki 1993). Das Studienangebot dieses Kontaktstudiums ist im Bausteinkastensystem organisiert, aus dem sich die nebenberuflich studierenden Fach- und Führungskräfte aus Wirtschaft und Verwaltung ihr Studienprofil zusammenstellen (Zertifikate als Abschlußbedingung).
849
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
Die Weiterbildungsaktivitäten des ursprünglich mit drei Professoren (Arbeitsingenieur; Arbeitsökonom; Arbeitssoziologe) ungewöhnlich breit besetzten Instituts für Arbeitswissenschaft (IAW) der Ruhr-Universität Bochum begannen mit einem PostgraduiertenStudiengang (Zusatzstudium; vgl. Ruhr-Universität 1987) im oben geschilderten Sinne. In den neu gefaßten Grundsätzen dieser zentralen wissenschaftlichen Einrichtung ist das Lehrangebot drei Schwerpunktbereichen (Baustein-Sammlungen) zugeordnet: 1. Zusatzstudium Arbeitswissenschaft 2. Weiterbildendes Studium Arbeitswissenschaft 3. Ziel gruppenspezifische Weiterbildung (vgl. 1993).
Ruhr-Universität
In Abb. 3 sind exemplarisch für ähnliche Weiterbildungsstrukturen wesentliche Aspekte zusammengefaßt (vgl. Abb. 3). Abb. 3:
Lehrangebot des Instituts für Arbeitswissenschaft (Bochum)
Das Lehrangebot des Instituts für Arbeitswissenschaft besteht aus drei Bausteinen (Baustein-Sammlungen) a) Zusatzstudium Arbeitswissenschaft: für Absolventen von Studiengängen wissenschaftlicher Hochschulen (sofern diese Studiengänge sinnvolle Voraussetzungen jur das Zusatzstudium Arbeitswissenschaft bieten) mit dem Diplomgrad "Diplom-Arbeitswissenschaftler" bzw. "Diplom-Arbeitswissenschaftlerin" ("Dipl. Arb. wiss."). b) Weiterbildendes Studium Arbeitswissenschaft: für Bewerber mit abgeschlossenem Hochschulstudium und für solche Bewerber, die eine für die Teilnahme erforderliche Eignung nachweisen. Die erfolgreiche Teilnahme an dem Studium wird durch eine Abschlußprüfung nachgewiesen. Studieninhalte: Änderungsdynamik von Arbeitsverhältnissen aufgrund technischer Entwicklungen, Struktur- und Wertewandels etc.. Konzentration auf die Entwicklung von Personal, Organisation, von sozialen, Betriebs-, Unternehmens- und regionalen Strukturen und von Arbeitsmärkten. c) Zielgruppenspezifische Weiterbildung: für ausgewählte Zielgruppen weiterbildende Lehrveranstaltungen, die sich mit spezifischen aus der beruflichen Praxis der Teilnehmer entstandenen Fragestellungen und Problemen befassen. Quelle: JAW Bochum
850
Arbeitsorientierte Studiengänge
Als anders gelagerter Ansatz eines Postgraduierten-Studienganges soll - ebenfalls exemplarisch - kurz das Nachdiplomstudium "Arbeit + Gesundheit" des Instituts für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH-Zürich skizziert werden. Dabei handelt es sich um ein Weiterbildungssystem für Arbeitsmediziner und für Arbeitshygieniker (teilweise mit unseren Sicherheitsingenieuren vergleichbar), das mit angelsächsischen Systemen kompatibel ist. Die gemeinsame Ausbildung von Arbeitsmedizinern und Arbeitshygienikern soll deren Zusammenarbeit im betrieblichen Alltag erleichtern (vgl. § 3 bis § 6 ASiG). Daher ist - wie Abb. 4 ausweist - der Kern des Weiterbildungsangebotes gemeinsam. Für beide Berufsgruppen wird jeweils ein kleinerer Modul zusätzlich angeboten. Die Arbeitsmediziner gewinnen mit dem Nachdiplomstudium die Grundlage für die zweijährige Zusatzausbildung als Arbeitsmediziner (entspricht den arbeitsmedizinischen Kursen der deutschen Akademien für Arbeitsmedizin). 9.4.2.2 Fernstudiengänge In der DDR war ein Studienangebot im Direkt- und im Fernstudium eine Selbstverständlichkeit, so auch im Bereich der sog. "Sozialistischen Arbeitswissenschaften" (vgl. u.a. Macher 1974; Macher 1977). Das galt insbesondere für postgraduale Studien. In Westdeutschland hingegen wurde mit dem Mitte der 70er Jahre gestarteten Versuch Neuland betreten, ein Fernstudium Arbeitswissenschaft in die neugegründete Fernuniversität Hagen zu integrieren (vgl. Mitschke-Collande et al. 1989; Mönnich et al. 1982; Schweres 1987). Die Universität war damals noch nicht so aufgeschlossen, um ein derart neues, interdisziplinär orientiertes Curriculum in ihren Lehrkanon aufzunehmen. Reste der vom Land N R W bereitgestellten Personalressourcen konnten immerhin im Institut für Arbeitswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum zusammengefaßt werden, w o von den für Hagen vorgesehenen 7 Professuren nunmehr vier Lehrstühle integriert sind. Das jetzige Studienangebot ist in Bochum noch weitgehend auf das Direkt- bzw. Präsenzstudium orientiert. In den neuen Ländern wird - anknüpfend an die umfangreichen DDR-Erfahrungen - nunmehr auch das Fernstudienangebot neu entwickelt. Wie einer Pressenotiz (vgl. Müller 1994) zu entnehmen
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
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Arbeitsorientierte Studiengänge
ist, waren von 1950 bis 1990 etwa 37 000 Fernstudenten und Fernstudentinnen immatrikuliert, wovon immerhin 80 Prozent den Diplomabschluß erreicht haben. Nach Günter Lehder (TU Dresden) soll das postgraduale Studium "Sicherheitsingenieur" ab WS 1995/96 durch ein 4-semestriges Aufbaustudium "Arbeitsgestaltung/Sicherheitstechnik" abgelöst werden (vgl. Lehder 1990). Es setzt ein abgeschlossenes Hochschul-Ingenieurstudium voraus und ist nach Grund-, Aufbau- und Wahlmodulen inhaltlich strukturiert. Es wird Teil des universitären technischen Fernstudiums der TU Dresden sein (sog. "Dresdner Modell"). Die langjährigen, umfangreichen Erfahrungen im universitären Fernstudium lassen erwarten, daß dieses Modell eine wertvolle Bereicherung für die arbeitswissenschaftlichen Studiengänge in Gesamtdeutschland bilden wird. 9.4.2.3 Sonstige Ansätze An den universitären Standorten, an denen die Arbeitswissenschaft über lange Phasen nicht im Pflichtfachbereich z.B. der Maschinenbau-Studiengänge verankert werden konnte (wie in Braunschweig und Hannover) mußten Zusatzangebote entwickelt werden, mit denen die Studierenden an das arbeitswissenschaftliche Lehrangebot herangeführt werden konnten. Hier bot es sich an, in Ausfüllung deutscher Rechtsvorschriften (u.a. ASiG) und sich abzeichnender EG-/EU-Vorgaben für die Studierenden auf der Grundlage vorhandener Vorgaben einen Lehrgang zur Ergänzung vorhandener Angebote in Arbeitswissenschaft und im Gesundheits- und Arbeitsschutz zu entwickeln. Ziel war der Erwerb der Teilqualifikation zum Sicherheitsingenieur (vgl. Kirchner 1990; Schweres 1992; vgl. BMA 1990; BAU 1992; Hauptverband 1990). Damit gewinnen die Studierenden in der Erstausbildung eine Zusatzqualifikation, die ihnen zusätzliche Einsatzfelder im Bereich arbeits-, sicherheits- und qualitätsbezogener Funktionen in der Wirtschaft, bei den Berufsgenossenschaften, bei staatlichen Behörden (u.a. Gewerbeaufsicht) usw. eröffnet. Berufsgenossenschaften werden damit von Qualifizierungsaufgaben entlastet.
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
9.4.3
Exkurs: Arbeitswissenschaftliche der DDR
Studiengänge
853
in
Als ein Ergebnis der Hochschulreform Ende der 60er Jahre wurde eine interdisziplinär angelegte Sektion Arbeitswissenschaften in der T U Dresden (vgl. TU Dresden 1969; Walter 1969) errichtet. In ihr wurden vor allem sogenannte arbeitswissenschaftliche Spezialkader (wie Arbeitsingenieure, Arbeits- und Ingenieurpsychologen, Arbeitsökonomen) im Direkt- und im Fernstudium ausgebildet. Speziell von den arbeitswissenschaftlich qualifizierten Fachschul- und Universitätskadern wurde ein wesentlicher Beitrag zur Durchsetzung der "Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation " verlangt (WAO; vgl. Macher 1974; Macher 1977). Die WAO wurde aus Ansätzen des Arbeitsstudiums (Arbeitsanalyse), der Arbeitsgestaltung (Arbeitsorganisation) und der Arbeitsnormung (Leistung/Lohn) vor allem in den 70er Jahren als wissenschaftlich begründete Rationalisierungsmethode im Sinne des Leitziels der "Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik" entwickelt, um die Kombination knapper Ressourcen in den DDR-Betrieben effektiver zu machen (vgl. Manske/ Schweres 1993; Schweres 1991 b und 1991 c). Schon bald gab es verbindliche Lehrprogramme für die universitäre Erstausbildung in Arbeitswissenschaft (beispielsweise für die Ingenieurausbildung; vgl. Ministerrat 1974; Konzeption 1983). Gemäß dem planwirtschaftlichen Vorgehen wurde auch hier überlegt, wie denn die zu bildenden "WAO-Organe" ( = Fachabteilungen) mit arbeitswissenschaftlich qualifizierten Kräften zu besetzen sind (vgl. Trognitz 1977 und 1980). Neben der Versorgung mit arbeitswissenschaftlichen Fachkadern beim Ausbau der W A O bestand weiterhin ein - im Verhältnis zur westdeutschen Einsatzpraxis - hoher Bedarf an speziellen Kadern auf dem Gebiet des Gesundheits- und Arbeitsschutzes (vgl. Autorenkollektiv 1978 a; Kreibich et al. 1986). Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung der WAO war den "Arbeitsingenieuren" zugedacht, die u.a. an den Technischen Universitäten Dresden, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg im Sinne von arbeitswissenschaftlich spezialisierten Produktionsingenieuren ausgebildet wurden (vgl. Wolowczyk et al. 1971; Floß 1980; Rentzsch 1979). Dabei erwies es sich schon bald als notwendig, über tradierte Lehrinhalte der Arbeitswissenschaft (Arbeitstechnologie; Ergono-
854
Arbeitsorientierte Studiengänge
mie) hinaus die Arbeitsingenieur-Studierenden vor allem in Arbeitsund Ingenieurpsychologie zu qualifizieren (vgl. Hacker/Häuser 1984). Das erforderte u.a. der zunehmende Einsatz von neuen Technologien ("Schlüsseltechnologien"). Thiemecke hat zusammengestellt, wie in der Endphase der DDR versucht wurde, speziell über die arbeitswissenschaftliche Weiterbildung den notwendigen Qualifikationsstand zu erzeugen, um die - viel zu selten eingesetzten Schlüsseltechnologien auch wirksam werden zu lassen (vgl. Thiemecke 1991). Besonders gut ausgebaut waren in der "Bildungsgesellschaft" der DDR die postgradualen Studiengänge. Ingenieure und Ökonomen konnten sich zu Arbeitsgestaltern, Arbeitsnormern, zu Fachleuten des Gesundheits- und Arbeitsschutzes usw. weiterqualifizieren (vgl. Autorenkollektiv 1978 b; Dreyer 1981; Ministerrat 1975; Paul 1971). Das geschah vor allem im Fernstudium (vgl. Knöfel 1976). Da aber eine Faktorkombination immer nur so produktiv sein kann, wie es die eingesetzten Produktionsfaktoren zulassen, mußte das WAO-Konzept scheitern (zumal "lean-Effekte" sich in der Regel nicht in Personalfreisetzungen niederschlugen). Das wirkte sich in den 80er Jahren auf die Fachschul- und Universitätsausbildung aus. Die neue Ausbildungskonzeption für Ingenieure und Ökonomen sah zwei Grundprofile vor, z.B. bei Ingenieuren: 1. "Aufgaben der Grundlagen- und angewandten Forschung, der Erzeugnisentwicklung, der Entwicklung neuer Technologien ..." 2. "... Produktionsdurchfuhrung und -Organisation und eine wissenschaftlich fundierte Leitung und Planung der Produktion" (Presseamt 1983). Vor allem die Ingenieur-Studierenden des Profils unter 2. sollten u.a. eine solide arbeits- und leitungswissenschaftliche Grundlagenausbildung erhalten. Insgesamt wurden die arbeitswissenschaftlichen Lehrinhalte/-umfänge Ende der 80er Jahre aber zurückgenommen.
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Chancen aus neuen Entwicklungen
Bei den arbeitswissenschaftlichen Studiengängen gilt es, an den Bildungsvorlauf des WAO-Konzeptes sowie der Arbeitsstrukturierung (neue Formen der Arbeitsorganisation) anzuknüpfen (-+• 6.2.3.3). Diese Einsicht hat sich bereits in der Curriculumentwicklung nieder-
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geschlagen. 1986 hieß es im Arbeitsauftrag der Studienreformkommission Maschinenbau und Verfahrenstechnik der KMK in den dortigen Empfehlungen: "Ziele, Inhalte und Ausgestaltung des Studiums im Studienfeld Maschinenbau und Verfahrenstechnik haben sich an den Schwerpunkten der wissenschaftlichen Entwicklung einerseits und der Entwicklung in den Tätigkeitsfeldern unter Berücksichtigung der sozialen Implikationen des technischen Wandels andererseits zu orientieren" (Sekretariat 1986; vgl. Schweres/Mählck 1987). In ihrer Wertung zum seinerzeitigen Ausbildungsstand (1986) fuhrt die Kommission unter "Studieninhalte" zu den so bezeichneten "nichttechnischen Fächern" u.a. aus: "Darüber hinaus sollte in den technischen und naturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen noch wesentlich mehr Wert als bisher darauf gelegt werden, nichttechnische Themen zu behandeln. Bei den nichttechnischen Fächern und Themen geht es sowohl um die unmittelbare Berufswirklichkeit des Ingenieurs (z.B. betriebliche Arbeitsund Entscheidungsorganisation, Betriebswirtschaftslehre, Technisches Englisch, Rechtsfragen) als auch um die gesellschaftlichen Bezüge der Ingenieurtätigkeit und die Entwicklung eines situationsangemessenen Problembewußtseins (z.B. volkswirtschaftliche und ökologische Zusammenhänge, Fragen gesellschaftlichen Wandels, Technologiefolgeabschätzung, Humanisierung der Arbeit, Geistesund Sozialgeschichte der Technik)" (Sekretariat 1986, S. 26). Damit spricht die Studienreformkommission mehrere Themengebiete an, die von arbeitswissenschaftlicher Bedeutung sind. Das mußte zu Folgen bei der Festlegung von Zielen und Inhalten künftiger Studiengänge fuhren. Bereits im Grundstudium sollte daher nach der Studienreformkommission der Studierende in das Beziehungsfeld "Gesellschaft und Technik" eingeführt werden. Im Hauptstudium waren folgerichtig für den Studiengang Maschinenbau 4 Semesterwochenstunden (SWS) Arbeitswissenschaft und Grundlagen der Arbeitssicherheit im Pflichtfachbereich ausgewiesen. Im Katalog der Vertiefungsrichtungen (Vertiefiingsfächer) ist unter "Fertigungs- und Pro-
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Arbeitsorientierte Studiengänge
duktionstechnik" die Arbeitswissenschaft ebenfalls aufgeführt, zusätzlich im Katalog der technischen Wahlpflichtfächer. Für das Hauptstudium der Verfahrenstechnik wird im Pflichtfachbereich die Prozeß- und Anlagentechnik einschließlich Umweltund Arbeitsschutz gefordert. Die Arbeitswissenschaft ist hier nur im Katalog der technischen Wahlpflichtfächer enthalten. Für Maschinenbau und Verfahrenstechnik finden sich im ergänzenden Katalog der nichttechnischen Wahlpflichtfächer auch die arbeitswissenschaftlich bedeutsamen Fächer Einführung in das Arbeitsrecht, Einführung in das Personalwesen, Einführung in die Arbeitspsychologie, Einführung in die Betriebssoziologie, Einführung in die Ökologie sowie Industriedesign (vgl. Sekretariat 1986). Die dann vorgelegte "Rahmenordnung" (KMK/HRK 1991) sieht nunmehr unter den Pflichtfächern des Hauptstudiums vor: "Arbeitswissenschaft und Technische Betriebsführung/Betriebswirtschaftslehre" mit 4 + 3 SWS (vgl. KMK/HRK 1991, S. 87). Der 1. Prüfungsabschnitt (Pflichtbereich) umfaßt u. a. "Arbeitswissenschaft und Technische Betriebsführung" (KMK/HRK 1991, S. 80). In der Anlage III der Rahmenordnung werden als arbeitswissenschaftlich relevante nichttechnische Wahlpflichtfächer genannt (vgl. KMK/ HRK 1991, S. 43): -
Arbeitsrecht Personalwesen Arbeitspsychologie Betriebssoziologie Ökologie Industriedesign.
Als "Arbeitswissenschaftliches Grundwissen" wird angeführt: "Geschichte der menschlichen Arbeit und der Arbeitswissenschaft, Körperfunktionen und Arbeitsumgebung, Operationen und Bewegung mit Werkzeugen und an Maschinen, Arbeitstätigkeit und Arbeitsplatz, Personales Handeln und Arbeitsformen, Kooperationsformen, Betriebliche Arbeitsbeziehungen und Organisation; Methoden der Arbeitswissenschaft; Anwendungsgebiete, insbesondere Ar-
Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
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beit und Gesundheit, Arbeitsgestaltung, Grundlagen der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes" (KMK/HRK 1991, S. 82). Diese Inhaltsbeschreibung deckt sich im wesentlichen mit den Inhaltskatalogen, die seinerzeit von der DFG 1980 vorgelegt wurden (vgl. DFG 1980) und im Auftrag der Gesellschaft ftir Arbeitswissenschaft von Luczak/Volpert und Mitarbeitern unter stärkerer Berücksichtigung geistes- und sozialwissenschaftlicher Anteile in einer "Systematik des Gegenstandkatalogs" (Luczak/Volpert et al. 1978, S. 63 und S. 73 ff.) aktualisiert wurden. Unter den Zielsetzungen des Hauptstudiums wird zu dem wichtigen traditionellen Anwendungsfeld des Arbeitsschutzes (Arbeitssicherheit) ausgeführt: "Ausbildung eines arbeitssicherheitlichen Systemdenkens als integrales Element von Arbeitsprozessen auf der Basis der anerkannten sicherheitswissenschaftlichen Grundlagen, Erkennen des multikausalen Unfallursachengeschehens und Heranbildung der Fähigkeit, Unfallgefahren im Wege technischer, organisatorischer und verhaltensbezogener Maßnahmen zu beseitigen bzw. zu beherrschen" (KMK/ HRK 1991, S. 79). Gemäß dem erst in den letzten Jahren entwickelten umfassenderen, stärker innovativ und präventiv ausgerichteten Verständnis der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit (Arbeits- und Gesundheitsschutz gemäß der sog. "Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie" (89/391/EWG vom 12. Juni 1989; vgl. Bieneck/Rückert 1994)) der EG/EU sind derartige Zielvorstellungen nunmehr auszubauen. Sie geben einen Einstieg für verbesserte arbeitswissenschaftliche Studiengänge. Diese Chance sollte genutzt werden, um die arbeitswissenschaftliche Basisqualifikation für alle arbeitsbezogenen Bildungsgänge zu erhöhen.
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Arbeitsorientierte Studiengänge
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Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
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Arbeitsorientierte Studiengänge
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Arbeitswissenschaftliche Studiengänge
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862
Arbeitsorientierte Studiengänge
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
10.1
Konzept eines Studienganges "Diplom-Arbeitspädagogik" Arnulf Bojanowski, Heinz Dedering und Gerald Heidegger
10.1.1
Zur Notwendigkeit von arbeitsweltbezogenen Innovationen in der Hochschulausbildung
865
Charakteristika eines neuen Studiengangs "Arbeitspädagogik"
868
10.1.3 10.1.3.1 10.1.3.2
Beschäftigungschancen von Arbeitspädagogen Zum gesellschaftlichen Bedarf Eigenständige "Konstruktion" angemessener Arbeitsfelder
870 870 871
10.1.4
Beschäftigungsbereiche, Einsatzmöglichkeiten, Tätigkeitsfelder
873
Abgrenzungen von anderen Berufen Mögliche Zusammenarbeit
878
10.1.2
10.1.5
Zitierte Literatur
10.1.1
879
Zur Notwendigkeit von arbeitsweltbezogenen Innovationen in der Hochschulausbildung
Im Rahmen der Hochschulausbildung über arbeitsweltorientiertes Lernen nachzudenken, wirkt aus zwei sehr verschiedenen Gründen befremdlich. Zum einen erscheint es für die Hochschule als pure Selbstverständlichkeit, Bezüge zur Arbeitswelt zu entwickeln, da die Absolventen der universitären Studiengänge auf dem Arbeitsmarkt für gehobene Berufe landen; ihre Abschlüsse berechtigen sie, idealiter Positionen im Berufsleben zu besetzen, auf die sie das jeweilige Studium vorbereitet hat. Insofern ist mit dem Hochschulstudium ein zumindest mittelbarer Arbeitsweltbezug gegeben. Zum anderen erscheint die arbeitsweltliche Bezugnahme für Hochschulen abwegig, weil der vorherrschende hochschulische Lerntypus immer noch mit Begriffen wie "Einsamkeit und Freiheit" (Humboldt) in Verbindung gebracht wird, auch wenn z.B. im Lehrerstudium sich der Praxisbezug verstärkt hat (vgl. Händle 1989). Hochschulen sind damit im Kern ihres Selbstverständnisses der Arbeitswelt gegenüber eher verschlossen. Um so vordringlicher scheint es, darüber nachzudenken,
866
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
wie sich auch die Hochschulausbildung der Arbeitswelt annähern könnte. In diesem Beitrag wollen wir ein Modell vorstellen, das wir vor gut zehn Jahren in die Debatte geworfen hatten (vgl. Bojanowski u.a. 1984). Wir wollten der Lehrerausbildung - am Beispiel des Faches Arbeitslehre an den Hochschulen - Anregungen zur Weiterentwicklung geben, um Lehrern Alternativen zur Lehrerarbeitslosigkeit zu bieten und ihnen neue Tätigkeitsfelder zu eröffnen (vgl. Hävers u.a. 1983). Unser Vorschlag lautet, das Arbeitslehrestudium explizit um fachpraktische Elemente zu erweitern und den Studierenden dieses Faches zwei berufliche Abschlüsse zu vermitteln (hochschulische Doppelqualifikation; 6.1). Der Vorschlag zielt paradigmatisch auf eine Veränderung herkömmlicher hochschulischer Ausbildung in Richtung eines Arbeitsweltbezuges - und deshalb halten wir es für begründet, ihn in diesem Handbuch wieder aufzunehmen. Die Substanz der Grundidee erscheint uns immer noch sinnvoll. Denn weder ist die Krise der Arbeitslehre an den Hochschulen (hohe Arbeitslosigkeit der Absolventen; mangelnde fachliche Kohärenz der Studieninhalte) überwunden, noch hat sich bislang die Praxisanbindung der hochschulischen Arbeitslehre einschneidend verbessert. Unsere These ist, daß auch die klassischen Lehrerbildungsgänge um Praxisbezüge angereichert werden könnten und sollten. Dabei könnte man durchaus an andere akademische Studiengänge mit stärkerem Arbeitsweltbezug anknüpfen: an die Fachhochschulen und die Berufsakademien. In ihnen ist die Anbindung an die Arbeitswelt insofern konstitutiv, als die Studierenden in enger Verbindung mit ihren späteren Arbeitsstätten lernen sollen. Durch Praktika in Betrieben, Verwaltungen und Ämtern, durch Felderkundungen und schließlich durch Diplomarbeiten, die Praxisprobleme aufgreifen bzw. lösen helfen, sollen die zukünftigen Absolventen befähigt werden, relativ schnell am Arbeitsplatz einsatzfähig zu sein. Einige Fachhochschulen haben die Praxisbezüge so weit vorangetrieben, daß sie, in Abstimmung mit örtlichen Industrie- und Handelskammern, anerkannte Berufsabschlüsse (z.B. Industriekaufmann) mit dem Abschlußzertifikat der Fachhochschule koppeln. In das Studium sind dann entsprechende Praxisanteile eingebettet. Die Anreicherung des Arbeitslehrestudiums um den Abschluß "Diplom-Arbeitspädagoge" bietet insofern ein Paradigma veränderten hoch-
Konzept eines Studienganges „Diplom-Arbeitspädagogik"
867
schulischen Lernens, als durch die doppelte Orientierung neben einer Einführung in wissenschaftliche Studien gleichzeitig auch eine praxisorientierte Hinflihrung zum Beruf erreicht wird. Die Studierenden stehen damit in einem Lernzusammenhang, in dem Tätigkeit eine bedeutsame Rolle spielt; die Kontakte zur Praxis können leicht durch Reflexion oder durch Vor- und Nachbereitung "verflüssigt" werden. Dieser Bezug zum Tun hat Konsequenzen für die hochschulische Lehre insofern, als sie weniger fachsystematisch, sondern an den sich stellenden Fragen und Problemen der Praxis ausgelegt wird. Für die Lehrenden gilt es mithin, neue Verbindungen zur Arbeitswelt zu suchen, und die eigenen Praxiserfahrungen regelmäßig aufzufrischen. Weniger Buchwissen und Vorlesungen sind gefragt, sondern eine Ausrichtung der Seminare und Übungen auf Praxislernen. Sicherlich könnte solch ein praxisorientierter Lern- und Lehrtypus auch die hochschulische Forschung verändern. Durch Anbindungen an arbeitsweltliche Kontexte könnten Forschungsfragen entstehen, die nicht "am grünen Tisch", sondern Bedürfnissen der Abnehmer, also der Betriebe oder Verwaltungen entspringen. Aus solchen Forschungen könnte sich auch ein neuartiges Netzwerk von Kooperationen zwischen der Hochschule und benachbarten Einrichtungen entwickeln. Jedoch könnte ein Arbeitsweltbezug nicht nur für die hochschulischen Studiengänge oder das Lehrpersonal eine Bereicherung darstellen, sondern seine strategische Bedeutung läge in einer habituellen Erweiterung der Lehrerstudenten selber, die für sich durch die Praxisanbindungen und ein breit angelegtes Studium ein neues Selbstbewußtsein gewinnen könnten. Denn ein Studium, wie es uns vorschwebt, würde der beruflichen Mobilität der Studierenden höchst nützlich sein, was angesichts der prinzipiellen Ungewißheit, wieviel Arbeitslehre-Lehrer absehbar gebraucht werden, gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Auf der anderen Seite ist nicht zu vergessen, daß der Lehrer - wie jeder andere Berufstätige auch und vor allem an der Möglichkeit von beruflicher Identität interessiert ist. Es käme daher in der Lehrerausbildung - wie in jedem anderen Ausbildungsgang - darauf an, die widersprüchlichen Anforderungen der (beruflichen) Mobilität und der (beruflichen) Identität in einen balancierten Ausgleich zu bringen (vgl. Bojanowski u.a. 1982, S. 104 ff., S. 267 ff.), so daß die Studenten ein Selbstverständnis als Pädagoge und zugleich die Fähigkeit für eine hinreichende Beweglichkeit auf dem Arbeitsmarkt erwerben können. Der
868
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
im folgenden unterbreitete Vorschlag, die Lehrerausbildung in Arbeitslehre zu einem pädagogischen Studiengang mit der Vergabe des akademischen Grades "Diplom-Arbeitspädagoge" und einem zusätzlichen Berufsabschluß auf Assistentenebene (Ingenieur-, Wirtschafts-, Diätassistent/in u.a.; vgl. Schenk 1983) zu erweitern (Doppelqualifikation), geht von diesem Spannungsverhältnis - zwischen beruflicher Mobilität und beruflicher Identität - aus und versucht, dieses für den Bereich des Arbeitslehrestudiums angemessen zu berücksichtigen.
10.1.2
Charakteristika eines neuen Studiengangs "Arbeitspädagogik"
Der neue Studiengang soll den eingeführten Studiengang "Arbeitslehre" für einzelne Lehrämter der Mittelstufe nicht ersetzen, sondern für interessierte Studenten eine Erweiterung anbieten. Den Absolventen des gegenwärtigen Lehramts-Studiengangs "Arbeitslehre", der voll erhalten bleibt, soll ein entsprechendes Aufbaustudium im Umfang von drei bis vier Semestern mit dem Abschluß eines Diplom-Arbeitspädagogen ermöglicht werden. Parallel hierzu soll ein grundständiger Studiengang "Arbeitspädagogik" eingerichtet werden, der curricular so angelegt ist, daß das Lehrangebot der Arbeitslehre integriert ist. Die Studenten wählen nach einem Grundstudium von drei Semestern (mit anschließendem Vordiplom) in dem funfsemestrigen Hauptstudium einen Schwerpunkt. Als Schwerpunkte wären vorzusehen: -
Schwerpunkt I: Abschluß "Diplom-Arbeitspädagoge" mit dem Schwerpunkt "Lehramt für die Mittelstufe'VAssistent; Schwerpunkt II: Abschluß: "Diplom-Arbeitspädagoge" mit dem Schwerpunkt "Arbeitsorientierte Jugendbildung'VAssistent; Schwerpunkt III: Abschluß: "Diplom-Arbeitspädagoge" mit dem Schwerpunkt "Arbeitsorientierte Erwachsenenbildung'VAssistent.
Inhaltlich-curricular könnten innerhalb des Studiums die folgenden fünf Bereiche vorgesehen werden: •
Erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium (Umfang: ca. 30-40 Semesterwochenstunden);
Konzept eines Studienganges „Diplom-Arbeitspädagogik"
869
•
Arbeitspädagogik (Umfang: ca. 20-30 Semesterwochenstunden); • Arbeitslehre (Technik, Wirtschaft und Haushalt (bzw. SozioÖkologie), Umfang: ca. 30 Semesterwochenstunden); • Fachvertiefung (in "Technik" oder "Wirtschaft" oder "Haushalt" (bzw. "Sozio-Ökologie")), (Umfang: ca. 40 Semesterwochenstunden). Hier wäre auf die entsprechenden Angebote der Arbeitslehre zurückzugreifen, die durch eine jeweils zu wählende Vertiefung in den Fachbereichen Technik, Wirtschaft oder Haushalt (bzw. Sozio-Ökologie) ergänzt werden müßten. Weiterhin wäre die Fachvertiefung i.d.R. so auszulegen, daß sie inhaltlich an eine Assistentenausbildung anknüpft, wobei die Inhalte vor allem im theoretischen Bereich voll auf universitärem Niveau zu lehren sind. Folgende, derzeit relativ perspektivenreiche Assistentenberufe bieten sich an: 1. Für Technik: Ingenieurassistent(in)/Technischer Assistent(in) für Konstruktions- und Fertigungstechnik; Elektronik-Assistent(in); Elektroassistent(in); 2. für Wirtschaft: Wirtschaftsassistent(in); 3. für Haushalt (bzw. Sozio-Ökologie): Diätassistent(in); Landwirtschaftlich-Technischer Assistent(in); Biologisch-Technischer Assistent(in). •
Schwerpunktvertiefung (je nach gewähltem Schwerpunkt), (Umfang: ca. 30-40 Semesterwochenstunden). Folgende Fachgebiete könnten z.B. für die Schwerpunktvertiefung, durch die speziell eine arbeitsorientierte Vorbereitung auf verschiedene außerschulische pädagogische Felder geboten werden soll, vorgesehen werden: Südländische Sprachen, Arbeits-Rehabilitation, Deutsch für Ausländer, Frauenerwerbsarbeit, Betriebsführung/Informatik, Freizeitpädagogik, sonstiges Nebenfach (nur Schwerpunkt III), 2. Fach für das Lehramt (nur Schwerpunkt I).
Im Verlauf des Studiums sollten vier Praktika abgeleistet werden: 1. Ein dreimonatiges ungelenktes Betriebspraktikum vor Beginn des Studiums; 2. ein 1 1/2- monatiges gelenktes Betriebspraktikum nach dem 2. Semester; 3. ein 1 1/2- monatiges gelenktes pädagogisches Praktikum nach dem 5. Semester;
870
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
4. ein 6- monatiges gelenktes Ausbildungspraktikum nach dem 6. Semester (mit diesem Praktikum ergibt sich eine Gesamtausbildungsdauer von 4 1/2 Jahren).
10.1.3
Beschäftigungschancen von Arbeitspädagogen
10.1.3.1
Zum gesellschaftlichen Bedarf
Wie bei allen Bedarfsüberlegungen im Arbeitsmarktbereich können hier lediglich allgemeine Einschätzungen der künftigen Chancen von jungen Akademikern zum Eintritt in das Erwerbsleben angestellt werden. Es ist davon auszugehen, daß es in Zukunft eine weiter ansteigende Zahl von Hochschulabsolventen geben wird. Auch bei den traditionellen Akademikerberufen wird die Zahl der Absolventen mehr und mehr die Zahl derjenigen Arbeitsplätze übersteigen, welche nach den bisher verbreiteten Vorstellungen mit Akademikern besetzt werden sollen. Für die Einfuhrung des Studiengangs "Arbeitspädagogik" spricht, daß in Zukunft mit wachsender "Berufskonkurrenz" zwischen herkömmlichen akademischen und nichtakademischen Beschäftigungspositionen zu rechnen sein wird. Ein erhöhtes Akademikerangebot kann zu neuen und "umgewidmeten" Stellen fuhren: "Auf diese Weise ist in der Vergangenheit etwa jeder fünfte Diplom-Kaufmann oder dritte Diplom-Politologe zu einem Arbeitsplatz gekommen" (Bund-Länder-Kommission 1978, S. 79). Natürlich darf man nicht voreilig verallgemeinern, daß solche Effekte auch bei stark steigenden Zahlen von fertigen Hochschulabgängern hinreichend "greifen". Immerhin ist zur "Umwidmung" von Arbeitsplätzen hinzuzufügen: "Insbesondere mit der Verdrängung von Nichtakademikern durch Akademiker wird in der Öffentlichkeit das Argument der unterwertigen Beschäftigung in die Diskussion geworfen. Dabei wird vielfach übersehen, daß viele Arbeitsplätze im Vergleich zu den Anforderungen mit einer zu geringen formalen Qualifikation ausgestattet werden, die durch berufliche Erfahrung der Stelleninhaber kompensiert wurde. Werden solche Arbeitsplätze mit Akademikern neu besetzt, dann werden häufig Anforderungen und formale Ausbildung miteinander in Einklang gebracht" (BundLänder-Kommission 1978, S. 79). Für diese formale Unterqualifikation gibt es empirische Belege. Unter diesen Umständen müssen die Hochschulabgänger immer stärker bereit, aber auch von ihrem Studium her in der Lage sein,
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solche für Akademiker "umzuwidmenden" Positionen zu besetzen. Häufig wird es sich um Arbeitsplätze handeln, welche auf der Grenze zwischen schon eingeführten Berufen angesiedelt sind, so daß Absolventen der traditionellen Ausbildungsgänge dafür eigentlich unzureichend vorgebildet sind. Dabei kann es um Berufe auf gleicher Hierarchieebene gehen; so ist z.B. die "Doppelqualifikation" Diplom-Wirtschaftsingenieur entstanden. In unserem Zusammenhang ist aber wichtig, daß es sich eben auch um Berufe auf verschiedenen Hierarchieebenen handeln kann: so etwa, wenn ein Diplom-Kaufmann EDV-Kenntnisse auf dem Niveau nicht eines Diplom-Informatikers, sondern lediglich auf demjenigen eines Mathematisch-Technischen Assistenten benötigt. Gerade auf einen solchen Grenzbereich müßte die Qualifikation des von uns angestrebten Berufsbildes eines doppeltqualifizierten Diplom-Arbeitspädagogen zugeschnitten sein. Sie verbindet zunächst - in einem gewissen Ausschnitt - Qualifikationselemente des Berufspädagogen (in der jeweiligen "Fachvertiefung") mit den Fähigkeiten des Lehrers im Fach Arbeitslehre, welches auf vorberufliches Arbeiten und Lernen orientiert ist. Je nach seinen pädagogischen Zusatzstudien ist der DiplomArbeitspädagoge außerdem auf ein spezifisches pädagogisches (insbesondere außerschulisches) Aufgabenfeld besonders vorbereitet. Hinzu kommt der formale Ausbildungsabschluß als Technischer Assistent in der jeweiligen "Fachvertiefung". Damit kann der Absolvent in diesem Fachgebiet selbst unmittelbar beruflich tätig werden und von dort aus seine pädagogischen Kompetenzen in die Gestaltung des Arbeitsplatzes einbringen. Die Qualifikation des DiplomArbeitspädagogen ist polyvalent, so daß es sich inhaltlich um eine Mehrfachqualifikation und lediglich formal um eine "Doppelqualifikation" handelt. 10.1.3.2
Eigenständige "Konstruktion" angemessener Arbeitsfelder Nun wird der Absolvent des vorgeschlagenen Studiengangs nicht Stellenangebote für Diplom-Arbeitspädagogen erwarten können, da es sich ja um einen neu einzuführenden Beruf handelt. Häufig wird er sich aufgrund des finanziell begründeten Stellenmangels nicht einmal auf die teilweise verwandten Positionen etwa eines diplomierten (betrieblichen) Berufspädagogen, Sozialpädagogen oder Ausländerpädagogen beziehungsweise z.B. eines Volkshochschuldozenten oder Entwicklungshelfers bewerben können. Vielmehr wird es darauf ankommen, daß die Absolventen an den unterschiedlichen Stel-
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
len und auf verschiedenen Ebenen der Beschäftigungshierarchie einen Einstieg in das Erwerbsleben finden können; nach und nach haben sie dann aufgrund ihrer Fähigkeiten die Möglichkeit, eine "Umwidmung" ihrer Arbeitsplätze auf anspruchsvollere Aufgaben zu bewirken. Dazu muß ein "Arbeitspädagoge" eigenständig aktiv werden, um sich eine angemessene Position selbst zu gestalten. Nehmen wir ein Beispiel: Ein möglicher Beschäftigungsbereich für Arbeitspädagogen könnte die betriebliche, arbeitsorientierte Eingliederung von jungen, insbesondere ausländischen Erwerbstätigen ("Jungarbeitern") oder auch die betriebliche Fort- und Weiterbildung sein. Soweit der betreffende Betrieb hierfür nicht schon vorhandene Ausbilder einsetzen will, wird er vielleicht Stellen für Sozial- und Berufspädagogen ausschreiben, insofern, als das genannte Tätigkeitsfeld auf der Grenze zwischen diesen beiden Berufen liegt. Was aber, wenn der Betrieb die Besetzung dieser Stellen aus finanziellen Gründen scheut? Vielleicht kann dann ein Absolvent des arbeitspädagogischen Studiengangs in diesem Betrieb eine Stelle als Elektrotechnischer Assistent finden. Seine zusätzlichen Qualifikationen in der arbeitsorientierten Berufseinführung (Fach Arbeitslehre) und beispielsweise in der Jugend- oder Ausländerpädagogik sind im Betrieb bald bekannt; vielleicht haben sie schon seine Anstellung begünstigt. Möglicherweise wird er hin und wieder damit beauftragt, einzelne Kurse bei den skizzierten Eingliederungsmaßnahmen durchzuführen. Hinzu kommen vielleicht Einfiihrungskurse für Hilfspersonal oder auch Sekretärinnen in seiner Abteilung. Wenn sich unser "exemplarischer" Absolvent für solche Aufgaben engagiert, kann er unter Umständen sein Tätigkeitsfeld mehr und mehr in den arbeitspädagogischen Bereich verlagern. Oder er wird mit der allgemeinverständlichen schriftlichen Darstellung von Arbeitsergebnissen der Abteilung für Verhandlungen mit anderen, fachfremden Abteilungen betraut und zu den Verhandlungen hinzugezogen; so kann er sich langsam ein Tätigkeitsfeld im Bereich der Abteilungskoordination erschließen. Ein anderer möglicher Beschäftigungsbereich für den Diplom-Arbeitspädagogen ist die Aufnahme einer selbständigen Erwerbsarbeit. Dabei denken wir insbesondere an einen Grenzbereich, der sogenannte "Alternativbetriebe" mit herkömmlichen Kleinbetrieben verbindet. Wichtig ist nun, daß sich in den beschriebenen Bereichen auch die pädagogischen Kompetenzen sinnvoll einbringen lassen.
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Gewöhnlich werden derartige Unternehmungen von Gruppen ins Leben gerufen, so daß von großem Nutzen ist, wenn ein Gruppenmitglied Kenntnisse über Gruppenprozesse und die Eingliederung von neuen Gruppenmitgliedern sowie deren Anleitung erworben hat (erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium). Weiterhin sind in solchen Gruppen häufig arbeitslose Jugendliche, zumal aus gesellschaftlichen Randgruppen, einbezogen. Diese sozialpolitisch wichtigen Aufgaben der Arbeitslosen-Selbsthilfe kann der Diplom-Arbeitspädagoge besser meistern als andere, wenn er in der "Schwerpunktvertiefung" in arbeitsorientierter Weise auf solche Herausforderungen vorbereitet ist.
10.1.4
Beschäftigungsbereiche, Einsatzmöglichkeiten, tigkeitsfelder
Tä-
Wenn diese Überlegungen zu einer "aktiven Arbeitsmarktstrategie" richtig sind, dann tun sich für den Diplom-Arbeitspädagogen eine Reihe von "beruflichen Nischen" auf, die zwischen den Feldern der Arbeitstherapie, der Berufs-/Betriebspädagogik und der Sozialarbeit/-pädagogik liegen. Im folgenden skizzieren wir einen denkbaren Ausschnitt solcher "Nischen". Betreuung ausländischer Jugendlicher und "Seiteneinsteiger": Der Diplom-Arbeitspädagoge wäre in besonderem Maße befähigt, Lern- und Arbeitsprozesse für ausländische Jugendliche, vor allem Seiteneinsteiger, die erst in der Phase der Adoleszenz nach Deutschland kommen, anzuregen, vor allem durch seine vielfältigen handwerklichen Kenntnisse. Durch Grundkenntnisse in südländischen Sprachen kann der Arbeitspädagoge neben diesen handwerklichen Fähigkeiten besonders die Jugendlichen aus ihrer "doppelten Sprachlosigkeit" herausholen und sie ermuntern, über den Einsatz der genannten Fähigkeiten in geregelte Arbeitszusammenhänge hineinzufinden. Anregung betrieblicher Eingliederung: Aus Eingliederungsmaßnahmen und Förderlehrgängen für lernschwache Jugendliche wird oft berichtet, daß die nicht selten geringe pädagogische Kompetenz der betrieblichen Ausbilder und die ebenso wenig entfalteten arbeits- und betriebsbezogenen Sachkenntnisse seitens der eingestellten Sozialarbeiter sich nur schwer miteinander verbinden lassen
874
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
(vgl. Bojanowski 1988). Diplom-Arbeitspädagogen wären gerade in solchen Fällen in der Lage, durch arbeitspädagogische und arbeitswissenschaftliche Kenntnisse betriebsbezogene Prozesse zu durchschauen und zu begleiten. Dazu gehören nicht nur "erlebnispädagogische" Vorgehensweisen, wie sie stärker von Sozialpädagogen angewandt werden, sondern auch pädagogische Fähigkeiten, über die betriebs- und arbeitsbezogenen Zwänge sachkundig aufzuklären Fähigkeiten, die der Arbeitspädagoge zum Beispiel durch das Studium in seiner Fachvertiefung mit dem Berufsabschluß eines Technischen Assistenten erworben hat. Der Diplom-Arbeitspädagoge kann mit diesen Kenntnissen unmittelbar durch anregende Kursangebote im Betrieb oder in einer Lehrwerkstatt durch erste berufsbildende Maßnahmen die Berufsreife der Jugendlichen fördern helfen. Erwachsenenbildung: Mit der Verkürzung der Lebens- und auch der Wochenarbeitszeit ergeben sich für den gesamten Bereich der Weiterbildung neue Aufgaben und Probleme (vgl. Faulstich u.a. 1991). So wird beispielsweise seitens des "Club of Rome" die Behauptung aufgestellt, arbeitsorientierte Lernformen ("innovatives Lernen") seien notwendig fiir das Überleben der Gattung Mensch überhaupt; seitens der Soziallehre - z.B. von Oswald von Nell-Breuning - wird die Forderung formuliert, daß die Menschen einen überwiegenden Teil ihrer Zeit nach der erfolgten Arbeitszeitverkürzung zur Pflege der kulturellen Güter und Werte aktiv verwenden sollten. Von den Gewerkschaften sind betriebsbezogene Aufklärungsbemühungen zu beobachten, um fiir die arbeitenden Menschen die Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt zu erweitern (vgl. Heidegger/Rauner 1990). Unter anderem vor diesem Hintergrund wurde auch eine gewisse Verberuflichung des Volkshochschullehrers diskutiert ("Weiterbildungslehrer"). Für Diplom-Arbeitspädagogen, die auch den Abschluß "Lehrer fiir die Mittelstufe" (bzw. für bestimmte Schulformen der Mittelstufe) erworben haben, gäbe es hier interessante Tätigkeitsmöglichkeiten. Aber auch derjenige DiplomArbeitspädagoge, der den Schwerpunkt III "arbeitsorientierte Erwachsenenbildung" mit einem Nebenfach belegt hat, könnte bei einer verstärkten Professionalisierung der Volkshochschulen vielfältige Kursangebote machen (z.B. handwerkliche Grundkurse; "Frauenerwerb sarbeit"). Anregungen rehabilitativer Prozesse: Frührentnern und Berufsunfähigen können derzeit kaum Beschäftigungsangebote ge-
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macht werden, die ihrer Behinderung angemessen wären. Rein berufliche Bildungsmaßnahmen sind in diesen Fällen zumeist sinnlos, da eine Erwerbsarbeit für diese Problemgruppe oft nicht mehr möglich ist; sozialpädagogische und psychologische Betreuung allein entspräche jedoch nicht den oft noch vorhandenen Wünschen und dem Talent der Betroffenen. Der Arbeitspädagoge kann seine in der Fachvertiefüng erworbenen beruflichen Fähigkeiten in Verbindung mit der Schwerpunktvertiefüng "Arbeits-Rehabilitation" so anwenden, daß er im Rahmen von individueller Betreuung oder durch gezielte Kursprogramme dazu beiträgt, für die Betroffenen sinnstiftende Arbeitsanregungen zu vermitteln, die weit über stumpfsinniges Beschäftigen hinausweisen. In diesem Zusammenhang wäre ein besonderes Einsatzfeld die Tätigkeit in Gemeinschaftsdörfern von Behinderten (z.B. Camphill-Lehnhof), in denen die Mehrfachqualifikationen des Arbeitspädagogen vielfältig und realistisch zum Tragen kommen könnten. In eingeschränkterem Maße entsteht für den Arbeitspädagogen als Mitarbeiter in Gruppen von psychisch Kranken, Drogenabhängigen und zu resozialisierenden Strafgefangenen in Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen, Bewährungshelfern, Arbeitstherapeuten, Ärzten und Psychologen ebenfalls eine Reihe von Einsatzfeldern. Es scheint unmittelbar einleuchtend, daß viele Gefährdete nicht nur kommunikativer Thematisierung und Aufarbeitung ihrer psychischen Probleme bedürfen, sondern auch einer gezielten Stimulierung und Aktivierung ihres Leibes und ihrer manuell-haptischen Fähigkeiten; dies nicht nur, um Selbstvertrauen und Kompetenzzuwachs zu erreichen, sondern auch um - vielleicht verschüttete - vorberufliche Fähigkeiten zu entfalten, die eine spätere Eingliederung in Beruf und Gemeinschaft erleichtern. Der Diplom-Arbeitspädagoge kann mit Hilfe seiner Fähigkeit, Arbeitsprozesse zu initiieren, diese Entwicklung positiv fordern. Kirchliche und soziale Dienste: Stellen Staat und Gesellschaft Rahmen und Möglichkeiten für mehr Subsidiarität ihrer Mitglieder zur Verfügung, was in modernen Gesellschaften grundsätzlich der Fall sein sollte, dann werden den Kirchen neue Selbsthilfe-Aufgaben zuwachsen, die über Betreuung und seelsorgerische Beratung der Gemeindemitglieder hinausgehen. Arbeitspädagogen können gemeinsam mit Gemeindehelfern und Pfarrern gezielt durch stützende und helfende arbeitsorientierte Interventionen subsidiäre Aufgaben
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
der Kirchen anreichern und ergänzen, etwa durch Arbeitslehrgänge für kirchliche Jugendgruppen oder durch Kurse im Bereich der Altenarbeit, aber auch allgemein für Erwachsene. Ähnliche Prozesse kann der Arbeitspädagoge im Bereich der kommunalen Jugendbildungswerke in Gang setzen. Zu den Aufgaben dieser Institutionen gehört die Förderung fürsorgerischer, handwerklicher und hobbybezogener Arbeit. Es wird allgemein die Auffassung vertreten, daß die Kommunen hierfür eigentlich künftig größere Geldmittel zur Verfugung stellen müßten. In Jugendbildungswerken, Jugendzentrumsinitiativen u.s.w. kann der Diplom-Arbeitspädagoge mit seinen breitgespannten Fähigkeiten produktive Angebote machen, die nicht nur auf die Freizeit der Jugendlichen zielen, sondern auch ihrer Berufsfindung und -Vorbereitung forderlich sein dürften. Erwerbsarbeit als Selbständiger: Für den Diplom-Arbeitspädagogen wäre auch eine Erwerbsarbeit als Selbständiger denkbar. Bei dieser Überlegung gehen wir davon aus, daß sich gegenwärtig und auch in Zukunft die staatlichen Aktivitäten, herkömmliche Arbeitsfelder für Akademiker (insbesondere Lehrer, aber auch andere Hochschulabsolventen) zu schaffen, nicht wesentlich erhöhen. Dementsprechend ist zu vermuten, daß sich eine große Zahl der Akademiker eine selbständige Erwerbsarbeit suchen wird. Ein gewisser Teil der Hochschulabsolventen ist z.B. in den 80er Jahren in Projekte alternativer Arbeit eingestiegen. Diese auch als "Gegenwirtschaft" bezeichnete ökonomische Entwicklung zu anderen Arbeitsformen hat durchaus zu neuen Arbeitsplätzen und veränderten Formen der Arbeit gefuhrt. So war z.B. im nordhessischen Raum eine Zunahme von alternativen "Netzwerken", von Selbsthilfegruppen und Betriebsgründungen zu beobachten (kleine Läden, Werkstätten, Beratungsgruppen u.a.). Und inzwischen ist ja bekannt, daß aus "alternativen Betrieben" "neue Selbständige" wurden, die Produkte erstellen oder Dienstleistungen erbringen. Absolventen des geplanten Studiengangs "Arbeitspädagogik" bieten gute Voraussetzungen gerade aufgrund ihrer Kenntnisse im Bereich der Fachvertiefung "Wirtschaft". Anregen gestalterischer Prozesse: Seit einigen Jahren ist zu beobachten, daß sich Betriebe bemühen, für ihre Lehrlinge auch Angebote im kreativen Bereich zu schaffen, sei es in Töpfern, sei es in der Holzbearbeitung oder mit anderen gestalterisch-künstlerischen Medien (vgl. Brater u.a. 1989). Ebenso sind kulturelle Institutionen
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wie Jugendkunstschulen, Museen, Kreativitätsschulen, Jugendfreizeitstätten und Jugendheime daran interessiert, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, die - haupt- oder nebenamtlich - Kurse im Bereich "musisch-kultureller Bildung" anbieten. Durch den hohen Studienanteil an Arbeitslehre, in der praktische und handwerkliche Elemente eine wichtige Rolle spielen, ist der Arbeitspädagoge hervorragend befähigt, in Zusammenarbeit mit Künstlern und Museumspädagogen kreative Lernprozesse im handwerklich-gestalterischen Bereich zu stimulieren. Seine pädagogischen Fähigkeiten ermöglichen es, die Eigenaktivität und Potenzen der Kursteilnehmer nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten individuell aufzuspüren und zu fördern. Entwicklungshilfe: Modernisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt können oft nicht auf die hochentwickelten technologischen Strategien der westlichen Welt zurückgreifen, sondern bedürfen elementarer und situationsangepaßter Anstrengungen, um allmählich das Lebensniveau der jeweiligen Gesamtbevölkerung zu verbessern. Als eine Strategie für eine allmähliche Veränderung der Lebensverhältnisse wird seitens der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) seit den 70er Jahren ein Programm der sogenannten modularisierten Ausbildung verfolgt. Es geht dabei darum, vor allem Kindern und Jugendlichen elementare berufliche Fertigkeiten so zu vermitteln, daß sie - ausgehend von ihrer jeweiligen Lebenssituation - allmählich ihre Umstände verbessern können (z.B. Obdach schaffen, Wasser fördern, Hygiene entwickeln, einfache Baustoffe einsetzen u.a.m.). Gerade Absolventen des Studiengangs Arbeitspädagogik haben vielfältige Kompetenzen, um zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Entwicklungshelfern derartige Bausteine einer Bildungsentwicklungs-Strategie anzuregen und durchzusetzen. Mag die derzeitige Situation der Bildungsentwicklung auch nicht allzu positiv eingeschätzt werden, so halten wir dennoch den "modernen Weg" einer allmählichen Alphabetisierung und elementaren Berufsbildung für immer mehr Gruppen in diesem Bereich der Welt für unausweichlich (-> 5.6.3.2; -»• 8.4).
878 10.1.5
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
Abgrenzungen von anderen Berufen - Mögliche Zusammenarbeit
Der Diplom-Arbeitspädagoge weist in einigen Merkmalen Überschneidungen vor allem mit den Berufsbildern Diplom-Berufspädagoge, Sozialarbeiter/-pädagoge und Arbeits- und Beschäftigungstherapeut auf. Der Diplom-Berufspädagoge (vgl. Schmiel/Sommer 1992, S. 52 ff.) soll auf wissenschaftlich begründete und gesellschaftlich verantwortliche Tätigkeiten auf Gebieten der beruflichen Bildung vorbereiten. Ihm obliegt die Aufgabe, Jugendliche und Erwachsene so zu befähigen, daß diese eine anerkannte, durch Abschluß und Brief bescheinigte Erwerbsarbeit aufnehmen können. Diese Form der Berufsausbildung unterscheidet sich insofern von der Tätigkeit des Arbeitspädagogen, als letzterer auf vorberufliches, berufsvorbereitendes und außerberufliches Lernen ausgerichtet ist. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß in der Praxis die Grenzen fließen. Berufsvorbereitung und Berufsausbildung, jeweils in den Personen Arbeitspädagoge und Berufspädagoge repräsentiert, würden in einem stufenförmigen, wechselseitig abgestimmten Konzept aufeinander aufbauen; die kognitiven und psychomotorischen Fähigkeiten der betroffenen Klientel würden systematisch nacheinander entwickelt werden. Diese Zusammenarbeitsformen gelten gleichermaßen für andere Felder innerhalb des Bereichs "Berufsvorbereitung" und "Berufsausbildung". Der Sozialarbeiter/-pädagoge (vgl. Rauschenbach 1994) arbeitet in sozialen Feldern mit Menschen, die edukativer, präventiver und kurativer Zuwendung bedürfen. Die Betreuungsaufgaben der Sozialpädagogen erstrecken sich auf Dienstleistungen und Hilfen administrativ-organisatorischer Art; gleichermaßen wird ihm die Aufgabe zugeschrieben, durch kommunikativ-therapeutische Thematisierung den Leidensdruck der ihm anvertrauten Menschen lindern zu helfen. Der Arbeitspädagoge legt demgegenüber geringeren Wert auf die verwaltungsbezogenen Vorgänge kompensatorischer und helfender Maßnahmen; vielmehr versucht er, die ihm zugeordneten Hilfsbedürftigen im Medium des Machens zu erreichen und zu ermutigen, sich selbst zu finden und zu vertreten. Mit dieser Akzentverlagerung ergibt sich ein eigenständiger, vom Sozialpädagogen abgegrenzter Arbeitsbereich. Aber auch hier könnten sich fruchtbare Formen gemeinsamer, helfender Maßnahmen ergeben, zum Beispiel, wenn der Arbeitspädagoge die Grenzen arbeitsorien-
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879
tierter Unterweisung bemerkt und zugunsten einer stärkeren sozialpädagogischen Beratung und Betreuung entscheidet. Er kann in derartige individuelle Bewältigungsprozesse des Leidens seine Kompetenz als Anreger leibgebundener Verarbeitungsmöglichkeiten einbringen; der Sozialpädagoge kann sie durch gezielte kommunikative Strategien ergänzen und weiterentwickeln. Der Arbeitspädagoge könnte also in vielen Feldern eine sehr hilfreiche Zuarbeitungs- und Stützfunktion für sozialpädagogische und sozialtherapeutische Maßnahmen übernehmen. Die Bezeichnung "Diplom-Arbeitspädagoge" könnte das Mißverständnis hervorrufen, mit diesem Beruf sei etwas ähnliches wie mit dem eingeführten Beruf "Arbeits(und Beschäftigungs-)therapeut" gemeint. Bei dem Arbeitstherapeuten handelt es sich jedoch nicht um einen voll vergleichbaren Beruf. Unterhalb akademischer Berufe angesiedelt soll der Arbeitstherapeut vom Arzt verordnete Behandlungen durchfuhren, dem - oft psychisch - Kranken größere Selbständigkeit geben und ihn anleiten, sich als Person wiederzufinden. Diese Unterstützungsprozesse erstrecken sich bis zur Patientenberatung und Hilfestellung bei Kontaktaufnahme mit Behörden mit dem Ziel beruflicher und sozialer Eingliederung. Besonders im Bereich der Eingliederung könnte es zu Substitutionseffekten von Arbeitstherapeuten und Arbeitspädagogen kommen. Jedoch ist genauso denkbar, daß Inhaber beider Berufe - im Krankenhaus oder im Rehabilitationszentrum - gut zusammenarbeiten und sich ergänzen.
Zitierte Literatur BOJANOWSKI, Arnulf (1988): Berufsausbildung in der Jugendhilfe. Innovationsprozesse und Gestaltungsvorschläge. Münster. BOJANOWSKI, Arnulf/DEDERING, Heinz/HEIDEGGER, Gerald (1982): Innovationen im Spannungsfeld beruflichen und allgemeinen Lernens. Vorstudien Frankfurt/M. BOJANOWSKI, ArnuLDDEDERING, Heinz/HEIDEGGER, Gerald (1984): Vom Lehrer für Arbeitslehre zum Arbeitspädagogen. Ein Vorschlag zur Erweiterung des Arbeitslehrestudiums. In: arbeiten und lernen/Die Arbeitslehre, H. 35, S. 2-5. BRATER, Michael/BÜCHELE, Ute/FUCKE, Erhard/HERZ, Gerhard (1989): Künstlerisch handeln. Die Förderung beruflicher Handlungsfähigkeit durch künstlerische Prozesse. Stuttgart.
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
BUND-LÄNDER-KOMMISSION FÜR BILDUNGSPLANUNG UND FORSCHUNGSFÖRDERUNG/BUNDESANSTALT FÜR ARBEIT (Hg.) (1978): Studien- und Berufswahl 1978/79. Entscheidungshilfen für Abiturienten und Absolventen von Fachoberschulen und Gymnasien, Bad Honnef. FAULSTICH, Peter/TEICHLER, Ulrich/BOJANOWSKI, ArnulfTDÖRING, Ottmar (1991): Bestand und Perspektiven der Weiterbildung. Das Beispiel Hessen. Weinheim. HÄNDLE, Christa (1989): Lehrerausbildung. In: LENZEN, D. (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Band 2. Reinbek. S. 938-955. HÄVERS, Norbert u.a. (1983): Alternative Einsatzfelder für Lehrer? Eine Bestandsaufnahme zur aktuellen Situation. Nürnberg. HEIDEGGER, Gerald/RAUNER, Felix (1990): Berufe 2000. Berufliche Bildung für die industrielle Produktion der Zukunft. Düsseldorf. RAUSCHENBACH, Thomas (1994): Der Sozialpädagoge. In: LENZEN, D. (Hg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek. S. 253-281. SCHENK, Barbara (1983): Assistentenausbildung. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 9.2: Sekundarstufe II - Jugendbildung zwischen Schule und Beruf, hrsg. von Blankertz, Herwig, u.a.. Stuttgart. S. 40-43. SCHMIEL, Martin/SOMMER, Karl-Heinz (1992): Lehrbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. München.
10.2
Betriebspraktische Studien für Lehrerstudenten aller Fachrichtungen Arnulf Bojanowski und Heinz Dedering
10.2.1
Vorbemerkung
881
10.2.2 10.2.2.1 10.2.2.2
Ausgangslage Die Situation in der Schule Forderungen zur Lehrerausbildung
882 882 885
10.2.3 10.2.3.1 10.2.3.2
Ausgestaltung Zur Konzeption der betriebspraktischen Studien Die Betriebspraktischen Studien als Modellversuch
886 886 891
10.2.4
Wirkungserwartungen
892
Zitierte Literatur
10.2.1
894
Vorbemerkung
In den folgenden Ausfuhrungen wird der Vorschlag unterbreitet, Lehrerinnen und Lehrer während ihres Studiums auf das Schülerbetriebspraktikum (->• 4.6) vorzubereiten. Es betrifft Lehrerstudenten in Studiengängen für Lehrämter an allgemeinbildenden Schulen. Der Grundgedanke lautet, daß im Prinzip alle Lehrerinnen und Lehrer darauf vorbereitet werden müßten, Betriebspraktika für Schüler fachlich angemessen zu begleiten. Denn Betriebspraktika mit der Aufgabe der Hinfuhrung der Schülerinnen und Schüler zur Arbeitswelt spielen im allgemeinbildenden Schulbereich in Deutschland eine zunehmend wichtige Rolle. Prinzipiell kann jeder Lehrer und jede Lehrerin mit Betriebspraktika konfrontiert werden, nicht nur Lehrer für das Lernfeld Arbeitslehre. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der konkreten Begründung und Ausgestaltung der betriebspraktischen Studien.
882
10.2.2
Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
Ausgangslage
10.2.2.1 Die Situation in der Schule Der Vorschlag geht von der Tatsache aus, daß in der Bundesrepublik Deutschland die bereits im Jahre 1964 vom Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen empfohlenen Betriebspraktika für Schüler (vgl. Deutscher Ausschuß 1964) in den letzten Jahren in allen Schulformen verstärkt verankert worden sind. Sie sind heute nicht nur gesicherter Bestandteil des Unterrichts an der Haupt-, Sonder- und Gesamtschule, sie gehören auch zum Regelangebot der meisten Realschulen und sie werden auch von vielen Gymnasien durchgeführt. Zum Beispiel ist nach der Stundentafel für die Jahrgangsstufen 5 bis 10 der allgemeinbildenden Schulen in Hessen jedem Schüler und jeder Schülerin im Laufe der Sekundarstufe I die Teilnahme an mindestens einem - in der Regel dreiwöchigen Betriebspraktikum zu ermöglichen. Tatsächlich verstärken sich mit den Schülerbetriebspraktika die Brückenschläge zwischen den Lebenswelten der Schüler und der betrieblichen Realität. Aus entwicklungspsychologischen und didaktisch-curricularen Überlegungen ist es begrüßenswert, daß sich die gegenseitigen Berührungsängste zwischen Betrieben und Schulen schon weit abgebaut haben und mit dem Ansatz der Praktika für die Schüler ein realitätsgerechtes Hineinfinden in Probleme der Arbeitswelt Wirklichkeit wird. Das Fach Arbeitslehre (->• 4.2) hat in den letzten 20 Jahren entscheidende Beiträge dazu geleistet, daß sich die Schülerbetriebspraktika nicht im "blinden Tun" erschöpfen, sondern daß die Schüler zugleich mit der sinnlichen und erlebnishaften Erfahrung der betrieblichen Wirklichkeit auch Anregungen zum Denken und zum Reflektieren über ihr Arbeitshandeln und über die Strukturen betrieblicher Lebenswelt erhalten. Dies wird durch empirische Untersuchungen zum Betriebspraktikum belegt (vgl. z.B. Platte 1981). Danach bezieht sich die Leistungsfähigkeit der Schülerbetriebspraktika hauptsächlich auf den betrieblich-funktionalen und den sozialen Aspekt (Informationen über den Aufbau und Ablauf des Betriebes und den Betrieb als soziales Gebilde). Hingegen ermöglichen sie weniger - was aber von Schülern, Eltern und Betriebsleitungen vor allem erwartet wird - eine Orientierung zur Berufsentscheidung, insbesondere weil die Praktikanten meist nicht ganze Berufe kennenlernen, sondern nur partialisierte Arbeitstätigkeiten, und weil das Betriebspraktikum in der Regel erst im 9.
Betriebspraktische Studien für Lehrerstudenten aller Fachrichtungen
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Schuljahr durchgeführt wird, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Berufswahlentscheidung bereits getroffen haben. Entsprechend diesem Befund wird auch in neueren Vorschlägen zur Gestaltung des Betriebspraktikums gegenüber einer speziellen Berufsorientierung die Notwendigkeit einer allgemeinen Orientierung der Schülerinnen und Schüler über den Betrieb und die Arbeitswelt betont. So ist mit dem sog. Bielefelder Praktikumsmodell ein zukunftsweisender konzeptioneller Ansatz unterbreitet worden, der allerdings an die Qualifikationen der Lehrerinnen und Lehrer hohe Anforderungen stellt (siehe Feldhoff u.a. 1985). Damit ist ein gravierendes Problem angesprochen, auf das die Durchführung der Schülerpraktika stößt: Es stehen nicht genügend ausgebildete Lehrer zur Verfügung, die fachlich angemessen für die Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Schülerpraktika ausgebildet sind. In der Realität der heutigen Schule Westdeutschlands sieht es im allgemeinen so aus, daß die Schülerpraktika vom Klassenlehrer angeleitet werden. Dies erklärt sich dadurch, daß der Klassenlehrer in der Regel mit dem größten Stundenanteil (oft mehrere Fächer) in einer Klasse Unterricht gibt und entsprechend über die meiste Zeit verfügt, um die Schüler auf ihre Praktika vorzubereiten, sie während ihrer Praxisphase "vor Ort" zu besuchen und zu betreuen und die Nachbereitung vorzunehmen. In der Regel ist der Klassenlehrer aber fachlich nicht vorbereitet, um auf betriebsorganisatorische und arbeitssoziologische Fragen der Berufswelt zu antworten und um die neuen Realitätserfahrungen der Schüler zu kommentieren und angemessen zu verallgemeinern. Hier besteht ein spürbares Qualifikationsdefizit, das sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird, da die Aufgaben des Schülerbetriebspraktikums eher anspruchsvoller werden. Nun könnte man vorschlagen, die Fachlehrer für Arbeitslehre (-> 9.2) mit der Durchfuhrung der Schülerbetriebspraktika zu betrauen, zumal diese eine entsprechende Ausbildung genossen haben. Hierzu ist festzustellen, daß es zum Beispiel in Hessen in den Schulen kaum universitär ausgebildete Arbeitslehrelehrer gibt. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß die Arbeitslehre ein recht junges Schulfach ist und dementsprechend schwächer in den Lehrerkollegien repräsentiert ist. Zum anderen sind in den vergangenen Jahren
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
kaum Lehrer für Arbeitslehre eingestellt worden. Insofern bleibt den Schulen gar nichts anderes übrig, als bei der Durchführung der Betrieb spraktika auf andere Lehrer zurückzugreifen. Dieses für Hessen geltende Problem der Arbeitslehrelehrer ist in anderen Bundesländern ähnlich; es gibt nur wenig ausgebildete Lehrer, die in der Lage wären, Schülerpraktika angemessen vorzubereiten, durchzuführen und nachzubereiten. Aber auch wenn in einer Schule genügend Fachlehrer für Arbeitslehre vorhanden wären, wären sie zeitlich und sozial mit den Schülerbetriebspraktika überfordert. Sie müßten fast gleichzeitig mehrere Klassen mit vielen Schülern in einer Reihe verschiedener Betriebe betreuen und dies mit ihrer Hauptaufgabe, dem Arbeitslehreunterricht, in Einklang bringen. Damit wäre es nahezu ausgeschlossen, daß sie die individuelle Befindlichkeit der Schüler an den unterschiedlichen Praktikumsplätzen angemessen wahrnehmen könnten. Die Lehrer wären überfordert und den Schülern fehlte das Entscheidende: das Eingehen auf ihre je besondere Praktikumssituation. Auch von daher ergibt sich eine deutliche "Qualifikationslücke", die sich auf die Durchführung von Schülerbetriebspraktika bezieht. Die Situation in den allgemeinbildenden Schulen im östlichen Teil Deutschlands (->• 8.1.4) ist prinzipiell keineswegs besser: Hier stehen zwar meist gut ausgebildete Polytechniklehrer zur Verfügung, diese haben in der Regel aber weder Erfahrungen mit Schülerpraktika in spezifisch marktwirtschaftlich ausgerichteten Betrieben noch überhaupt entsprechende betriebswirtschaftliche Kenntnisse. Insofern dürften auch hier Probleme bei der Durchführung von Schülerbetriebspraktika entstehen. Angesichts der fehlenden bzw. falschen Vorbereitung der Lehrerinnen und Lehrer auf das Schülerbetriebspraktikum ist realistischerweise davon auszugehen, daß sie ihre Aufgaben mehr schlecht als recht erfüllen und die Schüler somit unzulänglich auf den Betrieb vorbereitet werden. Dieser Mangel muß ernst genommen werden, zumal das Fach Arbeitslehre nur in der Hauptschule hinreichend verankert ist und das Betriebspraktikum somit für die meisten Schüler die einzige Möglichkeit ist, sich mit der Arbeitswelt auseinanderzusetzen. Deshalb lautet unsere Überlegung, daß im Prinzip alle Lehrer im Sekundarbereich so befähigt werden sollen, daß sie das Schülerbetriebspraktikum selbständig vor- und nachbereiten sowie begleiten können. Dabei ist es nicht mit begrenzten
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Maßnahmen zur Lehrerfortbildung getan, wie sie beispielsweise in Hessen in einem einwöchigen Betriebspraktikum für Arbeitslehrelehrer schon seit längerem durchgeführt werden (vgl. HILF 1983). Hier zeigte sich deutlich, daß eine Woche Praktikum im Betrieb auf keinen Fall ausreicht, um Lehrer einen Einblick in die Arbeitswelt geben zu können. Vielmehr ist die Vorbereitung der Lehrerinnen und Lehrer auf das Betriebspraktikum als eine strukturelle Aufgabe der Lehrerausbildung zu betrachten, und es ist zu überlegen, daß und wie betriebspraktische Studien in alle Ausbildungsgänge für Lehrer an allgemeinbildenden Schulen integriert werden.
10.2.2.2 Forderungen zur Lehrerausbildung Damit ist eine Perspektive für das Lehrerstudium angedeutet, die in der Erziehungswissenschaft allgemein unter dem Begriff der erweiterten Professionalität der Lehrer diskutiert wird (vgl. z.B. Schwänke 1988; -> 9.2.2). Gemeint sind hiermit umfassendere Handlungskompetenzen des Lehrers für breitere berufliche Tätigkeitsfelder, die über seine traditionellen Aufgaben des "Schulehaltens" hinausgehen. Es geht also um die konzeptionelle Weiterentwicklung der Lehrerausbildung (sowie der daran anschließenden Fort- und Weiterbildung der Lehrer). Diese Diskussion ist keineswegs neu: Sie wurde in der Bundesrepublik bereits in den sechziger und siebziger Jahren mit gewissen Erfolgen (erziehungs- und gesellschaftswissenschaftliches Kernstudium, schulpraktische Studien, Projektstudium u.a.) gefuhrt; sie verebbte dann aber mit den - angesichts wachsender Engpässe auf dem Lehrerarbeitsmarkt - rückläufigen Zahlen der Lehramtsstudenten. Vor dem Hintergrund des prognostizierten Lehrerbedarfs in den kommenden Jahren gibt es seit einiger Zeit jedoch wieder verstärkte Überlegungen zur Reform des Lehrerstudiums mit dem Ziel einer weitergehenden Professionalisierung (vgl. Bayer/Habel 1988, S. 223 ff.). Insbesondere die Herstellung der deutschen Einheit hat die Erziehungswissenschaft zu intensiven Bemühungen um eine Neukonzeption für die gesamtdeutsche Lehrerausbildung, die auch Standards des europäischen Auslands berücksichtigt, veranlaßt (vgl. z.B. Bayer u.a. 1990, S. 24 ff.; Händle/Nitsch 1991). Die vorgebrachten Forderungen zur Lehrerausbildung zielen auf ein Studium, das fach- und erziehungswissenschaftlich fundiert ist und spezifische Elemente zur Integration der verschiedenen In-
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Neuere arbeitsorientierte Vorschläge
haltskomplexe vorsieht. Außerdem wird gegenüber der gegenwärtigen Situation in den Lehramtsstudiengängen eine bessere Abstimmung von Theorie und Praxis für notwendig gehalten, so daß die Studierenden die Möglichkeit haben, "die praktischen Grenzen wissenschaftlichen Wissens zu reflektieren und die 'Logik' beruflichen Handelns besser zu verstehen" (BayerAVildt 1990, S. 25). Dies verweist auf ein - wenigstens in Teilen - projektorientiertes Studium. Insbesondere werden neben Schulpraktika auch Praktika in pädagogischen Handlungsfeldern außerhalb der Schule verlangt, ähnlich wie sie z.B. in Niedersachsen in Form eines Sozial- oder Betriebspraktikums (von 4 Wochen Dauer) bereits für alle Lehrämter (Grund- und Hauptschule, Realschule, Gymnasium) vorgeschrieben sind. Begründet werden solche Praktika mit der Tatsache, daß sich die Schulen gegenüber ihrem Umfeld (Gemeinde, Betriebe, kulturelle Einrichtungen usw.) geöffnet haben und weiter öffnen und infolgedessen die Lehrer über neue Kompetenzen (Wissen, Reflexionsvermögen, Kooperationsfähigkeit u.a.) verfügen müssen. Mit unserer Forderung nach betriebspraktischen Studien im Rahmen der Lehrerausbildung nehmen wir den erziehungswissenschaftlichen Grundgedanken einer erweiterten Professionalisierung im Lehrerstudium explizit auf. Zugleich führen wir ihn in einem wichtigen Punkt weiter, indem wir nämlich nicht ein spezifisch pädagogisches Praktikum (in einem außerschulischen pädagogischen Einsatzbereich) vorsehen, sondern ein (primär) ökonomisch und sozial orientiertes Praktikum (im Handlungsfeld eines Betriebes generell). Damit erhält das Lehrerstudium eine neue - betriebsbezogene - Dimension, und den Studierenden eröffnen sich andersartige, jenseits der Pädagogik liegende Erfahrungsmöglichkeiten. Insofern liefern betriebspraktische Studien einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung der Lehrerprofession.
10.2.3
Ausgestaltung
10.2.3.1 Zur Konzeption der betriebspraktischen Studien Mit dem Vorschlag, betriebspraktische Studien in die Lehrerausbildung aufzunehmen, stellt sich die Frage nach der inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung dieser Studienelemente und ihrer Einbindung in die Studiengänge. Diese Frage ist nicht lediglich mit dem Hinweis auf das Schülerbetriebspraktikum zu beantworten,
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wenngleich die dafür vorgesehenen Inhalte, Methoden usw. auch als wichtige Orientierungspunkte herangezogen werden müssen. Zwar müssen die betriebspraktischen Studien den Ansprüchen der Unterrichtspraxis des Lehrers genügen; sie müssen aber auch die spezifischen Ziele und Bedingungen der Lehrerausbildung berücksichtigen und sich von hierher inhaltlich legitimieren. Den Lehrerbetriebspraktika könnte ein Konzept zugrunde gelegt werden, mit dem wir im Studiengang Polytechnik/Axbeitslehre an der Universität Gesamthochschule Kassel bereits Erfahrungen gesammelt haben. Dieses Konzept enthält folgende Kernelemente: Zum einen sieht es einen Ablauf nach den Phasen Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung vor und zum anderen werden theoretische und praktische Elemente sowie pädagogische und fachwissenschaftliche Anteile so vermittelt, daß sich die Studenten in einem ganzheitlichen Denk- und Handlungszusammenhang der Wirklichkeit des Betriebsalltags nähern können. Damit entspricht das Konzept den erwähnten Forderungen der Erziehungswissenschaft an ein weiterentwickeltes Lehrerstudium. Der andere Zusammenhang, in dem das Konzept entwickelt worden ist, verbietet es jedoch, es umstandslos als Bezugsgrundlage für die hier vorgeschlagenen betriebspraktischen Studien heranzuziehen. Es muß also noch im Hinblick auf die besonderen Voraussetzungen "betriebsfremder" Studenten ausgestaltet und erprobt werden. 1. Vorbereitungsphase (2 Wochen) In dieser Phase werden die Studenten in Praxis- und Seminarräumen auf das Betriebspraktikum vorbereitet. Dabei geht es darum, den Aufbau und Ablauf eines Betriebes (anhand von Texten und Grafiken) kennenzulernen. Im einzelnen werden ausgewählte Dokumente analysiert, so daß die Studenten Einblicke in betriebswirtschaftliche Zusammenhänge und Abläufe gewinnen und wichtige Sachverhalte (Rentabilität, Produktivität usw.) kennenlernen. Auch werden sie anhand von didaktisch aufbereiteten Fällen in Probleme des Betriebsverfassungs- und Arbeitsrechtes eingeführt. Durch Gestaltungsszenarios von Arbeitsabläufen können arbeitsorganisatorische Probleme (Arbeitsteilung, Handlungsspielräume etc.) nachgestellt und analysiert werden. Fernerhin geht es darum, didaktisch zu reflektieren, wie Betriebspraktika mit Schülern durchgeführt werden können: Dazu gehören die Planung, Durchführung und Bewertung von Betriebserkundungen, das Schulen der Wahrnehmung, das Aufarbeiten von Rechten und Pflichten der Schüler im Betrieb
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u.a.m. Daneben werden in den Übungen zum Betriebspraktikum eine Reihe von "Techniken der Annäherung an die Betriebsrealität" trainiert. Dazu zählen besonders praktische Einführungen in die Interviewtechnik (Erstellung von Interviewleitfäden, Probleme der Gesprächsführung und Diskussionstechnik etc.). Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Technik der Arbeitsbeobachtung; hier stellt sich die Frage, wie zentrale Merkmale von Arbeitsprozessen erfaßt werden können. Einbezogen sind dabei auch Übungen, die auf die Darstellung von Arbeitsplatzbeobachtungen gerichtet sind (anhand von Berichten, Grafiken, Tabellen etc.). Zudem werden Übungen zu ausgewählten Sekundärtechniken durchgeführt (Erstellung von vereinfachten Arbeitsablauf-, Personal- und Organisationsplänen). Schließlich setzen sich die Studenten - insofern eine entsprechende Ausstattung vorhanden ist - mit dem Einsatz moderner Geräte auseinander, wie Bürocomputer (incl. Multi-Media-Programme), CIMLabor-Lösungen etc. In der Vorbereitungsphase bedarf es einer "Elementarisierung" grundlegender Fragestellungen zum Aufbau und Ablauf des Betriebes. Von der Konzeption der Betriebspraktika her bietet es sich an, dabei Schwerpunkte zu setzen. Wir empfehlen, auf fachwissenschaftlicher Ebene besonders Fragen der Gestaltung der Arbeitsorganisation unter der Leitfrage "Humanisierung und Rationalisierung" zu bearbeiten. Dabei werden naturgemäß auch schuldidaktische Fragen einen besonderen Stellenwert bekommen, zum Beispiel: 'Wie können Schüler an Betriebe herangeführt werden?' oder 'Was ist ftir das Erleben der Schüler wichtig?' 2. Durchführungsphase (4 Wochen) Hier geht es um das Handeln, Beobachten und Fragen im Betriebspraktikum selbst. Als Besonderheit für die Praktikanten sollten nachmittägliche bzw. abendliche Treffs eingerichtet werden, bei denen spezielle Probleme, Konflikte usw. aufgearbeitet werden können. Eine typische Erfahrung von Studenten in Praktika besteht zum Beispiel darin, daß sie nicht nur die besonderen Anforderungen der Arbeitszeit (früh aufstehen, geregelte Abläufe etc.) gerade zu Beginn der Praxisphase schwer verkraften können, sondern daß sie auch mit dem - sich von einer Hochschule stark unterscheidenden sozialen Klima in den Betrieben Schwierigkeiten haben. Sie können oft ihre Rolle als Beobachter und als Mitarbeitender nicht richtig definieren und fühlen sich in diesem Rollenkonflikt allein gelassen.
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Bei den Studierenden werden diese Probleme in noch verstärkter Form auftreten, weil sie sich in der Regel nicht mit betrieblichem Geschehen auseinandergesetzt haben (Studenten, die aus Westdeutschland kommen) oder weil sie bislang nur planwirtschaftliche, aber nicht marktwirtschaftliche Betriebe kennengelernt haben (Studenten, die aus Ostdeutschland kommen). Deshalb sollte eine besondere Form psycho-sozialer Unterstützung im Sinne einer sozialpädagogischen Betreuung organisiert werden. Diese Treffen können nicht nur einer möglichen Konfliktbearbeitung, sondern auch dem wechselseitigen Erfahrungsaustausch und der wechselseitigen kollegialen Beratung dienen (Organisation der Abteilung, Rolle und Funktion des jeweiligen Arbeitsplatzes, Arbeitsorganisation etc.). Diese Treffs hätten also auch die Aufgabe, daß die Beteiligten das Geschehen geistig durchdringen und analysieren. Für die Durchfuhrungsphase sollte ein begleitendes Kursangebot organisiert werden, das die Studenten befähigt, die Gesamtsituation des Betriebes - über die Arbeitserfahrung in einzelnen Bereichen hinaus - näher kennenzulernen. Im Falle von Großbetrieben kann dieses Kursangebot gemeinsam mit den Weiterbildungsabteilungen eingerichtet werden. Im Falle von Klein- und Mittelbetrieben sollten diese Kurse über zusätzliche Lehraufträge der Hochschule ermöglicht werden. Dazu können betriebliche Praktiker und andere Lehrbeauftragte aus dem betrieblichen Umfeld angesprochen werden, um eine Nähe der Kursinhalte zur Arbeitserfahrung zu sichern. 3. Nachbereitungsphase (2 Wochen) Die Nachbereitung des Betriebspraktikums dient dem Aufarbeiten der Erfahrungen und dem Verallgemeinern dessen, was der einzelne an seinem Arbeitsplatz oder in den jeweiligen Arbeitsbereichen erfahren hat. Die verschiedenen Kenntnisse und Erfahrungen aus den Betrieben sollen ausgetauscht und miteinander verglichen werden. Dabei sollen die Studenten Berichte anfertigen, Dokumentationen erstellen oder über Collagen, Wandbilder, Fotos etc. ihren Arbeitsbereich vorstellen. Eigene Erfahrungen und aufbereitete Materialien sollen so eingebracht werden, daß offene Fragen entstehen, die wiederum Anregungen zur Weiterarbeit, Vertiefung und Verallgemeinerung geben. Die Nachbereitung kann durch zwei spezifische Elemente erweitert werden: Zum einen können betriebliche Praktiker eingeladen
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werden, die dazu beitragen, die Erfahrungen der Studenten kritisch zu kontrastieren, um Gelegenheit zu geben, eine andere Sichtweise einzuspeisen bzw. die Sichtweisen 'zu spiegeln'. Um diesen Erfahrungsaustausch regelmäßig durchzufuhren, sollte ein Beirat aus der Runde der Betriebe gebildet werden, mit denen jährlich über die Bedeutung der studentischen Betriebspraktika beraten wird. Zum anderen sollte im letzten Abschnitt der Nachbereitungsphase das - in Anlehnung an das von den Zukunftsforschern Robert Jungk und Norbert R. Müllert entwickelte - Modell der Zukunftswerkstatt genutzt werden, um die Arbeitserfahrungen zukunftsorientiert zu vertiefen (siehe Jungk/Müllert 1989). In der Zukunftswerkstatt geschieht dies in den Phasen: 1. Kritik (Darstellung und kritische Analyse eines Problems sowie der damit verbundenen Ängste und Schwierigkeiten); 2. Phantasie (Entwicklung von Ideen und utopischen Entwürfen) und 3. Verwirklichung (Umsetzung der Ideen und Utopien). Die Zukunftswerkstatt sollte ihren Hauptakzent auf das Thema der Arbeitsorganisationsgestaltung legen und die Erfahrungen der Studenten damit exemplarisch zu vertiefen suchen. Hierzu schlagen wir vor, Organisationsentwicklungen am Beispiel des Büros - im Rahmen von Gestaltungsszenarien - durchzuspielen. Dabei ist daran gedacht, daß auch aus den Zukunftswerkstätten Dokumentationen entstehen, die im Rahmen von Öffentlichkeitstagen oder Betriebsbesuchen dargeboten werden. In der Hauptsache kommt es darauf an, daß die Studenten lernen, die singulären Erfahrungen ihrer praktischen Tätigkeit nicht 'in reiner Form' stehenzulassen, sondern sie im Gespräch und in Aufarbeitung kritisch zu reflektieren. Erst dann lassen sich sinnvolle Transferhoffnungen auf ihre spätere Tätigkeit als Betreuer von Schülerpraktika schließen. Ihre eigene praktische Tätigkeit könnte sich - im Sinne des 'Lernens am Modell' - bei ihnen kognitiv so strukturieren, daß sie Anknüpfungspunkte bei einer späteren Begleitung und Betreuung der Schülerpraktika entdecken. Zweifellos wäre dies ein enormer Gewinn für die Verankerung und Verbesserung der bisherigen Praktika.
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Die zentrale These unseres Vorschlags lautet also, daß erst das Zusammenspiel von eigener Erfahrung und gemeinsamer Aufarbeitung Lehrerstudenten aller Fächer befähigen kann, später Schülerinnen und Schüler selbst in diesen Bereichen angemessen zu betreuen. Wenn die Lehrerstudenten solche Erfahrungen nicht gemacht und solches Wissen nicht erworben haben, droht das einzutreten, was gemeinhin von Praktika behauptet wird: Sie seien als anstrengende 'Kurz-Einblicke' in eine außerschulische Lebenswelt eher dazu angelegt, zu einem 'Praxisschock' zu führen als zu einer erlebnisbezogenen und rationalen Durchdringung einer für alle Schüler bedeutsamen Welt.
10.2.3.2 Die betriebspraktischen Studien als Modellversuch Die hochschulcurriculare Anbindung der Lehrerbetriebspraktika an das vorgeschlagene Konzept der Arbeitslehre-Betriebspraktika ist nicht unproblematisch. Diese Praktika werden i.d.R. als (hochschul)gelenkte bzw. ungelenkte Praktika durchgeführt. Jedoch ist stets davon auszugehen, daß die Praktika im allgemeinen inhaltlich mit dem übrigen Arbeitslehrestudium verbunden sind, und daß die Praktikanten bereits vorhandene Kenntnisse von der Arbeitswelt in das Betriebspraktikum einbringen können. Dies kann bei Lehrerstudenten außerhalb der Arbeitslehre in der Regel nicht vorausgesetzt werden. Hinzu kommt, daß die Studenten jeweils besondere Bezüge zur Arbeitswelt haben und sich der Arbeitswelt auch in spezifischer Weise zuwenden, z.B. aus der Sicht ihrer Studienfächer, ihrer Lebenserfahrungen u.a. Dies bedeutet, daß die im Arbeitslehrestudium veranstalteten Betriebspraktika nicht bruchlos auf andere Studiengänge übertragen werden können. Um über diesen Problemkomplex genauere Informationen zu erhalten, ist es ratsam, den betriebspraktischen Studien zunächst Versuchscharakter zu geben. Während einer Implementationsphase (ca. 3 Jahre) sollten sie wissenschaftlich begleitet werden. Neben theoretisch-konzeptionellen und empirischen Arbeiten können die Betreuung der Studenten und' die Dokumentation der Studienergebnisse zu den wissenschaftlichen Begleitaufgaben gehören. Im wesentlichen sind bei den empirischen Studien zwei Hauptziele zu verfolgen: 1. Auf der sozialen Seite der Teilnehmer geht es vor allem um
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die Erfassung der Einstiegsvoraussetzungen der Studenten (biographische Daten, Kenntnisse und Sichtweisen von der Arbeitswelt, Formen der Auseinandersetzung mit der betrieblichen Realität u.a.); die Begleitung der Studenten bei ihrem individuellen Erfahrungsgewinn und ihrer gemeinsamen Reflexion über die subjektive Verarbeitung der Praktika; die Bestimmung der im Rahmen der betriebspraktischen Studien gewonnenen Kompetenzen, Erfahrungen, normativen Deutungsmuster, Einstellungen o.a. der Studenten und ihre Verarbeitung im Verhältnis zum jeweiligen Fachstudium; die Ermittlung der Vorstellungen der Studenten von der inhaltlichen und organisatorischen Gestaltung der betriebspraktischen Studien, wiederum unter der Frage, wie sich die Praktika und die jeweiligen Studienfächer aufeinander beziehen. Auf der sachlichen Seite der Curricula sollten folgende Aspekte der betriebspraktischen Studien erörtert und bestimmt werden: der theoretisch-didaktische Bezugsrahmen; die inhaltlichen Strukturelemente (Lernziele, Inhalte, Methoden); der organisatorische Rahmen.
Im Ergebnis sollten betriebspraktische Studien als Modell für Lehrer aller Fachrichtungen des allgemeinbildenden Schulbereichs konzipiert werden. Unseres Erachtens ist dies eine wichtige Voraussetzung für die Etablierung betriebspraktischer Studien in den Lehramtsstudiengängen und damit für mehr Professionalität der Lehrerausbildung.
10.2.4
Wirkungserwartungen
Es ist zu erwarten, daß mit den betriebspraktischen Studien im wesentlichen auf zwei Ebenen Wirkungen erzeugt werden: 1. auf einer interaktiv-praktischen Ebene werden innovative Effekte erwartet und 2. auf einer didaktisch-theoretischen Ebene werden die Ergebnisse schul- und hochschulcurricular ausgelegt. Zu 1.: In diesem Bereich ist zum einen zu vermuten, daß die Kompetenz der Studenten im Umgang mit betrieblichem Alltag erheblich zunimmt. Die Studenten sollen in die Lage versetzt werden, das betriebliche Geschehen kognitiv so weit zu durchdringen, daß
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sie dies auch Schülern vermitteln können. Da das Lehrerbetriebspraktikum unter einer speziellen Zielperspektive angelegt wird, nämlich der Gestaltung der Arbeitsorganisation im Spannungsfeld zwischen Rationalisierung und Humanisierung, ist darüber hinaus zu erwarten, daß sich die Studenten intensiv mit Fragen der Arbeitsorganisations- und Personalentwicklung befassen. Hiervon wiederum sind positive Effekte auf die Betriebspraktika der Schüler zu vermuten. Die Schülerpraktika würden damit - angesichts der derzeit beobachtbaren rapiden Veränderungen der betrieblichen Arbeitsorganisation - auf diese Entwicklung produktiv reagieren und somit einen Beitrag zu einer qualitativen Weiterentwicklung der vorberuflichen Bildung in Richtung auf einen erweiterten, gestaltungsorientierten Arbeitsbegriff leisten. Es würde sich die Perspektive andeuten, daß die Schülerinnen und Schüler durch die Betriebspraktika angeregt werden, in ihrer späteren Arbeits- und Berufstätigkeit andere Sicht- und Gestaltungsweisen zur Veränderung der Arbeitswelt zu entwickeln. Als zweiter innovativer Impuls ist zu vermuten, daß in den Betrieben eine erhebliche Sensibilisierung für die Situation von Praktikanten stattfindet, verbunden mit einer Neueinschätzung der Bedeutung von betrieblichen Praktika für das Studium und für die Berufs- und Arbeitsorientierung von Schülern. Erst wenn es im breiteren Maße üblich geworden ist, daß Betriebe sich für Praktikanten aus Schule und Hochschule öffnen, wird es zu stärkeren Durchdringungen von betrieblicher und alltäglicher Lebenswelt kommen. In der Bundesrepublik tendiert die Wirtschaft schon seit langem für eine praxisnahe Hinführung der Schülerinnen und Schüler zur Arbeitswelt. Inzwischen gibt es überall Betriebe, für die die Durchführung von Praktika Normalität ist. Hier ist zu beobachten, daß die Mitarbeiter eine gewisse "Offenheit" den Praktikanten gegenüber zeigen und ein Interesse haben, die Praktikanten in das betriebliche Geschehen einzubeziehen, um ihnen Einblick in die Betriebsabläufe zu ermöglichen. Zu 2.: Im Bereich der Curricula sind zum einen Impulse für die Didaktik des Schülerbetriebspraktikums zu erwarten. Insofern ein Modell für betriebspraktische Studien konzipiert und dieses etwa als Curriculummaterial - Studenten und Lehrern zur Kenntnis gegeben wird, besteht die Chance, daß die vorliegenden didakti-
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sehen Ansätze zum Schülerbetriebspraktikum auf eine neue, empirisch besser abgestützte Grundlage gestellt werden. Genauso wichtig sind zum anderen die hochschulcurricularen Effekte einzuschätzen: Es geht um nichts geringeres als um eine Wiederbelebung und Erneuerung des Lehrerstudiums. Bisher gibt es wenig Konzepte, die die Einführung von Studenten in betriebliche Alltagswelten reflektieren. Eine fortschrittliche Überlegung zum Lehrerstudium bestand in der Vergangenheit darin, die Studenten in selbstgewählten Projekten an lebenspraktische Fragen heranzufuhren. In der Regel wählten die Lehrerstudenten 'alternative' Projekte, in denen sie von anderen Formen der Arbeit und Reproduktion 'träumten'. Dabei ging eine wichtige Intention, nämlich Verbindungen zu den Stätten der materiellen Produktion zu gewinnen, oft gänzlich verloren. Alternative Projekte sollten die Welt verändern dabei vergaß man, daß die materiellen Grundlagen des gesellschaftlichen Reichtums weniger aus dem informellen Sektor rühren, sondern hauptsächlich aus der Produktion und den Dienstleistungen des formellen Sektors. Wie schon angedeutet, entzieht sich das Lehrerstudium heute dieser Problemstellung; es wäre Aufgabe der Pädagogik der Arbeitswelt, diese Debatte neu aufzurollen und den Ansatz der betriebspraktisch orientierten Lehrerausbildung zu verstärken.
Zitierte Literatur BAYER, Manfred u.a. (1990): Ausgewählte Ergebnisse einer Untersuchung über strukturelle Veränderungen in den Lehramtsstudiengängen. In: Erziehungswissenschaft, H. 2, S. 24 ff. BAYER, Manfred/HABEL, Werner (1988): Professionalisierung in der Lehrerausbildung als öffentliche Aufgabe - eine Utopie von gestern? In: Zeitschrift fur Pädagogik, 23. Beiheft, S. 223 ff. BAYER, Manfred/WILDT, Johannes (1990): Vorbemerkung zu: BAYER, Manfred u.a., Ausgewählte Ergebnisse einer Untersuchung über strukturelle Veränderungen in den Lehramtsstudiengängen, In: Erziehungswissenschaft, H. 2, S. 24 ff. DEUTSCHER AUSSCHUSS FÜR DAS ERZIEHUNGS- UND BILDUNGSWESEN (1964): Empfehlungen und Gutachten. Folge 7/8. Stuttgart. FELDHOFF, Jürgen u.a. (1985): Projekt Betriebspraktikum. Berufsorientierung im Problemzusammenhang von Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit. Lehrerhandbuch zur Didaktik, Methodik, Organisation. Düsseldorf.
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HÄNDLE, Christa/NITSCH, Werner (Hrsg.) (1991): Integrierte Lehrerausbildung bleibt aktuell. Materialien zur deutsch-deutschen Reformdiskussion. Oldenburg. HILF (HESSISCHES INSTITUT FÜR LEHRERFORTBILDUNG) (1983): Lehrerbetriebspraktikum. Pilotprojekte in Hessen in den Regionen Jugenheim, Kassel, Wetzlar. Reinhardswaldschule Fuldatal/Hessen. JUNGK, Robert/MÜLLERT, Norbert R. (1985): Zukunftswerkstätten - Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. München. PLATTE, Hans K. (1981): Betriebspraktika in schulischen Bildungsgängen. BMBW-Werkstattberichte Nr. 37. Bonn. SCHWANKE, Ulf (1988): Der Beruf des Lehrers. Professionalisierung und Autonomie im historischen Prozeß. Weinheim, München.
Sachverzeichnis Akademie fur Bildungsreform 331; 347; 348 Allgemeine Hochschulreife 539; 540; 544; 546 Alternativökonomie 50; 64; 519 Anpassungsqualifizierung 422; 630 Anschauungsunterricht 234; 235; 243; 773 Anthroposophie 310; 328 Apprenticeship Programme 736; 737; 744 Arbeiten und Lernen 6; 20; 64; 65; 180; 181; 186; 251; 259; 445; 479; 484; 499; 582; 654; Arbeiterbildung 631 Arbeitsbelastungen 56; 121; 595 Arbeitsförderungsgesetz 517; 589 Arbeitsformen 1; 2; 36; 41; 48; 53; 126; 182; 686; 857 Arbeitsgemeinschaft Produktionsschule 499 Arbeitshandlungsgefüge 592 Arbeitshumanisierung 657; 860 Arbeitskräftebedarfsansatz 17; 18 Arbeitskunde 238; 252 Arbeitslosigkeit 30; 34; 45; 64; 100; 102; 143; 247; 248; 262; 275; 278; 280; 462; 496; 508; 510; 511; 539; 594; 601; 814; 815; 821 Arbeitsmarktpolitik 65; 100; 526 Arbeitsorientierte Exemplarik 79; 631; 636 Arbeitspädagogik 6; 7; 239; 244; 253; 555; 570; 572; 584; 639; 672; 673; 674; 677; 865; 869; 876 Arbeitspersönlichkeit 629 Arbeitspolitik 88; 89; 97 Arbeitsprozeßwissen 411 ; 423 ; 649 Arbeitsstrukturierung 50; 579; 584; 743; 855 Arbeitssystem 13; 15; 18; 19; 22; 567
Arbeitsteilung 26; 27; 42; 44; 45; 47; 48; 57; 61; 62; 64; 84; 101; 123; 133; 170; 366; 408; 414; 436; 448; 464; 469; 563; 574; 582; 626; 654; 658; 664,701; 743; 753; 757; 759; 760; 807; 887 Arbeitsunterricht 241; 242; 244; 666; 668; 670 Arbeitsvermögen 13; 17; 24; 27; 31; 32; 34; 36; 37; 114; 466; 467; 470 Arbeitsverständnis 36 Arbeitsweltpädagogik 6; 7 Artikulationsschema 189 Assistentenausbildung 730; 869; 880 Aufklärerische Didaktik 129; 130; 140 Aufklärung 5; 63; 110; 146; 320; 378; 393; 412; 428; 429; 435; 449; 465; 502; 526; 601; 631; 635; 637; 654; 788; 828; 829 Ausbilder 7; 169; 179; 181; 182; 183; 186; 187; 452; 497; 615; 726; 832; 833; 834; 835; 836; 837; 838; 872; 873 Ausbildungslosigkeit 506; 513; 527;528 Ausbildungsstellenmarkt 505 Autodidaktik 189; 193; 206 Autonomie der Bildung 32
Bedingungsstruktur 597 Behinderte 267; 503 Benachteiligtenprogramm 498; 505; 515 Berechtigungswesen 96; 384 Berufsarbeit 2; 45; 46; 50; 122; 241; 254; 275; 437; 443; 590; 818;
Berufsberatung 161; 270; 277; 355; 721; 726; 727; 742 Berufsbildungsgesetz (BBiG) 433
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Sachverzeichnis
Berufsbildungshilfe 480; 747; 748; 750; 751,752; 758; 761; 765; 766 Berufsbildungstheorie 382; 828 Berufsfeld 172; 299; 378; 385; 386; 390; 392; 395; 400; 669; Berufshilfe 487 Berufskarriere 123 Berufskonzept 271; 437; 802; 812; 830 Berufsorientierung 99; 102; 162; 163; 165; 265; 270; 271; 277; 278; 279; 351; 352; 362; 366; 371; 372; 518; 669; 674; 675; 690; 722; 724; 727; 728; 805; 806; 811; 812; 894 Berufsstrukturen 68 Berufsverständnis 344 Berufsvorbereitung 271; 276; 277; 336; 394; 501; 502; 515; 519; 669; 670; 878 Berufsvorbereitungsjahr 492; 526 Berufswahltheorien 272 Beschäftigungssystem 13; 15; 16; 17; 18; 21; 22; 24; 26; 28; 29; 30; 36; 38; 39; 504; 534; 549; 550; 610 Betriebliche Organisationsentwicklung 448 Betriebsgemeinschaft 607 Betriebsverfassungsgesetz 58; 564; 589; 598 Bielefelder Praktikumsmodell 365; 883 Bildungsexpansion 90; 502 Bildungsidee 280; 429; 449; 793; 803; 814; 815 Bildungsökonomie 18; 583 Bildungsplanung 17; 277; 278; 287; 304; 533; 537; 556 Bildungsreform 186; 284; 285; 331; 347; 348; 387; 402; 409; 533; 536; 540; 550; 557; 559; 587; 743; 814; Bildungssystem 1; 13; 14; 15; 16; 17; 18; 20; 21; 25; 28; 29; 30; 31; 32; 33; 34; 37; 38; 170; 378; 391; 434; 468; 469; 536; 628; 678; 679; 723; 733; 743; 796;
Bildungsverständnis 391; 432 Braunschweiger Plan 393 Bureau of Apprenticeship 736 Bürotik 698 Career Guidance 721; 726; 727; 728; 744 Community College 721; 725; 730; 739 Computerakzeptanz 284 Computerbildung 306 Computerunterricht 298 Curriculumtheorie 77
Deutscher Ausschuß fiir das Erziehungs- und Bildungswesen 260; 351; 383; 882 Deutscher Bildungsrat 170; 186; 245; 442; 448; 588; 819; 837 Dictionary of Occupational Titles (DOT) 742 Doppelqualifikation 533; 534; 535; 536; 538; 539; 540; 542; 543; 544; 545; 546; 547; 548; 549; 550; 554; 866; 868 doppelte Sozialisation 122; 125; 126; 127
Eigenarbeit 2; 41; 50; 52; 64; 65; 70; 254; 275; 494; 597; 753; 810 Einheitsvolksschule 315 Elementarbildung 1; 320; 321; 461 Eliteausbildung 488; 493 Entwicklungshilfe 877 Erfahrungslernen 338; 341; 425 Ergonomie 562; 563; 569; 714; 846; 848; 858; 859 Erkundungen 728 Ermöglichungsdidaktik 613 Erwachsenenbildung 409; 609; 610; 621; 874 Erwerbsarbeit 2; 41; 50; 51; 52; 54; 64; 65; 68; 70; 81; 86; 87; 91; 95; 122; 153; 162; 163; 254; 275; 278; 279; 370; 579; 584; 586; 622; 623; 625; 640; 645; 801;
Sachverzeichnis 802; 810; 812; 813; 814; 876; 878 Ethik der Technik 413; 418; 428 Evaluation 546; 702; 712; 713; 728
Facharbeit 81; 90; 93; 417; 431; 434; 438; 610; 647; 828 Fachdidaktik 456; 778; 793; 798; 805; 806; 808; 812 Fachhochschulreife 534; 540; 541; 544; 547; 550; 552 Fachoberschulreife 321; 552 Fachwissenschaften 806; 823; 824; 825; 826; 831 Flexibilisierung 81; 87; 90 Frauenarbeit 81; 91 Freiarbeit 337; 341; 619
Ganzheitliches Lernen 131 Geschichte der Arbeit 46; 47; 64; 65; 66 Geschlechterhierarchie 164 Gesellschaftskunde 250 Gestaltungsorientierter Unterricht 448 Gestaltungszirkel 426 Gewerbelehrer 819; 820; 828 Grundberuf 378 Grundschulpädagogik 776; 784; 785;786 Gruppenarbeit 94; 101; 192; 298; 398; 409; 425; 574; 584; 619; 649; 652
Handlungsfähigkeit 96; 408; 429; 634; 641; 806; 836; 879 Handlungskompetenz 110; 176; 324; 327; 521; 555; 591; 642 Handlungsorientierter Unterricht 129; 131; 581 Heimatkunde 236; 239; 241; 244; 250; 252; 773; 774; 775; 776 Hiberniaschule 323; 324; 328; 499; 543
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Humanisierung der Arbeit 94; 113; 114; 367; 427; 571; 580; 582; 584; 585; 586; 591; 644; 657; 691; 692; 812; 843; 856; 859; 894; Humanisierungsprogramm 429; 842 Humankapitaltheorie 417
Identität 27; 91; 99; 102; 122; 137; 299; 470; 477; 595; 627; 647; 656; 867 Identitätsbildung 546; 557; 627 Identitätskrise 5; 629 Industrialisierungsansatz 751 ; 767 Industriearbeit 52; 581; 666; 756; 759; 765 Industriegesellschaft 45; 102; 103; 281; 814; Industriösität 255 Informatik 284; 286; 288; 289; 290; 291; 292; 293; 294; 296; 297; 300; 305; 306; 307; 419; 424; 677; 708; 869 Informationsgesellschaft 281 Inhaltsanalyse 209; 225; 226 Interdisziplinarität 75; 298; 806
Jugendarbeitslosigkeit 507; 509; 515;726 Jugendsozialarbeit 518; 528
Koedukation 149; 150; 151; 152; 156; 159; 164; 165; 166; 305 Koinstruktion 150; 163 Kollegschule 429; 449; 526;546; 547; 553; 557; 558; 559 Kommandopädagogik 669 Komplexe Arbeit 49; 747 Kooperationsethik 399 Kultusministerkonferenz 263; 291 ; 294; 384; 395; 540; 793; 813; 861
900
Sachverzeichnis
Labor Standards 736; 744 Laborschule 341 Lean Learning 613 Lean Production 74; 94; 98; 101; 409;578;647 Lebenskunde 240; 315; 316; 711 Lehrwerkstatt 170; 174; 175; 176; 178; 179; 200; 320; 381; 393; 490; 682; 749; 874 Lernarrangement 407; 493 Lernaufgaben 137; 210; 217; 406; 407; 445; 446; 447; 554; 557 Lernfabrik 488; 490; 749 Lerninsel 652; 653 Lernort 169; 170; 173; 174; 175; 176; 177; 178; 183; 187; 201; 202; 366; 372; 388; 392; 447; 489; 543; 553; 637; 666; 676; 682;819 Lernqualität 333 Lernstatt 652; 653; 658 Lernstrategie 134 Lohnarbeit 44; 50; 84; 95; 109; 120; 579; 800; 828
Marktorientierung 490 Marktwirtschaft 38; 62; 65; 82; 86; 98; 100; 810 Metaunterricht 146; 206 Methode 189; 190; 194; 202; 217; 234; 239; 243; 244; 248; 250; 258; 280; 286; 328; 329; 341; 368; 409; 614; 618; 690 Mikroelektronik 56; 166; 281; 304;683;699 Mobilität 384; 471; 533; 645; 728; 804;867 Module 497; 523
National Curriculum 712,718 Naturalistic Approach 246 Neoklassik 22 Neue Produktionskonzepte 98 Neuordnung der Ausbildungsberufe 4; 177; 387; 392; 520 Normalarbeitsverhältnis 81; 86; 802
ökonomisierung 81; 83; 86; 89; 97; 99; 100 Organisationslernen 399; 648 Pädagogik der Arbeitswelt 6; 894 Persönlichkeitsbildung 3; 6; 274; 392; 805 Persönlichkeitsentwicklung 107; 115; 172; 184; 256; 408; 479; 529; 555; 613; 637; 639; 643; 713; 803 Pluralitätskompetenz 612 Politische Bildung 591 Polytechnische Bildung 64; 585; 591; 601; 663; 669; 677; 678; 686; 689; 690; 691; 692 Polytechnischer Unterricht 585 Polyvalenz 543; 554; 822; 824 Praxisorientierung 255; 592 Problemorientierter Unterricht 193; 196 Produktionsfaktor 22; 23; 28; 47; 84 Produktionskonzepte 57; 81; 82; 98; 102; 433; 561; 573; 644; 645; 646 Professionalität 38; 69; 403; 626; 634; 635; 885; 892 Projektarbeit 193; 194; 201; 388; 620 Projektorientierung 702 Projektunterricht 249; 289; 303; 341 Projektwoche 335
Qualifikationsanforderungen 55; 74; 432; 433; 508; 610; 646; 722; 741 Qualifikationsangebot 14; 17; 18; 28 Qualifikationsforschung 420; 421 Qualifikationsnachfrage 17 Qualifikationsprofil 545; 765 Qualifikationsrisiko 607 Qualifizierungspolitik 606 Qualitätszirkel 426; 653
Sachverzeichnis Reformpädagogik 190; 233; 238; 243; 328; 332; 341; 483; 495; 617 Restriktive Arbeit 48; 49; 640 Rollenspiel 193; 205; 206; 273
Sachkunde 237; 321; 775; 776; 784; 791 Schattenwirtschaft 50; 60; 65 Schlüsselprobleme 172; 173; 286 Schlüsselqualiiikation 5; 79; 407; 408; 634 Schonraum 498; 652 Schülerarbeit 7; 64; 258; 273; 274; 278 Schulkritik 496 Schulreform 380; 554; 665; 690; 695 Selbstkonzept 129; 130; 133; 146; 207 Selbstorganisationspotentiale 609 Selbstqualifizierung 183 Selbststeuerung 129; 133; 497; 645; 652 Selbsttätigkeit 257; 258; 605; 606; 617; 620 Selbstversorgungswirtschaft 60 Sowjetpädagogik 671 Sozialarbeit 526 Sozialpädagoge 878; 880 Strukturwandel 67; 68; 73; 79; 279; 584; 814
901
Subjektbildung 69; 621; 622; 623; 625; 627; 628; 634; 635 Subjektorientierung 625 Subsistenzwirtschaft 752; 753; 754; 756 Systemtheorie 18; 22; 23; 31; 39; 453; 464
Taylorismus 45; 422; 573; 741; 743 Technikentwicklung 79; 421; 430 Technikfolgen 73
Umwelterziehung 265; 273; 784; 785 Umweltkomplexität 27 Unterweisung 234; 482; 495; 736; 738; 739
„Versus-Paradigma" 606; 610 Vocational Education 721; 722; 724; 725; 735; 736
Wertewandel 53; 275; 612 Wissenschaftsorientierung 593 Zukunft der Arbeit 50; 368 Zukunftswerkstatt 273; 890 Zusatzstudium 848; 849
Namensverzeichnis Abel, H. 253; 263; 383 Ammen, A. 41; 42; 45; 47; 53; 276 Anweiler, O. 663; 664; 665; 669 Arendt, H. 46; 799 Baethge, M. 16; 50; 61; 95; 171; 536; 640; 645 Bamme, A. 112; 113; 640 Beck, G. 239; 789; 790 Beck, U. 50; 86; 90; 412; 804; 829 Behrens, G. 272; 363 Beyer, O.W. 235 Biermann, H. 481; 483; 484 Blankertz, H. 255; 262; 435; 443; 444; 537; 542; 546; 547 Blonsky, P. F. 258; 259 Brater, M. 50; 274; 399; 400; 419; 490; 522; 538; 540; 541; 572; 579; 619; 829; 876 Bunk, G.P. 405; 517; 571; 582
Comenius, J.A. 189; 234; 378; 379; 773 Conradsen, B. 381 Dauenhauer, E. 542; 544 Dehnbostel, P. 378; 379; 380; 382; 383; 385; 387; 388; 390; 391; 425; 428; 537; 542; 652 Dewey, J. 447; 483; 724; 728 Diesterweg, A. 234; 235; 438 Dikau, J. 42; 43; 44; 45; 46; 47 Dörpfeld, F. W. 237
Fintelmann, K.J. 538 Fischer, A. 176; 382 Flitner, A. 332; 341 Ford, H. 741 Francke, A. H. 234 Frankiewicz, H. 679; 680; 684; 686; 687; 688 Fricke, W. 414; 424; 576; 643 Fürstenberg, F. 107; 565; 593 Galperin, P.J. 131 Gansberg, F. 240; 241; 243 Gaudig, H. 190; 258 Gehlen, G. 152 Görs, D. 561 Gorz, A. 84; 802 Greinert, W.-D. 384; 389; 482; 487; 488; 489; 492; 494; 748; 749; 751 Groskurth, P. 109; 110 Groth, G. 355; 356
Hacker, W. 842; 854 Haefner, K. 284; 286 Hecker, J.J. 379 Heinz, W.R. 108; 111; 124; 160; 515; 640 Helfert, M. 562; 564; 571 Himmelmann, G. 265 Holling, E. 112; 113; 640 Hoppe, M. 265; 276 Humboldt, W. v. 312; 380; 865 Hurrelmann, K. 108
Illich, I. 77 Engels, F. 663; 664; 800
Feldhoff, J. 88; 365; 366; 367; 578; 804; 805; 883
Jeziorsky, W. 233; 247; 774 Jungbluth, A. 842 Jungk, R. 273; 890
904
Namensverzeichnis
Kahsnitz, D. 263; 795; 798; 809; 810 Kaiser, F.-J. 151; 255; 261; 265; 269; 355; 549 Kärtner, G. 110 Kell, A. 283; 378; 382; 540; 542; 544; 545; 549 Kern, H. 50; 93; 94; 398; 414; 433; 644; 647 Kerschensteiner, G. 176; 238; 242; 243; 244; 257; 258; 381; 382 Kißler, L. 49; 60; 564; 643; 649 Klafki, W. 171; 172; 173; 239; 242; 243; 244; 248; 263; 340; 365; 605; 776; 807 Kledzig, U. 254; 371 Klemm, G. 236; 518 Kohn, M.L. 108 König, H. 801 Kruber, K. 797 Kruse, W. 425; 426
Laske, St. 565; 571 Lehder, G. 848; 852 Lemke, I. G. 355; 385 Lemmermöhle-Thüsing, D. 155; 163; 807 Lempert, W. 112; 113; 115; 119; 122; 177; 418; 640 Leu, H.R. 110; 126 Lichtenstein-Rother, I. 233; 244; 248 Lipsmeier, A. 392; 821; 822; 826 Luczak, H. 565; 566; 567; 841; 842; 844; 845; 857 Luther, M. 46
Marx, K. 45; 84; 110; 258; 663; 799; 800; 853 Mertens, D. 91; 582; 805 Mückenberger, U. 86; 87; 88; 802 Müllert, N. 273,890 Münch, J. 174; 176; 177; 378; 606; 726; 731; 733
Negt, O. 631 Nölker, H. 43; 44; 45; 46; 443 Nowacki, T. 672 Oberliesen, R. 234; 489; 797; 799; 806 Oestreich, P. 259; 483 Offe, C 81; 88
Pestalozzi, J. H. 234; 256; 483 Peter, G. 414 Picht, G. 538 Platte, H.K. 355; 360; 361; 362; 364; 365; 882 Poppe, J.H.M. 438
Reuel, G. 369; 370; 798 Ricardo, D. 799 Ropohl, G. 73; 265 Rousseau, J.-J. 483 Ruthmann, R. W. 253
Sattel, U. 638; 643 Satteiberger, Th. 399; 609 Sattler, K. 571 Scharmann, Th. 107; 126 Scharrelmann, H. 240; 241 Schelten, A. 571 Schiffer, K.H. 571 Schneidewind, K. 276; 369; 370 Schreier, H. 247; 249; 778 Schumann, M. 50; 93; 94; 108; 398; 414; 433; 644 Sellin, H. 261; 578 Semler, Ch. 379 Sève, L. 110 Seyfert, R. 238,241 Smith, A. 46; 84; 724; 799 Sonntag, K. 564 Spitzley, H. 84; 574; 578; 795; 797; 807 Spranger, E. 176; 382 Steiner, R. 309; 310; 313; 314; 315; 316; 317; 318; 322; 323; 324; 325; 326; 327
Namensverzeichnis Stiehl, F. 234; 774 Stratmann, K. 263; 357; 379; 438; 823 Taylor, F.W. 46; 84; 93; 441; 638; 741 Tolksdorf, G. 841 Toraieporth, G. 265; 588
Walter, H. 108; 109; 111; 114; 247 Weinbrenner, P. 277 Werner, P. 355; 356; 506; 517; 571 Wiemann, G. 261; 387; 482; 487; 488; 489; 490; 492; 493; 494; 748; 749; 751 Wirsich, W. 486; 486
Ulich, D. 111
Volpert, W. 48; 109; 110; 114; 115; 565; 566; 567; 640; 641; 642; 843; 857
905
Ziefuß, H. 152; 153; 263; 264; 270; 273; 578; 793; 794; 803; 809; 810
Die Autoren
Arnold, Rolf Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Pädagogik, insbesondere Betriebs- und Berufspädagogik Fachbereich: Sozialwissenschaften Universität Kaiserslautern Bönsch, Manfred Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Schulpädagogik Fachbereich: Erziehungswissenschaften I Universität Hannover Bojanowski, Arnulf Dr. phil., P.D., Professor Fachgebiet: Erziehungswissenschaft Fachbereich: Sozialwissenschaften Fachhochschule Merseburg Dedering, Heinz Dr. rer. pol., Universitätsprofessor Fachgebiet: Pädagogik der Arbeitswelt Fachbereich: Berufspädagogik, Polytechnik, Arbeitswissenschaft Universität Gesamthochschule Kassel Dietzold, Monika Wissenschaftliche Angestellte Fachgebiet: Vergleichende Erziehungswissenschaft Erziehungswissenschaftliche Fakultät Universität Leipzig Dröge, Raimund Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Angestellter Fachgebiet: Berufs- und Wirtschaftspädagogik Fachbereich: Berufspädagogik, Polytechnik, Arbeitswissenschaft Universität Gesamthochschule Kassel
908
Autorenverzeichnis
Famulla, Gerd-E. Dr. rer. pol., Universitätsprofessor Fachgebiet: Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik Seminar für Politik und Wirtschaft und ihre Didaktik Bildungswissenschaftliche Hochschule Flensburg - Universität Faulstich-Wieland, Hannelore Dr. phil., Universitätsprofessorin Fachgebiet: Erziehungswissenschaft und Soziologie, insbesondere Frauenforschung Fachbereich: Sozialwissenschaften Westfälische Wilhelms-Universität Münster Fauser, Peter Dr. rer. soz., Universitätsprofessor Fachgebiet: Schulpädagogik Psychologisch-pädagogisch-sportwissenschaftliche Fakultät Friedrich-Schiller-Universität Jena Feig, Gottfried Dr. rer. pol., Akademischer Oberrat Fachgebiet: Pädagogik der Arbeitswelt Fachbereich: Berufspädagogik, Polytechnik, Arbeitswissenschaft Universität Gesamthochschule Kassel Gabriel, Wilfried Dr. phil., Wissenschaftlicher Angestellter Fachgebiet: Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufspädagogik Fachbereich: Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sportwissenschaft Universität Gesamthochschule Paderborn Georg, Walter Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Berufs- und Wirtschaftspädagogik Fachbereich: Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften Fernuniversität Hagen
Autorenverzeichnis
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Heidegger, Gerald Dr. phil., P.D. Fachgebiet: Berufspädagogik Institut Technik und Bildung Universität Bremen Hörner, Wolfgang Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Vergleichende Erziehungswissenschaft Erziehungswissenschaftliche Fakultät Universität Leipzig Huisinga, Richard Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Berufspädagogik und Didaktik beruflichen Lernens, insbesondere Wirtschaftsdidaktik Institut für Berufs- und Betriebspädagogik Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Kaiser, Astrid Dr. phil., Universitätsprofessorin Fachgebiet: Didaktik des Sachunterrichts Institut für Erziehungswissenschaft I Universität Oldenburg Lisop, Ingrid Dr. rer. pol., Universitätsprofessorin Fachgebiet: Wirtschafts- und Berufspädagogik Fachbereich: Erziehungswissenschaften Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Müller, Hans-Joachim Dr. phil., Akademischer Oberrat Fachgebiet: Pädagogik, insbesondere Betriebs- und Berufspädagogik Fachbereich: Sozialwissenschaften Universität Kaiserslautern
910
Autorenverzeichnis
Neumann, Gerd Dr. rer. pol., Universitätsprofessor Fachgebiet: Berufs- und Wirtschaftspädagogik Fachbereich: Berufspädagogik, Polytechnik, Arbeitswissenschaft Universität Gesamthochschule Kassel Rauner, Felix Dr. paed., Universitätsprofessor Fachgebiet: Berufspädagogik und Berufliche Fachrichtung Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Theorie und Praxis des Berufsfeldes Elektrotechnik Institut Technik und Bildung Universität Bremen Schneider, Peter Dr. phil., Universitätsprofessor Fachgebiet: Erziehungwissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufspädagogik Fachbereich: Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sportwissenschaft Universität Gesamthochschule Paderborn Schweres, Manfred Universitätsprofessor Fachgebiet: Arbeitswissenschaft und Didaktik des Maschinenbaus Fachbereich: Maschinenbau Universität Hannover