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German Pages 218 Year 2016
Anselm Böhmer Bildung der Arbeitsgesellschaft
Pädagogik
Anselm Böhmer (Prof. Dr.) lehrt Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Bildung, Armut, Inklusion, Subjektivität und sozialer Raum.
Anselm Böhmer
Bildung der Arbeitsgesellschaft Intersektionelle Anmerkungen zur Vergesellschaftung durch Bildungsformate
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Inhalt
Vorwort | 7 1. Neoliberalismus als Normativ | 9
1.1 Theoretische Positionen des Neoliberalismus | 9 1.1.1 Kapitalismen | 11 1.1.2 Der ökonomische Neoliberalismus | 18 1.1.3 Gouvernementalität als Interpretationsfolie des Neoliberalismus | 23 1.1.4 Neoliberale Politiken | 30 1.1.5 »Kompetenzmaschinen« | 39 1.2 Das neoliberale Normativ | 43 1.2.1 Das Heilsversprechen von Position und Kapital | 43 1.2.2 Das Normativ als Machtkonzept | 45 2. Intersektionelle Ordnungen der Arbeit | 49
2.1 Intersektionalität als Analysematrix | 50 2.1.1 Ein Theorieangebot »mittlerer Reichweite« | 53 2.1.2 Sozioökonomie vielfältiger Komplexidentitäten | 54 2.1.3 Entwicklungen von Ungleichheit | 62 2.1.4 Heben und Drehen – die Bergungsarbeit am Strukturmodell der Intersektionalität | 68 2.2 Die neoliberale Erwerbsarbeitsgesellschaft | 77 2.2.1 Arbeit in der Moderne | 80 2.2.2 Moderne Ungleichheiten | 99 2.2.3 Der Wandel der sozialen Ungleichheit und des Wohlfahrtsstaats | 111 2.2.4 Perspektiven der Erwerbsarbeit | 121 2.2.5 Neoliberal Arbeiten | 133 2.3 Das Normativ der Erwerbsarbeitsgesellschaft | 137
3. Der Faktor Bildung | 141
3.1. Bildung in der Arbeitsgesellschaft | 142 3.1.1 Die Rolle von Bildung angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse | 142 3.1.2 Ein intersektionell informierter Bildungsbegriff | 147 3.2 Neoliberale Regierung der Bildung | 151 3.3 Praktische Intersektionen der Genese von Bildungsungleichheit | 157 3.3.1 Bildung und Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern | 160 3.3.2 Bildung und Erwerbstätigkeit von MigrantInnen | 162 3.3.3 Bildung der Schichten | 169 3.4 Intersektionelle Perspektiven zu arbeitsgesellschaftlichen Bildungsformaten | 174 3.4.1 Alltägliche Bildung | 174 3.4.2 Das responsive Subjekt der Bildung | 178 3.4.3 Bildung als Sichtbarwerden | 181 3.5 Transformierte Bildung | 185
Literatur | 189
Vorwort Ist die Zeit der Arbeit, wie wir sie kannten, zu Ende? Man kann wieder einmal zu diesem Schluss kommen, wenn man sich Paul Mansons Auffassungen zum »Postkapitalismus« (Manson 2016a und b) anschaut. Der Kapitalismus hat sich zuletzt vornehmlich zu jenem der Finanzmärkte gewandelt und zusehends abgekoppelt von der Realwirtschaft. In dieser Gestalt habe er es versäumt, sich auf die informationellen Neuerungen einzustellen, könne dies womöglich auch gar nicht und müsse daher »etwas fundamental Neuem« (Mason 2016a: 55) das Feld räumen. Wie dies aussehen könne, stellt Mason ebenfalls umfänglich dar: Ersatz der von Menschen geleisteten Arbeit durch automatisierte Systeme, Grundeinkommen und herrschaftsfreie Verteilung des sozialen Guts Information beispielsweise. Solche Auffassungen klingen utopisch, sind ja gerade auch als solche im Sinne von »etwas fundamental Neuem« gemeint und könnten in dieser oder einer mehr oder minder abgeänderten Form womöglich eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages Wirklichkeit werden. Ob dieser Tag indes tatsächlich einmal anbricht, vermag vielleicht ein Utopist oder Visionär kommen sehen. Für einen Wissenschaftler hingegen sind solche Auffassungen tatsächlich »Zukunftsmusik«, Perspektiven also, die sich nicht hinreichend mit den tatsächlich bescheidenen Mitteln eines rationalen und reflexiven Zugangs zur Realität und ihren Umbrüchen erfassen lassen. Doch zumindest diesen Anspruch erhebt das vorliegende Buch: sich mit den Mitteln des Denkens und der dazu dienlichen empirischen wie reflexiven Methoden einem Feld zu nähern, das bereits seit etlicher Zeit maßgeblich für die Verständigung von Menschen in den westlichen Gesellschaften der Moderne dient – der Arbeit, näherhin aufgefasst als Erwerbsarbeit. Dabei sollen hier unterschiedliche Fragen nach der Gegenwart der Arbeit und
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ihrer Analyse geboten werden – und stets die Frage danach aufgeworfen, welche Antworten sich unter rationaler Hinsicht auf die jeweils gegebene Situation tatsächlich anbieten. Insofern sind diese Zeilen dann womöglich gar nicht so weit von jenen Masons entfernt – allerdings endet die Reichweite der hier vorgestellten Untersuchungen und Überlegungen an exakt jener Trennlinie, die Empirie und Utopie voneinander trennt. Diese Linie mag nicht immer auf den ersten Blick eindeutig erscheinen – ist die jeweils aus den Analysen abgeleitete Konsequenz tatsächlich noch empirisch unterlegt oder löst sie sich bereits von der Faktenbasis? – und doch muss eine solche Überlegung jeweils angestellt werden, um dem durchgängig wissenschaftlichen Charakter der hier vorgelegten Studie genügen zu können. Um es ausdrücklich zu betonen: Den Äußerungen Masons soll nicht im Mindesten widersprochen werden – doch ist die hier vorgelegte Untersuchung schlicht einem anderen epistemologischen und methodologischen Pfad verpflichtet. Insofern können auch Hinweise darauf, dass ›der Neoliberalismus kaputt‹ sei (vgl. Mason 2016b: 27ff.), nur insofern Bestand haben, als kenntlich wird, wie, wo und in welchem Ausmaß die Doktrin der ungezügelten ökonomischen Handlungsfreiheit tatsächlich nicht mehr fungiere. Dies allerdings ist eine Auffassung, die erst nach hinreichender Klärung dieses ökonomischen und gesellschaftstheoretischen Konzepts zu Beginn des Bandes und in seinen nachweisbaren Auswirkungen auf Erwerbstätigkeit und die zu diesem Zweck initiierten Bildungsangebote in unterschiedlichem Ausmaß geteilt oder auch zurückgewiesen werden kann. Von dorther tun sich womöglich neue Wege auf.
Ludwigsburg, im Juli 2016
1. Neoliberalismus als Normativ
Die theoretische Formation des Neoliberalismus hat strukturbildende Bedeutung für gesellschaftliche Vollzüge – und insofern für Formen von Vergesellschaftung und Erwerbsarbeit. Im folgenden Kapitel sollen die grundlegenden sozialwissenschaftlichen Strukturmomente jener Konzeption herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck kommen die einschlägigen Texte von Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant sowie David Harvey zu Wort, um von dort aus in der Folge ein neoliberales Konzept von Erwerbsarbeit sowie ihrer Funktionen für Gesellschaft und Vergesellschaftung ableiten zu können.
1.1 T HEORETISCHE P OSITIONEN DES N EOLIBERALISMUS Es scheint einigermaßen komplex zu sein, das hier zu untersuchende semantische Feld zu fassen zu bekommen, denn der Begriff des Neoliberalismus ist »ein hybrider Terminus, der irgendwo in der Schwebe zwischen dem Laienidiom der politischen Diskussion und der Fachterminologie der Sozialwissenschaften bleibt« (Wacquant 2009: 308). Daher soll im Folgenden zunächst der Bezug der mit dem vorliegenden Band gebotenen Analyse als derjenige der Erwerbsarbeit und der Reflexionen auf deren Veränderungen in »neoliberalen« Gesellschaften, insbesondere der zurückliegenden etwa 35, Jahre skizziert werden. Neoliberalismus ist insofern zunächst der Begriff für eine politische, soziale und ökonomische Konfiguration, die in ökonomischen Kontexten verwurzelt scheint, doch weitaus umfänglichere
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Grundlagen aufweist und zugleich weiterreichende Konsequenzen nach sich zieht. Gerade im Hinblick auf den Aspekt politischer Inhalte kann Neoliberalismus verstanden werden als bestimmt durch die Politikkonzepte deregulierter Ökonomie, des Zurückdrängens staatlicher Interventionen in der Wirtschaft, einer Austeritätspolitik, die durch Einsparungen öffentlicher Haushalte und der Reduktion staatlicher Unterstützungen bestimmt ist, (vgl. Boas/Gans-Morse 2009: 143; einen alternativen Entwurf legen vor Lemke/Schaal 2014: 10) sowie einem noch näher zu bestimmenden veränderten Verhältnis zwischen staatlicher Regierung und den Individuen. Somit ergeben Hinweise darauf, dass mit Neoliberalismus nicht allein eine ökonomische Programmierung als marktorientierte Liberalisierung gemeint sein kann, sondern dass im Zuge von Privatisierung und Kürzung staatlicher Subventionen Versorgungsstrukturen für die Bevölkerung zur Disposition gestellt werden, die im vorhergehenden keynesianischen Wohlfahrtsstaat als Grundlage des sozialen Ausgleichs verstanden wurden (zur historischen Einordnung vgl. Dingeldey 2006). Inwieweit sich daraus Konsequenzen für die sozialen Strukturen von neoliberalen Gesellschaften ergeben, welche Bedeutung dies für die Konzepte von Erwerbsarbeit hat und inwieweit sich somit eine »Entkollektivierungs- oder Reindividualisierungs-Tendenz« (Castel 2011: 18; vgl. Bourdieu 2015: 48f.; skeptisch zu einem allein neoliberalen Ursprung der Individualisierung Hesse 2007: 231) im Hinblick auf die Lebensführung der Einzelnen ausmachen lässt, soll noch eigens dargestellt und für die Frage nach Bildung und Bildungspolitik ausgewertet werden (vgl. Kapitel 2 und 3 dieses Bandes). Denn der besondere Einfluss, den diese Denkungsart für verschiedene Nationen, aber alsbald auch im globalisierten Zusammenhang erlangte, ist kaum erklärbar, wenn Neoliberalismus lediglich als eine Detailfrage der Wirtschaftspolitik verstanden wird. Vielmehr wird hier davon ausgegangen – und soll in den folgenden Abschnitten herausgearbeitet werden –, dass Neoliberalismus auf dem Weg wirtschaftspolitischer Restrukturierung politische, gesellschaftliche und damit einhergehend individuelle Formen nachhaltig beeinflusst. Dieses Wechselspiel der verschiedenen Politikfelder und gesellschaftlichen Arenen wiederum hat Konsequenzen für die anthropologischen sowie bildungsspezifischen Auffassungen und Steuerungsbemühungen, die im Folgenden als Politiken eines bestimmten Regierungsverständnisses mit dem Begriff der Governance beschrieben werden sollen
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(vgl. z.B. Benz/Dose 2010; Benz et al. 2008; Davies 2011; Demirović/Walk 2011; Heinelt 2008; Mayntz 2010). Damit ist zugleich der spezifische Fokus des vorliegenden Bandes umschrieben: Neoliberalismus wird hier weniger mit politikwissenschaftlichem Interesse untersucht als vielmehr mit seinen letztlich bildungspraktischen Konsequenzen für die Frage nach der Vergesellschaftung von Menschen, für die allerdings politik-, sozial- und bildungswissenschaftliche Gesichtspunkte von Bedeutung sind und insofern in der Analyse des Neoliberalismus Berücksichtigung erfahren müssen.1 Daher soll zunächst sein grundlegendes Verständnis herausgearbeitet und anschließend die damit einhergehende Frage nach der veränderten Auffassung von Erwerbsarbeit konfiguriert werden, um von dort her die Rückfrage nach Bildungskonzepten stellen zu können, die sich in dieser Grundstruktur als ein Element des Gesamtzusammenhanges neoliberaler Gesellschaften verstehen lässt. Diesem Zweck dienen auch die nun anschließenden Rekonstruktionen zum Neoliberalismus als politikinduziertem Format von Subjektivierung, Vergesellschaftung und Bildung. 1.1.1 Kapitalismen Der Begriff des Kapitalismus ist nach wie vor nicht leicht zu handhaben, da er als historisch und ideologisch vorbelastet gilt. Zugleich wird er allgemein als ein kritischer aufgefasst: »Der Begriff entstand aus dem Geist der Kritik und der Perspektive des Vergleichs.« (Kocka 2013: 9) Darüber hinaus dient der Terminus aber auch der wissenschaftlichen Analyse (vgl. ebd.) – und soll gerade als solcher im Folgenden genutzt werden. Insofern werden als Kapitalismus jene Gesellschaftsordnungen verstanden, die einer spezifischen Orientierung an der Generierung von Mehrwert als dem »Geist des Kapitalismus« verpflichtet sind und dabei zugleich eine als Ethik apostrophierte Einordnung erfahren:
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Im Folgenden sollen Webers Hinweise zu Interessenausgleich und Interessenverbindung aufgegriffen, dann aber jenseits des methodologischen Individualismus’ um Aspekte der strukturellen Interessenvormacht und vorrationaler Prozesse erweitert werden (vgl. Weber 1980: 21f.; zur diesbezüglichen WeberRezeption Adornos vgl. Proißl 2014: 55ff., zur Abgrenzung von Weber und Marx vgl. Weyand 2014: 76).
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»[...] vor allem ist das ›summum bonum‹ dieser ›Ethik‹, der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem ›Glück‹ oder dem ›Nutzen‹ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint.« (Weber 2016: 42f.; zu Foucaults sowie der Frankfurter Schule Perspektive auf Weber vgl. Kocyba 2014)
Deutlich wird bereits in dieser klassischen Position, dass Kapitalismus als die Generierung von Mehrwert einerseits und als Produktion wie Präsentation einer subjektiven Disposition (»Ethik«) fungiert. Darin gilt für die subjektiven Dispositionen der Individuen die Herstellung einer mindestens gesellschaftlichen Rahmung, so dass der Kapitalismus ›Unternehmer und Arbeiter erzieht und schafft‹ (vgl. ebd.: 44). Weber führt eine solche gesellschaftliche wie subjektive Disposition letztlich auf den Rationalismus zurück, dessen Vorläufer er u.a. im calvinistischen Protestantismus ausmacht (vgl. ebd.: 19ff. sowie 59ff.). Dabei erkennt Weber den Widerspruch von »Rationalismus« und »irrationalem Element« (ebd.: 58f.). Damit stellt sich die Frage, wie »der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens [...], so rein als Selbstzweck gedacht« (ebd.: 42) werden könne, wenn doch zunächst ein rationales ökonomisches Kalkül und kein irrationales Immer-Mehr des Geldes leitend sein sollte. Die so gestellte Frage bringt »das Irrationale dieser Lebensführung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt, zum Ausdruck.« (Ebd.: 54) Allgemein indes bedarf es nach Max Weber einer gewissen Autonomie der Wirtschaft gegenüber der Politik, um sich im modernen Sinne entfalten zu können (vgl. Kocka 2013: 13). Schumpeter, als ein weiterer Bezugsautor einer systematischen Klärung des Kapitalismusbegriffs, wiederum legte dar, dass der Kapitalismus auch der Mehrheit der Menschen einen Zuwachs an Wohlstand erbracht habe (vgl. ebd.: 16). Dennoch konstatierte Schumpeter, dass der Kapitalismus an seinen nicht intendierten Folgen scheitern müsse; er ist also in sich zwiespältig, er produziert und negiert zugleich seine gesellschaftliche Basis: »Kapitalistische Entwicklung ist immer, so die Erkenntnis Joseph A. Schumpeters, eine Abfolge kreativer Zerstörung, sie ist also janusköpfig, für die einen kreativ, für andere destruktiv.« (Altvater 2014: 8)
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Bereits mit diesen beiden Schlaglichtern zu klassischen Positionen zum Kapitalismus ergibt sich, dass sein Begriff kein homogenes Ganzes erfasst, sondern vielmehr unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklungsstränge bündelt, verknüpft, trennt und neu strukturiert, ohne dass – gerade angesichts der irrationalen (Weber) und der destruktiven (Schumpeter) Momente – eine historisch lineare Entwicklung rekonstruiert oder gar ein schlussendliches Zielkonzept vorgelegt werden könnte. Angesichts verschiedener weiterer Rekonstruktionen des Kapitalismusbegriffs (Marx, Keynes, Polanyi, Braudel u.a.) kommt Kocka allerdings zumindest zu dem Ergebnis folgender Strukturmomente des Kapitalismus: 1. Kapitalismus individualisiert: »Kapitalismus [beruht] auf individuellen Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen.« (Kocka 2013: 20) Diese Individualisierung lässt die Einzelnen durchaus unterschiedliche Positionen im Gesamtraum einer Gesellschaft annehmen (vgl. Bourdieu 1997: 160f.) und trägt zugleich dazu bei, dass selbst intersubjektive Nähe im solcherart beschaffenen Bourdieu’schen »Sozialraum« unter kapitalistischer Direktion zunehmend weniger zu überindividuellen Zusammenschlüssen führt. Vielmehr werden Individuen als Vereinzelte adressiert und durch Subjektivierung mit einhergehender Responsibilisierung auf das vermeintlich jeweils nur einzeln Geltende – im Positiven wie im Negativen – verwiesen. Strukturelle Voraussetzungen individueller Lebensführung stehen in der Gefahr, in den Hintergrund zu treten oder völlig ausgeblendet zu werden (vgl. näher Kapitel 1.1.5). 2. Kapitalismus kommodifiziert: »Das ›zur Ware werden‹ [...] von Ressourcen, Produkten, Funktionen und Chancen ist zentral.« (Kocka 2013: 20) Zugleich fungieren die Mechanismen des Marktes als grundsätzliche Steuerungsmaßgaben. Unter dieser Hinsicht kommt den unterschiedlichen Gegenständen und selbst menschlichen Potentialitäten (»Funktionen und Chancen«) der Charakter des ökonomischen Verkehrs zu – was Gegenstand gesellschaftlicher Bezüge ist, kann kommodifiziert, also zur Tauschware werden und bekommt als solche einen Tauschwert zugesprochen. Da sich dieser Tausch- vom Gebrauchswert für die Lebensführung der Individuen deutlich unterscheiden kann, erlangen Gegenstände und menschliche Potentialitäten einen irrationalen Charakter (vgl. Weber 2016), sie werden zum »Warenfetisch« (Marx
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1968: 85), der somit vordergründig der Produktion von Gütern, intentional indes der Herstellung von Mehrwert verpflichtet wird: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.« (Ebd.: 86)
3. Kapitalismus kapitalisiert – bedingt mithin die Investition von Kapital in der Gegenwart für die Gewinnung von Mehrwert in der Zukunft (vgl. Kocka 2013: 20f.). Teile dieses Arguments klangen bereits zuvor an, wenn die »irrationale« oder »fetischisierte« Weise der Nutzung von Gegenständen und sogar menschlichen Möglichkeiten dargelegt wurden. Weitere Perspektiven werden nun mit dem Hinweis auf eine zeitliche Struktur deutlich: Die Gegenwart steht im Dienst der Zukunft. Was heute produziert wird, soll in Zukunft veräußert und »zu Geld gemacht« werden. Insofern wird im Kapitalismus jegliche Gegenwart von der Zukunft geprägt, überholt und letztlich (im positiven Fall) rational, ökonomisch und gesellschaftlich bestätigt. Aus dieser dreifach gegliederten Grundstruktur kapitalistischer Gesellschaften ergeben sich für die Individuen, wie bereits oben im Rückgriff auf Max Weber angeführt, Tendenzen hin zu verstärkt irrationalen und unilateralen Subjektivierungsformaten. »Der Erwerb von Geld und immer mehr Geld« (Weber 2016: 42) prägt nicht allein eine berufliche Perspektive, sondern sämtliche weiteren Formen der Selbstverständigung der Menschen. Welche »Ressourcen, Produkte, Funktionen und Chancen« (Kocka 2013: 20) auch immer erstrebt, genutzt oder als der eigenen Verfügungsgewalt unterstellt angesehen werden – ihr Tauschwert bleibt die orientierende Größe, von der her weitere »Güterabwägungen« ihre Maßstäbe entlehnen. Dies gilt zumindest so lange und insofern, als kapitalistische Normen zugrunde gelegt werden. Dass in spätmodernen Gesellschaften (zu der Giddens’schen Dreiphasigkeit der Moderne vgl. Jurczyk 2009: 53f.; zu ihrer
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spezifischen Dynamik und subjektivitätsbezogenen Kontingenz vgl. Rosa 2016: 519ff.) weitere Normsysteme und ihre sozialen Positionierungen eine kapitalistische Strukturierung »überlagern« (Bourdieu 1997: 161; dort im Hinblick auf Sozialräume), ist kein Geheimnis. Dennoch bleibt die Schaffung von Mehrwert mit den Maßgaben von Individualisierung, Kommodifizierung, Kapitalisierung und Subjektivierung zentraler Ankerpunkt der Entwicklungen kapitalistischer Gesellschaftsformen. Versteht man den Neoliberalismus also als ökonomisch wie sozial folgenreiche Gemengelage aus ökonomischer Liberalisierung, Zurückdrängen administrativer Präsenz und Kürzung staatlicher Subventionen, so wird deutlich, dass darin ein Grundzug allgemein kapitalistischer Wirtschaftsund Gesellschaftsformate zum Ausdruck kommt. Das neoliberale Regime ist nicht das erste, das unter kapitalistischer Maßgabe eine Verstärkung der Individualisierung – und folglich: eine Rückführung kollektiver Sozialformen – anzielt. Auch ist die dem Neoliberalismus zuzuschreibende umfängliche Kommodifizierung (vgl. Lessenich 2013: 97ff.) dem Kapitalismus inhärent; es scheinen weit eher die Reichweite, die Zielgruppen und die Verfahren der Kommodifizierung zu sein, die sich historisch wandelten. Ein Blick auf die Entwicklungen der kapitalistischen modi laborandi ab den 1970er Jahren zeigt umfängliche Herausforderungen mitsamt neuer Justierungen der einzelnen kapitalistischen Vergesellschaftungsfelder (vgl. Kocka 2013: 92f.), wobei jeder Entwicklungsschritt seine Bedeutung für die Entwicklung der aktuellen neoliberalen Gestalt des Kapitalismus bekommt: Schon durch das Ende von Bretton Woods, durch Ölpreissteigerung, Deregulierung, De-Industriealisierung und die allgemeine Aufwertung des Finanzsektors entstand eine »Finanzialisierung« (ebd.: 94) als Ausdruck »neoliberaler« Deregulierung. Dabei ist zudem die Destabilisierung des Kapitalismus durch einen »Pumpkapitalismus« (ebd.: 95; Ausdruck von Dahrendorf) zu konstatieren, die der oben erwähnten Zukunftsperspektive des Kapitalismus weniger eine positive Steigerung des Mehrwerts hinterlegt, als vielmehr einen Schuldendienst implementiert, der aufgrund seiner vertraglichen Bindung freiheitlich verstandene Handlungsspielräume gewissermaßen »unter der Hand« in Handlungsnotwendigkeiten verkehrt – so dass der Rede von einer »Alternativlosigkeit« zumindest positive Handlungsnotwendigkeiten vorausliegen. Schließlich ist die Weiterentwicklung des Kapitalismus vom »Manager- zum Finanzmarkt- oder In-
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vestorenkapitalismus« (ebd.: 96) mit entsprechenden Konsequenzen für die Führung von Unternehmen (shareholder value) zu verzeichnen. In dieser Form werden zusätzliche »Waren« in Gestalt der Finanzprodukte kreiert, so dass weitere ökonomische Handlungsfelder geradezu ex nihilo der Produktivwirtschaft entstehen. Doch auch in dieser Hinsicht werden Freiheitsräume eingeschränkt, insofern weder UnternehmensgründerInnen noch die leitenden ManagerInnen tatsächlich Handlungshoheit beanspruchen können. Diese wird vielmehr durch die »AnteilseignerInnen« und ihre jeweiligen Präferenzen formiert. Dass sich hingegen nicht alle shareholder der nachhaltigen Optimierung bestehender Unternehmen verpflichtet sehen, ist mittlerweile eine Binsenweisheit, die sog. Hedgefonds u.a. mit ihrem marktradikalen Verwertungsinteresse erkennen lassen. Deutlich wird, dass sich nicht bloß eine Form des Kapitalismus für moderne Gesellschaften beschreiben lässt (und ein globaler Vergleich würde abermals gesteigerte Differenzgrade aufzeigen). Daher soll von verschiedenen »Kapitalismen« gesprochen werden, die sich je nach historischer Entwicklung von Gesellschaften, Organisation der Kapital- und Ertragssteuerung, der Auffassung von Unternehmens- oder allgemeinen wirtschaftlichen Zielen u.v.m. unterscheiden. In der hier vorliegenden Schrift sollen jene Aspekte besonders hervorgehoben werden, die sich unter dem Begriff eines »neoliberalen Kapitalismus« versammeln lassen und die zuvor bereits mit einer ersten Arbeitsdefinition vorgestellt wurden. Vor diesem Hintergrund kann »neoliberale« Politik als jene aufgefasst werden, die durch die bereits skizzierten Strukturmomente »Haupttendenzen der vorangehenden Jahrzehnte umwendete und zugleich eine Gewichtsverschiebung von der organisierten Arbeiterschaft hin zur Kapitalseite einleitete.« (Ebd.: 117) Auf diese Weise zeigt sich, dass die verschiedenen historischen Gestalten des Kapitalismus und seine gegenwärtigen Erscheinungsformen nicht allein auf eine – gar auf ein einziges Ziel hin strebende – Optimierung des gesellschaftlichen Systems der Schaffung von ökonomischem Mehrwert verpflichtet sind, sondern durch sich wandelnde Ausdrucksformen dieses Strebens zum Teil höchst unterschiedliche Folgen für die Vergesellschaftung von Menschen in kapitalistischen Staatsgebilden ergeben. Dass aus der zuvor benannten »Gewichtsverschiebung von der organisierten Arbeiterschaft hin zur Kapitalseite« Veränderung in den Teilhabeformen und Ressourcenzugängen folgen, aus denen sich wiederum unterschiedliche Bereitschaften speisen, sich als Individuum an der Ausgestaltung gesellschaft-
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licher Segmente zu beteiligen, liegt auf der Hand. Zudem sei nach Auffassung Kockas der gesellschaftliche Konsens für eine koordinierte Kapitalismusform zusehends erodiert – gerade in jenen Nationen, die dann Vorreiter für die neoliberale Umsteuerung wurden; dabei zeigte sich auch ein verstärkter Individualismus als Ausdruck des Zeitgeists (vgl. ebd.). Für Kocka bleibt der Staat wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus, denn 1. muss der Staat die Rahmendbedingungen für den Markt absichern, 2. muss der zunehmenden Fragilität kapitalistischer Prozesse durch gesellschaftlich neue Einbettungen begegnet werden, 3. wachsen die Kollateralschäden des Kapitalismus zusehends (vgl. ebd.: 121f.). Daher kann eine wie auch immer geartete Ausdrucksgestalt kapitalistischer Vergesellschaftung nicht ohne eine regulative Instanz auskommen, die bislang der Staat und seine unterschiedlichen Funktionsformen – ob als disziplinierende und strafende, ob als soziale Leistungen vergebende, Sicherheit herstellende oder auch durch individuelle Ressourcenmehrung (etwa im öffentlichen Bildungssystem) gewährende – erbracht wurden. Inwieweit sich tatsächlich anderen Organisationsmuster im inter- oder transnationalen Zusammenhang mit derselben Effizienz etablieren lassen, wird die Zukunft zeigen müssen. Bislang allerdings lassen sich solche wirkmächtigen Akteure im Umfeld ökonomischer Strukturen und Prozesse kaum erkennen. Bei aller Angewiesenheit von kapitalistischen Prozessen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen muss man wohl von einer gewissen Ungleichheit der Lasten ausgehen, als der Kapitalismus jene gesellschaftlich entwickelten und vorgehaltenen Grundlagen nutzt, die er nicht selbst geschaffen hat und die er durch die Kollateralschäden seiner Vorgehensweise (Schumpeter) zudem kontinuierlich bedroht. Andererseits werden zumindest einige Anteile des erwirtschafteten Mehrwerts auch in gesamtgesellschaftliche Handlungsfelder (Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und Wohnen, Sicherheit, Kultur etc.) in Form von Steuern und Abgaben überführt. Es bleibt also abzuwarten, ob und wie es den unterschiedlichen Kapitalismen jeweils gelingt, sich des Verzehrs der eigenen gesellschaftlichen Grundlage zumindest insofern zu enthalten, als damit nicht längerfristige und somit die Produktionsverhältnisse selbst unterminierende Problemfel-
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der aufgetan werden. Ein Blick in aktuelle ökologische und soziale Problemzonen der internationalen Mehrwertproduktion lässt Zweifel keimen. 1.1.2 Der ökonomische Neoliberalismus Im Folgenden sollen insbesondere diejenigen Perspektiven des Neoliberalismus dargestellt werden, die sich vornehmlich auf die ökonomischen Aspekte eines solchen Politikstils und Gesellschaftsformates beziehen. Zu diesem Zweck werden einleitend einige systematische Hinweise auf das im Folgenden verwendete Verständnis des Neoliberalismus vorgelegt, um sodann eine historische Rekonstruktion (einiger) Entwicklungsstränge und Seitenarme des Neoliberalismus skizzieren zu können. 1.1.2.1 Die neoliberale Quadriga: Individualisierung, Kommodifizierung, Kapitalisierung und Subjektivierung In seiner Analyse spätmoderner Gesellschaften gelangt Crouch zu der Einschätzung, dass die drei Sektoren Staat, Markt und Großunternehmen ein »komfortables Arrangement« (Crouch 2013a: 14) eingingen. Movens einer solchen Entwicklung sei nicht zuletzt die insbesondere durch die Konzerne vertretene und manifestierte Auffassung, »that the social good will be maximized by maximizing the reach and frequency of market transactions, and it seeks to bring all human action into the domain of the market.« (Harvey 2007: 3) Damit sind, so kann nach der vorherigen Analyse festgestellt werden, bereits zwei allgemeine Spezifika aus dem Formenkreis der Kapitalismen benannt, Kommodifizierung (›bring human action into the market‹) und Kapitalisierung (›maximizing by maximizing the market transactions‹). Deutlich wird sodann die Praxis der Individualisierung von Konkurrenz, die insbesondere durch die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg angeheizt wird (vgl. Bourdieu 2015: 49). Für die Versorgung mit wohlfahrtsstaatlichen Gütern bedeutet dies: »An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten trat [...] die paternalistische Sorge um seinen Wohlstand, demzufolge er vor allem von sinkenden Preisen profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von kleinen und mittleren Unternehmen gewährleistet werden können.« (Crouch 2013a: 39)
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Aus der Wahlfreiheit vormaliger Ordnung wird somit die ›Freiheit‹ zur Unterordnung, die zugleich bestimmten Akteuren des kapitalistischen Regimes, den Großkonzernen, mehr Marktmacht und dabei eine gesteigerte Definitionshoheit über die anzubietenden Produkte und Dienstleistungen, letztlich das daraus resultierende gute Leben zuspricht – den Konsum. Zugleich hat eine solche neoliberale Regierung Konsequenzen für die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen. Wohlfahrtsstaatliche Absicherungen sozialer Risiken erfahren nun vermehrt Kritik, als sie sich nicht durchgängig Kosten-Nutzen-Kalkülen unterwerfen und zudem Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen unterminierten, sich den Herausforderungen des Marktes unverstellt zu überantworten (vgl. Hälterlein 2015: 106). Aus der, nach Auffassung Crouchs paternalistischen, Umstrukturierung der Wohlfahrtsstaaten folgt eine im vorgenannten Sinne legitimierte Aktivierung sowie verstärke Responsibilisierung der NutzerInnen solcher Dienstleistungen im Sinne eines regulativen »Förderns und Forderns« wie im deutschen Sozialgesetzbuch II. Daraus wiederum ergeben sich umfängliche Prozesse der Subjektivierung von Menschen im Sinne eines neuen workfare-Regimes, das durch eine Reformulierung und umstrukturierte Einbettung des Verständnisses von Erwerbsarbeit die Individuen ebenso beeinflusst wie es die Politiken umformt (vgl. z.B. Böhmer 2013a und b; Brütt 2011; Hohmeyer et al. 2012; Olk 2009). »Arbeitsmarktpartizipation ist im Verlauf der jüngeren Sozialstaatsreform zur tendenziell alternativlosen, einzig anerkannten Form der Lebensführung geworden, in deren Ermöglichung (und im Zweifel Erzwingung) alle sozialpolitischen Anstrengungen konvergieren.« (Lessenich 2009: 169)
Mit der neoliberalen Freiheit zum Wettbewerb wird ein vorhergehend breiter gefasstes Verständnis der Freiheit von Zwang, Fremdherrschaft und Unvernunft zu einer Freiheit zur Einordnung in ein neues Wohlfahrts- und Arbeitsverständnis überführt. Dabei ist dieser Art von Freiheit – zumindest vor dem Hintergrund früherer Freiheits- und Bürgerrechte wie etwa während der Französischen Revolution, in der Unabhängigkeitserklärung der USA, The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of America, oder, als Stichwortgeber beider in den Auffassungen eines John Locke (vgl. Locke 2006; dazu Niesen 2012) – wohl kaum noch als jene Freiheit zu beschreiben. Sie nimmt vielmehr Formen einer in freiheitlichen Formen
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erscheinenden Überzeugung durch andere und für Anderes an – so z.B. die erwähnten Formen von Individualismus und »Profitstreben«. Weiter wird betont, dass der Neoliberalismus den Einfluss der Großkonzerne massiv gesteigert habe (vgl. Crouch 2013a: 12). Daraus wiederum resultiere ein »Dreikampf« aus Staat, Markt und diesen Großunternehmen, in den eine vierte, überaus heterogene Kraft eingreifen müsse: die Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 14 sowie 215ff.). Dabei zeige sich, dass der Staat zunehmend den Formaten der Großunternehmen angeglichen werde (vgl. ebd.: 109). In diesem Zusammenhang verweist Crouch auf die ebenfalls gegebenen Vorteile des Neoliberalismus (vgl. ebd.: 45f.): 1. Alternative zu staatlicher Bevormundung, 2. Bearbeitung des Problems von Zentralisierung und fehlender »Kundennähe« (ebd.: 45), 3. Flexibilität trotz totalitärer Neigungen. Der Begriff des Neoliberalismus steht vor diesem Hintergrund zunächst für eine Problemanzeige der strukturellen Veränderung und des substanziellen Rückbaus nicht zuletzt im sozialen Sektor spätmoderner Gesellschaften. Zugleich bieten sich z.T. originär historische Positionen des Liberalismus, die folglich aktuell mit unterschiedlichen und teilweise sicher auch weiterreichenden Gedanken (wie etwa die Vermeidung staatlicher Bevormundung) einhergehen, als im öffentlichen Diskurs zumeist festzustellen ist. Insgesamt wird bei der Lektüre einzelner Publikationen zum Neoliberalismus, konkret z.B. jener von Bourdieu & Wacquant (2004) oder auch Crouch (2013a; Erstauflage 2011) deutlich, dass diese Texte unverkennbar von den Eindrücken aus der Zeit ihrer Abfassung formuliert sind und insofern die Entwicklungen einige Jahre später (verständlicherweise) weder antizipieren noch in ihre Reflexionen einarbeiten konnten. Dies gilt etwa jüngst für die Bewegungen der Geflüchteten in Richtung Europa oder auch das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Auf diese Weise wird die rasche Weiterentwicklung des Neoliberalismus – insbesondere seiner in öffentlichen Artikulationen genutzten Argumentationsfiguren – kenntlich und belegt so, dass auch künftig eine ausgeprägte Entwicklungsdynamik des Neoliberalismus und seiner konkreten Formate zu vermuten ist, die sich zunehmend weiter von seinen Quellen entfernen können. Aus diesem Grund sollen dessen Ur-
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sprünge nun dargelegt werden, um so die Kontrastierung von Quellen- und aktueller Lage umso markanter bieten zu können. 1.1.2.2 Historische Entwicklungen des ökonomischen Neoliberalismus Zunächst lässt sich für den Begriff des Neoliberalismus feststellen, dass sich zumindest der Ursprung jener Praktiken zeitlich recht exakt datieren lässt, die ihn als politische Agenda definieren: David Harvey terminiert diesen »turning point in the world’s social and economic history« (Harvey 2007: 1) auf die Jahre 1978-1980. In diesem knappen Zeitraum nämlich werden die Umsteuerungen der Wirtschaftspolitik durch Deng Xiaoping in China, Ronald Reagan und Paul Volcker in den USA sowie Margaret Thatcher in Großbritannien angesetzt, die – wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise – zumindest teilweise ähnliche Ziele verfolgten: »Deregulierung der Lohnarbeit, Kapitalmobilität, Privatisierung, monetaristische, an Deflation und Finanzautonomie orientierte Zielsetzungen, Liberalisierung des Handels, Standortkonkurrenz, Steuersenkungen und reduzierte Staatsausgaben [...].« (Wacquant 2009: 309)
Doch findet Harvey erste Ansätze zu einer neoliberalen Ausgestaltung von Politik bereits im Jahr 1973, nachdem das Militär in Chile gegen die Regierung Salvador Allendes putschte, Pinochet an die Macht brachte und – mitsamt seinen Schwachstellen – den zuvor erwähnten neoliberalen Umsteuerungen 1978-1980 als Blaupause diente (vgl. Harvey 2007: 7ff.). Als weiterer Motivationsschub werden der Ölpreisschock, die Beschränkung staatlicher Steuerungshoheit angesichts der Globalisierung und die Rolle »von internen Veto-Spielern« wie etwa Gewerkschaften ausgemacht (Dingeldey 2006: 4f.). En détail rekonstruiert Crouch die Genese des Liberalismus beginnend mit dem 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Crouch 2013a: 21ff.; ähnlich bereits Foucault 2015b und c). In dieser Zeit verortet er auch die Bemühungen um Meinungsfreiheit u.ä.m., macht aber zugleich deutlich, dass das ökonomisch erstarkende Bürgertum aufgrund seiner Wirtschaftskraft den bisherigen Autoritäten die Stirn bieten konnte (vgl. Crouch 2013a: 22). Zudem wurde das Leben nach der Auffassung von Crouch in unterschiedliche Lebensbereiche separiert, mit deren Hilfe ebenfalls der Einfluss der bis dahin
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Mächtigen zurückgedrängt werden konnte (vgl. ebd.). Während Crouch das Aufkommen des Liberalismus als Befreiung von vormaligen Herrschaften beschreibt, versteht Foucault den Liberalismus hingegen als Gouvernementalität, als Regierungspraxis mit veränderten Vorzeichen (vgl. Foucault 2015b: 480ff.; vgl. näher Kapitel 1.1.3-1.1.5). Doch zurück ins 20. Jahrhundert: Aufgrund der rasanten Anstiege der Preise für Rohöl 1973 und 1979 sowie der zunehmenden Skepsis gegenüber dem Keynesianismus (und seiner Gefahr einer Inflationssteigerung; vgl. Crouch 2013a: 34), konzentrierte sich die wirtschaftsbezogene Logik nicht mehr ausschließlich auf staatliche, sondern nunmehr vermehrt auch auf privatwirtschaftliche Modelle. Deshalb etablierte man New Public Management als Ansatz kommunalen Managements sowie Public Private Partnership, die Bereitstellung von öffentlicher Infrastruktur durch private Unternehmen (vgl. ebd.: 34ff.). Als dann noch Reagan und Thatcher die Weichen in ihren Ländern entsprechend stellten, waren dem Neoliberalismus nach der Lesart der Mont Pèlerin Society2 und der »Chicago Boys« die Türen weit geöffnet (vgl. ebd.: 38 sowie 229). Nicht selten werden im Neoliberalismus Oligopole ausgemacht, die den betreffenden Großkonzernen entsprechende Marktmacht sichern (vgl. ebd.: 39) und auf diese Weise zu einer Strukturveränderung von Volkswirtschaften beitragen. Die Entwicklungen hatten nach Lemke/Schaal (2014) unterschiedliche Policy-Ansätze zur Konsequenz: die Umstellung von der vormaligen Nachfrage- nun auf Angebotsorientierung, die Ausweitung der Geldmenge, um die Inflationsrate gering zu halten, keine aktiven Eingriffe in den Markt durch den Staat und Reduzierung der Steuern (vgl. ebd.: 12). »Diese Policy-Empfehlungen mitsamt der ihnen eingeschriebenen, (vermeintlich) intuitiv nachvollziehbaren Erklärungsmodelle (z. B. die ontologische Annahme vo[m] Egoismus von Marktakteuren und die lineare Verknüpfung von Anstrengung und Belohnung), der politisch-strategische Einfluss der Mont Pelerin Society und die Dominanz des Neoliberalismus im fachwissenschaftlichen Diskurs Anfang der 1970er Jahre ebneten dem monetären Neoliberalismus den Weg in die Politik.« (Ebd.)
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Von Friedrich August von Hayek im Jahr 1947 gegründete Gesellschaft zur Beförderung des Neoliberalismus; vgl. allg. Mirowski 2009; Plickert 2008.
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Demgemäß ist anzunehmen, dass sich der politische Erfolg des Neoliberalismus gerade durch seine Anschlussfähigkeit mit Hilfe der »(vermeintlich) intuitiv nachvollziehbaren Erklärungsmodelle« einstellen konnte. Für den weiteren Verlauf unterscheidet Crouch zwei Stränge der Entwicklung des Liberalismus: den sozialliberalen und den wirtschaftsliberalen (vgl. Crouch 2013a: 23f.). Auch Crouch versteht den Ordoliberalismus als Spielart des Liberalismus, der das Bestreben gehabt habe, ›den Wettbewerb vor sich selbst zu schützen‹ (vgl. ebd.: 26); Crouch steht dabei in der Nähe von Foucaults Position. Letzterer macht deutlich, dass sich zwei verschieden Formen des Neoliberalismus auffinden lassen – der Ordoliberalismus deutscher Provenienz sowie der von ihm als amerikanischer Neoliberalismus betitelte.3 Letzteren bezeichnet Foucault auch als »Anarcho-Kapitalismus« (Foucault 2015c: 152). Insgesamt lassen sich nach Crouch zahlreiche aktuelle Formate des Neoliberalismus beschreiben, doch sei allen gemeinsam, dass es darum gehe, »den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen und zur Erreichung zivilisatorischer Ziele vorzuziehen.« (Crouch 2013a: 27) 1.1.3 Gouvernementalität als Interpretationsfolie des Neoliberalismus In seinen am Collège de France gehaltenen Vorlesungen zur Gouvernementalität aus den akademischen Jahren 1977/78 und 1978/79 beschreibt Foucault die Genese einer reformulierten Bedeutungszuschreibung des Marktes (vgl. Foucault 2015b und c). Zur Einordnung dieser Vorlesungen in das Œuvre Foucaults ist zunächst festzuhalten: »Foucaults Untersuchungsinteresse galt der analytischen Trias von Wissensformen, Machttechnologien und Selbstformierungsprozessen, deren wechselseitiger Konsti-
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Vgl. insbesondere die Vorlesungen 4 und 5 des Jahres 1978/1979 in Foucault 2015c: 112ff.; zur analytischen Relevanz von Foucaults Reflexionen zum Ordoliberalismus vgl. Hesse 2007, insbes. ebd.: 230ff.; zur terminologischen Differenzierung der ökonomischen Schulen bei zugleich »porösen Grenzen« vgl. Young 2013; eine Dreiteilung der neoliberalen Schulen skizzieren Lemke/Schaal 2014: 10f.
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tution und systematischer Kopplung er mit unterschiedlichen Begriffen und verschiedener Akzentsetzung nachging.« (Lemke 2016: 481)
Wegen dieser Trias und ihrer heuristischen Relevanz für neoliberale Vergesellschaftungs- und v.a. Erwerbsarbeitszusammenhängen sollen hier und im weiteren Verlauf gerade jene AutorInnen zu Wort kommen, die sich dem Untersuchungsinteresse Foucaults und seinen Befunden verpflichtet sehen. In der damit zur Anwendung gelangenden Systematik wird insbesondere der Machtbegriff Foucaults als theoretische Gelenkstelle zwischen ›Wissensformen‹ und ›Formierungen des Selbst‹ verstanden, insofern die These vertreten wird, dass sowohl Wissens- als auch Selbstformen durch machtvolle Interventionen und – wie sich zeigen wird – ebensolche Setzung von geradezu nicht-invasiven und doch hoch funktionalen Rahmenbedingungen eine besondere Geltung zukommt. Macht wird daher in einer ebenso spezifischen wie differenzierten Weise von Foucault herkommend konzeptualisiert (vgl. Lemke 2016: 483ff.): 1. Macht wird relational, nicht essentialistisch aufgefasst: »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (Foucault 1977: 114). In dieser strategisch wirksamen Situation sind verschiedene Akteure, Sachverhalte und Dinge sowie normative, materielle und weitere Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die in ihren Beziehungen zueinander Freiräume zur Produktion von neuen Wirklichkeiten ebenso legitimieren, eröffnen und offenhalten wie sie sich wechselseitig aberkennen, einschränken oder auch verschließen können. Unter dieser Hinsicht werden strategische Situationen nicht einfachhin vorgefunden, weder naturwüchsig noch durch einen wie auch immer im Einzelnen zu bestimmenden Leviathan oktroyiert, sondern in den wechselseitigen Bezugnahmen unter Nutzung verschiedener Kapitalien (vgl. Bourdieu 1983) konkretisiert und prozessual fortgeführt. 2. In weiterer Anlehnung an Foucault soll Macht auch in der hier vorliegenden Schrift zunächst mikrophysikalisch, nicht makropolitisch konzeptualisiert werden, selbst wenn Foucault mit seiner Frage nach der Gouvernementalität zu klären suchte, »wie sich Machttechniken, Wissensformen und Subjektivierungsprozesse gegenseitig konstituieren und unter dem Schirm staatlicher Herrschaft zentralisieren.« (Eser 2005:
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157) Unter dieser den Staat und seine Machtausübung analysierende Perspektive bleibt die Frage nach der subjektivierenden – und somit: mikrophysikalischen – Dynamik offenkundig bestehen. 3. Schließlich wird der produktive Charakter von Macht betont, nicht allein der ansonsten zunächst angesetzte repressive: »Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.« (Foucault 1976: 250) Unter dieser Hinsicht ergibt sich die Rückfrage nach den Machtverhältnissen im Rekurs auf die subjektivierenden Maßgaben der jeweiligen Machtkonstellation, also ihre die Individuen zu spezifischen sozialen und subjektiven Selbstformierungen anhaltenden Impulse. Dabei ist ferner zu gewärtigen, dass solche Impulse nicht unidirektional verlaufen, dass es also durchaus Freiheitsspielräume gibt, die Individuen dazu nutzen, ihre Reproduktion der machtvoll adressierten Anrufungen zugleich zu verschieben oder subversiv zu unterlaufen (vgl. Kapitel 3.5; ferner die Befunde der Feldforschung in Böhmer 2016b, c; Böhmer/Zehatschek 2015). Wird daher Macht im Foucault’schen Sinne als relational, mikrophysikalisch und produktiv verstanden, soll seine Rekonstruktion ihrer Artikulationsform in modernen Gesellschaften als analytische Matrix genutzt werden, um bestimmte Formen von Regierung, hier in einer weiten Form verstanden als Summe der »Kräfte und Mechanismen, die auf menschliches Verhalten einwirken« (Saar 2007: 28), in den Blick nehmen zu können. Diesbezüglich ist der Warnung Rechnung zu tragen, dass die Passung von politischer Praxis und Analyseinstrument nicht vorschnell behauptet werden darf, sondern eigens zu legitimieren sei (vgl. Sack 2014). Diese Legitimation soll hier mit einem heuristischen Argument geleistet werden, indem das nun heranzuziehende Konzept der Gouvernementalität nach Foucault der Erhellung der Frage dienen soll, inwieweit welche konkreten Formen des Regierens in der (deutschen4) Erwerbsarbeitsgesellschaft aus-
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Zum »Vorwurf des methodischen Nationalismus« äußert sich Jessop 2009: 143 (zum Begriff der »räumlichen Ökonomien« vgl. ebd.: 173). Die hier vorgenommene Fokussierung ergibt sich lediglich aus Gründen pragmatischer Selbstbeschränkung; keineswegs soll auf diese Weise ›der Anspruch auf Universalität mit seinen Normalitätsannahmen kolportiert‹ (vgl. Riegel 2016: 79) werden.
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gemacht, wie sie machttheoretisch aufgefasst und inwieweit sie als einem neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis angemessen ausgewiesen werden können. Insofern kann dem Konzept der Gouvernementalität, nicht ihrer historisch-analytischen Verortung im Werk Foucaults (2015b und c), gerade zur Erhellung der Frage von Regierung und der Auswirkung in die alltägliche Lebensführung (vgl. einstweilen Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995; ausführlicher Kapitel 3.4.1) der Regierten weitere Perspektiven erschließende Wirkung zugesprochen werden (vgl. Lemke 2016: 486). Dem Terminus der Gouvernementalität, der »sich vom französischen Adjektiv gouvernemental (‚die Regierung betreffend‘) her[leitet]« (Lemke 2008: 2), kommt für Foucault eine »Scharnierfunktion« (ebd.: 3) zu. Der Begriff wird »zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen«, zwischen Macht und Subjektivität sowie zwischen Machttechniken und Wissensformen (Lemke 2001: 108f.) positioniert und verbindet so die unterschiedlichen – und ihrerseits relational konzipierten – Theoriestränge miteinander. Foucault erfasst mit dem Konzept der Gouvernementalität gleich drei verschiedene Sachverhalte des Regierens (vgl. Foucault 2015b: 162f.). So bezeichnet der Begriff zunächst die Gesamtheit der Institutionen, Vorgänge, Analysen, Berechnungen und Taktiken einer spezifischen Form von Macht. Damit zeigt sich eine weitere Typik für die Analysetechniken Foucaults: Anstelle einzelner Phänomene thematisiert er weit häufiger, nicht zuletzt auch im Hinblick auf sein Verständnis von Dispositiv (vgl. Kapitel 1.2), ein ganzes Bündel unterschiedlicher Sachverhalte, die einem spezifischen Zweck dienen oder politischen Verständnis entsprechen, und kann durch seine Verweise auf relationale Strukturen Bedingungsgefüge und Prozessstrukturen untersuchen, die aufgrund ihrer Verweisungsbezüge zu eigenen Qualitäten finden und folglich für das Verständnis von gesellschaftlichen Wurzeln des Regierens neue Einblicke eröffnen. In einem zweiten Ausgriff bestimmt der Begriff der Gouvernementalität den spezifischen Machttypus dieser Form von Regierung, indem er Souveränität, Disziplin, Regierungsapparate und Wissensarten als noch näher zu entfaltende, weil spezifische Form der ›Führung der Führungen‹ ebenso wie der ›Lenkung von Seelen‹ erfasst. Demzufolge bezeichnet der Begriff Gouvernementalität die Verbindung von politischer Macht und Lenkung des Einzelnen (vgl. Foucault 2015b: 520f.). Mit Blick auf die ›Lenkung der
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Seelen‹ wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie in der Antike lediglich dem Pädagogen, Arzt und Gymnastiklehrer vorbehalten war. Erst durch das Christentum sei die »Pastoralmacht« in den Okzident eingeführt worden. Schließlich kann der Begriff der Gouvernementalität eine historische Entwicklung abbilden, die sich zumindest für den von Foucault untersuchten geographischen Raum Frankreichs seit dem 15. Jahrhundert verstehen lässt als die Entwicklung weg von einem Staat der Gerichtsbarkeit. So erwuchs im 15./16. Jahrhundert durch den Ausgang aus der bis dahin fungierenden gesellschaftlichen Ordnung der Feudalmacht eine veränderte Form von Machtausübung: die Staatsraison als rationale Regierungskunst im Staat inklusive der nun säkularisierten Pastoralmacht. Foucault beschreibt verschiedene Formen, indem er für das 17. Jahrhundert eine Gouvernementalität der Polizei und für das 18 Jahrhundert eine solche der Ökonomen ausmacht.5 Solche Änderungen der Gouvernementalität führt Foucault allgemein auf Krisen dieser Regierungsform(en) zurück (vgl. Foucault 2015c: 113). Dabei hat er nach eigenem Bekunden insgesamt das Interesse, das »Problem der Staatsbildung« (ebd.: 114) in den Blick zu nehmen. Zu diesem Zweck geht er induktiv vor, da er annimmt, dass der Staat nicht durch ein Wesen bestimmt sei: »der Staat hat keine Innereien« (ebd.: 115). Auch unter der Hinsicht auf eine historische Rekonstruktion von Regierungsführungen bleibt sich der Theoretiker des relational, mikrophysikalisch und produktiv verstandenen Machtkonzepts treu, indem er Staatsbildung in Relation zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und Krisen, mit Blick auf die mikrophysikalische Sachlage an verschiedenen Orten sowie durch die Suche nach dem formierenden Verfahren einer Staatsbildung zu rekonstruieren sucht. Dabei betont Foucault zunächst mit Blick auf eine Gouvernementalität der Polizei, dass sie sich »um die Religion und die Sitten« (Foucault 2015b: 480) kümmerte. Der Fokus erstreckte sich über eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsfelder, u.a. die »Pflege und Disziplin der Armen« (ebd.). Diese staatliche Instanz regulierte damit Probleme der Stadt als »dichtes Zusammenleben« (ebd.: 481) sowie Probleme des Marktes.
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Vgl. Foucault 2015b: 500; zur fragilen Periodisierung in Foucaults Darstellung der Gouvernementalität vgl. Saar 2007: 28; zur »guten Policey« im frühneuzeitlichen Alten Reich ab dem 16. Jahrhundert vgl. Härter 2016.
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Beide Ansatzpunkte artikulieren spezifische Formen städtischer Sozialformen, insofern das Zusammenleben allgemein und der Warentausch im Besonderen als urbane Praktiken und in urbanen Rahmenbedingungen aufgefasst werden. Dazu zählen beispielsweise und zumindest zu Teilen die erwähnte räumliche Enge, zentralisierte und mit einander verflochtene Alltagsvollzüge, sich wandelnde soziale Konstellationen mit entsprechenden Anforderungen an ein flexibles Rollenverständnis, ökonomische Prozesse und Notwendigkeiten einer hoch arbeitsteiligen Stadtgesellschaft, planendgestalterische Entwicklung von umfänglichen Rahmenbedingungen der Alltagsgestaltung von StädterInnen etc. Indem die Polizei solchen Herausforderungen regulierend und reglementierend Abhilfe oder zumindest Linderung verschaffte, konnte sie zu einer relevanten AkteurIn in der Ausgestaltung des städtischen Lebens jener Zeit avancieren. Infolgedessen gilt »die Polizei als Existenzbedingung der Urbanität.« (Ebd.: 483) Wird zugleich die Einbindung Frankreichs in den Merkantilismus als Form internationaler Politik mit den Mitteln der Ökonomie betrachtet, so ergeben sich gerade auch aus den ökonomisch relevanten Interventionen der Polizei in das – nicht zuletzt ökonomische – Stadtleben Konsequenzen, die weit über die Stadtgrenzen hinausweisen. Realisiert wurden diese Maßnahmen zumeist auf dem Weg polizeilicher Verordnungen. Es ergaben sich allgemeine Disziplinierungsmaßnahmen innerhalb der Gesellschaft, die nach Foucault zu städtischen wie nationalstaatlichen Entwicklungen ebenso beitrugen wie zu spezifischen Formaten der Subjektivierung qua Disziplin.6 Mit seinem Verweis auf die Phase einer Gouvernementalität der Ökonomen eröffnet Foucault die Perspektive auf einen weiteren historischen Abschnitt, den er u.a. durch die Einschränkung polizeilicher Zuständigkeiten in eine veränderte Form von Regierung eintreten sieht. In diesem Kontext, so die Auffassung Foucaults, sei die These des gerechten Preises im Sinne des Marktgleichgewichts leitend. Er macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Dinge nicht »flexibel« (Foucault 2015b: 493) seien; Abläufe werden durch Reglementierung eher behindert, da sie angesichts der Statik der Dinge und der – zur Herstellung ökonomischer Ausgeglichenheit unbedingt erforderlichen – gleichzeitigen Dynamik des
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Vgl. zudem Foucault 1976; Härter 2016: 31f. (bezieht sich im Unterschied zu Foucault auf das »Heilige Römische Reich deutscher Nation«).
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Wechselspiels von Angebot und Nachfrage ansonsten dieses fragile Aushandlungsgeschehen einschränken, verfälschen und folglich die Möglichkeiten des Marktes beschneiden; so die ökonomische Auffassung zu den Perspektiven einer am Markt zu orientierenden Regierungsform. Eine weitere Veränderung stellt sich hinsichtlich der Zielvorgaben von Regierung ein. Denn die Ökonomen verfolgen nun nicht mehr die schlichte Suche nach der größten Zahl der Bevölkerung, die als Arbeitskräfte erforderlich sind. Vielmehr wird versucht, der optimalen Zahl der KonsumentInnen auf die Spur zu kommen. Zugleich lässt diese Version der Gouvernementalität Abstand nehmen von interventionistischen Regulierungen, die unmittelbar in das Interaktionsgeschehen eingreifen. Vielmehr wird »der Staat als Regler von Interessen« (ebd.: 497) und nicht mehr von Verordnungen erkennbar. Leitvorstellung ist folglich, die angemessene Form einer nicht direkt intervenierenden Regierung zu finden: »Man wird beeinflussen, anreizen, erleichtern, tun lassen müssen: Mit anderen Worten, man wird verwalten, und nicht mehr reglementieren müssen.« (Ebd.: 506) Wird unter dieser Perspektive von Gouvernementalität Regierung als Fremd- und Selbst-Führung verstanden, so ergibt sich für den Liberalismus die Aufgabe, den gouvernementalen Staat zu formieren: Er organisiert »die Bedingungen, unter denen die Individuen frei sein können, er ›fabriziert‹ oder ›produziert‹ die Freiheit.« (Lemke 2016: 489) Umgekehrt strukturiert der Liberalismus die konkreten Formen von Freiheit, die sich historisch durchaus unterschiedlichen erfassen lassen (vgl. die subjektbezogenen Darstellungen in Kapitel 1.1.5, die zugleich auf die strukturellen Voraussetzungen subjektiver Freiheitspraktiken aufmerksam machen). So wurde bereits in Foucaults Rekonstruktion der Gouvernementalität deutlich, dass sich für das Frankreich des 18. Jahrhundert bestimmte Maßgaben der Ökonomie erkennen lassen. Gewendet auf die zuvor geschilderten Entwicklungen des Neoliberalismus im globalen Zusammenhang des beginnenden 21. Jahrhundert ergibt sich, dass auch dort Aspekte der Ökonomisierung zunehmend neuer Felder der Lebensbewältigung zu verzeichnen sind und dass Subjektivierungsprozesse in Formaten von Fremd- und Selbstführung erfolgen. Sodann wird deutlich, dass zu diesem Zweck verschiedene relationale Regierungsinstrumente etabliert und in ihrem Wirkungszusammenhang ausgeweitet werden. So bekommt beispielsweise die Logik des Wachstums als Artikulation des Strebens nach Mehrwert (vgl. Kapitel 1.1) auch in weiteren Bereichen bis hinein in die alltägliche Le-
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bensführung der Individuen zunehmende Bedeutung (vgl. z.B. Dörre 2011, 2009a; Dörre/Brinkmann 2005). Unter ökonomischer Hinsicht auf die Gesellschaft wird ferner »die neue Umverteilung« (Wehler 2013) kenntlich, die einem Klassenspezifikum des Neoliberalismus zugeschrieben wird (vgl. detailliert Kapitel 1.1.4). Indem der ökonomische Schwerpunkt von der Produktivwirtschaft zusehends zugunsten der Kapitalwirtschaft verlagert wird, ergeben sich weitere Verschiebungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten, aus Löhnen und Gehältern oder aus Vermögensanteilen Gewinn erzielen zu können.7 Dass solche Regierungsformen nicht allein gesellschaftlich, sondern auch im Hinblick auf die »Selbst-Führungen« von Bedeutung sind, kommt im Anschluss (vgl. Kapitel 1.1.5) detaillierter zur Darstellung. 1.1.4 Neoliberale Politiken Kann also der aktuelle Neoliberalismus durch Zuhilfenahme des Konzepts der Gouvernementalität in seinen Formen von und Auswirkungen auf Regierung der Individuen wie der Führungen verstanden werden, sollen im Folgenden Aspekte solchen politischen Handelns unter dem Regime des Neoliberalismus ausgelotet werden. Dabei erlangen wohlfahrtsstaatliche Transformationen einige Prominenz, da sie seit geraumer Zeit kenntlich machen, in welchen Bereichen, auf welche Weise und in welchem Ausmaß Umstrukturierungen staatlicher Organisation erfolgen (für einen Überblick vgl. Lessenich 2013). 1.1.4.1 Stärkere Unterschiede Die Eingriffe in den Sozialstaat begründet Crouch mit der Notwendigkeit für die Politik, den Bedenken der Finanzmärkte deutliche Sparmotivation und -ergebnisse präsentieren zu müssen (vgl. Crouch 2013a: 169). Ein weiteres Problem sei, dass sich Unternehmen vom Markt emanzipiert hätten und nunmehr als politische Akteure aufträten (vgl. ebd.: 179). »[...] auf Geld kommt es derzeit einzig an.« (Ebd.: 231) Durch den Rückbau wohl-
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Vgl. Windolf 2005; zu den subjektivierenden Konsequenzen der sich um Passung in die resultierenden gesellschaftlichen Paradigmen bemühenden Individuen vgl. Hänzi 2015: 227ff. zur Umverteilung der Kapitalerträge vgl. Giesecke et al. 2015.
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fahrtsstaatlicher Programme nimmt soziale Ungleichheit zu (vgl. ebd.: 225). Andererseits lassen sich Arbeitsfelder, die grundlegende Lebensbereiche wie Gesundheit und Bildung betreffen, nach Einschätzung Crouchs nur schwer umfänglich neoliberalisieren (vgl. ebd.: 43). Dass dies und manches mehr dennoch versucht wird – und ja zu nicht geringen Teilen auch Erfolg hat –, ist wohl kaum zu bestreiten. Bourdieu & Wacquant sprechen in ihrer Philippika gegen den Neoliberalismus von einem Komplex verschiedener Fragen und Begriffe, »die ›Effizienz‹ des (freien) Marktes, die Notwendigkeit der Anerkennung (kultureller) ›Identitäten‹ oder die feierliche Bestätigung (individueller) ›Verantwortung‹« (Bourdieu/Wacquant 2004: 241). Leitbild und »Maß aller Dinge« sei jene Auffassung »der amerikanischen Gesellschaft der postfordistischen und postkeynesianischen Ära« (ebd.). Dafür seien Abbau des Sozialstaats, »Hyperwachstum des strafenden Staates«, der Kampf gegen die Gewerkschaften, shareholder value als alleiniges Unternehmensziel, prekäre Arbeitsverhältnisse und soziale Unsicherheit leitend (vgl. ebd.: 241f.). Mit Blick auf soziale, kulturelle und »ethnische« Konflikte wäre die Frage nach »Sinn und Zweck des Neoliberalismus« weit weniger auf eine Liberalisierung oder Ökonomisierung allein hin zu formulieren, sondern zugleich auf eine Form der oben hergeleiteten Gouvernementalität mit dem Ziel der potentiellen Absicherung von Privilegien. Als erster Beleg für diese Auffassung kann gelten, »dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zugunsten der Kapitaleigner verändert haben« (ebd.: 244). Dahinter liegen, so Bourdieu & Wacquant weiter, »Gruppendenken«, Populismus und Moralismus als Pfade zum Transport der begründenden Ideen (vgl. ebd.: 243). 1.1.4.2 Die Neuerfindung der Strafe Wie zuvor entwickelt, hatte Foucault für die Gouvernementalität Änderungen staatlicher Interventionen in Ansatz gebracht (vgl. Kapitel 1.1.3). Ziel dieses Vorgehens war es, so seine Auffassung, anstelle der bisherigen disziplinierenden Eingriffe, Verordnungen und Strafen eher ›tun zu lassen‹ als selbst für die BürgerInnen unverstellt einsichtig zu tun. Diese Lesart von Gouvernementalität als neoliberale Regierung durch indirekte und durch Kontextsteuerung wird allerdings durch die Analysen von Bourdieu & Wacquant zumindest teilweise unterlaufen. In einer solchen abweichenden Perspektive nämlich ist ihr Hinweis darauf zu verstehen, dass mit dem
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Rückzug des Staates aus der Wirtschaft nicht dessen gesamte Reduzierung einhergeht, sondern dessen Fokussierung auf »Verstärkung seiner polizeilichen und strafrechtlichen Komponenten« (Bourdieu/Wacquant 2004: 245). Dass eine solche analytische Verschiebung dennoch nicht das Gesamtverständnis von Neoliberalismus als gouvernementale Regulierung unter der Ägide wirtschaftsliberaler Politiken in Zweifel ziehen lässt, werden die Hinweise auf die neoliberal konturierten Formate der »Führungen des Selbst« zeigen (vgl. Kapitel 1.1.5). Zu weitere Klärung dieses Sachverhalts seien zunächst einige Hinweise auf die sozialpolitischen und strafrechtlichen Aspekte des Neoliberalismus detaillierter herausgestellt. Harvey fasst den Neoliberalismus in einer ersten Annäherung als politische Theorie des Wirtschaftsliberalismus (vgl. Harvey 2007: 2 sowie 8). Im historischen Rückblick macht Harvey auf die geschichtlichen Entwicklungsspielräume des Neoliberalismus aufmerksam. Die keynesianische Politik konnte in der Phase des anhebenden Neoliberalismus nicht mehr greifen (vgl. ebd.: 12), diese Art von »embedded liberalism« war demnach schlicht erschöpft. Harvey vertritt die These, dass die höheren Klassen sich einem drohenden Untergang gegenübersahen, dem sie durch die neoliberale Umsteuerung entgegentreten wollten (vgl. ebd.: 15f.). Die (Marx’sche) These vom Klassenkampf nutzt Harvey verschiedentlich (vgl. ebd.: 19, 31, 35), um den Neoliberalismus zu erklären. Dabei vertritt er die Auffassung, dass sich die Kampflinie zwischen oberen und mittleren Klassen hindurch zog, nicht nach unten gegen die unteren Klassen (vgl. ebd.: 25f.); die zunehmende soziale Ungleichheit habe auf diese Weise obere und mittlere Klassen weiter getrennt und die Restauration ökonomischer Macht der oberen betrieben (vgl. ebd.: 26). Dabei jedoch seien nicht jeweils dieselben Personengruppen in den Genuss der daraus ableitbaren Vorteile gekommen (vgl. ebd.: 31). Die neu Bevorteilten seien beispielsweise die Vorstände großer Unternehmen sowie neue Branchen wie IT und Biotechnologie (vgl. ebd.: 33f.). Dagegen vorzugehen und die Spirale der Entwicklung zum Zweck der Verbesserung der Lebensverhältnisse für viele Menschen wieder zurückzudrehen, hält Harvey zwar für notwendig, kann eine solche Entwicklung aber dezidiert nicht erkennen (vgl. ebd.: 187). Stattdessen spricht er von der »maintainance, reconstitution, and restoration of elite class power.« (Ebd.: 188; vgl. auch 201)
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Somit ergibt sich eine politisch induzierte Umstrukturierung der Gesellschaft, mit Crouchs Parabelbild (vgl. 2013b: 11) gesprochen: gar eine Rückwärtsentwicklung, die nach Harveys Auffassung im Bemühen nach dem 2. Weltkrieg, innenpolitischen Ausgleich und Stabilität zu erzielen, eine stabile Lage der Kompromisse zwischen den Klassen ermöglicht hatte (vgl. Harvey 2007: 10). Diesem Ausgleich sollte auch die Akzeptanz dafür verpflichtet sein, dass der Staat Vollbeschäftigung, Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt der BürgerInnen betreibe – nicht zuletzt, indem sich die Staatsmacht den Marktprozessen zuwendete und ggf. dort gar intervenierte (vgl. ebd.). Auf diese Weise konnte auch Einfluss in das Bildungssystem geltend gemacht werden, so dass daraus letztlich jener »embedded liberalism« (ebd.: 11) entsprang.8 Harvey fasst den Neoliberalismus folglich als theoretisches und politisches Konzept zugleich auf (vgl. ebd.: 19ff.) – theoretisch, weil es theoretische Gehalte nutze, um die letztlich utopische Auffassung einer Restrukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse v.a. durch die Wirtschaft zu realisieren; politisch, um die Macht der ökonomischen Elite abzusichern. Diesen Prozess, rekonstruiert als Rückschritt aus einer verbreiteten Solidarität wieder hin zu individuellen und familialen Konzepten, macht Harvey an der Position Margret Thatchers fest, deren subjektivierend verstehbaren Hinweis geradezu gouvernementale Ausgriffe verheißt: »What’s irritated me about the whole direction of politics in the last 30 years is that it’s always been towards the collectivist society. People have forgotten about the personal society. And they say: do I count, do I matter? To which the short answer is, yes. And therefore, it isn’t that I set out on economic policies; it’s that I set out really to change the approach, and changing the economics is the means of changing that approach. If you change the approach you really are after the heart and soul of the nation. Economics are the method; the object is to change the heart and soul.« (Thatcher 1981)
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Kritisiert wird, dass der Terminus Neoliberalismus in den Sozialwissenschaften ubiquitär geworden sei und zu allerlei Attribuierungen ohne Rekurs auf die Chicago School geführt habe (vgl. Lemke/Schaal 2014: 16). Dem ist entgegen zu halten, dass die von Foucault u.a. vorgelegten Analysen die Genealogie eines neoliberalen Gesamtkomplexes zu rekonstruieren gestatten, um daran die historischen Ziel- und Strategiekonzepte jener Schule verstehen zu lernen.
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Harvey unterscheidet zwischen guten und schlechten Formen von Freiheit und attestiert dem Neoliberalismus angesichts des Zuwachses an Autorität, Macht und anti-demokratischer Haltung eine schlechte Form (vgl. Harvey 2007: 37f.). Dies äußert sich schlussendlich auch in den Folgen für Marginalisierte, die nach Harvey im Neoliberalismus nichts anders zu erwarten hätten als »poverty, hunger, disease, and dispair.« (Ebd.: 185) Wacquant (2009) wiederum legt recht überzeugend dar, dass Neoliberalismus keineswegs auf Wirtschaft oder Wirtschaftspolitik allein beschränkt bleibt. Nach seiner Auffassung – und damit schließt er tatsächlich an das an, was Harvey zuvor als neoliberalen Klassenkampf, inszeniert durch die Eliten, beschrieben hatte – gibt es geradezu zwei unterschiedliche Gesichter des Neoliberalismus: in den oberen Klassen der Gesellschaft liberal, in den unteren streng strafend (vgl. ebd.: 306ff.). Konkret macht er sodann – in kritischer Absetzung von Foucault, Harvey und insbesondere von Giddens – deutlich, dass Neoliberalismus tatsächlich als Politik zu lesen ist, die einen Unterschied in der Behandlung der Klassen macht und insofern erneut eine Stratifizierung in die gesellschaftlichen Strukturen einarbeitet. Damit gibt er eine gesamtgesellschaftlich belastbare Analyse der Phänomene des Neoliberalismus: »den nicht vorhersehbaren Zeitpunkt, die sozioethnische Selektivität und die ganz speziellen organisatorischen Bahnen der plötzlichen Kehrtwende in den Strafverfolgungstrends der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts« (ebd.: 306), insbesondere in den USA, mit etwas anderen Vorzeichen allerdings auch in Europa und andernorts. Insofern ist nach seiner Auffassung auch das »Gefängnis-Sozialhilfe-Raster« letztlich nichts Anderes als »eine Übung in Staatskunst« (ebd.: 307) und somit als Ausdruck von Gouvernementalität zu sehen. Wacquant versteht seine Publikation als »Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation des Feldes der Macht« (ebd.). In diesem Zusammenhang formuliert er zwei Thesen: Seine erste These stellt dar, »dass der Strafverfolgungsapparat ein zentrales Organ des Staates ist« (ebd.). Für ihn gilt, dass Polizei, Gericht und Gefängnis »Vehikel zur politischen Produktion von Realität und zur Überwachung der deprivierten und diffamierten sozialen Gruppen und der ihnen zugewiesenen Territorien« (ebd.: 307) seien. Auf diese Weise kann er die zuvor bereits erwähnte Verschiebung in der Auffassung von einer nachpolizeilichen Gouvernementalität ebenso feststellen wie soziologisch systematisieren. Das konzeptuelle Bemühen, mit Hilfe des Gouvernementalitätsverständnisses eine Regierungsweise beschreiben zu können, die eher
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insinuiert als interveniert (Foucault), bricht sich an den Befunden, die Wacquant für ausgesuchte Nationen (vornehmlich USA und Frankreich, teilweise auch Brasilien) vorlegt. Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen macht es deutlich, dass das Konzept der Gouvernementalität tatsächlich eines ist, das als Artikulation einer ›relationalen, mikrophysikalischen und produktiven Macht‹ stets in Abhängigkeit von den lokalen Wahrheiten der zugrundeliegenden Analysen geprägt ist. Soll besagen, dass die für ein Frankreich des 18. Jahrhunderts vorgelegten Erträge nicht zwingend auf das 21. Jahrhundert appliziert werden können. Vielmehr müssen sie, wie Wacquant es tatsächlich realisierte, empirisch auf ihr fundamentum in re überprüft und je nach Ergebnis systematisch angepasst werden. Im Zuge dessen ist der von Wacquant abweichend zum bisherigen Konzept der Gouvernementalität vorgelegte Befund für deren Verständnis hilfreich, da er solche politischen und gesellschaftlichen Wechsel markiert. Zum anderen ist mit dieser Befundlage davon auszugehen, dass neoliberale Regierungsformen eine Spaltung zwischen gesellschaftlichen Klassen mit dem Zweck der Absicherung des Ressourcenzugangs für die oberen anstreben und dazu ein Strafregime von klassenorientierter Inhaftierung vorsehen können (vgl. Wacquant 2000). Damit ist die Foucault’sche These von der subtiler werdenden Regierungstechnologie partiell so wie erwähnt in Frage zu stellen. Gleichwohl soll dem dort ebenfalls angeklungenen Konzept lokaler Wahrheiten folgend darauf aufmerksam gemacht werden, dass andernorts auch eine weit exklusivere Regierungsweise der Subtilität vorgefunden werden könnte. Insofern ist für die von Wacquant untersuchten Zusammenhänge zu attestieren, dass er plausible Belege für eine nicht nur ›Machen veranlassende‹, sondern eben zugleich deutlich intervenierende, punitive und marginalisierende Form von Regierung beibringt (vgl. einleitend zu diesem Themenfeld Dollinger 2011; Dollinger/Schmidt-Semisch 2016; Hess 2015; Kessl 2011; Schlepper 2014; Wacquant 2011). Doch Wacquant geht mit seinen Thesen noch weiter: »Die zweite These ist, dass die derzeitige kapitalistische ›Revolution von oben‹, gewöhnlich Neoliberalismus genannt, mit der Ausweitung und Verherrlichung des Strafverfolgungssektors des bürokratischen Feldes einhergeht, so dass der Staat die sozialen Erschütterungen, die eine Folge der Ausbreitung der sozialen Unsicherheit in den unteren Rängen der Klassen- und Ethnohierarchie sind, in Schach halten und
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zugleich die über die Vernachlässigung seiner traditionellen ökonomischen und sozialen Pflichten unzufriedene Bevölkerung beschwichtigen kann.« (Wacquant 2009: 307)
Folglich gilt ökonomische Freiheit am oberen und repressive workfare am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie (vgl. ebd.: 307f.). Deutlich macht Wacquant seine Einschätzung, dass eine ökonomistische Definition des Konzepts Neoliberalismus nicht weit genug reicht, um »die institutionelle Maschinerie und die symbolischen Schablonen« (ebd.: 309) hinreichend erfassen, analytisch erarbeiten und letztlich für politische Positionierungen nutzen zu können. Ähnlich macht Eser darauf aufmerksam, dass mit dem Neoliberalismus kein Rückzug des Staates zugunsten der Ökonomie zu verzeichnen sei, sondern vielmehr »die Ökonomisierung der Politik selbst ein politisches Programm ist, das nicht das Ende sondern vielmehr eine Transformation des Politischen bedeutet.« (Eser 2005: 161) Demgemäß soll Wacquants, wenn auch umfangreichere, Arbeitsdefinition hier ausgewiesen werden, um diese über-ökonomische Klärung der als neoliberal apostrophierten Phänomene auch für die hier vorliegende Schrift in einer weiterreichenden Konzeption verdichten zu können: »Neoliberalismus ist ein transnationales politisches Projekt, dessen Ziele eine von oben betriebene Generalüberholung der Verknüpfung von Markt, Staat und Staatsbürgerschaft ist. Träger dieses Projekts ist eine neue global herrschende Klasse, die noch im Entstehen begriffen ist, und sich aus den Chefs und obersten Managern der transnationalen Firmen, aus hochrangigen Politikern, Staatsmanagern und Spitzenbeamten der multinationalen Organisationen (OECD, Welthandelsorganisation, Weltwährungsfonds, Weltbank und Europäische Union) sowie aus den in ihren Diensten stehenden Experten für kulturelle Sachverhalte (darunter vor allem Ökonomen, Juristen und Kommunikationsexperten mit vergleichbarer Ausbildung und entsprechenden mentalen Kategorien aus den verschiedenen Ländern) zusammensetzt.« (Wacquant 2009: 309)
Mit dieser Definition eröffnet Wacquant die Möglichkeit, einerseits die bislang vorgelegten Auffassung zu Neoliberalismus (wirtschaftsliberales Politikkonzept mit Privatisierungen, freien Märkten und Freihandel etc.) und Gouvernementalität (Betonung von Selbst-Führung, unternehmerischer Bewirtschaftung der eigenen, (arbeits-)marktfähigen Person, indirekte und
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subtile Kontextsteuerung anstelle von individuell zugesicherten Freiheitsräumen etc.) weiterführen und sie andererseits an seine und weitere Forschungsbefunde zu einer verstärkten Orientierung an Punitivität und Strafverfolgung anschließen zu können, ohne ihre kritische Stoßrichtung gegen die aktiv herbeigeführte Zunahme sozialer Ungleichheit aufgeben zu müssen. Dass dabei eine gesellschaftliche Hierarchie wieder aufgegriffen wird, die Foucault mit seinen Arbeiten gerade der 1970er Jahre »zerstört« (Saar 2007: 31) habe, muss dabei zugestanden werden. Gleichwohl: Die empirischen Befunde Wacquants lassen einen anderen Schluss kaum plausibel erscheinen. Insofern soll tatsächlich eine solche Verschiebung des Foucault’schen Denkens – weniger bei Wacquant, der ihn nicht umfänglich für die theoretische Rahmung seiner Forschungen rezipiert, als vielmehr für den vorliegenden Band – gerade aus analytischen wie empirischen Gründen vorgenommen werden. Zugleich wird mit dieser Rekonstruktion der Wandlungsfähigkeit des Neoliberalismus deutlich, dass er nicht einfachhin »kaputt« (Mason 216: 27ff.) sein muss, wenn er seinen alten Formen oder aber deren Versprechungen auf ökonomische Freiheit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und Generierung von Mehrwert nicht mehr entsprechen kann. Vielmehr waren solche Herausforderungen historisch offenkundig schon des Öfteren Anlass zum Formwandel des Kapitalismus allgemein und des Neoliberalismus im Besonderen – und nichts spricht dafür, dass es sich aktuell anders verhielte. 1.1.4.3 Der »janusköpfige Leviathan« Mit Blick auf »die Law-and-Order-Mythologie von den ›Broken Windows‹« (Wacquant 2009: 311) erkennt Wacquant »das neue Regieren mit der sozialen Unsicherheit« (ebd.). Konsequenz eines solcherart ›aktivierenden Staates‹ ist nach Wacquant »ein deaktivierender Staat, da er sich ihnen [da unten; A.B.] gegenüber auf eine Art und Weise verhält, die systematisch ihre sozialen Chancen beschneidet und ihre sozialen Ligaturen kappt« (ebd.: 314; verweist auf Dahrendorf). Einerseits sind solche Programme in der Lage, »in Umbruchzeiten die Grenzen der Zugehörigkeit zu verdeutlichen und zu befestigen« (ebd.), andererseits muss einem solchen Staat attestiert werden, dass er »oben liberal und unten paternalistisch« und insofern der »janusköpfige Leviathan« sei (ebd.). Die Entwicklung hin zu einem solchen Staat folge keineswegs einem Masterplan, sondern werde in
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inkrementalen Prozessen zusammengestückt, weise zahlreiche Lücken sowie Widersprüche auf und richte sich »auf den Arbeitsmarkt für gering Qualifizierte, die Sozialhilfe und das Strafrecht« (ebd.: 315) zugleich. Letztlich sei der Neoliberalismus damit »demokratiezersetzend« (ebd.: 316). Wacquant räumt auf mit dem »ideologischen Glaubenssatz« vom schwachen Staat dieser Epoche, da der neoliberale Staat oben tatsächlich laissez-faire walten lässt, unten jedoch diszipliniert, zugleich in nicht geringem Umfang (gerade auch mit dem Ausweis der Bildung) »in Humankapital ›investiert‹« (ebd.: 310), letztlich gar spekuliert, um eine möglichst hohe Rendite aus den Investitionen in das jeweilige »Humankapital« generieren zu können (vgl. Böhmer 2013a und b). Auch erhält »die Disziplin der prekären Lohnarbeit« (Wacquant 2009: 310) in hohem Maße Bedeutung für das Regieren des »neuen Leviathan«, den Wacquant als »stramm interventionistisch, herrisch und teuer« (ebd.) bezeichnet. Auf diese Weise kommt es »zur Erschaffung der historisch ersten Gesellschaft der modernen Unsicherheit« (ebd.). In diesem Zusammenhang setzt Wacquant »vier institutionelle Logiken« an, die er bezeichnet als »ökonomische Deregulierung«, »Delegation, Abbau und Neugestaltung von Wohlfahrtsleistungen«, »der kulturelle Tropus der Eigenverantwortung« als unternehmerisches Selbst sowie »ein expansiver, intrusiver und proaktiver Strafverfolgungsapparat« (ebd.: 309f.). Der doppelgesichtige Machtapparat bekommt für Wacquant konkretere Konturen – die Physiognomie der Macht wird im Neoliberalismus als doppeldeutige sichtbar und erkannt. Denn einerseits verfolgt sie mit Deregulierung ein erklärtes Ziel liberaler Politik, andererseits aber sind die Beschneidung und Transformation sozialer Transferleistungen, die Reduktion von Optimierungsansätzen einzig auf das Individuum und dessen Bereitschaft wie Fähigkeit zur Anpassung sowie eine strukturelle Punitivität alles andere als dem liberalen Credo von der menschlichen Freiheit entsprechend. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, den Wacquant noch nicht näher in den Blick nimmt, nämlich Bildung als Feld der Subjektivierung, differenziert nach Sphären der Gesellschaft. Soll nun der politischen Weichenstellung der zurückliegenden Jahre innerhalb der deutschen Gesellschaft Rechnung getragen werden, so wären kursorisch hier zu nennen die Umschreibungen des Sozialrechts unter der Ägide der »Agenda 2010« (namentlich SGB II und XII), die Transformati-
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onen wohlfahrtsstaatlicher Grundlagen (Privatisierung der Altersvorsorge, die Prekarisierung von Erwerbsarbeit, die Markt-orientierte Integrationspolitik hinsichtlich migrierter Menschen) oder auch die veränderte (Selbst-) Definition der Rolle des Staates für die Daseinsvorsorge hin »zur sozialpolitischen Konstruktion eigenverantwortlicher Subjekte« (Lessenich 2003: 81; vgl. in knapper Form Dingeldey 2006; ausführlicher Lessenich 2013). Konsequenz einer solchen neoliberalen Neujustierung gesellschaftspolitischer Prozesse und gesellschaftlicher Strukturen ist zum einen die verstärkte Ökonomisierung weiterer Funktionszusammenhänge von Gesellschaft und der jeweiligen Logiken, Akteure und Instrumente (bis hinein in die rationalisierte Arbeit der alltägliche Lebensführung), die Veränderung von Erbringungsformaten der Daseinsvorsorge (von »öffentlich« vermehrt zu »privat«; vgl. Blank 2016; Hälterlein 2015: 115ff.) sowie der Entzug von Ressourcen aus den staatlichen Sozialsicherungssystemen (etwa durch die »versicherungsfremden Leistungen« der Rentenversicherung; vgl. Meinhardt/Zwiener 2005) mit den dann nicht mehr verwunderlichen Konsequenzen z.B. für eine alsbald drohende Altersarmut (vgl. Brettschneider/Klammer 2016). Insofern sind diese Phänomene als Ergebnisse eines tiefer liegenden Politikverständnisses aufzufassen – eben des Neoliberalismus als gesellschaftspolitisch folgenreichem Paradigma überökonomischer Praxis. 1.1.5 »Kompetenzmaschinen« Wie gezeigt, ist der Staat für Foucaults Konzept der Gouvernementalität das komplexe Geflecht von Machttechniken politischer und »pastoraler« Herkunft (vgl. Lemke 2001: 110), aus der eine »Regierung der Seelen« im Sinne der Subjektivierung erwuchs (vgl. Kapitel 1.1.3). Im Hinblick auf die Gouvernementalität des Neoliberalismus – gerade amerikanischer Prägung – und das Verhältnis dieses Staates zu den Einzelnen wird dessen Auffassung deutlich, dass »man die staatlichen Interventionen auf allgemeine Weise begrenzen sollte.« (Foucault 2015c: 119, 303) Stattdessen wird eine »Theorie des Humankapitals« (ebd.: 305) vorgelegt, die der Bildung, wohlgemerkt in einer spezifischen Fassung, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Darin kommt das neoliberale Interesse an Arbeit insgesamt zur Sprache, die als subjektivierte nicht allein das – ansonsten übliche – Denken von Kraft und Zeit im Hinblick auf Erwerbsarbeit reflektiert, sondern
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mehr noch deren »Produktionsaktivität« (ebd.: 315) analog derjenigen von Unternehmen auffasst (vgl. ebd.: 308, 313). Auf diese Weise wird die Kompetenz der ArbeiterIn zu deren »Maschine« (ebd.: 312), wie sich Foucault in verdinglichender Weise über diese Sicht auf die menschliche Arbeitskraft äußert. »Tatsächlich hat diese Maschine ihre eigene Lebensdauer, ihre Verwendbarkeitsdauer, ihr Überholtsein, ihr Altern.« (Ebd.: 313) Die ArbeiterIn wird somit einerseits mit dem »Produktlebenszyklus« maschineller Anlagen konfrontiert, muss sich also ihrer eigenen Einrichtung, ihrer zeitlich begrenzten Verwendbarkeit als Verkörperung im Sinne der neoliberalen Produktionsmaschine und schließlich auch ihres ›Überholtseins, Alterns und schließlich AusrangiertWerdens‹ bewusst sein. Wenn hier eine solche kaum anders als zynisch zu bezeichnende Auffassung ins Wort gebracht wird, so einzig mit der Absicht, diese Form einer neoliberalen Reifikation des arbeitenden Individuums herauszustellen. Ein dergestalt in die neoliberale Produktionslogik inkludierter Mensch wird folglich »Unternehmer seiner selbst« (ebd.: 314), so dass die Konzeption des »Arbeitskraftunternehmers« (Pongratz/Voß 2001) bereits in der neoliberalen Grundlagenliteratur zum Humankapital angelegt ist. Ein solches Bilden der Kompetenzmaschine kann sich nach Auffassung der Neoliberalen nicht allein auf die Schule beschränken (vgl. ebd.: 319). Somit dringt die neoliberale Theorie des Humankapitals allmählich auch vor in nicht-ökonomisch grundierte Diskursfelder, nicht zuletzt hin zu den »soziale[n] Phänomene[n]« (ebd.: 331). Insofern verwundert auch Foucaults Auffassung keineswegs: »Im amerikanischen Neoliberalismus geht es in der Tat immer darum, die ökonomische Form des Marktes zu verallgemeinern.« (Foucault 2015c: 336) Dies gelte etwa für das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern (vgl. ebd.: 337) oder jenes innerhalb des Ehevertrages (vgl. ebd.: 338ff.). Stets sei das »Nützlichkeitskalkül« (ebd.: 343f.) gefragt. Der Neoliberalismus geht nach dieser Lesart davon aus, dass sich eine »egoistische Mechanik« (ebd.: 378) ohne irgendeine Form von Transzendenz schlicht in einem dem Markt analogen Geschehen mit den anderen – nicht minder egoistischen MechanikerInnen – abstimme. »Der Markt und der Vertrag [als Gesellschaftsvertrag; A.B.] funktionieren auf genau entgegengesetzte Weise, und es handelt sich tatsächlich um zwei heterogene Strukturen.« (Ebd.: 379) Somit fungiert der Markt als Areal der nicht abge-
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stimmten, einzig dem Eigennutz verpflichteten Handlungen der einzelnen Akteure. Vergegenwärtigt man sich die polizeiliche Kontrolle des Marktes im 17. Jahrhundert (vgl. Kapitel 1.1.3), so wird die Umkehrung dieser Politik und damit zugleich der Wissensform des dazu erforderlichen Subjektformates offenkundig. Als neues Bezugsfeld für eine solche neoliberale Regierungstechnik macht Foucault die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem homo oeconomicus aus (vgl. Foucault 2015c: 405f.). Beide stellen gewissermaßen die äußeren Enden der Achse gouvernementalen Regierens dar – das Individuum als neoliberales Subjekt im unternehmerischen Austausch mit seinesgleichen und die bürgerliche Gesellschaft als neoliberales Machtgefüge jener Marktakteure, wobei Foucault darauf aufmerksam macht, dass sich in einer bürgerlichen Gesellschaft die »Mechanik der Interessen« (ebd.: 412) nicht allein auf ökonomische beschränke. Insofern bedroht der Kapitalismus als Fokussierung exklusiv auf eine »egoistische Mechanik« die bürgerliche Gesellschaft und deren Grundlagen (vgl. ebd.: 415f.) und steht somit in der Gefahr, sich seiner eigenen Grundlage ebenso wie die der Marktakteure langfristig zu berauben (vgl. in allgemeinerer Form Kapitel 1.1.1). Folglich sind die spezifischen Formierungen neoliberaler Subjektivierung als Träger gouvernementaler Regierung ebenso wie als deren Effekte zu verstehen. Gerade auf den »pastoralen Subjektivierungsformen« konnten nach Foucault der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauen (vgl. ebd.). Zielt nämlich der Neoliberalismus, wie soeben gezeigt, auf eine »künstlich arrangierte Freiheit: [das] unternehmerische Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen« (Lemke 2001: 115), so wird nun deutlich, dass sich dieses Arrangement nur bei gleichzeitiger ökonomischer Umformung auch des Sozialen aufrechterhalten lässt. Gerade die Fähigkeit zu Disziplin und Selbstbeherrschung als Führung des Selbst und der anderen wird nötig, um die konsequente Marktorientierung tatsächlich realisieren zu können (vgl. ebd.: 118). Dass dazu sehr spezifische Formate der Subjektivität bis hinein in »die protestantische Ethik und den ›Geist‹ des Kapitalismus« (Weber 2016) zu verzeichnen sind, zeigt einerseits die enge Verbindung von Neoliberalismus und ethischen Subjektivierungsmomenten, andererseits werden auf diese Weise gerade die den Neoliberalismus etablierenden Effekte der subjektiven Praxis des homo oeconomicus kenntlich.
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Doch hat die neoliberale Individualisierung eine Privatisierung auch der sozialen Risiken zur Folge. Denn werden den Individuen Freiheitsrechte – im gewährenden wie im postulierenden Sinne – zugesprochen, so bleiben diese individualistischen Zugänge zur Welt und ihrer Gestaltung auch dann bestehen, wenn die Bearbeitung sozialer Risiken erforderlich ist. Das Individuum wird im Neoliberalismus der unternehmerischen Freiheit ausgesetzt – und erlebt sich folglich auch dann ausgesetzt, wenn es der Solidarität bedürftig wäre. Unsicherheit ist damit die Kehrseite der neoliberalen Freiheit. Bereits in dieser mikrostrukturellen Analyse wird die von Wacquant kritisierte Herstellung sozialer Unsicherheit (vgl. Wacquant 2011, 2009) für die Individuen sichtbar und setzt sich fort auf makrostruktureller Ebene im Hinblick auf den Rück- und Umbau des Wohlfahrtsstaates. In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung der in ökonomischen wie allgemeinen gesellschaftlichen Debatten häufig beschworenen »Werte« verwiesen. Solche Werte nämlich können sich zunächst weder juristisch konzeptualisieren lassen noch werden sie ausschließlich ökonomisch genutzt, wie ein Blick auf unterschiedliche jüngere Debatten, namentlich solche der nationalen Abgrenzungen deutlich macht. Wenn seinerzeit das »Statement of Aims« der Mont Pèlerin Society betonte: »The central values of civilization are in danger.« (MPS 1947), so wurde mit dieser Aussage ein zivilisatorischer Kontext etabliert, in dem sich die als bedroht eingeschätzten Werte verorten lassen sollten. Insbesondere wurde dort identifiziert »that most precious possession of Western Man, freedom of thought and expression« (ebd.). Obgleich dort ökonomische, regierungsspezifische und juristische Argumente prominent vorgetragen und gelistet werden, ist es kam nachvollziehbar, sich lediglich auf nutzenbezogene Quantifizierungen zu fokussieren, wenn diese »Gründungsurkunde des Neoliberalismus« mit ihren weit ausgreifenden Verweisen auf Sinnkonzepte reflektiert und in ein neoliberales Arbeitsverständnis eingeordnet werden soll, das Ökonomie als Verhaltenswissenschaft proklamiert (vgl. Foucault 2015c: 310ff.; verweist u.a. auf Robbins und Schultz). Daraus wiederum resultiert eine Verschiebung im Verständnis des homo oeconomicus als »Unternehmer seiner selbst« (ebd.: 314), der z.B. im Konsum »seine eigene Befriedigung produziert« und solcherart durch seine »Produktionsaktivität« gekennzeichnet ist (ebd.: 315). Auf diese Weise verbindet Foucault, was Weber noch getrennt hatte: Produktion und Konsum (vgl. Weber 2016: 42; zur arbeitsgesellschaftlichen Einordnung vgl. Spittler 2016: 7).
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1.2 D AS
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Es hat sich gezeigt, dass bei den verschiedenen herangezogenen AutorInnen das Konzept des Neoliberalismus unterschiedlich konzeptualisiert wird und fungiert. Doch kommen die diskutierten Ansätze cum grano salis darin überein, Formen der Subjektivierung zu beschreiben, die etwa im 17. und 18. Jahrhundert auf der Grundlage von und zugleich in Abgrenzung gegen frühere Formate der Regierung eingeführt wurden und sich im 20. sowie 21. Jahrhundert in teilweise neuen Formen und mit neuen Strategien weiter entwickeln. Diese Entwicklungen tragen zu unterschiedlichen Formaten von Vergesellschaftung bei und können zu einer vertikalen Segmentierung in von der ökonomischen Deregulierung profitierende obere und von der sozialen Disziplinierung eingeengte untere Klassen führen. Abschließend ist zu fragen, ob Neoliberalismus einzig als herrschaftliche Absicherung ungezügelter wirtschaftlicher Individualbestrebungen (z.B. Crouch) sowie als Einzug ökonomischer Leitlogiken in subjektive, gesellschaftliche und politische Konzepte (Bourdieu) zu verstehen ist. In – kritischer – Anlehnung an Foucault (vgl. 2015c: 239ff.) sollen nun zwei weitere Aspekte zum Verständnis des Neoliberalismus angeboten werden. 1.2.1 Das Heilsversprechen von Position und Kapital Hier ist zunächst zu nennen die Rückfrage nach der Art ökonomischen Denkens im Neoliberalismus, die dem Verständnis von »Verdienst« eine prominente Rolle im Verständnis der »pastoralen Macht« zuschreibt und damit zugleich die Foucault’sche Forschungstrias von Wissen – Macht – Subjektivität in einer sehr spezifischen Weise orientiert (vgl. Foucault 2015b: 266). Auf diese Weise zieht Foucault die der pastoralen Macht inhärenten Wissens-, Macht- und Subjektivierungsformate heran, um durch sie das Dispositiv der Ökonomie, also der Ökonomie entsprechende »Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden« (Foucault 1978: 123), als der ursprünglichen Auffassung von Verdienst im religiös-soteriologischen Sinne entwachsen zu konzeptualisieren. Diese Ordnung einer »Ökonomie der Verdienste und Verfehlungen« (ebd.: 267) wird im Weltverständnis des Neoliberalismus ab dem 16. Jahrhundert immanent, da sie einer allgemein verbindlichen religiös-transzendenten Ordnung verlustig geht. Sie wird als »Ökonomie des
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Verdienstes« gewissermaßen das historisch als Immanenz des Verdienstes reformulierte Heilsversprechen des Kapitalismus. Zur Erläuterung dieser Verschiebung historischer Verdienstordnungen sei zunächst hervorgehoben, dass zwar ein Heilsversprechen des Kapitalismus gegeben wurde, auch wenn ›das christliche Pastorat grundlegend und im Wesentlichen nicht durch die Beziehung zum Heil charakterisiert‹, sondern als Machtform einer Ökonomie der (noch: auf Transzendenz hin orientierten) Verdienste verstanden wird. Mit einer solchen Änderung der Blickrichtung ist das Heilsversprechen ja nicht grundsätzlich überholt, zumal sich hinreichende Belege für ein solches Versprechen bis in die Gegenwart hinein nachvollziehen ließen. Vielmehr ist die Frage nach der Zielsetzung der pastoralen Machtform von Bedeutung. Dabei kann die pastorale Ökonomie als Technologie zur Herrschaft und Bewirtschaftung der Seelen aufgefasst und im Sinne einer früheren Form von Subjektivierung verstanden werden. Dass dies mit einem Heilsversprechen einhergeht und dieses somit eine eigene Bedeutung zugeschrieben bekommt, scheint unter machttheoretischer Hinsicht eher als kollateraler Effekt denn als Ziel sui generis verstanden werden zu können. Ein Weiteres fällt bei dieser Konstruktion einer pastoralen Ökonomie auf: Ließ sich die Transzendenz-bezogene Form noch als »Ökonomie der Verdienste und Verfehlungen« (ebd.: 267; Hervorh. A.B.) verstehen, so sind in einer immanenten Form jene »Verfehlungen« lediglich dahingehend festzustellen, dass sie als Rudimente praktisch werden, die z.B. als eine »protestantische Ethik« auf den »›Geist‹ des Kapitalismus« Einfluss nehmen (vgl. Weber 2016), nicht jedoch als außerhalb dieser ethischen Ordnung Bedeutung entfalten. Vielmehr scheinen sie in einem kapitalistischen Leben eine Lücke zu hinterlassen, die allerdings kaum als solche aufgefasst, erst recht nicht problematisiert und bestenfalls mit Ausflüchten gefüllt wird; Weber bewertet dies als »das Irrationale dieser Lebensführung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt« (ebd.: 54). Auf diese Weise wird einer ethisch-moralischen Verpflichtung nicht nur nicht hinterher getrauert, sondern sie liegt nach Weber schon als Frage offenkundig außerhalb der allgemein gegebenen Vorstellungskraft, die sich ansonsten jenseits der reinen Kapitalakkumulation befinden würde. Damit also wird dem Verdienst weiterhin hohe Bedeutung beigemessen – jetzt immanent und zumeist monetär zu verstehen –, den »Verfehlungen« hingegen kommt kein eigener Raum mehr zu. Eher ist davon auszugehen, dass
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sie durch »Verluste« – wiederum immanent und zumeist monetär zu verstehen – ersetzt werden. Erst durch eine Weitung der Kapitalkonzeption hinein z.B. in soziale und kulturelle Bezüge lassen sich soziale Positionierungen und mit ihnen einhergehende »Verfehlungen« beispielsweise gegen Milieu-spezifische Distinktionserwartungen ansetzen (vgl. Bourdieu 1997, 1987, 1983). Doch auch solche lassen sich nicht in einer religiös-transzendenten Weise verstehen, sondern viel mehr in einer immanenten, die als »Zirkulations-, Transfer-, Inversionsökonomie und -technik« nunmehr der sozialen Positionierung verstanden werden. Damit verbunden ist das wiederum immanente Heilsversprechen auf Positionierung und Besitz. Der Kapitalist sucht sein Heil in Status und Kapital. 1.2.2 Das Normativ als Machtkonzept Die vorherigen Hinweise Foucaults und Webers auf die »Ökonomie des Verdienstes« und ihre Konsequenzen für Heilsversprechen sowie das – im ökonomischen Feld ausfallende – Problem subjektiver Verfehlungen verweisen ihrerseits auf eine normative Fragestellung, die zum einen nicht allein auf subjektivierende Konzeptionen ausgerichtet sind, wie es insbesondere das (Spät-)Werk Foucaults darlegte (vgl. die Textsammlung in Foucault 2015a). Zum anderen sind diese normativen Positionen den strategischen, die Foucault mit dem Begriff des Dispositivs umschrieb, logisch vorgelagert. Insofern soll nun in Anlehnung an das Dispositiv eine Auffassung vertreten werden, die als Normativ bezeichnet wird und damit dem Machtkonzept normativer Präskripte Ausdruck verleihen soll. Um diesen Begriff näher zu erläutern, sei zunächst dessen strategisches Pendant dargelegt, da sich auch das Normativ an dessen struktureller Konstitution orientiert, um seinerseits theoriesystematisch anschlussfähig zu sein. Foucault fasste seinen Begriff des Dispositivs auf höchst unterschiedlich Weise, daher wird die im Folgenden dargestellte Argumentation auf seine kompakten Äußerungen gegenüber Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes, vermutlich aus dem Jahr 1976, zurückgreifen:
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»Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.« (Foucault 1978: 119f.)
Mit diesem Begriff lässt sich mithin eine Ordnung bestimmen, die »Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes« beinhaltet und insofern zwar einem bestimmten Zweck verpflichtet ist, diesen jedoch in unterschiedlichsten ›sozialen Aggregatzuständen‹ transportieren kann. »Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen heterogenen Elementen sich herstellen kann. So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschaffen. Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln mit Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.« (Ebd.: 120)
Aus dieser weiteren Klärung ergibt sich ein dynamisches und polyvalentes Verständnis des Dispositivs – es ist nicht im buchstäblichen Wortsinne zu ›de-finieren‹, also einzugrenzen. Vielmehr fungiert es gewissermaßen nomadisch, nämlich beweglich zwischen verschiedenen Artikulationsformen. Foucault nennt Programme, Markierung oder Interpretation einer Praktik. Das Dispositiv kann in verschiedenen Formen, Positionen und Funktionen sichtbar werden und ist dabei selbst wandelbar. »Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.« (Ebd.)
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Nunmehr zeigt Foucault die Ausrichtung des Dispositivs auf: Die Behebung eines als »Notstand« aufgefassten Sachverhaltes, der praktisch zu bewältigen ist. Das Dispositiv vermittelt Norm und Praxis als Gewebe strategisch eingesetzter Elemente. Führt man diese drei Hinweise auf die ›sozialen Aggregatzustände‹ nomadischer Bewegungen zwischen verschiedenen Formen, Positionen und Funktionen aus strategischen Gründen zusammen, so zeigt sich ein Konglomerat unterschiedlichster sozialer Praktiken und kultureller Formate mit einem je spezifischen praktischen Zweck. Den Dispositiven in diesem Sinne vorgeordnet sind normative Positionen, die sich ihrerseits nicht in einem abstrakten Diskursraum abspielen, sondern ebenso in verschiedenen Aggregatzuständen mit sich wandelnden Formen, Positionen und Funktionen erscheinen können. Im Unterschied jedoch zum Dispositiv sollen mit dem Begriff solche Konglomerate bezeichnet werden, deren Ziel in einer Artikulation von Normen und deren interner Strukturen besteht, nicht jedoch in der strategischen Vermittlung solcher Normen in die soziale Praxis. Auch Normativen eignet die mäandernde Prozessstruktur, da sie ebenfalls formal (etwa als Debattenbeitrag in den Medien, als praktische Performanz im gelebten Alltag o.a.), positionell (als Akteur, der sich als gesellschaftlich zentral positioniert gebärdet, als sozial randständige Person, als untergeordnet, dominierend o.a.) und funktional (als Benutzerordnung, als Erwartungshaltung, als Sitzordnung, als Abweichung o.a.) changieren kann. Je nach konkreter Ausgestaltung des Normativs kommen ihm allerdings unterschiedliche Chancen auf Durchsetzungsmacht und infolgedessen Ausprägung eines Dispositivs zu.9 Gerade solche normativen Maßgaben sind für das Verständnis des Neoliberalismus als neue Form des Regierens essentiell (vgl. Wacquant 2009: 312), werden dort sogar in »den autoritären Moralismus als integralen Bestandteil des neoliberalen Staates« (ebd.: 313) gekleidet. Mit Blick auf die Dispositive kann insofern davon ausgegangen werden, dass jene die strategische – und Normative die normorientierte Ebene der Regierungskunst und Subjektivierungsrealitäten in einer Gesellschaft beschreiben (vgl. Foucault 2015c: 406f.).
9
Als Heuristik vgl. die Darstellung eines Konfliktes um den öffentlichen Raum und die Artikulation eines lokalen Normativs in Böhmer/Zehatschek 2015.
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In diesem Zusammenhang macht Wacquant auf »die normative Funktion und die ausufernden materiellen Effekte des Rechts und seiner Durchsetzung« (Wacquant 2009: 312) aufmerksam, wobei er auf die Strukturmomente kontrollierender Bilder, öffentlicher Kategorien, kollektiver Emotionen, der Verdeutlichung sozialer Grenzen sowie der Nutzung staatlicher Bürokratien hinweist. Gerade diese Momente lassen sich als potentielle »Trägersubstanzen« bzw. eher: Signifikationssysteme verstehen, mit deren Hilfe Normative ihre Ausdrucksgestalt erlangen können. Wird insofern nach der »Ordnung der Dinge« regiert (vgl. Foucault 2015c: 427), so bedeutet dies für den Neoliberalismus, dass dessen »Ordnung der Dinge« in der Regierung als Subjektivierung und deren »Weise des Tuns« (ebd.: 436) nicht allein die von Wacquant dargestellte vertikale Zweiteilung der Gesellschaft ergibt (vgl. Kapitel 1.1.4), sondern zudem Normative zum Einsatz kommen, die diese Zweiteilung legitimatorisch unterlegen, die Einrichtung dispositiver Strukturen und Prozesse anbahnen sowie eine neoliberale Ordnung herstellen, die dem Menschen eine jeweils historisch kontingente Form zumessen – aktuell jenen ›free Western Man‹ (vgl. MPS 1947) mit seiner »egoistischen Mechanik« (Foucault 2015c: 378). Insofern wirkt das Normativ, indem es den »Anderen« entgegenhält, nicht den Normen zu entsprechen – mitunter ohne sich einer positiven Definition solcher Normalität zu befleißigen (vgl. Böhmer/Zehatschek 2015: 320). Auf diese Weise werden strategische Maßnahmen zur Ausgrenzung der »Anderen« vorbereitet. Das Normativ eröffnet dem Dispositiv den Weg – und wird somit seinerseits strategisch wirksam.
2. Intersektionelle Ordnungen der Arbeit
Bislang wurde deutlich, inwieweit gesellschaftliche Strukturen und normative Maßgaben ökonomische, soziale, materielle und subjektive Möglichkeiten wie Prozesse prägen. Diese, für die gegenwärtigen Gegebenheiten westlicher Gesellschaften als Neoliberalismus beschriebene Konzeption von gesellschaftlicher Praxis und wissenschaftlicher Analyse zugleich soll im nächsten Kapitel dieses Bandes daraufhin untersucht werden, inwieweit und auf welche Weise Wechselwirkungen mit jenem gesellschaftlichen Feld (vgl. Bourdieu 2001; ferner Rosenberg 2011, wenngleich tradierte Bildungsentwürfe auf Akteurskonstrukte reduzierend) bestehen, das für die Vergesellschaftung in kapitalistischen Gesellschaften so relevant wie kein anderes ist: die Erwerbsarbeit. Hierbei soll in drei Schritten vorgegangen werden: Zunächst werden auf einer metatheoretischen Ebene die Gewinne der jüngeren Intersektionalitätsdebatte gehoben, um Kapitalismus und Erwerbsarbeit nicht verengt auf einen ökonomistischen Gesellschaftsentwurf (etwa à la Marx) zu reduzieren. Vielmehr bieten die Befunde der intersektionellen Forschung umfängliche Hinweise auf eine gesellschaftliche Matrix, in der Erwerbsarbeit ein hoch relevanter Faktor der Vergesellschaftung ist, um mit einem jeweils unterschiedlichen Mix aus Kapitalien-, Status- und Rollengewinnen die Affirmation gesellschaftlicher Ungleichheiten subjektiv wie strukturell zu betreiben. Von dort ausgehend können dann in einem zweiten Ausgriff einzelne Verästelungen fordistischer und postfordistischer Produktions- und Arbeitsverhältnisse rekonstruiert werden, um auf diese Weise ein ebenso detailliertes wie realitätsnahes Konzept der Wege hinein in Erwerbsarbeit und anschließend durch die Arbeitswelt bis hin zu den damit zusammen-
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hängenden Ansprüchen an die Individuen und ihre Ressourcenausstattung formulieren zu können. Dass dabei neoliberale Normative keine untergeordnete Rolle spielen werden, dürfte nach den zuvor bereits entfalteten Zusammenhängen kaum verwundern. Insofern sollen in einem dritten Schritt die vorherigen Hinweise gebündelt und in eine erste gesellschaftskritische Position überführt werden, von der aus die Frage nach Bildungspraxis und -notwendigkeit reformuliert entworfen werden kann. Dies zu bewerkstelligen und zu begründen, wird dann die Aufgabe des nachfolgenden Kapitels sein.
2.1 I NTERSEKTIONALITÄT
ALS
A NALYSEMATRIX
Die Frage nach der Vergesellschaftung von Menschen ist im Zusammenhang der her vorgelegten Schrift von besonderer Bedeutung. Denn es ist zu klären, auf welche Weise Menschen ihre Position innerhalb einer von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft einnehmen können – näherhin, auf welche Weise solche Positionen errungen, zugewiesen oder erst geschaffen werden. Zu diesem Zweck ist es von Belang, die Formen solcher Platzierung von Individuen innerhalb einer Gesellschaft rekonstruieren zu können. Verschiedenen westlichen Gesellschaften wird dabei eine ähnliche basale Formation unterlegt, die aufgrund historischer Umstände, auf die noch näher einzugehen sein wird (vgl. Kapitel 2.1.3 sowie 2.2.1 und 2.2.2), zu einer grundsätzlich von Ungleichheit geprägten Gestaltung gefunden haben. In den besagten Gesellschaften sind unterschiedliche Linien solcher Ungleichheiten zu erkennen. Dabei gilt: »Nowadays it is fashionable to talk about race or gender; the uncool subject is class.« (hooks 2000: VII) Insofern sollen im Folgenden mindestens diese drei Linien der Ungleichheit nachvollzogen und in ihren vielseitigen Wechselwirkungen für die Herstellung, Aufrechterhaltung und Verteidigung von Ungleichheiten untersucht werden. Im zweiten Schritt ist dann danach zu fragen, inwieweit gerade solche sich als einflussreich erweisenden Leitlinien einer Vergesellschaftung auf verschiedenartige Weise dazu beitragen, Individuen Erfahrungen von Ungleichheit, Diskriminierung und Unterdrückung aufzubürden, die sich dann in unterschiedlichsten Konkretisierungen Bahn brechen. Gerade diesen analytischen Bezugspunkten einer theoretischen Nachver-
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folgung der gesellschaftlichen Praxis von Ungleichheit sollen die folgenden Überlegungen gewidmet sein. Das analytische Konzept der Intersektionalität hat es zu einiger Prominenz gebracht: Der Frauen- und Genderforschung entstammend, wird es inzwischen häufig genutzt, um Diskriminierungen (vgl. Scherr 2016) zu thematisieren, die sich durch mehrfache, dabei überschneidende Kategorien der Darstellung von Benachteiligung auszeichnen.10 In der vorliegenden Schrift sollen die diesem Ansatz hinterlegten analytischen Grundannahmen von Schnittpunkten und -linien vergesellschaftender Prozesse aufgegriffen und zugleich eine Perspektive eingenommen werden, die zunächst noch nicht nach Diskriminierungen Ausschau hält, sondern von den Überschneidungen und wechselseitigen Einflussnahmen gesellschaftlicher Teilaspekte ausgehend nach dem Konzept von Gesellschaft fragt, in der Erwerbsarbeit, aber eben auch noch einige (und wie sich zeigen wird: nicht sonderlich viele) Dynamiken maßgeblich und in überaus vielfältigen Auswirkungen auf die Individuen in postfordistischen Gesellschaften Einfluss nehmen. Insofern versucht der hier vorliegende Text, wohl wissend um den »antidiskriminierungsrechtlichen Kontext« (Walgenbach 2014: 54) des Ursprungs von Intersektionalität, einen eigenen Weg kritischer Analyse, indem er von den juristischen Ursprüngen Abstand nimmt, was angesichts der Zugänge der sozialwissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung über »Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse« (ebd.) wenig Irritationen hervorrufen dürfte. Zugleich wird die diskriminierungspraktische Fragestellung von Anfang an mit transportiert, jedoch erst in einem zweiten Schritt in die theoretische Analyse integriert. Motiv für dieses gestufte Vorgehen ist das Bemühen, gerade auf Erwerbsarbeit bezogene Vergesellschaftungsformen unterschiedlichster Individuen zunächst lediglich als ungleiche zu konzeptualisieren, um so die Chane aufzutun, die Wendung von Ungleichheit zu Diskriminierung evtl. besser in den theoretischen Blick zu bekommen. Ausgangspunkt einer solchen zweistufigen Rekonstruktion gesellschaftlicher Formierungen in den Individuen ist näherhin die Überlegung, dass eine von Pluralität geprägte Gesellschaft höchst unterschiedliche Schnittpunkte einzelner Linien gesellschaftlicher Realität aufweist. Diese Linien
10 Eine Übersicht der Entwicklungen von »Intersektionalität« in deutschen und US-amerikanischen Zusammenhängen bietet Walgenbach 2014: 55ff.; zur Konstruktion und Verwertung der Kategorien vgl. Emmerich/Hormel 2013: 11f.
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wiederum markieren eine Vielzahl von Positionen unter gesellschaftlich relevanten Perspektiven, die mit der obigen Andeutung von bell hooks als »race, gender, class« bezeichnet werden können. Ob diese Trias zutreffend oder gar als erschöpfende Darstellung von Pluralisierungsprozessen westlicher Gesellschaften aufgefasst werden können, wird noch eigens zu untersuchen sein. Hier bereits lässt sich festhalten, dass unter neoliberalindividualistischen Perspektiven ein unmittelbarer Einsatz der Analyse bei »Benachteiligung« alsbald in die Fänge dieser Perspektivenverkürzung zu geraten droht (vgl. Kapitel 1.1.5). Konsequenz ist die dann absonderlich anmutende Konstruktion der solcherart Marginalisierten in einer vermeintlich gerechten Gesellschaft: »Statt in einem Herrschaftsverhältnis zu stehen, statt durch eine ›Herrschaft‹ unterdrückt, ausgebeutet, marginalisiert oder exkludiert zu werden, sehen sich die Unterdrückten, Ausgebeuteten, Marginalisierten und Ausgeschlossen mit der Norm und Normalität [...] einer grundsätzlich gerecht eingerichteten und hauptsächlich richtig funktionierenden Gesellschaft konfrontiert, der gegenüber sie als mit einem spezifischen Problem behaftet zu sein scheinen mit einer Art – sei es fremd-, sei es selbstverschuldeter – ›Behinderung‹, einem ›handycap‹, das es mit wohlfahrtsstaatlichsozialtechnologischen Mitteln zu bearbeiten gilt, sofern es nicht letztlich doch als Schicksal an- und hingenommen werden muss.« (Klinger 2008: 58)
Daraus würden dann auch eher Vergleiche zwischen verschiedenen Benachteiligten resultieren – mit der Konsequenz eines »race to the bottom« (ebd.). Ein solches Ergebnis ist insofern nicht verwunderlich, als es analytisch auf einem Fundament aufsetzt, das mit seinem sozialpolitischen Individualismus bereits ebenso voraussetzungsvoll ist wie gegen Kritik auf kollektiver Basis immunisiert. Dann nämlich werden »Ungleiche« gegen »noch Ungleichere« ausgespielt, ohne den Einsatzort dieses ambivalenten Spiels überhaupt zu Gesicht zu bekommen – die doppeldeutige Gestalt eines neoliberalen Staates und der von ihm adressierten Gesellschaft (vgl. Kapitel 1.1.4). Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist somit, dass zunächst die gesellschaftlichen Zusammenhänge inklusive ihrer Trennlinien und der darauf befindlichen Positionen in den Blick genommen, auf ihre Bedeutung in einem neoliberalen Gesamtkonzept hin untersucht und erst dann in ihren subjektiven, gesellschaftlichen und politischen Folgen angemessen eingeordnet werden können. Insofern wird hier ein Ansatz genutzt, der
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1. 2. 3. 4.
Makrostrukturen von Gesellschaft, Mikroprozessen auf intersubjektiver Ebene, Möglichkeiten der Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen sowie Konsequenzen für die solcherart vergesellschafteten Individuen
ermittelt. Daraus ergibt sich zum einen die Möglichkeit, die bereits im ersten Kapitel herangezogenen Forschungsmöglichkeiten mikrophysikalischer Prozesse der Implementation, Ausübung und Inszenierung von Macht nunmehr einzubetten in Analysen der Strukturkategorien auf der Makroebene sowie die Wechselwirkung zwischen beiden Kontexten zu thematisieren. Zu diesem Zweck ist es ebenso epistemologisch erforderlich wie empirisch weiterführend, die damit forschungsrelevanten Schnittstellen und die dort fungierenden Vermittlungsprozesse zu untersuchen, um die Transfers von Makro- auf Mikroebenen und vice versa abzusichern und zugleich zu nutzen. 2.1.1 Ein Theorieangebot »mittlerer Reichweite« Gerade der Ansatz der Intersektionalität bietet die Chance, sich nicht auf eine »große Erzählung« wissenschaftlicher Rekonstruktion zu beschränken, sondern in einer epistemologisch reflektierten Form Diversitäten und Dynamiken Rechnung zu tragen, um auf diese Weise Theorieangebote »mittlerer Reichweite«, nämlich zwischen »allumfassenden Spekulationen einschließlich eines theoretischen Globalschemas« über gesellschaftliche Bezüge einerseits und »kleinen Arbeitshypothesen [...] der alltäglichen Forschungsroutinen« (Merton 1995: 3) andererseits, vorlegen zu können. Daraus resultiert das methodologische Konzept eines ebenso ›bescheidenen wie realistischen Anspruchs‹ auf Übertragbarkeit (vgl. ebd.: 4). Es werden gerade jene »Überschneidungen« sichtbar und können im Anschluss weiter analytisch bearbeitet werden, die für die Leitlinien von Vergesellschaftung den oben erwähnten Transfers von Makro- auf Mikroebenen formieren. Dabei geht es gerade darum, anstelle der Behauptung schlichter Kausalitätsbezüge zwischen Makro- und Mikroebene (vgl. Dörre et al. 2012: 16) eher deren wechselseitigen Beeinflussungen nachzuzeichnen und ebenso analytisch wie theoriepragmatisch fruchtbar zu machen. Damit steht das hier angewendete epistemologische Verständnis in der Mitte zwischen »Globalschema« und schlicht alltäglicher »Arbeitshypothe-
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se«. Das letztgenannte Verständnis wurde z.B. für die Frage nach den sog. Bezugsgruppentheorien in den 1960er Jahren formuliert, als R.K. Merton seinen Gegenentwurf einer »middle range theory« darlegte; für solche fragmentierten ›kleinen Hypothesen‹ galt (und gilt für ähnliche Ansätze wohl auch noch weiterhin), dass deren jeweils eigens entwickelte Analyseinstrumente keinen zureichenden Zusammenhang mehr ermöglichten, Partikularisierung der Interpretationen und er aus ihnen abgleiteten Konzepte war die Folge (vgl. ebd.: 267). Gegenüber den Bemühungen um ein ›spekulativ zu entwickelndes Globalschema‹ wiederum ist insofern Zurückhaltung zu üben, als es sich jenseits eines Geniekultes lediglich »kumulativ« erarbeiten lässt und insofern weit weniger voraussetzungsvoll als ein »totales System« der Interpretation empirischer Befunde sein dürfte (ebd.: 3f.). Daher soll mit dem Konzept der Intersektionalität im Folgenden ein sowohl theoretisch (Merton) als auch empirisch (gender studies) elaboriertes Forschungsverständnis genutzt werden, um die Herkunft wie die Konsequenzen der erwerbsarbeitsgesellschaftlichen Elemente und Prozesse in der oben skizzierten vierfachen Perspektive angemessen auffassen, interpretieren und für eine kritische Positionierung nutzen zu können. 2.1.2 Sozioökonomie vielfältiger Komplexidentitäten Seit den 1990er Jahren prägt eine als Intersektionalitätsforschung gefasste Perspektive die Debatten der gender studies, die sich insbesondere auf multifaktorielle Individualisierungen (die i.a. als Benachteiligungen aufgefasst werden) richtet. Die Besonderheit dieses Forschungszuganges liegt darin begründet, dass damit ein Ansatz zur Verfügung steht, »der individuelle Mehrfachidentität beschreibt und daraus resultierende sozioökonomische Dynamiken analysierbar macht.« (Adusei-Poku/Shooman 2012: 47) Angesichts der von den beiden Autorinnen erwähnten mehrfach gegebenen Kategorien von Identifizierung müssen zwei grundlegende Fragen thematisiert werden: (1) Immer wieder als strittig wird angesehen die Beantwortung der Frage nach den Kategorien, ihrer Anzahl und Gewichtung (vgl. Aulenbacher/Riegraf 2012: 6). Die frühe, gerade aus der Emanzipationsbewegung afroamerikanischer Frauen marginalisierter Milieus stammende Perspektive etablierte die oben bereits erwähnte Trias und weitete zugleich die Möglichkeit weiterer Kategorien, indem etwa Crenshaw hinweist auf »a broad
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scale system of domination that affects women as a class« (Crenshaw 1991: 1241). Im Zuge dessen listen jüngere Ansätze z.B. Geschlecht, ethnische Zuschreibung, Staatsangehörigkeit, Bildung, Gesundheit, Klassenstrukturen, Möglichkeiten zur Artikulation im politischen Kontext, aber auch Behinderung, Alter, Wohnen und weitere Felder möglicher Ungleichheitserfahrungen (vgl. Debus 2015; Scherr 2014a). Diese Sektoren subjektiver und gruppenbezogener Differenzierung sind einerseits funktional für gesellschaftliche Pluralisierung ebenso wie für die Pluralisierung der mit ihnen einhergehenden Logiken von Vergesellschaftung. Sie leisten andererseits einen Beitrag zur Perspektivenverschiebung jener Prozesse von Erwerbsarbeit, die sich in gesellschaftliche Rahmungen eingebettet zeigen sowie Individuen und Gruppen auf ihren Wegen hinein in die oder innerhalb der Gesellschaft prägen. (2) Ebenso ist die Genese einer »individuelle[n] Mehrfachidentität« in Zweifel gezogen worden, sofern die intersektionellen Kategorien lediglich additiv verbunden werden und solcherart zu mehrfachen Identitäten führen sollen (vgl. Schultz 1990). Insofern soll hier der empirischen Sachlage Rechnung getragen werden, dass Menschen nicht als Frau und fremd und ökonomisch schlechter gestellt identifiziert und insofern auch additiv diskriminiert werden. Vielmehr bilden sich durch die mehrfach vorliegenden Kategorien von Ungleichheit und deren Überschneidungen in der Lebenslage eines einzigen Individuums oder ihrer Gruppen Verbindungen, die im Folgenden als Komplex von Ungleichheiten aufgefasst und deren identifikatorische Konzepte daraus resultierend als Komplexidentitäten verstanden werden, in denen jene mehrfachen Diskriminierungen zu jeweils einer einzigen, situativ-sozialen Subjektkonstitution führen, die sich freilich je nach Situation unterschiedlich auswirken kann und dabei zuweilen auch einzelne Aspekte vorübergehend stärker betont. Gerade die Frauenforschung machte bereits früh darauf aufmerksam, dass Frauen von – nunmehr: einem Komplex der – doppelten oder sogar dreifachen Vergesellschaftung betroffen seien, da sie auf ihrem Weg in der Gesellschaft als »Frau, Arbeitnehmerin und Minoritätsangehörige« gefordert seien (Laros 2015: 66; vgl. ausführlicher 2.1.3). Dabei bietet der Rückgriff auf die Theorie der Intersektionalität eine erhebliche Erweiterung, weil »das Geschlecht als alleinige identitätskonstruierende Kategorie überwunden wird« (Laros 2015: 68). Auf diese Weise wird die klassische Frauenforschung als relevante Quelle für die Theorie gesellschaftlicher Plu-
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ralität – und bereits von Anfang an: als Theorie gesellschaftlicher Benachteiligung – genutzt. Zugleich kommen weitere Trennlinien innerhalb der pluralen Gruppenpositionierungen zur Sprache, hier beispielsweise »Ethnizität und Milieu«, und können auf diese Weise zur Analyse intersektioneller Benachteiligungen herangezogen werden. Ein Hinweis auf »weitere Kategorien wie« allerdings führt dazu, dass um die Listung solcher identifizierenden Kategorien gesellschaftlicher Diversifizierungen, deren Anzahl, Rangstellungen u.a.m. mitunter nicht wenig gerungen wird (vgl. etwa Crenshaw 1991). Um diese Strukturierung jedoch genauer fassen und ggf. gewichten zu können, bedarf es eines vertiefteren Verständnisses solcher Kategorien und ihrer Schnittpunkte. 1. Intersektionelle Kategorien sind sozial konstruiert und folglich postessentialistisch11 zu verstehen, 2. intersektionelle Kategorien dienen der Beschreibung von Komplexidentitäten (und in deren Gefolge: komplexen Formen der Benachteiligung), 3. intersektionelle Kategorien beschreiben Modi der Identitätspolitik – und fungieren zugleich selbst als solche, da sie weitere IntragruppenDifferenzen zu verwischen drohen. Diese Positionen sollen im Folgenden entfaltet werden. (1) Im Sinne einer relationalen Theorie sozialen Handelns (vgl. Bourdieu 2009, 1998b, 1987) kann zunächst unterstrichen werden, dass soziale Positionen nicht einfachhin »gegeben sind« oder gar als »Wesen« zu einer Person oder Gruppe zählen. Vielmehr zeigt Bourdieu, wie durch Praktiken der Konkurrenz um Ressourcen und Orte, der subtilen Einschlüsse und Ausgrenzungen und zahlreiche weitere Praktiken Positionen innerhalb gesellschaftlicher Felder geschaffen, erstritten, verteidigt, verloren und zugewiesen werden.
11 Dieser Terminus soll einerseits deutlich machen, dass essentialistische Konzepte der sozialen Produktion von Vergesellschaftung und der sie interpretierenden Begriffe nicht zureichend Rechnung tragen, dass sich andererseits aber die hier eingenommene Auffassung nicht in ein antiessentialistisches Spiel der Signifikation allein zurückziehen kann, sofern zugleich die markanten materiellen, sozialen und somatischen Konsequenzen einer solchen Auffassung für die alltägliche Lebensführung der Individuen »ohne ›Grundlegungswahn‹« (Villa 2012: 16) berücksichtigt werden.
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Insofern ist für die Kategorien sozialer Identifizierung ebenfalls anzunehmen, dass sie in sozialen Relationen allererst ausgehandelt und produziert werden. Damit allerdings ist keine schlichte Verdrängung solcher Sichtweisen in eine Sonderwelt der Theorie angesetzt (vgl. Crenshaw 1991: 1296). Vielmehr fungieren die Kategorien als Verständnisformate der Theorie sozialer Prozesse ebenso wie als Leitlinien sozialer Praxis. Insofern ist nicht für einen nachgerade »garstig breiten Graben« (Lessing) zwischen Theorie und Praxis zu votieren, insofern Kategorien als Bestandteile von Theorie zugleich in der Praxis wirksam werden – und umgekehrt praktische Zusammenhänge sich in ihrer theoretischen Interpretation widerspiegeln. »Die Theorie der Praxis als Praxis erinnert gegen den positivistischen Materialismus daran, daß Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, daß diese Konstruktion auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.« (Bourdieu 1993: 97)
Eine solche wechselseitige Verschränkung ist dabei keineswegs als eineindeutige Abbildung zu verkürzen, weder im Verhältnis von Theorie und Praxis, noch im Verhältnis von hegemonialer und subalterner Position. Die Differenzen im Hinblick auf die letztgenannte Bipolarität macht Crenshaw deutlich, wenn sie darauf hinweist, dass »categorization is not a one-way street. Clearly, there is unequal power, but there is nonetheless some degree of agency that people can and do exert in the politics of naming.« (Crenshaw 1991: 1297) Zugleich betont sie »two separate but closely linked manifestations of power. One is the power exercised simply through the process of categorization; the other, the power to cause that categorization to have social and material consequences.« (Ebd.) Wenngleich auch die zweite Bipolarität, jene nämlich der ›power of categorization‹ sowie derjenigen einer ›power to cause social and material consequences‹, deutlich macht, dass begriffliche und soziale/materielle Gegebenheiten in unterschiedlichen Zusammenhängen verwirklicht werden, so zeigt sich doch beider Zusammenhang in sozial hergestellten Identitätspolitiken, die ihrerseits eingebettet sind in geschichtliche und weitere Zusammenhänge (vgl. ebd.: 1299). (2) Wird also im Anschluss an Crenshaw und Bourdieu im vorliegen-
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den Text die Auffassung vertreten, dass gesellschaftliche Realitäten aus sozialer Praxis abzuleiten und insofern theoretisch abzubilden sind, so ergibt sich eine Überschneidung der reflexiv genutzten Kategorien sowie der von ihnen abgebildeten Realitäten einerseits und in der Analyse ihrer empirischen Bezüge und Konsequenzen eine damit einhergehende Interdependenz solcher mehrdimensionaler Vergesellschaftungsmodi andererseits. Insofern soll im Folgenden beides zusammengeführt und nicht theoriepolitisch auseinandergehalten werden (vgl. für die letztgenannte Position AduseiPoku/Shooman 2012: 52; ferner Winker/Degele 2010: 15ff.). Intersektionalität thematisiert nach der hier vorgeschlagenen Auffassung gerade jene mehrdimensionale Zuschreibung von sozialer Identität, die aufgrund von höchst unterschiedlichen Kontexten und Anrufungen Menschen zu ebenso komplex wie unterschiedlich identifizierten »macht«, nicht aber ihr »Wesen« schlicht ausdrückt, und dabei verschiedene Achsen der Ungleichheit identifiziert, in ihren Überschneidungen untersucht und deren Wechselwirkungen berücksichtigt. Näherhin ist zu fragen, wie sich solche Komplexidentitäten in der sozialen Praxis dargestellt, wie sie also »sozial produziert« werden. Dazu lässt sich nur dann eine theoretisch zureichende Antwort formulieren, wenn deutlich werden kann, auf welchen gesellschaftlichen Strukturen eine solche Auffassung fußt und wie sich die strukturellen Grundlagen auf die Schnittstellen der Achsen von Ungleichheit, auf ihre Kombination also, ihre Verdrängung und Transformation, auswirken. Dass in diesem Zusammenhang Strukturen von Gesellschaft reflektiert werden, bedeutet dabei keineswegs, dass ein politischer und ein auf Repräsentation der Benachteiligten gerichteter (»representational«; Crenshaw 1991: 1283) Blickwinkel vernachlässigt würden (vgl. allgemein ebd.: 1245ff.). Vielmehr wird eine strukturelle Reflexion als die grundlegende aufgefasst, an die jene zu politischen Fragen und solche der Repräsentation von Benachteiligten in intersektionellen Diskursen anknüpfen. (3) Zur sozialen Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheiten ist festzustellen, dass auch intersektionelle Kategorienbildungen gewahren müssen, die Differenzen einigermaßen angemessen in den Blick zu nehmen – und dass doch häufig mindestens aus Gründen der Reduzierung von Komplexität zahlreiche solcher Differenzen unberücksichtigt bleiben oder aber alsbald vereinheitlicht werden (zu »intragroup differences« vgl. ebd.: 1242). Folglich ist darauf zu achten, gegebene Differenzen und die mit
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ihnen evtl. gegebenen Diskriminierungen hinreichend reflexiv zu erfassen, politisch zu beantworten sowie in der Repräsentierungen von Ungleichheiten zu Wort kommen zu lassen – eine Herausforderung, die einerseits Women of Color bereits früh artikulierten12 und die andererseits gerade für die Frage nach der intersektionellen Vergesellschaftung und Benachteiligung im Feld der Erwerbsarbeit zu nicht hinreichenden Analysen, zu verkürzten und einseitigen politischen Antworten und zu intransparenten Vertretungen und Berücksichtigungen innerhalb solcher Modi von Vergesellschaftung und Diskriminierung sowie ihrer Konsequenzen beitragen kann. Insofern gilt es, die anschließenden Analysen mit einem hinlänglich differenzierten Konzept von Intersektionalität zu unterlegen. Dazu erforderlich ist, zunächst dem Verhältnis von individuellen und gruppenbezogenen Ungleichheitserfahrungen Rechnung zu tragen: Intersektionelle Analysen müssen also auf der einen Seite davon ausgehen, dass nicht primär die Identität einer Gruppe maßgeblich sein kann für die Reflexion auf individuelle Benachteiligungen (vgl. ebd.: 1299). Zum anderen muss jedoch in den Darstellungen zumeist auf einige wenige Benachteiligungen Bezug genommen werden, da die hoch differenten individuellen Intersektionen ansonsten kaum dargestellt werden könnten. Insofern soll auch im Folgenden eine Konzentration auf einige als maßgeblich eingeschätzte Kategorien erfolgen, die für die Frage nach der Vergesellschaftung von Arbeit maßgeblich sind; andere und andere Benachteiligungen sollten dabei zumindest im Hintergrund stets mit gedacht werden. Sodann bedarf es einer angemessenen Verbindung von Differenzierungs- und Ungleichheitstheorien. Mit diesen beiden Begriffen werden Theoriebestände hinsichtlich des Befundes einer voranschreitenden Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in unterschiedliche Funktionszusammenhänge (Spencer, Parsons, Luhmann) sowie einer nach Klassen und Schichtungen weiter von Ungleichheiten geprägten Gesellschaftsstruktur (Marx, Weber, Kritische Theorie) bezeichnet (vgl. Aulenbacher/Riegraf
12 So der klassische Ausruf von Sojourner Truth im Rahmen der Women’s Convention (Akron, Ohio) im Jahr 1851: »Ain’t I a woman?«, um auf ihre intersektionellen Erfahrungen als Woman of Color gegenüber der männlich geprägten Bürgerrechtsbewegung und der von weißen Frauen des Bürgertums dominierten Frauenrechtsbewegung zugleich aufmerksam zu machen (vgl. Davis 1981: 60ff.).
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2012: 7f.). Beide Strömungen scheinen – wenn auch in unterschiedlicher Form und Reichweite – allerdings kaum unbeeinflusst von einander zu bestehen. So wird gerade für jene, den Ungleichheitstheoremen zuzuordnende Konzepte festgestellt: »Auf dem Prüfstand steht in der Betrachtung des Zusammenwirkens von ›Akkumulationsregime und Regulationsweise‹ in ganz neuer Weise auch der ›alte‹ feministische und ungleichheitstheoretische Dissens über den theoretischen und epistemologischen Stellenwert der Kategorien Klasse, Geschlecht und, nunmehr angeregt von der Intersektionalitätsforschung, Ethnie.« (Ebd.: 11)
Unter Beibehaltung also der an klasseninduzierten Ungleichheiten orientierten Analysen werden weitere, ihrerseits zu Ungleichheiten beitragende, Tendenzen moderner Gesellschaften in den Blick genommen. Theoriegeschichtlich waren bereits früh von den kritischen Theorien herrührende Befunde der Frauenforschung zu vernehmen, die auf solche ›komplexen Vergesellschaftungen‹ innerhalb der Felder von Reproduktion und Produktion sowie die mit ihnen verbundenen Belastungen, Benachteiligungen und Begrenzungen aufmerksam machten (vgl. jüngst die diesbezügliche Einordnung von Kontos 2015; ferner Aulenbacher et al. 2012; ausführlicher 2.1.3). Doch gilt es, die Differenz zwischen den früheren feministischen und den kapitalismustheoretischen Analysen zu betonen: »Anders als in Kapitalismustheorien steht in feministischen Analysen weniger die Kapitalakkumulation selbst als vielmehr die Frage im Mittelpunkt, welche weiteren gesellschaftlichen Prozesse ihr unterlegt sind und innewohnen.« (Aulenbacher et al. 2012: 11)
Insofern bietet die »Intersektion« von Kapitalismus- und feministischen Theorien die Chance, neben einer Fokussierung auf ökonomische Fragestellungen weitere Gesichtspunkte und deren strukturelle Zuordnung in den Blick zu bekommen und auf diese Weise die Verbindung gesellschaftlicher Praxen – jener des Akkumulationsregimes ebenso wie der gesellschaftlichen Reproduktion – in einer höheren Komplexität und in den Potenzierungen ihrer Wechselwirkungen erschließen zu können. Letztlich folgt daraus, dass spezifische Blickwinkel auf jene in diskriminierten Gruppen, die am ehesten noch als »privilegiert« angesehen wer-
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den können, bedingen, dass ein solcher Blickwinkel »marginalizes those who are multiply-burdened and obscures claims that cannot be understood as resulting from discrete sources of discrimination.« (Crenshaw 1989: 140) Folglich können auch die beiden zuvor erwähnten Praxen – der Kapitalakkumulation sowie der gesellschaftlichen Reproduktion – nicht als abschließende Konstellation von maßgeblichen Modi der Vergesellschaftung angesehen werden. Auch nach der Ergänzung durch die Praxis ethnisch codierter Differenzierungen wird sich eine abschließende Listung solcher Praxen kaum erstellen lassen. Sie bleibt, unter der Perspektive der ›komplexen Vergesellschaftungen‹ auf weitere mögliche der ›vielfältigen Belastungen‹ strukturell unabschließbar, wenn auch nicht alle Achsen subjektiver Vergesellschaftung im alltäglichen Zusammenhang sichtbar werden müssen (vgl. ebd.: 150). Entlang der unterschiedlichen subjektiven und subjektivierenden Achsen können – kontingente – Varianzen auftreten, die auf diese Weise gerade die Prozessualität spätmoderner Gesellschaften reflektieren. Mit Blick auf die Erwerbsarbeit etwa lässt sich festhalten: »Die Entwicklungen der Erwerbsarbeit und der privaten Fürsorgeverhältnisse zeigen widersprüchliche Tendenzen: Einerseits nimmt die Integration der Frauen in den Erwerbssektor zu, andererseits wird die Integrationskraft der Erwerbsarbeit aufgrund der ›Entsicherung‹ der Arbeitsverhältnisse für beide Genusgruppen geschwächt. Zugleich erzeugt die ›Entgrenzung‹ von Arbeit und Leben einen zunehmenden Rationalisierungsdruck auf die Fürsorgeverhältnisse im Privaten.« (Bührmann et al. 2014: 143)
Deutlich wird, dass sich einerseits die erwähnte gesellschaftliche Prozessualität in einzelnen Praxen widerspiegelt, andererseits lässt sich somit auch zeigen, dass die Veränderung der einen Praxis (hier: Kapitalakkumulation) gleich weitere Praxen verändern (nun: jene der Reproduktion) und sie zudem in ihrer Verwiesenheit aufeinander zu weiteren Komplexitäten steigern kann – z.B. als die ›zunehmenden Rationalisierungsdruck auf die Fürsorgeverhältnisse im Privaten durch die Entgrenzung von Arbeit und Leben‹. Eine Sozioökonomie individueller Komplexidentitäten entsteht, indem soziale und ökonomische Prozesse entlang der benannten Achsen von Vergesellschaftung stattfinden, dabei durch die von gesellschaftlichen Veränderungen bedingte Verschiebungen dieser Achsen tangiert werden und
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letztlich zu einer Komplexitätssteigerung führen, die vielfältige Modi von Vergesellschaftung ermöglichen. Diese Modi prägen Identitäten, die unterschiedlichen Praxen, somit den davon definierten gesellschaftlichen Feldern entsprechen und dabei in ihrer Iteration gesellschaftlicher Teilpraxen affirmative sowie subversive Subjektivierungen realisieren (vgl. Moebius/Reckwitz 2008: 13ff.; zur Umbildung von Subjektivität unter psychoanalytischer Hinsicht vgl. Butler 2001: 94ff.). Durch die historische Rekonstruktion der Genese einer solchen Sozioökonomie lassen sich ihre theoretischen Ansatzpunkte und gesellschaftlich-praktischen Einsatzfelder nachvollziehen, Letztere in ihrer Transformation untersuchen und ggf. auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten hin befragen kann. Diesem Schritt sind die nun folgenden Hinweise zumindest skizzenhaft verpflichtet. 2.1.3 Entwicklungen von Ungleichheit Allgemein ist festzustellen, dass die Überschneidung der Achsen der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die hinsichtlich der Erwerbsarbeit schon seit geraumer Zeit festzustellen ist. Im Folgenden sollen aus Kapazitätsgründen insbesondere die deutschen Verläufe von differenzierter Ungleichheit untersucht werden, US-amerikanische werden lediglich dort benannt, wo sie zu semantischer und theoretische Klärung deutscher Debatten beitragen können, wenngleich als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass die Ursprünge der mit »Intersektionalität« im engeren Sinne verbundenen sozialen Bewegungen aus dem US-amerikanischen Raum stammen (vgl. stellvertretend für viele Winker/Degele 2010: 11f.; zur Differenz zwischen diesen beiden Diskursräumen Knapp 2007: 47f.). 2.1.3.1 Deutsche Debatten im Vorfeld In ihrer historischen Rekonstruktion der Möglichkeiten und Ausschlüsse weiblicher Verberuflichung in Deutschland gelangt Mayer zu der für die Arbeitsteilung in kapitalistisch-familialen Ordnungen relevanten Einsicht: »Ein wichtiges Moment im Prozess der Verbürgerlichung von Teilen der ›handarbeitenden Klassen‹ war der Anstieg der Reallöhne in der Mitte des 19. Jahrhunderts, denn erst die Konfiguration des männlichen Alleinverdieners und Familienernährers machte auch in den nicht-bürgerlichen Schichten den Weg für den Wandel von der
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alten familialen Erwerbsgemeinschaft zur nichterwerbstätigen, an häuslicher Eigenleistung und an Einsparung orientierten Hausfrau frei [...].« (Mayer 2009: 8f.)
Als »weiblich« oder gar »hausfraulich« apostrophierte Tätigkeiten und mit ihnen einhergehende Subjektivierungsformate konnten auf diese Weise durch die Veränderung ökonomischer Bedingungen innerhalb der Gesellschaft vorangetrieben werden. Daher verwundert es kaum, wenn bereits 1857 die 9. Allgemeine Deutsche Lehrer-Versammlung angesichts von durch den »Anstieg der Reallöhne« gegenfinanzierten Möglichkeiten der Dekommodifizierung – und damit auch: Abdrängung aus dem Feld beruflich-kapitalistischer Vergesellschaftung – zu dekretieren wusste: »Der Lebensberuf, für den das Mädchen gebildet werden soll, ist für alle Lebensverhältnisse derselbe: Gattin, Mutter und Hausfrau zu seyn.« (Ebd.: 9)
Diese Maßgabe konnte sich, trotz mancher gegenläufigen Dynamiken, noch geraume Zeit halten. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ergaben sich Umstrukturierungen bestimmter Berufsformen, so dass der oben erwähnte weibliche »Lebensberuf« mit dem Erwerbsberuf verbunden werden konnte; dies allerdings stets so, »dass Frauen von ihrem ›natürlichen Beruf‹ nicht entfremdet wurden.« (Ebd.: 21) Historische Rekonstruktionen ergeben klassenspezifische Differenzen: »Die Daten verdeutlichen zugleich auch, dass von den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Bestrebungen, über vollzeitschulische Berufsbildungswege und Schulberufe das Ausbildungsspektrum für Mädchen zu erweitern, Volksschülerinnen weitgehend ausgeschlossen blieben.« (Ebd.: 28)
Insofern erfolgte die sehr spezifische Vergesellschaftung von unterschiedlichen Gruppen der Frauen unter der Maßgabe einer Fokussierung auf die reproduktiven Rollen der »Gattin, Mutter und Hausfrau«, eine Rekommodifizierung unter Berücksichtigung dieser Grundlegung weiblicher Rollen – und zugleich eine Bildungs- und Erwerbssegregation, die zeitgenössische Klassendifferenzen widerspiegelte.13
13 Zu den teilweise analogen Prozessen im US-amerikanischen und im australischen Raum mit einem Fokus auf Männerforschung vgl. Connell 2015.
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Neben dieser frühen Entwicklung einer mäandernden Bewegung der Frauenarbeit in Deutschland durch das 19. Jahrhundert hindurch lassen sich weitere Quellen für eine europäische Anbahnung der Intersektionalitätsforschung durch feministische Autorinnen ausmachen. So sind für Deutschland beispielsweise zu nennen soziale Bewegungen, politische Diskurse wie die Hausarbeitsdebatte der 1970er und ihre theoretischen Folgen (vgl. die Rekonstruktion in Kontos 2015 sowie die Erweiterung in Winker/Degele 2010: 17), der Vorwurf eines geradezu paternalistischen Feminismus gegenüber Migrantinnen (vgl. Kalpaka/Räthzel 1985) oder auch die in den 1980er Jahren einigermaßen strittige These der »Hausfrauisierung« (Werlhof et al. 1983). Mit der letztgenannten These wurde davon ausgegangen, dass im Rahmen kapitalistischer Arbeitsteilung (wie zuvor schon, s.o.) eine Entwertung der Tätigkeiten im Haushalt stattgefunden habe, so dass im Laufe der Geschichte der reproduktive und subsistenzwirtschaftliche Bereich den Hausfrauen zugewiesen worden sei (vgl. kritisch zu einer solchen Auffassung Dörre 2015: 45). Kapitalistische Gesellschaftsformate benötigen dezidiert »eine zweite Arbeitskraft im Windschatten der Lohnarbeit« (Kontos 2015: 79), um dauehaft die Mehrwertproduktion durch Arbeitskräfte realisieren zu können. An der damit einhergehenden Ungleichverteilung von reproduktiver und sorgender Arbeit (vgl. ebd.: 93ff.) hat sich bis in die Gegenwart kaum etwas geändert: »Sichtbar ist eher eine Umverteilung zwischen Frauen, indem Teile der Hausarbeit auf öffentliche und private Dienstleistungen ausgelagert werden, die wiederum von Frauen ausgeübt werden.« (Ebd.: 81; vgl. zur aktuellen Lage im Care-Sektor ebd.: 93ff.)
Somit wandeln sich die arbeitsgesellschaftlichen Formen der Diskriminierung von Frauen, wenngleich das factum brutum einer solchen Intersektion keineswegs zu leugnen ist (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 20f.). 2.1.3.2 US-amerikanische Wurzeln des Begriffs Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw prägte ab 1989 den Begriff der Intersektionalität, indem sie unterschiedliche Rechtsfälle von Women of Color daraufhin befragte, inwieweit Diskriminierungen aufgrund des Vorliegens mehrerer Achsen der Ungleichheit zugleich gegeben seien
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(vgl. Crenshaw 1989; Walgenbach 2014: 61ff.). Die Wurzeln des Begriffs lassen sich bereits in den 1960er Jahren bei den Black Feminists erkennen (vgl. Aulenbacher/Riegraf 2012: 3). In diesem Zusammenhang ist das »Black Feminist Statement« der Gruppe The Combahee River Collective (1992) aus dem Jahr 1977 zu einiger Berühmtheit gelangt. Die Mitglieder dieser Gruppe berichten in diesem Statement über ihre Aktivitäten und den Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen. Mindestens vier Aspekte erscheinen besonders erwähnenswert: Zum einen werden in diesem frühen Dokument der Intersektionalität klar die diskriminierenden Grundlagen benannt, die eine solche Perspektive für die Aktivistinnen nicht nur nahelegte, sondern plausibel machte. Insofern kann die zuvor erwähnte analytischzurückhaltende Position (vgl. Kapitel 2.1) bestenfalls als nachgelagert bezeichnet werden; ihre Ursprünge hat die Intersektionalitätsdebatte jedoch in den benachteiligenden Erfahrungen einzelner. Zum anderen handelt es sich bei dieser Veröffentlichung erkennbar um ein auch politisch-emanzipatorisch motiviertes Dokument, wie die Verfasserinnen betonen: »we are actively committed to struggling against racial, sexual, heterosexual, and class oppression« (The Combahee River Collective 1992: 63). Drittens ist bemerkenswert, dass die Autorinnen bereits im Jahr 1977 zu dem Schluss kommen: »we are dealing with the implications of race and class as well as sex« (ebd.: 66), also bereits sehr früh die Trias der Intersektionalitätsdebatte für ihre Reflexionen nutzen und sie zugleich in der intersektionellen Wechselseitigkeit heranziehen, indem sie auf die damit einhergehenden »manifold and simultaneous oppressions« (ebd.: 63) aufmerksam machen. Zum Vierten ist zu erwähnen, dass sie deutlich machen: »major systems of oppression are interlocking« (ebd.; damit ist dieses Konzept bereits vor 1990 nachweisbar, vgl. anderslautend Lutz et al. 2013: 13). Insofern benennen sie jene makrostrukturellen Besonderheiten des Intersektionalitätsdiskurses, die Möglichkeiten für ein umfängliches Verständnis der Debatte sowie ihre theoretischen, analytischen und praktischen Reichweiten eröffnen: »Gender, Race und Class werden hier nicht als getrennte Kategorien begriffen, sondern zusammengedacht.« (Walgenbach 2014: 56; vgl. ausführlicher die Rezeption von Klinger in 2.1.4). Deutlich wird also, dass der Begriff der Intersektionalität von Anfang an mit Ungleichheit und Erfahrungen der Diskriminierung verknüpft wurde (vgl. Crenshaw 1989: 140). Auf diese Weise zeigt sich, dass die Perspektive der Intersektionalität bei den Benachteiligungserfahrungen von Women
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of Color begann und darin nicht allein bei einer einzigen ›kategorialen Achse‹ ansetzte, sondern mindestens ab The Combahee River Collective zu einem Konzept mehrerer Achsen mit Rassismus-kritischer Perspektive avancierte: »In other words, in race discrimination cases, discrimination tends to be viewed in terms of sex- or class-privileged Blacks; in sex discrimination cases, the focus is on class- and race-privileged women.« (Ebd.)
Das Konzept der Intersektionalität ermöglicht die Erkenntnis, dass tatsächlich stattfindende Diskriminierungen nicht entlang lediglich einer einzigen Achse erfolgen, sondern entlang mehrerer, die sich in einzelnen Personen »schneiden«, dabei zu komplexen Formen von Diskriminierung führen – wobei diese zumeist nicht als solche in den Blick kommen, sondern von »otherwise-privileged« her (oder gar durch sie selbst) interpretiert werden und auf diese Weise jene weiteren diskriminierenden Achsen aus dem Blickfeld rücken. Für diese These liefert Crenshaw (1989) eindrückliche Hinweise in ihren juristischen Darstellungen, die dann in Deutschland nach 2000 ebenfalls mit dem Terminus der Intersektionalität aufgegriffen wurden (vgl. Lutz/Wenning 2001; Krüger-Potratz/Lutz 2002). 2.1.3.3 Deutsche Debatten zur Intersektionalität In Folge der Entwicklung hin zu postfordistischen Erwerbs- und somit Vergesellschaftungsformen (vgl. genauer 2.2.2) wird deutlich, dass aktuell nicht allein Ungleichheits- und Diskriminierungsanalysen die Intersektionalitätsdebatte prägen, sondern nunmehr auch Rückfragen nach Macht (und neoliberaler zumal), etwa im globalen Ungleichheitskontext, hervorrufen (zur postkolonialen Perspektive von Intersektionalität vgl. paradigmatisch Castro Varela/Dhawan 2015: 298ff.).14 Somit können weitere Hinweise auf globale, intersektionelle Zusammenhänge und die davon bestimmten Gesellschaften formuliert werden:
14 Inwieweit US-amerikanische Ansätze eher auf empowerment, deutsche und europäische hingegen auf Dekonstruktion angelegt sind, kann hier nicht weiter diskutiert werden; vgl. einstweilen Winker/Degele 2010: 13f.
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»So wohnen der postfordistischen Konstellation von deregulierter, flexibilisierter, prekarisierter Beschäftigung, vielfältigeren Lebensformen und Wettbewerbsstaat veränderte Geschlechterarrangements und neue Arbeitsteilungen nach Ethnie inne, indem beispielsweise Teile der Haus- und Sorgearbeit im Privathaushalt in neuer Weise und neuem Ausmaß als bezahlte Arbeit von Migrantinnen verrichtet werden, was zugleich die Beziehungen zwischen west- und osteuropäischen Gesellschaften, globalem Norden und Süden verändert« (Aulenbacher et al. 2012: 16).
Deutlich wird, dass nicht allein die kapitalismustheoretische Frage nach den spezifischen Formaten der Akkumulationsregime aufkommt, sondern zugleich weitere Fragen nach Reproduktionsarbeit und gesellschaftlicher Positionierung allgemein. Wie die Autorinnen darlegen, werden damit die »Geschäftsgrundlagen« der Geschlechterverhältnisse, insbesondere der »hegemonialen Männlichkeit« (ebd.: 18), in Bewegung gebracht. Eine in dieser Weise herausgeforderte »neue Form hegemonialer Männlichkeit wird als eine individualistische, flexible, kalkulierende und egozentrische Männlichkeit beschrieben, die ›eher an Macht durch Marktbeherrschung orientiert [ist] als an bürokratischer Herrschaft‹« (ebd.: 19; zitieren Wedgwood und Connell).
Allerdings formuliert beispielsweise Dörre (2010) seine Zweifel, dass diese neuerlich konstruierte Form von Männlichkeit tatsächlich breite Akzeptanz und Umsetzungschancen erfährt und mit der konkreten Hoffnung auf eine ›patriarchale Dividende‹ Männlichkeit wiederum vereinheitlichen könnte (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 19). Aulenbacher et al. sprechen infolgedessen von einer »unternehmerischen Front-Männlichkeit« (ebd.: 20), um Flexibilität, Profitstreben und Aggressivität zugleich zum Ausdruck zu bringen. Solche Front-Unternehmer bieten sich jedoch nach Dörre an den Enden der sozialen Hierarchie wohl recht unterschiedlich dar, wie zudem bereits die Hinweise zum »janusköpfigen Leviathan« (Kapitel 1.1.4.3) erwarten lassen. Werden weiter die jüngsten Bewegungen Geflüchteter und die damit korrelierenden Fragen der Staatsbürgerlichkeit verhandelt (vgl. Scherr 2014a), so wird deutlich, dass die Intersektionalitätsdebatte – und die deutsche zumal – keineswegs an ihr inhaltliches Ende gekommen ist. Vielmehr ergeben sich weitere gesellschaftliche Veränderungen, die nunmehr auch
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von intersektionellen Ungleichheits-, Diskriminierungs- und Machtdiskursen einzuholen sind. Zu diesem Zweck sollen auch die im Anschluss dargebotenen Analysen zu Erwerbsarbeit und der mit ihr verbundenen Bildungsarbeit zum Thema gemacht werden. 2.1.4 Heben und Drehen – die Bergungsarbeit am Strukturmodell der Intersektionalität Bis hierher wurde ein »Theorieangebot mittlerer Reichweite« (Merton; vgl. Kapitel 2.1.1) vorbereitet, das sich auf empirische sowie politischkulturelle Tendenzen der Bürgerrechtsbewegung sowie der Frauenforschung bezog. Es konnte gezeigt werden, dass sich in modernen Gesellschaften Ungleichheiten zu Diskriminierungen steigern und dies entlang bestimmter kategorialer Achsen beschrieben werden kann. Dabei wurde jedoch weder die Frage beantwortet, ob es eine abschließende Liste solcher Diskriminierung erfassenden Kategorien gibt und welche Punkte umfasst, noch wurden die gesellschaftlichen Ankerpunkte und Bezugsebenen einer solchen Theorie beschrieben und begründet. Beide Postulate sollen nunmehr angegangen werden. Zu diesem Zweck werden zwei Theorievorschläge herangezogen, die in jüngerer Zeit im deutschen Diskurs zur Intersektionalität Aufmerksamkeit erlangten: jener von Klinger, den sie selbst mit der Strukturkonstante »Überkreuzende Identitäten – ineinandergreifende Strukturen« bezeichnet (vgl. Klinger 2008), sowie der von Winker & Degele, der sich als Mehrebenenanalyse der Verwobenheit gesellschaftlicher Ungleichheiten beschreiben lässt (vgl. Winker/Degele 2010). 2.1.4.1 Intersektionalität – Analysen der subjektiven Ebene gesellschaftlicher Ungleichheit Klinger schlägt mit ihrem Ansatz zunächst eine strukturelle Doppelgestalt in der Konzeption von Intersektionalität vor: »Obwohl der Terminus Intersektionalität grundsätzlich auch für andere Weisen der Verwendung offen ist, erscheint es sinnvoll, diesem Trend folgend den Begriff Intersektionalität der subjektiven Ebene des Themas gesellschaftlicher Ungleichheit vorzubehalten.« (Klinger 2012b: 1)
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Auf diese Weise gelingt es Klinger, die Kategorien von Diskriminierung dort zu verorten, wo sie auch historisch zuerst ausgemacht wurden – auf der Ebene der Subjektivierung und der darin erfolgenden subjektiven Diskriminierungen. Zugleich tut sich ein neues Problemfeld auf: Kann man Gesellschaft und Subjektivität tatsächlich so strikt voneinander trennen, dass eine Perspektive auf die Kategorien von Ungleichheit lediglich der Subjektivität zugerechnet werden kann und nicht zugleich der Gesellschaft, die doch gewissermaßen als Generator von Subjektivitäten anzusehen ist (vgl. etwa Butler 2001; Foucault 2015a, b, 1976; aber auch in anderer Lagerung der Bezüge von Individuum und Gesellschaft Bourdieu 2009, 2001, 1987)? Diese Einschätzung scheint auch Klinger zu teilen, wenn sie weiter von einem Beeinflussungsverhältnis beider Ebenen spricht und zugleich betont: »ein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis bedeutet keine Identität; die beiden Ebenen gehen nicht nahtlos in einander auf.« (Klinger 2012b: 2) Insofern ist davon auszugehen, dass sich gesellschaftliche Ungleichheit auf subjektiver Ebene als Intersektionalität konzeptualisieren lässt; für die gesellschaftliche Makroebene indes können »an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen« (Winker/Degele 2010: 15) ein anderweitiges theoretisches Zugehen eröffnen, wie später noch ausführlicher dargelegt werden soll. Zunächst jedoch konkretisiert Klinger ihre Auffassung, indem sie auf die »Fragen des Bewusstseins, der Erfahrung und der Befindlichkeit der Individuen« (Klinger 2012b: 2) verweist und insofern weitere Aspekte als allein race, class und gender auf der Ebene der diskriminierten Subjekte ausmacht, deren Anzahl sie als offen und somit unabschließbar ansetzt (vgl. ebd.: 3). Diese Position vermag insofern zu überzeugen, als es mit ihr möglich wird, der empirischen Vielfalt von Formen der Benachteiligung Rechnung zu tragen, da Menschen eben auch aufgrund einer auf ihre körperliche oder geistige Verfasstheit einwirkende Einschränkung, ihrer Staatbürgerschaft und vieler weiterer Faktoren diskriminiert werden können. Theoriestrategisch weiterführend ist dieser Ansatz gerade deshalb, weil er die mitunter leidige Frage nach dem »›Etcetera‹-Problem« (vgl. Walgenbach 2014: 69f.; Winker/Degele 2010: 15ff.) der – nunmehr tatsächlich als unabschließbar kenntlichen – Auflistung von Kategorien strukturell beantwortet: Das »Etcetera« hat seine Berechtigung deshalb, weil es sich auf
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subjektiver Ebene als nicht bloß auf drei Begriffe reduziert zeigt und zugleich deutlich wird, dass die Listung von Benachteiligungen in einer Gesellschaft, die auf subjektiver Ebene dynamischen Veränderungen unterworfen ist, auch künftig strukturell nicht abgeschlossen werden kann. Mit Klingers Ansatz muss sie dies auch nicht mehr und kann dennoch als Konzept einer Rekonstruktion von gesellschaftlicher Ungleichheit und Diskriminierung genutzt werden. 2.1.4.2 Arbeit – Körper – Fremdheit Für die Makrostruktur15 lässt Klinger die Unübersehbarkeit hingegen nicht gelten und macht auch somit darauf aufmerksam, dass die Kategorienfrage dort nicht zur Disposition steht.16 Zunächst legt sie dar: »Unter den vielfältigen Ursachen dieser Entwicklung sind die Prozesse der Detranszendentalisierung und Industrialisierung wohl am wichtigsten.« (Klinger 2008: 44) Industrialisierung mache überhaupt erst eine kapitalistische »Klassenherrschaft« möglich (vgl. ebd.). Insofern ist es bloß konsequent, sich daraus ableitend auf die Suche nach einem einheitlichen Begriff (aber keineswegs zwingend: auch nach einem einzigen Prinzip) von Gesellschaft zu begeben: »Zu einer gültigen und umfassenden Gesellschaftsanalyse und -kritik ist die Definition aller gesellschaftsstrukturierenden Prinzipien unerlässlich.« (Klinger 2012b: 7) Klinger nennt für ihre Auffassung drei Komplexe gesellschaftlicher Organisation:
15 Zwischen subjektiver Mikrostruktur und gesellschaftlicher Makrostruktur kann eine Mesostruktur der Repräsentationen vermitteln, wie es Winker & Degele (vgl. 2010: 21ff.) vorschlagen; diese soll hier weniger strukturell (und somit: stabil) konzeptualisiert werden, sondern als Vermittlung durch (sich mindestens solcherart auswirkende) politische Praxis. Rau ihrerseits unterscheidet zwischen – inhaltlich sehr anders gelagerten – Psychotechniken und Psychopolitik (vgl. Rau 2010: 34ff.). Darin artikuliert sich bereits ein erster Bezug beider Ebenen im tertium comparationis ihrer Psychisierung als Subjektivierung qua Psyche (vgl. ferner Butler 2001; Bröckling 2013). 16 Winker & Degele verweisen auf die Abhängigkeit der gewählten Untersuchungsebene für die »Auswahl der richtigen Kategorien« (Winker/Degele 2010: 16) und artikulieren damit eine evtl. größere Varianz kategorialer Ordnungen.
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1. Arbeit: Herstellung und Verteilung der Lebensmittel sowie Erzeugung und Erhaltung des menschlichen Lebens bis hinein in den Alltag, mit denen eine »Ordnung der Dinge« gegeben sei, die die Arbeit regele, 2. Körper: eine »Ordnung des Lebens«, die insbesondere die Körper organisiere (vgl. ebd.: 7f.) und genderbezogene Performanzen ebenso wie Aspekte von Alter oder Gesundheit beinhaltet (vgl. Winker/Degele 2010: 40f.)17, 3. Fremdheit: Die Entstehung ethnischer Scheidelinien bringt Klinger mit dem Untergang des religiös fundierten ancien régime in Verbindung (vgl. Klinger 2008: 47f.). Diesen Gedanken konkretisierend merkt Klinger an: »Zu Arbeit und Körper kommt als dritte Strukturkategorie Fremdheit hinzu. Unter diesem Titel geht es um den Anspruch des Einen/Eigenen auf Herrschaft über das Andere/Fremde. So gut wie keine herrschaftlich organisierte, auf Herrschaftserwerb, -erhalt und -ausdehnung angelegte Gesellschaft ist je ohne den An- und Ausgriff auf fremde Menschen und Dinge ausgekommen.« (Klinger 2012b: 10)
Damit vermag Klinger, die Trias von race, class und gender in übersubjektiven, gleichwohl historisch kontingenten Konstanten hermeneutisch zu verorten. Wie sich diese Konstanten allerdings darstellen, wie sie organisiert werden und zu wessen Vor- oder Nachteil – dies wird je nach gesellschaftlicher Form unterschiedlich sein und eröffnet für die Gesellschaften einer neoliberalen Moderne die Möglichkeit, subjektive Diskriminierungen als neoliberale innerhalb der spezifischen gesellschaftlichen Formation von Arbeit, Körper und Fremdheit zu analysieren. Sodann stellt sich die Frage nach der Kohärenz dieser drei Strukturmomente.
17 Die AutorInnen fassen Gender und Körper als zwei auch auf struktureller Ebene differente Kategorien (vgl. Winker/Degele 2010: 39ff.). Dem soll hier nicht gefolgt werden, da Genderaspekte auf intersubjektiver Ebene im Hinblick auf körperliche Performanz »produziert« werden (vgl. ebd.: 20). Zur forschungsmethodologischen Herausforderung von Performanz der Arbeit und deren soziostrukturellen wie ethnographischen Konsequenzen vgl. Spittler 2016: 22.
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»Eine adäquate und produktive Beschäftigung mit dem Thema Intersektionalität setzt die Bergungsarbeit an den Strukturkategorien voraus, die Lösung der schwierigen Aufgabe, in der doppelten Bewegung von Hebung und Drehung einen kategorialen Umbau zu bewerkstelligen.« (Ebd.: 18f.)
In ihrer Arbeit an den Kategorien greift Klinger auf Hill Collins (1995) zurück, wobei deren terminologisch Anleihen beim »Black Feminist Statement« nicht übersehen werden können. So nutzen alle drei den Hinweis auf »the fact that the major systems of oppression are interlocking« (The Combahee River Collective 1992: 63), um mit diesem makrostrukturellen Konzept darauf aufmerksam zu machen, dass jene ›ineinandergreifenden Unterdrückungssysteme‹ von Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus eine einzige, »insgesamt herrschaftlich organisierte Gesellschaftsformation« (Klinger 2012b: 19) ergeben. Versteht man nun Unterdrückung als eine Resultante von Herrschaft (vgl. Klinger 2008: 59), so lässt sich mit Klingers Ansatz dreierlei gewinnen: 1. für das Verständnis der Mikroebene eine Gesamtdeutungsfolie individueller und gruppenbezogener Diskriminierungen in ihren höchst unterschiedlichen intersubjektiven Formen, 2. für das Verständnis der Makroebene ein Verständnis der ›in ihren Differenzen integrierten Gesellschaftsstruktur‹ (vgl. Klinger 2012b: 19), die auf dem Komplex aus Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus fußt, 3. für das Verständnis der Politiken auf der Mesoebene muss mit der zuvor ausgeführten Analyse des Neoliberalismus zugleich deutlich gemacht werden, dass eine solche Gesellschaftsformation weit eher auf ›Verwalten, und nicht mehr Reglementieren‹ (vgl. Foucault 2015b: 506) in ›janusköpfiger Form‹ (vgl. Wacquant 2009: 314) abzielt. Vor dem Hintergrund einer hierarchischen, insofern zwar auf einer gemeinsamen Ebene von Praxis allgemein verorteten (vgl. Winker/Degele 2010: 68ff.), dabei jedoch mit unterschiedlichen Funktionalitäten dieser Praxis rechnenden Theoriekonzeption ist die Frage zu stellen, was sich denn in den Makrostrukturen schneidet, wenn nicht die soziale Produktion von in-
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tersubjektiven Kategorien.18 Zunächst nämlich scheinen hier bloß drei Logiken der Rekonstruktion von Vergesellschaftung nebeneinander zu bestehen. So formulieren Winker & Degele, dass sich Herrschaftsverhältnisse in Strukturen zum Ausdruck bringen, aber zugleich von Menschen gemacht seien (vgl. ebd.: 69). Es ist ihnen zuzustimmen, dass auf einer gesellschaftlichen Ebene strukturelle Materialisierungen von Herrschaft auszumachen sind (etwa in Gesetzen, aber wohl mehr noch in den ›ungeschriebenen Gesetzen‹ sozialer Ausgrenzungen). Ferner wird mit Blick auf die Geltungsansprüche der Herrschaftsformen recht bald deutlich, dass sie sich nicht erst auf subjektiver Ebene überschneiden, sondern bereits auf der Makroeben der Geltung: Ressourcen (Kapitalismus) werden in den Genderkategorien und je nach nationaler Inklusion höchst unterschiedlich verteilt; Identifizierung (Patriarchat) erfolgt u.a. nach Ressourcenausstattung und im Hinblick auf national-ethnisierende Attribuierungen; territorial definiert (Nationalismus) werden – trotz einer globalisierten Ökonomie – noch immer wirtschaftsrechtliche und -politische Reglements sowie spezifisch hegemoniale Männer- und Frauenkonzepte. Es ergibt sich somit der intersektionell generierte Begriff einer neoliberalen Differenz-Gesellschaft, die sich aus »Differenzierungen der ungleichheitsbegründenden Differenzen« (Lenz 2014: 854) mit den politischen Mitteln des Neoliberalismus speist und die Trias von Arbeit – Körper – Fremdheit nutzt, um in unternehmerischer Form die individualisierte Zuteilung von Ressourcen und den ebensolchen Ausschluss von Zugängen zu ihnen durch die Realisierung von Machtbeziehungen zu codieren, zu organisieren – und ebenso zu beherrschen wie durch sie zu herrschen. Von Klinger werden die Sphären von Arbeit und Leben auf diesem Weg strikter und schärfer voneinander getrennt als andere funktionale Zusammenhänge moderner Gesellschaften, und sind gerade deshalb besonders aufeinander verwiesen, so das Ergebnis ihrer Rekonstruktion der Verschiebungen innerhalb des Patriarchats und seines gesellschaftlichen Ortes angesichts der Industrialisierung (vgl. Klinger 2008: 45f.). Doch sie erläutert
18 Walgenbach schlägt vor, wohl um essentialistisches Denken zu vermeiden, anstelle der Überschneidungen in der Intersektionalität von Konfigurationen und interdependenten Kategorien auszugehen (vgl. 2014: 65). Es müsste vermieden werden, dass auf diesem Weg wiederum Unterschiedenes lediglich kombiniert wird, nun nicht mehr numerisch, so doch funktional.
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hierzu: »Die Arbeitswelt komplementiert die Lebenswelt nicht, wohl aber kompensiert die Lebenswelt die Mängel der Arbeitswelt.« (Ebd.: 46) Das dabei herausgebildete Verhältnis dieser beiden Sphären sei »ein verkehrtes« (ebd.). Im Anschluss an Klingers Hinweisen zum Geschlechterverhältnis lassen sich weitere Ableitungen zur intersektionellen Entwicklung von Unterdrückung ausmachen. Sie schreibt diesbezüglich: »So wie unbeschadet aller Tendenzen zur Versachlichung das alte HerrKnecht/Magd-Verhältnis im neuen Klassengewand erhalten bleibt, so überlebt auch das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern seine Modernisierung.« (Klinger 2012b: 47)
Eher scheint es, dass sich »das Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern« weiter ausdifferenziert in die Herrschaftsverhältnisse solcher Männer, die nach wie vor einer hegemonialen Männlichkeit – nun ihrerseits ›im neuen Gewand‹ – frönen, jenen Männern (marginalisierter Milieus und niederer sozialer Klassen), denen das sozioökonomisch bedingt nicht möglich ist, und den Frauen, bei denen es mindestens ebenfalls jene Zweiteilung in Gewinnerinnen und Verliererinnen der neoliberalen späten Modernisierung auszumachen gibt (vgl. Connell 2015; Aulenbacher et al. 2012; Lenz 2014). Vor dem Hintergrund der für den deutschen Kontext rekonstruierten Befunde zur historischen Genese der Verberuflichung der Frauen und zur Frauenforschung (vgl. Kapitel 2.1.3) müsste nunmehr die Analyse gesellschaftlicher Faktoren und Zusammenhänge von Herrschaft in den Formen von Arbeit – Körper – Fremdheit jene der Reproduktion aufgreifen und ihrerseits »intersektionell« integrieren. Mithin würden gerade die Perspektiven der Intersektionalität ihrerseits dazu dienen können, auch die in Wandlung begriffenen subjektiven posita auf ihre gesellschaftlichstrukturellen Diskriminierungen hin abzusuchen und dabei wohl gleich mehrfach und je nach Kombination in unterschiedlicher Weise fündig zu werden. 2.1.4.3 Ein Strukturmodell intersektioneller Komplexidentitäten der neoliberalen Differenz-Gesellschaft Vor dem Hintergrund der bislang vorgelegten Analyse soll nunmehr ein die bisherigen Aspekte, Kritiken und Erträge aufgreifendes Konzept von Inter-
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sektionalität skizziert werden, um die Genese neoliberal formierter Komplexidentitäten zu beschreiben. Dabei soll der Hinweis Klingers berücksichtigt werden, hinsichtlich der bisherigen Strukturmodelle »in der doppelten Bewegung von Hebung und Drehung einen kategorialen Umbau zu bewerkstelligen.« (Klinger 2012b: 18f.; vgl. Kapitel 2.1.4.2) Der Hebung bedarf es insofern, als die Analyse der vielfältigen und prinzipiell unabschließbaren Formen subjektiver Benachteiligung auf die gesamtgesellschaftliche Makroebene gehoben werden müssen, um die dortige Trias der Herrschaftsformen zu gewärtigen, zu untersuchen und in ihrer Bedeutung für die Mikroebene zu analysieren. Dazu wiederum ist es erforderlich, die Gesamtstruktur aus Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus nicht als isoliert nebeneinanderstehende Formate zu konzeptualisieren, sondern als dergestalt in einander gedreht aufzufassen, dass deren Nebeneinander durch ein Geflecht aus »interlocking« (The Combahee River Collective 1992: 63; vgl. Kapitel 2.1.3.2 und 2.1.4.2), also ineinandergreifenden Strukturmomenten ersetzt wird. Dabei wird aus Gründen der Darstellung – und der Aufrechterhaltung einer pluralen Struktur, um nicht einem epistemologischen Monismus zu unterliegen – dennoch jeweils eines der drei Herrschaftsformate in seinen Überkreuzungen und Verwicklungen nachzuvollziehen sein, doch ist dabei insgesamt an der Gewebestruktur der gesellschaftlichen Makroebene anzusetzen. Diesem Unterfangen gelten die nun folgenden Ausführungen. Die Herrschaftsformen Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus werden auf der strukturellen gesamtgesellschaftlichen Makroebene als ›ineinandergreifende Unterdrückungssysteme‹ (The Combahee River Collective), also als gemeinsames Geflecht komplexer Vergesellschaftungen durch ausdifferenzierte Ungleichheiten aufgefasst (vgl. Kapitel 2.1.2). Dabei entstehen im Neoliberalismus jeweils spezifische Lagen von Ungleichheit, die unter kapitalistischer Maßgabe als subjektives Unternehmertum fungieren (vgl. Kapitel 2.1.4.2), unter patriarchaler Bedingung zu differenten (insofern nicht mehr allein binären) Konzepten von Mann- und von Frau-Sein (vgl. ebenfalls Kapitel 2.1.4.2) sowie unter Ansatz des Nationalismus als Legitimierungen nach Staatsbürgerschaft führen (vgl. Kapitel 2.1.3.3). Vergleicht man die Praktiken gesellschaftlicher Positionierung, so wird deutlich, dass unter der Perspektive des Kapitalismus (mindestens: wieder) Klassenstrukturen funktional werden (vgl. Kapitel 2.1.2 sowie 2.1.3.1), unter der des Patriarchats hegemoniale Versionen von Geschlecht
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ihre Wirkung entfalten (vgl. Kapitel 2.1.3.1 und 2.1.3.3) und es in der nationalistischen Prägung noch immer binäre Ordnungen nach ›wir‹ und ›sie‹ gibt. Im Hinblick auf die subjektiven Formate von Ungleichheit haben die Herrschaftsformen ebenfalls spezifische Auswirkungen. So sind die kapitalistischen Maßgaben der Makroebene für eine unterschiedliche Ressourcenverteilung auf der Mikroebene entlang der Klassengrenzen relevant, die somit z.B. Formate der Geschlechterrollen vorgeben und bestimmte Formate der Anerkennung über Kapitalvermögen (Bourdieu) möglich machen oder verunmöglichen. Die patriarchale Struktur formuliert Identitäten, die sich ihrerseits auf Ressourcenzugänge und Ausmaß wie Form von Anerkennung auswirken können. Schließlich determiniert der Nationalismus auf der Makroebene Formen und Intensitäten subjektiver Anerkennung, die ihrerseits beispielsweise Konsequenzen für Markt- und Ressourcenzugänge (z.B. durch Arbeitserlaubnisse) oder auch Komplexidentitäten (als migrantische Unternehmerin, Akademiker mit Behinderung und deutscher Staatsbürgerschaft o.a.m.) ergeben. Wie bereits dargestellt, sind die Unterschiede auf der Makroebene nicht eineindeutig abbildbar auf jene der subjektiven Mikroebene, sondern entwickeln dort weitere ›Ausdifferenzierungen als ungleichheitsbegründende Differenzen‹ (vgl. Lenz 2014: 854) der Makroebene. Die verschiedenen Herrschaftsformen haben zuletzt auch Konsequenzen für die neoliberale Regierung als Vermittlung zwischen Makro- und Mikroebene. So ergibt sich aus der kapitalistischen Strukturierung und dem subjektiven Unternehmertum das Regierungsformat des Subjektivierens (vgl. Butler 2001; Foucault 2015a). Das Patriarchat regiert die Abweichungen von der Geschlechternorm (die, wie bereits erwähnt, dazu nicht mehr zwingend eine binäre sein muss), indem es normalisiert, also in ›normale‹ und ›nicht normale‹ Ausdrucksformen differenziert (vgl. Foucault 2007). Schließlich werden nationalistische Regierungsbestrebungen durch Alterisieren verwirklicht (vgl. Böhmer 2013c). Warum also, so soll abschließend gefragt werden, diese Trias der Herrschaftsformen und der analytischen Ebenen? Welche – weder essentialistische noch monistische – Gesamtkonzeption lässt sich eruieren, mit der eine solche Verflochtenheit mannigfaltiger Benachteiligungen und Überschneidungen interpretiert werden kann? Hier soll die These vertreten werden, dass nicht eine kapitalismustheoretische Position »vor die Klammer«
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(Winker/Degele 2010: 37) der intersektionellen Theorie gesetzt werden muss, um einem solchen Komplex auf die Spur zu kommen. Im Folgenden soll vielmehr die These vertreten werden, dass es angesichts des vielfältig beschriebenen Krisenverlaufs kapitalistischer Gesellschaftsformate kaum plausibel ist, das – nahezu kontrafaktische – Fortbestehen des Kapitalismus trotz aller Krisen in erster Linie durch ihn selbst zu erklären. Vielmehr würde es sich anbieten, im Zuge poststrukturalistischer Interpretationsmodi die Fragen von Macht zur Verfügung über Ressourcen/Kapitalien analytisch in Anschlag zu bringen, um so auf eine »insgesamt herrschaftlich organisierte Gesellschaftsformation« (Klinger 2012b: 19) zu reflektieren, bei der übrigens der Staat als eigener Stabilisierungsfaktor fungiert (vgl. Kocka 2015: 15). Damit könnte sich zeigen, ob, inwieweit und in welcher jeweils kontingenten Artikulation die Herrschaftsformen Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus einander zum wechselseitigen Fortbestehen verhelfen und dabei jeweils neue Performanzen realisieren. Inwieweit eine intersektionelle Konzeption für die im empirischen Zusammenhang zu erbringenden Analysen angemessen ist, inwieweit sie durch den Rückgriff auf die Politiken und die Strukturen der Makroeben aufklärend sein kann, sollen die folgenden Darstellungen am Beispiel der Erwerbsarbeit darstellen. Dabei ist stets mit zu bedenken, dass es die Unterschiede sind, die Unterschiede machen – für die Individuen ebenso wie auf der Makroebene der Gesamtgesellschaft.
2.2 D IE NEOLIBERALE E RWERBSARBEITSGESELLSCHAFT Unterschiede machen Unterschiede – so lässt sich die bisherige Analyse der Benachteiligungen als intersektioneller Komplex der Diskriminierung auf der Makro- ebenso wie als diskriminierende Praxis auf der Mikroebene zusammenfassen. Im nächsten Schritt sollen nun solche Unterschiede genauer untersucht werden. Dabei richtet sich der Blick auf jene, die sich historisch als maßgeblich erwiesen haben, um Menschen in die Gesellschaft europäisch-westlicher Muster zu integrieren: die Arbeit – und insbesondere die Erwerbsarbeit als existenzsichernde und statusvermittelnde berufliche Tätigkeit, die zumeist getrennt wird von als privat aufgefassten Zusammenhängen der Reproduktion. Denn: »Einkommen, Karriere, gesellschaftliche
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Prosperität, letztlich die Sozialstruktur der Gesellschaft – all dies beruht nach wie vor auf Erwerbsarbeit.« (Minssen 2006: 17) Unter »Erwerbsarbeit« ist zunächst jegliche Tätigkeit zu verstehen, die der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen dient, die ihrerseits auf einem Markt angeboten werden; diese Tätigkeit ist dazu bestimmt, die zur Daseinsvorsorge notwendigen Mittel zu erwirtschaften. Das so gewonnene Einkommen kann mittelbar (in abhängiger Arbeit) oder unmittelbar (in selbständiger Arbeit) aus der Veräußerung des Produzierten gewonnen werden (vgl. Kocka 2001: 10; Kocka/Offe 2000: 10). Daraus erwachsen verschiedene Formen von Einkommen, die – in unterschiedlichem Umfang – zur Existenzsicherung beitragen sowie der sozialen Positionierung und der Vermittlung von gesellschaftlichem Status dienen sollen. Die Verbindung von Existenzsicherung, Statusvermittlung und Machtverteilung durch Erwerbsarbeit wird für gewöhnlich nicht in Zweifel gezogen (vgl. Kocka 2001: 10f.). Zugleich reicht die gesellschaftliche Funktion von Erwerbsarbeit noch weiter. So beschreiben Hoffmann & Meyer-Lauber vier Kernfunktionen von Erwerbsarbeit, die sie wie folgt aufschlüsseln: • • •
•
»die Funktion der individuellen Einkommenssicherung, die Funktion von Erwerbsarbeit als Grundlage des Wohlfahrtsstaates, die psychosoziale Funktion von Erwerbsarbeit als prägendes Element der Persönlichkeitsbildung und der eigenen Identität sowie als wesentliche Voraussetzung für psychische Gesundheit und soziale Anerkennung, die Erwerbsarbeit als Voraussetzung bürgerschaftlicher Integration« (Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 29).
Auf diese Weise wird deutlich, dass (Erwerbs-)Arbeit bislang gleich mehrere gesellschaftliche Funktionen erfüllt, dabei individuelle Existenzsicherung im Konzert mit gesellschaftlicher Integration und wohlfahrtsstaatlicher Absicherung stabilisiert und somit in toto als grundlegender Mechanismus eines kapitalistischen Gesellschaftsformats verstanden werden kann. Mehr noch: Nicht allein werden individuelle Existenzen gestützt und sozial positioniert, zugleich wird auch eine solche gesellschaftliche Dynamik reglementiert.
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»Der Geist des Kapitalismus als ›normativer Stützpunkt‹ bindet die Mitglieder der Gesellschaft, beschränkt damit gleichzeitig aber auch die ungezügelte Akkumulation.« (Nies/Sauer 2012: 37)
Wie Existenzsicherung praktiziert wird, wie Menschen sich zu sich und zu den anderen in ein Verhältnis setzen – dies alles wird nach Nies & Sauer durch den »Geist des Kapitalismus« bestimmt und kann somit auch die Maßstäbe für eine zügellose Ausbeutung von Menschen und Ressourcen einhegen. Dass dieser Geist indes die Ausbeutung und Vernutzung von Menschen und Ressourcen keineswegs außer Kraft setzt, wird noch andernorts ausführlicher darzustellen sein (vgl. Kapitel 2.2.4.2). Ihre These konkretisieren die AutorInnen denn auch dahingehend, dass Autonomiebestrebungen in den Kapitalismus integriert worden seien. Zumindest auf diese Weise erscheint der »Manchester-Kapitalismus« nicht mehr in einer Weise erwartbar zu sein, die sich allerdings historisch sehr wohl, etwa im Hinblick auf »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (Engels 1972; vgl. Peter 2014) des 19. Jahrhunderts, nachweisen lässt. Damit zeigt sich bereits der geschichtlich und geographisch spezifische Ort der hier aufgeworfenen Frage nach Arbeit, Gesellschaft und Subjektivität. Allerdings ist diese Sicht keineswegs die einzig möglich und muss daher in ihrer Relationalität wie Relativität angemessen eingeschätzt werden: »Unser Verständnis von Arbeit wird wesentlich von der Erwerbstätigkeit bestimmt, wie sie sich mit der kapitalistischen Industrialisierung herausbildete. Nach einer verbreiteten Ansicht ist Arbeit instrumentell strukturiert und zeitlich, räumlich und sozial von den privaten Bezügen getrennt. Die Unterscheidung von Arbeit und Leben bildet den Rahmen für die Analyse. Vor der kapitalistischen Industrialisierung war nach dieser Auffassung Arbeit nicht klar vom Leben getrennt, sie war vielmehr räumlich, zeitlich und sozial in das Alltagsleben der Familie eingebettet. Im strengen Sinne konnte man dabei gar nicht von Arbeit sprechen. So lautet die große Erzählung, an der sich Soziologen, Ethnologen und Historiker orientieren.« (Spittler 2016: 1f.)
Diese Auffassungen hinterfragt Spittler in seinen umfänglichen ethnographischen Sozialstudien zur Erwerbsarbeit in Europa und den USA in differenzierter Weise. Ein solcher Weg kann im vorliegenden Band indes nicht ebenso eingeschlagen werden. Doch zeigt sich bereits hier, dass Erwerbs-
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arbeit, wie sie nunmehr historisch, systematisch und schlussendlich bildungstheoretisch reflektiert werden soll, keineswegs so selbstverständlich ist, wie man gemeinhin annehmen könnte. Differenzierte Rekonstruktionen tun not, wenn die mit den historischen Konkretisierungen einhergehenden Möglichkeiten und Herausforderungen für die Frage nach angemessenen Formen von Bildungsarbeit ausgelotet werden sollen. Wie sich die aktuelle Formation von Arbeit und Gesellschaft im Einzelnen entwickelt hat, welche Formen von Unterscheidungen und Benachteiligungen sich daraus ergeben, dies soll Gegenstand der nun folgenden Darstellungen sein. 2.2.1 Arbeit in der Moderne Arbeit hat die Moderne geprägt wie kaum eine andere menschliche Tätigkeit. Dieser Schluss legt sich nahe, wenn man die Theorien zur Modernisierung von Gesellschaften strukturell betrachtet. So liegen Modernisierungstheorien etwa nach Auffassung Steuerwalds für gewöhnlich drei Annahmen zugrunde: Zum einen würden immer mehr Menschen Teile des Zusammenhanges von Erwerbsarbeit, zum Zweiten entwickelten unterschiedliche Sektoren der Wirtschaft die Vorherrschaft über die Ökonomie im Ganzen und zum Dritten werde es eine Steigerung der Wirtschaftsleistungen gerade durch einen Vermehrten Einbezug von Menschen in die Produktionszusammenhänge geben (vgl. Steuerwald 2016: 185ff.). Damit wird deutlich, wie Menschen, ihre Arbeit und die sich damit ergebenden ökonomischen und gesellschaftlichen Konsequenzen nach Steuerwald »Geschichte schreiben«. Doch liegen die Konsequenzen für die konkreten Formen der Vergesellschaftung wie der Subjektivität in den historischen und geographischen Details – wer wann und wo auf welche Weise arbeitet, hat Folgen für die Menschen und die von ihnen erlebten gesellschaftlichen Realitäten. Diese Realitäten sollen nun in einem kurzen historischen Rekurs skizziert und für ein angemessenes Verständnis der aktuellen Konstellation von Arbeit, Gesellschaft und Subjektivität ausgewertet werden, um ein historisches sowie strukturelles Verständnis für die konkret gegebenen Formen der Arbeitsgesellschaft19 zu erlangen.
19 Zum Begriff der Arbeitsgesellschaft mit ihrer Vergesellschaftung über Erwerbsarbeit, normierenden gesellschaftlichen Institutionen und Leistung als Legitimation sozialer Ungleichheiten vgl. Daheim/Schönbauer 1993: 5.
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Kocka notiert in seiner historischen Rekonstruktion des gesellschaftlichen Arbeitsverständnisses im Europa des Mittelalters: »In der europäischen Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gewann Arbeit dann zentrale Bedeutung. Ehrbare Arbeit war nun Basis genossenschaftlicher Vergesellschaftung und mit Freiheit und Stadtbürgerrecht positiv verknüpft, diametral anders als in der antiken Polis.« (Kocka 2001: 8)
Im Unterschied zur Antike avancierte Arbeit nunmehr zum Signet sozial geachteter »Ehrbarkeit«, der Vergesellschaftung allgemein und der individuellen Freiheit. Diese Umwendung des Arbeitsverständnisses erhielt im 17. und 18. Jahrhundert abermals Aufschwung; in diesem Zeitraum »kam es nachgerade zur emphatischen Aufwertung der Arbeit als Quelle von Eigentum, Reichtum und Zivilität bzw. als Kern menschlicher Selbstverwirklichung« (ebd.). Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist Arbeit als menschliche Artikulation von gesellschaftlicher Bedeutung, praktischer Konsequenz und konstitutiver Bedeutung für das Selbstbild der Menschen zu bezeichnen.20 Diese Entwicklung setzte sich fort und entwickelte ihre – höchst ambivalenten – Konkretisierungen im Zuge der Industriellen Revolution und ihrer Folgen (vgl. detailreich Wehler 1995: 106ff.). Die FabrikarbeiterInnen der frühen Industrialisierung nämlich waren etwa im Züricher Oberland keineswegs Bauern oder anderweitig qualifizierte HandwerkerInnen mit Landbesitz. Vielmehr galt für diese Region im 19. Jahrhundert: »Es sind die arbeitslosen Spinner und deren Kinder, die schon bisher durch das Rastsystem ihre Familienbande gelöst haben. Die vielen Kinder, die schon von klein auf in der Fabrik arbeiten, bilden dann das Reservoir für die erwachsenen Fabrikarbeiter.« (Spittler 2016: 249)
In der Frühzeit der Industrialisierung waren es also zunächst jene in »prekärem Status«, die von ihren Problemen der Arbeitslosigkeit sowie der
20 Aus Platzgründen können die Bedingungsfaktoren dieses Prozesses bestenfalls angedeutet werden: Aufklärung, politische Emanzipationsbewegungen, aber auch technische, technologische und theoretische Entwicklungen jener Zeit (zur deutschen Geschichte aus der Perspektive auf ein ›langes 19. Jahrhundert‹ – von 1789 bis 1914 – vgl. Hein 2016).
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Kinderarbeit in nunmehr industrialisierten Zusammenhängen der Heimarbeit (»Rastgeben«) Distanz zu gewinnen vermochten. Zwar konnten die in der Fabrik Tätigen wieder kündigen und verfügen somit über ein gewisses Maß an basaler Entscheidungsfreiheit, dennoch waren die Fabrikordnungen in einer derart strikten Weise gehalten, dass sich alsbald Kritik daran breitmachte (vgl. ebd.). Insofern zeigt das Beispiel aus dem Züricher Oberland die Doppeldeutigkeit einer solchen Arbeitsentwicklung, die einerseits neue und eventuell lukrativere Erwerbsmöglichkeiten eröffnete, andererseits aber eine ebenso neue Disziplin erforderte und Arbeitsbelastung ergab. Die frühere Prekarität der Heimarbeit wurde durch die neue Prekarität der Industriearbeit ersetzt. Solche Transformationen von Arbeit waren in ihren grundlegenden Strukturen und Prozessen ebenso formgebend für kapitalistische Industriegesellschaften jener Zeit, wie sich weitere Binnendifferenzierungen innerhalb des Industrieproletariats ergaben (vgl. Wehler 1995: 140ff.).21 Indem sich eine erhöhte Produktivität erzielen ließ und ein merkliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war, kam es ab den 1860er Jahren in Deutschland zu einer Steigerung der Lebensstandards auch für größere Teile der Bevölkerung. Damit galt: »Lohnarbeit auf vertraglicher Grundlage wurde nun zum Massenphänomen. Die Arbeitsbeziehungen wurden kapitalistisch, das heißt abhängig von schwankenden Arbeitsmärkten, strikterer Kalkulation unterworfen und Gegenstand direkter Aufsicht durch Arbeitgeber und Manager.« (Kocka 2015: 11)
Wieder einmal zeigen sich die ambivalenten Konsequenzen solcher Modernisierung, wie eine allmähliche Zunahme ökonomischen Wohlstands auch für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, so dass nunmehr der sog. Familienlohn möglich wurde, also die Entlohnung des arbeitenden und männlichen »Ernährers« in einem Maß, das eine gesamte Familie existenz-
21 Zugleich zeigten sich – nicht minder formgebende – weitere Strategien gesellschaftlicher Positionierung in anderen gesellschaftlichen Feldern, wie die geradezu restaurativen Vermählungen zwischen Töchtern wohlhabender Industrieller und Söhnen aus »jenen Adelsfamilien [...], wo zwar die Patina des Namens, aber keine hinreichende wirtschaftliche Substanz mehr vorhanden war.« (Wehler 1995: 121; vgl. weiter 123).
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sichernd finanzieren sollte. Das Modell des male breadwinner etablierte sich zunehmend (vgl. detaillierter Kapitel 2.2.3). Die Kehrseite dieser Entwicklung schlug sich allerdings im Verlust von Freiheitsgraden in der Planung und Durchführung der eigenen Arbeit sowie der fortgesetzt gesteigerten Kontrolle von Arbeitstätigkeiten nieder. Die Loslösung aus der vormaligen Produktionsform, der Heimarbeit als Verbindung von Erwerbsstätte und alltäglichem Leben, eröffnete zugleich neue Sozialkonzepte, auch für die Ordnung der Geschlechter: »Das auf Separierung der Sphären von Leben und Arbeit angelegte LebenssorgeRegime des 19. Jahrhunderts setzt Autonomie und Authentizität, Humanität, Freiheit, Liebe, Bildung ins Zwielicht von Überhöhung und Unterordnung.« (Klinger 2012a: 262f.)
Es entstand die ambivalente Ordnung aus Kulturalisierung und Kontingenz der ›weiblichen‹ Sphäre (vgl. ebd.); zugleich konnten sich die ›männliche‹ Sphäre von Arbeit und Öffentlichkeit sowie die ›weibliche‹ des Privaten und Reproduktiven zusehends auseinanderentwickeln und doch aufeinander verwiesen bleiben, wie das Beispiel der »arbeitenden Frauen [...] mit ihren diskriminierend niedrigen Löhnen« (Wehler 1995: 147) deutlich macht. Damit verbunden war eine gesellschaftliche Option der Effizienz: »Indem der Preis der menschlichen Kontingenz (Natalität, Morbidität, Mortalität) in den öffentlichen Haushalten, in den Kosten-Nutzen-Kalkülen der Betriebe nicht in Rechnung gestellt werden muss, werden Wirtschaft und Gesellschaft, Markt und Staat entlastet.« (Klinger 2012a: 262)
Wie bereits im Hinblick auf die Wurzeln der Intersektionalität in den Debatten der deutschen Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. Kapitel 2.1.3.1) deutlich wurde, entledigt sich eine solche, auf Verbrauch der Ressourcen setzende Arbeitsgesellschaft ihrer Mehrkosten für emotionale und existentielle Reproduktion. Eine solche Lebenskonzeption war aber für viele Männer, Frauen und ihre Familien bereits ökonomisch nicht leistbar (vgl. ebd.) und stand insofern als Modell des male breadwinner ohnehin stets nur bestimmten gesellschaftlichen Gruppen offen (vgl. ausführlicher Kapitel 2.2.3).
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Um die 1900er Jahre erfolgte die Fürsorgetätigkeit nicht allein durch Frauen, sondern nunmehr auch den Staat (beginnend mit Bismarck; vgl. Klinger 2012a: 263). Auf diese Weise konnte innerhalb des Erwerbsarbeitsregimes eine weitere Stufe der Risikoabsicherung erklommen werden, die für viele Akteure Vorteile bot: Die Arbeitenden selbst wurden gegen die Risiken ihres Arbeitslebens abgesichert, die Arbeitgeber konnten verlässlicher auf motivierte und psychosozial stabile Arbeitskräfte zurückgreifen, staatliche Akteure wiederum mussten, z.B. angesichts der Bismarck’schen »Revolution von oben« ab 1883, eine Bedrohung ihrer Macht durch aggressive Selbstvertretung der Arbeitenden weit weniger fürchten. Diese hier knapp dargestellten Meilensteine der gesellschaftlichen Entwicklung von Arbeit sollten allerdings nicht über die vielfältigen und komplexen Pfade hinwegtäuschen, auf denen sich die einzelnen Zwischenhalte der Entwicklung jeweils einfanden (vgl. z.B. für die Überkreuzung von weiblicher Dekommodifizierung und der von zahlreichen Kriegsversehrten infrage gestellten männlichen Erwerbsarbeit nach dem Ersten Weltkrieg Raab 2011: 95f.). Alle diese Entwicklungen – die Industrialisierung, die praktische Dichotomie der Geschlechterorte »Arbeitsplatz« und »Privatsphäre«, gesellschaftlich verankerte Risikoabsicherung und dadurch Befriedung der Klassenunterschiede – lassen sich deuten als Folgen, Bedingungen sowie Grundlagen der sich im Lauf der Jahrhunderte wandelnden Arbeitsformen. Insofern ist zu fragen, welcher Art der Arbeitsbegriff sein soll, der nicht allein historisch kontingente Ausdrucksgestalten bezeichnet und insofern die bereits des Öfteren erwähnte Mikroebene auszuleuchten vermag, sondern ein solcher, der auf der analytischen wie theoretischen Makroebene das Gemeinsame aller historischen und gesellschaftlichen Zufälligkeiten, das tertium comparationis in historischer, sozialer und subjektiver Hinsicht zu erfassen vermag, mit dem sich solche übergreifenden Rekonstruktionen erst erstellen lassen und die zugleich mindestens eine Ahnung davon zu vermitteln verstehen, welcher Art eventuell die zeitgenössischen Artikulationen und Tendenzen sind, die den Arbeitsbegriff berühren. Dabei kann der – gewissermaßen intersektionell zu rekonstruierenden – Forderung an eine Reflexion auf den Arbeitsbegriff einiges abgewonnen werden, die bisherigen, ihrerseits historisch und gesellschaftlich gewachsenen, Diskriminierungen zu reflektieren und in der kritischen Rezeption nicht schlicht zu verlängern (vgl. Notz 2014: 175). Insofern ginge es nicht allein um einen neu-
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en Begriff von Arbeit oder Wirtschaft (vgl. ebd.: 176), sondern weit mehr noch um einen revidierten Begriff von Gesellschaft und Subjekt, die ihrerseits in Bildungsprozessen miteinander vermittelt werden. Was die analytische Trennung zwischen produzierender und reproduzierender Arbeit betrifft, kann sie weder fortgesetzt noch schlicht als außer Kraft gesetzt verkündet werden; sie muss ebenso analytisch rekonstruiert, unter der Maßgabe des vorliegenden Bandes insbesondere auf ihre diskriminierenden Momente, Prozesse und Strukturen befragt und schließlich auf dieser Grundlage kritisch reformuliert werden. Insofern sollen nunmehr zwei relevante, wenn auch allzu grob gegeneinander abgegrenzte, Phasen der Entwicklung von Erwerbsarbeitsgesellschaften westlicher Herkunft nachgezeichnet werden – die Arbeit in Fordismus und Postfordismus. 2.2.1.1 Fordistische Arbeit Dass Arbeit – und Erwerbsarbeit zumal – nicht stets die gleiche war, dass sie sich vielmehr historisch entwickelt hat, dabei gesellschaftliche, politische und weltanschauliche Maßstäbe aufgenommen, somit als gelebte wiedergegeben und die Wertvorstellungen schließlich als eigenes gesellschaftliches Handlungsfeld ihrerseits beeinflusst hat, haben die vorhergehenden Darstellungen gezeigt. Nun soll jene Phase der Erwerbsarbeit besonders präsentiert werden, die als Meilenstein in der Formierung der modernen Erwerbsarbeit gilt – der Fordismus. Diese Phase kapitalistischer Produktion mit ihren entsprechenden Konsequenzen ist zu sehen in einem größeren Zusammenhang industrialisierter Produktion: »Kapitalistische Industriearbeit [...] hat die moderne Welt, wie wir sie kennen, mit geschaffen. Die ›industrielle Revolution‹, wie wir sie nachträglich nennen, begann Ende des 18. Jahrhunderts in England und setzte sich im 19. Jahrhundert in Europa und den USA durch. Im Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts tritt der revolutionäre Charakter besonders deutlich zu Tage. Wie nie zuvor bestimmt jetzt die herrschende Fabrikantenschicht den Arbeitsprozess bis ins Detail. Das drückt sich in der fabrikmäßigen Organisation der Arbeit, in der Einführung von Maschinen, in extrem langen Arbeitszeiten und in einer detaillierten Kontrolle des Arbeiterverhaltens aus.« (Spittler 2016: 11)
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Erfolgte also, wie oben bereits dargelegt (vgl. Kapitel 2.2.1), der Auszug – zumindest eines Teils – der Arbeit aus den handwerklichen und alltäglichen Zusammenhängen der Arbeitenden, so resultierte daraus die Industrialisierung als Güterproduktion in einem Betrieb außerhalb des alltäglichen Wohnumfeldes und hatte die bereits erwähnten Konsequenzen: Trennung von Produktion und Reproduktion, von Arbeit und Privatem, von ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Sphäre des Lebens. Zugleich wird deutlich, dass es mit einer einmaligen Veränderung der Arbeitszusammenhänge keineswegs getan war. Möller beschreibt verschiedene »industrielle Revolutionen«, die durch ihre jeweilige Neuformierung gerade von industrieller Arbeit das Arbeits-, aber auch Gesellschafts- und individuelle Selbstverständnis maßgeblich beeinflusst haben (vgl. Möller 2016: 55f.): 1. industrielle Revolution: durch die Dampfmaschine, 2. industrielle Revolution: durch das Fließband, 3. industrielle Revolution: durch die Computertechnik. Mit diesen Unterscheidungen führt Möller einerseits eine Binnendifferenzierung in die Analyse der ›industriell revolutionierten Arbeitsgesellschaft‹ ein und kann auf diese Weise Phaseneinteilungen differenzierter vornehmen. Auf der anderen Seite wird dadurch möglich, aus diesen Differenzierungen weitere Verschiebungen und Umformungen von Arbeit herauszuarbeiten, die ansonsten von einer verallgemeinerten Sicht verstellt würden. Für die hier zur Debatte stehende Transformation wird dies gerade deutlich durch den Bezug auf das Fließband, eine Erfindung, deren Optimierung mit dem Namen Henry Ford verbunden wird (zu den durchaus voraussetzungsreichen Details einer Fahrzeug-Produktion am Fließband und deren konkrete Umsetzung in Detroit ab 1914 vgl. König 2000: 74ff.). Auf diese Weise konnten Produktivität, Fremdbestimmung der Arbeit (näher: ihre zeitliche Taktung) und der Grad der maschinell erledigten Produktionsschritte gesteigert werden. Die sich mit einer intensivierten, kontrollierten, atomisierten und monotonen Arbeit einstellende Unzufriedenheit der Arbeitenden äußerte sich nicht zuletzt in ihrer Fluktuation, die im Jahr 1913 bei immerhin 380% lag; eine Gegenmaßnahme war die drastische Erhöhung der Löhne, die somit keineswegs sozialen Beweggründen oder dem Anliegen, die Massenkaufkraft zu steigern, entsprungen war (vgl. ebd.: 76). Fordismus
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lässt sich somit einerseits beschreiben als geprägt von Standardisierung, Mechanisierung, Konzentration auf ein Produkt und Massenproduktion (vgl. Minssen 2006: 28f.). Andererseits gehen mit ihm jene Massenproduktion sowie beginnender Massenkonsum und soziale Maßnahmen Hand in Hand (die erwähnte, als sozial deklarierte Lohnsteigerung ist nur ein Beispiel unter vielen), um die fordistische Produktion realisieren zu können. Dass dies keineswegs nur in den USA erfolgte, lässt sich ebenfalls zeigen: »Im ›Golden Age des Fordismus‹ [...] bildete die Massenproduktion in industriellen Großbetrieben auch für Deutschland den wirtschaftsstrukturellen Referenzpunkt. Hier dominierten angelernte und beruflich qualifizierte männliche Arbeitskräfte. Die Gestaltung der Arbeitsprozesse orientierte sich an tayloristischen Prinzipien, die auf forcierte Arbeitsteilung und technische Rationalisierung abstellten [...].« (Dingeldey et al. 2015: 2; verweisen auf Lipietz)
Insofern konnte der Fordismus mit seinen regulierten Arbeitsprozessen – und mit ihm der Taylorismus als »scientific management« deklarierten Optimierungsbemühen einzelner Schritte in jenen Arbeitsprozessen (Minssen 2006: 30) – zu einer gesellschaftlich maßgeblichen Perspektive auf Normalität von Arbeit, Geschlechterarrangements, Konzepten von Sinn (v.a. die Konsumgesellschaft) und Qualifikationen sowie einer Struktur sozialer Ordnung führen. Dabei waren die Vor- und Nachteile in der Bevölkerung jedoch einigermaßen ungleich verteilt. So wird für das 19. Jahrhundert dargelegt: »Besonders schwer hatten es Arbeiterinnen. Nicht nur weil sie rechtlos waren, sondern auch, weil man ihnen allzu oft auch von Seiten der Arbeiterbewegung das Recht auf eigenständiges Agieren und auf solidarische Zusammenschlüsse absprach.« (Notz 2014: 164; vgl. ebd.: 169)
Die Erfahrungen der mehrfachen Diskriminierung und Marginalisierung, gerade auch in Kontexten der Erwerbsarbeit (vgl. Crenshaw 1989), teilten insofern deutsche Arbeiterinnen tatsächlich mit US-amerikanischen women of color (vgl. Kapitel 2.1.3.2). Doch auch diesbezüglich wurden gesellschaftliche Übereinkünfte getroffen, die jene Mehrfachdiskriminierungen einbetteten in eine zumindest oberflächlich ausgleichende Struktur. Wenig später nämlich als in den USA erfolgte auch in Deutschland »die Sozialin-
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tegration der Arbeiterklasse« (Promberger 2012: 34) und mit ihnen ein gesellschaftliches Arrangement zum Umgang mit sozialer, geschlechtsbezogener und materieller Ungleichheit. Dieses Arrangement gestaltete sich folgendermaßen: »Akzeptanz der Forderungen der Arbeiterschaft nach sozialer Absicherung und Teilhabe an Wachstum und Konsum im Tausch gegen die Bindung der Löhne an das Produktivitätswachstum [...] und den Verzicht auf klassenkämpferische Politik – beides musste sowohl gegen wie in den Gewerkschaften während der ersten Hälfte der 1950er Jahre konfliktreich durchgesetzt werden.« (Ebd.; vgl. Kocka 2015: 12f.)
Damit schienen viele der Forderungen einer zunächst noch weit von den »Segnungen des Fordismus« entfernten Arbeiterschaft verwirklicht zu sein. Doch wurden nicht allein soziale Rechte und eine stärkere Beteiligung am materiellen Wohlstand möglich und eine »klassenkämpferische Politik« größtenteils aufgegeben. Vielmehr fußten solche Reglements auf einer normativen Basis, die für gewissen Zeit in die gesellschaftlichen Praktiken eingeschrieben und für weitere Teile der Bevölkerung realisiert wurde, »bestimmte Normalitätsvorstellungen, die im Normalarbeitsverhältnis, der Normalfamilie und der Normalbiografie ihren historisch kontingenten Ausdruck fanden.« (Dingeldey et al. 2015: 2f.) Allgemein wurden Normalitätsvorstellungen für das Nachkriegsdeutschland auf Dauer gestellt, die vom Arbeitsverhältnis abgeleitet wurden und weitere Normalisierungsprozesse nach sich zogen. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde das »Normalarbeitsverhältnis« konzipiert als Beschäftigung, die • • • • •
abhängig und weisungsgebunden, unbefristet, in Vollzeit und mit klar geregelten Arbeitszeiten, mit tariflich vereinbartem Entgelt als »Familienlohn« sowie sozialversicherungspflichtig
erfolgte und durch Sozialversicherungen ebenso abgesichert wurde wie es den Zutritt zu ihnen überhaupt erst unmittelbar (als »Arbeitnehmer«) oder mittelbar (als »Mitversicherte«) ermöglichte (vgl. Dingeldey et al. 2015: 2f.; Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 34; Minssen 2006: 173). Dabei wird
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von einem »konstituierenden Kern« ausgegangen, der – bei aller doch möglichen Varianz in der Umsetzung der vorgenannten Kriterien – grundlegend sei. Ein solcher Kern sei zu sehen in »der ›De-Kommodifizierung‹ der Ware Arbeitskraft, also die Absicherung des Arbeitsvermögens der Beschäftigten gegen die Risiken des Marktes.« (Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 35) Das Normalarbeitsverhältnis kann folglich seine Normalität nur entwickeln und erhalten in einem Kontext, in dem es ganz oder doch großteils den Risiken und Gefahren eines Marktes für Arbeitskraft enthoben ist. Normalisierung der Erwerbsarbeit und soziale Absicherung sind im Fordismus untrennbar mit einander verbunden. »Während der Periode des expandierenden Fordismus verhandelte man in den organisierten Arbeitsbeziehungen im Grunde über die partielle Abkoppelung der Lohnarbeit vom Marktrisiko. Die Sozialfigur des Arbeitnehmers war historisches Produkt dieser Tauschkonstellation. Der Arbeitnehmer verkörperte den vorwiegend männlichen, mit sozialen Rechten ausgestatteten, am Produktivitätszuwachs beteiligten und in – faktisch lebenslange – Normarbeitsverhältnisse integrierten Lohnabhängigen.« (Dörre 2016: 134)
Die »Sozialfigur des Arbeitnehmers« funktionierte folglich durch ein spezifisches Format der Erwerbsarbeit, partielle Dekommodifizierung qua sozialer Rechte und die Integration in die Rolle des Familienernährers. Damit die letztgenannte Funktion langfristig stabil bleiben konnte, erfolgten Ergänzungen durch Kindergeld, Ehegattensplitting, die bereits erwähnten mittelbaren Rechte auf Sozialversicherung und eine merkliche Familialisierung der Sorgearbeit: »So konnte das männliche Ernährermodell in Verbindung mit der Hausfrauenehe zur Grundlage der Normalfamilie werden.« (Dingeldey et al. 2015: 3; vgl. Dingeldey 2015: 104) Das »›fordistische‹ Geschlechterarrangement« (Bührmann et al. 2014: 143) trug merklich zur Stabilisierung der sozialen Struktur des Fordismus bei. Doch schon ab den 1960er Jahren erfolgte eine intensivere Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt, gerade durch die Integration von Müttern als Teilzeitarbeitskräfte. Doch ließen die gesellschaftlich prägenden normativen Maßgaben, steuerliche Reglements, wohlfahrtsstaatliche Strukturen z.B. der Pflegetätigkeiten innerhalb der Familie und infrastrukturelle Minderausstattung etwa in der Kinderbetreuung bis in die 1990er Jahre eine in-
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tensivere Erwerbstätigkeit von Frauen kaum möglich erscheinen (vgl. Dingeldey 2015: 104f.). Was sich also – unter der Perspektive der Intersektionalität von class, race und gender – zeigt, ist eine Dichotomisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft entlang der Geschlechtergrenze: Die volle Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit bleibt im Normalfall den Männern vorbehalten, Frauen übernahmen für gewöhnlich die Zuarbeit – am Arbeitsmarkt durch Teilzeitarbeit und in der Familie durch die Übernahme emotionaler, alltagspraktischer und pflegerischer Reproduktion (vgl. Kontos 2015: 90). Und doch wird diese Zweiteilung aufgefangen durch das Spezifikum einer fordistisch-verschatteten Arena sozialen Ausgleichs: des privaten Haushalts. Hier nämlich kulminieren die materiellen, rechtlichen und sozialen Differenzen und werden zugleich moderiert (vgl. Dingeldey 2015: 106). Ein solcher Ausgleich bleibt jedoch sozial und intersubjektiv höchst fragil – er ist auf die Stabilität dieses Arrangements in den gegebenen alltäglichen Situationen mitsamt ihren Herausforderungen angewiesen und kann darüber hinaus bloß von jenen realisiert werden, die sich dem gesellschaftlichen Reglement von »Normalarbeitsverhältnis, Normalfamilie, Normalbiografie« fügen wollen und können. Insofern sind die fordistischen Errungenschaften nur um einen hohen Preis zu erringen – und bleiben für nicht wenige (Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose oder weitere, auf Dauer von den etablierten Arbeitsmärkten Fernen) nicht erreichbar. Daran konnte auch die ab den 1990er Jahren erfolgte »Modernisierung« durch eine verstärkte Kommodifizierung weiterer Anteile des »Normalarbeiters« und seiner Derivate wohl kaum etwas ändern (vgl. ausführlicher Kapitel 2.2.1.2). Zudem blieben auch im Fordismus die Hoffnungen auf fortbestehende Prosperität keineswegs langfristig erhalten, Krisen und Ermüdungserscheinungen prägten dieses Gesellschaftsmodell: »Die Krise zeigt sich durch abnehmende Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität, eine stetig steigende Massenarbeitslosigkeit, eine ›ausufernde‹ Staatsverschuldung und schließlich im Rückgang des Massenkonsums verbunden mit keinem oder nur geringem Wirtschaftswachstum. Als Krisenursachen werden in diesem Zusammenhang vor allem die Ölkrisen der 1970er Jahre genannt. Weiterhin gilt die Konzentration auf den Binnenkonsum, den profitstabilisierenden Faktor des Fordismus schlechthin, nunmehr als Wachstumshindernis [...].« (Bosančić 2014: 34; aus Sicht
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der Regulationstheorie skizziert eine Perspektive systematischer Plausibilität Weiss 2012: 107ff.)
Aufgrund dieser Krisenphänomene, aber auch der aus ihnen abgeleiteten Einschätzungen von Erfolg oder Misserfolg dieser Konzepte wurden Wechselprozesse eingeleitet, die eine Veränderung der fordistischen Arrangements zur Folge hatten (vgl. Aulenbacher/Ziegler 2010: 3) – ob sie sie auch stets in der sodann vorliegenden Weise anzielten, wird nicht allenthalben angenommen (vgl. Dörre 2016: 136). Hinzu kamen, ob jeweils durch fordistische Politiken verursacht, mag dahingestellt bleiben, weitere Entwicklungen, so z.B. die Veränderung familialer Lebensformen, die Entsicherung der Lebensverhältnisse durch finanzwirtschaftlich induzierte Verschiebungen der Arbeits- und Lebensformen sowie »Migrationsbewegungen historisch neuen Ausmaßes« (Aulenbacher/Ziegler 2010: 3). Damit aber geriet das bislang – einigermaßen – gültige Normalarbeitsverhältnis in die Krise, da es vor dem Hintergrund deutlich steigender Arbeitslosenzahlen als nicht mehr hinreichend funktional angesehen (vgl. Dingeldey et al. 2015: 3) und zunehmend »durch weniger stabil gefügte Arrangements von stärker deregulierten, exibilisierten, prekarisierten Beschäftigungsverhältnissen, vielfältigen Lebensformen und ›Wettbewerbsstaat‹« (Aulenbacher et al. 2012: 9f.) unter Druck gesetzt zu werden begann. Auf diese Weise wurden bis dahin gültige Normen und ihre Konsequenzen für die alltägliche Lebensführung der Individuen fraglich und solche Veränderungen nicht selten als krisenhaft erlebt. Das »Phänomen der Prekarität [...], d. h. die Unsicherheit, Überflüssigkeit und Ersetzbarkeit der Arbeiter« (Nachtwey 2014: 121), wurde deutlicher und offenkundig auch in weiteren Kreisen der Gesellschaft bemerkbar. Zugleich schien mit der neuerlich einsetzenden Kommodifizierung eine Veränderung in der Sozialstruktur, den Konzepten von Subjektivität und letztlich den gesellschaftlichen Normativen zu erfolgen. In welcher Weise dies geschah und wie sich daraus Herausforderungen für die Erwerbsarbeit, die auf sie hin orientierte Bildungsarbeit und letztlich die Sozialstrukturen von Gesellschaft ergaben, soll der nun folgende Abschnitt ein wenig erhellen.
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2.2.1.2 Postfordistische Arbeit Häufig wird, so wie auch in der vorliegenden Schrift, eine Scheidelinie zwischen Taylorismus-Fordismus einerseits und Postfordismus andererseits angesetzt, wenngleich im Hinblick auf diese Differenzierung darauf aufmerksam gemacht wird, dass eine solche Phaseneinteilung für die darzustellenden Realitäten allzu grob und folglich eher als idealtypische Zuordnung von Produktions- und Vergesellschaftungsregimes aufzufassen sei (vgl. Voswinkel 2012: 304f.). Dennoch lassen sich einige kennzeichnende Verschiebungen zwischen diesen beiden Systematiken der Arbeitsgesellschaft ausmachen, so dass durch deren Unterscheidung zugleich eine Unterscheidung markanter Wandlungen von Erwerbsarbeit geleistet werden kann. So zeigt sich zunächst, dass kollektivierende Normen des Fordismus nicht mehr fraglose Gültigkeit beanspruchen können, denn schon zu Beginn der 1970er Jahre geriet das fordistische Modell der Massenproduktion, die gekoppelt war mit staatlich getragener sozialer Sicherungspolitik, in die Krise (vgl. Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 30). Beweggründe waren politische (vgl. Kapitel 1), ökonomische (Öl- und Wirtschaftskrisen) sowie ökologische Dilemmata (prognostizierte »Grenzen des Wachstums«, vgl. Meadows et al. 1973), die den bis dahin gültigen Produktionsmodellen ihr Begrenztheit aufzeigten (zu den Konsequenzen für die Regierung solcher Gesellschaften vgl. Kapitel 1.1.2.2). Die skizzierten Entwicklungen erfuhren dann ab 1990 weitere Intensivierungen und inhaltliche Verschiebungen: »Die Struktur der Erwerbsarbeit selbst ist in Deutschland seit 1990 durch einen doppelten Transformationsprozess tiefgreifend verändert worden: zum einen durch die Transformation der gesellschaftlichen und politischen Institutionen und Strukturen im Osten mit Blick auf Anpassung an westdeutsche Muster; zum anderen durch eine allgemeine Transformation der Wirtschaft in Richtung neoliberale Politikziele, Deregulierung und grenzüberschreitende Produktionen und Dienstleistungen in globalen Strukturen – ein Strukturwandel, der durch neue Schlüsseltechnologien wie Mikroelektronik und Internet unterstützt wurde.« (Senghaas-Knobloch 2011: 26)
Gesellschaftliche Veränderungen, politische Richtungswechsel und technologisch bedingte Wandlungen im Produktionsprozess wirken sich somit auch auf die »Struktur der Erwerbsarbeit« aus und machen abermals deutlich, wie intensiv Gesellschaft und Arbeit miteinander verflochten sind.
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Näherhin wird für den Wandel von Fordismus zu Postfordismus deutlichgemacht: »Die informationsgesellschaftliche Rationalisierung und der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft haben die Arbeitsprozesse revolutioniert [...], die Segmentierung der Arbeitsmärkte vertieft [...] und (auch wenn Deutschland die Finanzmarktkrise relativ gut überstanden hat [...]) die Arbeitslosigkeit angehoben.« (Mückenberger 2015: 71)
Eine Vielzahl von gewichtigen Veränderungen also, zu denen die Globalisierung der Märkte, der möglichst kostensparenden Produktionen, der Belastungen in produktiver (Sättigung von Märkten), sozialer und ökologischer Hinsicht ebenso hinzuzuzählen sind wie die Deregulierung von Finanzprodukten und -märkten. Somit ergibt sich gleich eine Vielzahl unterschiedlicher und auf unterschiedliche Weise komplex mit einander verflochtener Herausforderungen im Übergang zum Postfordismus: a) die Veränderung der Produktionsformen hin zu einer Steigerung des volkswirtschaftlichen Anteils von Dienstleistungen, b) die informationstechnologisch vernetzte »Industrie 4.0«, c) die Globalisierung von Produktion, Märkten und Risiken, d) die Folgen der deutschen Wiedervereinigung, e) der Neoliberalismus allgemein sowie f) die Folgen des gesteigerten Finanzmarktkapitalismus (Windolf 2005; vgl. Dörre 2009b; Dörre/Brinkmann 2005; Kapitel 1.1.3) und der daraus folgenden Banken- und Finanzkrise mitsamt ihrer Austeritätspolitik u.a.m. Angesichts dieser Szenarien bedeutet Postfordismus Veränderungen im Produktionsprozess (a, b), im politisch-pragmatischen Kontext (c, d) und in der normativ-politischen Umsetzung (e, f), die ein insgesamt verändertes Format von Arbeit im produzierenden Gewerbe ebenso wie im Dienstleistungsbereich nach sich ziehen. Waren es einerseits Umsteuerungen in der Produktion, die als Konsequenzen aus diesen Prozessen sichtbar wurden, erfolgte andererseits, ganz in neoliberalem Sinne, eine Umsteuerung der Sozialpolitik sowie der Regierungsform:
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»Als neoliberale Wirtschaftspolitik zur vorherrschenden Leitperspektive wurde, begannen Unternehmen eine Politik der Dezentralisierung und Transnationalisierung. Die Politik setzte in den Gemeinwesen auf die Privatisierung bisher staatlich organisierter Handlungsfelder; es zerbrach der sozialstaatliche Konsens in den europäischen Industrieländern.« (Senghaas-Knobloch 2011: 27)
Damit erodierte nicht allein das bisherige Produktionsmodell des Fordismus, sondern zugleich wurden politische, gesellschaftliche, soziale und subjektive Transformationen angestoßen, die zu einem insgesamt höchst markanten Wandel beitrugen. An dieser Stelle ist insbesondere die Transformation der Produktion von Bedeutung, um die sich damit ebenfalls wandelnden Formen und Funktionen von Arbeit ermessen zu können: Anstelle der bisherigen, auf industriemaschinelle Abläufe fixierte Arbeitsabläufe und Arbeitskräfte (bis hin zur Anpassung von Bewegungsabläufen der Arbeiter an maschinelle Taktungen22) bedurfte es nun der organisationalen Arbeitsabläufe, der subjektiven Einstellungen und Fähigkeiten, die sich den gewandelten Produktionen der Erbringung von Dienstleistungen anpassten (zur sich wandelnden Bedeutung des Körpers im Postfordismus vgl. Winker/Degele 2010: 50f.). Nunmehr galten veränderte Ansprüche an die Arbeitenden mit einer »neuen Qualität von Beruflichkeit« (Voß 2012: 283):
22 Spittler beschreibt den Arbeitsalltag der Drahtproduktion im Ruhrgebiet der 1950er Jahre: »48 Arbeiter sind an der Drahtstraße beschäftigt, davon 8 Umwalzer. Deren Aufgabe besteht darin, mit einer Zange die Walzader zu schnappen, sich um sich selbst zu drehen und das Aderende in die Führung des nächsten Gerüstes zu stecken. Das Arbeitstempo wird allein von der Maschine vorgegeben. Der Draht schießt mit einer Geschwindigkeit von 9 m/Sek. aus dem Gerüst heraus. In einer halben Stunde muss der Umwalzer etwa 250-mal zuschnappen und einstecken.
[...] Der Arbeiter kann nicht warten, bis die Ader aus der Führung herauskommt, weil diese zu schnell herausschießt, sondern er muss mit der Zange ›blind‹ zupacken. Man muss sich nach dem Vormann richten und die Länge der Zeitspanne ›im Körper‹ haben. Manche orientieren sich mit den Augen, andere an dem Knackgeräusch des Einführens beim Vormann.« (Spittler 2016: 254).
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gesteigerte Flexibilität, um den weniger standardisierten Arbeitsabläufen entsprechen zu können (vgl. Senghaas-Knobloch 2011: 28), Flexibilität im Umgang mit »Lebenslangem Lernen« als subjektiver Disposition, »gesellschaftliche Veränderungen, neue Arbeitsanforderungen und Probleme« (Höhne 2015: 13) mit individuell verwirklichter Optimierung des Selbst zu beantworten, ähnlich flexibilisierte Arbeitszeiten und -orte, die den Zeiten und Orten der Dienstleistungen »beim Kunden« folgen (vgl. ebd.), Vermarktlichung der eigenen Fähigkeiten und Produktionsergebnisse (vgl. bereits klassisch Pongratz/Voß 2001), nicht nur in der Arbeit als »Spiel« (Spittler 2016: 260; verweist auf Burawoy), ein hohes Maß an entstandardisierter kognitiver und emotionaler Präsenz, die es möglich macht, unterschiedliche materielle, soziale und gar emotionale Herausforderungen zu registrieren, situativ angemessen zu gestalten und zu einem profitbezogenen Ergebnis zu überführen (zur »Kommerzialisierung der Gefühle« vgl. Hochschild 2006).
Angesichts dieser Ansprüche an die Arbeitenden ergibt sich der »subjektivierte Kapitalismus« (Huchler et al. 2012: 95), für den allgemein gerade die »Entgrenzung von Arbeit« anzusetzen ist: »Entgrenzung kann dabei allgemein als sozialer Prozeß definiert werden, in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene soziale Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodieren bzw. bewußt aufgelöst werden. Folge ist zumindest vorübergehend eine Phase der Öffnung gesellschaftlicher Möglichkeiten mit neuen Chancen und Risiken für Betroffene. Deren soziale Verteilung ist jedoch in der Regel ungleich, so daß meist Gruppen von ›Gewinnern‹ und ›Verlierern‹ entstehen. Eine solche Entgrenzung gesellschaftlicher Strukturen vollzieht sich in verschiedenen sozialen Dimensionen: Zeit, Raum, eingesetzte Technik, Sozialorganisation, Tätigkeitsinhalt, Motivation und Sinn usw.« (Voß 1998: 472)
Deutlich wird, dass im Wandel von fordistischen hin zu postfordistischen Produktionsformen technologische, ökonomische und politische Faktoren zusammenspielen, dass sie zugleich Auswirkungen auf die Produktionsformen und damit die Arbeitenden in diesen veränderten Produktionsabläufen haben, womit sich schlussendlich neue Möglichkeiten und Grenzen der
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Vergesellschaftung mit ebenso neuen ›GewinnerInnen‹ und ›VerliererInnen‹ ergeben. Letztlich resultiert daraus ein »doppelter Subjektivierungsprozess« (Minssen 2006: 152), da die Entwicklung von Subjektivität in der Arbeit nun sowohl von Individuen als auch den Unternehmen gefordert wird. Die Verbindung beider könne, so die Hoffnung auf eine konstruktive Beantwortung der gewandelten Herausforderung, durch Anerkennung erzielt werden (vgl. ebd.). Evtl. könne somit »Herrschaft durch Autonomie« (ebd.: 153) verwirklicht werden – eine Auffassung, die deutlich an das Foucault’sche Konzept der Gouvernementalität (vgl. Kapitel 1.1.3ff.) erinnert. Auch auf diese Weise zeigt sich, dass eine ›Regierung der Selbstregierung‹ keinesfalls eine historische Zufälligkeit darstellt, sondern im Zuge der – ihrerseits durchaus inkrementellen – Veränderung von Produktion und Erwerbsarbeit eine nunmehr passgenaue Subjektivität bereithält, die sich zugleich in eine zunehmend passgenauere Organisationsstruktur der Unternehmen einfügt, wie an den unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Empfehlungen zum »Management by ... « (vgl. z.B. Glöckler/Maul 2010: 27ff.; Ströbe 2010) abgelesen werden kann. Diese Empfehlungen für das Personalmanagement führen z.B. über Zielvereinbarungen, Budgetverantwortungen etc. zu einer vermehrten Selbststeuerung der arbeitenden Subjekte und bieten ihnen zugleich Organisationsstrukturen in den Unternehmen an, die ein solches Verhalten überhaupt erst möglich machen – und zugleich auch erzwingen. Damit erfolgt eine Entgrenzung von Arbeit, die nunmehr ganz im Zuge der Gouvernementalität »statt Fremdausbeutung eher Selbstausbeutung« (Nachtwey 2014: 110) realisiert. Zugleich erwächst daraus der Zwang, Erwerbsarbeit stärker als im Fordismus nach den Maßgaben von Eigenverantwortlichkeit und durch umfängliche Aktivierung der eigenen Potenziale zu erbringen. Unternehmerisches Handeln, Entscheidungsdruck und das verstärkte, nunmehr individualisierte unternehmerische Risiko des Scheiterns ergeben sich nicht allein für die Führungskräfte im Management von Unternehmen, sondern nun vermehrt für die Führungskräfte im Management des Selbst, wenngleich auch meistens mit weit geringeren monetären Vergütungen jener Risiken und Belastungen. Ob der damit adressierte »Arbeitskraftunternehmer« (vgl. Pongratz/Voß 2001) mit seiner Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung zu verstehen ist als »im Wesentlichen ein Angestelltenphänomen, während bei Arbeitern die Erwerbsorientierungen ei-
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nes verberuflichten Arbeitnehmers vorherrschen« (Minssen 2006: 158), kann hier nicht näher erörtert werden. Zweifel sollen jedoch dahingehend angemeldet werden, dass durch die postfordistische Produktion die Phänomene der Erwerbstätigkeiten im Angestellten-Modus auch quantitativ zunehmen23 und zugleich qualitative Auswirkungen auf die Managementähnlichen Aufgaben von ArbeiterInnen haben, z.B. im Feld technologischdispositiver, kommunikativer oder marketingbezogener Tätigkeiten angesichts der verstärkt kundInnenorientierten Spezialisierung der Produktion (vgl. Eichhorst et al. 2013). Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Kommodifizierung, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit in vielen Regionen der Arbeitsgesellschaft zunimmt, wenngleich in unterschiedlichen Maßen und Formen. Doch gilt für diese Phase der Vergesellschaftung durch Arbeit, dass die Externalisierung von Reproduktion aus Staat und Ökonomie weiter voranschreitet und durch den Imperativ subjektiver Internalisierung ersetzt wird (vgl. Jürgens 2012: 278). Emotional stabilisierende und pflegerische Tätigkeiten werden aus den Arbeitsprozessen herausgenommen und in deren privaten Außenwelten durch jene Subjekte verfolgt, die sich im Rahmen ihrer eigenen Regelungen zur »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« eine eigene Form schaffen. Der »Begriff der ›Vereinbarkeit‹« wurde nach den 1980er und 1990er Diskursen eingeführt; mit ihm wurde allerdings lediglich »das hierarchische Verhältnis von Arbeit und Leben [...] verschleiert« (ebd.: 279), da mit ihm die Debatte im Hinblick auf Infrastruktur-Fragen eingeengt geführt wird. Ebenso wird das hierarchische Verhältnis zwischen den Geschlechtern perpetuiert und z.T. sogar verschärft (vgl. ebd.). Der Begriff der Reproduktion macht nach Jürgens im Unterschied zu dem der Vereinbarkeit auf die »im Kapitalismus strukturell widersprüchlich angelegten Sphären« (ebd.: 280) aufmerksam und »verweist auf einen gesellschaftlichen Leistungsaustausch und Vermittlungszusammenhang, der nach wie vor durch eine Vorrangstellung der Ökonomie gekennzeichnet ist.« (Ebd.) Folglich
23 Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes lagen die Beschäftigten des Sekundären (herstellenden) Sektors zuletzt 1971 mit 46,1% aller Beschäftigten vor denen des Tertiären (Dienstleistungen erbringenden) mit damals 46%. Im Jahr 2015 hingegen entfielen auf den Sekundären lediglich 24,4% aller in Deutschland Beschäftigten, auf den Tertiären 74,1% (vgl. Destatis 2016).
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muss auch hier »von einer Neuformierung des Geschlechterverhältnisses gesprochen werden« (Aulenbacher et al. 2012: 20f.), wobei diese »Neuformierung« die Situation der zumeist mit Reproduktion im familialen Kontext betrauten Frauen abermals prekarisiert, sofern Erwerbssituation, Entgelte sowie Ansprüche an die Sozialversicherungen betrachtet werden. 24 Deutlich wird, wie ungleich die postfordistische »Wiederankoppelung lebendiger Arbeit an Marktrisiken« (Dörre 2016: 134) erfolgt; Reproduktion erhöht die Marktrisiken in jener Gesellschaft, die ohne jene Reproduktiven gar nicht lebensfähig wäre. Mit Blick auf die erwähnten Sozialversicherungen, dort v.a. gemäß SGB II und III, betont Dingeldey, »dass auch das den Leistungssystemen zugrunde liegende geschlechterpolitische Leitbild partiell verändert wurde und damit bereits bestehende, geschlechterdifferente Effekte hinsichtlich der Leistungen weiter verstärkt wurden.« (Dingeldey 2015: 121; vgl. Bosančić 2014: 36ff.) Im Hinblick auf neoliberale Politik zeigt sich, dass eben nicht nur eine ökonomische Liberalisierung, sondern zugleich auch eine intersubjektive »Verkonservativierung« erfolgte, die tradierte Rollenklischees intensiviert und weiter tradiert (vgl. Weiss 2012: 120f.).25 Für die Struktur postfordistischer Erwerbsarbeit kann summiert werden, dass Produktion unternehmerisch subjektiviert und Reproduktion subjektiv externalisiert werden. Angesichts einer solchen, auf den Bahnen der Subjektivität erfolgenden Transformation von Arbeit, Gesellschaft und in nicht geringem Ausmaß (Wohlfahrts-)Staat kann die Position einer »neosozia-
24 So heißt es etwa im DAK-Pflegereport 2015: »70 Prozent der Pflegebedürftigen werden heute zu Hause versorgt. Bei 47 Prozent übernehmen dies die Angehörigen.« (DAK-Gesundheit 2015: 5) Im Hinblick auf die vorliegenden Daten wird festgestellt: »Neun von zehn pflegenden Angehörigen sind demnach Frauen.« (Ebd.: 20) Weiter heißt es: »Rund ein Drittel der Pflegepersonen ist berufstätig. Lediglich ein knappes Fünftel davon arbeitet jedoch Vollzeit, über 80 Prozent sind in Teilzeit beschäftigt.« (Ebd.: 21) Für die pflegenden Angehörigen gilt: »80 Prozent sind zwischen 45 und 70 Jahre alt« (ebd.). Vgl. weiterführend Nowossadeck et al. 2016. 25 »Geschlechtslos gedachte Individuen« im Neoliberalismus macht hingegen aus Sauer 2008: 250. Nach Sauer werden im Kontext neoliberaler Globalisierung »Geschlechterverhältnisse verkompliziert und vertieft entlang anderer Ungleichheitsachsen wie Klasse und Ethnizität.« (Ebd.: 239).
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len« Formation (vgl. Lessenich 2013) in Frage gestellt werden: Wird hier tatsächlich Soziales neu erfunden oder nicht eher der Kapitalismus, die Macht und beider Verbindung: das Subjekt? Unter dieser Hinsicht wäre eher von einer »neosubjektiven« Formation zu sprechen. Soll diesen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen wirkungsvoll begegnet werden, hat dies weitreichende Folgen. Gerade technische Entwicklungen hatten allerdings schon von jeher die Sorge um den Verlust von Arbeitsplätzen befeuert (vgl. Möller 2016: 52) und zugleich gezeigt, dass für einen solchen Wandel einerseits soziale Absicherungen bereitgehalten werden müssen, dass andererseits neue Formen der Erwerbsarbeit möglich werden. Insofern bedürfen solche Wandlungsprozesse der postfordistischen »Struktur von Erwerbsarbeit« einer mindestens begleitenden Sozialpolitik, um die erforderlichen Absicherungen bereitzustellen sowie die Transfers ökonomischer, sozialer und individueller Art zu moderieren. Darin bekommen jene als »neosubjektiv« bezeichneten gesellschaftlichen Formen besondere Bedeutung, insofern sie – durchaus mit gouvernementalen Instrumenten und Strategien armiert – die Bedingungen von Erwerbs- und reproduktiver Arbeit jeweils und in ihren Bezügen verändern, ferner Individuen, Gemeinschaften und Betriebe wandeln sowie die diesen Prozessen hinterlegten Normative in ihren strukturellen Geflechten und Auswirkungen kontaminieren. Die Herausforderung lautet vor diesem Hintergrund, auf eine Analyse der Sachverhalte eine Politik folgen zu lassen, die sich ihrer Normative und der damit einhergehenden Dispositive klargeworden sowie bereit ist, die skizzierte Transformation von Arbeit und Arbeitsgesellschaft im Interesse einer neuen »Struktur der Erwerbsarbeit« zu sichten und ihrerseits weiter zu entwickeln. Dazu dürften allein inkrementelle Prozesse wohl kaum hinreichen. 2.2.2 Moderne Ungleichheiten Wurden bislang die historischen Verläufe europäischer Entwicklungen der Arbeit dargestellt, insbesondere um die aktuellen Gestalten von Erwerbsarbeit nachvollziehen und in ihren konstitutiven ebenso wie in ihren Veränderungspotentialen verstehen zu können, so sollen nun in einem weiteren analytischen Schritt die aktuellen Formen auf ihren Möglichkeiten wie Herausforderungen hin befragt werden. Dabei fällt zunächst auf:
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»Ein durchgängiges Thema ist das für die Moderne spezifische Spannungsverhältnis zwischen der ökonomischen Ungleichheits- und der bürgerlichen Gleichheitsordnung [...].« (Aulenbacher 2012: 113)
Wird daher von Vergesellschaftungen in modernen Konstellationen gesprochen, so ist von dieser Diskrepanz auszugehen, die einem bürgerlichpolitischen Zusammenhang der Egalität und Ebenbürtigkeit einen ökonomischen der Differenz und Diskriminierung entgegenstellt. Damit macht Aulenbacher auf eine fundamentale Kluft innerhalb der modernen Gesellschaftsstruktur aufmerksam. Während politische Gleichstellung gefordert wird, schreitet zugleich die ökonomische Differenz voran. Damit aber wird die Motivation der WahlbürgerInnen unter Druck gebracht, wie sich in aktuellen Debatten um politische Eliten o.a.m. zeigen lässt. Auch in diesem Zusammenhang spielt Erwerbsarbeit eine maßgebliche Rolle für die Entwicklung moderner Gesellschaften. So wurde dargelegt, dass technologische Entwicklungen solche der Nachfrage nach Arbeitskräften bedeuten können. (vgl. Frey/Osborne 2013: 8). Zwar führte dieser Fortschritt im 19. Jahrhundert zunächst zu einem Ersatz bisher von Menschen durchgeführter Tätigkeiten, die aufgrund ihrer Einfachheit nun maschinell abgedeckt werden konnten. Damit sind die aktuellen Tendenzen in der Technologieentwicklung aber offenkundig kaum zu vergleichen: »Finally, we provide evidence that wages and educational attainment exhibit a strong negative relationship with the probability of computerisation. We note that this finding implies a discontinuity between the nineteenth, twentieth and the twenty-first century, in the impact of capital deepening on the relative demand for skilled labour.« (Ebd.: 44f.)
Insofern ersetzt die technologische Entwicklung nun nicht einfach die bisherigen Arbeitskräfte. Vielmehr erfordert diese Form des Fortschritts, die in Deutschland häufig mit dem Schlagwort »Industrie 4.0« umschrieben wird und die informationstechnologische Vernetzung von teilautonomen Geräten zum Ausdruck bringt, eine weitaus qualifiziertere Gruppe von Tätigen, die deren Prozesse planen, überwachen und steuern. Ähnliche Tendenzen entlang der technologisch-erwerbsarbeitsbezogenen Entwicklungen tun sich auch in den Konzepten der Geschlechter auf. Denn während im Übergang von der ständischen in die kapitalistische Ge-
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sellschaft eine »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (vgl. Aulenbacher 2012: 115f.; verweist auf Hausen) vonstattenging, ändert sich dieses Arrangement angesichts der sich ebenfalls ändernden Verbindung von Kapital- und Geschlechterverhältnis (vgl. ebd.). Auch wenn die exakten Tendenzen und Neukonstellierungen in den Geschlechterverhältnissen und charakteren noch nicht abschließend eingeordnet werden können, so zeigt sich doch, dass sich darin »Fremdheitseffekte« (ebd.: 121f.; verweist auf H. Lutz) ergeben, die für eine alltagsnahe Ausgestaltung ebenso herausfordernd sind wie für die noch darzustellende Bildungsarbeit (vgl. Kapitel 3), da stets danach zu fragen ist, wer wem aus welchem Grund »fremd« ist oder »fremd« wird. Zugleich ist von Bedeutung, dass bei allen postfordistisch-modernen Unterschieden der Wiedergänger der geschlechtsbezogenen Diskriminierung unbesiegbar zu sein scheint: die »duale Struktur« (Dingeldey 2015: 115) der Arbeit und der sozialen Absicherung. Wenn dabei alte und neue Rollenbilder zugleich gefördert werden (vgl. ebd.), so scheint dies nicht allein dual, sondern mindestens ambivalent, evtl. auch antagonistisch, wie mit Blick auf die vorhergehenden Darstellungen dargestellt werden kann (vgl. Kapitel 2.2.1.1f.). Hierbei zeigt sich: »Die auf unterschiedliche Geschlechtermodelle zielenden Ermöglichungsstrukturen und Anreize sind gleichwohl nicht durchgängig ›widersprüchlich‹, sondern lassen sich auch als Anreiz- und Ermöglichungsstruktur für das modernisierte Ernährermodell interpretieren.« (Dingeldey 2015: 115)
»Modernisierung« der Geschlechterarrangements findet statt – in Richtung des »Ernährermodells«, das nun zwar gleichfalls eine postfordistische Generalüberholung hin zu mehr Flexibilisierung, Subjektivierung und ggf. noch »Vereinbarkeitsbestrebungen« erfährt, aber dennoch die Dichotomie von produktiver und reproduktiver Sphäre zumindest dergestalt fortführt, dass trotz aller Kommodifizierung weibliche Arbeit nicht in besonders großem Umfang in die »reguläre Arbeit« des sog. Normalarbeitsverhältnisses (NAV) verrechnet werden kann, wie Dingeldey für ihren Vergleichszeitraum der Jahre 1996 und 2008 deutlich macht: »Die Beschäftigungsexpansion fand dabei primär jenseits des NAV statt: Der Anteil der Personen im NAV (bezogen auf alle Personen im erwerbsfähigen Alter) sank im
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Vergleich zu 1996 um drei Prozentpunkte auf 39 % in 2008.« (Dingeldey 2015: 108)26
Betrachtet man das Verhältnis von Normalarbeit und atypischer Beschäftigung27, so ergibt sich für das Jahr 2005 ein Anteil von rund 24% atypischer Beschäftigung an allen ausgewiesenen Arbeitsverhältnissen, 26% in 2010 und lediglich 23% in 2014 (vgl. BA 2016b: 13). Insofern sind zumindest jene früheren Zahlen der weiblichen Kommodifizierung im Hinblick auf die Reflexion moderner Ungleichheiten einigermaßen bestätigend, die längere Perspektive (und die jüngeren Zahlen) zeichnen jedoch ein differenzierteres und positiveres Bild. Weitere, eher gesellschaftlich-strukturelle Aspekte zur GeschlechterKluft sind zudem für die Einschätzung der Entwicklung von Arbeit von Bedeutung und kommen abermals aus der Arbeitswelt: »Neben dem in der soziologischen Sozialdiagnostik in erster Linie betrachteten Widerspruch kapitalistischer Industriegesellschaften – jenem zwischen Arbeit und Kapital – verändert sich auch jener zwischen den Räumen der Arbeitswelt und dem Privaten, zwischen den Bedürfnissen der Produktion und jenen der Reproduktion« (Aulenbacher/Ziegler 2010: 4; verweisen auf Becker-Schmidt/Krüger).
Sofern es dabei um »die Bedingungen der individuellen Reproduktion, also den Erhalt von Identität, Körperlichkeit und sozialen Bindungen«, ferner um das »Gemeinwesen« sowie um »Modelle von Demokratie« (ebd.) geht, werden auch jene Sektoren von erneuter Aufmerksamkeit bedacht. Gegenwärtig spricht wenig dafür, die reproduktive Sphäre als Exklave staatlicher und ökonomischer Unterstützung besonders emanzipatorisch aufzufassen. Angesichts der globalen Diskriminierungsverfahren zur Gewinnung von – abermals – Frauen, nunmehr aus südlichen Hemisphären für den abgespaltenen Gesellschaftsteil der Reproduktion erscheint dies aus der Perspektiver intersektioneller Kritik tatsächlich wenig überzeugend. Und doch: Die Brisanz der im reproduktiven Zusammenhang zu sammelnden Erfahrungen (Depressionen, Burnout etc.) sind so gravierend, dass sich zumindest ein
26 In 2013 betrug dieser Anteil allerdings 44% (vgl. BA 2016b: 13; BA 2015: 5). 27 Mit diesem Begriff beschrieben werden Teilzeitarbeit unter 20 Stunden/Woche, Minijobs, Befristete Beschäftigung, Zeitarbeitsverhältnisse (vgl. BA 2016b: 13).
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breiterer Teil der (deutschen) Öffentlichkeit immer wieder von solchen Themen herausfordern lässt. Langfristig könnte sich daraus eine gesellschaftliche Debatte um Sinn, Bedeutung und Wertschätzung für die reproduktive Arbeit ergeben. Im Interesse eines Ausgleichs von Ungleichheiten wäre eine solche Aufklärung von Deprivation allemal. 2.2.2.1 Die Arbeit der Gesellschaft Fragt man nach den Konstanten menschlicher Existenz, kommen Fragen von Entstehung, Alterung und Endlichkeit menschlichen Lebens in den Blick (vgl. Aulenbacher 2012: 116). Die zur Sicherung der Existenz notwendige Arbeitstätigkeit wird überall dort relevant, wo die Grundlagen für die Entstehung menschlichen Lebens, die Möglichkeiten zu dessen Gestaltung allgemein sowie bei Alterung und schließlich der Umgang mit der eigenen Endlichkeit in den Blick kommen. Dabei wird jedoch menschliche Existenz von weiteren als den lebensbezogenen Faktoren und der mit ihnen verbundenen Arbeit geprägt. Unter einer genealogischen Hinsicht lassen sich Herrschaft, Leiblichkeit und die bereits erwähnte Arbeit als drei Artikulationen von Menschsein verstehen, die Individuen und Gesellschaften bestimmen und den intersubjektiven Umgang mit einander prägen. Doch werden sie durch Prozesse der Säkularisierung und Modernisierung ihrer transzendenten Begründung enthoben, ihrer Kontingenz ansichtig und in der Folge ebenso fraglich wie neu justiert (vgl. Klinger 2012a: 258f.; mit Blick auf die Analysen M. Webers vgl. Peter 2016: 56ff.). »Im Zuge der Industrialisierung erfahren sowohl die Prozesse als auch die Produkte von Arbeit sowie die Beziehungen zwischen den daran beteiligten Personen einen tiefgreifenden Wandel: Systematisierung, Versachlichung, Verrechtlichung und Anonymisierung werden hier noch ergänzt durch Abstraktifizierung und Artifizialiserung infolge des Warenförmig-Werdens der Arbeitskraft und infolge von Mechanisierung, kurzum: durch Geld und Maschine. [...] Je abstrakter, artifizieller und unlebendiger diese Art von Arbeit wird, desto freier scheint sie zu sein, von der Dürftigkeit und Dunkelheit kontingenter Verhältnisse erlöst.« (Klinger 2012a: 259)
Spätestens nun gilt: »Die Gesellschaft und ihre Teilsysteme sind, in einem allgemeinen Sinne, aus Arbeit ›gemacht‹.« (Dörre 2012: 493) Doch werden nicht alle »Teilsysteme« im selben Sinn und Ausmaß als Arbeit verstanden
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(vgl. zur Organisation von Arbeit als Haus- oder Familienwirtschaft in anderen Gesellschaften Spittler 2016: 7). Bevor dies näher ausgeführt wird, kann jedoch festgehalten werden, dass Arbeit in ihrer derivativen Form der Erwerbsarbeit maßgebliche Bezugsgröße für die Gestaltung und Bewertung biographischer Prozesse galt und gilt, bis hinein in die daraus abgeleiteten Anspruchsrechte auf wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen (vgl. SenghaasKnobloch 2011: 25). »Entgegen den zyklisch wiederkehrenden Abgesängen auf die Arbeitsgesellschaft (Dahrendorf [...]; Rifkin [...]) ist und bleibt Erwerbsarbeit einer der zentralen Mechanismen zur Herstellung von gesellschaftlicher Ordnung.« (Dingeldey et al. 2015: 1; vgl. ähnlich Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 28)
Damit wiederum gerieten reproduktive Tätigkeiten zunehmend unter Druck, so dass sie gegenwärtig teilweise »professionalisiert, vermarktlicht und transnationalisiert« (Senghaas-Knobloch 2011: 25) werden. Diese Entwicklung wiederum blieb eingebettet in die einer ›von der Dürftigkeit und Dunkelheit kontingenter Verhältnisse erlösten Arbeit‹. Denn trotz dieser Neuerungen bestanden die von Klinger angesprochenen »kontingenten Verhältnisse« durchaus weiter, wenn eben nun weniger in den vermeintlich lichten und freien Sphären abstrakter Arbeit, sondern eben in den Intimbezügen körperlicher und sozialer Erfordernisse. Somit kann sich in der Folge der Trennung von Arbeit und Haus auch die Privatsphäre zum intimen Raum entwickeln, der als Gegenentwurf zu Öffentlichkeit und Arbeitswelt fungiert und somit auch eigenen Gesetzen folgt (vgl. Klinger 2012a: 259). Dies hat Konsequenzen für die Konstrukte gesellschaftlicher Ungleichheit, welche die Geschlechterverhältnisse ebenso fortführen wie sie sie verändern (vgl. ebd.: 260). Die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verbleiben also als ›Asymmetrie der Geschlechter‹, doch wird dieses binäre Verhältnis nun mit den Mitteln der industrialisierten Gesellschaft aufgefüllt und zugleich neu in den Individuen »vereigenschaftet« (ebd.). Insgesamt wäre wohl für die neu konstellierten Subjektivitätsformate zu erwarten, dass es gerade angesichts der postfordistischen Transformation vormaliger Gesellschaftsverhältnisse zu einer daraus resultierenden neuen »Synthese« von »Kapital und Arbeit« im Individuum kommt: die sich selbst kapitalisierende ArbeiterIn, die dies mit dem Bewusstsein der vermeintlich freien, dabei aber gerade auf die ökonomische Selbstperformanz
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abzielende Praxis setzt – die Rolle als UnternehmerIn des Selbst, nun in der ökonomistischen Selbstkonstitution und -performanz (vgl. mit stärker rationalisierender Perspektive Nies/Sauer 2012: 45). Fragt man aus intersektioneller Perspektive nach der Erwerbsbeteiligung von ausländischen Menschen, so ergibt sich zunächst ein überraschender Befund. Denn die Erwerbsquote für Menschen über 15 Jahre lag im Jahr 2014 für deutsche Staatsangehörige bei 60%, bei AusländerInnen hingegen mit 62% höher. Gerade bei EU-BürgerInnen wurde sogar eine Erwerbsbeteiligung von 70% gemessen. Die Geschlechtergrenzen wirken auch hier: »Während die Quote bei den Frauen mit 54 % (Deutsche) beziehungsweise 53 % (Ausländerinnen) nahezu gleich war, lag die Erwerbsquote der deutschen Männer (65 %) deutlich niedriger als die der ausländischen Männer mit 72 %.« (Destatis/ WZB 2016: 131)
Im Hinblick auf nationale Demarkationen sind somit für Erwerbsarbeit sowie Geschlechterzugehörigkeit weitere Differenzierungen erkennbar.28 Auch die Rolle des Staates wird in diesem Kontext einer Transformation erwerbsarbeitsgesellschaftlicher Bezüge verändert. Mit Blick auf den Governance-Begriff von Mayntz wird angemerkt: »Der akteurzentrierte Institutionalismus konzeptualisiert Governance-Arrangements in einem Politikfeld als ein Zusammenspiel aus externen (institutionellen und nichtinstitutionellen) Faktoren, einer Konstellation von Akteuren mit ihren jeweils eigenen Handlungsorientierungen sowie den spezifischen Interaktionsformen zwischen diesen Akteuren. Das Zusammenwirken dieser Faktoren bewirkt ein Politikergebnis, das wiederum die folgenden Politikprozesse beeinflussen kann [...].« (Rehder 2015: 25; verweist auf Mayntz/Scharpf)
28 Weiteren Aufschluss über die Qualität der Arbeit bietet Destatis 2015, wobei sich in den dortigen Daten keine Befunde zu den kategorialen Überschneidungen von Geschlecht und Ethnizität ausmachen lassen. Zu lediglich einer Kategorie, der Ethnizität, dürfte folgender Befund aufschlussreich sein: Waren in 2001 sowohl 87% der deutschen wie der ausländischen Arbeitnehmenden arbeitslosenversichert, waren dies 2014 noch 86% der deutschen, aber nur noch 81% der ausländischen (vgl. Destatis 2015: 49; Destatis 2012: 48).
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Insofern soll im Folgenden dargelegt werden, wie sich Arbeit für den Vergesellschaftungsmodus der Geschlechter auswirkt, welche gesellschaftlichen Rahmungen, etwa des Sozialstaates, zu gewärtigen sind und wie im Zuge dieser gewandelten Konstellationen eine neoliberale Ordnung der Arbeit in intersektionellen Perspektiven interpretiert werden kann. 2.2.2.2 Die Arbeit der Frauen Mehrfach klang bereits an, dass die Perspektive auf die Erwerbstätigkeit von Frauen Auskunft darüber bietet, wie sich gesellschaftliche Prozesse und Strukturen konkret gestalten. Insofern sollen im Folgenden die Arbeitsformen näher in Augenschein genommen werden, die genau darüber informieren. Die Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen wird zunächst wie folgt erklärt: »Wesentliche Gründe hierfür sind neben der verbesserten (Aus-)Bildung von Frauen [...] und den veränderten Vorstellungen zu Familie und sozialen Rollen [...] das Vorhandensein von Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die Ausdehnung des Dienstleistungssektors.« (Steuerwald 2016: 198)
So zutreffend die einzelnen Phänomene für die Erklärung der konkreten Umsetzung von weiblicher Erwerbstätigkeit in gegenwärtigen Gesellschaftsbezügen sein mögen, so wenig bieten sie eine tiefergehende Erklärung für deren eigene Genese und die dahinterliegenden politischen, gesellschaftlichen, sozialen und weiterreichenden Motive. Genau diese sollen im hier vorgelegten Abschnitt näher untersucht werden. Dem bislang eingeschlagenen Weg genealogischer Rekonstruktion folgend, soll auch nunmehr zunächst dargestellt werden, welche Entwicklungsstränge sich zur weiblichen Erwerbstätigkeit in Deutschland aufzeigen lassen. So ergibt sich zunächst und noch sehr allgemein, dass der Bereich der gesellschaftlichen wie individuellen Reproduktion frühzeitig Domäne von Frauen wurde (vgl. bereits Kapitel 2.1.2f. sowie 2.2.1). Dies hat für die Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit, wie sie im Marx’schen Theoriegebäude führend wurde, gerade für Frauen massive Konsequenzen: »Der marxistische Begriff der Reproduktion [...] bezieht sich auf die generative Reproduktion sowie auf Tätigkeiten, welche die Erziehung und Bildung von künftigen Arbeitskräften zum Gegenstand haben. Reproduktionsarbeit findet – der Marxschen
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Theorie zufolge – außerhalb der Erwerbsarbeit statt, ist Nicht-Lohnarbeit und daher keine Arbeit.« (Notz 2014: 172)
Damit gehen Frauen gerade in jener Phase, in der sich die Arbeit aus den häuslich-heimischen Gefilden in die neu errichteten industriellen Fabriken verlagert, ihre gesellschaftlich statuszuweisenden Positionen verloren – und sie erhalten die Zuweisung ihres gesellschaftlichen Ortes in veränderter Weise. Wie bereits gezeigt, ist die daraus resultierende Dichotomisierung der Geschlechter kein neuer Zug von Diskriminierung in europäischen Gesellschaften (vgl. Kapitel 2.2.2.1), doch werden neue Konstruktionen möglich, genau diese binäre Ordnung sozialer Ungleichheit gewissermaßen »im neuen Gewand« modern-fordistischer Arbeit fortzuschreiben. Es waren gerade feministische Diskurse wie die »Hausarbeitsdebatte« der 1970er und 1980er Jahre (vgl. Aulenbacher 2012: 114), die darauf aufmerksam machten, dass kapitalistische Gesellschaften nur Bestand haben können, indem sie »auf Frauenunterdrückung in Form der Aneignung unentlohnter Arbeit« (Notz 2014: 173) zurückgriffen und auf diese Weise die ›Vernutzung von Ressourcen‹ (vgl. Dörre et al. 2012: 11f.) durch die Geschlechterhierarchie verdeckten. Denn indem die sozialen, subjektiven und nicht zuletzt materiellen Mehrkosten in den Sonderraum des Privaten verschoben und somit im öffentlichen Diskurs unsichtbar wurden, ließen sich die Produktionsformen von Wachstum und Ausbeutung natürlicher und sozialer Ressourcen sowie die »Landnahme« (Luxemburg 1981; vgl. Dörre 2016, 2009a) langfristig realisieren. Der in diesem Zusammenhang formulierte Verweis auf freie Zeit des vermeintlich Privaten »hat zur Folge, dass die ›private‹ Seite von der öffentlichen Kritik der dort herrschenden inhumanen Arbeits- und Organisationsbedingungen sowie von der Forderung nach einer notwendigen Vergesellschaftung weitestgehend ausgeschlossen bleibt.« (Notz 2014: 173) Hinzu kommt die Idealisierung der Familie (vgl. ebd.: 173f.). Dabei ist zu beachten, »dass erstens die von Marx und Engels vorausgesetzte, aber nicht untersuchte Reproduktionsarbeit von Frauen für den Bestand des Lohnarbeitsverhältnisses nicht marginal, sondern zentral ist und zweitens die Unterdrückung von Frauen zwar funktional für das Kapitalverhältnis ist, sich aber weder historisch noch systematisch auf dieses zurückführen lässt.« (Weyand 2014: 81; vgl. Notz 2014: 168)
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Zwei Aspekte dieser Entwicklung sind von besonderer Bedeutung: Zum einen sind die Zusammenhänge der in den vorgenannten Weise etablierten Geschlechterdifferenzen dahingehend zu interpretieren, dass Letztere über einen großen Zeitraum hinweg verfolgt und insofern als Erbe patriarchaler Gesellschaftsmuster aufgefasst werden können (vgl. Kapitel 2.1.4). Zum anderen sind die weiteren Entwicklungen der Zuordnung von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen zu thematisieren. Zunächst zeigt sich recht allgemein: »Das Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterordnung ändert sich rasch.« (Kocka 2001: 12; vgl. Kocka/Offe 2000: 12) Als Faktoren dieses Wandels erkennt Kocka in jüngerer Zeit die Ökonomisierung weiterer Teile der Sorgearbeit, die Erwerbsarbeit der Frauen, Änderungen in den einschlägigen Gesetzen sowie einen Wandel der Einstellungen (vgl. Kocka 2001: 12). Andererseits scheint noch immer zu gelten: »Braucht die Wirtschaft die Arbeitskraft der Frauen nicht (mehr), so werden sie wieder aus dem Produktionsprozess gedrängt. Das kann auch zeitweise (Elternzeiten, Großelternzeiten, Pflegezeiten) oder teilzeitig (Teilzeitarbeit, Minijobs und andere prekäre Arbeitsverhältnisse) geschehen.« (Notz 2014: 171)
Auch im Postfordismus deutscher couleur scheint sich die ›Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse‹ entlang der Geschlechterverteilung zu verfestigen. So ist einerseits eine zunehmende Kommodifizierung der Frauen festzustellen, deren Beteiligung an der Erwerbsarbeit im Zeitraum von 2004 bis 2014 um 5 Prozentpunkte auf dann 54% zunahm (vgl. Destatis/WZB 2016: 129).29 Dennoch sind im Hinblick auf die Sorgetätigkeit für Kinder (hier: ausgewiesen unter 15 Jahren) die Erwerbsbeteiligungen sehr unterschiedlich: »Rund 58 % dieser Mütter und 84 % dieser Väter waren 2014 aktiv erwerbstätig« (ebd.: 55). Die Verdienste erweisen sich ebenfalls als höchst geschlechterdifferenziert; zum sog. Gender-Pay-Gap wird dargelegt: »der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen fiel um 22 % geringer aus als der von Männern« (ebd.: 145). Prekäre Reproduktion in Form von Alleinerziehen betrifft zu 90% Frauen.30
29 Zum Vergleich: Die Erwerbsquote der Männer lag 2014 bei 66% (vgl. ebd.). 30 „Das Alleinerziehen betrifft zum größten Teil Frauen: Im Jahr 2014 waren 1,5 Millionen Mütter und 180 000 Väter alleinerziehend. Damit war in neun von zehn Fällen (90%) der alleinerziehende Elternteil die Mutter.“ (Ebd.: 47).
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Im Hinblick auf die geschilderten Entwicklungen und aktuellen Daten ergibt sich das Bild eines hochgradig dynamischen Verlaufs der Kommodifizierung und (Teil-)Dekommodifizierung von Frauen bei gleichzeitiger Fortführung der reproduktiven Tätigkeiten. Insofern kann der früheren feministischen Position auch weiterhin beigepflichtet werden, dass kapitalistische Gesellschaften dadurch Bestand haben, dass sie ihre existenzielle Basis, nämlich die reproduktiven Tätigkeiten, ins privat-häusliche Feld der individuellen Aktivitäten verschieben, die dort Tätigen mit einer diskriminierenden Position und ebensolcher materieller Ausstattung versehen und auf diese Weise ihren Fortbestand durch die ›Landnahme‹ von Tätigkeiten und Personengruppen gewährleisten. Dies traf auf unterschiedliche Weise und trifft im Kapitalismus neoliberaler Formation noch immer die Frauen. 2.2.2.3 Die Arbeit der Männer Nicht allein Frauen werden jedoch durch die spezifische Form der Vergesellschaftung mittels postfordistischer Arbeit bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der patriarchalen Geschlechterdifferenz berührt, sie gilt – wenn auch in gänzlich anderer Form – ebenfalls für die Männer. So ist zunächst festzustellen, dass die in der Antike so verpönte produzierende Arbeit in der Neuzeit zu höchsten Ehren gelangte (vgl. Bosančić 2014: 7ff.). Zugleich jedoch ergab sich eine spezifisch neuzeitliche Spaltung der Gesellschaft in jene Schichten, die sich als obere oder doch zumindest bürgerliche eine religiöse Bestätigung ihrer Erwählung durch Gott aufgrund des Erfolges in der Erwerbsarbeit versprachen, während die unterprivilegierten Schichten durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft in der Neuzeit abermals unterworfen wurden (vgl. ebd.: 9f.; rekurriert auf Marx). Zudem gilt, dass die heute gebräuchliche Praxis von Männlichkeit vor diesem Hintergrund erwachsen und folglich historisch kontingent ist (vgl. Connell 2015: 248). Connell benennt für diese Entwicklungen ein »neues Verständnis von Sexualität und Persönlichkeit« (ebd.), sodann die Kolonialisierung, ferner das Wachsen der Städte, den damit einhergehenden Urbanismus mitsamt einer »berechnenden Rationalität« (ebd.: 250) als Lebensstil und schließlich Kriege ab dem 16. Jahrhundert (vgl. ebd.: 251). In seiner historischen Rekonstruktion des gesellschaftlichen Arbeitsverständnisses in Europa konstatiert Kocka ebenfalls einen Gesinnungswandel, nun die Arbeit betreffend, den er zwar im Mittelalter beginnen sieht, der jedoch weit stärker noch im 17. und 18. Jahrhundert wirksam wurde. In dieser Zeit wurde Ar-
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beit nach Kockas Auffassung zum »Kern menschlicher Selbstverwirklichung« (Kocka 2001: 8). Zugleich wurden Arbeit und die durch sie vermittelten gesellschaftlichen Zuordnungen zu einem gerade zwischen den Geschlechtern umkämpften Areal. Männlichkeit und die sie fundierende Arbeit der Männer musste erst einigermaßen mühselig realisiert werden, wie Connell für die Restrukturierung des Geschlechterarrangements zur Zeit der industriellen Revolution in den USA erläutert: »Frauen stellten in Wirklichkeit jedoch einen Großteil der Arbeiterinnen in der Textilindustrie, arbeiteten aber auch im Kohlebergbau, an Hochöfen und in Druckereien. Sie waren auch an Arbeitskämpfen beteiligt und gehörten mitunter sogar zu den Streikführern, wie Mary Blewett es für die Weber von Fall River in Massachusetts nachgewiesen hat. Die Entfernung der Frauen aus der Schwerindustrie war deshalb entscheidend für die Ausbildung einer Arbeiterklassen-Männlichkeit und stand in Verbindung mit der bürgerlichen Ideologie der Trennung der Sphären und der Strategie eines Familieneinkommens für Männer.« (Connell 2015: 260)
An diesem Beispiel kann die Restrukturierung der Geschlechterstrukturen unter den gewandelten Voraussetzungen des Fordismus herausgelesen werden. Doch ist bei aller Wertschätzung der Arbeit und ihrer normalisierenden Funktion für das Normalarbeitsverhältnis zu betonen, dass es nie allen Männern zur Verfügung stand, »sondern in erster Linie und im vollen Umfang der damit verbundenen Privilegien für die einheimische männliche Mittelschicht. Mit der Zersetzung dieses Arrangements ist [...] daher ein spezifischer Konnex von Arbeit und Männlichkeit ins Wanken geraten.« (Aulenbacher/Ziegler 2010: 6) Damit ergibt sich einerseits eine differenzierte Normalität der Arbeit – auch für die Männer. Die vorgegebene Normalität war unter dieser Hinsicht vermutlich auch für etliche Männer keineswegs erreichbares Ziel, sondern weit eher unerreichbares Ideal einer Berufsbiographie. Insofern vergesellschaftete Arbeit nicht allein, sondern durch Arbeit erfolgten auch die Statuszuweisungen im Hinblick auf mittlere oder eben untergeordnete Schichtzugehörigkeiten. Zugleich fungieren intersektionelle Kategorien, nun verdichtet in einem Komplex als »einheimische männliche Mittelschicht«, in diesem Zusammenhang unübersehbar.
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Die daraus heute resultierenden quantitativen wie qualitativen Differenzen der Erwerbsbeteiligung zwischen den Geschlechtern wurden bereits zuvor erwähnt. Ein Zusammenhang jedoch sei an dieser Stelle zusätzlich angeführt. Jüngere Untersuchungen zeigen: »Bei den Vätern ist die Beteiligung am Erwerbsleben weitgehend unabhängig vom Heranwachsen der Kinder. Sie lag 2014 – je nach Alter des jüngsten Kindes – zwischen 82 % und 85 %.« (Destatis/WZB 2016: 55; Frauen: zwischen 32 und 72%)
Auch dieser Daten belegen, dass Männer 2014 häufiger als Frauen der Erwerbsarbeit nachgingen, wenn sie mit heranwachsenden Kindern zusammenleben. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtergruppen macht abermals deutlich, wie produktive und reproduktive Arbeit gesellschaftlich durch die Zuteilung zu den verschiedenen Geschlechtern organisiert werden. Die Erwerbsarbeit ist noch immer in beträchtlichem Ausmaß die Domäne wie die Obliegenheit der Männer. 2.2.3 Der Wandel der sozialen Ungleichheit und des Wohlfahrtsstaats Dass die Erwerbsarbeit mit der gesamtstaatlichen und speziell der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung korreliert, wurde im vorliegenden Band bereits verschiedentlich angedeutet. Nun sollen einige der damit einhergehenden gesellschaftlichen Perspektiven näher dargestellt werden, um einen detailgetreueren Blick auf die gegenwärtigen Konstellationen von sozialen Ordnungen und der Rolle der Erwerbsarbeit darin gewinnen zu können. So wird zunächst recht allgemein angemerkt: »Wohlfahrtsstaatliche Reformen orientierten sich seit den 1990er Jahren am Paradigma eines aktivierenden Wohlfahrtsstaates. Dabei war das Erreichen von Beschäftigungsfähigkeit für alle Erwerbsbürger eines der zentralen Ziele. Der Umbau der Transfer- und Steuersysteme zielte entsprechend auf die Erhöhung finanzieller Arbeitsanreize.« (Dingeldey 2015: 101; vgl. detaillierter ebd.: 106ff.)
Bereits mit diesen Hinweisen werden Argumentationsfiguren deutlich, die sich zuvor angesichts der Entwicklungen und Äußerungen des Neoliberalismus ausmachen ließen (vgl. Kapitel 1). Hier nun ergeben sich Konse-
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quenzen, die auf wohlfahrtsstaatliche Strukturen ebenso Einfluss nehmen wie auf die konkreten Gegebenheiten der Möglichkeiten einer Vergesellschaftung im Rahmen sozialer Sicherung. Da aber soziale Sicherung bereits seit den Bismarck’schen Sozialgesetzgebungen ab 1883 an den Status der Erwerbsarbeit geknüpft wurde, wird zugleich deutlich, dass mit den skizzierten Veränderungen ein ebenso transformiertes Setting der Erwerbsarbeit verbunden ist: »Aufgrund der strukturellen Umbrüche im Beschäftigungs- und Produktionssystem setzte sich parallel dazu die Erosion der kollektiven Interessenvertretung in der tarifpolitischen Arena fort. Dies ging einher mit sinkenden Reallöhnen und einer Zunahme der Lohnspreizung [...].« (Dingeldey 2015: 101)
Insofern zeigt sich der strukturelle Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Grundierung der Arbeitsgesellschaft ab den 1990ern in vielfältiger Form, nach den zuvor herangezogenen Untersuchungen v.a. durch • • • •
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Aktivierung der Individuen, Kommodifizierung möglichst vieler als gesellschaftliches Ziel, Transformation wohlfahrtsstaatlicher »Transfer- und Steuersysteme«, Arbeitsanreize – hier finanzieller, nicht selten auch weiterreichender und mit den Mitteln gouvernementaler Führung realisierter Maßnahmen, Umbrüche im Produktionssystem (Postfordismus, Neoliberalismus), Rückgang kollektiver Interessenvertretungen (vgl. bzgl. der Gewerkschaften Bönke et al. 2015: 25), Schwankungen bei der Entwicklung der Reallöhne,31
31 Während Dingeldey von »sinkenden Reallöhnen« (Dingeldey 2015: 101) spricht, legt der Datenreport 2016 dar: »Die tariflichen Monatsverdienste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich in Deutschland erhöhten sich von 2005 bis 2014 durchschnittlich um 22,3 %. Die Verbraucherpreise stiegen im gleichen Zeitraum um 15,2 %. Die Tarifverdienste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind jedoch nicht gleichmäßig gestiegen: In den Jahren 2006, 2007 und 2011 stiegen die Verbraucherpreise stärker als die durchschnittlichen Tarifverdienste, in den
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Spreizung der Löhne – und der Einkommen allgemein (vgl. Behringer et al. 2014; OECD 2015; WSI 2016), Zunahme atypischer Beschäftigung (vgl. Destatis/WZB 2016: 132ff.).
Zugleich wurden im Kontext der wirtschaftlichen und politischen Krisen der 1990er Jahre – zu nennen wären hier die Steigerung der Arbeitslosenzahlen, der damit einhergehende Ausfall von BeitragszahlerInnen sowie die sich anschließende »Sozialschmarotzer-Debatte« (Weiss 2012: 110) – weitere Änderungsansprüche an das Konzept der sozialen Sicherung herangetragen. Insofern ergibt sich zunächst eine Melange aus höchst differenten Faktoren, die in ihrem komplexen wechselseitigen Verhältnis kaum monokausal begründet und in ihrem Verlauf somit nicht als linear beschrieben werden können. Vielmehr wirkten subjektive Positionen und Einstellungen, soziale Anrufungen, politische Programme und Partiallösungen sowie gesellschaftliche Normative aufeinander ein, ergaben situative Kontexte und eröffneten schließlich inkrementelle Prozesse, die sich einstweilen in den aktuellen Gegebenheiten äußern.32 Insbesondere können solche mäandernden Prozesse und die sie befeuernden Konflikte mit dem Begriff des Interessengegensatzes zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gefasst werden. Auf diese Weise nämlich kommen deren unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen alltäglicher Lebensführung (Praxis) und ihre ökonomische Position aufgrund der Stellung in Produktions- und Einkommenszusammenhängen (soziale Lage) in den Blick (für eine Marx’sche Perspektive vgl. Weyand 2014: 73; für eine intersektionelle Perspektive auf Geschlechts- und Klassenbezüge Wippermann 2016). Ändern sich nun also die sozialstaatlichen Strukturen und Normative sowie damit die Rahmenbedingungen für die Governance von Arbeit, so gerät das tradierte Familienernährermodell in Bewegung und führt damit zu Veränderungen der Rollen und der Teilhabemöglichkeiten sowie -formen
Jahren 2008 bis 2010 sowie in den Jahren 2012 bis 2014 war es umgekehrt.« (Destatis/WZB 2016: 139). 32 Aus Platz- und Darstellungsgründen können solche Entwicklungen hier jedoch nicht nachgezeichnet werden; vgl. etwa zur neoliberalen Umsteuerung sozialstaatlicher Konzepte und Programme Lessenich 2013; zur subjekttheoretischen Kritik von workfare Böhmer 2013b; zur folgenreichen Politikänderung hin zum »Sicherheitsstaat« Weiss 2012: 113.
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am Arbeitsmarkt (vgl. Dingeldey 2015: 104ff.). Da sich jedoch gezeigt hat, dass jene Traditionen aus intersektioneller Perspektive in früheren Zeiten keineswegs einen Ausgleich sozialer Ungleichheit beförderten, müssten auch die Transformationen jener Governance daraufhin überprüft werden, ob und ggf. wie sich durch die Veränderung (nicht: Löschung) wohlfahrtsstaatlicher Konzepte auch eine Veränderung und im günstigen Fall Verbesserungen, konkret: der Chancen von Frauen am Arbeitsmarkt, ergeben. Ein Blick auf strukturelle Zusammenhänge sozialstaatlicher und arbeitsmarkspezifischer Aspekte zeigt zunächst: »Traditionelle Interessenpolitik löste Probleme durch Regulierung und Betriebsräte und Gewerkschaften waren die Garanten der Normen und Regeln, die sie stellvertretend in den Aushandlungsprozessen mit dem Kapital für die Beschäftigten durchsetzten. Das funktioniert heute nicht mehr: Normen und Regeln werden bei ergebnis- und marktorientierten Steuerungsformen von Arbeit von den Beschäftigten selbst unterlaufen.« (Nies/Sauer 2012: 55; teilweise davon abweichende Befunde bietet Dörre 2016: 142ff.)
Daraus ergibt sich zunächst eine weitaus stärkere Vereinzelung, auch im Hinblick auf die Interessenvertretungen am Arbeitsmarkt, da nunmehr »das Ende der Stellvertreterpolitik« (Nies/Sauer 2012: 55) eingeläutet scheint. Rehder stellt fest, dass staatliche Regulierung, z.B. von jüngst erfolgten Tarifkonflikten, seitens VertreterInnen staatlicher Instanzen zurückgewiesen wird. Daraus wird gefolgert: »Staatsentlastung wird also nicht mehr zwingend durch die Delegation an Verbände erzielt, sondern durch Delegation an den Markt.« (Rehder 2015: 38) Wie bereits hinsichtlich der ausgeweiteten Kommodifizierung ausgeführt, zeigt sich so das Novum staatlicher, dabei arbeitsgesellschaftlicher und schlussendlich daraus abgeleitet wiederum wohlfahrtsstaatlicher Transformation: Gerade die Perspektive der Governance gestattet es, solche Umsteuerung sektorenspezifisch zu reflektieren und nunmehr eine verstärkte Vermarktlichung gesellschaftlicher Zusammenhänge zu erkennen. Reduziert werden hierbei die Einflussmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure (im obigen Zitat: »Verbände«) zugunsten von Marktähnlichen Formaten des Wettbewerbs und der um Vorherrschaft konkurrierenden Akteure und Konzepte. Hierbei zeigt sich des Weiteren die ebenfalls bereits erwähnte Abschwächung kollektiver Akteure (abermals: Ver-
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bände, sodann Gewerkschaften u.a.m.) zugunsten einer neoliberalen »Entkollektivierungs- oder Reindividualisierungs-Tendenz« (Castel 2011: 18). Aus den sich damit ergebenden Konkurrenzsituationen wiederum erwachsen Veränderungen der Formen und der Möglichkeiten von solidarischen Haltungen der Individuen allgemein, der arbeitenden angesichts gewachsener Strukturen umso mehr (vgl. ebd.: 19). Dieser Prozess verstellt zunächst den Blick auf die im Zuge von atypischen Beschäftigungen nicht seltenen Prekarisierungsprozesse: »Das Wechselspiel von Disziplinierung und Selbstdisziplinierung, das den gesamten Lebenszusammenhang durchdringt, maskiert […] den Herrschaftscharakter von Prekarisierungsprozessen.« (Dörre 2011: 399)
Deutlich wird, dass Prekarisierungen durch gewandelte Erwerbssituationen (z.B. atypische Beschäftigung) und Wechsel des Politikstils (Vermarktlichung) stattfinden, ihr Charakter von Macht wird mitunter »maskiert« und ermöglichte gerade so eine Herrschaft machtvoller Akteure auf die nunmehr neoliberale Weise der »Führung von Führungen«. Diese Führungsform wiederum ist »janusköpfig« (vgl. Kapitel 1.1.4.3), insofern sie der Selbststeuerung der Subjekte in jenen gesellschaftlichen Sphären entgegenkommt, die sich in ihrem »Wechselspiel von Disziplinierung und Selbstdisziplinierung« als erfolgreiche MarkteilnehmerInnen erwiesen haben, dort indes als harsch, wo es um »eine neue Mixtur von ›Fordern und Fördern‹« (Offe 2003: 811) geht. Dass sich solche deaktivierenden Mixturen nur wenig als ›arbeitsmarktpolitisch nutzbringend‹ erweisen, wurde andernorts bereits umfänglich dargestellt (vgl. Wacquant 2009: 311ff.; Wulfgramm 2011: 190) und wird angesichts der zunehmenden Anzahl von Geflüchteten etwa im Hinblick auf Sprachschwierigkeiten eher noch stärker wirksam (vgl. Dörre 2016: 135). Zudem zeigen sich im historischen Längsschnitt Unterschiede in den Erwerbssituationen unterschiedlicher Kohorten, die einerseits deren soziale Ungleichheit – gerade im Alter – zur Folge haben. Prognostiziert wird, dass sich daraus ebenfalls verstärkte Ansprüche an die staatlichen Sicherungssysteme ergeben können: »Younger cohorts and lower skilled individuals experience higher transitory fluctuations of gross earnings and more pronounced inequality in terms of a more dispersed
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permanent income component. Without insurance or the adjustment of existing social security schemes, those transitory fluctuations translate directly into additional welfare costs [...].« (Bönke et al. 2015: 25)
Wenn allerdings die Maßstäbe für neue Verhältnisbestimmungen von Arbeit und Kapital einzig im Markt gesehen werden, enden sämtliche dieser Bestimmungsprozesse »in einer Anpassungsspirale« (Nies/Sauer 2012: 57) der Individuen. Ein individualpraktischer »race to the bottom« gewissermaßen, der einem solchen in intersektionell-struktureller Hinsicht (vgl. Kapitel 2.1) entspricht. Doch sind auch subjektspezifische Auswege denkbar: Die Antwort einer kritischen Position nämlich scheint möglich, indem in einer Verbindung von Widerstand und Aneignung zugleich die »eigensinnigen Ansprüche der Arbeitssubjekte an die Gestaltung ihrer Arbeit und ihres Lebens« (ebd.) erfolgt. Damit allerdings stehen die arbeitenden Subjekte allein vor der Herausforderung einer Zurückweisung neoliberalen Anrufungen und müssen sich neue Formate der Vergemeinschaftung suchen, um ihre – individuellen – Bedarfe, Ansprüche und Vorstellungen gemeinsam schultern zu können. Doch sind kollektive Interessenvertretungen im Arbeitsmarkt vermutlich ebenso schwierig wiederzugewinnen wie sozialrechtliche Ansprüche der nun auch politisch vereinzelten Menschen durchzuhalten oder gar neu zu erheben. Gerade der letztgenannte Aspekt einer neoliberalen ›Neuerfindung‹ des Wohlfahrtsstaates bedarf einer weiteren Reflexion. Denn trotz der zuvor erwähnten Strategien der Zurückhaltung in Arbeitskämpfen und einer individualpraktischen Anrufung als Subjekt des Selbstmanagements kann nicht einfachhin von Deregulierung gesprochen werden: »Im Gegenteil: Regulierung bleibt ein konstitutives Element für das Funktionieren des deutschen Sozialmodells und ebenso für andere Gebiete (etwa den Verbraucherschutz, das Gesellschafts- und Handelsrecht, die Ökologie, die Besteuerung usw.). Es gilt auch für das Arbeitssystem, dass Deutschland nach wie vor ein hochregulierter, ›verrechtlichter‹ Sozialstaat – eine ›soziale Marktwirtschaft‹, wie Ludwig Erhard sie nannte – ist.« (Mückenberger 2015: 73)
Mückenberger spricht von den sechs »Systempfeiler[n]« des deutschen Arbeitssystems. Dabei thematisiert er:
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1. das duale Berufsausbildungssystem, 2. das Normalarbeitsverhältnis, 3. das System sozialer Sicherung durch die Koppelung von beruflichen und außerberuflichen Statuspositionen, 4. die betriebliche Beteiligung, 5. die nahezu paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsräten großer Unternehmen, 6. das System tariflicher Kollektivverhandlungen (vgl. ebd.: 73ff.).33 Insofern ist einerseits ein doch bemerkenswert weites Feld arbeitsgesellschaftlicher Themen weiterhin rechtlich fortdauernd reguliert, wenn auch gelegentlich in unterschiedlichen Entwicklungssträngen. Mückenberger sieht insbesondere qualitativ bedeutsame Teilbereiche arbeitsgesellschaftlicher Ordnungen als stabil an, doch führten die bislang skizzierten Tendenzen »zur Segmentierung von Lebenschancen, quantitativen Einschnitten und Entrechtung an den Rändern der Arbeitsmärkte« (Mückenberger 2015: 93). Eine weitere Trennlinie neoliberaler Umsteuerung sozialstaatlicher Strukturen sieht Klinger darin, dass »neoliberale Politik [...] das Arrangement zwischen öffentlichem und privatem Sorge-Regime in Frage« (Klinger 2012a: 267) stelle. Wenngleich die Trennlinie der Geschlechter schon seit Langem für die reproduktive Tätigkeit strukturbildend war, so wird doch das dieser Geschlechterordnung zugrunde liegende Konzept von der Logik der Solidarität auf jene der Wertschöpfung umgestellt (vgl. ebd.: 269). Auf diese Weise wird nun das Private unter der Perspektive der ökonomischen Wertschöpfung betrachtet. Dass die Folgen technologischer Innovationen und der mit ihnen einhergehenden Veränderungen in den Produktionsprozessen zu einer »Erosion der individuellen Identitäten und des sozialen Zusammenhalts« (Kocka 2015: 16) führen,34 scheint die logische Folge zu sein.
33 Es sei darauf verwiesen, dass der letztgenannte Aspekt nicht einer Stabilität gewerkschaftlicher Betätigung in toto das Wort redet, sondern lediglich betont, dass auch gegenwärtig Tarifverträge noch immer eine einigermaßen starke Bedeutung in der Arbeitsgesellschaft haben, wenngleich gerade der Flächentarifvertrag immer wieder unter Druck gerät. 34 Dementgegen das sozialpolitische Postulat »eines ›guten Betriebssystems‹ für die wirtschaftliche Entwicklung« erhebt Möller 2016: 54.
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Zur Erklärung des arbeits- und wohlfahrtsstaatlichen Institutionenwandels wird gegenwärtig das Konzept der Überlagerung (layering) diskutiert, das als grundlegend für weitere Formen wie Ersetzung, Nichtanpassung oder Umformung angesehen wird (vgl. Rehder 2015: 35). So plausibel ein solches Verständnis theoretisch und so gut nachvollziehbar es auf empirischer Ebene sein mag, ist doch zu kritisieren, dass auch unter dieser Perspektive »die spezifische Organisation der Reproduktionstätigkeiten unberücksichtigt bleibt« (Dingeldey 2015: 103). Dennoch ist auf die »Koevolution von Arbeitsmärken und Familienbeziehungen« (ebd.) zu verweisen, die auch der hier verfolgten Argumentation hinterlegt ist und dabei dezidiert von einem schlicht kausalen Verhältnis Abstand nimmt. Die Konsequenzen dieser und weiterer Koevolutionen führen zu spezifischen sozialen Lagen, damit auch sozialen Ungleichheiten und ebenso wohlfahrtsstaatlichen Programmierungen. In einem ersten Schritt der analytischen Annäherung an diesen Komplex von Entwicklungen mehrerer sozialer Felder und Funktionszusammenhänge lässt sich sagen: »Eine vor diesem Hintergrund durchaus zu beobachtende soziale Polarisierung wird damit nicht allein über die Formen der Erwerbsintegration, sondern über die verschiedenen Kombinationen von Erwerbs- und Familienformen bestimmt. Da diese im Lebenslauf hochgradig variabel sind, erscheint soziale Prekarisierung letztlich nicht auf spezifische soziale Gruppen eingegrenzt, sondern in hohem Maße durch individuelle Lebensverläufe bestimmt.« (Dingeldey 2015: 124)
Die Verfasserin erkennt sogar, ihre vorstehende These weiterführend, »in Paarhaushalten eine Art Marriage of Flexibility and Security« (ebd.: 119), die gerade dort ihre individuelle und soziale Kompensation erfahren. Doch ganz so individuell dürften die Lebensverläufe im Neoliberalismus nicht sein (vgl. Kapitel 1). Denn die kollektiven Interessenvertretungen nehmen eher ab, so lässt sich ein Befund aus dem diesbezüglichen Untersuchungsfeld anführen, doch werden die Menschen gesellschaftlich mit denselben Subjektivierungstechnologien – und insofern neoliberal – adressiert. Dann aber sind es nicht »individuelle Lebensverläufe«, sondern subjektivierte Lebensführungen, die soziostrukturell und politisch motiviert sowie neoliberal vergesellschaftet werden. Die Frage der familiären Kompensation ist folglich keine, die schlicht dem Einzelfall und seinem Selbst- sowie Beziehungsmanagement zugeschrieben werden könnte, sondern zunächst die all-
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gemein evozierte Antwort auf allgemeine gesellschaftliche Prozesse und Strukturen. Dass diese Antwort auch individuell ausgestaltet wird, soll natürlich nicht bestritten werden; doch ist dies erst der logisch zweite Schritt, die individuelle Antwort eben auf eine überindividuelle Lage. Diesen Ansätzen scheint sich auch die Autorin nicht zu entziehen, wenn sie zur sog. Dualisierungsthese bemerkt: »Kaum diskutiert wurde dabei bislang, dass auch das den Leistungssystemen zugrunde liegende geschlechterpolitische Leitbild partiell verändert wurde und damit bereits bestehende, geschlechterdifferente Effekte hinsichtlich der Leistungen weiter verstärkt wurden.« (Dingeldey 2015: 112)
Dies stellt die Autorin z.B. im Hinblick auf die ALG-II-Leistungen dar (vgl. ebd.: 112f.). Insofern ist in dieser Hinsicht nicht allein von einer neoliberalen, sondern ebenso von einer erneuten konservativen Politik auszugehen, die sich der früher etablierten Geschlechterdifferenzen bedient, um gesellschaftliche Strukturen gegenwärtig weiter zu entwickeln. Zumindest hat diese »doppelzügige Politik« nicht nur die Etablierung überkommener Geschlechterordnungen zur Folge, sondern angesichts der spezifischen Umsetzungsformen auch die – logisch damit kompatible, weil Kommodifizierung befördernde, – Veränderung der sozialen Ordnungen: »Während das fordistisch-wohlfahrtsstaatliche Regime den Frauen einen täglichen Spagat zwischen einem relativ schlecht bezahlten Dienstleistungsjob und der unbezahlten Arbeit im eigenen Haushalt zugemutet hat, kommt unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen zum ersten Mal die Aufkündigung des asymmetrischen Geschlechterarrangements in Sicht: Das adult worker model wird zum konkreten Politikziel.« (Klinger 2012a: 270)35
Doch fragt sich, ob die skizzierte Befreiung vom Spagat der ›fordistischwohlfahrtsstaatlichen Doppelbelastung‹ tatsächlich die GeschlechterAsymmetrie auflöst – oder bloß auf ein höheres Abstraktionsniveau sozialer Ungleichheit hebt: Denn nicht nur die Arbeitstätigkeit aller Erwachsener, unabhängig von ihrem Geschlecht, ist dann gesellschaftliche Forde-
35 Zuvor war noch der male breadwinner mit seiner female homemaker maßgebliches Ideal; vgl. ebd.: 262.
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rung und zunehmend gesellschaftliche Praxis, sondern zugleich wird die durch verstärkte Erwerbstätigkeit der Frauen neu entstehende oder zumindest deutlich geweitete Leerstelle reproduktiver Tätigkeiten in zweifacher Weise ökonomisiert – durch die (noch) stärker effizienzorientierte Lebensführung jener Frauen. Doch gibt es noch eine zweite Version ökonomisierter Lebensführung: »Die Lebenssorge-Industrie bedient das Leben, aber sie dient ihm nicht; sie folgt dem Marktmechanismus. [...] Und an den alten Vorgaben hängen die alten Problemstellungen.« (Ebd.: 270) Auch die alten Fremdheitskonstruktionen zur Externalisierung und deren Legitimierung von schlecht entlohnter Sorgearbeit tauchen wieder auf, nun aber im globalisierten Gewand (vgl. ebd.: 271). Die Rückseite dieser Entwicklung sieht Klinger in einer Emotionalisierung von Gütern und Dienstleistungen, die allerdings auch im ökonomischen Korsett angeboten werden und insofern auf die vormaligen AlleinträgerInnen der Emotion, die Menschen, durchschlagen: Ihre menschlichen Eigenschaften werden nunmehr zu Kapital (vgl. ebd.: 272). Zu einer solchen – nach der kritischen Rekonstruktion von Klingers diesbezüglichen Hinweisen – intensivierten Ökonomisierung v.a. der weiblichen Lebensführungen kommt nach Mückenberger die sozialrechtlich beförderte Marginalisierung hinzu: »Die Einschnitte, Risiko- und Versicherungsprivatisierungen im Recht der Krankenversicherung (SGB V), der Arbeitslosenversicherung (SGB II und III) und der Sozialhilfe (SGB XII), auch übriger Teile der Rentenversicherung (SGB VI) haben zu einer drastischen Degradierung, Entrechtung und Verarmung von Teilen der Bevölkerung geführt – oft ist die Segregation nach Merkmalen des Alters, des Geschlechts, des Bildungsstandes und/oder der Ethnie strukturiert [...].« (Mückenberger 2015: 94)
Auf diese Weise ließe sich die These einer intersektionellen Segregation formulieren, die soziale Ungleichheit durch mikrophysikalische Differenzen (vgl. Kapitel 2.1) der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilgruppen begründet, entwickelt und legitimiert. Dabei ziehen sich Trennlinien nicht allein durch die von Mückenberger erwähnten bekannten Gruppierungen, sondern ebenso »zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen, Unternehmen, Branchen, Regionen etc.« (Dingeldey et al. 2015: 11) Diese Teilgruppierungen bedürfen weiterer analytischer, aber letztlich auch politi-
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scher Aufmerksamkeit, um die in ihrer Aufsplitterung grassierende soziale Ungleichheit mindestens nicht weiter anwachsen zu lassen, eventuell gar einzuhegen und zurückzuführen. Zur Struktur eines Wandels sozialer Ungleichheit und des ihm hinterlegten sozialstaatlichen Wandels kann abschließend festgehalten werden, dass reproduktive Aufgaben die sozialen Ordnungen der Menschen bereits seit ihren Anfängen prägen – und die der spezifischen Geschlechterdifferenzen seit den Anfängen des Industriekapitalismus. Jüngst jedoch haben sich bemerkenswerte Transformationen ergeben, die neben der in ihrer Konkretisierung nur geringfügig veränderte Dichotomie arbeitender Geschlechter weitere Ungleichheiten verwirklicht. Dazu zählt die internationale Arbeitsteilung, gerade im Feld der Reproduktion, dazu zählt weiter die »janusköpfige Ökonomisierung« von Menschen, bei der die niedriger gestellten Milieus die harte Hand des Reglements von workfare und Marginalisierung erfahren. Wohlfahrtsstaatliche Ordnungen und Strukturierungen scheinen zunehmend mehr solche Fundierung widerzuspiegeln und zugleich voran zu bewegen. Insofern soll nun dafür plädiert werden, nicht allein neoliberale und neosoziale (vgl. Lessenich 2013) Tendenzen zu identifizieren, sondern darin ebenfalls neosubjektive. Denn das gegenwärtige Regime verwirklicht die Herrschaftsformen Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus (vgl. Kapitel 2.1.4) durch eine Neuerfindung der Subjektivität als Doppelgestalt von Aktivität und Deaktivierung (vgl. Wacquant 2009: 314). Bevor diese doppelte Fassung von Vergesellschaftung in ihren Konsequenzen auf die Bildungsarbeit thematisiert wird, sollen jedoch zunächst noch Perspektiven für die Erwerbsarbeit im Neoliberalismus umschrieben werden. 2.2.4 Perspektiven der Erwerbsarbeit Erwerbsarbeit vermittelt in postfordistischen Gesellschaften in ausgezeichneter Weise die »Zuweisung von Lebenschancen« (Ahrens/Spöttl 2012: 88)36. Wie bislang gezeigt werden konnte, erfolgt dabei zugleich in neosubjektiver Perspektive die Ökonomisierung der »Tauglichen« sowie die DeÖkonomisierung der als »untauglich« Betrachteten (vgl. Kapitel 1.1.4.3;
36 Zur Beruflichkeit als spezifisches deutsches Konzept jener »Zuweisungen« vgl. Bolder et al. 2012; Corsten 2012; Voß 2012.
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Wacquant 2009). Mindestens zwei Stufen der diskriminierenden Vergesellschaftung qua Erwerbsarbeit werden zu diesem Zweck beschritten: Zunächst muss die Option für solche differenzierende Gewährung des Zutritts zu sowie der Einbindung in gesellschaftliche Bezüge formuliert werden. In einem zweiten Schritt bedarf es der dezidierten Maßstäbe jener Differenzierung. Aufgrund der bislang vorgelegten Analysen ist davon auszugehen, dass dabei grundsätzliche politische Weichenstellungen (vgl. Kapitel 1.1.2.2) und inkrementelle Entwicklungsprozesse (vgl. Kapitel 2.2.3) Hand in Hand gehen. Die bereits früher vorgetragene These einer wohlfahrtsstaatlichen Spekulation mit subjektiviertem Humankapital (vgl. Böhmer 2013a, b) zeigt sich abermals bestätigt. Es erfolgt – in aller Regel kaum explizit und vorsätzlich – eine Unterscheidung bezüglich jener Individuen, die durch die unterstützend befreiende »Hand« (wohlfahrts)staatlicher Intervention (vgl. Bourdieu 1998a) in ihrer Lebensführung freiheitliche Unterstützungspotentiale erfahren, und jenen, die durch die harte und reglementierende »Hand« desselben Systems (wohlfahrts)staatlicher Intervention das »Fordern« neoliberaler Regime erleben. Wie sich diese Nuancen von Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit und den transformierten Wohlfahrtsstaat ergeben, welche – keineswegs nuancierten – Konsequenzen sich für die Individuen erkennen lassen und was dies für eine kritische Perspektive neoliberaler Erwerbsarbeit bedeuten kann, sollen die nun anschließenden Darstellungen ausloten. 2.2.4.1 Modernisierungstheoretische Aspekte Verschiedene Interpretationsmodelle liegen vor, um die oben eher als historische Rekonstruktionen formulierten Analysen im Hinblick auf spezielle Theoriemodelle zu interpretieren. Das erste solche Modell, das nunmehr diskutiert werden soll, ist das modernisierungstheoretische, das indes nicht als einheitlich geschlossenes, progressives Konzept verstanden werden kann (vgl. Berger 1996: 47ff.). Hier soll als Modernisierungstheorie die Position verstanden werden, dass seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Prozesse der Rationalisierung, Technologisierung, Säkularisierung, Individuierung und Differenzierung sowie der Bildungsexpansion auszumachen sind (vgl. u.a. Berger 1996; Reckwitz 2008; Weber 2016, 1980). Für die Erwerbsarbeit bedeutet dieses Konzept die Auffassung einer zunehmenden Inklusion weiterer Individuen und Gruppierungen in ihre Zusammenhänge. Steuerwald legt diesbezüglich dar:
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»Die modernisierungstheoretische Voraussage, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung ins Erwerbsleben einbezogen wird, lässt sich im Prinzip in vielen Gesellschaften bestätigen, auch wenn in den letzten Jahren in vielen Ländern nur geringe Fortschritte zu verzeichnen waren.« (Steuerwald 2016: 225)
Diese Perspektive, die bislang im vorliegenden Band unter dem Begriff der Kommodifizierung verhandelt wurde, beschreibt die bevölkerungsspezifischen Folgen der Modernisierung: Das Normalitätskonzept moderner Gesellschaften besteht demzufolge darin, in der Erwerbstätigkeit möglichst vieler Menschen die Passung mit den zuvor geschilderten Trends gesellschaftlicher Modernisierung zu sehen. Zugleich muss erwähnt werden, dass die kommodifizierende Modernisierung wohl kaum für das Gesamt der Bevölkerung gilt. Im Hinblick auf die Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit wurden bereits die Zyklen von Kommodifizierung und Dekommodifizierung erwähnt mitsamt ihren geschlechterpolitischen Grundlagen und Konsequenzen (vgl. Kapitel 2.2.1 sowie 2.2.3). Ob nun das aktuell proklamierte Konzept des adult worker tatsächlich für die gesamte Bevölkerung gilt, muss aufgrund der zuvor gebotenen intersektionellen Rekonstruktionen einigermaßen in Zweifel gezogen werden. Eher ist zu vermuten, dass weitere oder doch andere Gruppierungen der arbeitsgesellschaftlichen Diskriminierung ausgesetzt werden; zu denken wäre etwa an Geflüchtete (vgl. Böhmer 2016a) oder auch Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung (vgl. Aktion Mensch 2015: 40ff.; BA 2016a; DGB 2015; Kardoff et al. 2013; Pfahl 2010), deren Partizipation am Arbeitsmarkt jeweils als prekär einzuschätzen ist. Eine weitere These zur Modernisierung der Erwerbsarbeit lautete, dass die Arbeitslosigkeit durch moderne Produktion und ebensolche Governance der Arbeit gesteuert werden könne und in ihrer Brisanz für die Gesellschaft beherrschbar werde. Diesbezüglich wurde jüngst festgestellt: »Die modernisierungstheoretische Modellprognose, dass im Zeitverlauf die Zahl der Arbeitslosen sinkt, erwies sich für Deutschland und einige andere Gesellschaften als unzutreffend. Vor allem ab den 1970er Jahren, die in vielen Gesellschaften den Übergang in die Dienstleistungsgesellschaften markieren, lässt sich entgegen der Annahme ein Anstieg der Arbeitslosenquoten beobachten.« (Steuerwald 2016: 225)
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Skeptische Positionen gegenüber dieser Einschätzung können anführen, dass eine solche Zunahme der Arbeitslosigkeit trotz der Banken- und Finanzkrise 2008 für Deutschland nicht zutreffe, da die Zahl der Erwerbstätigen selbst dann noch, wenn auch langsamer, gestiegen sei (vgl. Destatis/WZB 2016: 127). Diesbezüglich ist indes festzuhalten, dass ein Blick auf die geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr eine andere Sicht eröffnet: 1991 wurden 60,3 Milliarden Stunden in Deutschland erbracht, 2005 dann 55,5 Milliarden, um im Jahr 2014 schließlich 58,3 Milliarden zu betragen (vgl. ebd.). Zudem waren 1991 38,85 Millionen Menschen erwerbstätig, 2005 waren es 39,22 Millionen und 2014 sogar 42,62 Millionen (vgl. ebd.). Von einem Zuwachs an Arbeit kann also zunächst nur im Hinblick auf die Anzahl der Beschäftigten die Rede sein. Werden die Arbeitsstunden pro Jahr und Beschäftigter betrachtet, wird das Bild noch deutlicher: 1991 leistete eine Person 1.554 Stunden, in 2014 lediglich 1.366 – ein Rückgang um 12%, der maßgeblich durch Teilzeittätigkeiten, gerade von Frauen, bedingt war (vgl. ebd.; verweisen auf Daten des IAB). Insofern ist zwar die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen, die Art der Erwerbsarbeit indes ist solcherart strukturiert, dass sie keineswegs die ansonsten so befürwortete Wachstumsdynamik befördert. Nahezu vergleichbar viel Arbeit wie vor 25 Jahren verteilt sich auf weit mehr Personen, die folglich weniger arbeiten können. Dass dieses Weniger sich ungleich verteilt und abermals v.a. Frauen eine »Teil-Kommodifizierung« erfahren, verwundert nach den bislang vorgelegten intersektionellen Analysen kaum noch. Modernisierung heißt also keineswegs eine auch nur leidlich geschlechtergerechte Verteilung von Teilhabe am Arbeitsmarkt. Dabei wird auf eine allgemeine Tendenz aufmerksam gemacht, die Funktion von Erwerbsarbeit für die gesellschaftliche Integration hoch zu bewerten und ihre Behandlung als Ware zurückzustellen. Dies wiederum hat sichtlich Konsequenzen für den Arbeitsbegriff: »Die ›innere Qualität‹ von Arbeit, also ihr Inhalt, die Form ihrer Verausgabung und die Folgen ihrer Vernutzung, ›verschwindet‹ hinter einem abstrakten, inhaltlich entleerten Begriff von Erwerbsarbeit, der die Existenzsicherung von Arbeit ins Zentrum rückt (›Hauptsache Arbeit‹).« (Nies/Sauer 2012: 35)
Gegenwärtig sei häufig eine Ökonomismus-affirmative Sichtweise auf solche Kontexte festzustellen, die lediglich nach den Möglichkeiten von Er-
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werbsarbeit und die Nutzung der Arbeitskraft frage, nicht aber die »Bedürfnisse und Deutungen der Person« (Jürgens 2012: 274) in den Blick nehme. Damit wiederum ergibt sich eine Verschiebung moderner Normative – von einer emanzipatorisch verstandenen Subjektivität der Aufklärung hin zu einem neoliberalen Aktivierungsadressaten, der wieder einmal die Moderne dialektisch erlebt (vgl. Horkheimer/Adorno 1997). Ein drittes Argument ist modernisierungstheoretisch zu prüfen: »Modernisierungstheorien behaupten ferner, dass die Mehrheit der Erwerbstätigen sich vom Agrar- über den Industrie- in den Dienstleistungssektor bewegen. Diese Prognose lässt sich in einigen europäischen Gesellschaften durchaus empirisch bestätigen vor allem in Deutschland und Großbritannien.« (Steuerwald 2016: 225)
Modernisierung von Gesellschaften führt also in manchen Nationen auch zu einer im modernisierungstheoretischen Sinne erwartbaren Veränderung von Arbeit. Für andere Nationen hingegen ergeben sich solche Transformationen weit weniger oder lassen gar die Industrialisierung einigermaßen vermissen (vgl. ebd.). Insofern ist auch unter dieser Hinsicht von einer strukturellen Pfadabhängigkeit der Modernisierung von Arbeit zu sprechen, die also nicht einfachhin als allgemeingültig unterstellt werden kann. 2.2.4.2 Strukturtheoretische Aspekte Ein weitere Perspektive soll ausgelotet werden, um die Theoriebezüge zur Reflexion auf Erwerbsarbeit einordnen und für die weiteren analytischen Schritte des vorliegenden Bandes nutzen zu können. Wenn insofern von strukturtheoretischen Bezügen die Rede ist, so richtet sich der Blick auf die Nähe jener Konzepte, die Max Webers Verständnis von »Sinnkonstitution als einem konstruktiven Akt (Stellung nehmen und Sinn verleihen)« (Schluchter 2000: 130) aufgreifen und für eine weitere Analyse aktueller gesellschaftlicher Zusammenhänge nutzbar machen: »Eine an Weber orientierte Handlungs- und Strukturtheorie wird sich von der modernen Systemtheorie distanzieren, sich als eine verstehende und (dadurch) erklärende Wissenschaft begreifen, die – mittels eines Mehr-Ebenen-Modells, das alternative Handlungsorientierungen und Handlungskoordinationen einschließt – die historisch wirkungsmächtigen Sinnkonstruktionen in vergleichender und entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zu untersuchen hat.« (Ebd.: 134)
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Dieser grundsätzlichen Option waren bereits die hier bislang vorgelegten Analysen und Argumentationen verpflichtet, insoweit mit Hilfe einer als »verstehender Erfahrungswissenschaft« verpflichteten Genealogie die vielgestaltigen Entwicklungsstränge der Arbeitsgesellschaft rekonstruiert werden sollten, um auf diese Weise bestehende Komplexe erklären zu können (vgl. ebd.: 121f.). Doch soll im Folgenden Schluchters Interpretation hinsichtlich einer Weber’schen Position, es gebe »zwei rationalisierungsfähige Handlungsorientierungen, die zweckhafte und die werthafte« (ebd.: 124), nicht vollumfänglich gefolgt werden, da die Motive normativer Praxis nicht allein in (nun: zwei gleichermaßen Geltung beanspruchenden) Rationalitäten gesucht, sondern auch in diskursiven Praktiken und Strukturen gefunden werden, die ihrerseits nicht allein aus individuell-rationalen Beweggründen herkommend verstanden werden. Unter dieser epistemologischen Voraussetzung lässt sich zunächst noch sehr allgemein die Berücksichtigung der Strukturfrage und der aus ihr hervorgehenden Theoriekonzepte darlegen: »In einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise wird der Klassengegensatz in einem zweifachen Sinn universell, d. h. erstens zur weltweit vorherrschenden Form ökonomischer Herrschaft und zweitens zu dem Charakteristikum der sozialen Struktur der Gesellschaft.« (Weyand 2014: 53)
Aufgrund der inhaltlichen Selbstbeschränkung des vorliegenden Bandes werden im Folgenden weniger die ›weltweit‹ maßgeblichen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung untersucht (wenngleich sie aufgrund der theoriestrategischen Grundlegung keineswegs ausgeschlossen werden können; vgl. Kapitel 2.1.4.2). Vielmehr sollen einige ›Charakteristika der sozialen Gesellschaftsstruktur‹ dargelegt werden, um sie unter Berücksichtigung der modernisierungstheoretischen Erträge für die anschließende Frage nach bildungstheoretischen und -praktischen Antworten nutzen zu können. Zu diesem Zweck werden die vier »›Familien‹ von Therapieangeboten« (Kocka/Offe 2000: 13) herangezogen, die Kocka & Offe darbieten: 1. staatliche Politiken zielen Inlandsnachfrage nach Arbeitskräften an, 2. Lohnsenkungen zur Sicherung bestehender und als Motivation zur Einrichtung neuer Arbeitsplätze, 3. Steigerung der Produktivität von Arbeit,
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4. Dekommodifizierung und Verlagerung in den Freizeitbereich (vgl. ebd.: 13f.). Es scheinen sich unterschiedliche Konjunkturen solcher strukturellen Erklärungsmodelle zu ergeben. Wurden zur Zeit der Einführung der sog. ›Hartz-Gesetze‹ und insofern einer Verschärfung wie flächendeckenden Durchsetzung der workfare-Paradigmen besonders internationalisierende Argumente vorgetragen und mit den Theorienangeboten (2) und (3) begründet, scheint gegenwärtig eher die Inlandsnachfrage nach Arbeitskräften (1) in den Vordergrund zu rücken, wie die Debatte um die Zuwanderung von ›qualifizierten MigrantInnen‹ belegen kann. Zieht man aktuelle Argumente der Governance-Forschung heran, so scheinen aktuell weit weniger korporatistische Akteure, sondern – vermeintlich subjektlose – Mechanismen der Koordination strukturbildend zu sein.37 Insbesondere wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Akteurskonstellationen, ihre Handlungsorientierungen, die Koordinationsmodi zwischen ihnen sowie die Institutionen der tariflichen und betrieblichen Mitbestimmung einem merklichen Wandel unterworfen sind (vgl. Rehder 2015: 25). »Das Kernargument lautet, dass mit der tendenziellen Erosion der korporatistischen Politikformulierung und -implementation einerseits der Markt, andererseits aber auch die Hierarchie als Koordinierungsmechanismus an Bedeutung (wieder-) gewonnen haben.« (Ebd.: 27)
Auf diese Weise werden Menschen den Mechanismen von Markt und Hierarchie überantwortet, um spezifische Formen der »Politikformulierung und -implementation« zu realisieren. Auch dadurch können subjektiv positive Prozesse bei jenen erzielt werden, die sich in Vermittlungsmaßnahmen befinden (vgl. Wulfgramm 2011). Wiederum lohnt sich ein Blick auf die »Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, um deutlich zu machen, dass Marktorientierung in der Vermittlung von Arbeitslosen durch Steigerung der als Arbeitsmarkt-spezifisch angesehenen Qualifikationen
37 Daher auch die oben erläuterte Zurückhaltung bei der Rezeption von Auffassungen, die eine, wenn auch lediglich noch indirekt wirkende, Herkunft sozialer Strukturen aus sozialen Beziehungen einzelner Akteure ansetzen.
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erzielt werden und zugleich durch hierarchisch verwirklichte Sanktionen erreicht werden soll (für Interaktionsmodi zur Sicherstellung von Vermittelbarkeit junger Menschen U25 vgl. Wolff/Müller 2013). Allerdings zeigen sich weitere Verschiebungen gesellschaftlicher Strukturierungen. So vermutet Promberger, dass neben dem Normalarbeitsverhältnis (vgl. Kapitel 2.2.2) ein Segment dauerhaft prekärer, nur durch staatliche Bezuschussung im Arbeitsmarkt zu verortender ArbeitnehmerInnen zu erwarten sei;38 er folgert: »Wenn dem so ist, bleibt zu hoffen, dass dieser Zustand nicht den Namen ›Vollbeschäftigung‹ tragen und gesellschaftlich akzeptiert, sondern als Anlass zu arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftspolitischen Anstrengungen verstanden werden wird, die ein neu konturiertes Normalarbeitsverhältnis mit Flexibilität, Produktivität, guter Arbeit und flexibel-lebenslauforientierter sozialer Sicherheit zum Ziel haben.« (Promberger 2012: 38)
Ob sich ein solches Postulat politisch realisieren lässt, bleibt abzuwarten. Dagegensprechen dürfte zumindest die strukturell als unabweisbar aufgefasste Kopplung von kapitalistischer Produktionsweise und Arbeitslosigkeit (vgl. Weyand 2014: 52). Zugleich stabilisieren sich mit der Etablierung der workfare-bezogenen Vergesellschaftung bislang bereits diskriminierende Strategien und halten den Platz frei gerade für das »männliche Ernährermodell in Verbindung mit der Hausfrauenehe« (Dingeldey 2015: 122). Ein weiteres Dilemma, neben diesen offenkundig gesellschaftlich-strukturellen
38 Als Hintergrund für seine Argumentation führt Promberger die historischen Entwicklungen an: »Das Jobwachstum der Jahre nach 2005 bestand zu einem großen Teil aus prekärer und instabiler Beschäftigung im Gegensatz zur weitgehend auf dem Normalarbeitsverhältnis beruhenden Vollbeschäftigung der Jahre 1958 bis 1974. So fand im vergangenen Jahrzehnt vor allem ein Ausbau atypischer, sozialrechtlich weniger geschützter Beschäftigung statt: Von 2004 bis 2011 ging die Arbeitslosigkeit um rund 1,4 Millionen Menschen zurück, im selben Zeitraum wuchs die Zahl der Leiharbeitnehmer um 525000, die befristete Beschäftigung stieg um 850000, die Teilzeitbeschäftigung um knapp 1,9 Millionen Personen; mehr als eine Million Menschen musste und muss zu ihrem geringen Arbeitslohn ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung (Hartz IV) beziehen.« (Promberger 2012: 36).
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Schieflagen und Fortschreibungen von Diskriminierungen ist in den ökologischen Faktoren zu sehen. In diesem Sektor beeinflussen sich wirtschafts(und folglich: arbeits-) sowie umweltbezogene Steuerungsprozesse: »Sinkt die Wirtschaftsleistung nach den Maßstäben des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sind zunehmende Erwerbslosigkeit, Prekarität und Ungleichheit eine wahrscheinliche Folge. Wächst die Wirtschaft, bedeutet das gegenwärtig eine beschleunigte Vernutzung endlicher fossiler Ressourcen, erhöhten Schadstoffausstoß, die Aufheizung der Erdatmosphäre und die Steigerung ökologischer Risiken.« (Dörre et al. 2012: 11f.)
Unter der in diesem Abschnitt erarbeiteten Hinsicht auf die Erwerbsarbeit ergibt sich eine strukturelle Pfadabhängigkeit der bisherigen Entwicklungen. Dies gilt für die lange etablierte Geschlechterdichotomie, mittlerweile weiter für die Zweiteilung in Normalarbeit und prekäre Beschäftigung sowie den ökologischen Konflikt zwischen Produktion und zugleich Vernutzung von Ressourcen und Umweltfaktoren. 2.2.4.3 Subjekttheoretische Aspekte Neben allgemein auf Modernisierung sowie strukturelle Entwicklungen abzielende Reflexionen sollen in einem weiteren Schritt die bislang bereits erarbeiteten subjekttheoretischen Grundzüge der Arbeitsgesellschaft zusammengeführt und ausgewertet werden. In einem ersten Schritt kann gesagt werden, dass aufgrund der erfolgten Umsteuerung von Erwerbsarbeit (vgl. Kapitel 2.2.1.2) auch deren Umbewertung erfolgen kann, sofern der Freiheitsbegriff nicht allein neoliberal formuliert, sondern auch weitergehend interpretiert wird: »Gerade in der ›Hyperarbeitsgesellschaft‹ bedeutet ›Befreiung in der Arbeit‹ deshalb auch, dass das Erwerbsleben von den Beschäftigten selbst nicht mit Ansprüchen an Sinnhaftigkeit und Anerkennungserwartungen überfrachtet wird.« (Hoffmann/Meyer-Lauber 2016: 31)
Inwieweit eine solche normative Perspektive politisch verwirklicht werden kann, bleibt abzuwarten. Die in diesem Zusammenhang geforderte Begrenzung einer tendenziell unbegrenzten Re-Kommodifizierung (vgl. ebd.) ist zumindest gegenwärtig kaum selbstverständlich. Näherliegend scheint die
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Diskussion Voswinkels zu sein, wenn er auf »die Verwertung der Subjektivität der Arbeitenden als Produktivkraft« (Voswinkel 2012: 302) aufmerksam macht und zugleich darauf hinweist, dass damit Subjektivität noch immer »auf ihre Funktionalität für die Arbeit« (ebd.) verkürzt werde. Systematisch differenziert Voswinkel dabei zwischen Subjektivität für sich und Subjektivität für die Arbeit, wobei er für die Moderne feststellt, »dass es im Unterschied zu anderen Gesellschaften hier die Arbeit ist, die den Menschen zum Subjekt macht.« (Ebd.: 303) Damit ergibt sich die Herausforderung einer differenzierten Einordnung und Realisierung subjektivitätsgenerierender Vergesellschaftung in einer Form der Erwerbsarbeit, die sich als modernisierte ebenso wie angesichts ihrer strukturellen Kontinuitäten vor neuen Herausforderungen sieht – Subjektivität zu begründen und inszenieren bei gleichzeitiger Transformation gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen solche Erwerbsarbeit. In einem gänzlich anderen Ausgriff findet sich Rosas Argumentation. Er formuliert den Gedanken, »dass menschliches Leben (zumindest momenthaft) dort gelingt, wo Subjekte konstitutive Resonanzerfahrungen machen, dass dagegen Entfremdungsverhältnisse entstehen, wo Resonanzsphären systematisch durch ›stumme‹, das heißt rein kausale oder instrumentelle Beziehungsmuster, verdrängt werden.« (Rosa 2012: 416)
Rosa zeigt ferner, dass moderne Gesellschaften durch eine systematische Änderung von Zeitstrukturen geprägt sind (vgl. Rosa 2016: 13); insofern könnten seine Auffassungen unter die beiden vorhergehenden Abschnitte eingeordnet werden. Doch sollen sie hier insbesondere wegen ihrer Bedeutung für subjektivierungstheoretische Analysen und deren subjektivierungspraktische Potentiale herangezogen und insofern als (die beiden vorhergehenden Abschnitte synthetisierende) Analyseinstrumente genutzt werden, da somit zum Thema wird »die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt sind« und Ursache wie Folgen von gesellschaftlichen Änderungen erbringen (ebd.: 14). Dass diese Frage bereits bildungsphilosophisch umfänglich diskutiert wurde (vgl. z.B. klassisch Humboldt 1960 I; zeitgenössisch Koller 2009; Ricken 2006: 256ff.; 1999), macht sie für die bisherige wie die noch anstehende Gedankenführung des vorliegenden Bandes so attraktiv (vgl. Kapitel 3.1).
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Ein weiterer Ansatzpunkt an subjekttheoretische Debatten bietet sich dahingehend, dass ein Konzept von Responsivität im philosophischen Feld bereits seit geraumer Zeit etabliert ist: jenes nach Waldenfels (1994). In diesem Ansatz werden Appelle an und Antwort durch den Menschen in seiner freiheitlich-pluralen Möglichkeit der Response konzeptualisiert (vgl. Böhmer 2014). Menschen werden daher nicht mehr als vollumfänglich handlungsmächtige Subjekte verstanden, zugleich aber auch nicht als durch unfreie Reflexe des Reiz-Reaktions-Schemas allein bestimmte Ergebnisse ihrer Widerfahrnisse. Vielmehr erleben sich Menschen als eingebunden in »die Netze der Lebenswelt« (Waldenfels 1985) und darin der eigenen Antwort mächtig. Subjekttheoretisch wird der Hintergrund dieser Argumentationsfigur gebildet aus einem Subjektivitätskonzept, das den Menschen nicht allein als in die Lebenswelt eingebunden versteht, sondern darüber hinaus als einen Teil der Welt. Insofern stehen sich Mensch und Welt nicht mehr gegenüber, sind einander aber auch nicht hierarchisch übergeordnet. Vielmehr bilden sie verschiedene Zentren von Tun und Aufnehmen, Appell und Response, die je nach Reflexionsstand ihre Differenz ausweisen: „Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere. Oder vielmehr […] gibt es zwei Kreise, zwei Wirbel oder Sphären, die konzentrisch sind, solange ich naiv dahinlebe, und leicht gegeneinander verschoben, sobald mein Fragen beginnt …“ (Merleau-Ponty 1986: 182)
Mit diesen philosophischen Hinweisen auf eine dezentrierte Subjektkonzeption eröffnet Merleau-Ponty die Perspektive für eine moderne Struktur der Subjektivität, die sich im Hinblick auf Bildung noch eigens als relevant erweisen wird (vgl. Kapitel 3.4.2). Daraus wiederum können weiterreichende Bildungsmomente unmittelbar als kritische Ankerpunkte in die Reflexion der Bildung angesichts der Herausforderung einer Gesellschaft der Erwerbsarbeit erfolgen. Erwerbsarbeit und responsive Subjektivität sollten allerdings nicht vorschnell getrennt werden, da sich Menschen auch an ihrem Arbeitsplatz und mit ihren Werkzeugen bzw. Instrumenten »zu Hause« (Rosa 2012: 417) oder auch ›aufgehoben‹ erfahren können. Insofern kann Rosa sogar Arbeitslosigkeit als »Resonanzvernichtung« (ebd.) auffassen. Andererseits macht er deutlich, dass der Zeitfaktor nicht zu unterschätzen sei, da die
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»Anverwandlung« (ebd.: 418) von Dingen, Sozialräumen u.a.m. eine längere Zeit in Anspruch nehmen könne. Damit aber kommt auch die elaborierte Frage nach der guten Arbeit unter sozialphilosophischer Hinsicht ins Spiel, die ihrerseits die Frage nach den Dingen in der sozialen Ordnung nicht ausklammern kann: »Die Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände treten dem Arbeiter als eigenständig, eigenwillig oder eigensinnig gegenüber. Es gehört zu den spannenden Fragen der Arbeitsforschung, wo die Grenzen zwischen Eigenständigkeit, Eigenwillen und Eigensinn verlaufen.« (Spittler 2016: 5)
Gerade im Rückgriff auf die zuvor entwickelte anthropologische Position nach Rosa, Waldenfels und Merleau-Ponty lässt sich nun genauer sagen, dass sich die von Spittler erfragten »Grenzen zwischen Eigenständigkeit, Eigenwillen und Eigensinn« schlicht gar nicht bestimmen lassen. Denn sind Menschen stets schon eingebunden in ihre Welt und gewissermaßen im »dialogischen Austausch« mit ihr, kann nicht mehr zureichend definiert werden, wo der Mensch endet und das Ding (wahlweise: die soziale Andere oder auch die Welt) beginnt. Sie sind eben verwoben in die gemeinsame Aktion innerhalb ihres funktionalen Raumes; eine Auffassung, die in jüngerer Vergangenheit die sog. Akteurs-Netzwerk-Theorie mit nicht geringem Aufwand formuliert hat (vgl. Latour 1991). Insofern kommen Spielcharakter (vgl. Spittler 2016: 260) und Aspekte der Entgrenzung von Arbeit (vgl. ebd.: 289) auf unterschiedliche Weise zu Wort, machen aber jeweils deutlich, dass subjekttheoretische Annäherungen an Phänomene der Erwerbsarbeit zum einen Ableitungen für eine Reformulierung von Subjektivität gestatten und zum anderen darin eine nachgerade gesellschaftspolitisch grundierte Anthropologie der Arbeit ermöglichen. Die Performanz der Subjektivität im Arbeitsprozess weist zugleich markante Aspekte der Gesellschaftsstruktur auf, die insofern den in diesem Band zurückgelegten Argumentationsgang legitimieren. Anhand der gesellschaftlichen Genese und Position von Erwerbsarbeit kann gezeigt werden, wie sich Menschen und Gesellschaft verstehen, wie sie sich zeigen wollen und zu welchen Auffassungen vom guten Leben sie neigen.
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2.2.5 Neoliberal Arbeiten Bislang wurde ein umfänglicher analytischer Bogen geschlagen, um deutlich zu machen, wie sich Erwerbsarbeit aktuell verstehen lässt. Dabei konnte gezeigt werden, wie sich historische Entwicklungen vom Mittelalter über den Fordismus zum Postfordismus vollzogen und auf diese Weise eine »neosubjektive« Formation in und durch Erwerbsarbeit installiert wurde – das unternehmerisch arbeitende Subjekt, das durch Integration in den Arbeitsmarkt seinen neu strukturierten individuellen und sozialen Status gewinnt. Gerade die »Modernisierung« der Geschlechterarrangements erwies sich in diesem Zusammenhang als ambivalent; zwar wurde das bis dahin maßgebliche Ernährermodell des »Normalarbeitsverhältnisses« zugunsten des adult worker model erweitert und streckenweise bereits ersetzt. Doch konnten damit vormalige konservative Zuschreibungen von Geschlechterrollen kaum überwunden werden, sondern erwiesen sich als zum Teil sogar verdichtet und verschärft. Insofern scheint es erforderlich, nach einem Ausgleich von Ungleichheiten durch reproduktive Tätigkeiten von zumeist Frauen zu fragen. Denn erst, wenn diese Externalisierung von Arbeit und Gesellschaft in die Familien hinein und dort vornehmlich an Frauen überwunden wird, lässt sich eine verlässliche Teilhabe von Frauen an der Erwerbsarbeit als wahrscheinlicher erwarten, wenngleich dann noch immer nicht alle ›Asymmetrien der Geschlechter‹ als bearbeitet aufgefasst werden können. Zudem fungiert eine zunehmend plurale Normalität von Arbeit für alle Geschlechter, da das Normalerwerbsarbeitsverhältnis zwar vornehmlich für Männer proklamiert wird, sich jedoch auch für sie höchst unterschiedliche Chancen auf eine in diesem Sinne »hegemoniale Erwerbsarbeit« ergeben. Insofern liegen mittlerweile einige Strukturen »quer« zu den diachronen Rekonstruktionen, die bislang hier vorgelegt wurden. Nie, so können die herangezogenen Quellen interpretiert werden, war es für alle Menschen oder auch für alle Männer möglich, sich in ein Normalarbeitsverhältnis zu integrieren; es war und ist offenkundig noch mehr von Pluralisierungen bestimmt, die der Normalität solcher Normalarbeit erheblichen Abbruch tut und ohnehin die Frage aufwirft, wieviel Normalität sich entlang der historischen Verläufe zur Ausgestaltung von Arbeit nachweisen lässt. Waren wohlfahrtsstaatliche Ansprüche und Leistungen in Deutschland seit über 130 Jahren an den Status der Erwerbsarbeit gebunden, erfolgte
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spätestens mit dem Einzug des neoliberalen Postfordismus ein struktureller Wandel wohlfahrtsstaatlicher Legitimationen, der sich einer veränderten Perspektive auf die Erwerbsarbeit bediente. Nun sollte es nicht mehr darauf ankommen, über möglichst lang dauernde, abhängige Beschäftigung Ansprüche auf – statuserhaltende – soziale Leistungen im Krisen- oder Altersfall zu erwerben. Vielmehr sollten jetzt kommodifizierende Prozesse der Individuen so vorangebracht werden, dass die Einzelnen ihre Arbeitskraft eigenständig entwickeln, optimieren und falls nötig – immer wieder neu – restrukturieren. Durch den Rekurs auf modernisierungs-, struktur- und subjektivitätstheoretische Bestände konnte zudem aufgezeigt werden, aus welchen Strukturen die gegenwärtige Arbeitsgesellschaft geformt wird. Arbeitende werden diesbezüglich verstanden als TrägerInnen von Produktivkraft, die sie durch eine responsive Beziehung mit ihrer Welt in die (produktive und reproduktive) Tat umsetzen. Die dabei freiwerdenden Dynamiken lassen sich mit dem Spielbegriff auf ihre motivationalen Aspekte hin befragen, die ja gerade in einer selbstunternehmerischen Lesart von Erwerbsarbeit als subjektive Treiber verstanden werden können. Zugleich erweist sich eine solche Struktur von Vergesellschaftung als Entgrenzung eines spezifischen Sektors der Arbeitsgesellschaft – nämlich der Arbeit selbst. Eine ›kolonialisierende Landnahme‹ eines Teilaspekts von Arbeit, der hineindringt in weitere Bereiche der Menschen und insofern auch vor bisherigen Exklaven der kapitalistischen Vergesellschaftung (eben der Reproduktion) nicht Halt macht. Doch erfolgt diese Landnahme nun in Form ausländischer, weiblicher Pflegekräfte, die ihre Dienstleistung auf einem ›Pflegemarkt‹ gegen Entlohnung anbieten; zugleich erfolgt sie im Hinblick auf den emotionalen Anteil ihrer Arbeit weit distanzierter, weil eben an Profit und professioneller Praxis orientiert. Arbeit als Produktion prägt insofern auch das Verständnis von Reproduktion, eröffnet die Chance auf fachlich angemessenes und überprüfbares Handeln, nimmt dem Reproduktionsbereich allerdings auch einerseits den Nimbus des ›Persönlichen‹ und belässt ihn im Gegenzug dennoch in der Sphäre weiblicher, zumeist schlechter bezahlter und weniger anerkannter Arbeit. Vor dem Hintergrund dieser summierten Befunde zeigt sich ein Arbeitsmarktregime, das auf vielfältige Weise neoliberale Aspekte operationalisiert. So wird darauf aufmerksam gemacht, dass der deutsche Gesetzgeber durch Motivation und Aktivierung ›Beschäftigungsfähigkeit‹ opti-
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mieren wolle; dies gelte insbesondere für jüngere Menschen unter 25 Jahren (vgl. Wolff/Müller 2013: 18; vgl. dazu auch Wulfgramm 2011: 177f.). Auf diese Weise werden nicht allein objektive Qualifikationen, sondern eben auch subjektive Eigenschaften staatlich bearbeitet. Eine solche Intervention wird zudem als wohlfahrtsstaatlich ausgewiesen und dadurch begründet, dass somit die Integration in die gesellschaftliche Normalität der Erwerbsarbeit effizient verwirklicht werden könne. Für die Betreuung der sog. KundInnen im Jobcenter heißt dies: »Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit und mangelnde Selbstorganisation sind danach keine psychischen Charaktereigenschaften, die sich nicht mehr verändern, sondern Ausdruck von Unreife im Hinblick auf seine Verwendbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Dadurch bleibt das Problem als Entwicklungsproblem im Rahmen der Fallentwicklung handhabbar ohne dass es diesbezüglich eigener therapeutischer oder beraterischer Anstrengungen bedürfte. Die(se) Persönlichkeit des Kunden kann und sollte sich noch weiter entwickeln.« (Wolff/Müller 2013: 19)
Neoliberal arbeiten erfordert insofern zum einen spezifische subjektive Dispositionen, die bereits als ArbeitskraftunternehmerIn beschrieben wurden (vgl. Kapitel 2.2.1.2). Diese Dispositionen wiederum bedürfen einer konsequenten Optimierungstechnik, um den drohenden Ausschluss aus der Riege potentieller Arbeitskräfte – zunächst unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Ethnie – zu vermeiden. Wie verschiedentlich in diesem Band gezeigt wurde, sind die Erfolge solcher Vergesellschaftung allerdings alles andere als normalverteilt. Insofern muss angenommen werden, dass bestimmte Effekte nicht allein zufällig entstehen. Abermals scheinen die Fragen von Macht und Arbeit eng miteinander verkoppelt (vgl. Dörre 2011: 399). Mit Dörre ist zu folgern, dass neoliberal-prekarisierende Arbeits- und in deren Folge Disziplinierungsprozesse auf ein bestimmtes Subjektivitätsverständnis aufsetzen, das deren Akteure mit Hilfe von machtvollen Interventionen zugleich verdeckt zu realisieren suchen. Dabei üben unterschiedliche Gruppen Druck zur Selbstdisziplinierung aus, wie Dörre am Beispiel von LeiharbeiterInnen und Stammbelegschaften nachweist (vgl. ebd.: 396). Insofern ist die »Mixtur von ›Fordern und Fördern‹« nicht nur als Vermittlung von »Eigenverantwortung« zu verstehen (vgl. Offe 2003: 811), vielmehr fungieren hier mehr oder minder verdeckte Machtstrategien, Men-
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schen zu einer bestimmten Weise der »Selbstbewirtschaftung« zu veranlassen oder zumindest zu führen. Auf diese Weise tritt ein innerer Widerspruch der Moderne zutage: »Der Widerspruch der modernen Gesellschaft besteht darin, dass die bürgerliche Gesellschaft den Menschen einerseits als Subjekt versteht, ihn jedoch aufgrund der gesellschaftlich-kapitalistischen Produktionsweise andererseits zugleich auch objektiviert und ihn den herrschenden Produktions- und Reproduktionsbedingungen unterwirft.« (Geisen 2011: 13)
Auf diese Weise wird das jeweilige Dilemma einer kapitalistisch formierten Moderne in ihren unterschiedlichen Formen greifbar: Der Anspruch auf Emanzipation der Individuen, ihre Selbstbestimmung und Partizipation an bürgerlich-gesellschaftlichen Prozessen wird jeweils unterlaufen durch die zweckhafte Nutzung menschlicher Arbeitskraft. Indes wird im Neoliberalismus nicht schlicht eine Diskrepanz zwischen Selbstzweck und Produktionszweck einseitig aufgelöst, sondern gewissermaßen in einander geschoben. Das Selbst fungiert – im neoliberal günstigen Fall – als Produktionszweck und -mittel zugleich und verlegt etwaige Konflikte in das Selbst der Individuen, ohne den Umweg über eine externe Ordnung (z.B. fordistischer Arbeitsorganisation, Bürgerschaftlichkeit o.a.m.) zu gehen. Damit werden diese »Traditionsbestände der Moderne« vordergründig keineswegs abgeschafft, jedoch umgedeutet und somit neoliberal ausgehöhlt und neu befüllt. Neoliberales Arbeiten liegt insofern einer Aufteilung von Zweck des Individuums und Mittel der Produktion voraus. Neoliberale Strategien sind dabei allerdings nicht frei von der Notwendigkeit, in den Individuen zunächst eine entsprechende Haltung der Selbstvermarktung zu wecken. Wird in modernen Gesellschaften die Ausbildung einer Subjektivität auf dem Weg funktionaler Eingliederung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge gewonnen (vgl. Geisen 2011: 454), so muss diese Ausbildung tatsächlich erst geschaffen werden – nicht selten durch eher subtile Appelle an die (zumindest rudimentär bereits vorliegende) Selbstdisziplin der Individuen, mitunter durch die dezidierte Disziplinierung der Selbstdisziplin. Insofern integrieren sozialstaatliche Konzepte wie das bereits zitierte »Fordern und Fördern« alltagsnahe ebenso wie bildungsspezifisch explizite Interventionen und vermischen Subtilität und Intervention: Indem nämlich Defizite
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der Selbstdisziplin dem Individuum als »Unreife« rückübertragen werden, entsteht eine eigene Technologie der Aktivierung, die stets auf das Engagement der Individuen angewiesen bleibt. Nur wenn sie sich selbst in Aktivität versetzen und solcherart als »gereift« erweisen, waren die Techniken der Aktivierung zielführend. Ob sich mit einem solchen Vorgehen tatsächlich der Begriff der Bildung angemessen nutzen lässt, wird im anschließenden Kapitel noch ausführlich geprüft werden. Zuvor soll jedoch noch knapp und im Sinn eines Exkurses das im vorhergehenden Kapitel erarbeitete Konzept des Normativs auf die Erwerbsarbeit angewendet werden.
2.3 D AS N ORMATIV DER E RWERBSARBEITSGESELLSCHAFT Es wurde bereits dargestellt, dass das sog. Normalarbeitsverhältnis nach wie vor von einiger Bedeutung für die gesellschaftliche Integration von Individuen ist, dass es sich gleichwohl in Erosion befindet und zudem historisch gesehen nie so normal werden konnte, wie es seine Namensgebung suggerieren mag. Dass der Erwerbsarbeit dennoch eine immer noch hohe bis höchste Bedeutung für den Weg der Einzelnen hinein in die Gesellschaft und die dortige Positionierung beigemessen wird, konnte auf im Verlauf des bislang zurückgelegten Argumentationsweges beschrieben werden. Um diese Auffassung weiter analysieren zu können, soll daher der im ersten Kapitel erarbeitete Begriff des Normativs herangezogen werden, der dem Machtkonzept von Erwerbsarbeit Ausdruck verleihen soll, indem er die der Erwerbsarbeit inhärenten Normen und deren interne Strukturen vorstellt. Im bisherigen Verlauf der Untersuchungen haben sich unterschiedliche normative Grundstrukturen des neoliberalen Postfordismus gezeigt. Zu ihnen zählen auf Seiten des Subjekts u.a. (vgl. bereits Kapitel 2.2.1.2): • • •
ökonomische Liberalisierung und intersubjektive »Verkonservativierung« zugleich, umfängliche Kommodifizierung bei häufigem Verbleiben von Frauen in den tradierten Reproduktionsaufgaben, subjektive Einstellungen und Fähigkeiten, die sich den gewandelten Bedingungen postfordistischer Produktionen anpassen,
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• • • •
dabei gesteigerte Ansprüche an die subjektive Flexibilität, Vermarktlichung der individuellen Fähigkeiten und Produktionsergebnisse, ausgeprägte entstandardisierte kognitive und emotionale Präsenz von Arbeitenden, individuelle »Reife«, die an der Bereitschaft zur neoliberalen Produktivität gemessen wird.
Wird nun die Erwerbsarbeitsgesellschaft des neoliberalen Postfordismus als Normativ aufgefasst, so ist danach zu fragen, welche Normen damit transportiert werden und welche interne Strukturierungen sich in einem solchen Komplex erkennen lassen. Im Folgenden wird zur Beantwortung dieser Frage eine intersektionelle Perspektive eingenommen und, den diesbezüglichen Befunden dieses Bandes folgend, zwischen Mikro- und Makrostrukturen unterschieden. Für die Mikrostruktur der Gesellschaft ergibt sich neben zahlreichen weiteren Ansatzpunkten die Orientierung von Subjektivität am postfordistischen Produktionsprozess; diesbezüglich wurde bereits der »subjektivierte Kapitalismus« (Huchler et al. 2012: 95) erwähnt. Er äußert sich darin, dass Kommodifizierung in der Breite stattfindet, so dass zunächst möglichst alle Gesellschaftsglieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen. Dies kann zwar für Kinder und Jugendliche zunächst nur vorbehaltlich ihres künftigen Eintritts erfolgen, doch machen Bildungsinitiativen häufig keinen Hehl aus einer solchen Motivation. Hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung von Frauen wurden bereits umfangreiche ähnlich lautende Befunde vorgelegt. MigrantInnen39 und Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen scheinen dem Konzept des »janusköpfigen Leviathan« (Kapitel 1.1.4.3) gemäß entweder vornehmlich unterstützt zu werden, sofern sie gesellschaftlich erwünschten oder sogar begehrten Personengruppen zugehören. Angehörige weniger hoch stehender Berufsgruppen oder sozialer Klassen hingegen kommen seltener in den Genuss solcher Regelungen, erfahren
39 Bouffier & Wolffram zeigen in ihrer Studie an sieben migrierten Wissenschaftlerinnen, dass für die untersuchten Frauen die Kategorie Geschlecht stärkere benachteiligende Wirkungen hatte als die Kategorie Ethnizität (vgl. Bouffier/Wolffram 2011: 173).
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womöglich dezidierte Sanktionen, beispielsweise nach dem Maßgaben des SGB II (Hartz IV). Eine besondere Gruppe stellen jene der »neuen Dienstmädchen« (Lutz 2010: 30ff.) dar, die aufgrund der zuvor beschriebenen Kommodifizierung und Flexibilisierung deutscher Haushalte dort tätig werden, wo Familienmitglieder nicht mit der notwendigen Zuverlässigkeit zur reproduktiven Verfügung stehen. Hier kulminieren gleich mehrere Herausforderungen kapitalistischer Gesellschaften (Reproduktion, Erwerbstätigkeit von Frauen, internationale Finanzbeziehungen) und Diskriminierungen (Geschlecht, Ethnie, Klasse). Bereits aus diesen knappen Skizzen kann für das gegenwärtig wirkmächtige Normativ neoliberaler Erwerbsarbeit gefolgert werden, ohne damit eine abschließende Listung vorlegen zu wollen: • • • •
• •
produktive Tätigkeit hat zeitlichen und räumlichen Vorrang vor reproduktiver, produktive Tätigkeit hat ökonomischen Vorrang vor reproduktiver, produktive Tätigkeit hat sozialen Vorrang vor reproduktiver, produktive Tätigkeit weist ein deutliches Maß qualitativ gewerteter Binnendifferenzierung auf, nicht alle produktiven Tätigkeiten werden gefördert, Diskriminierungen werden zur Aufrechterhaltung produktiver Prozesse mindestens mitunter geduldet, Diskriminierungen können verschoben werden, um innerhalb der diskriminierten Gruppe noch stärker diskriminierte Teilgruppen zu adressieren (z.B. nicht alle Frauen, sondern vornehmlich zum Zweck reproduktiver Tätigkeit migrierte).
Weitere Beispiele und Folgerungen ließen sich anfügen, doch sollen hier aus Platzgründen die Aufzählungen begrenzt bleiben. Stattdessen werden nun intersektionell neoliberale Normative der gesellschaftlichen Makrostruktur – ähnlich knapp – präsentiert. Es zeigt sich, dass die Trias aus Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus (vgl. Kapitel 2.1.4.3) auch im hier reflektierten Zusammenhang als »soziales Kräftefeld« (Sauer 2008: 239f.) nicht schlicht nebeneinander besteht, sondern an Produktion orientierte (Kapitalismus) Differenzen der Geschlechterarrangements mitsamt mehrfach diskriminierenden Binnendiffe-
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renzierungen (nach Produktion/Reproduktion, Inländerin/Migrantin, hohe/niedrige Einkommensklasse etc.) und Klassenzugehörigkeiten mobilisiert werden, um die Individuen zu aktivieren, die gesellschaftlichen, nationalen und transnationalen Zusammenhänge – etwa jüngst die Folgen der Banken- und Finanzkrise – ökonomisch weiter zu gestalten und dabei bestimmte gesellschaftliche Ordnungen wie die der geschlechtsspezifischen Teilung des Normalarbeitsverhältnisses zu »konservieren«. Strukturell ergibt sich somit für die Makrostruktur einer neoliberalpostfordistischen Gesellschaft der normative Komplex einer nichtteleologischen Steigerungslogik. Individuen, Gesellschaften, Wirtschaftsbereiche und manches mehr werden aus der Perspektive von Steigerung, vulgo Wachstum bewertet, befördert oder auch diszipliniert. Die sich dabei einstellenden Vernutzungen von Ressourcen werden in unterscheidender Weise an unterschiedliche Personengruppen externalisiert und ihnen zugleich verpflichtend zugeschrieben. Dieser Verpflichtung wird durch sich wandelnde Logiken (»Vereinbarkeit von Beruf und Familie« z.B.) verbalisiert, durch gesellschaftliche Strukturvorgaben wie den Ausbau der Kinderbetreuung reflektiert, doch schlussendlich den Individuen und ihren Bewältigungsleistungen überantwortet, folglich subjektiviert. Dabei dienen die Kategorien von Kapitalismus, Patriarchat und Nationalismus als orientierende Konzepte differenzierend (mehrfach-)diskriminierender Zuschreibungen, Anrufungen und Politiken. Daraus folgt ein Politikstil, der durch die Neustrukturierung der drei makrostrukturellen Diskriminierungsachsen Geschlecht, Klasse und Ethnie dem gegebenen Gesellschaftsformat des neoliberalen Postfordismus und seinen Funktionalitäten durch Disziplinierung der Individuen und durch an sie delegierte Selbstdisziplinierung Rechnung zu tragen versteht. Die Diskriminierungen bleiben bestehen, wenn auch in veränderter Gestalt.
3. Der Faktor Bildung
Bis hierher sollte erarbeitet worden sein, dass Neoliberalismus als eine Version der Gouvernementalität im Foucault’schen Sinne gelesen werden kann, die als eine reformulierte Konzeption von sozialwissenschaftlich gefasster Volkswirtschaftslehre die Ökonomie als Vergesellschaftungsmodus versteht und zu diesem Zweck Gouvernementalität, methodologischen Individualismus (homo oeconomicus) und Politik in einer für die Subjektivierungsverläufe relevanten Zeichentheorie verbindet: »Die Wirtschaft erzeugt Zeichen, politische Zeichen.« (Foucault 2015b: 125) Resultat ist ein neoliberales Diskursfeld, das sich zwischen Regieren – Liberalismus – Staat und Subjektivitäten aufspannt, in dem diese Pole sich auf unterschiedlichen Analyseebenen stets wechselseitig beeinflussen und in dem keiner dieser Pole kontinuierlich die definitorische oder legitimatorische Hoheit beanspruchen kann. Wie noch zu zeigen ist, kommt in neoliberalen postfordistischen Gesellschaften dem Feld der Bildung besondere Bedeutung zu. Gerade innerfamiliäre, schulische wie außerschulische und aus der Arbeitswelt stammende Impulse, Erfahrungen und habitualisierte Sprach-, Konsum- und Handlungsformen wirken sich auf die Wege und Positionen von Menschen innerhalb gesellschaftlicher Bezüge aus (vgl. Bauer et al. 2014: 20f.; Diehl et al. 2016: 4). Diese Aspekte werden im Folgenden unter intersektioneller Hinsicht v.a. für die deutsche Gesellschaft entfaltet.
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3.1 B ILDUNG
IN DER
A RBEITSGESELLSCHAFT
Folgt man den Erträgen der aktuellen Bildungsforschung, so wird deutlich, dass Bildung in der späten Moderne neben der allgemein betonten emanzipatorischen und der Lern-Funktion jene zukommt, begehrte gesellschaftliche Positionen zuzuteilen und zu verteidigen. Zugleich dürfte mit den Erträgen der vorhergehenden Kapitel deutlich geworden sein, dass Erwerbsund reproduktive Arbeit für die Vergesellschaftung ebenfalls eine relevante Rolle spielen. Waren zudem Benachteiligungen und Diskriminierungen ebenfalls bereits Thema, so ist für den Bildungsbereich zu klären, wie sie sich dort bemerkbar machen und sich auf die gesellschaftliche Positionierung von Menschen auswirken. Um diesen Komplex näher in Augenschein nehmen zu können, ist allerdings erforderlich, zunächst einmal zu bestimmen, von welchem analytischen Punkt aus die Untersuchung vorangetrieben werden soll, welche konkreten Fragen an die herangezogenen Daten empirischer Untersuchungen gerichtet und in welchen Themenfeldern Antworten formuliert werden sollen. Insofern bedarf es einer erziehungswissenschaftlichen Positionsbestimmung, bevor weitere Fragestellungen aufgeworfen und bearbeitet werden können. 3.1.1 Die Rolle von Bildung angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse In einem knappen historischen Rekurs zeigt sich, dass die Entwicklung des systematischen Lernens mit dem Hinweis auf Erfordernisse von Arbeit rekonstruiert wird: »Die Entwicklung unseres öffentlichen Bildungswesens am Ende der Feudalära verdankt sich im Wesentlichen ökonomischen Erfordernissen. Dies sowohl im Hinblick auf das, was die Befreiung von Unvernunft und Aberglaube für eine gedeihliche Landwirtschaft bedeutete als auch im Hinblick auf Gewerbe und Handel, für die Rechnen, Schreiben und Lesen als ›bürgerliche Techniken‹ unverzichtbar wurden [...].« (Lisop 2014: 39)
Um also erfolgreich produzieren und insbesondere einem veränderten (nunmehr modern-säkularen) Weltbild und seiner internen Dynamik (vgl.
D ER F AKTOR B ILDUNG | 143
Rosa 2016: 518) mit angemessenen Strategien der Bewirtschaftung der Welt Rechnung tragen zu können, sollte Bildung den Transfer jener Auffassungen in die Individuen und für deren produktive Praxis gewährleisten. Durch die nun auf rationales Kalkül, empirische Erforschung und Experiment setzende Wissenschaft jener Zeit erfuhr die Arbeitswelt der Individuen mit der Industrialisierung maßgebliche Veränderungen (vgl. Kapitel 2.2). Doch blieb die Arbeitswelt nicht die einzige Maßgabe bildungsbezogener Neuorientierungen. Ein weiterer Faktor für den gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs von Bildung wird mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert gesehen. Leitvorstellungen wurden dabei »der mündige Staatsbürger, Nation und Öffentlichkeit« (Bauer et al. 2014: 10), die als Gegenentwürfe zu der in Deutschland bis dahin vorherrschenden ständisch-exklusiven Gesellschaftsordnung und der Kleinstaaterei verstanden wurden (vgl. Hormel/Scherr 2016: 300ff.). Insofern verfolgte Bildung neben der Orientierung an der Arbeitswelt zugleich politisch-gesellschaftliche Ziele. Das Leitbild des »mündigen Staatsbürgers« war unter dieser Hinsicht eines, das ökonomische und politische Rechte – mitsamt ihren Freiheiten – zum Ziel hatte. Das klassische Konzept des Liberalismus erschien also auch in der sich wandelnden Auffassung von Bildung. Mehr noch: War mit dieser Auffassung nicht weniger als die »ganze Nation« gemeint, so wurde damit eine zugleich egalisierende Hoffnung verfolgt, wenngleich soziale Unterschiede in dieser Zeit keine Berücksichtigung fanden und sich insofern, wohl eher unbeabsichtigt, folgenreich für die betroffenen Schichten auswirkten (vgl. ebd.; vgl. mit einem ideengeschichtlichen Überblick Ricken 2006). Zudem wurden Motive des sozialen Ausgleichs mit dem Bildungsbegriff in Verbindung gebracht: »Seit die Politik sich als Wohlfahrtsstaat begreift, folgt sie einem Programm prinzipiell unbegrenzbarer Zuständigkeiten für die Probleme, welche mit der funktionalen Differenzierung entstehen, von den Funktionssystemen aber nicht selbst gelöst werden können. [...] Seit dem 19. Jahrhundert zählt in Europa auch die Veranstaltung öffentlicher Erziehung zu den Aufgaben des Staates.« (Radtke 2009: 621)
Der auf diese Weise intendierte deutsche Staat des 19. Jahrhunderts verfolgte insofern bürgerlich-politische Ziele von Wohlstand durch industrielle Produktion, ökonomischer Effektivität, bürgerlicher Freiheit, Gleichheit und sozialem Ausgleich mit den Mitteln der Bildung. Deutlich wird inso-
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fern, wie sich nicht allein Produktions- und Arbeitsformen, sondern zugleich gesellschaftliche Normative als Menschen- und Weltbilder sowie politische und soziale Leitvorstellungen änderten. Dabei ist zu beachten, dass Bildung als praktiziertes Selbstverständnis der Menschen keineswegs erst zu dieser Zeit »entdeckt« wurde. Zugleich aber zeigt sich auch die semantische – und daraus abzuleiten: strategisch-pragmatische – Weite und Heterogenität der Motive von Bildung, die nun vornehmlich »das bürgerliche Verständnis von Institutionen als sittlicher Konkretisierung der allgemeinen Interessen als auch seine Auffassung des Wissens als transzendentaler Synthesis der sinnlichen Erfahrungen« (Casale 2016: 30) transportierten.40 In der gesellschaftlichen Praxis jener Zeit sind unterschiedliche Stränge des Bildungsverständnisses aufzufinden (vgl. auch Ricken 2006). Dies wird etwa in der Beschreibung jener übersituativen intellektuellen und moralischen Eigenschaften deutlich, die kaum die ökonomische Perspektive des Wohlstands, sondern zunächst die als selbständig entworfene bürgerliche Existenz in den Mittelpunkt rückt (vgl. Beer 2016: 212). Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass sich eine solche bürgerliche Existenz zwar nicht durch ihre ökonomisch-industrielle Tätigkeit oder gar Erbschaft gesellschaftlicher Positionen verstand, sondern als sich aktiv entwickelndes und sich auf diese Weise bildendes Selbst, gewissermaßen ein sich durch eigene Arbeit und zugleich steigernde Bildung legitimierendes Bildungsbürgertum (vgl. ebd.) – letztlich ein Selbstbildungs-Bürgertum. Neben vielen zwischenzeitlichen Veränderungen (vgl. insbesondere Horkheimer/Adorno 1997) setzte jedoch im 20. Jahrhundert mit dem sog. Sputnik-Schock bereits in den 1960er Jahren ein markanter Wechsel in der politischen Praxis der Bildungssteuerung ein (vgl. Bauer et al. 2014: 11). Damit wurde die als Maß bürgerlicher Bildung ausgewiesene ›proportionierlichste Bildung menschlicher Kräfte zu einem Ganzen‹ (vgl. Humboldt 1960 I: 64) zunehmend abgelöst durch die Legitimation »ökonomischtechnologischer Begründungskontexte« (Bauer et al. 2014: 11). Hinzu kam die Krise der bürgerlichen Gesellschaft (zur philosophiesystematischen Einordnung vgl. Casale 2016: 32f.), die maßgeblich mit dem Jahr 1968 in Verbindung gebracht werden kann. Eine Konsequenz dieser Entwicklungen war die Bildungsexpansion in Deutschland, deren Folge unübersehbar ist:
40 Auf eine noch weiter ausgreifende Geschichte des Begriffs bis hinein in biblische Begrifflichkeiten verweist pointiert Brumlik 2013: 91.
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So »erhöhte sich der Anteil der Schulabgänger mit Abitur zwischen 1960 und 2014 von 6% auf 53%« (Spieß et al. 2016: 463).41 Doch machte sich zunächst der neoliberale Diskurs in den 1980er Jahren zunehmend in der Bildungspolitik und -planung bemerkbar. Nutzenmaximierung durch und im Feld von Bildung wurde mit Strategien und Methoden angestrebt, die ansonsten aus den herstellenden Bereichen der Wirtschaft bekannt waren (vgl. Bauer et al. 2014: 12). Die zunehmende Privatisierung von Bildung und ihren Institutionen war eine der logischen Folgen solcher semantischer und politischer Umsteuerungen. Schließlich kam in den 2000er Jahren das Programm des »Lebenslangen Lernens« auf. So zeigt sich, dass Bildungsprogrammatiken in den zurückliegenden Zeiträumen in unmittelbarem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen standen, dabei gerade die Veränderungen der Erwerbsarbeit reflektierten und zugleich zu eigenen Treibern gesellschaftlicher Entwicklung wurden. Der Faktor Bildung war gegen Ende des 20. Jahrhunderts für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zugleich bedeutend, weil eine schließlich neoliberale Ökonomisierung der Gesellschaft beide Felder miteinander aufs Engste verband. Dabei waren regionale und nationale Prozesse eingebunden in internationale, die unter dem Stichwort der Globalisierung – von Informationen, Rohstoffen und Konkurrenzen – die Bedeutung von Bildung steigerten, deren Formate kontinuierlich anpassten und zugleich dem Konzept der »Wissensgesellschaft« deutlichen Vorschub leisteten (vgl. Allmendinger/Nikolai 2010; Hupka-Brunner et al. 2011: 63; Protsch/Solga 2013; Solga/Menze 2013). Eine weitere Veränderung findet im Bereich wohlfahrtsstaatlicher Versorgung statt. Insbesondere demographischer Wandel, gesteigerte Lebenserwartung, internationaler Anpassungsdruck infolge der Liberalisierung der Güter- und der Finanzmärkte sowie Vorgaben für die Politikausgestaltung der EU-Mitgliedsstaaten werden angeführt, um die als problematisch aufgefasste Lage der Sozialstaaten zu erklären (vgl. Allmendinger/Nikolai 2010: 107). Auch in dieser Hinsicht zeigt ein Blick auf die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Bildungspolitiken die enge Verbindung nunmehr von Wohlfahrtsstaat und Bildung. Denn eine Gesellschaft, die sich als auf Wissen gegründet versteht, erfordert besondere Produktionsfaktoren,
41 Die Bildungsexpansion und den historischen Umbau des Bildungssystems stellt umfänglich dar Hopf 2014: 221ff.
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die sich nicht allein in Arbeit, Kapital und Boden finden lassen, sondern mindestens noch um Wissen und Kompetenzen zu erweitern sind. Dies hat Bedeutung für die Auffassung jener Prozesse, in denen Menschen solches Wissen und Können erwerben sollen – und prägt zugleich die Inhalte solcher Erwerbsprozesse. Angesichts der engen Verzahnung von gesellschaftlichen Dispositionen und Prozessen mit solchen der Arbeit gewinnt gerade in postfordistischen Zusammenhängen die Bildung der Arbeitenden deshalb so besondere Bedeutung, weil damit Wissen erworben, entwickelt und in gesellschaftlich verwendbare Kompetenzen überführt werden soll, die zugleich dazu bestimmt werden, zur sozialen Selbstabsicherung zu dienen (zur Verwirklichung von Chancen durch den Status als ›Erwerbsbürger‹ vgl. Kohlrausch 2014: 103; Riegel 2016: 79). Ob sich diese direkte Koppelung tatsächlich bestätigen lässt, darf zumindest für das Gesamt einer Gesellschaft bezweifelt werden. Zumindest könnte eine individualisierte Vorgehensweise manchen der aktiv gewordenen Individuen zu gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Absicherung verhelfen; wer für welche Dauer und in welcher Form zu den auf diese Weise Privilegierten zählen darf, ist allerdings nicht mit Sicherheit vorab zu sagen. Insbesondere gibt es außer der Garantie einer sozialen Sicherung keine allgemeine Zusicherung umfassender Ordnungen der Solidarität; das Leben wird riskanter – und für manche phasenweise oder dauerhaft prekär. Damit wird die Frage virulent, wie sich gesellschaftliche und bildende Prozesse in ihren – gemeinsamen wie unterschiedlichen – Zielen und Ergebnissen zu einander ins Spiel bringen lassen, wie also Vergesellschaftung durch Bildung und wie Bildung in den konkret gegebenen arbeitsgesellschaftlichen Zusammenhängen näherhin verstanden werden können. Um diesen Fragen einigermaßen nachgehen zu können, bedarf es zunächst einer genaueren Klärung der Begriffe. Insofern soll im Folgenden zuerst der hier angewandte und insofern in seiner analytischen wie theoriebildenden Gehalten relevante Bildungsbegriff etwas ausgebreitet werden. Fragen der Vergesellschaftung im neoliberalen Postfordismus waren bereits im vorhergehenden Kapitel Thema und können insofern im Anschluss an die bildungstheoretische Darstellung herangezogen werden, um eine intersektionelle Analyse der Wechselverhältnisse von Vergesellschaftung und Bildung vorzulegen.
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3.1.2 Ein intersektionell informierter Bildungsbegriff Wird für das Verständnis von Intersektionalität von der möglichen Überschneidung verschiedener Diskriminierungen und ihrer Ebenen ausgegangen, so erscheint es nach den vorhergehenden Untersuchungen ratsam, »nach den Wechselbeziehungen von Kategorien bzw. Machtverhältnissen zu fragen und Kategorien nicht als isoliert voneinander zu konzeptualisieren.« (Walgenbach 2016: 44) Dabei ist zu berücksichtigen, dass unter analytischer Perspektive verschiedene Ebenen intersektioneller Praxis sowie Konzeption unterschieden wurden (vgl. Kapitel 2.1.4), eine solche Unterscheidung jedoch einzig aus analytischen Gründen erfolgt und sich in praktischen Zusammenhängen nicht durchgängig identifizieren lässt; vielmehr sind weitere Differenzbeziehungen zu berücksichtigen – zwischen den Ebenen ebenso wie innerhalb der Einzelkategorien (vgl. Walgenbach 2016: 45ff.). Daraus ergeben sich forschungspraktische wie epistemologische Konsequenzen, da sich nun die Frage nach der Anzahl der Kategorien ablegen lässt und »damit die Vielgestaltigkeit von Vergesellschaftung und der ihr innewohnenden Potentiale für Diskriminierung« (Yuval-Davis 2013: 209) forschungs- wie theorieleitend werden kann. 3.1.2.1 Abweichende Anerkennung Für den hier anzuwendenden Bildungsbegriff soll zunächst die Kategorie der Anerkennung eingeführt werden. Sie speist sich aus den Adressierungsvorgängen, die in poststrukturalistischen Ansätzen als wechselseitige Anerkennung und zugleich Subjektivierung aufgefasst werden (vgl. Emmerich/Scherr 2016: 284ff.; Fritzsche et al. 2011: 32; für den Postfordismus Kapitel 2.2.1.2). Denn pädagogische Praxis adressiert Menschen als SchülerInnen, LehrerInnen, Jugendliche, Kinder, SozialpädagogInnen o.a.m. und konstituiert auf diese Weise ein Feld pädagogischen Handelns, in dem einerseits die Individuen auf einander, ihre Rollenerwartungen und ihre wechselseitige Bestätigung dieser Erwartungen eingehen und sich ihnen in gewisser Weise unterwerfen. »Diese ›Unterwerfung‹ oder dieses assujetissement ist nicht nur eine Unterordnung, sondern eine Sicherstellung und Verortung des Subjekts, eine Subjektivation.« (Butler 2001: 87)
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Andererseits sind in diesen Feldern neben der positionierenden Subjektivation Abweichungen möglich, die gerade die Vitalität menschlicher Praxis bedeuten, wobei die so divergierenden Individuen darauf angewiesen bleiben, ihre Abweichungen innerhalb einer – gesellschaftlich, kulturell und situativ – jeweils auszutarierenden maximalen Reichweite zu gestalten. Zumindest aber muss darin nicht das Dilemma einer Subjektivität rekapituliert werden, dass entweder unterworfen oder unterwerfend ist – und auch nicht ein »Feld darstellt, auf dem Autonomie und Heteronomie auf komplizierte Weise miteinander verbunden sind.« (Koller 2014: 26; verweist auf Butler; vgl. Balzer 2014: 526ff.). Vielmehr soll hier, auf der Grundlage eigener empirischer Befunde (vgl. Böhmer 2016b, c; Böhmer/Zehatschek 2015) davon ausgegangen werden, dass Macht soziale Fakten schafft, die von den Einzelnen und Gruppen nicht schlichtweg akzeptiert oder bezwungen werden müssen. Vielmehr bieten sich im Alltag mitunter Lücken der Kontrolle, der Definition oder schlicht des Zugriffs, die zu von den Normen abweichenden Verhaltens-, Handlungs- und Denkformen führen können. Insofern erfolgt Subjektwerdung gerade nicht allein durch »die Annahme des anrufenden Anerkennungsaktes durch den Angerufenen« (Balzer 2014: 529), sondern stets auch mit der – wenn evtl. auch lediglich gering ausgeprägten – Möglichkeit, die Anrufung nur zu Teilen, vorläufig oder in verschiebender Absicht anzunehmen. Die Anrufung und die Auswirkungen von Macht werden somit weder überwunden noch schlicht bestätigt, sondern gewissermaßen umgangen, partiell verzögert oder ihren Zugriff abwehrend verschoben. Pädagogische Praxis ist also durch Anerkennung an der Formung jener Identitäten beteiligt, die sich innerhalb der gegebenen Situation ausbilden und zugleich dem Anspruch auf pädagogische Interaktion gemäß in Bildungsprozesse ihres Selbst begeben (vgl. Koller 2014: 24; Ricken 2015c: 138), das sich wiederum innerhalb der gegebenen Situation zu bewähren und sozial als anerkennbares zu bewahrheiten hat. Ein solcher Bildungsprozess kann daher verstanden werden »als ein Geschehen der ineinander gefalteten Unterwerfung und Überschreitung zugleich« (Ricken 2009: 85). Doch gilt ebenso, dass feministische Kritiken am Anerkennungskonzept darauf aufmerksam gemacht haben, dass Anerkennung durch eine »Politik der Umverteilung« (Yuval-Davis 2013: 203) ergänzt werden müsse, um den emanzipatorischen Gehalt von Anerkennung zu verwirklichen (vgl. näherhin Fraser/Honneth 2003).
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3.1.2.2 Subjektivierung Anerkennung schafft Subjektivität, indem sie einem Individuum seine Anerkennbarkeit attestiert und sie zugleich einfordert. Zugleich wird in der Erwerbsarbeit, zumal jener postfordistischer Struktur, eine Subjektivität gefordert und angerufen, die sich als eigenständig und unternehmerisch handelnde zeigt und auf diese Weise Anerkennbarkeit als Arbeitskraft äußert. Damit wird eine Subjektivierungsspirale angetrieben, da die Potenziale des Selbst zunehmend mehr – und stets auch mit der Gefahr des Scheiterns verbunden – vorangetrieben werden muss (vgl. Voß 2012: 285). Insofern dient gerade die Erwerbsarbeit dazu, sich als Individuum unternehmerischer Subjektivität zu etablieren und stets aufs Neue zu inszenieren. Wie allerdings im Hinblick auf neoliberale Macht- und Subjektivierungsformate dargelegt (vgl. Kapitel 1.1), erwächst daraus auch eine Responsibilisierung der Subjekte, ein Anspruch an Verantwortung also gegenüber den Gliedern der neoliberalen Gesellschaft unter weitgehender Absehung von strukturellen, institutionellen, sozialen und gesellschaftlichen Ursachen subjektiver und sozialer Gegebenheiten. Geradezu zwangsläufig ergibt sich ein pädagogisches Subjektivierungsmoment: »Es ist unumgänglich, andere als jemand anzusprechen, zu positionieren und zu identifizieren und dadurch zu jemandem zu machen [...].« (Ricken 2015b, 143) Subjektivität wird auch pädagogisch gemacht; daraus resultieren Anrufung, Führung zur Selbstführung und Gehorsam gegenüber dem Diktat gegebener Ordnungen, nicht zuletzt der Arbeitsgesellschaft. Aufgrund der bislang vorgelegten Untersuchungen ist davon auszugehen, dass es nicht schlicht um Gehorsam als Fügsamkeit unter dem gesellschaftlichen Diktat der Selbstbewirtschaftung geht, sondern eher um eine aus sich selbst generierte Funktionalität, also gewissermaßen einen »Gehorsam zweiter Ordnung« nun gegenüber den adressierten und zugleich selbsterkannten sowie selbst gewählten Funktionen und Gegebenheiten. Damit ergibt sich der eingeforderte Gehorsam als »Bestandteil einer neuen neuzeitlich-modernen Machtfigur, in der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung als neuer Kern der Ordnung fungieren.« (Ricken 2015a: 45) Dieser Gehorsam fügt sich also nicht bloß, sondern lernt, sich selbst aktiv weiter zu optimieren, auch ohne konkrete Zielvorgabe, und mündet zuletzt in die Unabschließbarkeit der Selbststeigerung im Modus auf Dauer gestellter Selbstoptimierung. Mit den Mitteln der Bildung ergibt sich so eine Subjektivität, die nicht bloß durch pädagogische Anrufung entsteht, sondern mehr
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noch eine, die durch eine bestimmte Anrufung gewissermaßen »auf den Weg geschickt« wird – freilich ohne Aussicht, je di definierte Ziellinie zu Gesicht zu bekommen. Dieser Anspruch von Bildung – genauso wie der damit einhergehende des auf Verwertbarkeit qua Anerkennbarkeit ausgerichteten Lernens – bleibt lebenslang bestehen. Und doch lassen sich bildungstheoretische Alternativen erkennen. Zwar ergibt sich aus einem solchen neoliberalen Bildungsverständnis, »das Eigene vom Anderen her zu begreifen und als eine doppelte Relation – nämlich sich zu sich selbst als eines Verhältnisses zu anderen zu verhalten […] – auszulegen.« (Ricken 2015b, 145; verweist auf Kierkegaard) Doch eröffnet diese dialektische Relation – das Eigene als reflexives Verhältnis zu sich und dabei als Verhältnis zum Anderen zu verstehen – auch die im Hinblick auf Anerkennung bereits skizzierte Möglichkeit einer, wenn auch nur graduellen, Abweichung vom angerufenen Subjektivitätsformat. Dieses abweichende Selbstverhalten ermöglicht zumindest graduelle Freiheitsspielräume, die sich als situative Subversion der gegebenen Ordnungen im gesellschaftlich-subjektivierenden Konnex verstehen lassen.42 3.1.2.3 Differenzen Greift man ferner auf das Konzept einer transformativen Bildung zurück, so ist sie auf Erfahrungen verwiesen, in denen die bisherigen »Dispositionen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns« nicht mehr zureichen und maßgeblich verändert werden (Koller 2014: 22). Differenzen tun sich somit im Hinblick auf das Vermögen des Individuums auf, ferner im Zeitverlauf bezüglich der denn doch herausgebildeten Möglichkeiten und schließlich auch im Bezug zur Umwelt, in der solche Fähigkeiten der Aufgabenbewältigung bereits gegeben sein können. So ist es nicht verwunderlich, wenn Ditton »Schulformen als differenzielle Entwicklungsumwelten« (Ditton 2016: 285) versteht. Für ein transformatives Bildungskonzept zumindest scheint es ebenso erforderlich wie för-
42 Unter dieser Hinsicht hält nicht allein der Subjektivierungsbegriff nach Foucault und Butler Einzug in den Bildungsbegriff, sondern ebenso sehr das Konzept situativer Freiheit, ohne sich allerdings zwingend loszulösen »von seinem sozialgeschichtlichen Hintergrund sowie von seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen« (Casale 2016: 27), die sich jeweils rückbezogen auf die sozialgeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Bezüge ihrer Zeit.
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derlich, Differenzen zwischen den Individuen, hinsichtlich ihrer Bildungsprozesse und somit auch bezüglich der didaktischen und allgemein pädagogischen Impulse anzusetzen. Dass der Differenzbegriff zudem auf die kulturellen und sozialen Ligaturen der Individuen aufmerksam macht, muss allerdings nicht nur als Abweichung von einer tradierten erkenntnistheoretischen Signatur des Bildungsbegriffs (vgl. Casale 2016: 21f.) verstanden werden. Vielmehr kann mit der »postmodernen« Auffassung ein revidiertes Vernunftkonzept ebenso transportiert werden wie eine Rückbesinnung auf kulturelle und soziale, darüber hinaus auch materielle, historische und politische Bedingungen der alltäglichen Lebensführung von Menschen (vgl. Jurczyk 2009), welche die Erkenntnispraxis prägen und somit erkenntnistheoretische Konsequenzen haben. Insofern macht dieses Sprechen von Differenz gerade auf die Gleichheit der Menschen in ihrer Ungleichheit aufmerksam, verweist auch auf »die jeweilige gesellschaftliche Ordnung selbst als Ursache von Ungleichheiten« (Hormel/Scherr 2016: 300; vgl. Emmerich/Hormel 2013: 20) und vermag von dorther eine erweiterte erkenntnistheoretische Position einzunehmen. Dass sich Menschen auf diese Weise fremd sind – und in einem gewissen Maß auch bleiben –, muss dann nicht nur als Mangel oder Abweichung vom tradierten Bildungskonzept verstanden werden. Es kann vielmehr auch im Sinne einer »Pädagogik der Fremde« (vgl. Böhmer 2016a; zur Fremde in einer transformatorischen Bildungstheorie vgl. Koller 2012: 79ff.) durchaus zu eigenen pädagogischen Programmatiken beitragen, die gerade die konstitutiven Elemente des Bildungsbegriffs, Geschichtlichkeit und Vernunft, in ihrer spätmodernen Lesart fortführen.43
3.2 N EOLIBERALE R EGIERUNG
DER
B ILDUNG
Bildung spielt eine zentrale Rolle im neoliberalen Gesellschaftsgefüge. Zu diesem Schluss gelangt, wer die rhetorischen, politischen und programma-
43 Selbstverständlich bedarf es weiterer Klärungen, was genau in dieser Lesart fortgeführt, was abgeschnitten und schließlich, was neuerlich in den Bildungsbegriff hineingewoben wird. Diese Fragen können hier nicht mehr ausgearbeitet werden, doch lassen sie sich ebenso an die früheren Phasen der Bildungstradition herantragen.
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tischen Markierungen zur Bildung näher in Augenschein nimmt und insbesondere die sozialpolitischen Hoffnungen ausmacht, die mit der Förderung von Bildung verbunden ist (vgl. Groh-Samberg/Lohmann 2014: 173). Dass dabei gesellschaftliche Normative zugrunde liegen, die just das Mittel der Wahl gesellschaftlicher Gestaltung in der Bildungsarbeit erkennen, dürfte nach den bereits dargelegten Zusammenhängen hinsichtlich Neoliberalismus (vgl. Kapitel 1) und Postfordismus (vgl. Kapitel 2.2.1) kaum noch verwundern. So wird gerade der Wohlfahrtsstaat (vgl. Kapitel 2.2.3) in einer Weise verändert, die ihn zum investiven machen. Dessen Strukturkonstanten skizziert Solga wie folgt: »Bildung und Qualifizierung gelten als Wege zur Herstellung von gesellschaftlichem Wohlstand, sozialem Zusammenhalt und wirtschaftlicher Entwicklung, bei denen es nur Gewinner zu geben scheint [...]. Verlierer sind nur jene, die sich nicht um Leistung und Arbeit bemühen oder – soziale Ungleichheiten naturalisierend – dazu nicht fähig sind [...]. Ungleichheiten auf Basis unterschiedlicher Anstrengungen und Fähigkeiten gelten als gerechtfertigt [...].« (Solga 2012: 460; verweist auf Breen & Goldthorpe, Keep & Mayhew, Lefranc et al.)
Bildung dient im Zuge dieser Programmatik dazu, die Fähigkeiten der Individuen nutzbringend zu entwickeln, so dass volkswirtschaftliche Ziele erreicht und »gesellschaftlicher Wohlstand« bruchlos gemehrt werden. Doch nicht allein die positiven Aspekte setzen an den Individuen und ihrer Bildung an; auch die negativen Konnotationen werden individualisiert und als motivationale oder naturale Mängel dargestellt. Unter einer solchen Hinsicht ist Bildung Investition in die Zukunft – zunächst der Gesellschaft, allerdings auf dem Weg der Aus- und Weiterbildung der Einzelnen. Zugleich wird in diesem Zusammenhang die Perspektivenverengung durch den offenkundig nicht irritierbaren Blick auf Meritokratie als Gerechtigkeitskonzept gelenkt (vgl. ebd.: 463). Was dabei jedoch unsichtbar bleibt, sind die Mechanismen der Zuteilung gesellschaftlicher Positionen und Ressourcen, die weit weniger durch individuelle Leistungen, sondern maßgeblich durch Reproduktionsstrategien der Eliten (vgl. Ricken 2014: 119f.; verweist auf Hartmann) bestimmt werden. Insofern dient Bildung als Vehikel zur Beförderung neoliberaler Normative, wenngleich gesellschaftliche Praktiken bisweilen weit davon entfernt stattfinden.
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Ökonomisierung und Management-Orientierung haben auch vor dem Bildungssektor nicht Halt gemacht und dienen der vorgenannten normativen Ausrichtung der Gesellschaft, indem sie bestimmte Praktiken der Reproduktion gesellschaftlicher Normen und Strukturen unsichtbar werden lassen. Dabei wird mit dem Begriff der Ökonomisierung zunächst eine Semantik von Markt, Wettbewerb, Konkurrenz und unternehmerischem Selbstverhalten bereitgestellt, die zugleich den Anspruch erhebt, die Wahrheit der Realität ebenso abzubilden wie deren Deutung durchzusetzen: »Die ›Dispositive des Wissens‹ sind zugleich auch ›Dispositive der Macht‹ [...], die bestimmte Probleme zum Erscheinen bringen, andere ausschließen oder verschwinden lassen.« (Radtke 2009: 627f.) Mit Radtke lässt sich sagen, dass jene ›Probleme zum Erscheinen gebracht‹ werden, die sich der meritokratischen Individualisierung zurechnen lassen, dass indes strukturelle und gesamtgesellschaftliche Konstellationen von Diskriminierung weitgehend ›ausgeschlossen und zum Verschwinden gebracht‹ werden (zur kulturellen Hegemonie in der Schule vgl. Riegel 2016: 84ff.). Zur empirischen Aufklärung dieser Politiken und Praktiken bietet sich der Intersektionalitätsdiskurs deshalb an, weil er zum einen dezidiert nach Diskriminierung fragt, zum zweiten gleich eine Mehrzahl von Kategorien diskriminierender Praxis annimmt und zum dritten intersubjektive Prozesse ebenso wie makrostrukturelle Strukturen untersucht und auf ihre Wechselwirkungen hin befragt. Doch wird mit einem Blick auf die konkrete Umsetzung der erwähnten Ökonomisierung deutlich, dass nicht allein die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Bildung neoliberal umgesteuert wurden. Auch die Inhalte der Bildungsprozesse selbst sind von einer neuen Ausrichtung geprägt (vgl. Höhne 2015: 10). Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Normen und Strukturen von Bildung allgemein und Schule speziell: »Mit der Strategie der Ökonomisierung der Erziehung ist der Versuch verbunden, instrumentelles pädagogisches Handeln von wertrationalen Selbstbeschränkungen zu befreien. Um die Entideologisierung der Pädagogik vorantreiben und ihr ein technisch-organisatorisches Selbstverständnis einpflanzen zu können, müssen normativ gefasste, autonom begründete Erziehungsansprüche auf extern formulierte Lernerwartungen reduziert werden, deren messbare Erfüllung die Schule durch geeignete Angebote zu gewährleisten hätte.« (Radtke 2009: 632)
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Pädagogik – und besonders die Aufgabe von LehrerInnen – wird somit technologisch aufgefasst. Pädagogische Prozesse werden dem Verständnis unterworfen, vorab definierte Ziele (zu deren Mittelschichtsbezug vgl. Lisop 2014: 52) eindeutig ansteuern und realisieren zu können, so dass lediglich das Outcome gemessen und nach Effizienzkriterien beurteilt werden muss. Erklärlich wird ein solches Vorgehen, wenn zwei Leitlogiken dieser Reformulierung von Bildung vergegenwärtigt werden, nämlich zum einen die neoliberale Rationalisierung gesellschaftlichen Selbstverstehens sowie die Verdrängung anderer Rationalitäten zugunsten einer strikt ökonomischen (vgl. Höhne 2015: 12). Insofern verfolgt die hier skizzierte Umsteuerung der Bildungspolitik und ihres Bildungsverständnisses weiterreichende Ziele einer neoliberalen Ausgestaltung der Gesellschaft, die ihren hauptsächlichen Modus der Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit mit den Mitteln der Bildung vorantreibt. Auf diese Weise wird eine Übersetzung gesellschaftlicher und arbeitsbezogener Prozesse in pädagogische Fragen und Praktiken möglich (vgl. ebd.: 13). Es verwundert kaum, dass sich zu dieser ›Übersetzungsarbeit‹ der Bildungsbegriff anzubieten scheint, da er – wie gezeigt – historisch nicht selten als Vehikel gesellschaftlicher Veränderungen Verwendung fand und zugleich einer modernen Steigerungslogik verpflichtet ist (vgl. Buck 1976: 217), die sich an die neoliberale Steigerungspolitik anzulehnen vermag. Doch findet offenkundig nicht allein individualisierende Steigerung in der Neujustierung des Bildungsbegriffes statt. Denn zugleich werden diesem Begriff Kontrolle und wettbewerbliche Mentalität eingeschrieben, indem auf die Notwendigkeiten von Vergleichbarkeit, Evidenz, Output und Outcome einerseits verwiesen wird. Andererseits werden Auffassungen »einer sozialen Ent-Standardisierung, durch die etwa (Chancen-)Gleichheit als Form der ›Gleichmacherei‹ und als ungerecht diskreditiert wird« (Höhne 2015: 14), transportiert. Auf diese Weise wandelt sich der Bildungsbegriff mit seinen vormals modernen, bürgerlich-politischen Zielen von Produktion, ökonomischer Effektivität, Freiheit, Gleichheit und sozialem Ausgleich mit dem Mittel der Bildung (vgl. Kapitel 3.1.1) nunmehr zu einem neoliberalen, der die beiden erstgenannten Ziele, wenn auch postfordistisch fortgeschrieben, übernimmt, sich allerdings von den drei letztgenannten Vorgaben zugunsten von Selbstdisziplin, unternehmerischem Risiko der Bewirtschaftung des Selbst und soziale Konkurrenz hin verschiebt (vgl. be-
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reits Kapitel 1.2.1). Diese Verschiebungsarbeit leistet die semantische Umlenkung des Bildungsbegriffs. Die gesellschaftlichen Konsequenzen reichen deutlich weiter als bloß bis ins Bildungssystem hinein. Knapp markiert einen Mechanismus, der gesellschaftliche Strukturen mit Unsichtbarkeit belegt: »Das Verdecktsein der ungleichen Ausgangsbedingungen und der Mechanismen ihrer fortgesetzten Steigerung begünstigt den Gleichheitsglauben und die meritokratische Form der Legimitation von Ungleichheit, die den ideologischen Kitt in der modernen Gesellschaft bilden.« (Knapp 2013: 254; vgl. Ricken 2014: 119f.)
Da die Ausgangsbedingungen je nach Geschlecht, Klasse und Ethnie für den Start in den Wettlauf des neoliberalen Biographie-Wettbewerbs höchst ungleich sind, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche Auffassung zumindest ähnliche Zielerreichungsgrade mit demselben Aufwand und derselben Wahrscheinlichkeit als Grundlage von »Chancengerechtigkeit« gewährleisten kann, sofern diese überhaupt noch als erstrebenswert beurteilt werden (s.o.). Demzufolge zeigt sich die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Makrostruktur von Gesellschaft für die mikrostrukturellen Prozesse der Vergesellschaftung, wenngleich weitere Kontingenzen die jeweils konkrete Form von Diskriminierung und Privilegierung prägen dürften (vgl. näher Kapitel 3.3). Eine solche grundlegende Umstrukturierung der Gesellschaft hat auch Auswirkungen auf ihre sozialen Sicherungssysteme: »Denn dieser Staat ist nicht mehr kurativ, er verändert seine Leistungen: Hin zu Bildung und Ausbildung als präventive, weit vor dem Schadensfall einsetzende soziale Investitionen, weg von den klassischen kompensatorischen Sozialleistungen, die erst dann greifen, wenn der Schadensfall bereits eingetroffen ist.« (Allmendinger/ Nikolai 2010: 106)
Was die Autorinnen knapp und treffend skizzieren, ist also nicht weniger als die grundlegende Änderung der Ausrichtung wohlfahrtsstaatlicher Interventionen – weg vom kompensierenden, hin zum präventiven Wohlfahrtsstaat, also zur Verhinderung jener Zustände, die normativ als nicht erwünschte ausgewiesen werden.
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»Damit verändert sich auch der ›biographische Zeitpunkt‹ von sozialstaatlichen Interventionen: in den Fokus rücken kritische Phasen der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie, zum Beispiel Übergänge in den Arbeitsmarkt.« (Kohlrausch 2014: 89)
Dies wiederum hat mindestens zwei bedenkenswerte Konsequenzen. Zum einen werden nicht mehr Tatsachen (eingetretene Erwerbslosigkeit, stattgefundener Unfall, tatsächlicher Eintritt ins Rentenalter o.a.) zum Anlass wohlfahrtsstaatlicher Angebote, sondern der Staat interveniert flächendeckend und mit der prognostischen Versicherung, dass bestimmte »kritische Phasen« generell und für alle davon Betroffenen zu bearbeiten seien. Aus dem vorgeblich »schlanken Staat« der neoliberalen Diktion44 wird weit eher ein noch breiter ausgreifender Staat, der nunmehr nicht allein die faktischen Krisen kompensieren, sondern alle in potentiell kritischen Phasen Befindlichen bereits vor Eintritt des Schadensfalls erreichen muss. Insofern geht es nun um einen gesellschaftlich wie individuell-biographisch weit ausholenden Ausgriff, der sich der spekulativen, weil einzig auf Prognosen fußenden Strategien zur Optimierung derjenigen Individuen bedient, die nach Maßgabe solcher Vorhersagen den Eindruck erwecken, staatliche Investments im Sinne von Fördermaßnahmen und aktivierender Begleitung potentiell kritischer Lebensabschnitte würden sich durch einen (mindestens volkswirtschaftlichen) Gewinn legitimieren lassen. »Im Sinne des Konzeptes eines investiven Sozialstaats [...] ist Bildung eine Investition in die Vermeidung sozialer Risiken und der daraus entstehenden individuellen und gesellschaftlichen Folgekosten.« (Kohlrausch 2014: 89; verweist auf Giddens)
Deutlich wird, dass Bildung zur Aktivierung der Individuen mit subjektivierender Intention und zu einem Instrument für den Umbau des Wohlfahrtsstaats zugleich geworden ist. Mit den Mitteln standardisierter Bildung ausgestattet, sollen die Individuen in der Lage sein, sich dem Wettbewerb des neoliberalen Lebens zu stellen und den Konkurrenzkampf für sich zu entscheiden. Doch wenn breit angelegte Solidarität durch Konkurrenzorientierung ersetzt wird, sind Unterscheidungen in SiegerInnen und Verliere-
44 So forderte die Mont Pelerin Society: »The redefinition of the functions of the state so as to distinguish more clearly between the totalitarian and the liberal order.« (MPS 1947).
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rInnen wahrscheinlicher. Ist zudem davon auszugehen, dass der Wettkampf um Ressource und gesellschaftliche Positionen mit ungleichen Mitteln ausgetragen wird,45 so sind selbst meritokratische Positionen alsbald aufgrund mangelnden Realitätsnähe nicht mehr überzeugend (vgl. Allmendinger/ Nikolai 2010: 108).
3.3 P RAKTISCHE I NTERSEKTIONEN VON B ILDUNGSUNGLEICHHEIT
DER
G ENESE
Nach den bislang entwickelten Ansätzen zur neoliberalen Bildungspraxis und -theorie soll nun der Frage Raum gegeben werden, »wie denn nun soziale Differenzen in pädagogischen Praktiken hergestellt und bedeutsam werden.« (Ricken 2014: 122) Zu klären ist genauer, wie soziale Differenzen, insbesondere als diskriminierend eingeschätzte, in institutionalisierten Bildungssettings, allen voran die Schule, erneut in Szene gesetzt werden und dabei gesellschaftliche Normative artikulieren, in weitere gesellschaftliche Felder tragen und auf diese Weise soziale Ungleichheiten zu Bildungsungleichheiten transformieren und perpetuieren. Von Interesse könnte dabei als »andere Frage« (Matsuda 1991: 1189) jene nach Macht und privilegierten Ressourcenzugängen sein.46 Als weitgehend unstrittig gilt zunächst, dass Schule und die in ihr erfolgende Vergabe von Bildungszertifikaten die soziale Ungleichheit wiederholt, intensiviert und biographisch festschreibt. Diese Feststellung ist so wenig überraschend wie international vergleichend denn doch noch immer bemerkenswert; so wurden diese Einschätzungen bereits für das Frankreich der 1960er Jahre formuliert (vgl. Bourdieu/Passeron 1971) und für das Deutschland der PISA-Erhebungen in ihrem, zumindest anfänglich international nahezu beispiellosen Ausmaß (vgl. u.a. Baumert/Schümer 2001;
45 Vgl. die obigen Hinweise zur Selbstrekrutierung gesellschaftlicher Eliten nach Hartmann und Ricken. 46 Zudem sei unter methodischer Hinsicht darauf aufmerksam gemacht, dass bereits eine erhebliche Zahl einschlägiger Studien vorliegen, die hier nicht ausführlich vorgestellt werden können. Vielmehr werden die Ergebnisse dieser Studien zur Klärung der Frage nach Überschneidungen diskriminierender Kategorien in Bildungsprozessen herangezogen, nicht aber ausführlich kommentiert.
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Baumert/Maaz 2006; Ehmke/Jude 2010; Müller/Ehmke 2013) thematisiert.47 Die Folge ist für deutsche Verhältnisse, »dass Bildungsungleichheit selbst als zentrales Moment (auch zukünftiger) sozialer Ungleichheit gekennzeichnet werden kann.« (Rabenstein et al. 2013: 668) Nach wie vor ergeben sich als Wirkfaktoren für Bildungsungleichheit diejenigen Kategorien, die auch in der Intersektionalitätsforschung vornehmlich betrachtet werden: Geschlecht, Klasse, Ethnie (vgl. Ditton 2016: 281).48 Doch ist für die Einschätzung von Bildungsungleichheit zunächst festzuhalten, dass die Themen von Ungleichheit und Gerechtigkeit, die in den Debatten häufiger kombiniert werden, differenziert zu betrachten sind. Allgemein wird anerkannt, dass gesellschaftliche Unterschiede existieren können und gerade dann akzeptiert werden, wenn sie auf allgemein verbindlichen normativen Vorstellungen beruhen. Dies gilt für die Einschätzung einer meritokratischen Orientierung, einer Auffassung also, die es als gerechtfertigt ansieht, dass sich unterschiedliche Leistung unterschiedlich auswirken und insofern für die Individuen wie deren Herkunftsgruppen lohnen (vgl. Ditton 2016: 282). Wird eine solche Debatte indes zu den Fragen von Bildung geführt, so sind verschiedentliche Voraussetzungen für die wissenschaftlich wie gesellschaftlich und politisch angemessene Bearbeitung dieser Fragestellung vonnöten. Zunächst ist aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive danach zu fragen, von welchem Bildungsbegriff konkret die Rede sein soll. Nicht selten nämlich werden darunter alle (und zugleich nur jene) Aspekte versammelt, die sich durch die Vergabe oder das Vorenthalten von Zertifikaten in für Bildung ausgewiesene Institutionen definieren lassen. Weder außerschulische noch sich im Prozessverlauf innerhalb der Bildungsinstitutionen ergebende Positionierungen von
47 Zugleich machen die jüngsten Befunde deutlich, dass die Kompetenzunterschiede im Vergleich der sozialen Herkunft etwas weniger gravierend ausfallen: »Zwar unterscheidet sich auch in PISA 2012 die mittlere Lesekompetenz von Jugendlichen, deren Eltern der oberen Dienstklasse angehören, und Schülerinnen und Schülern aus Familien von un- und angelernten Arbeitern noch deutlich, die Differenz der Mittelwerte ist jedoch von 106 Punkten in PISA 2000 auf 71 Punkte in PISA 2012 gesunken.« (Müller/Ehmke 2012: 271). 48 Einen Überblick über den Forschungsstand zu sozialen Ungleichheiten in den Bildungschancen unter intersektioneller Perspektive bieten Gottburgsen/Gross 2012: 88f.
D ER F AKTOR B ILDUNG | 159
Individuen und Gruppen finden im Regelfall ähnlich große Aufmerksamkeit der Bildungsforschung. Ein zweiter Gesichtspunkt ist dahingehend zu thematisieren, dass eine große Zahl von Untersuchungen nicht beantworten kann, »inwieweit die sozial unterschiedlichen Übergangsmuster mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verträglich sind.« (Hillmert 2016: 94) Wurde also zunächst Leistungsgerechtigkeit als gesellschaftlich legitimiert verstanden, ist in dieser Hinsicht zu prüfen, ob tatsächlich jeweils dieses Kriterium leitend für die Bildungserfolge und -misserfolge war, die sich in den besagten Bildungszertifikaten und den durch sie eröffneten Zugängen zu weiteren statusvermittelnden (Bildungs-)Institutionen darstellen. Insbesondere wird der Verdacht formuliert, dass Ungleichheiten zwar vordergründig mit Leistungsaspekten gerechtfertigt werden, faktisch aber andere Motive und Ziele der Differenzierung zugrunde lagen (vgl. ebd.: 111). Sodann ist die in vielen Untersuchungen thematisierte rationale Individualentscheidung daraufhin zu befragen, ob sie überhaupt für den Bildungserfolg von Bedeutung war, wie und inwieweit sie ggf. wirksam wurde, welche Entscheidungsspielräume ihr zur Verfügung standen, welche Konkurrenzen bestanden und in welcher Weise das fragliche Individuum in ihnen positioniert war, welche Selektionsprogrammatiken auf Seiten der Bildungsinstitutionen vorherrschend waren und unter welchen weiteren Bedingungen die Wahl situativ, organisational, gesellschaftlich und politisch eingebettet war (für Hinweise auf soziokulturelle Faktoren vgl. ebd.: 108f.). Es werden unterschiedliche Interpretationen angeboten, um die Genese solcher Ungleichheiten im Bildungssystem zu erklären. Grob lassen sich folgende Erklärungsmuster in der Theoriedebatte unterscheiden: •
•
•
das Argument subjektiver Ausstattung feststellbare Ungleichheiten im Bildungserfolg seien in den subjektiven Ausstattungen (Intelligenz, Begabung, Motivation u.a.) und den sich daraus ergebenden Leistungspotentialen begründet; entscheidungstheoretische Kalküle unterschiedliche Kosten-Nutzen-Abwägungen v.a. in den Herkunftsfamilien führten zu pfadgenerierenden Entscheidungsmustern; reproduktionstheoretische Ansätze Individuen reproduzierten die gesellschaftliche Position und dabei das kulturelle Kapital ihrer Herkunftsfamilien als habituelle Muster;
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•
•
strukturell-systemische Muster durch institutionelle und gesellschaftliche Strukturen würden Diskriminierungen – zumeist ohne ausdrücklichen Vorsatz – realisiert; polyvalente Muster unterschiedliche Faktoren und Erklärungsperspektiven (auch aus den vorgenannten) führten mit ihren Spezifika und in Kombination zu jeweils unterschiedlichen Auffassungen von Benachteiligungen im Bildungssystem.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen verschiedenen Faktorengruppen unterschieden werden müsse und insbesondere kulturelle (als primäre) und positionsspezifische Effekte (als dann sekundäre) zu berücksichtigen seien (vgl. Becker/Lauterbach 2016; Ditton 2016: 283; klassisch Boudon 1974). Ferner müssten subjektive Dispositionen und organisationale Systematiken in ihren Wechselwirkungen differenzierter untersucht werden, um gerade die subjektiven Freiheitsspielräume zu erkennen, die sich etwa in »unwahrscheinlichen Bildungsprozessen« von Menschen erkennen lassen, die trotz Bildungsbenachteiligung Erfolge im Bildungssystem erzielen konnten (vgl. Scherr 2014b: 292). Im Rückgriff auf Intersektionalitätstheorien soll deshalb im Folgenden von der Überschneidung unterschiedlicher Differenzkonstruktionen im Bildungsverlauf ausgegangen werden. Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Auffassung primärer und sekundärer Effekte von Bildungsungleichheit bestätigt sehen kann. 3.3.1 Bildung und Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern Sollen nun unterschiedliche Kategorien der Diskriminierung thematisiert werden, so müssen sie doch aus Gründen der Darstellung nacheinander und somit wiederum sprachlich getrennt behandelt werden. Dennoch sollen zumindest einige der Querverweise an den jeweiligen Punkten der Darstellung formuliert werden. Gerade in Folge der Bildungsexpansion scheint sich eine allmähliche Angleichung zwischen den Geschlechtern hinsichtlich der Verwertbarkeit erworbener Bildungszertifikate einzustellen, Mädchen sind sogar »in ihren schulischen Karrieren überwiegend erfolgreicher als Jungen.« (Ditton
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2016: 285). Dabei ist im auch hier vornehmlich untersuchten »Kontext ›Schule‹ die Trias Gender, soziale Herkunft und Migrationsstatus relevant« (Gottburgsen/Gross 2012: 88f.). Im Einzelnen zeigen die Autorinnen, dass hinsichtlich der Lesekompetenz Jungen den Mädchen mit durchschnittlich 30 Punkten nachstehen, auch verschlechtert ein niedriger sozioökonomischer Status die durchschnittlich erwartbaren Leseleistungen (vgl. ebd.: 95).49 Ferner wird darauf aufmerksam gemacht, dass bei den Lesekompetenzen der Gendereffekt besonders ausgeprägt sei, bei den Mathematikkompetenzen hingegen die soziale Herkunft, womit die Stereotype männlicher Mathematikbegabung fraglich wird (vgl. Gottburgsen/Gross 2012: 102). Während sich also in den Bildungsinstitutionen selbst ein teilweiser Ausgleich oder sogar eine Gewichtsverschiebung der geschlechtsspezifisch ausgewiesenen Bildungsverläufe und -ergebnisse einstellt, gilt im Hinblick auf die anschließende Erwerbsarbeit jedoch das altbekannte Szenario: »Obwohl Frauen sehr erfolgreich das Bildungssystem durchlaufen, häufiger die Hochschulzugangsberechtigung erlangen und ein Studium absolvieren, sind sie im Vergleich zu den Männern schlechter auf dem Arbeitsmarkt positioniert. [...] Offenbar gelingt es Frauen weniger gut, die erworbenen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt umzusetzen. Ob die Nichterwerbstätigkeit immer eine selbst gewählte Perspektive darstellt, muss an dieser Stelle offenbleiben.« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 208f.)
Im Unterschied zu dieser angenommenen Offenkundigkeit gelingt evtl. nicht nur den Frauen die Umsetzung weniger gut, sondern es könnte danach gefragt werden, ob Frauen an einer weitergehenden Umsetzung ihrer Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gehindert werden. Allgemeine Diskriminierung wegen des Geschlechts, die sog. »Doppelbelastung« mit produktiver und reproduktiver Arbeit (vgl. Kapitel 2.1) und steuerrechtliche Einseitigkeiten zugunsten der tradierten Ernährerehe sind hier mögliche Ansatzpunkte. Gerade die tradierte Rollenteilung in Ehe und mehr noch Familie wird sodann auch im Umfang von Teilzeitbeschäftigung deutlich; während Frauen in Abhängigkeit von ihrer Qualifikation zwischen 18 und
49 Zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und der Kompetenz im Bereich Leseverständnis am Ende der Grundschule vgl. Klemm 2014: 128.
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36% als Begründung dafür die Kinderbetreuung nennen, tun dies unter den Männern lediglich zwischen 2 und 7% (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 209). Da davon auszugehen ist, dass eine solche Situation nicht durchgängig freiwillig angestrebt und verwirklicht wird, muss diesbezüglich von einer Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt ausgegangen werden. Diese Benachteiligung wird noch deutlicher, wenn die Entlohnungssituationen der Geschlechter, der vieldiskutierte »Gender Pay Gap«, in den Blick genommen wird: »Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen lag 2014 um 22 % niedriger als der Verdienst der Männer.« (Destatis/WZB 2016: 14; vgl. auch Antidiskriminierungsstelle 2013: 271) xGerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass Bildungserfolge allein noch keinerlei Gewähr für einen gesellschaftlichen Statusgewinn bedeuten. Gerade Frauen zeigen, dass sie – gemessen an den tradierten Kriterien der Bildungszertifikate – häufig erfolgreich das Bildungssystem durchlaufen, um dann, ebenfalls häufig, am Arbeitsmarkt nicht vollumfänglich reüssieren zu können. 3.3.2 Bildung und Erwerbstätigkeit von MigrantInnen Eine zunehmend bedeutender werdende Personengruppe ist diejenige der Menschen mit sog. »Migrationshintergrund«.50 Gründe hierfür sind die jüngst wachsende Zahl von Zuwandernden, die Heterogenität dieser Gruppen, die jedoch im Hinblick auf ihre Vergesellschaftung in Deutschland mitunter ähnliche Erfahrungen sammeln, sowie deren besondere Situationen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt.51 Insofern sollen im Folgenden einige ausgesuchte Aspekte vorgestellt werden.
50 Zu dessen terminologischer Abgrenzung vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: X. Zu den mit diesem Begriff verbundenen Diskriminierungen vgl. z.B. Krüger-Potratz 2014: 31ff.; Mecheril 2011. Da der Terminus in zahlreichen Studien Verwendung findet, soll er bei deren Diskussion zwar genutzt werden, allerdings mit Anführungszeichen, um kritische Distanz zu wahren. 51 Vgl. im Hinblick auf die Geschlechterdifferenzen der Beteiligung an der Erwerbsarbeit Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 23f.
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Ein Blick auf die vom Bildungsbericht 2016 definierten Risikolagen 52 macht deutlich, dass Kinder aus Familien mit »Migrationshintergrund« im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Positionierung durchschnittliche schlechtere Ausgangsbedingungen haben. »Es bleibt festzuhalten, dass ein Migrationshintergrund an sich keinesfalls als Risikolage zu begreifen ist, sondern dass finanzielle, soziale und bildungsspezifische Härten bei Personen dieser Bevölkerungsgruppe überproportional häufig auftreten. Da die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler mit den Risikolagen korrelieren und sich die Risiken reproduzieren, stellt deren Reduzierung eine der zentralen Herausforderungen für die Gesellschaft und das Bildungssystem dar.« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 30)
Bereits unter dieser Hinsicht wird die Bedeutung einer intersektionellen Perspektive auf Bildung und Erwerbstätigkeit ersichtlich: Bestimmte Kategorien (hier: Ethnie) scheinen im Bildungssystem nicht per se benachteiligend zu sein (für einen Überblick zu diesbezüglichen theoretischen Ansätzen und empirischen Befunden vgl. Diehl/Fick 2016), werden es aber durch die Versammlung tatsächlicher Benachteiligungen (hier: finanzielle, soziale und schlussendlich bildungsspezifische Faktoren). Deutlich wird, dass Diskriminierung mitunter erst »aus der zweiten Reihe« heraus erfolgt, indem bestimmte Personengruppen nur sehr viel weniger wahrscheinlich die Gelegenheit haben, bestimmten Diskriminierungen zu entgehen sowie begehrte gesellschaftliche Positionen bekleiden zu können. Um daher eine angemessene Einschätzung von Diskriminierungen zu erlangen, müssen die Analysen auch die Genese gesellschaftlicher Positionierung, die damit evtl. gegebenen »nachgelagerten Diskriminierungen« und deren statistische
52 »Die Risikolage formal gering qualifizierter Eltern [...] liegt vor, wenn beide Eltern weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch eine Hochschulzugangsberechtigung vorweisen können [...].« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 27) »Eine soziale Risikolage liegt vor, wenn kein im Haushalt lebender Elternteil erwerbstätig [...] ist.« (Ebd.) »Eine finanzielle Risikolage liegt vor, wenn das Familieneinkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze [...] von 60 % des Durchschnittsäquivalenzeinkommens liegt.« (Ebd.: 28).
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Wahrscheinlichkeit Gruppen-bezogen differenzieren. »Nachgelagert« erscheinen diese Diskriminierungen aufgrund analytisch-forschungspraktischer Gegebenheiten, die in den zurückliegenden Jahren zumeist Projekte der Bildungsforschung entstehen ließen, die häufig nach den Boudon’schen primären und sekundären Perspektiven in den Familien fragten, kaum jedoch nach jenen Zugängen, die sich gesellschaftlich als »Diskriminierung im Lebenslauf« oder gar über Generationen hinweg verstehen ließen und insofern weit vor jeder innerfamiliärer rationalen Kalkulation von zu erstrebenden und zu vermeidenden Bildungsverläufe solche Karrieren »vorspuren« (vgl. im Hinblick auf eine solcherart zu verstehende »kulturelle Passung« Kramer 2011: 120f.). Insofern sind die Perspektiven jener gesellschaftlichen Diskriminierungen forschungspraktisch nachgelagert, genealogisch aber vorgängig: Erst wenn ein Mensch oder eine Familie über äußerst lange Zeiträume hinweg eine perpetuierte Deklassierung erfahren hat, werden die zu formulierenden Entscheidungen von Gefühlen, Bildern und Gedanken geprägt, die erwarten lassen, auf die altbekannten Erfahrungen auch auf die Zukunft hin setzen zu können (vgl. Aranda et al. 2015) – und folglich ohnehin (nahezu) aussichtslose Bildungsversuche alsbald mit höherer Wahrscheinlichkeit als andere Milieus meiden. Hinsichtlich der – wie gesehen: bildungsrelevanten – Risikolagen ist festzustellen, dass in 2014 Kinder aus Familien ohne »Migrationshintergrund« zu 20 % von mindestens einer Risikolage betroffen waren, aus Familien mit dieser Zuschreibung hingegen zu 55% in der ersten und immerhin noch 42% in der zweiten Generation; bei einer gleich dreifachen Betroffenheit durch die Risikolagen verteilten sich die Anteile in derselben Reihenfolge der vorstehenden Gruppen zu 2%, 10% und 6% (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 169; zu den qualifikationsbezogenen Differenzen der MigrantInnengruppen vgl. Diehl et al. 2016: 6). Ein erster Einblick sei auf den Sprachgebrauch in Familien mit »Migrationshintergrund« geboten. So wurde gezeigt, dass 63% aller Kinder dieser Familien, die Kindertageseinrichtungen besuchen, zu Hause vornehmlich eine andere Sprache als Deutsch sprechen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 166). Dies macht deutlich, dass tatsächlich Bildungseinrichtungen dazu geeignet wären, »Sprachförderung« für Kinder aus nicht regelmäßig deutschsprechenden Familien dahingehend zu betrei-
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ben, dass sie die deutsche Sprache leichter erlernen.53 Zugleich muss mit der Kritik von Gogolin am ›monolingualen Habitus‹ (vgl. Gogolin 2015, 2008; ähnlich auch Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 167f.) darauf hingewiesen werden, dass es nicht allein an den Kindern und ihren Familien ist, Antworten auf die ›multilinguale Moderne‹ zu finden, vielmehr ist ebenso zu fragen, wie die ›Vervielfältigung von Vielfalt‹ in Einwanderungsländern (vgl. Gogolin 2015: 292) von ihnen sprachlich beantwortet werden kann. Bereits an diesem einfachen Beispiel zeigt sich eine erste Fährte zur oben erwähnten »Risikolage [...] bildungsspezifischer Härten bei Personen dieser Bevölkerungsgruppe«, die durch eine kluge mehrsprachige Förderung von Menschen und ihren Bildungsprozessen erfolgversprechend sein könnte. Berücksichtigt man zudem, »dass bei Kindern der 3. Generation kaum mehr Unterschiede hinsichtlich der Sprachpraxis in der Familie im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund zu beobachten sind« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 167), so wäre in diesem Zusammenhang wohl von allgemeinen Integrationsprozessen auszugehen, die schlicht nicht in einer einzigen Generation abgearbeitet werden zu können scheinen. Da jedoch marginalisierende Ergebnisse diskriminierender Schulerfahrungen auch für frühere Generationen nicht als erstrebenswert gelten dürften, wären deren Angehörigen mit entsprechenden multilingualen und anderweitig an gesellschaftlicher Vielfalt orientierten Angeboten ebenso geholfen wie der Zuwanderungsgesellschaft. Werden die Lesekompetenzen der SchülerInnen reflektiert, zeigt sich trotz Kontrolle des Sprachgebrauchs ein Abstand von 10 Leistungspunkten bei Jugendlichen mit »Migrationshintergrund« im Vergleich zu jenen ohne (vgl. Gottburgsen/Gross 2012: 95).54 Des Weiteren gilt: »Signifikant wirkt sich der sozioökonomische Status der Eltern (ISEI) sowohl in Kombination mit dem Migrationsstatus als auch mit Gender auf die Lesekompetenz aus.« (Ebd.) Die Autorinnen zeigen, dass die Kombination von Migrationsstatus, sozioökonomischem Status und Geschlecht abermals erhebliche Unterschiede ergeben (vgl. ebd.: 98). Da sie zudem den negativen Effekt eines
53 Zur heterogenen Effektivität verschiedener Sprachförderprogramm im Elementarbereich vgl. Kempert et al. 2016: 204ff.; im schulischen Bereich ebd.: 214ff. 54 Zu Differenzen bei Benotungen unter Kontrolle möglicher Einflussfaktoren vgl. Diehl/Fick 2016: 262f.; zur Accumulation of Disadvantage vgl. ebd.
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hohen Anteils von Jugendlichen mit »Migrationshintergrund« an Schulen mit den dortigen Jugendlichen dieser Untergruppe im Hinblick auf Mathematikkompetenzen aufzeigen (vgl. ebd.: 102), könnten sich erste Hinweise auf strukturelle Ursachen ergeben. Weitere Untersuchungen wären diesbezüglich erforderlich. Neben frühpädagogischen und allgemein schulischen Befunde zeigt ein Blick auf die berufliche Ausbildungssituation der zurückliegenden Jahre auch dort veränderte Relationen: »An der Entwicklung zwischen 2008 und 2014 erscheint bemerkenswert, dass der Rückgang der Ausbildungsneuverträge im dualen System um 15 % unterschiedliche Auswirkung auf die beiden Nationalitätsgruppen hat: Bei den deutschen Jugendlichen reduziert sich die Zahl der Neuverträge um 16 %, bei den ausländischen steigt sie um 17 %, bleibt mit einem Anteil von 7 % 2014 gegenüber 5,1 % 2008 aber immer noch relativ niedrig [...].« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 177)
An dieser Stelle können keine weitergehenden Interpretationen der veränderten Situation von deutschen Jugendlichen vorgelegt werden, doch ist im Hinblick auf die ausländischen Jugendlichen mindestens zweierlei von Interesse: Dies ist zum einen der relative Zuwachs an Ausbildungsplätzen, zum anderen aber auch das in Summe nach wie vor niedrige Niveau dieses Anteils am Gesamt der Ausbildungsverträge.55 Hier scheinen weitere Faktoren wirksam zu sein; zu denken wäre etwa an die voranschreitende Akademisierung, von der entsprechend den bisherigen Hinweisen vermutlich eher deutsche als ausländische Jugendliche profitieren dürften. Auf diese Weise wiederum würden freie Ausbildungsplätze weniger von den in die akademischen Bildungszweige abgewanderten Deutschen nachgefragt und stünden den AusländerInnen eher offen. Ob diese Hypothesen zutreffen
55 Mit den Daten des Statistischen Bundesamtes lassen sich für 2014 in der potentiell ausbildungsorientierten Altersgruppe der 15-20-Jährigen 4.066.800 deutsche und 429.386 ausländische Jugendliche ermitteln; der Anteil der ausländischen Jugendlichen am Gesamt der Altersgruppe (Deutsche und AusländerInnen) beträgt somit rund 9,6% (vgl. Destatis 2016, 2015). Der Bildungsbericht 2016 weist 36.495 Erstverträge für AusländerInnen und 481.902 für Deutsche im nämlichen 2014 aus (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016b).
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oder evtl. anderweitige Gründe für diese Entwicklungen vorliegen, müssten weitere Untersuchungen ergeben. Berücksichtigt man darüber hinaus den Status der Berufe, für die ausgebildet werden soll, lassen sich ebenso deutliche Differenzen dahingehend erkennen, dass Neuverträge in den oberen Segmenten der Berufe eher mit deutschen als mit ausländischen Jugendlichen abgeschlossen wurden (vgl. ebd.). Nachdem sich bereits im Bildungssektor zahlreiche Differenzen zwischen Menschen mit und ohne »Migrationshintergrund« nachweisen ließen, werden diese Befunde auch bezüglich des Arbeitsmarktes kaum geringer. Der Bildungsbericht 2016 weist z.B. aus, dass zwar 86% der jungen Erwachsenen ohne »Migrationshintergrund« erwerbstätig sind, allerdings lediglich 73% mit einem solchen Hintergrund (vgl. ebd.: 178f.). Während die AutorInnen des Berichts insbesondere kulturelle Muster, gerade für die Erwerbsbeteiligung der Geschlechter, anführen (vgl. ebd.), zeigen andere Daten, dass sich auch weitere Erklärungsmuster anbieten könnten. So wurde unlängst darauf aufmerksam gemacht, »dass Diskriminierung bei betrieblichen Personalentscheidungen auch diejenigen betrifft, die zwar rechtlich gleichgestellt und ggf. auch deutsche Staatsbürger/innen sind, gesellschaftlich aber als Personen mit Migrationshintergrund bzw. als Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten wahrgenommen werden.« (Scherr et al. 2015: 9)
Solche – zumeist wiederum keineswegs vorsätzlich, sondern eher aus pragmatischen Bearbeitungen von Teilfragestellungen heraus erfolgenden (vgl. ebd.: 9f.) – Benachteiligungen könnten ihrerseits dazu führen, dass bestimmte Personengruppen weit größere Hürden zu überwinden haben, um in Ausbildung und in Erwerbsarbeit zu gelangen. Die besagte Studie weist ausdrücklich auf »das muslimische Kopftuch als Projektionsfläche für Fremdheitszuschreibungen« (ebd.: 149ff.) und den Makel der Hauptschule (vgl. ebd.: 161ff.) hin. Zwei kategoriale Derivate der Diskriminierung, die gerade für MigrantInnen und ihre Nachkommen in besonderem Maß zutreffen (und insofern eine eigene ethnische Diskriminierung neben anderen, auch sozialen, Faktoren ausweisen; vgl. im Unterschied dazu Diehl et al. 2016: 26). Daraus lassen sich für die Intersektion von diskriminierenden Kategorien mindestens zwei Ableitungen formulieren: Zum einen ist festzustellen,
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dass Diskriminierung differenziert erfolgt. Nicht alle Menschen, auf die eine einzige diskriminierende Kategorie gemeinsam zutrifft (hier: Ethnie), werden im selben Maß benachteiligt, weitere Attribute wie z.B. Schultyp oder Inszenierung des Geschlechts können in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Konsequenzen hinzukommen. Zum zweiten ist festzustellen, dass eine kulturalisierende Erklärung keineswegs die einzige mögliche für solche Differenzierungen in der Erwerbsbeteiligung oder anderen Feldern von Vergesellschaftung sein muss. Wird die Beteiligung an Erwerbstätigkeit noch etwas näher betrachtet, zeigen sich Konsequenzen der Bildungskarriere für die Zugänge zum Arbeitsmarkt, die allerdings zum Teil kontraintuitiv sind: »Menschen mit Migrationshintergrund sind zu 71 % erwerbstätig, ein Anteil, der etwa 10 Prozentpunkte unter dem Wert der Deutschen ohne Migrationshintergrund liegt. Die Situation der 2. Generation (76 % erwerbstätig) stellt sich etwas günstiger als die der 1. Generation dar. Auffällig ist insbesondere, dass die Differenzen im Erwerbstätigenanteil bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund mit steigendem Bildungsabschluss stärker auseinandergehen [...]. Der hohe Anteil an Nichterwerbspersonen mit Migrationshintergrund und Hochschulabschluss von nahezu 18 % (8 % ohne Migrationshintergrund) ist erklärungsbedürftig.« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 208)
Auch diese Befunde sollen in die hier bearbeitete Fragestellung eingeordnet werden. Dass Bildungsbeteiligung nicht allein auf kulturelle Differenzen, sondern auch auf – z.T. mehrfache und komplexe – andere Kategorien bezogen werden kann, wurde bereits erläutert. Insbesondere Hochschulabschlüsse scheinen Menschen mit Migrationsbezügen weit weniger häufig die Einmündung in den Arbeitsmarkt zu eröffnen. Angesichts dieses Befundes kann die Hypothese formuliert werden, dass bestimmte, zumeist statushöhere Arbeitsfelder zwar den Hochschulabschluss erfordern, jedoch entweder nicht von MigrantInnen und ihren Nachkommen im selben Maß angesteuert werden wie von der autochthonen Bevölkerung oder aber von ihnen nicht erreicht werden können. Für die letztgenannte Auffassung spricht zumindest die üblicherweise vorhandene Motivation, die für den erfolgreichen Abschluss eines Studiums erforderlich ist. Diesen Abschluss dann nicht operationalisieren zu wollen, ist kaum zu erwarten. Eher ist vorstellbar, dass ähnliche Mechanismen fungieren wie bei der Vergabe von be-
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trieblichen Ausbildungsplätzen (vgl. Scherr et al. 2015). In dieser Hinsicht ist auch der Hinweis der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu lesen, die diese Frage für Kinder aus AkademikerInnen-Familien diskutiert: »Aufgrund der spezifischen Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der damit einhergehenden sogenannten ›Unterschichtung der Sozialstruktur‹ durch die Zuwanderer_innen, besteht [...] eine enge Verbindung zwischen beiden Dimensionen [...].« (Antidiskriminierungsstelle 2013: 96)
Als ein abschließender Aspekt zum Hinweis auf die Situation von MigrantInnen auf dem deutschen Arbeitsmarkt und deren Bezug zur Bildungssituation sei auf die Differenzen hinsichtlich der Entlohnung verwiesen. So lassen sich zunächst merkliche Lohndifferenzen in Abhängigkeit von der Nationalität dokumentieren (vgl. Lehmer/Ludsteck 2013; Peters 2008). Auch der Vergleich der Entlohnungssituationen von Männern und Frauen mit und ohne »Migrationshintergrund« sowie AusländerInnen war im Jahr 2008 bemerkenswert (vgl. die Übersichten in Aldashev et al. 2008: 3 sowie 5; zum Effekt der unzureichenden Übertragbarkeit von Bildungszertifikaten in Entlohnung vgl. ebd.: 5f.). Zusammenfassend lässt sich für die Situation von Menschen mit eigenen oder intergenerationalen Bezügen zu Migration bereits vor dem Hintergrund der hier dargebotenen Schlaglichter feststellen, dass sie hinsichtlich Teilhabe an Bildung sowie ihrer Integration in den Arbeitsmarkt von erheblichen Unterschieden zur autochthonen Bevölkerung bestimmt sind. Die Erklärungsmuster werden mitunter individualistisch oder kulturalistisch angelegt, können indes keineswegs alle erwähnten Phänomene hinreichend erläutern und bedürfen folglich mindestens einer Ergänzung durch weitere, auch intersektionelle Ansätze. 3.3.3 Bildung der Schichten Wenn soziale Ungleichheit beforscht wird, rückt unter intersektioneller Hinsicht die gesellschaftliche Positionierung (class) in den Fokus. Insofern sollen nun einige ausgesuchte Befunde zur These von sozialer Ungleichheit und Differenzen der gesellschaftlichen Positionierung vorgelegt und diskutiert werden, wenngleich diese These im Hinblick auf »die Emergenz der primären und sekundären Herkunftseffekte« noch immer nicht als kausal
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aufgeklärt aufgefasst wird (Becker/Lauterbach 2016: 14; speziell für den intersektionellen Kontext Migration vgl. Diehl/Fick 2016: 253f.). Dass allgemeine Schulbildung die Chancen auf Integration in den Arbeitsmarkt beeinflusst, wurde bereits als Eingangsthese formuliert. Zugleich zeigt sich, dass auch weitere Effekte von Armut und sozialer Ausgrenzung mit den Bildungs(miss)erfolgen in Verbindung zu bringen sind, so dass letztlich mehrere Lebensbereiche von Menschen betroffen sein können und insofern »das Leben insgesamt beeinträchtigen.« (GrohSamberg/Lohmann 2014: 178). Dabei haben sich im Verlauf der Jahrzehnte merkliche Änderungen ergeben, wie am Beispiel des Gymnasialübergangs deutlich wird: »1969 haben Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss weniger Chancen als Kinder von Eltern mit Realschulabschluss und Abitur; 2007 haben Kinder von Eltern mit Haupt- und Realschulabschluss weniger Chancen als Kinder von Eltern mit Abitur. Die kritische Grenze, ab der sich Bildungsstatus über Generationen vererben, hat sich also nach oben verschoben.« (Meulemann/Relikowski 2016: 458)
Deutlich wird mit diesem ersten Hinweis, dass der Status von Schultypen die ›Vererbung‹ des Bildungsstatus beeinflusst und diese Erbfolge zugleich einem stratifizierenden Wandel unterliegt (vgl. Becker/Lauterbach 2016: 12; Hillmert 2016: 88). Zudem wurden in diesem Wettbewerb um bildungsbezogenen Status die Hürden erhöht: »Damit die ›Erben‹ das behalten können, was ihnen nach Meinung der tonangebenden Milieus – in intergenerativer ›Chancengerechtigkeit‹ – zusteht, wurden die systemstrukturellen Voraussetzungen noch einmal wesentlich verschärft.« (Bauer et al. 2014: 17; verweisen auf Bordieu/Passeron)
Konsequenz dieser Maßnahmen ist, dass sich auch mit der Bildungsexpansion der zurückliegenden Jahre die Unterscheidungen der Milieus eher verstärkt haben und zugleich die Gesichtspunkte der sozialen Performanz und ihrer intersubjektiven Wiedererkennbarkeit (vgl. Ditton 2016: 304; Vester 2014: 254) anstelle derjenigen von Begabung und Leistung weiter wirkmächtig blieben (vgl. Bauer et al. 2014: 17) Wie bereits zuvor, lohnt sich auch an dieser Stelle ein differenzierender Blick auf die Wirkungszusammenhänge. So wird dargelegt, dass sich Un-
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terschiede im Bildungszugang für Schule, Hochschule und Berufsbildung in (mittlerweile etwas abgeschwächter) Abhängigkeit von den elterlichen Bildungsabschlüssen ergeben (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 216). Aufgrund »des starken Einflusses der durch Bildung vermittelten Faktoren auf die soziale Position in der Gesellschaft, aber auch der immer noch wirkenden direkten Einflussfaktoren der sozialen Stellung der Eltern auf Bildungs- und Berufsbiografien« (ebd.), resultieren daraus ebenfalls erbliche Bildungskarrieren, die weiter daraufhin zu überprüfen sind, ob sie tatsächlich Ergebnis einer schlicht kausalen »rational choice« sind (vgl. stellvertretend für viele Meulemann/Relikowski 2016; zum Wechselspiel von sozialer und ethnischer Vorstrukturierung rationaler Wahlen vgl. Diehl et al. 2016: 14; Diehl/Fick 2016: 274; zur ökonomischen Konditionierung familiärer Entscheidungsprozesse vgl. Krug/Popp 2008: 15) oder mindestens auch durch weitere, evtl. »vorgängige« Faktoren bewirkt werden. Zumindest lassen sich Prozesse von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung als sich selbst verstärkende Grenzziehungen beschreiben, die gerade für jene berichtet werden, die im Bildungssystem kaum Erfolge vorweisen können; solche Prozesse können sich schließlich bis hinein in erhöhte Risiken der Ausgrenzung am Arbeitsmarkt auswirken (vgl. Groh-Samberg/Lohmann 2014: 177). Auch weitaus weniger subtile Prozesse der gesellschaftlichen Ungleichheit durch Bildungsungleichheit sind jüngeren Darstellungen zu entnehmen: »Das Gymnasium als ›Königsweg‹ der ›allgemeinen‹ Bildung erfüllt in Deutschland nach Art und Weise seines Zusammenhangs mit dem Beschäftigungssystem und nach dem Selbstverständnis der Schulgemeinden (Lehrkörper, Schüler und Eltern) seinem zweihundert Jahre alten ›allgemeinbildenden‹ Anspruch zum Trotz tatsächlich die Funktion einer zuvörderst berufspropädeutischen Einrichtung für prestigegeladene und lukrative akademische Berufe.« (Bauer et al. 2014: 18)
Als Stätte der Berufspropädeutik ausgewiesen, vermittelt das Gymnasium jene Zugänge in den akademischen Bildungs- und den Arbeitsmarkt, die anschließend zur sozialen Abgrenzung mit den Mitteln beruflicher Distinktion beitragen (vgl. Bourdieu 1987). Doch gilt für alle Schulen der Sekundarstufe, dass sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildung gleich zweifach ausprägt: in den skizzierten herkunftsspezifischen
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Chancen auf Kompetenzerwerb sowie in den abermals herkunftsspezifischen Chancen auf Bildung in ebenso anspruchsvollen wie Bildungsdistinktion vermittelnden Schularten (vgl. Klemm 2014: 128). Insofern ist tatsächlich von einer »Risikolage formal gering qualifizierter Eltern« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 27; zur Definition vgl. Kapitel 3.3.2) zu sprechen. Ob indes dem meritokratischen Argument der fehlenden Möglichkeiten oder Motivationen zur elterlichen Unterstützung sowie des rationalen Kalküls hinsichtlich der Bildungserfolge allgemeine Überzeugungskraft abgewonnen werden kann, ist wiederum fraglich.56 Würden sich solche Motivbündel faktisch ergeben, müssten die Distinktionsschranken allgemein und gymnasial nicht noch weiter erhöht werden, wie dies mit dem Hinweis auf Bauer et al. bereits erwähnt wurde. Zugleich aber zeigt sich die Verbindung von sozialer und bildungsbezogener Ausgrenzung: »Vor allem Kinder Alleinerziehender und von Eltern mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich oft von dieser Risikolage betroffen. In Bezug auf den Migrationshintergrund muss die Situation allerdings differenziert betrachtet werden: Kinder von Eltern türkischer Herkunft sind zu 45% und Kinder von Eltern aus sonstigen EU-28-Staaten lediglich zu 21% der bildungsbezogenen Risikolage ausgesetzt [...].« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 27)57
Wie ebenfalls gezeigt, sind es gerade Angehörige migrantischer Familien,58 die durch das Schulsystem bereits mit Nachteilen belegt sind. Sind nicht allein soziale oder gar leistungs- und begabungsspezifische Faktoren maßgeblich, so kann vermutet werden, dass es eine sozial grundierte, selbstreferentielle Wirkung des Bildungssystems gibt – frei nach dem Matthäus-
56 Zur – nicht nachweisbaren – Relevanz der Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen in deutscher Schrift und Sprache bei von Armut betroffenen Eltern von Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren vgl. Krug/Popp 2008: 16; zur ebenfalls nicht gegebenen Bedeutung von elterlicher Arbeitslosigkeit für die Bildungsziele der nach SGB II hilfebedürftigen Jugendlichen vgl. ebd.: 15f.; zur Bildungsaspiration von MigrantInnen vgl. Becker/Gresch 2016. 57 Zu weiteren Intersektionen von Erwerbslosigkeit, Ein-Eltern-Familien, »Migrationshintergrund« und ökonomischer Beschränkungen vgl. ebd.: 26ff. 58 Und jene türkischer Herkunft besonders, vgl. ebd.: 27f.; speziell für Sprachkompetenzen vgl. Kempert et al. 2016: 224.
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Prinzip (Merton) wird Bildung (eher) den Kindern gegeben, deren Eltern sie bereits haben. Diese Auffassung wirft kein allzu erfreuliches Licht auf das Bildungssystem, sofern nach einem Ausgleich der Bildungschancen und -ergebnisse für die unterschiedlichen sozialen Klassen gefragt wird. Ein Blick auf die Konsequenzen der arbeitsbezogenen Vergesellschaftung durch Bildung ergibt: »Für Arbeitslosigkeit und Armut ist eine zunehmende Spreizung bildungsspezifischer Quoten zu erkennen, wobei die Gruppe der am geringsten Qualifizierten überproportional betroffen ist. Hinsichtlich der kulturellen und politischen Teilhabe verlaufen die Linien dagegen annähernd parallel. Dies spricht gegen generelle Prozesse der sozialen Verarmung und für Prozesse der Verdrängung und Diskreditierung, die insbesondere am Arbeitsmarkt sichtbar werden.« (Groh-Samberg/Lohmann 2014: 188)
Ist Integration in den Arbeitsmarkt durch Bildung kein schlichter Automatismus (vgl. bereits Kapitel 3.3.1), so wird doch deutlich, dass ein nur geringes formales Bildungsergebnis zur arbeitsmarktbezogenen Deprivation beiträgt, wobei andere Felder wie ›kulturelle und politische Teilhabe‹ weit weniger wirksam werden. Dies zeigt zweierlei – zum einen die nach wie vor große Bedeutung formaler Bildung für die Integration in den Funktionszusammenhang der Erwerbsarbeit und zum anderen dessen lediglich relative Bedeutung für die Vergesellschaftung von Menschen. Dennoch vermittelt auch das Normalarbeitsverhältnis weit mehr als lediglich den (Familien-)Lohn, sondern darüber hinaus weitere Möglichkeiten auch kultureller und politischer Teilhabe sowie der familialen, nachbarschaftlichen u.a. Vergemeinschaftungen (vgl. Kapitel 2.2). Gerade dieses Normalarbeitsverhältnis wird aber beim Ausbleiben nennenswerter formaler Bildungserfolge zunehmend unerreichbar, Prekarität und Exklusion können drohen (vgl. Bauer et al. 2014: 19; Grundmann et al. 2016: 69). Insofern ist als fraglich anzusehen, ob zwar »Leistung das legitime Kriterium des Schulerfolgs ist« (Meulemann/Relikowski 2016: 444), sie aber schon allein aus diesem normativen Wunsch heraus auch faktisch als kausales Kriterium des Schulerfolges identifiziert werden kann. Zwar ist als Ergebnis einer Längsschnitt-Studie zu sagen, dass einerseits der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bewertung durch Schulnoten leicht zurückgegangen ist, dass andererseits jedoch die Schulnoten für den Übergang ins
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Gymnasium merklich an Bedeutung zugenommen haben (vgl. ebd.) Welchen Einflüssen jedoch die konkret formulierten Schulnoten in ihrer Genese unterliegen, wird noch als einigermaßen klärungsbedürftig aufgefasst (vgl. ebd.: 460) Dies empirisch breiter angelegt zu prüfen, wäre tatsächlich im Interesse einer Aufklärung der Zusammenhänge von sozialen Lagen der Herkunftsfamilie, Selektionsprozessen im Bildungssystem und damit einhergehenden, sich mehrfach überschneidenden »vorgängigen Diskriminierungen«.
3.4 I NTERSEKTIONELLE P ERSPEKTIVEN ZU ARBEITSGESELLSCHAFTLICHEN
B ILDUNGSFORMATEN Das hier vorliegende Kapitel hat bislang Bildung als Faktor der unterschiedlichen – und insbesondere: der weitgehend geschichteten – Vergesellschaftung auf Erwerbsarbeit hin und durch sie dargestellt. Dabei kamen neoliberale Regierungsformate zur Sprache, die Individuen ebenso betreffen wie die Bildungsprozesse, mit deren Hilfe die Menschen subjektiviert werden. Außerdem wurden einige der aktuellen Datenlagen zu intersektionell rekonstruierten Diskriminierungen im Bildungssystem dargestellt. Im nun folgenden Abschnitt sollen diese Befunde ausgewertet und auf die Leitfrage des vorliegenden Bandes angewandt werden: Wie gestalten sich intersektionelle Praktiken zur Vergesellschaftung durch Bildungsformate? 3.4.1 Alltägliche Bildung Sind die etablierten und in ihrer Heuristik bemerkenswerten MehrebenenModelle (vgl. Becker/Lauterbach 2016: 26ff.) zur Erläuterung unterschiedlicher Bildungsentscheidungen, -karrieren und ihrer virulenten Schnittstellen hilfreich für eine differenzierte Rekonstruktion Bildungssystemimmanenter Verläufe, so bieten sie dort Ergänzungsmöglichkeiten, wo sie die Erfahrungen der alltäglichen Lebensführung als »Handlungsmuster, Ressourcen und Deutungsmuster« (Jurczyk 2009: 54; vgl. Projektgruppe Alltägliche Lebensführung 1995; Voß/Weihrich 2001) und als ›arbeitsför-
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mige‹59 Aufgabenstellung mitsamt ihren dort fungierenden Normativen noch nicht umfänglich in ihr Kalkül einbeziehen. Im Alltag stratifizierter Gesellschaften werden Signale gesandt, die Positionierungen vornehmen und Individuen diesbezüglich verorten. Damit ist einerseits die Lebensführung marginalisierter Personengruppen auf Spuren solcher Positionierungen und Zuschreibungen sowie der sich daraus ergebenden Formen der Lebensführung mit ihrem eventuellen aus der konkreten Form alltäglicher Lebensführung resultierenden »Misfit« (Jurczyk 2009: 64) hin zu untersuchen. Zum anderen müssen die normativen Geflechte solcher Botschaften, Anrufungen und Strukturen weiter rekonstruiert werden, wenn ein kritisch-aufklärerisches Denken realisiert werden soll.60 Auf diese Weise lassen sich die bereits vorliegenden Modelle um eine weitere, nunmehr als alltagsbezogene empirische Bildungsforschung konzipierte »Tiefenerklärung« (Becker/Lauterbach 2016: 26) ergänzen. In diesem Zusammenhang kann der zu Beginn dieses Bandes eingeführte Begriff des Normativs (vgl. Kapitel 1.1) weiterführende Perspektiven eröffnen. Deutlich wird so, dass sich neoliberale Normative als Vergesellschaftungsimperative lesen lassen, die subjektivierende Prozesse initiieren und sich dabei nicht zuletzt des Bildungssystems und seiner als Einsortieren, Umsortieren und Aussortieren (vgl. Vester 2014: 254) beschriebenen Techniken bedienen. Aufgrund dieser gesellschaftspolitischen, normativ fungierenden Konzeptionen gesellschaftlicher Schichtung im und durch das Bildungssystem sind die möglichen Folgen für die Menschen aus unterprivilegierten Milieus bemerkenswert:
59 »Dabei wird nach Voß [...] ein Arbeitsbegriff zugrunde gelegt, der als zentrale Elemente die Zielgerichtetheit, Ergebnisorientiertheit, Aufwändigkeit sowie Effizienzorientierung von Tun betont, welches zudem spezifische Kompetenzen voraussetzt. Im Gegensatz zu Spiel oder Liebe ist dieses Tun optimierbar und rationalisierbar. Ein solches Verständnis von Arbeit ist fließend, es verortet aus der Perspektive der Arbeitenden Tätigkeiten auf einem Kontinuum zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit.« (Jurczyk 2009: 58).
60 Zu den Perspektiven einer kritisch konzipierten »reflexiven Disziplinpolitik« vgl. Kessl 2011.
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»Die Tatsache, dass Heranwachsende aus diesen Milieus selbst bei hohen kognitiven Leistungen den Bildungserwartungen des ›Systems‹ nicht entsprechen können [...], hat nicht selten zur Folge, dass bildungssystemische Bildungsansprüche und erwartungen ein Risikofaktor für die Persönlichkeitsentwicklung darstellen: Misserfolgserlebnisse, das ständige Scheitern an normativen Bildungserwartungen, ungerechte Leistungszuschreibungen u.v.m. produzieren nachweislich Leistungsängste, Frustrationen und negative Leistungsmotivationen. Auch darüber werden Ungleichheiten verfestigt, und Leistungsversagen im institutionellen Bildungskontext auch noch dem Einzelnen zur Last gelegt.« (Grundmann et al. 2016: 61f.; verweisen auf Ditton sowie Grundmann)
In dieser Melange aus struktureller Diskriminierung und individueller Zuschreibung von Verantwortung finden sich gerade jene Menschen, die den »Bildungserwartungen des ›Systems‹ nicht entsprechen können« – oder aber denen der Preis der Entfremdung vom Herkunftsmilieu allzu hoch erscheint –, so dass sie sich als jene identifizieren lassen müssen, die den Erwartungen nicht entsprechen konnten. Sind aber die Umsetzungen dieser leistungs- und wissensgesellschaftlichen Grundhaltungen maßgeblich für die Chancen auf einen daraus resultierenden Zugang zum Ausbildungs- und zum Arbeitsmarkt,61 die ihrerseits Status und Position im gesellschaftlichen Raum vermitteln, bleibt die Frage, zu welchen Antworten die Betroffenen finden. Nicht zuletzt der Hinweis auf »hegemoniale Männlichkeit« (Connell 2015) lässt nicht allzu viele akzeptierte und folglich für die Individuen und ihre Umfelder akzeptable Alternativen aufscheinen. Es ist zu erwarten, dass die Konsequenzen einer solchen intersektionellen Diskriminierung von Geschlecht und Klasse im Modus von Bildung zumindest mittelfristig auf die Gesellschaft zurückfallen. Vorstellbar sind hier z.B. Kosten der Daseinsvorsorge im Feld von Gesundheit oder öffentlicher Sicherheit. Weiter wird deutlich, dass im deutschen Schulsystem klar definierbare »Selektionsschwellen« (Hopf 2014: 217) anzutreffen sind, die den weiteren Bildungsverlauf für eine längere Zeit prägen. Allerdings werden die Selektionen »durch vorrausgehende zumeist stillschweigende Prozesse und Me-
61 Zu den Chancen der Erwerbsbeteiligung wie der Erwerbslosenquote in Abhängigkeit von den erzielten Bildungsabschlüssen vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016a: 208.
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chanismen der Bestärkung oder der Eliminierung hergestellt« (Helsper et al. 2014: 312). Daher muss der Alltag des Bildungssystems besondere Aufmerksamkeit erfahren. Er ist jeweils prädeterminiert durch die vorhergehenden »Sortierungen« (nach Vester), bietet aber zugleich weitere Hinweise auf die solcherart vorgespurten Pfade der Vergesellschaftung von Kindern und Jugendlichen auf ihrem Weg hinein in die Arbeitsgesellschaft. Zugleich wird mit dem oben dargestellten Bildungsbegriff (vgl. Kapitel 3.1.2) die Möglichkeit als realistisch angesehen, durch Formen abweichender Anerkennung auch die einmal eingespurten Bildungskarrieren zu variieren. Dabei ist die Varianzbreite sicher je nach beteiligten Individuen und Rahmenbedingungen unterschiedlich ausgeprägt, angesichts der Hinweise der bislang herangezogenen Studien aber wohl kaum sonderlich weit. Darum soll nunmehr danach gefragt werden, welche pädagogischen Ansätze angemessen erscheinen, um der erziehungswissenschaftlichen Herausforderung einer kaum meritokratischen, sondern weit eher stratifizierenden Bildungspraxis zu begegnen. In diesem Zusammenhang und aufgrund der Strukturanalogie zwischen schulischer und Arbeitsmarkt-bezogener Diskriminierung ist der Alltag von SchülerInnen bereits auf die Mechanismen hin zu befragen, die zur Verschlechterung gesellschaftlicher Positionierungen von Geringqualifizierten benannt werden: »Verdrängung, Diskreditierung, soziale Verarmung und (identitätsrelevante) Stigmatisierung.« (Groh-Samberg/ Lohmann 2014: 176; verweisen auf Solga) Zudem ist davon auszugehen, dass bei deren Zustandekommen nicht allein primäre und sekundäre Herkunftseffekte, also individuelle Leistung und individuell-familiäre Wahl, ausschlaggebend sind, sondern mindestens ebenso sehr die bereits erwähnten, den vorgenannten hauptsächlichen Analysekriterien vorgängigen Alltags-bezogenen Interaktions- und Adressierungsformate, ferner materielle, soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie Bildungsplanung und -politik. »Erforderlich sind deshalb hinreichend komplexe Theorien über den Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit, welche die agency-Dimension sozialer Prozesse, die strukturell zwar beeinflusste, aber nicht determinierte Handlungsfähigkeit individueller und kollektiver Akteure berücksichtigen [...].« (Scherr 2014b: 295; verweist auf Emirbayer & Mische, Willis)
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Die anschließenden Reflexionen sollen den Aspekt ›hinreichend komplexer Theorien‹ zumindest jeweils soweit mitbedenken, als datengestützte Aussagen im hier erarbeiteten Zusammenhang möglich sind. 3.4.2 Das responsive Subjekt der Bildung Im historischen Rückblick kann festgehalten werden, dass der moderne Bildungsbegriff zunächst eng verwoben war mit der zeitgenössischen Auffassung menschlicher Subjektivität. Diese mochte eine »Auffassung des Wissens als transzendentaler Synthesis der sinnlichen Erfahrungen« (Casale 2016: 30) transportiert haben, die Position des ›sich gemein Machens mit dem Allgemeinen der in der Welt wirklich gewordenen Vernunft‹ (vgl. Brumlik 2013: 93) oder anderes. Doch war – neben weiteren – die Frage nach der Position der Menschen, der Reichweite ihrer Vernunft und ihrer praktisch erreichbaren Freiheitsgrade eine, die Ziel und Prozessstruktur von Bildung maßgeblich vorformte und die gegebene Bildungspraxis zu qualifizieren beanspruchte. Seit der Epoche der Aufklärung veränderten sich jedoch Begriff und praktische Perspektive von Subjektivität in einem gravierenden Maß – grob skizziert von der transzendentalen Agentur sinnlicher Erfahrungen hin zu dem Element einer übergreifenden, semiotisch konstituierten Ordnung –, so dass auch die sich darauf stützende Bildungskonzeption nicht unverändert bleiben kann. Ebenso ist, nach den bislang ausgeführten Hinweisen zu Wechselwirkungen zwischen bildungsbezogenen und gesellschaftlichen Normativen, davon auszugehen, dass Umformungen des Bildungskonzepts ihrerseits Veränderungen in den Zusammenhängen gesellschaftlicher Praxis vermitteln können. Wenn zudem die Rahmenbedingungen von Bildung und Subjektivität Veränderungen unterworfen werden, werden auch die Auffassungen zu subjektiven und bildungsbezogenen Gesichtspunkten beeinflusst. Außerdem sind die alltäglich-subjektiven Verfassungen der Menschen für die Ausgestaltung der Bildungspraxis von Bedeutung, also »Sprach-, Denkund Wertmuster, Lebenserfahrungen und Identitäten sowie daraus resultierend so etwas wie wertende Grundeinstellungen gegenüber den Phänomenen des Lebens [...].« (Lisop 2014: 41; verweist auf Bourdieu, Kramer) Bildung und Subjektivität sind in dieser (spät-) modernen Hinsicht aufeinander verwiesen, beeinflussen sich in unterschiedlichen Rückkoppelungsprozessen und transportieren in dieser verkoppelten Weise gesellschaftliche
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Prozesse zu den Individuen ebenso wie in gesellschaftliche Zusammenhänge. Doch eine solche Auffassung verbindet sich keineswegs umstandslos mit der aktuellen bildungspolitischen Praxis, da die Bedingungen von Subjektivität zumeist nicht eigens thematisiert werden (vgl. Bauer et al. 2014: 29). Gerade diese Thematisierung aber ist, so sollten die bisherigen Analysen insbesondere zu den »vorgängigen Diskriminierungen« gezeigt haben, für ein vertieftes Verständnis der bildungsbezogenen Vergesellschaftung durch und für Arbeit mit zu bedenken. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, das Verhältnis von Subjektivität und Welt zu bestimmen, denn: »Das unauflösbar erscheinende Theorieproblem ergibt sich also jeweils aus dem Widerspruch zwischen einer Position, welche das Subjekt setzt und die Welt als ›konstruiert‹ erscheinen lässt, und einer Gegenposition, welche die Welt (und sei es die des Diskurses oder der Dispositive) als Wirklichkeit setzt und das Subjekt als deren (illusionäres) Ergebnis oder Epiphänomen postuliert.« (Rosa 2016: 62)
Um dieses Problem zu »überwinden« (ebd.), schlägt Rosa eine Radikalisierung der Fragestellung vor, die darauf abzielt, »dass nicht Subjekte oder Objekte, sondern Relationen und dynamische Bezogenheiten das Ausgangsmaterial der Wirklichkeit bilden könnten« (ebd.: 68). Diese sozialwissenschaftliche Position aufgreifend, soll eine ähnlich ansetzende erziehungswissenschaftliche Konzeption responsiver Bezüge das hier angesetzte Subjektivitätsverständnis erhellen (vgl. Böhmer 2014). Ein solches Bildungsverständnis geht davon aus, dass der Impuls zur Bildung der Relation von Subjekt und Welt vorausliegt – Bildung beginnt unter dieser Hinsicht gewissermaßen ohne Subjekt (vgl. hier und im Folgenden ebd.: 254f.). Erst im Ereignis von Appell und Antwort konstituieren sich die Pole dieses responsiven Wechselspiels, Subjektivität und Welt. Bildung lässt sich unter dieser Hinsicht verstehen als eine Möglichkeit der Aufmerksamkeit für das, was sich zeigt. Die bereits erwähnte Responsivität ist unter dieser Hinsicht zu verstehen als die Überlagerung von Unterschiedlichem im Geflecht des Selben, von Eigenem und Fremdem im »Gewebe der Welt«, das in der Struktur der Subjektivität reflexiv wird – für sich ebenso wie für Andere. Unter diesen Umständen bleibt Subjektivität bereits in ihrer Genese angewiesen auf das, was sich zeigt und appelliert zugleich an die Subjektivi-
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tät als Antwortstruktur.62 Im Hinblick auf die arbeitsgesellschaftliche Verortung solcher Subjektivität63 ist sie insofern aufzufassen als ein Ereignis innerhalb der gesellschaftlichen Gegebenheiten, die im Vorhergehenden konzeptualisiert wurden als Neoliberalismus, bestimmt von Normativen und Dispositiven sowie intersektionellen Diskriminierungen in Bildung und Erwerbsarbeit. Deren Konsequenzen sollen im Folgenden zumindest mit einigen Schlaglichtern knapp dargestellt werden. So wird zum einen deutlich, dass mit einem solchen responsiven Subjektivitätskonzept die Welt der Individuen in ihrer Komplexität zu berücksichtigen ist. In den bisherigen Ausführungen wurden bereits Konzepte ergänzt, die Bildungsprozesse – und in deren Folge Prozesse der Integration in die Arbeitswelt – lediglich als Konsequenzen von individueller Leistung und familiärem Kosten-Nutzen-Kalkül ansehen. Insofern sind die Praktiken alltäglicher Lebensführung, die Vorerfahrungen der Individuen in sozialen wie bildungsbezogenen Zusammenhängen, durch Subversion und Devianz ebenso in der Ausbildung einer konkreten Subjektivitätsformation zu berücksichtigen wie die gesellschaftlichen Normative mitsamt ihren subjektivierenden Ordnungsvorgaben. Es ist darauf aufmerksam zu machen, dass Bildungsinstitutionen eine weit umfänglichere Aufgabenstellung abzuarbeiten haben als allein Lernen und Kompetenzerwerb zu ermöglichen. Vielmehr wurden die Aufgaben gesellschaftlicher Normalisierung, Stratifizierung und Sozialisation ebenso erwähnt wie die Praktiken von Fachunterricht, Sprachförderung, Kompensation (oder Fortsetzung) der Bildungseffekte von familiären Risikofaktoren beschrieben. Zumindest die in der Öffentlichkeit ausgetragenen Debat-
62 Die Antwortstruktur wird im Hinblick auf die Konstitution von Subjektivität als dem Reflexivitätskonzept (vgl. Riegel 2016: 243ff.) vorgängig aufgefasst, wenngleich Subjektivität selbstverständlich als reflexive konzeptualisiert wird. 63 Rosa analysiert weiter: »Moderne als einer soziokulturellen Formation, die gleichermaßen durch die Furcht vor einem Verlust der Resonanzachsen beziehungsweise vor dem Verstummen der Welt wie durch eine sich stetig steigernde Resonanzsensibilität und wachsendes Resonanzverlangen charakterisiert ist.« (Rosa 2016: 75) Dies gelte auch für die Erwerbsarbeit und verfolge dort subjektive, aber ebenso sehr betriebliche Interessen: »Die in vielen Feldern dominant gewordene Projekt- und Teamarbeit der Spätmoderne erfordert resonante Persönlichkeitsstrukturen.« (Ebd.: 617).
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ten über soziale Herkunft und die damit einhergehenden Unterschiede in den Bildungschancen signalisieren für gewöhnlich, dass meritokratische Grundlagen des Bildungssystems verwirklicht und abgesichert werden müssten. Die vorhergehend dargestellten sozialen Phänomene dürften deutlich gemacht haben, dass das Bildungssystem in seiner gegenwärtigen Form Leistung nicht als einzigen Erfolgsfaktor realisiert. Darüber ist zu fragen, wie sich schulische Leistung für die Einzelnen lohnen soll, sofern sie auf so höchst unterschiedlichen Grundlagen aufruht, ihre Bewertung nicht durchgängig als objektiv gilt und die Folgen für gesellschaftliche Positionen und Karrieren keineswegs linear aus schulischen Leistungsattesten abgeleitet werden können. Lediglich an einem Aspekt des Bildungsalltags sollen diese Überlegungen konkretisiert werden: an den BildungsaufsteigerInnen. Zum erstgenannten Aspekt haben Studien gezeigt, dass BildungsaufsteigerInnen für gewöhnlich in eine merkliche Distanz zu ihrem Herkunftsmilieu geraten (vgl. Scherr 2014b: 289f.). Diese Distanz erfordert zum einen die emotionale wie kognitive Bewältigung der betreffenden biographischen Prozesse und der früheren ebenso wie der neuen sozialen Umfelder. Die Prozesse einer Transformation der bisherigen Subjektivität pädagogisch angemessen unterstützen oder gar fördern zu können, erfordert, dass subjektive ebenso wie soziale Verläufe hinreichend verstanden und insbesondere die Bedeutung der bislang noch wenig berücksichtigten »vorgängigen Faktoren« und ihrer intersektionellen Effekte erhellt werden. Doch wäre vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Fortsetzung gesellschaftlicher Ungleichheit mit schulischen Mitteln zu diskutieren, ob die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungssystem und somit der Unterstützung potentieller BildungsaufsteigerInnen nicht einer double-bind-Situation gleichkommt: gesellschaftliche Ungleichheiten als Bildungsdifferenzen fortzuführen und zugleich Bildungsdifferenzen als gesellschaftliche Ungleichheiten aufheben zu wollen. 3.4.3 Bildung als Sichtbarwerden Der Intersektionalitätsdiskurs bot vielfältige Impulse für die hier vorgelegten Analysen. Eine diskursinterne Perspektive soll für die Frage nach der Einschätzung von Vergesellschaftung durch Bildungsformate in der Arbeitsgesellschaft eigens herausgegriffen werden: die diskriminierungstheo-
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retische Bilanz der Unsichtbarkeit. Dieser Begriff scheint gegenwärtig noch wenig systematische Ausarbeitung erfahren zu haben,64 fungiert jedoch des Öfteren als Stilmittel intersektioneller Darstellungen (vgl. beispielsweise Castro Varela/Dhawan 2015; Knapp 2013; Ruokonen-Engler 2012; YuvalDavis 2013). So zieht Knapp die sozialpsychologische These heran, »dass die Zugehörigkeit zu mehreren untergeordneten Gruppen eine Person ›unsichtbar‹ macht im Vergleich zu denjenigen, die nur einer untergeordneten Gruppe zugehören.« (Knapp 2013: 245) Bereits die Hinweise von Crenshaw (vgl. 1991, 1989) machen deutlich, dass Diskriminierung dann schwerer erfasst wird, wenn sich verschiedene Kategorien kreuzen. Unsichtbarkeit bezeichnet insofern den Effekt von Benachteiligungen, dass die davon Betroffenen nicht mehr als Diskriminierte wahrgenommen werden, da sie evtl. in einer weiteren diskriminierungsrelevanten Kategorie nicht als benachteiligt erscheinen oder weil sie mit ihrer (Mehrfach-)Diskriminiertheit nicht in die Wahrnehmungsraster der gegebenen gesellschaftlichen Normalität fallen. Doch auch die umgekehrte Perspektive führt zu Unsichtbarkeit – die der Privilegien. So übt Knapp Kritik aus der Perspektive kultureller Ordnungen der Moderne, da sie darauf aufmerksam macht, dass nicht allein diskriminierte Gruppen unsichtbar werden, sondern es insbesondere die männlicher Macht sei (vgl. Knapp 2013: 247). Knapp begreift diese Wirkung als »Form der hegemonialen Entpartikularisierung« (ebd.). Ähnliches gelte für ethnisierende Diskriminierung (vgl. ebd.) und konnte auch für Marginalisierte im öffentlichen Raum gezeigt werden (vgl. Böhmer/Zehatschek 2015). Unsichtbarkeit korrespondiert unter dieser Hinsicht mit den hegemonialen Normativen einer Gesellschaft,65 die manche der
64 Mit Ausnahme von Frankenberg 1999 und dem Werk Bourdieus, in dem zumindest der Begriff der »Verschleierung« symbolischer Gewalt gelegentlich, dann allerdings markant verwendet wird (vgl. z.B. Bourdieu 2012; Bourdieu/Passeron 1971). Daran anknüpfend kritisiert Kramer pädagogische Machtverhältnisse: »Nur in der Verschleierung kann überhaupt eine pädagogische Beziehung entstehen, weil andernfalls mit der aufgedeckten kulturellen Willkür auch das besondere Gewaltverhältnis der Pädagogik offenbar würde.« (Kramer 2011: 341). 65 Scherr präzisiert für den gesellschaftlichen Normalfall: »Dieser angenommene Normalfall ist der erwachsene, männliche, physisch und psychisch gesunde
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Privilegien – und der daraus resultierenden Benachteiligungen – als normal artikulieren, nicht eigens thematisieren und insofern nicht als bemerkenswert konturieren. Die damit verbundenen Herrschafts-, Unterordnungs- und Benachteiligungszusammenhänge werden nicht nur nicht ausgeblendet, für ihre Wahrnehmung besteht schlicht keine Gelegenheit (vgl. Hamann 2016: 54ff.; Ruokonen-Engler 2012: 21). Die vorhergehenden Hinweise zur Intersektionalität (vgl. Kapitel 2.1) dürften deutlich gemacht haben, dass hier die Auffassung vertreten wird, eine Auflistung von Kategorien der Benachteiligung nicht abschließen zu können – die sozialen und dabei stets kontingenten Ordnungen bieten schlicht nicht eingrenzbare Möglichkeiten zur Diskriminierung. Insofern wäre das bereits in der Skizze hinterlegte Verständnis von Klinger (vgl. 2012a, 2008) heranzuziehen, die zwischen einer unabschließbaren Zahl von Diskriminierungsmöglichkeiten auf der Mikroebene und der Trias für die Makroebene votiert. Auch Letztere ist sicher nicht abschließbar, da sie als historisch, regional und sozial kontingent zu verstehen ist, doch kann gerade für Gesellschaften der Spätmoderne angesetzt werden, dass sie in der alltäglichen Lebensführung ihrer Individuen – auf jeweils differente Weise – Belege für die dort vorfindbare Makrostruktur der Vergesellschaftung erkennen lässt. Dass es dabei um die Nutzung knapper Ressourcen mit den Mitteln individualisiert verstandener (Un-)Möglichkeiten von Zugängen gehen kann, dürfte kaum verwundern. Versteht man nun Moderne als nationalstaatlich bestimmt, säkularisiert, individualisiert und ökonomisiert, so lassen sich die Kategorien Klasse, Geschlecht und Ethnizität als zentrale Handlungszusammenhänge solcher Gesellschaften ausweisen. Mehr kann an Plausibilisierung für die so verstandene intersektionelle These wohl kaum zugrunde gelegt werden, wie Yuval-Davis deutlich macht, wenn sie anmerkt: »Zwar gibt es in konkreten historischen Situationen und in Bezug auf konkrete Menschen bestimmte Ungleichheitskategorien, die für die Konstruktion ihrer spezi-
Staatsbürger, der zudem kulturell (Sprache, Religion, Herkunft) und im Hinblick auf äußerliche Merkmale (Hautfarbe) der Bevölkerungsmehrheit bzw. der dominanten gesellschaftlichen Gruppe angehört.« (Scherr 2016: 8) Zum Zusammenhang von modernem Subjektbegriff und Freiheit sowie deren machttheoretischer Kritik vgl. Emmerich/Scherr 2016: 281f.
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fischen Verortungen wichtiger sind als andere, doch gibt es bestimmte Ungleichheitskategorien, wie Geschlecht, Phase im Lebenszyklus, Ethnizität und Klasse, die das Leben der meisten Menschen an den meisten sozialen Orten prägen, während von anderen Ungleichheitskategorien, wie Behinderung [...] oder Staatenlosigkeit, global gesehen eher weniger Menschen betroffen sind. Gleichzeitig jedoch sind diese (und andere, hier nicht erwähnte) Ungleichheitskategorien für jene, die von ihnen betroffen sind, von entscheidender Bedeutung und man muss tatsächlich dafür kämpfen, sie sichtbar zu machen.« (Yuval-Davis 2013: 209f.)
Für ein intersektionelles Bildungsverständnis folgt daraus, in einem ersten Schritt zur Identifizierung von Ungleichheitslagen zwischen jenen Kategorien zu unterscheiden, die für viele, und solchen, die für weniger Menschen gelten. Ein Unterscheidungskriterium könnte die Rückbindung an die Differenz von Mikro- und Makrostrukturen darstellen, weil makrostrukturelle Kategorien für eine größere Anzahl von Menschen maßgeblich sein können. Zugleich zeigen sich weitere, eher partikuläre Ungleichheitskategorien, die ihrerseits sichtbar, d.h. in ihren subjektiven, sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen thematisiert und bearbeitet werden müssen. Insofern kann dem Sprachbild der Autorin sicherlich heuristische Bedeutung zukommen: »Ein Regenbogen enthält das gesamte Farbspektrum, aber wie viele Farben wir unterscheiden können, hängt von unserem spezifischen sozialen und sprachlichen Umfeld ab.« (Ebd.: 210) Die Strategie der Sichtbarmachung verfolgt also ein gesellschaftlichemanzipatorisches Interesse, das die Individuen in ihrer Marginalisierung sichtbar werden lässt und zugleich gegenüber der Gesellschaft deren Verantwortung mindestens für die Behebung struktureller Benachteiligung, evtl. auch für deren Verursachung markiert. Unter dieser Hinsicht ist die Sichtbarkeit keine Individual-Disposition, sondern gemäß dem zuvor skizzierten responsiven Wechselspiel als Interaktion von Individuum und Gesellschaft zu verstehen und bedarf der eigenen Initiativen und Themensetzung durch die Marginalisierten selbst. Ansonsten nämlich besteht die Gefahr, dass Letztere »mithilfe einer dubiosen Repräsentationspolitik« (Castro Varela/Dhawan 2015: 166) abermals unsichtbar gemacht werden. Bildung ist so vielmehr eine Mischung aus individuellen und gesellschaftlichen Faktoren, die zu individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen führt. Dabei sei nochmals auf die faktisch in den meisten Fällen gegebenen Mög-
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lichkeiten der Subversion verwiesen – auch Bildungsprozesse können divergierende Funktionen haben oder ihrerseits unterlaufen werden. Diese Auffassung soll ebenfalls an einem Beispiel intersektioneller Forschung konkretisiert werden, hier dem der Migrantinnen, die in postfordistischen Gesellschaften mittlerweile Teile der Sorge- und Hausarbeit übernommen haben (vgl. Aulenbacher et al. 2012: 16; Kapitel 2.1.3.3). Bildung als Sichtbarmachung bezieht sich auf diese mehrfach (race, class, gender) diskriminierten Personen und beschreibt insofern nicht allein Bildungsarbeit als Information zu sozialrechtlichen Regelungen, kulturellen Zusammenhängen o.ä. Vielmehr ist das Ziel einer intersektionell informierten Bildungsarbeit, die betroffenen Frauen mit den von ihnen als relevant erachteten Themen sachgemäß in Auseinandersetzung finden zu lassen und zugleich den gesellschaftlichen Diskurs (über Öffentlichkeitsarbeit u.a.) in Gang zu setzen, um die Frage nach Ursache und Wirkung solcher diskriminierender Arbeitsteilungen in der notwendigen gesellschaftlichen Breite zu diskutieren, dabei die Diskriminierung ermöglichenden Differenzen und ihre Praxis zu durchleuchten – und tunlichst zu verändern. Mit diesen wenigen, eher perspektivisch zu verstehenden Ausführungen sollten einige Hinweise auf die Bildungsarbeit in den Zusammenhängen einer Vergesellschaftung der Erwerbsarbeit angeboten werden. Weder die empirischen Untersuchungen noch die theoretischen Konzepte können damit bereits als abgeschlossen verstanden werden. Es bleibt noch Arbeit zu tun, um der Arbeit und ihrer vergesellschaftenden Funktion weiter auf die Spur zu kommen.
3.5 T RANSFORMIERTE B ILDUNG Im vorliegenden Band sollte die Frage bearbeitet werden, in welchem Zusammenhang Arbeit, Bildung und Gesellschaft stehen und welche erziehungswissenschaftlichen Impulse daraus zu gewinnen sind. Dabei wurden aus Gründen des Umfangs wie der Komplexität einer Darstellung verschiedener Intersektionalitäten einige Schlaglichter auf die damit verbundenen Themenfelder und ihre Schnittstellen geworfen. Deutlich dürfte geworden sein, dass es eines veränderten, gar transformierten Verständnisses (vgl. Koller 2012; ferner Böhmer 2014: 203f.) von Bildung bedarf, um den erar-
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beiteten Sachverhalten in kritisch-emanzipatorischer Absicht Rechnung zu tragen und somit einem für die Individuen subjektiv als »gelingend« eingeschätzten Alltag (vgl. Jurczyk 2009: 65) zu ermöglichen. Gerade angesichts neoliberaler Anrufungen der subjektiven Selbstbewirtschaftung mit den Mitteln institutionalisierter Bildung wäre nun zu fragen, welche Lücken und Auswege sich auftun, um alternativen Lesarten von Arbeit, Bildung und letztlich: Menschsein in der Praxis von Bildung zu folgen. Zugleich gilt es zu berücksichtigen, dass stets die Gefahr bestehen bleibt, sich in die gegebenen Leitlogiken und gesellschaftlichen Ideale in einer Weise zu verstricken, dass die kritische Distanz der Reflexion nur noch schwer aufrecht zu erhalten ist und daraus gerade für PädagogInnen das Problem resultiert, lediglich den Vollzug solcher Ideale und ihrer vorgängigen Ordnungen anzuzielen. Insofern sollen nun die bisherigen Analysen zusammengeführt werden und für eine weitere kritische Reflexion des Bildungsprogramms zur Verfügung stehen. Festzuhalten bleibt, dass Arbeit als Sozialform aufgefasst werden kann, die dazu beiträgt, Menschen in unterschiedlicher Weise zur vergemeinschaften (beispielsweise im Betrieb, im Berufsstand o.a.) und zu vergesellschaften (gerade durch die Sozialisation in gesellschaftlich relevante Interaktions- und Performanzformen). Die späte Moderne hat sich als Raum intersektioneller Diskriminierungen erwiesen, in dem gesellschaftliche Positionierungen aufgrund unterschiedlich kategorisierbarer Praktiken, den ihnen innewohnenden Dynamiken und Verflechtungen sowie ihrer Realisierungen gerade im alltäglichen Zusammenhang erfolgen. Dabei ist es nicht allein die Arbeit, die gesellschaftliche Teilhabe eröffnet, sondern, wenn auch in anderer Form, ebenso die Bildung. Sie vermittelt Möglichkeiten von Subjektivität durch Formate des Selbstumganges und -verständnisses, des Weltverstehens und -gestaltens und in alle dem ihrerseits soziale Positionierungen durch die Vermittlung von zu diesem Zweck relevanten Zertifikaten, Habitus und Disktinktionen. Es ist gerade die – jeweils historisch kontingente – Form von Subjektivierung, auf die eine solche arbeitsgesellschaftliche Bildungsarbeit abzielt und die ihrerseits Fluchtpunkt wie Widerlager gesellschaftlicher Veränderungen darstellt. Insofern bieten die Äußerungen von Subjektivität einerseits Zeugnisse historischer Entwicklungen, Brüche, Perspektiven und auch Tabus. Andererseits kommt ihnen in den Formen moderner Subjektivitätskonzepte zugleich die kritische Distanz zu ihrer Epoche und ihrem Alltag
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zu – die Möglichkeit eben einer kritischen Selbstaufklärung mit den Mitteln der Vernunft und in den Bahnen gesellschaftlich geteilter und zugleich bestrittener, weil Differenz-bezogener Freiheitsformen. Unter sozialpolitischer Hinsicht wurde deutlich, dass sich auf dem Weg von Erwerbsarbeit und Bildung mikrostrukturelle Benachteiligungen ergeben können, die je nach Kombination und Überkreuzung zu sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Diskriminierung, Marginalisierung oder »Unsichtbarwerden« führen. Ebenso zeigten sich makrostrukturelle Bahnen der Vergesellschaftung, die als historisch gewachsene Praktiken zur Herstellung von Klasse, Geschlecht und Ethnie aufgefasst werden können. Es ergibt sich allerdings ein merkwürdiger Widerspruch zur Leitlogik der Moderne: Während moderne Bildung Vernünftigkeit, Freiheit und Leistung (zumindest als vormalig bürgerliches Leitmotiv) realisieren soll, erweisen sich gesellschaftliche Prozesse in Zeiten des Neoliberalismus als ausgesprochen deutlich von gesichts-, namen- und alternativlos erscheinenden Normativen mitsamt ihren Dispositiven, Regierungsformen und einigermaßen erblichen Positionierungen bestimmt. Arbeit und Bildung stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bezugnahme mit dem bei beiden zu erkennenden Potential, durch spezifische Formen des Selbstumganges und der Begegnung mit der auch sozialen Welt Status zu markieren, zu vermitteln und in den tradierten Verteilungsmaßen zu stabilisieren. Gesellschaftliche Ungleichheiten wurden zwar in den zurückliegenden Jahren an mancherlei Stellen thematisiert, bedeutend reduziert allerdings an nur wenigen. Unter konzeptioneller Hinsicht lassen sich die Erträge der hier angestellten Überlegungen dahingehend zusammenfassen, dass Bildung zweifellos zur Lebensführung beiträgt und sie prägt. So eröffnet alltägliche Bildung Möglichkeiten der Emanzipation, der schrittweisen Befreiung also aus Fremdherrschaft durch kritisches Reflektieren auf die vorfindlichen Praktiken. Doch schafft Bildung zugleich Ungleichheit, indem sie bestehende Ordnungen fortschreibt, zu nutzen versteht (etwa im Sinne einer gesicherten Zuteilung von der gesellschaftlichen Ordnung entsprechenden Positionen und Privilegien) und legitimiert gerade auf diese Weise die bestehende soziale Ungleichheit als Ertrag vermeintlich meritokratischer Bildungsprozeduren und des aus ihnen erwachsenden gesellschaftlichen status quo gesellschaftlicher Differenz.
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Andererseits wird gerade mit jenem Ist-Stand fraglich, ob ein »Weiter so« langfristig aufrechterhalten werden kann; auch darin ist die aktuelle Bildung Abbild ihrer Zeit, der gerade Steigerungssemantiken zwischenzeitlich suspekt geworden sind. Während Responsivität als Rahmenkonzept von Bildung und der aus ihr erwachsenden Subjektivität aufgefasst wurde, zeigten sich zugleich weitere Tendenzen, eher hin zu einer »neosubjektiven« Formation der Einzelnen und der Gesellschaft. Es regt sich die Frage, wie mit dem Steigerungsdenken in der Bildung, der Arbeit und in der Gesellschaft umzugehen sei. Daraus wiederum ergeben sich methodische Herausforderungen für die Pädagogik in ihrer reflexiv-praktischen Doppelgestalt. Sind tatsächlich eine Vielzahl von Identitäten, sozialen Positionen und milieubezogenen Ordnungen zu gewärtigen, so erfolgt daraus für die hier umfänglich diskutierte Schule, aber eben auch weitere Bildungskontexte, eine in vielerlei Bezügen differenzbezogene Didaktik, die mit sprachlichen, sozialisatorischen, aber auch materiellen u.a. Differenzen konstruktiv umzugehen versteht. Daraus ergibt sich gerade keine distanzierte Lernassistenz, die höchstens im Notfall zu scheitern drohenden Lernens ausrückt, sondern eher eine subjektivierend-subversive Pädagogik, die sich noch immer der Aufklärung mit ihren Tugenden von Kritik und Emanzipation verpflichtet weiß, freilich unter Absehen eines Strebens nach »Mündigkeit«, deren es weder als praktizierter Nimbus eines mutmaßlich wiedererstandenen modern-zentralen Subjekts noch als idealisiertes Leitbild bedarf. Weit eher sind die Produktionen sozialer Ungleichheit im Bildungssystem aufzuklären und die situativen Lücken pädagogischer und alltäglicher Prozesse zu suchen, in denen individuelle Abweichung von gesellschaftlichen Diktaten möglich und einem freiheitlich-gleichberechtigten Sichtbarwerden im sozialen Kontext angemessen sind. Zugleich sind die Fragen einer personellen wie materiellen Ausstattung der solcherart geforderten Bildungsinstitutionen zu klären. Auf diese Weise ließe sich ein Bildungsverständnis transformativ erarbeiten, das seinerseits die neoliberale Arbeitsgesellschaft bildungspraktisch inspirieren könnte. Es scheint, als käme es auf einen solchen Versuch transformierter Freiheit an.
Literatur
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Olga V. Artamonova »Ausländersein« an der Hauptschule Interaktionale Verhandlungen von Zugehörigkeit im Unterricht
Jan Erhorn, Jürgen Schwier (Hg.) Die Eroberung urbaner Bewegungsräume SportBündnisse für Kinder und Jugendliche
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Christine Riegel Bildung – Intersektionalität – Othering Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen April 2016, 364 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3458-7
Jan Erhorn, Jürgen Schwier (Hg.) Pädagogik außerschulischer Lernorte Eine interdisziplinäre Annäherung April 2016, 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3132-6
2015, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2919-4
Judith Krämer Lernen über Geschlecht Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung 2015, 394 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3066-4
Christin Sager Das aufgeklärte Kind Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950-2010) 2015, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2950-7
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