Schöne neue Bildung?: Zur Kritik der Universität der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839417515

Der »Bologna-Prozess« hat zu einer umfassenden Strukturreform des Hochschulwesens geführt. Massive öffentliche Kritik en

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German Pages 242 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
SCHÖNE NEUE BILDUNG
Schöne neue Bildung? Unternehmerische vs. demokratische Universität
Die Universität unter den Bedingungen von Passform und Anschlussfähigkeit
Die Agonalität des Demokratischen und die Aporetik der Bildung: Zwölf Thesen zum Verhältnis zwischen Politik und Pädagogik
KRITISCHE ANALYSEN ZUM STRUKTUR- UND FUNKTIONSWANDEL DER UNIVERSITÄT
Zehn Thesen zum Funktionswandel der Universität
Die neue Universität. Eine Idee verschlingt ihre Protagonisten
Mehr und bessere Bildung durch Markt und Wettbewerb? Thesen zur politischen Ökonomie der aktuellen. Bildungsdebatte
REFLEXIONEN ÜBER IDEE UND AUFGABE DER UNIVERSITÄT
Das Prinzip Universität als unbedingtes Recht auf Kritik
Die Universität als Ort öffentlicher Vorlesung
Anmerkungen zum öffentlichen Charakter der Lehre in der Erziehungswissenschaft
BOLOGNA-PROZESS: UMGANGSWEISEN, KRITIK UND PERSPEKTIVEN
Widersprüche des Bologna-Prozesses bei der Neuorganisation von Wissensvermittlung mit Blick auf den Arbeitsmarkt
Warum ich mich am Bologna-Prozess beteiligt habe
»…dass gestufte Studiengänge als Allheilmittel wirken würden, war im Ernst nicht zu erwarten…«. Eine Zwischenbilanz
Wider die öffentlich und privat verordnete Verdummung im Zeichen von »Exzellenz«. Für Lernprozesse mit Menschen dienlichem Anfang und Ende
Hochschulpolitisches Engagement in Zeiten, in denen niemand mehr Zeit hat
Autorinnen und Autoren
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Schöne neue Bildung?: Zur Kritik der Universität der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839417515

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Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung?

Theorie Bilden | Band 24

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.)

Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld; in Anlehnung an die Gestaltung des Tagungsplakates Umschlagabbildung: Hanno Wilkomm, www.hannowill.com Lektorat: Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm Satz: Florian Muhl, Laura Rieger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1751-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

S CHÖNE NEUE BILDUNG Schöne neue Bildung? Unternehmerische vs. demokratische Universität | 15

Sinah Mielich, Florian Muhl, Laura Rieger Die Universität unter den Bedingungen von Passform und Anschlussfähigkeit | 23

Karl-Josef Pazzini Die Agonalität des Demokratischen und die Aporetik der Bildung: Zwölf Thesen zum Verhältnis zwischen Politik und Pädagogik | 33

Michael Wimmer

KRITISCHE ANALYSEN ZUM STRUKTUR - UND FUNKTIONSWANDEL DER UNIVERSITÄT Zehn Thesen zum Funktionswandel der Universität | 57

Ingrid Lohmann Die neue Universität. Eine Idee verschlingt ihre Protagonisten | 85

Peter Fischer-Appelt Mehr und bessere Bildung durch Markt und Wettbewerb? Thesen zur politischen Ökonomie der aktuellen Bildungsdebatte | 105

Ralf Ptak

REFLEXIONEN ÜBER I DEE UND AUFGABE DER U NIVERSITÄT Das Prinzip Universität als unbedingtes Recht auf Kritik | 123

Plínio W. Prado Jr. Die Universität als Ort öffentlicher Vorlesung | 135

Jan Masschelein, Maarten Simons Anmerkungen zum öffentlichen Charakter der Lehre in der Erziehungswissenschaft | 159

Stephanie Maxim

BOLOGNA-P ROZESS: UMGANGSWEISEN, KRITIK UND PERSPEKTIVEN Widersprüche des Bologna-Prozesses bei der Neuorganisation von Wissensvermittlung mit Blick auf den Arbeitsmarkt | 167

Klemens Himpele Warum ich mich am Bologna-Prozess beteiligt habe | 189

Karl Dieter Schuck »…dass gestufte Studiengänge als Allheilmittel wirken würden, war im Ernst nicht zu erwarten…« Eine Zwischenbilanz | 195

Eva Arnold Wider die öffentlich und privat verordnete Verdummung im Zeichen von »Exzellenz« . Für Lernprozesse mit Menschen dienlichem Anfang und Ende | 209

Wolf-Dieter Narr Hochschulpolitisches Engagement in Zeiten, in denen niemand mehr Zeit hat | 225

Till Petersen Autorinnen und Autoren | 235

Einleitung I NGRID L OHMANN , S INAH M IELICH , F LORIAN M UHL , K ARL -J OSEF P AZZINI , L AURA R IEGER UND E VA W ILHELM

Das Verständnis von Begriffen wie Autonomie der Hochschule und Wissenschaftsfreiheit hat sich im Laufe der letzten zweihundert Jahre stark verändert. Wenn heute den Hochschulen mehr Autonomie versprochen wird, suggeriert diese Wortwahl eine Kontinuität mit der Autonomie der Wissenschaft, die seit der Humboldt’schen Reform Geltung für die deutsche Hochschultradition beansprucht. Seinerzeit sollten die Grundlagen dafür geschaffen werden, die Wissenschaft von religiösen und feudalen Fesseln zu befreien. Im weiteren historischen Verlauf führte das Autonomiepostulat jedoch auch zur Ideologie einer angeblich zweckfreien, apolitischen Wissenschaft, die von politischen und wirtschaftlichen Eliten für ihre Zwecke umso leichter instrumentalisiert wurde. Die 68-er-Bewegung forderte angesichts dessen eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Funktion der Wissenschaft – eine Forderung, die es wieder aufzunehmen gilt. Wenn heute für die »entfesselte Hochschule«1 von Autonomie die Rede ist, sind deren Leitung und Verwaltung gemeint: Es geht ausschließlich um die »Unabhängigkeit autokratisch agierender HochschulmanagerInnen von der Hochschule ebenso wie von umfassenden gesellschaftlichen Interessen

1

Vgl. Müller-Böling, Detlef: Die entfesselte Hochschule, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2000.

8

| S CHÖNE NEUE BILDUNG?

jenseits des Marktes«,2 um eine Umdeutung, die »nicht nur eine unzulässige Verengung des grundgesetzlichen Autonomiebegriffs« darstellt, sondern auch »die individuellen Freiheitsgrundrechte der Hochschulangehörigen« tangiert.3 Dass allerdings der Abbau der inneruniversitären Demokratie und die Machtkonzentration in Hochschulleitungen, Fakultätsverwaltungen und Hochschulräten im Dienste vorgeblicher Autonomie nicht nur auf politische, sondern auch auf juristische Hürden stößt, macht das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 20. Juli 2010 deutlich. Darin wurde – man darf hoffen: exemplarisch für die Hochschulgesetze der deutschen Bundesländer – die teilweise Verfassungswidrigkeit des Hamburgischen Hochschulgesetzes (HmbHG) festgestellt. Die Paragraphen, die das Verhältnis der Hochschulorgane auf Fakultätsebene regeln, seien mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei« – unvereinbar.4

H INTERGRÜNDE

UND C HARAKTER DES GEGENWÄRTIGEN U MBAUS DER H OCHSCHULEN In der von den europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossenen Lissabon-Strategie war das – inzwischen sattsam bekannte – Ziel formuliert worden, die Europäische Union zum »wettbewerbsstärksten und dyna-

2

Bultmann, Torsten: »Vorwort«, in: Wernicke, Jens: Hochschule im historischen Prozess (AStA der Freien Universität Berlin – Hochschulpolitische Reihe Bd. 13), Berlin 2009, S. 8.

3

Lieb, Wolfgang: »Hochschulpolitik als bayerische Standortpolitik – Wie die Autonomie der Wissenschaft untergraben wird«, http://www.nachdenkseiten.de/ ?p=4445; alle Hyperlinks in diesem Artikel wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

4

Vgl. Bundesverfassungsgericht, Pressestelle: §§ 90 und 91 des Hamburgischen Hochschulgesetzes teilweise verfassungswidrig. Pressemitteilung Nr. 113/2010 vom 7. Dezember 2010 zum Beschluss vom 20. Juli 2010, 1 BvR 748/06, http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-113.html

E INLEITUNG | 9

mischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen.5 Mit dem Bologna-Prozess sollen die Hochschulen diesem Zweck entsprechend umgestaltet werden,6 und unter dieser Maßgabe wird ihnen auch ihr Platz in dem neuen Zehnjahresplan Europa 2020 – »EU‘s growth strategy for the coming decade«7 – zugewiesen. Auch etwa die Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR), der auf die EU-weite Kompatibilität von Abschlüssen und Bildungswegen zielt, steht damit unmittelbar in Zusammenhang: »Am Prozess der Durchsetzung eines Systems von Qualifikationsrahmen zeigt sich eine spezifische Form der Europäisierung der Hochschullandschaft, die eine Verknüpfung von Qualifikations- und Forschungspolitik zur weitergehenden Funktionalisierung von Hochschule für ökonomische Zwecke bedeutet.«8

Die neoliberale Hegemonie befördert die Umgestaltung von Institutionen des öffentlichen Bildungswesens in Wirtschaftsunternehmen und betreibt mit der Privatisierung vormals demokratisch kontrollierter Einrichtungen deren Unterordnung unter die Partikularinteressen von Konzernen, Stiftungen und Einzelpersonen. Derzeit stehen vor allem die Hochschulen im Mittelpunkt der sogenannten Wissensgesellschaft – einer Wissensgesellschaft, die »die Verantwortung für (Aus-)Bildung sowie für den Erwerb von Wissen und Können von Betrieben und Unternehmen auf die Individuen selbst

5

Europäischer Rat: »23. und 24. März 2000. Lissabon. Schlussfolgerungen des Vorsitzes«, in: Europäisches Parlament, http://www.europarl.europa.eu/sum mits/lis1_de.htm

6

Vgl. Liesner, Andrea: »Die Standardisierung der deutschen Hochschullandschaft – Dynamik der Autonomiedemontage«, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Jg. 21 (2010), H. 41, S. 119-126.

7

European Commission: Europe 2020, http://ec.europa.eu/europe2020/index_

8

Bartosch, Ulrich: »Die Europäisierung der Hochschullandschaft und die Einfüh-

en.htm rung von Qualifikationsrahmen«, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Jg. 21 (2010), H. 41, S. 73-91, hier S. 74.

10 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG?

verlagert«.9 Die rechtlichen Grundlagen für verstärkte private Investitionen im Bildungssektor wurden im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) mit dem seit 1995 geltenden Allgemeinen Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) geschaffen. Auch die europäische Binnenmarktpolitik treibt die Liberalisierung des Handels mit Bildung als warenförmiger Dienstleistung sowie die Privatisierung des Bildungssektors, der ja bisher in großen Teilen der direkten Vermarktung entzogen war, mit großen Schritten voran. Hier erhofft man sich neue Felder der Kapitalakkumulation und lukrative Renditen. Damit dieser Prozess ohne allzu großen Widerstand der Bevölkerung vonstatten geht, war und ist die gezielte Unterfinanzierung der öffentlichen Bildungseinrichtungen hilfreich. Ein OECD-Papier von 1996 empfiehlt »substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung der Mittel für laufende Kosten« als aussichtsreichstes Mittel für eine möglichst unbemerkte, weil nur »allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung«: So könne man immer mehr dazu übergehen, »für bestimmte Zwecke von den Familien Eigenbeiträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einstellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden.«10

Tatsächlich wurde in Deutschland schon mit dem »Öffnungsbeschluss der Kultusministerkonferenz« (1977) das Einfrieren der öffentlichen Ausgaben für die Hochschulen beschlossen; der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt wurde von rund 1 Prozent Mitte der 1970er Jahre auf 0,85 Prozent im Jahr 2000 gesenkt, während sich die Zahl der Studierenden in dieser Zeit verdoppelte.11 Beim aktuellen Umbau der Hochschulen geht es nicht um die Reform überkommener Strukturen, sondern um eine grundsätzliche Neukonstrukti-

9

Höhne, Thomas: »Wissensgesellschaft«, in: Dzierbicka, Agnieszka/Schirlbauer, Alfred (Hg.): Pädagogisches Glossar der Gegenwart, Wien: Löcker 2006, S. 297-305, hier S. 301.

10 Morrisson, Christian: The Political Feasibility of Adjustment. Policy Brief No. 13, OECD 1996, http://www.oecd.org/dataoecd/24/25/1919084.pdf, S. 28. 11 Vgl. Wernicke: Hochschule im historischen Prozess, S. 85.

E INLEITUNG | 11

on. Leitbild ist die »unternehmerische Hochschule«, die »Hochschule als marktgesteuertes Dienstleistungsunternehmen«. Sie soll die Gruppenuniversität, die infolge des Demokratisierungsdrucks der Studierendenbewegung und des universitären Mittelbaus in den 1960er und 70er Jahren geschaffen wurde, ablösen – zu Gunsten des Modernisierungsbedarfs der in weltweiter Konkurrenz mit anderen Wirtschaftsregionen stehenden europäischen Konzerne. Die gesetzlichen Grundlagen hierfür sind auf den Weg gebracht, aber die Konflikte um ihre Um- und Durchsetzung haben erst begonnen.

AKTUELLE W IDERSTÄNDE Europaweit organisierten Mitglieder der Hochschulen in den letzten Jahren Widerstand gegen die alleinige Ausrichtung von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Studium auf ökonomische Konkurrenz und marktförmige Verwertbarkeit. Im Wintersemester 2009/2010 richtete die Welle von Universitätsbesetzungen, von den Protesten in Wien gegen die Einführung des Bachelor-Master-Systems ausgehend, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Bologna-Prozess. Dabei wurden die Proteste meist auf reformierbare Einzelaspekte reduziert und versucht, der Kritik die Spitze zu nehmen. So nahm die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel, wie folgt Stellung: »Es gibt keinen Anlass, die Bologna-Reform in Bausch und Bogen abzulehnen. […] Die Sympathien sind auf Seite der Protestierenden, solange sie vernünftige Formen des Protests wählen und sachlich argumentieren. Frontalangriffe auf die Professorenschaft, ideologisch gefärbte Thesen wie der Vorwurf der Ökonomisierung der Hochschulen dagegen machen unglaubwürdig.«12

Mit solcherart Argumentation geht, oft stillschweigend, die Annahme einher, das Dogma der Wettbewerbsfähigkeit, dem die Umstrukturierung der Hochschulen dienen soll, sei seinerseits selbstredend frei von Ideologie.

12 »HRK-Präsidentin zu Studierendenprotesten: Dialog statt Krawall«, Pressemitteilung der Hochschulrektorenkonferenz vom 13.11.2009, http://www.hrk.de/ de/presse/95_5172.php

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Auch von Seiten vieler Studierender und Lehrender wird in der Regel nicht das Gesamttableau der gegenwärtigen Umstrukturierungsmaßnahmen in den Blick genommen und der Kritik unterzogen – was der Kontinuität und Wirkmächtigkeit der praktischen Kritik und Aktion durchaus abträglich ist.

U NIVERSITÄT

ALS

» ÖFFENTLICHER R AUM «

Das Projekt Universität als demokratisch verfasste Institution mit gesellschaftlicher Verantwortung und dem Anspruch, Ort der Kritik und des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft zu sein, steht aktuell vor einer Vielzahl von Schwierigkeiten. Wenn dieser Anspruch nicht aufgegeben werden soll, bedarf es öffentlicher Räume, die immer wieder neu hergestellt werden müssen. Öffentlichkeit meint hierbei nicht die im Hochschulrat vertretene, ausgewählte Öffentlichkeit oder die vom vorgeblich gemeinnützigen Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) repräsentierte, sondern die Mitglieder der Universität unter Einbezug der außeruniversitären Öffentlichkeit. Dazu ist das Schaffen von Problembewusstsein und eine Reflexion des mit der Institution verzahnten Alltagshandelns notwendig – ein öffentlicher (Zeit-)Raum, in dem die gegenwärtige Verfassung der Universität und die Form der Lehr-Lern-Bedingungen diskutieren werden. Allzu lange wurde übersehen, dass die unbedingte Suche nach Wahrheit, die man nicht haben kann, verbunden werden muss mit Überlegungen, wie diese Suche unter den aktuellen Bedingungen gestützt und geschützt werden kann. Ungewissheit ist nicht leicht zu ertragen, aber die pseudoökonomische und Sachzwanglogik ist nur eine vorläufige und weit unterkomplexe ›Lösung‹. Es müssten neue Strukturen für die Universität gefunden werden, wenn sie eine wesentlich vergrößerte Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden werden soll, ohne ihre Idee zu pervertieren. Die Humboldt’sche Universitätsidee kann bei der Entstehung des Neuen, dessen Spuren sich vielleicht schon jetzt finden, als Kontrastfolie angeführt werden, als Orientierung ist sie aber nicht ausreichend. Es muss reflektiert und erprobt werden, was eine Universität im Rahmen einer – prinzipiell unvollendbaren – Demokratie sein könnte. Dazu braucht es strukturelle Übersetzungen in die Institution, nicht die bloß äußerliche Übernahme demokratischer Regeln, wie man sie heute aus dem Bereich der Politik kennt. Das Politische der Universität gilt es, anders zu umschreiben. Dabei könnten die neuen medialen Möglichkei-

E INLEITUNG | 13

ten hilfreich sein. Sie wurden bisher im Wesentlichen nur instrumentell verstanden, um die bekannten Zwecke kostengünstig und aufgepeppt zu bedienen, nicht aber um eine andere Universität zu konzipieren. Anders eingesetzt könnten sie jedoch auch neue, produktive Formen der Wissensproduktion und erweiterte Zugänge zum Wissen eröffnen. Es wurde verdrängt, dass Lehren und Lernen etwas mit Übertragung zu tun hat und Übertragung etwas mit Liebe – auch zur Sache. Liebe wäre das Drittmittel par Exzellenz. Die Universität kann heute die Förderung von bürgerlicher Individualität und Autonomie als Voraussetzung und Zielsetzung nicht mehr ohne Weiteres akzeptieren, und sie sind in den hergebrachten Formen auch nicht mehr selbstverständlich erstrebenswert. Neue Formen von Gesellung könnten erprobt werden. Es kann und muss gefragt werden, ob und wie es denn möglich ist, den geringen Prozentsatz derjenigen zu erhöhen, die an Fragen des Forschens in Kunst und Wissenschaft um ihrer selbst und um der Disziplinen willen arbeiten. Mit diesem Band möchten wir zur Fortsetzung und weiteren Politisierung der Debatte über die Entwicklung der Hochschulen beitragen – einer Debatte, die derzeit noch zu häufig unter den Prämissen angeblicher Sachzwänge, wie desjenigen von den »leeren öffentlichen Kassen«, geführt wird. Ein Teil der hier vorliegenden Beiträge entstand im Rahmen der Konferenz Schöne neue Bildung? Zur kritischen Reflexion der gegenwärtigen Hochschulgestaltung und zur Entwicklung emanzipatorischer Alternativen, die 2010 an der Universität Hamburg stattfand. Wir danken herzlich den Referentinnen und Referenten, die uns ihre Beiträge in überarbeiteter Fassung zur Verfügung gestellt haben, ebenso der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft für ideelle und finanzielle Unterstützung sowie dem Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg für sein kontinuierliches, kritisches Engagement in der Fakultät, allen weiteren Referierenden und Diskutierenden, die wichtige Impulse gegeben, Gedanken geteilt, zu Nachfragen und Erläuterungen angeregt und so mit dazu beigetragen haben, dass alle Beteiligten einen Schritt aus dem alltäglichen Universitätsbetrieb heraustun und die Dinge für eine Weile in einem anderen Licht betrachten konnten, und nicht zuletzt der Vorbereitungsgruppe, die die Konferenz inhaltlich und organisatorisch mit hohem Arbeitseinsatz vorbereitete. Die statusübergreifende Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Studierenden war anregend und trägt

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weiterhin Früchte. Konferenz und Buch sind großenteils aus Studiengebühren finanziert. Daher danken wir vor allem den Studierenden und hoffen, dass sie diese Verwendung ihrer Mittel als sinnvoller einstufen als beispielsweise den Erwerb von Parkplatzpollern. Dennoch bleiben wir Kritiker und Kritikerinnen jeglicher Bildungsgebühren.

Schöne neue Bildung? Unternehmerische vs. demokratische Universität S INAH M IELICH , F LORIAN M UHL, L AURA R IEGER

»Das Individuum der Zukunft wird selbstverantwortlicher und in Bezug auf sein Leben ›unternehmerisch‹ tätig sein und sich nicht auf die organisierende Tätigkeit des Staates verlassen. Das Individuum der Zukunft handelt gemeinschaftsorientiert, d.h. kompetent, verantwortungsvoll und in erheblichem Maße auch unter Verzicht auf eigenen Nutzen.«1 »Oh Wunder! Was gibt’s für herrliche Geschöpfe hier! Wie schön der Mensch ist! Schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!«2

Die Universität als Ort der Bildung, der Kritik, des Widerstands, des freien und öffentlichen Denkens, der Demokratie und der gesellschaftlichen Verantwortung steht gegenwärtig grundsätzlich zur Debatte. Denn im derzeit dominanten Diskurs spielt das Konzept der Universität als Unternehmen eine immer größere Rolle. Dieser Paradigmenwechsel wurde durch eine 1

Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft e.V.: Bildung neu denken. Das Zukunftsprojekt, 10/2003, zitiert nach http://www.aktionsrat-bildung.de/uploads/ media/Bildung_neu_denken_Band_I_Zusammenfassung_neu_01.pdf, S. 5; auf die Hyperlinks in diesem Artikel wurde zuletzt am 08.01.2011 zugegriffen.

2

Shakespeare, William: Der Sturm, 5. Akt, Vers 181-183.

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lange Entwicklung vorbereitet und zielt auf Universitäten nicht als Orte im oben genannten Sinne, sondern der reinen Ausbildung, auf Universitäten als Dienstleistungsunternehmen. Die Universität ist und war immer eingebettet in die Gesellschaft, somit auch in die Ökonomie und kann daher nicht unabhängig davon betrachtet werden. So geschehen Veränderungen der Universitäten immer auch im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Welt befindet sich derzeit auf verschiedenen Ebenen in tiefgreifenden Krisen, deren Auswirkungen und Folgen zum Teil nur schwer abzuschätzen sind: »Die Finanzkrise verschränkt sich mit einer Überproduktionskrise, mit einer globalen Armutskrise, mit dem Klimawandel. Jedes dieser Phänomene allein würde ausreichen, um das Gesamtsystem in Frage zu stellen.«3

Die so angesprochenen Phänomene können wir an dieser Stelle nur anreißen, daher zwei schlaglichtartige Beispiele: Nach der Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon am 20. April 2010 im Golf von Mexiko liefen fünf Monate lang täglich Millionen Liter Öl ins Meer – Schätzungen von Mitte Juni 2010 zufolge zwischen 5,6 und 9,6 Millionen Liter täglich.4 Die Schäden für Menschen, Tiere und Umwelt waren und sind immens. Obwohl die Gefahren von Bohrungen in solcher Tiefe bekannt waren und dies nicht der erste Unfall seiner Art war – bereits 1979 führte die Explosion der Plattform Ixtoc I im Golf von Mexiko zu einer katastrophalen, neun Monate dauernden Ölpest –, wurde 2010 ähnlich hilflos reagiert. Wenn Profit mehr zählt als Mensch und Umwelt, passt es ins Bild, nationale wirtschaftliche Interessen auch mittels militärischer Gewalt durchzusetzen. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler drückte dies so aus:

3

Zelik, Raul/Altvater, Elmar: Vermessung der Utopie, Berlin: Blumenbar 2009, S. 51.

4

ZEIT Online: »Obamas Schlachtplan gegen das Öl«, 16.06.2010, http://www. zeit.de/politik/ausland/2010-06/Obama-Ansprache-Oelpest/

M IELICH , M UHL, RIEGER : SCHÖNE NEUE B ILDUNG?

| 17

»Man muss auch um diesen Preis [weiterer Todesopfer] sozusagen am Ende seine Interessen wahren. Mir fällt das schwer, das so zu sagen. Aber ich halte es für unvermeidlich, dass wir dieser Realität ins Auge blicken.«5

Dies sind nur zwei Beispiele, die andeuten sollen, dass die Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems und einer Politik, die zu seiner Aufrechterhaltung und Durchsetzung antritt, offenkundig nicht das Ziel verfolgt, ein gutes Leben für alle Menschen auf dieser Welt zu ermöglichen. Ziel ist es vielmehr, größtmögliche Renditen zu erzielen und im internationalen Wettbewerb an die Spitze zu kommen – sei es auf wissenschaftsökonomischer Ebene mit der seit 2001 laufenden »Verwertungsoffensive« der Bundesregierung6, mittels derer verstärkt »Hochschulwissen in Produkte« umgesetzt und eine »flächendeckende Patent- und Verwertungsinfrastruktur« geschaffen werden soll, oder mit der Strukturreform der Bundeswehr, die auf die militärische Durchsetzung »unserer Interessen«7 ausgerichtet wird – koste es, was es wolle.

D AS B ILDUNGSSYSTEM IM » INTERNATIONALEN W ETTBEWERB « Für den vielbeschworenen internationalen Wettbewerb spielt das Bildungssystem eine immer wichtigere Rolle. In der Lissabon-Strategie der Europäischen Union (2000) wurde das Ziel formuliert, Europa bis zum Jahr 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirt-

5

Deutschlandfunk: »Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen«, Ex-Bundespräsident Horst Köhler am 22.05.2010 in einem Interview im Deutschlandfunk, http://www.dradio.de/aktuell/1191138/

6

Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: »Schlaglichter der Wirtschaftspolitik – Monatsbericht 09/2007«, http://www.bmwi.de/BMWi/ Navigation/Service/publikationen,did=221614.html

7

Vgl. Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin: Bundesministerium der Verteidigung 2006, und die Aussagen zu Guttenbergs zur »Absicherung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands« vom 09.11.2010, http://www.tagesschau.de/inland/guttenbergkoehler102.html

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schaftsraum in der Welt«8 zu rüsten. In diesem Zusammenhang steht erklärtermaßen auch der Bologna-Prozess. Seit 1995 sind »Bildungsdienstleistungen« in all ihren Varianten Gegenstand des Welthandelsabkommens General Agreement on Trade in Services (GATS) und werden dort als handelbar definiert. Neben den anderen Bildungseinrichtungen sollen dem GATS zufolge auch Universitäten bzw. Hochschulen zu miteinander konkurrierenden Dienstleistungsunternehmen werden, die ihre Produkte, Forschungsergebnisse und Entwicklungen, auf dem Weltmarkt verkaufen und um Studierende und Lehrende in Konkurrenz zueinander stehen.9 Bildung als öffentliches Gut, als elementares Menschenrecht und der freie Zugang zu Bildung stehen infolge dieser spezifischen Politik der Deregulierung, Entdemokratisierung und Privatisierung grundsätzlich in Frage. Klartext in Bezug auf die Forderung nach Privatisierung wird z.B. in der Studie Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt (2003) gesprochen, die von der Vereinigung der bayrischen Wirtschaft e.V. herausgegeben wurde und sich als Handlungsempfehlung für die Politik versteht. Dort wird empfohlen: »Privatinitiative muss verstärkt werden im allgemein bildenden Bereich. Dazu gehört die Erleichterung der Gründung von Privatschulen sowie die Umgestaltung von Hochschulen und Universitäten zu Bildungsunternehmen.«10

Welche Ideen und Erkenntnisse vorangetrieben und umgesetzt werden, wird in diesem Konzept in erster Linie nach dem Kriterium der Profitabilität entschieden.

8

Europäischer Rat: »23. und 24. März 2000, Lissabon, Schlussfolgerungen des

9

Vgl. Nunn, Alex/Worth, Jess: »GATS und Bildung«, in: GATS und Demokra-

Vorsitzes«, http://www.europarl.europa.eu/summits/lis1_de.htm tie, Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung e.V. (Hg.), Bonn: WEED 2001, S.10, http://www2.weed-online.org/uploads/GATS-Demokratie.pdf 10 Zitiert nach Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft e.V.: Bildung neu denken, http://www.aktionsrat-bildung.de/uploads/media/Bildung_neu_denken_Band_I_ Zusammenfassung_neu_01.pdf, S. 7. – Die Gesamtredaktion dieser Studie lag übrigens beim damaligen Präsidenten der FU Berlin und jetzigen Präsidenten der Universität Hamburg, Dieter Lenzen.

M IELICH , M UHL, RIEGER : SCHÖNE NEUE B ILDUNG?

AUSWIRKUNGEN AUF DER S TUDIERENDEN

DAS

| 19

(S ELBST - )B ILD

Dieser Paradigmenwechsel hat auch eine Veränderung des Selbstverständnisses der Studierenden zur Folge: Sie sollen sich nicht mehr als Mitglieder der Uni verstehen, sondern als zahlende Kunden und Kundinnen; nicht mehr als Suchende auf dem Weg zu Erkenntnissen, sondern als sich permanent optimierende unternehmerische Selbste. Die Rolle der Professorinnen, Professoren und Lehrbeauftragten soll zu der von Dienstleistenden umgedeutet werden. Was bedeutet das für Demokratie, für das Miteinander? Das In-Konkurrenz-Setzen der Studierenden gegeneinander wird derzeit mit der Umformung der Studienstruktur und -abschlüsse in Bachelor für die Masse und Master für die »Besten« betrieben. Die Möglichkeit eines selbstbestimmten, kritischen Studiums wird durch das durchgeplante, auf Effizienz getrimmte, in Module verpackte Studium stark eingeschränkt. Aber wäre jenes Verständnis des Studiums überhaupt noch zeitgemäß? Ist ein Studium als Suchbewegung unter den herrschenden Bedingungen noch denkbar? Was bedeutet es, wenn Studierende als KundInnen und nicht als Mitglieder der Universität betrachtet werden? Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch die in den 1980er Jahren geschaffenen Diplomstudiengänge waren keine »Inseln der Freiheit«. Sie beinhalteten im Vergleich zum älteren Magisterstudium weit mehr Vorgaben und festgelegte Anforderungen. Der Bachelor führt diese Entwicklung jedoch ins Extrem. Das Studium soll nur noch der Produktion von marktförmig verwertbaren, mit Kompetenzen aller Art »angereicherten« Individuen dienen.

W AS

IST

AUFGABE

DER

U NIVERSITÄT ?

Ist die Aufgabe der Universität, »ihre Kräfte für die Gestaltung einer humanen, toleranten und friedlichen Welt einzusetzen«, wie es zum Beispiel das Leitbild der Uni Göttingen formuliert, in Zeiten des Neoliberalismus obsolet geworden? Es geht derzeit um eine konkrete Entscheidung: Soll die Universität ein Wirtschaftsunternehmen sein bzw. werden, dessen Ziel es ist, möglichst viel profitables Kapital (ökonomisches und symbolisches) zu

20 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG?

schaffen? Oder soll sie eine demokratisch verfasste Institution mit gesellschaftlicher Verantwortung sein? Wir möchten uns ohne Kompromisse für dieses letztere Verständnis aussprechen und uns dabei auf das Leitbild der Universität Hamburg aus dem Jahr 1998 beziehen: »Die Mitglieder der Universität wollen die universitären Aufgaben in der Verbindung von Forschung und Lehre, Bildung und Ausbildung in wissenschaftlicher Unabhängigkeit erfüllen. Sie wollen zur Entwicklung einer humanen, demokratischen und gerechten Gesellschaft beitragen und Frauen und Männern gleichen Zugang zu Bildung und Wissenschaft eröffnen. Im Bewußtsein ihrer Verantwortung als Teil der Gesellschaft versteht sich die Universität Hamburg als Mittlerin zwischen Wissenschaft und Praxis, sie orientiert sich dabei an den Grundsätzen einer ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung.«11

Als Aufgabe der Universität wird hier die Entwicklung eines guten – eines humanen, demokratischen und gerechten – Lebens für alle Menschen formuliert. Die Universität hat als ein Ort der Wissenschaft und der Reflexion die besten Möglichkeiten und auch die Verantwortung, gesellschaftliche Entwicklungen anhand dieses Auftrags zu reflektieren, und deshalb auch die Aufgabe, widerständig zu sein. Die aktuelle Tendenz, die Universitäten nicht der Gesellschaft, sondern dem Kapital zu verpflichten, verleugnet diesen Auftrag bzw. steht ihm entgegen. Um tatsächlich eine »Mittlerin zwischen Wissenschaft und Praxis« sein zu können, kann sie nicht (in erster Linie) daran gemessen werden, wie profitabel die direkte Verwertung ihrer (Forschungs-)Ergebnisse auf dem Markt ist. Inhalt und Form bedingen sich wechselseitig, auch in Bezug auf die Universität: Es ist deshalb kein Wunder, dass das Verständnis der einseitig ökonomischen Ausrichtung der Universitäten12 ihrer demokratischen Ver-

11 Leitbild der Universität Hamburg (1998), http://www.uni-hamburg.de/UHH/ leitbild1.html 12 Wie sie maßgeblich und erfolgreich vom ERT vorangetrieben wurde; vgl. European Round Table of Industrialists: Education for Europeans: Towards the Learning Society, March 1995, http://www.ert.be/doc/0061.pdf

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fassung keine Bedeutung beimisst. Sie wird im Gegenteil als ineffizient und überflüssig gesehen. Die Strukturveränderungen, die so genannten »Reformen« der vergangenen Jahrzehnte tragen dem Rechnung: Über die neuen Hochschulgesetze wurde an vielen deutschen Hochschulen eine top-down-Struktur implementiert, die öffentlichen Hochschulen werden durch ihre Unterfinanzierung zum Konkurrieren um Exzellenzmittel gezwungen. Durch die neuen Studienstrukturen werden sowohl den Lehrenden als auch den Studierenden Freiräume in Lehre und Studium genommen. All das bleibt nicht ohne Folgen für die Kultur in der Universität. In den 1980er Jahren hat einer der Gründungsstudenten der FU Berlin, Klaus Heinrich, den Begriff der Enterotisierung der Universität geprägt. Dieser Begriff beschreibt die von Heinrich wahrgenommene Beziehungs- und Leidenschaftslosigkeit der Mitglieder zur Universität. Die Uni sei nunmehr weder Liebes- noch Hassobjekt, was der Grund dafür sei, dass es keine Universitätsutopien mehr gebe. Die Enterotisierung des Verhältnisses zur Universität sei ein anderer Ausdruck für Geistlosigkeit. Um den Geist wieder an die Universität zu holen, um sie zu belieben, um eine gemeinsame Auseinandersetzung der Mitglieder der Universität zu ermöglichen, braucht es bestimmte – neu zu bestimmende – Strukturen und Formen. Notwendig sind (Zeit-)Räume, in denen sich Menschen auseinandersetzen, streiten und begegnen, also jenseits von Sachzwängen und Leistungsdruck miteinander in Beziehung treten können. Gegen die heute vorherrschende Entwicklungsrichtung muss die Universität als ein unabhängiger Ort des Denkens und der Kritik verteidigt werden, um nicht gesellschaftlich blind zu werden. Es ist an der Zeit, dass sich die Mitglieder der Universität dieses Auftrags nicht nur bewusst werden und somit auch der Universität ein Bewusstsein geben, sondern auch wachen Geistes handeln: Handeln: indem sie die Belange der Universität diskutieren, dazu öffentlich Stellung beziehen und die Debatte in diesem Sinne auch wieder politisieren.

Die Universität unter den Bedingungen von Passform und Anschlussfähigkeit K ARL -J OSEF P AZZINI

Diese Gedanken wären so nicht formuliert worden,1 hätte es nicht die Anstrengung und Lust einiger Studentinnen und Studenten gegeben: den im Politischen artikulierten und realisierten Widerstand – angefangen bei den Aktionen Ende 2009 (»Uni brennt«, Streiks und Besetzungen von Universitätsgebäuden) bis zur Organisation von Tagungen und der Herausgabe von Büchern zur Situation der Universität. Die meisten Professor/innen hätten nie solches bewerkstelligt – auch wenn sie ähnlich, aber anders unter den Reformen leiden. Manchen macht das Leiden offenbar große Freude: Solche Phänomene sind aus dem sadomasochistischen Formenkreis nicht ganz unbekannt. Manche gehen geradezu darin auf, die Reformen sachgerecht zu verwirklichen, weil diese ja von außen kommen und politisch gewollt sind, sagen dann aber nachher, dass es alles auch ganz anders hätte gemacht werden können, wir (wer ist da wir?) also selber schuld seien. Bis nach außen, bis dahin, wo unter anderem die Politik vermutet wird, reicht Widerstand bisher selten. Dass es heute eine breite Kritik an der Hochschulgestaltung gibt, ist das Verdienst nicht nur, aber in der wahrnehmbaren Version vorwiegend von Studentinnen und Studenten, für die das Innenpolitik ist. Es ist das Verwunderliche der letzten Jahre, dass es ein neues, bisher unbekanntes Außen gibt und dementsprechend ein Innen; ein Außen, in das man sich nicht einmischen kann, und im Innen, da sind wir, da muss das 1

Der Text geht zurück auf eine Rede zur Eröffnung der Konferenz Schöne neue Bildung? und hat die Spuren der Rede noch an sich.

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umgesetzt werden, was außen beschlossen wurde. Ehedem war gar das Private politisch, was sicherlich übertrieben ist. Die besonders pfiffige Version der Umsetzung der offenbar ersehnten, aber nie legitimierten Bolognaphantasien geht so, dass man vorgaukelt, alles wunschgemäß zu ändern, in Wirklichkeit aber versucht, nichts zu verändern (alter Wein in neue Schläuche), so auch nicht die Chancen listig nutzt, die durch den Anstoß und die Erschütterung aus der »Politik« kamen. Die Universität war ja vor der sogenannten Reform nicht die Beste. Mit dieser Einpassung des Alten in die neue Form wird das schlechte Alte noch schlechter. Auf welches Zurück oder Wieder zielt eigentlich die Re-form? Es ist ja nicht unerheblich zu fragen, was da unter gegenwärtigen Bedingungen reformuliert werden soll. Da wo die Natur oder die religiöse und staatliche Bindung nicht mehr zwingt, man sich also allzu freigesetzt und verunsichert wähnt, ersteht die neue Dogmatik des Sachzwangs, dessen Exekutoren sich mit der Heiligen Inquisition an Effektivität messen können. Sie sind allerdings wesentlich netter als Menschen. »Schöne neue Bildung?« wird im Titel des Buches gefragt. Das ist natürlich von StudentInnenseite her eine rhetorische, eine ironische Frage. Wenn doch nur etwas mehr Ironie wäre! Reformer sind selten ironisch. Manchmal möchte man ihnen schon eher attestieren, sie seien zynisch. Das sage ich, weil der Wunsch geblieben ist, sie verstehen zu wollen: Zyniker sind sehr moralische Menschen. Es steht zu befürchten: Sie meinen ihre Emsigkeit ernst, ihre Tabellen und Evaluationen und Diagnostiken. Dazu ein paar Stimmen von außen: »Wo es früher Forschercharaktere mit Widerspruchsgeist gab, werden wir zukünftig allein noch drittelmittelantragskompetente Forschungsdesigner vorfinden, die vor lauter Transdisziplinaritätsrhetorik nicht mehr dazu kommen, sich ihren Forschungsgegenständen zu widmen.«2

Der Soziologe Ulrich Beck charakterisierte den Bologna-Prozess vor einiger Zeit als »McKinsey-Stalinismus« und bescheinigte den Universitäten einen Willen zur Fast Education. In der Tat gewinnt man zusehends den Eindruck, Europa habe die Kolchosen wiederbelebt und kapitalisiert: Wett-

2

Schily, Konrad: »Fundamentaler Freiheitsverlust«, in: Forschung & Lehre, (2009) H. 6, S. 397.

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bewerbsbedingungen und Organisationsstrukturen diktieren die europäischen Staaten und Länder, alles andere ist kollektive Selbstverwaltung.3 Oder: »Im Zuge des Bologna-Prozesses ist aus der Gemeinschaft der Lernenden nur noch der Fetisch einer Corporate Identity übrig geblieben. Akkreditierungsanstalten und Hochschulräte haben die Herrschaft über den Geist der europäischen Universität erlangt. Gelernt wird nur noch im Hinblick auf die Verwertbarkeit von Wissen. Der Nürnberger Trichter dient dabei als Modell des Studienverlaufs: Man kippt oben alles hinein und schaut, was unten herauskommt und baut auf die Eigenverantwortung, neudeutsch: accountability, der Fakultäten«.4

Ulrich Bröckling, Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg, gibt Hinweise darauf, woher die Anreize zur Exzellenz kommen. Die Genese der gegenwärtigen Exzellenzdebatte sieht er in der Stachanow-Bewegung: Sie war eine sowjetische Kampagne zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in den Betrieben, benannt nach Alexej Grigorjewitsch Stachanow, der am 31. August 1935 in einer Kohlengrube im Donezbecken in einer Schicht 102 Tonnen Kohle förderte und damit die gültige Arbeitsnorm um das Dreizehnfache überbot (»Planübererfüllung«). Er wurde als ein »Held der Arbeit« bezeichnet. Daraufhin veranstaltete die Sowjetunion eine Rekordkampagne zur Steigerung der Arbeitsleistungen. Belohnt wurden die »Stachanowisten«, die auch als »Stoßarbeiter« (Udarniki) bezeichnet wurden, mit Vergünstigungen und zusätzlichen Lebensmitteln. Durch die Entwicklung zur Massenbewegung wurde die StachanowBewegung banalisiert, und die Privilegien für Arbeiter, die weitere Normen übererfüllten, wurden entwertet. Und auch sonst blieben die Normerhöhungen nicht ohne Folge: Die Qualität der Produktion sank, der Anteil des Ausschusses nahm zu, und die Werkzeuge sowie die Produktionsstätten

3

Vgl. Nielsen-Sikora, Jürgen: »Das Elend der Universitäten« (Rezension zu: Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Berlin, Zürich: Diaphanes 2010), in: Glanz&Elend – Magazin für Literatur und Zeitkritik, http://www. glanzundelend.de/Artikel/artikelneu/universitaeten.htm; alle Hyperlinks in diesem Artikel wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

4

Ebd.

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wurden nur unzureichend gewartet.5 Die Effekte sieht man bei der Bahn. Der Universität könnte es auch so ergehen. Man könnte allerdings auch die Chiffre »Exzellenz«, den bisher sehr leeren Signifikanten, damit aufladen, dass man ihn zum Namen eines Forschungsprojektes macht. Zu fragen wäre, wie eine Universität im 21. Jahrhundert aussehen kann. Immer schon haben mediale Neuerungen und Schübe die Universität in ihrer Struktur geändert, bzw. sie wurden erst durch die Universitäten zu medialen Neuerungen und Schüben. Vielleicht ginge es dann um kleine Universitäten,6 ganz viele, bewegliche Institute, über die Stadt verteilt, in Arbeitsgruppen, die regional und mit der Welt vernetzt sind. Vielleicht gäbe es dann wieder Schule als Muße, scholé, in dem Sinn, den sie einmal z. B. bei den Griechen hatte, als eine prinzipielle Zweckfreiheit, die sehr zweckmäßig werden kann durch eine »gegenstrebige Fügung«,7 die zu neuen Bildungen führt. Vielleicht kommt es dann wieder zu mehr Eifer (studium!) in der Aneignung der kulturellen Voraussetzung. Vielleicht erhält man dann erfahrungs- und ereignisbezogene Angelpunkte für die wenig orts- und zeitbezogenen Qualitäten der neuen medialen Möglichkeiten. Dazu bedarf es der Forschung zu einer neuen Topologie, einer Ökonomie, die mit dem Eros, dem Leid und der Freude rechnet, und Architekturen, die dem eine Wohnstatt bieten, um nur einige Disziplinen direkt zu nennen. Richard Feynman, amerikanischer Physik-Nobelpreisträger, bringt die Motivation dessen, der Wissenschaft betreibt, so auf den Punkt: »Science is like sex. Sure, it may give some practical results, but that’s not why we do it.« Slavoj Žižek sagt in einem Interview, danach gefragt, was zu tun sei: »Ich sage nicht, dass ich nichts weiß. Ich habe Ideen, was zu tun wäre. Aber meine ultimative Haltung wäre diejenige von Bartleby: ›Ich möchte lieber nicht‹. Ich denke, das bedeutet nicht, eine abstrakte Distanz einzunehmen. ›Bartleby‹ kann auch so gelesen werden, Herman Melvilles ›Bartleby‹, im Sinne dieser postmodernen Weis-

5

Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Grigorjewitsch_Stachanow

6

Vgl. Baecker, Dirk: »Kleine Universitäten. Dichte Vernetzung im globalen Kampf um geistige Kapazitäten«, in: Lettre International, (2007) Nr. 77, S. 8285.

7

Vgl. Taubes, Jacob: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin: Merve 1987.

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heit: ›Identifiziere Dich mit nichts! Bleibe distanziert!‹ Nein, das meine ich nicht. Ich meine, was Alain Badiou gerne unterstreicht, dass wir heute Angst vor der Passivität haben. Jeder Zeit werden wir bombardiert: ›Tu etwas, kämpfe für die Umwelt, für Feminismus, gegen Rassismus, dieses und jenes!‹. Die ganze Zeit, als ob das System unsere Teilnahme will, und sei es in kritischer Weise. Ich denke, was jedoch viel erschreckender sein kann, ist Nicht-Aktivität! Wahre Nicht-Aktivität kann viel irritierender sein als eine falsche Aktivität, eh eine wahre Passivität! Eine falsche Aktivität ist für mich eine Aktivität, in der man handelt, nicht, um die Dinge zu verändern, sondern um sie nicht wirklich zu verändern. Dies ist für mich eine entscheidende Erkenntnis dessen, was heute vor sich geht. Wir sind oft hyperaktiv, nicht um Dinge zu verändern, sondern um zu verhindern, dass sich Dinge verändern. In diesem Sinne bedeutet Bartlebys ›Ich möchte lieber nicht‹ ein erster notwendiger Schritt zu wirklicher Aktivität. Zuerst muss man sich wirklich entziehen. Wir sollten ... wie soll ich sagen? Wir sollten die Situation analysieren, und wenn wir sie tiefgründig genug analysieren, ergibt sich die Antwort auf die Leninsche Frage ›Was tun?‹ wie von selbst. Sie taucht wie ein Nebenprodukt auf. Dies ist im Kern die Antwort auf all jene, über die ich auch ironisch herziehe, die mich ständig mit der Frage konfrontieren: ›O.k., o.k. aber, Du kritisierst Liberale und altmodische Marxisten, u.s.w. aber wo stehst Du selbst?‹ Man kann sehr wohl die Falschheit einer Position erkennen, ohne eine positive Alternative parat zu haben. Für eine als ungerecht erlebte Situation muss nicht gleich ein inbegriffener Gerechtigkeitsmaßstab vorliegen. Ich plädiere genau dafür, dass man es andersherum sieht: Die Erfahrung einer ungerechten Situation stößt etwas an, ist zuerst da, und dann erarbeitet man sich eine mögliche oder unmögliche Vorstellung davon, was Gerechtigkeit sein könnte. Es ist nicht einfach eine Entschuldigung. ›Ich habe zwar einen Hut, aber kein...‹ Ich glaube, der Hut ist wichtiger. Mach einfach einen guten Hut – die Kaninchen werden von ganz alleine herausspringen! […] Das ist unser heutiges Problem, in dem Sinne, dass unsere täglichen Erfahrungen immer ›interpassiver‹ werden. Wir sollten uns der altmodischen linken Klage entgegenstellen, die von Adorno bis Enzensberger in seinem berühmten Versuch entwickelt wurde, ich glaube zu Beginn der sechziger Jahre, nach der wir die Massenmedien alternativ nutzen sollten. Die Klage war die, dass die modernen Massenmedien uns zu dummen, passiven Zuschauern machen, und wir sollten mehr interaktive Medien entwickeln. Die übliche Klage lautet also, dass wir zu passiven Konsumenten reduziert würden. Ich denke, dass im Gegenteil wir heute verleitet werden, viel zu sehr aktiv zu sein. Die wahre Schwierigkeit heute ist, unsere passiven Erfahrungen nicht an andere zu delegieren, sondern wirklich passiv zu sein. Das Problem

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heute ist ›authentische Passivität‹. Das Problem der Tat ist nicht so sehr, was du tust, sondern von wo aus und wann du es tust. Tust du das Richtige in falscher Weise, kann es die größte Katastrophe werden, und es wäre besser, nichts zu tun. Dies ist die politische Lehre selbst psychoanalytischer Behandlung: Die Bedeutung des Traumas des Patienten zu kennen, bedeutet nicht, ihm sofort alles zu sagen. Es könnte diesen Patienten ruinieren. Der Angelpunkt jeder Psychoanalyse ist die Zeitlichkeit. Etwas im richtigen Moment zu tun. Das ist für mich ... [er zeigt hinter sich] ... da hinten sitzt er, Lenin ... das ist die Leninsche Lehre der Psychoanalyse: Etwas nicht nur richtig, sondern im richtigen Moment zu tun. Lenin – was immer wir von seiner Politik halten – er hatte diese ungeheure Sensibilität einer politischen Zeitlichkeit, eine Sache im genau richtigen Moment zu tun.«8

Es braucht eine mächtige Geduld, sich nicht aus dem Weg räumen zu lassen, eine weitertragende Zusammenhangserkenntnis, die das Mitmachen aushaken lässt. Wer will uns denn ernsthaft zwingen? Auch wenn Ungehörigkeit schlechtere finanzielle Ausstattung zur Folge hätte, könnte man das mit der Energie und der Dynamik, die es bringt, aus Überzeugung zu handeln, wahrscheinlich mehr als kompensieren. Die Aussage »Wir müssen mitmachen, weil wir das Schlimmste verhüten müssen«, führt zu einer Haltung, die das Schlimmste generiert, das es zu verhüten gilt, nämlich ein Handeln wider bessere Einsicht, ein Aufgeben der Haltung, die für die Suche nach Erkenntnissen, für Forschung und Lehre eine wichtige Stütze ist. Wir treiben damit Raubbau am Symbolischen und den entsprechenden Vorstellungen. Universität hat die Aufgabe eines verfremdenden Blicks, eines Lauschens, einer aufmerksamen Berührung, eines Schnupperns und eines feinschmeckenden Kostens (lat. sapientia leitet sich daher) der Selbstverständlichkeiten und Sachzwänge, der Vorbereitung auf die Entwicklung solcher Haltungen, die dann in der Zeit nach und am Ort jenseits der Universität zu neuen Erkenntnissen und Haltungen führen. Diese Aufgabe der Kritik müsste die Universität dringend weiterverfolgen, um der Gesellschaft oder, wie es hieß, dem Volke dienen zu können. Das ist notwendig, weil eine

8

Zitiert nach Chales de Beaulieu, Susan/Farkas, Jean-Baptiste: Alien, Marx & Co. – Slavoj Žižek im Porträt, DVD, Berlin: Suhrkamp 2010, aus dem Englischen übersetzt von KJP, gestützt auf die Untertitel des Films (Min. 00:27 – 06:55).

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verkörperte und institutionalisierte Wahrheit nicht mehr existiert. Sich in dieser Verlegenheit an Sachzwängen zu orientieren, am Fundamentalismus des Marktes oder an dem, was man scheinbar als empirisch Gegebenes vorfindet, widerspricht den Aufgaben der Forschung und Lehre. Wir haben die Aufgabe, eine Öffentlichkeit herzustellen, eine Raumzeit, die allen und niemandem gehört, das schuldet die Universität der öffentlichen Sache, der res publica. Nur diese öffentliche Raumzeit bietet die Voraussetzung für Kritik, was Unterscheidungsfähigkeit heißt. Unterscheidungsfähigkeit und Theoriebildung müssen selber in einem praktischen Prozess von Forschung, Lehre, Studium hergestellt oder wiederhergestellt werden. Das geht mit vielen Unterbrechungen von Kontinuitäten und Mitgebrachtem einher, dabei geht es aggressiv zu, dabei muss es zwangsläufig zu Antagonismen kommen. In der Universität könnten diese aber kultiviert werden. Dazu braucht es wiederum Raumzeit und spielerische Modi des Umgangs. Die Tendenz scheint aber auf eine Auslöschung dieser Zeit hinauszulaufen, eine Einpassung etwa an die Erfordernisse der zukünftigen Berufswelt, etwa im Lehrerstudium. Anschlussfähigkeit gilt mehr als das Verlassen des bekannten Territoriums, das Durchtrennen der Bindungen, und wenn es nur als experimentelles Szenario gedacht wird. Gefördert wird nicht einmal eine methodisch hergestellte Fremdheit gegenüber dem bisher Gewohnten, wie man hier so wohnt. Fortwährende Praxisorientierung sorgt in der Lehrerbildung für die Vermeidung experimentellen und neugierigen, nicht zweckgebundenen Denkens. Es wird ein Glauben geschürt: an die Herstellbarkeit des in fünf oder zehn Jahren zutreffenden Wissens, an die Herstellung einer Eignung für den Lehrerberuf. Wir machen hier und jetzt (fast) alles möglich. Wir brauchen nicht die Umwege, die Irrwege, die sind viel zu teuer. Die Möglichkeit von Erfahrungen ohne Gefahr wird suggeriert. Strukturell ist das Inzest, kann ich als Psychoanalytiker sagen. Das Inzestverbot beinhaltet, dass man der nächsten Generation klar zu machen hat, dass hier und jetzt nicht alles möglich ist, dass die Gewohntheiten zu verlassen sind, dass man in die Fremde zu gehen hat, um dort Erfahrungen zu machen und die Sexualität zu üben, jenem rätselhaften unabweisbaren Drang nachzugehen, der es wissen will, ob es eine Anerkennung und eine Nachfrage nach der Potenz und Fruchtbarkeit gibt, die eben durch diese Nachfrage erst erzeugt werden. Ansonsten drohen Unfruchtbarkeit und Dummheit, tatsächlich, metaphorisch, symbolisch, wissenschaftlich. Ein

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Indiz für die inzestuösen Wünsche, die in dieser Gesellschaft verschwiegen um sich greifen, ist das ungeheuere Medienecho auf die Missbrauchsfälle in Schulen, Internaten, Reformschulen. Die unkritische und hypermoralische Empörung, die sich weigert, den Einzelfall anzusehen, behauptet die eigene Reinheit, möchte keine Risiken eingehen (nur in der Nähe entsteht Kontakt), lenkt ab von den Wünschen nach Unmittelbarkeit der Verwertung, Anschlussfähigkeit an das Gewohnte, Konsensualismus, Vermeidung von Brüchen und Trennungen, Herstellung und Kontrolle über das Aufwachsen der nächsten Generation im gewünschten, evaluierten und zertifizierten Sinne. Diese Form des Missbrauchs zur Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse der älteren Generation, die altruistisch verpackt werden als Sorge oder objektiv als Ökonomie, ist mindestens so schlimm, wie die Fälle kruden sexuellen Missbrauchs es sind. Es könnte sein, dass sie schlimmer sind, weil sie als solche kaum bemerkt werden. Zum Schluss: Vielleicht hat die französische Studentin Judith Espinas, die diese Plastiken schuf, etwas von der Genese des Subjekts unter den Bedingungen von Passform und Anschlussfähigkeit erforscht.

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Abbildungen: Motive von Judith Espinas, 2008-2009, L’école nationale superieure des beaux-arts, Oct. 2009, Paris

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Quelle: Fotos des Autors

Die Agonalität des Demokratischen und die Aporetik der Bildung Zwölf Thesen zum Verhältnis zwischen Politik und Pädagogik M ICHAEL W IMMER

»Wir müssen diese Freiheit oder Immunität der Universität und, par excellence, ihrer Humanities fordern, indem wir mit aller Kraft für sie einstehen und uns zu ihr verpflichten.« 1

D IE

RUINIERTE

U NIVERSITÄT

UND IHRE

Z UKUNFT

Die im Kontext globaler und gesellschaftlicher Transformationen initiierten Reformen im Bildungswesen lassen sich als Prozesse der Entdemokratisierung2 und der Verdrängung des Pädagogischen verstehen, die in den verschiedenen Institutionen unterschiedliche Wirkungen zeigen. Diese Reformen, die zu einem nicht unerheblichen Teil von Pädagogen in Disziplin und Professionen mitgetragen werden, folgen einer ökonomischen, an Effizienz und Steigerung orientierten Steuerungslogik, deren Gravitationszent1

Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 45.

2

Vgl. Kluge, Sven/Steffens, Gerd/Weiß, Edgar (Hg.): Entdemokratisierung und Gegenaufklärung, Jahrbuch für Pädagogik 2009, Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang 2009.

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rum im Phantasma der Plan- und Kontrollierbarkeit von komplexen und selbstreferentiellen Prozessen und Systemen besteht. Die Reformen forcieren die »Transformation von Bildung in Humankapital«, sie gehorchen dem alle Lebenssphären durchdringenden Imperialismus ökonomischer Denkmodelle und sie befördern das »Regime des akademischen Kapitalismus«.3 Inzwischen hat sich, wie man sagt, die Humboldt’sche Universität überlebt und mit ihr die klassische Bildungsidee.4 Sie sei zu einer »unternehmerischen Universität« geworden. Wie schon ihre Vorgängerin, so Jan Masschelein und Maarten Simons,5 neutralisiere auch diese Form der Universität ihre gleichermaßen pädagogische wie auch politische Aufgabe, »die Welt zu einer öffentlichen Angelegenheit« zu machen.6 Deshalb solle man der alten Universität nicht nachtrauern. »Die« Universität, die einer Demokratie gemäße Universität als öffentlicher Raum, die zugleich eine demokratische Universität wäre, eine solche Universität hätte es demzufolge bisher noch nicht gegeben. Und doch lässt sich nicht verleugnen, dass es die Universität gibt, dass sich Studierende und ProfessorInnen so verhalten, als ob es die von Anfang an verstellte und neutralisierte Universität doch geben würde, was nicht zuletzt auch für die TeilnehmerInnen der Konferenz »zur kritischen Reflexion der gegenwärtigen Hochschulgestaltung« gilt: Als ob die Universität zwar nicht so wäre, wie sie stets hätte sein sollen, was aber nicht bedeute, dass sie bloß noch eine Ruine wäre. Damit will ich nicht sagen, dass es so schlimm dann doch nicht um die Universität bestellt sein könne, wenn man in der Universität über ihre De-

3

Münch, Richard: Globale Eliten, lokale Autoritäten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009.

4

Vgl. Wimmer, Michael: »Bildungsruinen in der Wissensgesellschaft. Anmerkungen zum Diskurs über die Zukunft der Bildung«, in: Lohmann, Ingrid/Rilling, Rainer (Hg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 45-68; Wimmer, Michael: »Die überlebte Universität. Zeitgemäße Betrachtungen einer ›unzeitgemäßen‹ Institution«, in: Liesner, Andrea/Sanders, Olaf (Hg.): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld: transcript 2005, S. 19-41.

5

Vgl. Masschelein, Jan/Simons, Maarten: Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich: Diaphanes 2010.

6

Ebd., S. 11, 41ff.

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D EMOKRATISCHEN

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formation und die »Entwicklung emanzipatorischer Alternativen« sprechen kann, oder dass die Überlegungen zu einer zukünftigen »Welt-Universität« von Masschelein und Simons irrig oder gar idealistische Utopien wären. Vielmehr geht es um die im Diskurs über die Universität meistens vernachlässigte Frage nach dem Status der Universität, nach ihrer Virtualität, ihrer merkwürdigen Zukünftigkeit, die sie mit sich führt, weil mit ihr und zugleich auch durch sie etwas passieren soll, durch das sie zu einer demokratischen, pädagogischen und öffentlichen Bildungsinstitution erst werden kann. Wie lässt sich dieser Status der Universität verstehen? Muss er überwunden werden oder gehört er konstitutiv zu ihr? Zugleich müsste es um eine andere Möglichkeit von Bildung gehen, die weder dem neuhumanistischen Bildungsversprechen noch dem ökonomischen Imperativ der Selbstbewirtschaftung verfällt. Statt Subjektivierung im Gegensatz von individueller Bildung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit zu begreifen ginge es darum, den Bildungsbegriff auf das Differenzverhältnis von Singularität und Gleichheit, Verantwortung und Gerechtigkeit zu gründen. Um diese Fragen etwas zuzuspitzen möchte ich die These vertreten, dass der Verleugnung des Politischen auf dem Feld der Politik die Verleugnung des Pädagogischen in den (von der Bildungsforschung z. T. flankierten) Bildungsreformen korrespondiert, da zwischen dem Pädagogischen und dem Politischen, wie es insbesondere in den radikalen Demokratietheorien expliziert wird, auf struktureller Ebene Homologien bestehen. Daher kann man so, wie in diesen Diskursen das Politische gegen dessen Erstarrung und Negation in der (und durch die) Politik in Stellung gebracht wird, von der Verfehlung und Verleugnung des Pädagogischen in der (und durch die) Pädagogik sprechen. Wenn unter Demokratie aber weniger eine auf dem Modell des freien Marktes und des Sozialstaatskonsenses beruhende Harmonisierung und Homogenisierung des Gesellschaft zu verstehen ist als vielmehr eine Bewegungs- und Artikulationsform unaufhebbarer Konflikte, Antagonismen und Differenzen, dann entspricht ihr wohl kaum eine Bildungskonzeption, die mit der dazugehörigen pädagogischen Praxis am Modell des »unternehmerischen Selbst«7 orientiert ist, das kompetent und lebenslang selbstorganisiert lernend den Imperativen des Marktes gehorcht. Um aber einen

7

Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.

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Bildungsbegriff formulieren zu können, der den ethischen Ansprüchen der Singularität wie auch zugleich den Herausforderungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs genügen könnte, bedarf es sowohl einer Anknüpfung an die Tradition des bildungstheoretischen Diskurses als auch seiner Dekonstruktion, d.h. der Rückkehr des Pädagogischen sowie des erneuten Versuchs, es zu denken, da es, wie auch die Demokratie, stets nur im Kommen bleiben kann. Die folgenden zwölf Thesen sollen zur Klärung dieser Beziehungen zwischen Politik und Pädagogik, Bildung und Demokratie beitragen, um einerseits der Dringlichkeit der Frage nach der Universität als einem öffentlichen und politischen Raum, d. h. nach einem Raum, in dem die freie Rede und Bildungsereignisse möglich bleiben oder werden können, Nachdruck zu verleihen, aber auch, um an die Problematik der Virtualität der »unbedingten Universität« als einer gegenwärtigen und zugleich im Kommen bleibenden, zukünftigen zu erinnern.

1. Demokratie und Bildung – ein Zusammenhang? Bildung und Demokratie bilden einen historischen wie auch systematischen Zusammenhang. Wenn – nach Humboldt – für Bildungsprozesse Freiheit und Mannigfaltigkeit die zentralen Bedingungen darstellen, dann eröffnen demokratisch verfasste Gesellschaften mit ihren Zentralwerten Freiheit und Gleichheit bessere Möglichkeitsräume für Bildung als autoritäre Staatsformen. In Demokratien hat sich weitgehend das Selbstverständnis herausgebildet, dass Bildung Bürgerrecht ist und allen gleichermaßen zugänglich sein sollte. Die gegenwärtige Diskussion über Ungleichheiten,8 die vom Bildungssystem zudem eher noch verstärkt denn kompensiert werden, zeugt von diesem Recht auf Bildung und dem Anspruch auf Chancengleichheit. Eine Demokratie verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie in ihren (Bildungs-)Institutionen diesen Gleichheitsgrundsatz verletzt, von dessen Anerkennung und Zustimmung sie die nachwachsende Generation in diesen Institutionen nur dann überzeugen kann, wenn er nicht nur eine abs-

8

Vgl. Ditton, Helmut: »Wie viel Ungleichheit durch Bildung verträgt eine Demokratie?«, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 56 (2010) H. 1, S. 53-68.

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trakte Idee bleibt, sondern dort auch erfahren wird.9 So wie demokratische Verhältnisse als förderliche Bedingungen für die Ermöglichung von Bildungsprozessen gelten können, so kann man auch umgekehrt sagen, dass eine gebildete Bevölkerung einer Demokratie zuträglich ist, dass die Bildung aller vielleicht sogar die Bedingung dafür ist, dass ein Volk seine politischen Souveränitäts- und Partizipationsrechte überhaupt wahrnehmen kann.10 Man kann also sagen, dass Demokratie und Bildung wechselseitig füreinander als Bedingungen fungieren. Und doch wäre es verfehlt, wenn daraus geschlossen würde, dass man mittels Bildung die Demokratie stabilisieren oder verbessern könnte, oder dass umgekehrt eine Demokratisierung der Institutionen notwendig größere und bessere Bildungschancen zur Folge hätten. Ein solches Verständnis des Verhältnisses zwischen Bildung und Demokratie (oder Politik und Pädagogik), wie es z.B. auch im Diskurs über Bildung in der Wissensgesellschaft vorherrscht, würde ich instrumentell nennen, wobei die beiden Seiten äußerlich aufeinander bezogen werden. Statt also instrumentell oder funktional zu fragen, wie viel Bildung eine Demokratie braucht oder umgekehrt, wäre die qualitative Frage zu beantworten, was für eine Bildung demokratieförderlich genannt werden kann oder sogar, welche Bildung in sich selbst demokratisch wäre. Gefragt werden müsste also danach, ob es einen kategorialen, strukturellen oder inneren Zusammenhang zwischen Bildung und Demokratie gibt und wie der zu bestimmen ist. Gehören Bildung und Demokratie zusammen, ist Bildung also ihrem Wesen nach demokratisch, oder wird Bildung nur äußerlich von politischen Verhältnissen tangiert?

2. Unbestimmte Begriffe Die Verhältnisse zwischen Bildung und Demokratie, Politik und Pädagogik, Bildungspolitik und Bildungstheorie sind also keineswegs klar. Man

9

Vgl. Coelen, Thomas W.: »Partizipation und Demokratiebildung in pädagogischen Institutionen«, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 56 (2010) H. 1, S. 37-52.

10 Vgl. Steinacker, Sven/Sünker, Heinz: »Politische Kultur, Demokratie und Bildungspraxis in Deutschland«, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 56 (2010) H. 1, S. 22-36.

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kann davon ausgehen, dass es sich nicht um jeweils gegebene Sachverhalte handelt, die erst nachträglich in ein Verhältnis gesetzt werden müssten. Daher scheint es auch als zu einfach zu sagen, die Stabilisierung und Verbesserung der Demokratie könne oder solle durch Erziehung/Bildung verbessert werden, oder deutlicher: die Güte der Demokratie hänge von der Bildung ihrer Bürger ab, zumal ja umgekehrt die Qualität der Bildung auch von den demokratischen Rahmenbedingungen abhängen wird. Was jedoch einer Verhältnisbestimmung zwischen Bildung und Demokratie größere Schwierigkeiten bereitet als die Problematik einer wie auch immer gearteten Korrelation zweier Variablen, ist die irreduzible Unbestimmtheit und interne Differentialität der beiden Begriffe, die weniger Einheiten und Zustände bezeichnen als vielmehr dynamische Prozesse und unaufhebbare Spaltungen. So ist gerade der Bildungsbegriff im aktuellen Diskurs noch unbestimmter geworden, als er schon vor dem Diskurs über die Wissensgesellschaft und ihre Zukunft oder vor PISA war, und der Demokratiebegriff ist ebenfalls umstritten und mehrdimensional, da er mal eine Staats- oder Herrschaftsform bezeichnet, mal eine Gesellschaftsform und mal eine Lebensform.11 Daher ist schon eine Formulierung wie »die Demokratie« problematisch, da sie eine Eindeutigkeit unterstellt, die weder real noch diskursiv gegeben ist, wovon gerade demokratiepädagogische Definitionsversuche (unwillentlich) Zeugnis ablegen,12 deren Ziel es ist, Demokratiekompetenzen zu vermitteln, damit die Individuen zu Bürgern eines demokratischen Staates werden können, die an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen partizipieren und ein demokratisches Leben führen.13

11 Vgl. Himmelmann, Gerhard: »Demokratie-Lernen. Was? Warum? Wozu?«, in: Beiträge zur Demokratiepädagogik, hg. von Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter, Berlin: BLK 2004, http://blk-demokratie.de/fileadmin/public/dokumente/Him melmann.pdf; alle Hyperlinks dieses Artikels wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft. 12 Vgl. Edelstein, W./Fauser, P. (Hg.): Beiträge zur Demokratiepädagogik, http://blk-demokratie.de/index.php?id=98 13 Vgl. Himmelmann, Gerhard: »Was ist Demokratiekompetenz? Ein Vergleich von Kompetenzmodellen unter Berücksichtigung internationaler Ansätze«, in: Beiträge zur Demokratiepädagogik, hg. von Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter: Berlin 2005. http://blk-demokratie.de/fileadmin/public/dokumente/Himmelmann

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3. Grundlosigkeit und Diskursivität Die beiden Begriffe »Bildung« und »Demokratie« sind aber nicht abschließend definierbar. Weder steht fest, was die Begriffe bedeuten, noch ist klar, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Beide Sachverhalte sind auch nicht einfach empirisch gegeben und als solche beobachtbar. Vielmehr »gibt es« Bildung und Demokratie nur als sprachlich vermittelte Gegenstände, sie sind diskursiv konstituiert. So wenig wie die Gesellschaft haben Bildung und Demokratie einen festen Grund, und statt auf einer außersprachlichen Wirklichkeit zu basieren, verdanken sie sich diskursiven Artikulationen, durch die sich Strukturen, d. h. Bedeutungsfixierungen und Unterscheidungen überhaupt erst herauskristallisieren, die allerdings labil, brüchig und variabel bleiben. Folgt man für den Bereich des Politischen z.B. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe14, dann vollzieht sich diese Strukturierung vermittels kontingenter Grenzziehungen und antagonistischer Ausschlussprozesse, so dass Politik von ihnen verstanden wird als eine hegemoniale Praxis, d. h. als ein Kampf um Stabilisierungen unsicherer, da grundloser Verhältnisse und sozialer Formierungen durch die machtvolle Verbindung durchaus unterschiedlicher Forderungen, Kräfte und Bewegungen, die sich aber unter einem gemeinsamen Bezugspunkt (Forderung) vereinen können, der offen ist für Differenzen. Laclau und Mouffe nennen so etwas einen »leeren Signifikanten«, der zwar selbst ein partikulares Element ist, der aber zugleich das Allgemeine einer gesellschaftlichen Forderung repräsentieren kann, das aber selbst wiederum nur aus den Unterschieden der jeweiligen besonderen Forderungen und Vorstellungen besteht.15

2.pdf; Reinhardt, Sibylle: »Demokratie-Kompetenzen«, in: Beiträge zur Demokratiepädagogik, hg. von Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter: Berlin 2004, http:// blk-demokratie.de/materialien/beitraege-zur-demokratiepaedagogik/reinhardt-si bylle-2004-demokratie-kompetenzen.html 14 Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 2. Aufl., Wien: Passagen Verlag 2000. 15 Vgl. Laclau, Ernesto: Emanzipation und Differenz, Wien: Turia&Kant 2002, S. 65ff.

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4. Leere Signifikanten »Bildung« und »Demokratie« lassen sich als solche leeren Signifikanten

verstehen. Sie enthalten die Unbestimmbarkeit als eine ihrer wesentlichen Bestimmungen, denn sie verweisen auf irreduzible Differenzen, konstitutive Spaltungen und unlösbare Konflikte im Sozialen wie auch im Subjekt. Nicht nur, was, sondern ob die Demokratie »ist«, ist dabei unklar, ob man also sagen kann, dass es sie gibt, weil sie niemals sie selbst ist, wie Derrida anmerkt: »Was der Demokratie fehlt, ist eben genau der eigentliche Sinn, der Sinn des Selben selbst, das, was sie selbst ist«16. Die Identität ist demnach ihre Identitätslosigkeit, ihr Unterschied, ihre Entstellung von sich selbst. Was sie ist, ist sie nur in der »différance«, im Aufschub dessen, was sie stets dabei ist zu werden, wobei damit nicht ein unerreichbares Ideal oder eine regulative Idee zu verstehen ist.17 Sie hat daher auch keine klaren Grenzen, keinen identifizierbaren Ort, durch den sie von anderen Sphären eindeutig unterscheidbar wäre. Die Demokratie befindet sich vielleicht nur im Grenzbereich zwischen dem Politischen und dem Pädagogischen, zwischen Recht und Gerechtigkeit,18 zwischen Nomos und Ethos, was bedeuten würde, dass »Demokratie« kein rein politischer Begriff wäre. Ähnliche Unklarheiten lassen sich auch für den Bildungsbegriff konstatieren, da die Grenzen z. B. zwischen Bildung und Erziehung, Bildung und Ausbildung, Bildung und Wissen, Bildung und Persönlichkeit oder Identität keineswegs trennscharf, eindeutig und stabil sind. Wenn Bildung stets als Selbstbildung verstanden wurde und heute mehr denn je verstanden wird, dann ist ebenfalls unklar, ob es sie gibt oder jemals gab, da das sich bildende Selbst niemals es selbst ist und werden kann, sondern durch Bildung einen Selbstentzug erleidet, eine Spaltung, die das Ich nicht nur von der Welt sondern auch von sich selbst trennt. Bildende Erfahrungen sind Fremderfahrungen und Erfahrungen der Selbstfremdheit.19 Was der Bildung fehlt,

16 Derrida, Jacques: Schurken, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 59. 17 Vgl. ebd., S. 105ff. 18 Vgl. ebd., S. 62. 19 Vgl. Koller, Hans-Christoph/Marotzki, Winfried/Sanders, Olaf (Hg.): Bildungsprozesse und Fremderfahrung, Bielefeld: transcript 2007; Thompson, Christiane: Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie, Paderborn u.a.: Schöningh. 2009.

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ist also gerade der eigentliche Sinn eines Gebildes als einer integrierten Ganzheit und Identität. Je mehr Selbstbildung, so könnte man sagen, desto mehr Weltbindung, was bedeuten würde, dass Bildung nur im Grenzbereich zwischen Ich und Welt, Selbst und Anderem, Erfahrung und Widerfahrnis, agency und pathos lokalisierbar und daher kein rein pädagogischer Begriff wäre.

5. Das Politische und die Demokratie Ohne hier auf die Thesen vom Ende der Politik20 oder der Postdemokratie21 eingehen zu können, welche die Ökonomisierung der Politik kritisieren, die sich auf ein Krisenmanagement reduziert, die sich die Aufgaben von außen vorschreiben lässt, die ihre Entscheidungen nur noch mit vermeintlichen Sachzwängen begründet und die auf die bloße Verwaltung des Sozialen regrediert, – angesichts dieses Bedeutungs- und Legitimationsschwunds wird von verschiedenen Autoren eine »Rückkehr des Politischen« formuliert.22 Gegen die angeblichen Sachzwänge und objektiven Widerstände thematisiert dieser Diskurs um eine radikale Demokratie auf unterschiedlichen Wegen die Überzeugung, dass es in der Politik im Kern nicht um das Machbare geht, sondern um die Ermöglichung des Unmöglichen. Verteidigt wird das Politische gegenüber der Politik, die Selbstinstituierung der Gesellschaft gegen die pure Verwaltung des Gemeinwesens durch polizeiliche Maßnahmen. Getragen werden diese Positionen von der Überzeugung, dass der Kern des Sozialen aus einer Spaltung besteht, einem unlösbaren Widerstreit, einem Paradox oder einer unversöhnlichen Differenz, eine unauflösbaren Ungleichheit und unkorrigierbaren Verrechnung, d.h. einer Nichtübereinstimmung mit sich selbst.23

20 Vgl. Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 231ff. 21 Vgl. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. 22 Vgl. Flügel, Oliver/Heil, Reinhard/Hetzel, Andreas: Die Rückkehr des Politischen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 23 Vgl. Bröckling, Ulrich/Feustel, Robert (Hg.): Das Politische Denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld: transcript 2010; Marchart, Oliver: Die politische Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010.

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Gegenüber der Politik als Praxis der Strukturierung und Stabilisierung eines grundlosen, kontingenten und daher labilen Zusammenhangs ist das Politische das, was diese durch einen Ausschluss konstituierte einheitliche Ordnung des Sozialen stört und irritiert, indem es den Antagonismus aktiviert. Das Politische ist daher das, was sich durch den unvermeidlichen Ausschluss ereignet, was die Unruhe und das Leben der Demokratie ausmacht, worin aber auch ihre Gefährdung und ihre Selbstgefährdung liegt. Nicht Konsens, Schließung, Einheit, Identität, Versöhnung, Ganzheit können deshalb als Ideale gelten, sondern Offenheit und Auseinandersetzung erscheinen als notwendige Bedingungen der Demokratie. Und wenn gesellschaftliche Ordnungen sich nur durch Grenzziehungen und Ausschließungen konstituieren können, wobei dies Resultate kontingenter Machtverhältnisse sind, dann ist nach Laclau und Mouffe die Demokratie diejenige politische Verfassung, die die Grundlosigkeit am ehesten anerkennen kann und in der es gelingen könnte, den unvermeidlichen Antagonismus in einen 24 »agonistischen Pluralismus« zu transformieren. Dafür muss aber, wie Le25 fort deutlich gemacht hat, die Mitte der Macht leer bleiben, der Platz des Souveräns darf nicht wieder besetzt werden, denn die Leere des Zentrums und die Grundlosigkeit sind Bedingungen der Demokratie, die sich gegen derartige unausweichliche Souveränitätsansprüche stets wehren muss. Einer so verstandenen radikalen, ihre Grundlosigkeit und die Unvermeidbarkeit antagonistischer Kräfte anerkennenden Demokratie könnte es gelingen, die Gefahr zu vermeiden, dass aus diskursiven Antagonismen durch die Essentialisierung und Ontologisierung ethnischer, religiöser oder geschlechtlicher Differenzen gewaltsame Konflikte werden.

6. Das Pädagogische und das Unmögliche Ähnliche Figuren irreduzibler Differenzen, Spaltungen, widerstreitender Bestimmungen und Aufgaben charakterisieren auch das Verhältnis zwischen der Pädagogik und dem Pädagogischen. Hinsichtlich des Theoriedis-

24 Vgl. Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien: Turia&Kant 2008. 25 Vgl. Lefort, Claude: »Die Frage der Demokratie«, in: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 281-297.

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kurses ist das Pädagogische nach Schäfer26 eine Erfindung der Neuzeit, insofern es zu einer Figur des Unmöglichen wurde. Es ist gebunden an das Versprechen, die Zerrissenheit der modernen Existenz (Mensch und Bürger, Sinnlichkeit und Verstand etc.) überwinden, den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft versöhnen zu können. In der Moderne, d. h. nach dem Verlust metaphysischer Sicherungen und dem Scheitern aller Versuche der Selbstbegründung, können deshalb Sachverhalte nur dann noch »pädagogisch« genannt werden, wenn sie gebunden werden an ein unmöglich zu erreichendes transzendentes Ziel (Natur, Vernunft, Subjekt, Autonomie, Identität), das als Bezugspunkt theoretischer Bestimmungen und als Supplement des verlorenen Grundes fungiert. Erst durch solche fiktiven Annahmen und Konstruktionen wird eine Differenz sichtbar, die den Raum des Pädagogischen öffnet. So zeigt sich z. B. bei Rousseau erst vor dem Hintergrund einer ganz unbestimmbaren und unerreichbaren Natur die Differenz zwischen Mensch und Bürger, die das Konzept einer natürlichen Erziehung mit dem Ziel einer Identität mit sich selbst grundiert. Und umgekehrt entsteht erst mit dem fiktiven Naturbegriff als Konstrukt die Möglichkeit einer Kritik der Gesellschaft und dem pädagogischen Authentizitätsversprechen. Folgt man den Analysen von Alfred Schäfer, dann wäre das neuzeitliche pädagogische Selbstverständnis grundlegend als Antwort auf die Problematik der Unbegründbarkeit der sozialen Ordnung und des subjektiven Selbstverhältnisses zu verstehen, insofern sich die Pädagogik in der Moderne weder auf eine transzendente Ordnung noch auf die Instanz eines transzendentalen Subjekts beruft. Statt Erziehung und Bildung in einem (religiös, naturrechtlich, metaphysisch) nicht mehr legitimierbaren Ziel oder Zweck zu begründen oder dem je aktuellen Diktat empirisch gängiger Nützlichkeitsvorstellungen unterzuordnen, entwirft die pädagogische Reflexion das Pädagogische als einen reinen Möglichkeitsraum mit empirisch unerreichbaren Maßstäben als Bezugskoordinaten,27 die gleichwohl notwendig sind, um das Pädagogische überhaupt als solches identifizieren und von alltäglichen Sichtweisen unterscheiden zu können. Das Pädagogische bildet damit eine Differenz sowohl zum Alltagsverständnis als auch zu theoretischen Diskursen, die sich auf eine empirische Referenz stützen, da es

26 Vgl. Schäfer, Alfred: Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn u.a.: Schöningh 2009. 27 Vgl. ebd., S. 19, 380.

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sich gerade nicht mit Blick auf konkret-empirische Sachverhalte bestimmen lässt, sondern nur über quasi-transzendentale Bezugspunkte.

7. Ethik des Pädagogischen Der Antinomie zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit im Begründungsdiskurs korrespondiert auf handlungstheoretischer Ebene das pädagogische Paradox. Erziehungstheorien arbeiten sich mit Blick auf die fiktiven Bezugspunkte einer Moralisierung oder Autonomisierung an einem unlösbaren Widerstreit ab, wie denn Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung, Freiheit durch Zwang erreichbar sein kann. Folglich besteht der Kern der Pädagogik in einem Paradox, das bis heute unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat.28 Freiheit und Zwang stellen dabei im gesamten pädagogischen Diskurs der Moderne die Pole dar, die den Raum für die verschiedenen theoretischen Lösungsversuche öffnen und unter Spannung halten, ohne dass es einer Theorie bisher gelungen wäre, einen der Pole in Reinform zu erreichen: reine Steuerung oder reine Selbsttätigkeit. Bisher sind alle Versuche der Pädagogik am so unlösbaren wie unvermeidbaren Paradoxieproblem gescheitert, sich als strenge Wissenschaft oder als empirisch abgesicherte Sozialtechnologie zu etablieren. Eine Lösung des Paradoxieproblems und die Entwicklungen einer konsistenten Theorie in Verbindung mit einer pragmatisch soliden Handlungslehre würde jedoch geradezu das Ende der Pädagogik bedeuten. Denn es ist gerade die sich in der Paradoxie zeigende Unmöglichkeit, die den Kern des Pädagogischen ausmacht und es von einem widerspruchsfreien logischen System wie auch von einer kybernetischen Steuerungstechnologie unterscheidbar macht. Die aporetische Theorie und die Theorie-Praxis-Spaltung sind keine Mängel der Pädagogik sondern der Kern des Pädagogischen. Zwar kann man sagen, dass moderne Erziehungstheorien den widersprüchlichen Charakter von sich selbst verleugnenden technologischen Konzepten haben und das Grundparadox, wie man durch Fremdbestimmung Selbstbestimmung, Freiheit durch Zwang hervorbringen kann, theoretisch nicht befriedigend lösen können. Aus diesem Befund eines Technologiedefizits der

28 Vgl. Wimmer, Michael: Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Bielefeld: transcript 2006.

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Pädagogik folgt aber weder Handlungsunfähigkeit noch kann der Schluss gezogen werden kann, dass die theoretische Reflexion überflüssig und praktisch nutzlos ist. Denn die Aporie der Erziehung zeugt in ihrer theoretischen Unlösbarkeit von einem Bruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Satzung und Setzung, zwischen Denken und Handeln, dessen Aufhebung zwangsläufig in totalitären Konzeptionen mündet, da es dieser Bruch ist, der einen Urteilsraum und damit pädagogische Handlungsfreiheit erst eröffnet. Sonst hätte das Wissen Gesetzescharakter und Handeln wäre nur noch gewissenslose Exekution des Wissens. So gesehen ist es die Aporie, die davor schützt, derart technisch und gewaltförmig zu agieren, weil sie dazu nötigt, den Schritt vom Wissen zum Handeln, vom Erkennen zum Anerkennen zu tun. Die pädagogische Aporie fungiert wie ein Gesetz, das nicht nur den unmittelbaren Zugriff auf den Anderen untersagt, sondern auch den Zugang zu sich selbst, und das nur sagt, »Sei gerecht!«, aber nicht, wie das möglich ist.

8. Aporetische Pädagogik Ist das Pädagogische das Paradoxe und Unmögliche, dann wäre Pädagogik dagegen die Praxis des Möglichen, des Disziplinierens, Normalisierens, Erziehens, Lehrens, das in als normal geltenden Bahnen in den jeweils gegebenen Institutionen und im Horizont des herrschenden subjektiven wie auch professionellen Selbstverständnisses verläuft, nach bekannten Schemata, konventionellen Üblichkeiten, orientiert zumeist an Nützlichkeitskriterien und Erwartungen gesellschaftlicher Brauchbarkeit. Das Pädagogische kann daher als das verstanden werden, was sich real ereignet, was aber als Ereignis für das Wissen das Unmögliche und für das Planungskalkül Unvorhersehbare und Unentscheidbare ist, das, was nur als Passage29, als Ereignis30 oder als Transformation im Bildungsprozess31 benannt werden

29 Vgl. Friedrichs, Werner: Passagen der Pädagogik. Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze, Bielefeld: transcript 2008. 30 Vgl. Altfelix, Thomas: Das Pädagogische jenseits von Erfahrung und Denken. Ein erkenntnistheoretischer Begründungsversuch im Sinne Franz Fischers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 12.

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kann. So wie pädagogisches Handeln seine spezifische Qualität der pädagogischen Paradoxie verdankt, so zeichnet sich auch Bildung erst durch eine Erfahrung des Unmöglichen aus, der Paradoxie der Fremderfahrung,32 die zugleich mit einer Transformation des Selbst- und des Weltverhältnisses die Unmöglichkeit der Selbstpräsenz und völliger Selbstverfügung erfahrbar macht und so weniger als eine Steigerung der Selbstkompetenz als vielmehr als eine zunehmende Gewärtigung der Selbstfremdheit zu verstehen wäre.33 Die Vorstellung konstitutiver Subjektivität und ihren Autonomieanspruch als trügerische Illusion zu durchschauen bedeutet nicht, dass es möglich wäre, eine Wahrheit des Subjekts jenseits der Verkennung erreichen zu können, sondern es bedeutet nur die Anerkenntnis der Grundlosigkeit und Kontingenz, was sich in einem anderen Selbst- und Weltverhältnis manifestieren kann, aber nicht muss, da die Desillusionierung auch eine Flucht in dogmatische Ideologien oder religiösen Fundamentalismus zur Folge haben kann. So kann man sagen: 1. Pädagogisches Handeln ist gleichzeitig notwendig und unmöglich, 2. Bildung ist nicht als empirischer Prozess eines Kompetenzaufbaus identifizierbar sondern eine reine Möglichkeit, die zudem zugleich mit Entbildungsprozessen einhergeht, und 3. die pädagogische Theoriebildung bearbeitet angesichts einer grundlos gewordenen Welt und der Selbstfundierungsunfähigkeit des modernen Subjekts unausweichliche Fragen, die jedoch letztlich unlösbar sind.

9. Die Verleugnung des Pädagogischen Wird in den frühen pädagogischen Theorien die Differenz zwischen Gegebenem und Begründbarem dadurch offen gehalten, dass der pädagogische Raum nur noch als Möglichkeitsraum gefasst und das Pädagogische nicht mit dem gängigen Selbstverständlichen identifiziert wird, versucht die spä-

31 Vgl. Koller/Marotzki/Sanders (Hg.): Bildungsprozesse. 32 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997; Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. 33 Vgl. Meyer-Drawe, Käte: »›Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen…‹ – Bildung und Versagung«, in: Koller/Marotzki/Sanders (Hg.): Bildungsprozesse, S. 83-94.

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tere Theoriebildung immer wieder, diese Differenz zu schließen. In dem Maße, wie einerseits theoretisch an einem den Grund legenden und sich selbst begründenden autopoietischen Subjekt und an der empirischen Ermöglichung seiner Identität und Bildung festgehalten wird, und wie andererseits das Pädagogische praktisch normalisiert und professionalisiert worden ist in Form der Institutionalisierung, Verregelung, Verrechtlichung und Verwaltung des Bildungssektors, in dem Maße ist das Pädagogische unkenntlich geworden und droht zu verschwinden. Wenn das Pädagogische in einer Paradoxie besteht, die theoretisch in einem gleichermaßen unvermeidbaren wie auch unlösbaren Problem besteht und die praktisch als Aporie von notwendigen und zugleich dadurch unmöglichen Handlungen auftritt, dann verschwindet das Pädagogische, wenn es in Disziplin und Profession entparadoxiert wird: Im Theoriediskurs verschwindet es, wenn der Widerstreit zu einem lösbaren Widerspruch neutralisiert und die irreduzible Unbestimmtheit aufgelöst wird, wenn von den Möglichkeitsräumen nur noch das als wirklich anerkannt wird, was empirischer Bestimmbarkeit zugänglich ist, wenn die den pädagogischen Möglichkeitsraum aufspannenden quasi-transzendentalen Bezugspunkte als empirisch erreichbare Ziele angesehen bzw. verkannt werden. Und im praktischen Selbstverständnis verschwindet es, wenn pädagogisches Handeln professionalisiert und an Qualitätsmaßstäben gemessen wird, d. h. wenn es kybernetisch als Steuerung (der Selbststeuerung) verstanden, wenn es also technisiert und an einer empirisch messbaren Effizienz orientiert wird. Dem entspricht dann eine Auffassung vom Adressaten, der als sich selbst steuernder Lernautopoiet seine Wissensbildungsprozesse selbstverantwortlich zu managen und der seine Lernressourcen selbst zu optimieren lernen soll.34 Beispielhaft für dieses Verschwinden ist die Position Tenorths, der behauptet, mit den Bildungsstandards und der kompetenztheoretischen Umstellung des Bildungsbegriffs wäre endlich empirisch das eingelöst, was Humboldt nur konzeptionell als Idee formuliert hätte.35 Bildung als Möglichkeitskategorie wird mit empirisch messbaren Lernständen identifiziert

34 Vgl. Meyer-Drawe, Käte: Diskurse des Lernens, München: Wilhelm Fink 2008. 35 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Expertise von Klieme, Eckart/Tenorth, HeinzElmar u.a., Berlin: BMBF 2003.

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und damit auf Brauchbarkeit und Anpassungsleistungen reduziert.36 Das ist keine Befreiung des Bildungsbegriffs aus metaphysischen Implikationen, wie er meint, sondern seine normative Umwidmung nach Maßgabe politischer Imperative. Die »Leere« des Humboldt’schen Bildungsbegriffs wird aufgefüllt mit zweckrationalen Bestimmungen, denen die Individuen entsprechen müssen – was auf eine Metaphysik der Macht hinausläuft, eine biopolitische Überlebensideologie. So kann man die Pädagogik theoretisch wie auch institutionell und im professionellen Selbstverständnis als Abschattung, Verdrängung, Verleugnung oder Invisibilisierung des Pädagogischen verstehen. Das pädagogische Paradox scheint nur noch eine spezielle Rhetorik zu sein, ein Denkfehler, ein theoretisches Trugbild oder ein Phänomen der Selbstreferenz, praktisch aber bedeutungslos, denn bei der Erziehung der Kinder, im Unterricht oder bei der Steuerung des Bildungswesens macht es sich nicht bemerkbar. Man weiß zwar nicht, wie Erziehung möglich sein kann, aber faktisch lässt sich kaum leugnen, dass es sie gibt und dass sie Wirkungen hat. Rätselhaft wird es erst, wenn – wie die Systemtheorie und der Poststrukturalismus auf unterschiedliche Weise deutlich gemacht haben – die Prämissen dieses normativen Selbstverständnisses fraglich werden, allen voran diejenige des selbsttransparenten Subjekts und das in ihm gründende intentionale Handlungsmodell.

10. Die Möglichkeit des Unmöglichen Die durch die Dezentrierung des Subjekts frei gewordene Sicht auf die Probleme der doppelten Kontingenz, der Fremdheit und Alterität des Adressaten und des Selbst, der Krise der Repräsentationslogik, der wirklichkeitskonstitutiven Kraft der Sprache und der diskursiven Verfasstheit unserer Wirklichkeit stellt uns vor das Problem, dass Paradoxien keine bloßen Denkfehler sein könnten. Das verändert den Status unseres Wissens und Denkens, insofern es dazu nötigt, die Modalitäten des Unwirklichen und

36 Vgl. Gruschka, Andreas: »Bildungsstandards oder das Versprechen, Bildungstheorie in empirischer Bildungsforschung aufzuheben«, in: Pongratz, Ludwig/Reichenbach, Roland/Wimmer, Michael (Hg.): Bildung – Wissen – Kompetenz, Bielefeld: Janus 2007, S. 9-29.

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des Unmöglichen als Möglichkeiten anzuerkennen. Dass etwas nicht Denkbares dennoch möglich und wirklich sein könnte, bedeutet, dass es – für das Denken – Unmögliches möglicherweise gibt. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie ein Denken beschaffen sein müsste, das dieses mögliche Unmögliche möglicherweise fassen könnte? Aber nicht nur das Denken und der Status des Wissens sind davon betroffen, sondern auch das Handeln. Von Freud stammt bekanntlich die Bemerkung über die unmöglichen Berufe des Psychoanalytikers, des Politikers und des Pädagogen, da es bei ihnen eben nicht um das Machbare geht, sondern um die Ermöglichung des Unmöglichen.37 Unmöglich ist dabei nicht nur die Steuerung unbewusster Prozesse im Analysanden, die Steuerung freier Willensbildungsprozesse der Bevölkerung und die Steuerung von Selbstbildungsprozessen im Anderen. Unmöglich im Sinne von unvorhersehbar, unplanbar und unkalkulierbar ist auch das Ziel, das Resultat, das reale Ereignis, das selbst dann immer überraschend kommt und als etwas ganz Neues in Erscheinung tritt, wenn es geplant oder erwartet wurde.38 Die Ermöglichung des Unmöglichen ist deshalb eine Aufgabe, die nicht einfach erledigt werden kann, sondern die in sich gespalten ist und die stets ihre eigene Zukünftigkeit reproduziert. Weder die Bildung noch die Demokratie sind jemals fertig und einfach da, sie sind immer nur im Kommen. Sie erschöpfen sich auch nicht in der Instituierung von Rechts- und Vernunftsprinzipien oder in Lernbiographien und Kompetenzprofilen. Sie können und sollten sich auch keine endgültig abgesicherte Gestalt geben. Denn so wie die demokratische Auseinandersetzung, die agonale Demokratie nie zu einem Ende kommen darf, so wenig kann man ein Telos von Bildungsprozessen angeben, das nicht ihr Ende wäre.

37 Vgl. Freud, Sigmund: »Die endliche und die unendliche Analyse«, in: Gesammelte Werke, Bd. XVI, London: Fischer 1950/1978, S. 94; Freud, Sigmund: »Geleitwort zu ›Verwahrloste Jugend‹ von August Aichhorn«, in: Gesammelte Werke, Bd. XIV, London: Fischer 1948/1976, S. 565. 38 Vgl. Wimmer, Michael: »Erziehung ohne Aufgabe: Pädagogik in Zeiten der Ungewißheit«, in: Beillerot, Jacky/Wulf, Christoph (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Zeitdiagnosen: Deutschland und Frankreich, Münster/New York/ München/Berlin: Waxmann 2003, S. 224-238.

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11. Der Widerstreit zwischen Politik und Ethik Das alles heißt aber nicht, dass »Bildung« wie »Demokratie« bloß hehre Ideale wären, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätten, man sich also damit abzufinden hätte, dass es sie auf Erden nicht geben könne. Ebenso wenig darf man sie als regulative Ideen verstehen, womit man sich schon pragmatisch damit abgefunden hätte, nur das als möglich anzuerkennen, was man auch realisieren kann. Demokratie wie auch Bildung haben ihren Ort im politischen bzw. pädagogischen Vollzug, in dem die Politik durch das Politische bzw. die pädagogische Praxis durch das Pädagogische überschritten wird, weil beide Sphären von zwei unversöhnlichen Gesetzen bestimmt werden. In Derridas Worten: »Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität. Aber auch keine Demokratie ohne ›Gemeinschaft der Freunde‹ [...], ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte. Diese beiden Gesetze lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzende Weise unversöhnbar. Die Verletzung bricht zugleich mit der Notwendigkeit auf, seine Freunde zählen, die anderen abzählen, mit den Seinen haushalten, sie einer Ökonomie unterwerfen zu müssen – dort, wo jeder andere ganz anders ist. Dort, wo indessen jeder in gleicher Weise ganz anders ist. Schwerwiegender als ein Widerspruch, hält die Kluft zwischen diesen beiden Gesetzen auf immer das politische Begehren wach. In Ihr liegt auch die Chance und die Zukunft einer Demokratie beschlossen, die sie stets zu zerrütten droht und deren Nichtübereinstimmung mit sich selbst sie gleichwohl, als das Leben selbst, im Herzen ihrer gespaltenen Tugend, am Leben erhält.«39 Was hier über die Demokratie gesagt wird, kann auch für das Bildungssystem und die Pädagogik gesagt werden. Doch wie lassen sich die Unterschiede zwischen dem Politischen und dem Pädagogischen bestimmen, zwischen Bildung und Demokratie, ohne die alten Autonomieansprüche der Pädagogik wieder zu reanimieren, die gleichermaßen imaginär wie auch autoritär waren, aber auch ohne die Pädagogik der Politik einfach unterzuordnen? Denn das Politische und das Pädagogische sind beide in sich ge-

39 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 47f.

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spalten, sie widerstreiten sich aber zudem und lassen sich nicht versöhnlich vereinen. Zwar besteht der Konflikt zwischen dem ethischen Anspruch der Singularität des Anderen und seiner Zugehörigkeit zu den Vielen bereits in der Demokratie, doch wird die Differenz zwischen der Verantwortung gegenüber dem singulären Anderen und der Gerechtigkeitsproblematik in der Pädagogik anders akzentuiert, denn im entscheidenden Moment kann sich nur der Einzelne gegen die Verabsolutierung der Gemeinschaft wehren und sich der Totalisierung des Politischen verweigern. Individuelle Bildung enthält mithin verstärkt eine ethische Dimension als antipolitische Herausforderung gegenüber der Politik und dem Politischen, so dass das Verhältnis zwischen Politik und Ethik, Bildung und Demokratie als sich wechselseitig begrenzendes Verhältnis eines jeweils in beiden Sphären wirksamen, aber asymmetrisch strukturierten Antagonismus verstanden werden kann.

12. »Démocratie à venir« und das Bildungsversprechen So wie in der Moderne die Bildungstheorie Antwort gibt auf die gleichermaßen ateleologische wie grundlose Existenz des Menschen, so kann die moderne Demokratie als eine Staats- und Gesellschaftsform angesehen werden, die der Grundlosigkeit und Kontingenz der sozialen Verhältnisse und den in ihnen bestehenden Antagonismen und Konflikten insofern gewachsen ist, als sie Möglichkeiten für friedliche Lösungen eröffnet, die nicht unbedingt im Konsens und in harmonischer Übereinstimmung gesehen werden sollten. So wenig die pädagogischen Institutionen mitsamt ihren internen Prozessen und ihrem Output identisch sind mit dem, was man legitimerweise als das Pädagogische bezeichnen könnte, so wenig sind die bestehenden Demokratien identisch mit dem, was als das Demokratische gilt. Das Demokratische – oder das Politische – ist wie das Pädagogische weder das, was empirisch als Demokratie – bzw. Politik – oder Pädagogik praktiziert wird, noch ist es eine bloße Idee oder ein Ideal, das als solches unerreichbar ist und nur als regulative Idee oder als normativer Maßstab eine Bedeutung hätte, vielmehr bezeichnen die Begriffe unaufhebbare Spannungen und irreduzible Differenzen, die ein Erlöschen des Demokratischen inmitten der Demokratie oder ein Verschwinden des Pädagogischen entgegen aller Bildungsreformrhetorik denkbar machen, aber eben auch ihre mögliche Stärkung. Nur lösen lassen sich weder die sozialen Antagonismen noch die pädagogischen Paradoxien.

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Wer aber den Sinn von Theoriebildung nur an ihrer Problemlösungsleitung bemisst, der hat die Herausforderung der Grundlosigkeit der Welt und der Referenzlosigkeit der Zeichen möglicherweise noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Die Wirklichkeit des Pädagogischen liegt nämlich nicht vor oder hinter dem Theoretischen, sondern sie wird diskursiv generiert. Es geht nicht mehr um Gründe sondern um Begründungen. Und weil das Pädagogische diskursiv verfasst ist, ist es offen, kontingent, brüchig und stets umstritten. Eine Zukunft haben die Bildung wie auch die Demokratie selbst daher nur solange, wie das unvermeidliche Bemühen um klare Grenzen, Bestimmungen und Strukturen, um Problemlösungen, Stabilisierungen und Gewissheiten scheitert, so dass aus den Möglichkeiten keine Fakten werden, weil es beides nur gibt, solange es ein Versprechen und im Kommen bleibt.

Postscriptum: Die Universität – ein öffentlicher und politischer Raum? Die Kritik an der Universität in der Universität nimmt ein Recht in Anspruch, das es nicht einfach gibt, das selbst reflektiert und gesetzt werden muss, nämlich das Recht auf unbedingten Widerstand.40 Nach Jacques Derrida gibt es dieses Recht nicht als ein verbrieftes und bereits gesichertes, vielmehr muss es errungen werden gegen den Widerstand staatlicher, ökonomischer, medialer und aller anderen Mächte, die »die kommende und im Kommen bleibende Demokratie einschränken«.41 Derridas Aufruf zu einer unbedingten Universität, die die »unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung«42 ermöglichen sollte, die das Recht gewähren sollte, »alles zu sagen, sei es auch im Zeichen der Fiktion und der Erprobung des Wissens; und das Recht, es öffentlich zu sagen, es zu veröffentlichen«43, dieser Aufruf ist zwar von vielen gehört worden und ihm wird auch hier gefolgt. Doch es bleibt ein Aufruf, wissend, dass es die Universität als unbedingte de facto nicht gibt, dass es sie jedoch geben

40 Derrida: Die unbedingte Universität, S. 13. 41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 10. 43 Ebd., S. 14.

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sollte, und zwar als einen »Ort letzten [...] Widerstands gegen alle dogmatischen und ungerechtfertigten Versuche [...], sich ihrer zu bemächtigen«.44 Indem man dieses Recht in Anspruch nimmt, tut man aber so, als ob es die unbedingte Universität doch schon gäbe, als wäre die Freiheit, um die es geht, schon wirklich und gar nicht gefährdet, als wäre die Universität immer noch oder bereits wieder ein öffentlicher Raum. Wäre das so, gäbe es also schon, worum man doch erst kämpfen zu müssen glaubte, dann wäre unklar, warum man sich engagiert. Doch – und auch davon handelt ja Derridas Text – die Tatsache des Stattfindens z. B. von dieser Veranstaltung »Schöne neue Bildung?« bedeutet keineswegs, dass es diese Freiheit im Sinne der Unbedingtheit bereits gibt, noch bedeutet es, dass es sich dabei um eine bloße Fiktion handelt. Vielmehr könnte es sein, dass das Stattfinden, der Ort dieser Veranstaltung selbst an der Virtualität Anteil hat, ohne deshalb unwirklich zu sein. Und vielleicht hat die unbedingte Universität ja genau diesen merkwürdigen Status des Unmöglichen, das sich weder konstatieren noch herstellen lässt, weil es sich nur ereignen kann.45 Ob das hier und jetzt der Fall ist, kann man nicht wissen. Doch wenn das, was unbedingte Universität genannt wird, nur in Form von Ereignissen stattfinden kann, wenn sie sich nicht planen, herstellen oder als institutioneller Zustand garantieren lässt, dann kann man sich nur zu ihr bekennen und die Freiheit und Immunität der Universität fordern, indem man für sie eintritt. Das entbindet zwar nicht von der Frage, ob und inwiefern die Universität ein öffentlicher oder politischer Raum war, ist, wieder sein oder erst noch werden soll, und was das heißt, ein öffentlicher und politischer Raum. Sicher müsste die Universität zunächst und als erstes entprivatisiert und zugleich von allen öffentlichen Interessen46 entleert werden, bevor sie ein im politischen Sinne öffentlicher Raum werden könnte. Und als zweites müsste die Universität entpolitisiert und der Politik entzogen werden, bevor sie als politischer Raum und Raum des Politischen wieder wahrgenommen werden kann. Denn die Politik hat sich der Universität insbesondere in Hamburg bemächtigt und sie entdemokratisiert, sie hat sich indirekt einen Zugriff verschafft

44 Ebd., S. 12. 45 Ebd., S. 72ff. 46 Vgl. Kamuf, Peggy: »The University of Dekonstruction« (Ausschnitt), in: Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Zürich: Diaphanes 2010, S. 185-186.

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auf Forschung und Lehre, der vor 10 Jahren noch undenkbar gewesen ist. Das Trojanische Pferd war im Fachbereich Erziehungswissenschaft die Reform der Lehrerbildung mit ihren Sozietäten, die Definition von Kerncurricula, die Gründung des Zentrums für Lehrerbildung und zum Schluss von ZUSE, dem »Hamburger Zentrum zur Unterstützung der wissenschaftlichen Begleitung und Erforschung schulischer Entwicklungsprozesse«, in dem Bildungsforschung und Bildungspolitik in direktem Kontakt stehen, so dass man fragen darf und muss, ob es sich hier noch um eine Forschung handelt, die sich an der Disziplin orientiert. Aber die Bearbeitung und Erörterung dieser Frage setzt in gewisser Weise schon einen öffentlichen Raum in der Universität voraus und muss ihn in Anspruch nehmen, auch wenn es darum geht, einen neuen öffentlichen Raum zu eröffnen oder Zugang zu ihm zu finden. Ebenso beantwortet bereits das Stattfinden solcher Veranstaltungen wie der titelgebenden wenigstens zum Teil die Frage, ob die Universität – noch – ein politischer Raum ist. Doch kann man sich mit dieser Antwort wohl nicht zufrieden geben, da keineswegs klar ist, was das heißt, ob es sich um einen Raum in der Universität handelt oder um die Universität als Raum. Und was »öffentlich« und »politisch« bedeuten, das steht keineswegs bereits fest. Gewiss scheint mir jedoch, dass diese Frage, ob und wie die Universität als öffentlicher und politischer Raum verstanden werden kann oder sollte, für die Zukunft dieser Institution, für ihre Gestalt und die Gestalten in ihr, von nicht geringer Bedeutung sein wird. Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass diese Frage voraussetzungslos erörtert werden muss, und zwar nicht nur in der Universität. Unbedingt.

Kritische Analysen zum Strukturund Funktionswandel der Universität

Zehn Thesen zum Funktionswandel der Universität I NGRID L OHMANN

1. 1807, nach der verlorenen Schlacht gegen die französischen Revolutionstruppen, war Preußen im Friedensvertrag von Tilsit auf den Status einer europäischen Mittelmacht zurückgestuft worden. Seine Landesuniversität Halle hatte es an das Königreich Westfalen verloren. Preußische Reformbeamte und Gelehrte nahmen daraufhin Pläne zur Errichtung einer neuen Universität wieder auf. Von verschiedenen Seiten bestanden zunächst »Bedenken gegen den sittenverderbenden Einfluß der Hauptstadt«,1 und daher dachte man zeitweilig über mögliche andere Orte nach. Unterdessen begannen jedoch der Theologe Friedrich Schleiermacher, der Philosoph Johann Gottlieb Fichte und weitere Gelehrte, in Berlin auf eigene Kosten Vorlesungen zu halten. Schließlich wurde das Projekt einer Universität in Preußens Hauptstadt von führender Stelle unterstützt und Wilhelm von Humboldt mit der Weiterführung des Plans beauftragt. Es sollte eine neue Form von Universität geschaffen werden, und dabei ging es nicht zuletzt darum, die geschwächte geopolitische Stellung Preußens zunächst im Inneren,

1

Weniger, Erich/Schulze, Theodor: »Anmerkungen«, in: Schleiermacher, Friedrich: Pädagogische Schriften, 2 Bde., Bd. 2: Abhandlungen und Zeugnisse. Hg. von Weniger, Erich/Schulze, Theodor, (1957) Frankfurt/Main: Ullstein 1984, S. 211-240, hier S. 229.

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durch kulturelle Erneuerung, zu stärken und verlorenes Terrain zumindest auf ideellem Gebiet wiederzuerlangen. Abbildungen 1 und 2: Territorium Preußens 18062 und nach dem Frieden von Tilsit 1807

2. Die wesentliche Funktion der Universitäten des europäischen Mittelalters hatte darin bestanden, die vorhandene Lehre, das Wissen, »das in einem einheitlichen Erkenntnis- und Weltsystem zusammengefaßt war«, 3 mündlich zu überliefern. Die ersten Universitäten wurden im frühen 11. Jahrhundert gegründet; sie waren Rechtsschulen – wie in Bologna – oder Medizinschulen, anfänglich also eigentlich nur Fakultäten, in denen der Gelehrtennachwuchs für wenige Fächer ausgebildet wurde. Im 12. Jahrhundert erreichte die Welle an Gründungen dieser neuen Institution gelehrten Wissens, die neben die Klöster trat, sodann Paris, Oxford, Salamanca, Montpellier und Padua und im 14. Jahrhundert auch den deutschen Sprachraum. Obwohl im Hochmittelalter entstanden, waren die Universitäten jedoch schon Vorboten der Neuzeit, Orte einer sich herausbildenden neuen Bedeutung des Wissens und auch der allmählich einsetzenden Säkularisierung, Verweltlichung des Wissens. Damit trat, neben die Aufgabe der Wissens2

Quelle: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Landkarte_Preußen_ 1806 _lower.jpg – Die Farbinformationen der in diesem Beitrag verwendeten Abbildungen wurden verworfen. – Das Datum des letzten Zugriffs auf sämtliche Hyperlinks in diesem Beitrag ist 13. August 2010.

3

Weniger/Schulze (Hg.): Schleiermacher, Pädagogische Schriften 2, S. 230.

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tradierung, die auch Kirchen und Klöster hatten, in den Universitäten immer mehr auch das Interesse am Neuen, beispielsweise am Wissen, das in anderen Regionen in- und außerhalb Europas entwickelt wurde, und gleichzeitig an der Erweiterung der Weltsicht. Machtpolitisch bedeutsam waren die mittelalterlichen Universitäten für den Herrschaftsbereich der Kaiser und der Päpste des römischen Reichs. Und sie waren kosmopolitisch, etwa durch die gemeinsame europäische Gelehrtensprache, das Lateinische, mithin noch keine nationalstaatlichen Institutionen. Dies änderte sich erst Jahrhunderte später, nämlich im Gefolge der Französischen Revolution und für Deutschland speziell nach der formellen Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im Jahre 1806. Abbildung 3: Universitärer Lehrbetrieb in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts4

4

Quelle: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Laurentius_ de_Voltolina_001.jpg

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Aber schon zuvor war die überkommene Wissensauffassung in eine Krise geraten: Die Dialektik von Tradition und Innovation,5 die die Universität gekennzeichnet hatte, war mehr oder weniger stillgestellt; Entwicklung und Austausch neuen Wissens geschahen längst anderenorts: in gelehrten Gesellschaften oder Akademien wie der Royal Society, gegründet 1660 in London, in der Académie des sciences, gegründet wenig später in Paris, oder in der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften, gegründet 1700 in Berlin. Die alten Formen der mündlichen Übermittlung des Wissens waren durch die Erfindung der Buchdruckerkunst überholt, insbesondere aber auch durch die neuen naturwissenschaftlichen Methoden des Zeitalters der Aufklärung in Frage gestellt: Naturbeobachtung, Experiment, Sammlung und Interpretation empirischer Daten und Fakten. Abbildung 4: Observatorium des Johannes Hevelius (1611-1687) in Danzig6

5

Vgl. Rüegg, Walter: »Einleitung«, in: ders. (Hg.): Geschichte der Universität in

6

Quelle: Wikipedia, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gdansk_obserwato

Europa. (4 Bde.) Bd. 1: Mittelalter. München: C. H. Beck 1993, S. 18. rium_Heweliusza_1640.jpg

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Abbildung 5: Die Stube des Naturlehrers (Chodowiecki 1791)7

Diese neuen Methoden jedoch hatten an den Universitäten noch kaum einen Ort. Daher dachte man zeitweilig sogar daran, die Universitäten ganz abzuschaffen und an ihre Stelle höhere Fachschulen zu setzen.

3. Wie wir wissen, kam es aber dann ganz anders. 1809 unterzeichnete der preußische König die Stiftungsurkunde für die neue Universität in der Hauptstadt, und 1810 nahm die Einrichtungskommission ihre Arbeit auf. An die Stelle der Überlieferung des tradierten Wissens sollte die »Erweckung der Wissenskraft« treten.8 Denn selbst diejenigen Bevölkerungsgruppen, schrieb Schleiermacher, die »ihr Geschäft am allermeisten nach hergebrachter Gewohnheit behandeln«, verlangten inzwischen danach, dass andere ihnen ihr Tun »erklären und verständig … rechtfertigen. Dies alles weiset auf die Wissenschaft hin«.9 7

Mit freundlicher Genehmigung der Zentralen Kustodie des Universitätsmuseums und des Kupferstichkabinetts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

8

Weniger/Schulze (Hg.): Schleiermacher, Pädagogische Schriften 2, S. 230.

9

Schleiermacher, Friedrich: »Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn« (1808), in: Weniger/Schulze (Hg.): Schleiermacher, Pädagogische

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Ein neues Zeitalter brach an, nicht nur in England, wo die kapitalistische Produktionsweise am weitesten vorangeschritten war, und nicht nur in Frankreich, wo sich gezeigt hatte, dass man spätfeudalen Herrschaftsverhältnissen von jetzt auf gleich ein Ende setzen konnte, sondern auch in deutschen Ländern. In Preußen setzte man dabei auf eine Reihe tiefgreifender Reformen,10 die die bürgerlich-kapitalistische Modernisierung beförderten und, durch Umwälzungen nicht zuletzt im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, einen modernen National- und Verfassungsstaat schaffen sollten. Die Universitäten wurden Institutionen des Nationalstaats – ein Funktionswandel, der auch in anderen europäischen Ländern stattfand. In den Universitäten begann sich nun der schon zuvor angelegte Konflikt zwischen wissenschaftlicher Wahrheitssuche um ihrer selbst willen auf der einen und dem Interesse an gesellschaftlicher und materieller Verwertung von Wissen und Ausbildung auf der anderen Seite zu entfalten.11 Im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen vom Sinn einer Universität führte Schleiermacher aus, Wissenschaft könne nicht Sache des einzelnen, sondern müsse ein gemeinschaftliches Werk sein, zu dem jeder seinen Beitrag liefere; nicht etwas, das »für sich allein dargestellt wird«, wodurch es nur bruchstückhaft, »unverständlich und verworren« erscheine, sondern ein Gesamtwerk, wo jedes einzelne Teil und Gebiet »nur in Verbindung mit allem übrigen ganz« durchschaut werden könne und wo »die Ausbildung jedes Teiles von der aller übrigen abhängig« sei.12 Die Urheber der neuen Idee der Universität vertraten zum einen die Notwendigkeit einer »Einheit aller Wissenschaft« und zum anderen, da alle Teile des Wissens als Wissenschaft miteinander zusammenhingen, eine »ausgebreitete Gemeinschaft«13 derjenigen, die sie betrieben. Unter Berufung auf dieses Wissenschaftsverständnis insistieren zuweilen bis heute nicht nur Universitätspräsidenten

Schriften 2, S. 81-139, hier S. 82. Der Zusatz »in deutschem Sinn« war als Abgrenzung vom französischen Modell des höheren Bildungswesens zu verstehen. 10 Übrigens vornehmlich Verwaltungsreformen, ähnlich wie heute und mit nicht weniger weitreichenden Konsequenzen für die umstrukturierten Bereiche. 11 Vgl. Rüegg: Geschichte der Universität, S. 19. – Der Wissenschaft könne »es leicht gefährlich werden, wenn das bloße Geld den Gelehrten zur Lockspeise gemacht« werde; Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken, S. 87. 12 Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken, S. 87. 13 Ebd., S. 83.

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darauf, dass eine Universität alle Zweige der Wissenschaft unter ihrem Dach vereinigen müsse, um den Namen zu verdienen.

4. Als Institution nationalstaatlicher Prägung war die Universität Teil eines Systems von Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen, das die gesamte Nation umspannen und durchdringen, ja die Nation geradezu hervorbringen sollte. Nach dieser Auffassung galten Schulen, Universitäten und Akademien als Teile eines umfassenden Netzes von Institutionen der Wissenschaft, als »die drei Hauptformen«, in denen »sich jetzt alle Vereinigungen zum Betrieb der Wissenschaften gestalten«. Schleiermacher nennt erstens die Schulen, »durchaus gymnastisch, die Kräfte übend«, sie besäßen daher ihren fremden Namen, Gymnasium, mit Recht. Den Absolventen des gymnasialen Bildungsgangs, das heißt den künftigen Studierenden, kamen später die Leitungsfunktionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen, vor allem in Staat, Kirche und Wissenschaft zu. Zweitens nennt er die Akademien als die Versammlung der »Meister der Wissenschaft«,14 gedacht als sozial-kommunikative Verbindung der Gelehrten, die die Einheit und den Zusammenhang der Wissenschaften sozusagen in der Horizontalen sichern würde. Die Akademien sollten die Gewinnung neuer Erkenntnisse vorantreiben und sich dazu fachlich untergliedern. Und drittens nennt er schließlich die Universitäten, die die Einheit und den Zusammenhang des Wissens gewissermaßen in der Vertikalen sichern würden, indem sie zwischen Schulen und Akademien vermitteln. Gedacht war diese Mittlerrolle der Universitäten so: Während die Schulen die Knaben und Jünglinge (an Jungfrauen war hierbei noch nicht gedacht) durch Vermittlung einer »Grundlage von Kenntnissen« so auf die Wissenschaft vorbereiten sollten, dass das Lehren und Lernen an der Universität darauf aufbauen konnte, hatten es die Akademien, am anderen Ende des Kontinuums, mit der gemeinschaftlichen und zugleich spezialisierten Beförderung der Wissenschaften zu tun. Schleiermacher schreibt: »Offenbar wird also vorausgesetzt, jedes Mitglied einer Akademie sei über die philosophischen Prinzipien seiner Wissenschaft mit

14 Ebd., S. 92.

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sich selbst und den übrigen« bereits einig und »behandle sein Fach mit philosophischem Geist«. Aber, fragt er, soll »dieser Geist dem Menschen von ohngefähr kommen im Schlaf?« Können der philosophische Geist, die Prinzipien wissenschaftlichen Wissens und Arbeitens aus dem Nichts kommen? Und er folgert: »Hier also liegt das Wesen der Universität. Diese Erzeugung und Erziehung liegt ihr ob«.15 Die Aufgabe der Universität sei es, dafür Sorge zu tragen, dass die Jünglinge »das Vermögen, selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen allmählich in sich herausarbeiten«.16 Humboldt vertrat ein ähnliches Konzept, wenn er auch eine weniger strikte Arbeitsteilung zwischen Universität und Akademie im Sinn hatte: Er sah die Schaffung neuen Wissens in stärkerem Maße auch als Aufgabe der Universität selbst an. Die geschlechtsspezifische Beschränkung hatten Humboldt und Schleiermacher übrigens mit den meisten Zeitgenossen gemeinsam. Und da die Universität die künftigen politisch Leitenden heranzubilden hatte, ergibt sich von selbst, dass sie nicht für die Geleiteten, d.h. nicht für die Mehrheit der Bewohner des Landes gedacht war, auch übrigens nicht für die Angehörigen der Wirtschaftsbourgeoisie mit ihrer ökonomischen Leitungsfunktion. Deutlich wird dabei auch die Funktion der Universität für die »Bildung der Nation«, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen zielte das klassische Bildungs- und Wissenschaftsverständnis auf die Bildung aller zu Staatsbürgern; daraus ergab sich zum Beispiel die starke Favorisierung der Landessprache als Wissenschaftssprache, so dass der kosmopolitische Grundzug der mittelalterlichen Universität weitgehend entfiel. Zum anderen erhielt die Universität als Wissenschafts- und Bildungsinstitution eine Art Leuchtturmfunktion für die Vereinigung der territorial zersplitterten deutschen Länder zur »Nation«.17 Dabei wurde auch der neue kulturelle Führungsanspruch Deutschlands in Europa bedacht, etwa wenn es heißt, dass die drei Hauptformen von Vereinigungen zum Betrieb der Wissenschaften »zwar überall im neueren Europa« vorkämen; aber man könne »wohl Deutschland als den Mittelpunkt der Bildung ansehn, weil in anderen Ländern zwar einzelne dieser Formen, Schulen besonders und Akade-

15 Ebd., S. 94. 16 Ebd., S. 95. 17 Ebd., S. 86.

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mien … vorkommen, alle drei nebeneinander aber nirgends so rein heraustreten als bei uns«.18 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kamen den Universitäten im deutschen Kaiserreich sodann auch Funktionen für Lehre und Ausbildung im Rahmen der imperialen Verwaltung der deutschen Kolonien zu. Die Universität Hamburg entstand ab 1919 aus dem vormaligen Kolonialinstitut, nachdem Deutschland mit dem Ersten Weltkrieg seine ÜberseeKolonien verloren hatte. Schließlich setzte nach dem Zweiten Weltkrieg in führenden OECD-Ländern die Phase einer allgemeinen Bildungsexpansion ein – und damit die Umstrukturierung zur Massenuniversität, mit ihrer in Deutschland inzwischen vier Jahrzehnte andauernden strukturellen Unterfinanzierung der Lehre.

5. Einen interessanten Blick auf die spezifisch deutsche Universitätsentwicklung markiert die Schrift Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen (1963) des einflussreichen Soziologen Helmut Schelsky. »Für Humboldt«, schreibt Schelsky, »stellt das Leben an einer Universität eine grundsätzlich gleichberechtigte Gelehrtengeselligkeit von Professoren und Studenten dar, die auf der selbständigen und einsamen Lern- und Forschungstätigkeit beider beruht. Im Prinzip kann die wissenschaftliche Tätigkeit des Professors und des Studenten nicht unterschieden werden: Beide werden als selbständige Individuen in sittlicher und geistiger Vervollkommnung vorgestellt, die durch ihr wissenschaftliches Suchen sich selbst immer mehr zur Individualität steigern.«

Daher komme es Humboldt gar nicht auf das Maß an Wissen an, das jemand beherrscht, »sondern auf diese Einstellung des wissenschaftlichen Suchens, auf den Drang zum Wissen, zur Erkenntnis, zur Wahrheit, darauf eben, daß man die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im 18 Ebd., S. 91.

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Forschen bleiben müsse. Dieser Erkenntnisdrang aber kann und soll grundsätzlich bei Professoren und Studenten gleichmäßig vorhanden sein; er soll das sie auch sozial Verbindende darstellen, und diese Einheit und Gleichheit des Erkenntnisstrebens muß auch institutionell die Grundlage der Universitätsorganisation bilden.« 19

Humboldts Forderung nach Emanzipation vom eigentlichen Lehren setze die Universität vor allem von der Schule ab: »jede Verschulung der Universität verstößt für ihn fundamental gegen den Geist der Wissenschaft«20 und daher »sind alle Veranstaltungen der Wissensvermittlung an der Universität zweitrangig«. Für den Studenten komme es »in einer solchen Universität darauf an, diese geisterfüllte Geselligkeit einige Jahre mitzuleben und so die Form des gebildeten Daseins sich als dauerhaften Lebensanspruch an sich selbst, als Haltung, einzuverleiben.«21 Das Verhältnis der Professoren und der Studenten zueinander sehe Humboldt, so Schelsky weiter, »in der Begegnung Gleichberechtigter in einem sokratischen Dialog«. Modern ausgedrückt, sehe er »den Fortschritt der Wissenschaft in der Begegnung von perfektioniertem wissenschaftlichen Fachwissen mit der gegen das Festgelegte opponierenden Phantasie«.22 Und eben hierin bestehe »der institutionelle Grundgedanke einer ›Forschungsuniversität‹.«23 Zwei Jahre nach dieser Veröffentlichung, 1965, wurde Schelsky mit der Gründung und dem Aufbau der Universität Bielefeld beauftragt, und er konturierte sie unter ausdrücklicher Berufung auf die klassische Universitätsidee Humboldt’scher Prägung als Forschungsuniversität. Auf einer Tagung unter dem Titel Was war Bielefeld? wurde die Gründungsgeschichte der Bielefelder Reformuniversität kürzlich resümiert. Dabei stellte man fest:

19 Schelsky, Helmut: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, (1963) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970, S. 91. 20 Ebd., S. 92. 21 Ebd., S. 93. 22 Ebd., S. 94. 23 Ebd., S. 95.

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»Die zentralen Merkmale waren Konzentration auf eine Forschungsuniversität, die sich auf wenige Themen spezialisierte, das heißt nicht das Spektrum der Volluniversität [mit allen Fächern] erfüllt, sondern wenige wichtige Fächer, die allerdings in großer Stärke, versammelt. Zweitens war das Konzept, dass die Lehre regelmäßig unterbrochen wird von Forschungsjahren – ein Jahr Forschung, ein Jahr Lehre. Und drittens ein ideales Betreuungsverhältnis von einem Professor auf 30 Studenten.«24

Für die Professorinnen und Professoren der Universität Hamburg beispielsweise besteht mit der derzeitigen durchschnittlichen Regellehrverpflichtung von neun Semesterwochenstunden, in Verbindung mit der beispielsweise in der Erziehungswissenschaft angesetzten regelhaften Seminargröße von 30 Studierenden, rechnerisch ein Betreuungsverhältnis von 1 zu 135 (statt von 1 zu 30). Und ein Forschungssemester (nicht -jahr) muss eigens beantragt und bewilligt werden und setzt vier Jahre Lehre voraus (statt einem).25 Auch für die Universität Bielefeld, an der ich selbst bis 1985 in einem Forschungsinstitut gearbeitet habe, kam es anders, genauso wie für die übrigen staatlichen Universitäten in Deutschland, die heute Massenuniversitäten sind – mit einem Lehrbetrieb, der von jenem Konzept sehr weit entfernt ist.

24 »Was war Bielefeld?« Jahrestagung der Klassik Stiftung Weimar fragt nach der geistigen Physiognomie politischer Konversion der Universität Bielefeld, in: Deutschlandfunk am 25.2.2007, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheu te/598338/. – Ein 2009 erschienener gleichnamiger Tagungsband »versucht der Frage auf den Grund zu gehen, ob in jenen zwei Jahrzehnten in Bielefeld ein Denkstil vorhanden gewesen sei, der die dort lehrenden Sozial- und Geisteswissenschaftler und möglicherweise auch Studierenden vereint habe.« Zitiert nach der Rezension von Eva Bürger zu Sonja Asal/Stephan Schlak (Hg.): Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage. Göttingen: Wallstein 2009, in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-150 25 Zugegebenermaßen ein grober Vergleich, der aber doch einige Unterschiede verdeutlicht.

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6. Aber noch in anderer Hinsicht ist die klassische liberale Universitätsidee seit geraumer Zeit in Frage gestellt. Unter dem Titel Der Abschied von der Volluniversität ist längst vollzogen konstatiert der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, dass den Universitäten die mit der neuen Studienstruktur angestrebte Praxis- und Berufsorientierung nicht einmal ansatzweise so gelingt wie den Fachhochschulen und dass sie obendrein »ihre spezifischen Qualitäten (verlieren)«, nämlich »die wissenschaftliche, forschungsnahe, also gerade nicht berufsvorbereitende Ausbildung der Studierenden.« Am Ende gebe es einen Kompromiss, der niemandem dient: »Weder ist das Studium berufsorientierend, noch ist es wissenschaftlich und forschungsnah.« Und er fährt fort: »Auch die ›funktionale Differenzierung‹ gelingt nicht. Zwar wird durch die Exzellenzinitiative viel Geld in einige Spitzenhochschulen gesteckt. Aber was ist mit den anderen Universitäten, die schon jetzt deutlich unterausgestattet sind? In denen vier, fünf Lehrende ein Fach mit ein paar hundert Studierenden am Laufen halten? In denen nicht einmal Geld genug vorhanden ist, um die Bibliotheken ordentlich auszustatten? Wenn es gutgeht, bilden sie Profile, konzentrieren sich auf wenige Disziplinen, gehen enge Verbindungen mit regionalen Arbeitgebern ein, stärken die Berufsorientierung. Warum müssen sie dann dem Fetisch ›Volluniversität‹ nachlaufen? Warum darf man sie dann nicht nennen, was sie sind – Fachhochschulen?«

Wenn es aber nicht gutgeht, so Herbert weiter, und dafür spreche eben vieles, »bildet sich kein Profil, wird gute Lehre durch Unterfinanzierung verhindert, werden vor allem jene Disziplinen angeboten, die wenig kosten, aber viele Studierende aufnehmen – mit entsprechenden Folgen für die Qualität des Studiums und die Berufsaussichten der Absolventen«.26

Das vertraute Bild.

26 Herbert, Ulrich: »Der Abschied von der Volluniversität ist längst vollzogen«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 120 vom 27. Mai 2010, S. 8.

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7. In Wirklichkeit sind die Dinge aufgrund des Stellenwerts der Universitäten in der Lissabon-Strategie der Europäischen Union sogar noch um Einiges komplizierter. Auf der Tagung des Europäischen Rats in Lissabon im März 2000 war zum Ziel erklärt worden, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen«.27 Insbesondere das Internet sollte entsprechend entwickelt werden, und das ist inzwischen auch geschehen. Es geht dabei erklärtermaßen vorrangig um die Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Basis der Industrie und die Beförderung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit, und diesem Ziel ist die Entwicklung der Universitäten mittlerweile weitgehend untergeordnet. Wie sehr die Situation der Universitäten, die noch vor wenigen Jahrzehnten einigermaßen zutreffend als nationalstaatliche Institutionen angesehen werden konnten, sich inzwischen gewandelt hat, lässt sich anhand ihrer Einbettung in die National Research and Education Networks (NREN), die weltweit vernetzten nationalen elektronischen Bildungs- und Forschungsnetze illustrieren. In Deutschland wurde das erste elektronische Wissenschaftsnetz – kurz: WiN – 1985 von elf Hochschulen, einigen Industrieunternehmen und dem Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) gegründet. 1989 gab es ein erstes Backbone-Netz, 1995 ein erstes Breitband-Wissenschaftsnetz (B-WiN), 2000 das Gigabit-Wissenschaftsnetz G-WiN mit nationalem Backbone und zentralen Zugangsknoten, und derzeit besteht das X-WiN. »An vier Stellen überqueren die Glasfaserkabel des X-WiN die bundesdeutschen Grenzen und stellen den Zugang von und zu den Hochschulen der Nachbarländer her. […] Auf den High-Speed-Strecken des Netzes gilt die Richtgeschwindigkeit

27 Europäischer Rat: »23. und 24. März 2000. Lissabon. Schlussfolgerungen des Vorsitzes«, in: Europäisches Parlament, http://www.europarl.europa.eu/sum mits/lis1_de.htm. – Vgl. zum Folgenden auch Lohmann, Ingrid: »Universities, the internet and the global education market«, in: World Yearbook of Education 2006: Education research and policy. Steering the knowledge-based economy, Ozga, Jenny/Seddon, Terri/Popkewitz, Thomas S. (Eds.), London/New York: Routledge 2006, S. 17-32.

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von einem Terabit pro Sekunde. Das heißt: Der Inhalt von 25 handelsüblichen DVDs kann theoretisch binnen einer Sekunde übertragen werden. Von der Atlantikküste aus gehen […] Unterseekabel in die USA.«

Wissenschaftler nutzen seine Übertragungskapazitäten, heißt es weiter, »für ihre oft rechenintensiven Forschungsarbeiten. Auch Unternehmen und Sicherheitsbehörden verfügen über eigene Netze. Zum Teil beruhen sie auf eigenen Kabelnetzen«; meist aber sind sie mit dem öffentlichen Internet verknüpft, allerdings mit »kontrollierter Bandbreite oder kontrollierten Übergangspunkten, die gesperrt werden können.«28 X-WiN ist der Motor eben jenes digitalen Netzes, das wir alle tagtäglich nutzen und auf das wir wohl nicht mehr würden verzichten wollen. Ihm verdanken wir den erreichten Ausbaustand des »öffentlichen Internet«, das an der Weiterentwicklung von X-WiN partizipiert. Koordiniert wird der Ausbau der Infrastruktur für die digitalen Netze hierzulande vom Verein zur Förderung eines Deutschen Forschungsnetzes e.V. mit Sitz in Berlin, kurz DFN-Verein. Dieser erläutert den Zweck von X-WiN wie folgt: »Das Wissenschaftsnetz X-WiN ist die technische Plattform des Deutschen Forschungsnetzes. Über das X-WiN sind Hochschulen, Forschungseinrichtungen und forschungsnahe Unternehmen in Deutschland untereinander, mit den Wissenschaftsnetzen in Europa und auf anderen Kontinenten verbunden.«29

28 Killer, Achim: »Das verborgene zweite Internet der Forscher«, in: Welt-Online vom 16. März 2010, http://www.welt.de/webwelt/article6784738/Das-verborge ne-zweite-Internet-der-Forscher.html 29 DFN-Verein: Das Wissenschaftsnetz X-WiN, http://www.dfn.de/win/

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Abbildung 6: Topologie des deutschen Wissenschaftsnetzes30

Das hiermit vor allem angesprochene europäische Wissenschaftsnetz, GÉANT,31 verbindet in der derzeitigen Generation, über die angeschlossenen nationalen und regionalen Bildungs- und Forschungsnetzwerke, ungefähr 40 Millionen Nutzer in 8000 Institutionen und 40 Ländern. Finanziert wird es durch die beteiligten Nationalstaaten sowie durch die Europäische Kommission. Im Auftrag der nationalen Forschungsnetzwerke wird GÉANT geplant und koordiniert durch DANTE, Delivery of Advanced Network Technology to Europe Ltd. mit Sitz in Cambridge (UK).

30 Quelle: Killer: Das verborgene zweite Internet der Forscher. 31 Französisch für: Gigant; Kürzel für Gigabit Européenne Academic Network Technology.

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Abbildung 7: GÉANT Backbone-Topologie 200932

32 Quelle: GÉANT, http://www.geant.net/MEDIA_CENTRE/MEDIA_LIBRARY/ Pages/Maps.aspx

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Abbildungen 8 und 9: GÉANT-Glasfaserkabelnetz, Ausbaustand 2004 und 200933

Abbildung 10: Virtueller Raum, entwickelt von T-Systems und Polytechnischer Universität Madrid:

»In this room, companies and research institutes can depict and examine projects in 3D before they start production. This minimizes production risks and saves development costs. According to a study by Assure Consulting, project errors cost the economy some EUR 10 billion per year.«34

Mitglieder des DFN-Vereins sind staatliche und private Universitäten, Fachhochschulen, außeruniversitäre Großforschungseinrichtungen, Fachin33 Quelle: GÉANT. 34 Quelle: T-Systems: »Virtual world opens in Madrid. Together with the Polytechnic University of Madrid, T-Systems has set up the first virtual room with 5 projection views in Europe«. May 19, 2010. http://www.t-systems.com/tsi/ en/877426/Home/PublicSector/TopStories/Details/2010-05-19-VR-Center-Mad rid

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formationszentren, das Bundesministerium des Inneren, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und viele andere, ferner führende Unternehmen der IT-Branche: Cisco Systems, Deutsche Telekom, Dimension Data, GasLINE, Juniper Networks, Network Laboratories, NextiraOne, T-Systems International und T-Systems Solutions for Research. Diese liefern die Netzinfrastruktur für Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Industrie, in Deutschland, in Europa und rund um den Globus, das heißt sie sind auch an der Erstellung des übrigen weltweiten Datennetzes beteiligt, zu dem die Research and Education Networks der nord- und südamerikanischen, afrikanischen, asiatisch-pazifischen, Schwarzmeer- sowie Mittelmeeranrainerländer gehören.

Abbildung 11: GÉANT im Verbund mit dem weltweiten Datennetz

Quelle: eigene Collage aus den jeweiligen Websites.

Unter den außeruniversitären Großforschungseinrichtungen, die Mitglieder des DFN-Vereins sind, ist exemplarisch die Fraunhofer-Gesellschaft zu nennen, »die größte Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa«. Ihre Auftraggeber sind Industrieunternehmen, Dienstleistungsunternehmen und die öffentliche Hand; zu ihr gehören »mehr als 80 For-

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schungseinrichtungen, davon 59 Fraunhofer-Institute an Standorten in ganz Deutschland« sowie »17 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, überwiegend mit natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Ausbildung«. Sie verfügt über ein Forschungsvolumen von 1,6 Milliarden Euro jährlich, »davon 1,3 Mrd. € im Leistungsbereich Vertragsforschung«.35 Zwischen Universitäten und Fraunhofer-Instituten besteht Arbeitsteilung im Bereich der Grundlagenforschung, wobei die »reine Grundlagenforschung« eher an den Universitäten situiert ist, während die Fraunhofer-Gesellschaft im Bereich »zwischen anwendungsorientierter Grundlagenforschung und innovativer Entwicklung (arbeitet) «.36 Insgesamt werden universitäre und außeruniversitäre Grundlagenforschung im Zuge der Lissabon-Strategie enger miteinander verzahnt. Und hierin besteht auch die eigentliche Rationale des Bologna-Prozesses mit seiner Forderung nach Berufsbezug und Praxisrelevanz der neuen Studienstruktur, die in erster Linie auf die AbsolventInnen unmittelbar kapitalverwertungsrelevanter Fächer abzielt. Diese Verflechtungen zwischen der Welt der Wissenschaft und der business community – vermittelt durch die digitale Netzinfrastruktur, die diese Verflechtungen auf eine historisch neuartige Stufe bringt – bilden die materielle Basis der so genannten Wissensgesellschaft. Und diese materielle Basis besteht ziemlich unabhängig von politischer Rhetorik um die Erhöhung oder Senkung der Staatsausgaben für Bildung und Forschung. Der Ausbau der digitalen Netze ist so oder so gesichert, denn er hat auf EU-Ebene wirtschaftspolitische Priorität. Dies also sind die realen Beziehungen, in denen sich auch und gerade die Universitäten heute befinden, und sie sind es auch, die heute maßgeblich das Kräfteverhältnis im Hinblick auf die Frage bestimmen, was eigentlich der Zweck der Universität sei.37 Dabei ist die business community gar

35 Fraunhofer Gesellschaft: Homepage, »Über Fraunhofer«, http://www.fraunho fer.de/ueber-fraunhofer/ 36 Fraunhofer Gesellschaft: Homepage, »Geschäftsmodell«, http://www.fraunho fer.de/ueber-fraunhofer/geschaeftsmodell/ 37 Wie sie etwa gestellt wird in Liesner, Andrea/Sander, Olaf (Hg.): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs, Bielefeld: transcript 2005. – Oder in Sambale, Jens/Eick, Volker/Walk, Heike (Hg.): Das Elend der Universitäten. Neoliberalisierung deutscher Hochschulpolitik, Münster: Westfälisches Dampf-

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nicht daran interessiert, selbst in größerem Stil weitere Finanzmittel für Bildung und Forschung aufzuwenden, solange sich diese aus öffentlichen Haushalten bestreiten lassen und sie ausgesuchte AbsolventInnen und Forschungsergebnisse ohnehin nach eigenem Belieben abschöpfen kann. Wie Ulrich Bartosch zutreffend feststellt, lässt ein Passus in einem Arbeitspapier der EU-Kommissionsdienststellen von 2009 die Hochschulen nunmehr vollständig als Teil der Unternehmenswelt erscheinen.38 Darin heißt es: »In der Mitteilung der Kommission ›Das Modernisierungsprogramm für Universitäten umsetzen: Bildung, Forschung und Innovation‹ wurde die Schlüsselrolle der Universitäten für Europas Zukunft und für den erfolgreichen Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft hervorgehoben. Es wurde der Bedarf an einer grundlegenden Neuorientierung und Modernisierung des Sektors unterstrichen, um zu vermeiden, dass Europa im weltweiten Wettbewerb in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation unterliegt. Unternehmen, so wurde vorgeschlagen, könnten einen Beitrag in drei Bereichen leisten: •

Lenkungsformen: Modelle des Unternehmensmanagements könnten auf die Hochschulwelt übertragen werden.



Finanzierung: Unternehmen könnten bei der Finanzierung von Hochschulaktivitäten sowohl im Bereich Bildung als auch im Bereich Forschung eine Rolle spielen. Und



Studienpläne: Die Studierenden benötigen die Art der Bildung, die sie auf die zukünftige Arbeitswelt vorbereitet. Unternehmen können bei der Definition der Anforderungen helfen und solche Praktika anbieten, die Studierende beim Übergang vom Studien- zum Arbeitsleben unterstützen. Außerdem müssen Unternehmen darin bestärkt werden, ihre Mitarbeiter im gesamten Verlauf ihres Berufslebens für Weiterbildungen und die Aktualisierung ihrer Fähigkeiten freizustellen. boot 2008. – Und in Liesner, Andrea/Lohmann, Ingrid (Hg.): Bachelor bolognese. Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur. Opladen und Farmington Hills: Barbara Budrich 2009.

38 Bartosch, Ulrich: »Die Europäisierung der Hochschullandschaft und die Einführung von Qualifikationsrahmen«, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), 21 (2010) 41, S. 73-91, hier S. 84.

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Mit der erneuerten Lissabon-Strategie wird die Bedeutung einer partnerschaftlichen Herangehensweise unterstrichen: alle Interessengruppen auf gemeinschaftlicher, nationaler, regionaler und lokaler Ebene müssen sich die Lissabon-Strategie zu Eigen machen. Zur Gestaltung der Zukunft Europas sollten alle ihren Beitrag leisten. Mobilisierung und gemeinsame Anstrengungen sind die Schlüssel zum Gelingen der Partnerschaft. Die entscheidenden Akteure in solchen Partnerschaften sind dabei Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen.«39

Wenn auch bei der strategischen Verzahnung von Lissabon-Strategie und Bologna-Prozess40 das Augenmerk weniger auf die Mitglieder der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächer gerichtet ist: Wir sind heute Betroffene und Beteiligte in einem Funktionswandel der Universität, der unstreitig historische Ausmaße hat.

8. Mit Blick auf die USA stellen Slaughter und Rhoades in ihrem Buch Academic Capitalism and the New Economy fest: »Wie Wirtschaftsunternehmen haben auch Colleges und Universitäten begonnen, Wissen als Rohmaterial zu behandeln. Vor 1981 wurden weniger als 250 Patente pro Jahr an Universitäten vergeben. 1999 meldeten Colleges und Universitäten 5.545 Patente an. 1978 gestatteten einige Universitäten den Ankauf von Unternehmensan-

39 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen. Begleitdokument zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen »Eine neue Partnerschaft zur Modernisierung der Hochschulen: EU-Forum für den Dialog zwischen Hochschule und Wirtschaft«. Zusammenfassung der Folgenabschätzung, Brüssel 2009, S. 2f, http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=SEC:2009:0424:FIN:DE :DOC 40 Vgl. dazu auch Liesner, Andrea: »Die Standardisierung der deutschen Hochschullandschaft – Dynamik der Autonomiedemontage«, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), 21 (2010) 41, S. 119-126.

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teilen durch Lizenzierung ihrer Technologie; bis zum Jahr 2000 hatten 70 Prozent aus einer Auswahl von 67 Forschungsuniversitäten an mindestens einem Kapitalunternehmensabschluss teilgenommen.«41

Neben der Verflechtung mit Industrie, Banken und Konzernen, in deren Rahmen auch die staatlichen Universitäten zu direkten Akteurinnen des globalen Kapitalkreislaufs werden, treten corporate universities auf dem global education market in Erscheinung. Corporate universities sind die Fort- und Weiterbildungsabteilungen von Großkonzernen wie Bertelsmann, Boeing, IBM, Microsoft, Motorola, Deutsche Telekom, Lufthansa, Deutsche Bank, Dresdner Bank, Siemens, SAP und so weiter: »40 Prozent der größten Unternehmen der Welt verfügen bereits über Firmen-Universitäten.« In den USA betrug ihre Zahl 2007 ungefähr 1700. »Diese Firmenhochschulen bemühen sich, die Bezeichnung University durch Kooperationen mit renommierten Business Schools zu legitimieren. Bekannte Unternehmen wie Daimler, MLP und Bertelsmann arbeiten daher mit hochkarätigen Eliteschulen zusammen«. 42

9. Was folgt aus diesen engen macht- und geldvermittelten Verflechtungen für das Wissenschaftsverständnis? Wie weit kann sich eine Universität, die den Namen verdient, darauf einlassen, mit überaus partikularen Interessen, wie Banken und Konzerne sie repräsentieren, dermaßen eng verflochten zu sein? Dass die Idee der Universität, so wie wir sie kennen, und mit ihr die Wissenschaft selbst in der Krise ist, wird derzeit von verschiedensten Beobachtern speziell in OECD-Ländern kritisch analysiert. Die Dimensionen der Krise, die zum Teil auf durchaus unterschiedlichen Ebenen gesehen werden, lassen sich in Fragen zusammenfassen wie:

41 Slaughter, Sheila/ Rhoades, Gary: Academic Capitalism and the New Economy. Markets, State, and Higher Education. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2004, S. 17. 42 Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Corporate_University

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1. Sollen die Universitäten Institutionen der Massenbildung oder der Elitenbildung sein? 2. Sollen sie Praxis- und Berufsbezug, also ihre Ausbildungsfunktion unterstreichen oder Wissenschaft um der Wissenschaft und des Erkenntniszuwachses willen betreiben? 3. Sollen Universitäten alle Wissenschaften umfassen, oder sollen sie Profile um starke Fächerschwerpunkte bilden? 4. Sollen sie transnationale Konzerne im Kampf um globale Konkurrenzvorteile stärken, oder sind sie der Demokratisierung des Wissens, überhaupt dem Kampf um Demokratisierung unserer Gesellschaften oder gar einem planetarischen Emanzipationsprojekt verpflichtet? 5. Haben Universitäten zusammen mit den großen Erzählungen der Moderne, die seit der Aufklärung das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit legitimierten, ausgedient, oder werden sie gerade deshalb überleben, weil sie sich heute einer neuen Metaerzählung unterwerfen, nämlich der neoliberalen vom Segen des freien Marktes? 6. Und damit zusammenhängend, sollen Universitäten unternehmensförmig oder demokratisch strukturiert und geleitet werden? 7. Sollen sie Bildungsinstitutionen der wohlhabenderen Mittel- sowie der Oberschichten bleiben, wie es in der Moderne durchweg der Fall war, oder können sie sich in nennenswertem Maße Nachwachsenden aus den lohnabhängigen Schichten öffnen? 8. Wie weit soll der gesellschaftliche Nutzen reichen, dem sich Universitäten in ihrem Leitbild und in ihren realen Praktiken verpflichtet sehen: bis in die Region, in den Nationalstaat, nach Europa oder in die Welt? Und wie wäre es ggf. möglich, diese pluralen Zugehörigkeiten und Einbindungen im Sinne Amartya Sens gleichermaßen ernst zu nehmen?43 9. Wie sollen Universitäten mit dem Widerspruch umgehen, der zwischen dem vorhandenen wissenschaftlichen Wissen (zum Beispiel

43 Vgl. dazu Möhring-Hesse, Matthias: »Weltbürger – Skeptische Anmerkungen zu einem neuen Leitbild der politischen Bildung«, in: Widmaier, Benedikt/ Steffens, Gerd (Hg.): Weltbürgertum und Kosmopolitisierung. Interdisziplinäre Perspektiven für die Politische Bildung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2010, S. 76-90, hier S. 88.

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über die Ursachen der globalen Erwärmung und des Rückgangs der Biodiversität) auf der einen Seite und den kurzfristigen Verwertungs- und Profitinteressen des Kapitals auf der anderen besteht? Oder anders gefragt: Auf welche Seite sollen sich die Universitäten schlagen, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte durch die Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise behindert, verbogen und korrumpiert wird? Und schließlich 10. Sollen sie willfährige KopfarbeiterInnen des globalen kapitalistischen Systems hervorbringen oder kritikfähige Subjekte? Vor 200 Jahren trug die Entwicklung der Wissenschaften an vorderster Stelle mit zur Auflösung der überkommenen Feudalgesellschaft bei. Damals überlebte die Universität, weil es gelang, sie – eingebettet in ihre Umgestaltung in eine nationalstaatliche Institution – mit einem neuen Leitbild auszustatten, neue institutionelle Formen der Bildung und Forschung hervorzubringen, die zukunftsträchtig waren und bisweilen sogar emanzipatorische Funktionen hatten. Wie soll heute der Wandel der Funktion der Universität und ihres Wissenschaftsverständnisses ausgehen?

10. In jüngerer Zeit wird für solche Erörterungen an die alte Idee des Kosmopolitischen und des Weltbürgertums angeknüpft und versucht, sie für ein weltgesellschaftliches Demokratisierungsprojekt mit neuem Inhalt zu füllen.44 Hierbei kommen, auch in Verbindung mit der Frage nach emanzipatorischen Leitbildern für die Universitäten, die neueren Konzepte von global citizenship ins Spiel. Sie weisen sehr unterschiedliche Facetten und Reichweiten auf; beispielsweise werden damit Möglichkeiten einer verbesserten Inklusion ausländischer Studierender oder von Minoritäten oder anderen unterrepräsentierten Gruppen im höheren Bildungssystem erörtert,45

44 Dies tat übrigens auch schon Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, vgl. S. 292295. 45 Vgl. George-Jackson, Casey E.: »The Cosmopolitan University: the medium toward global citizenship and justice«, in: Policy Futures in Education, Jg. 8 (2010) H. 2, S. 191-200, http://dx.doi.org/10.2304/pfie.2010.8.2.191

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oder sie werden im Umfeld der Bemühungen um theoretische und methodische Perspektivenwechsel weg von nationalstaatlich fokussierter Geschichtsschreibung hin zu einer global history diskutiert.46 Einige Stimmen bezweifeln zwar, »ob der Begriff ›Bürger‹ auf transnationale Zusammenhänge übertragen werden kann und soll«, und plädieren stattdessen dafür, »nationalgesellschaftlich verortete Bürgerinnen und Bürger auf ihre wachsende transnationale Verantwortung anzusprechen«, was aber keine neue Überlegung wäre.47 Wie dem auch sei: Für die Debatten über die Funktion der Universität, ihr Wissenschaftsverständnis und ihren Bildungsauftrag bieten die Konzepte von Kosmopolitismus, Weltbürgertum und global citizenship einige interessante Perspektiven.48 Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Weltbürger Menschen sind, die einen gedachten besseren Zustand der Welt mit hervorbringen, oder ob Weltbürger vielmehr Menschen sind, die erst durch einen einstigen besseren Zustand der Welt entstehen werden. Und wie steht es mit der Dialektik zwischen diesen beiden Polen? Da sich diese Frage hier nur aufwerfen lässt, beschränke ich mich auf ein Beispiel aus der digitalen Welt, die wir vorhin betrachtet haben und die vielleicht doch schon heute Projekte und Individuen hervorbringt, die man als weltbürgerliche bezeichnen kann, so wie die Freie Software-Bewegung, das GNU-Projekt, Wikipedia oder – die bisweilen damit verbundenen Ambivalenzen auf die Spitze treibend49 – auch Google. Im besten Fall ist ihnen gemeinsam, dass sie schon innerhalb von Kommerzialisierung und Warenförmigkeit die alternativen Möglichkeiten einer Kultur des Teilens und Schenkens explorieren.

46 Vgl. Maissen, Thomas: »Global History – Neue methodische Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft«, in: Widmaier/Steffens: Weltbürgertum, S. 50-66. 47 So umreißt Möhring-Hesse: »Weltbürger«, S. 76, von ihm diskutierte Positionen. 48 Mehrere Beiträge der Zeitschrift Policy Futures in Education 8 (2010) 2, vgl. http://www.wwwords.co.uk/pfie/content/pdfs/8/issue8_2.asp sowie in Widmaier/Steffens: Weltbürgertum bieten hierfür Anknüpfungspunkte. 49 Vgl. hierzu Krysmanski, Hans-Jürgen: Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2001, hier insbesondere S. 183f.

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Hierum geht es auch beim abschließenden Beispiel, nämlich Edubuntu, das auf UbuntuNet, dem Research and Education Network Afrikas aufruht.50 Edubuntu ist in verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents implementiert und wird weiter ausgebaut. Es handelt sich um ein lernbezogenes Betriebssystem auf Linux-Basis, das Lern- und Bildungsmöglichkeiten für Kinder, Schüler, Eltern, Lehrer und Schulen bereitstellt. Es ist kostenlos für die Adressaten. Linux selbst informierte darüber noch vor wenigen Jahren wie folgt: »Weitgehend unbeachtet fristete bislang Edubuntu, eine der wenigen LinuxVarianten für Schule und Lehre, ein regelrechtes Mauerblümchen-Dasein – und das völlig zu Unrecht. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich Edubuntu als wahres Juwel, das aufgrund seiner interessanten Softwareausstattung zu den vielseitigsten Distributionen der Ubuntu-Familie zählt. Edubuntu soll vor allem in vier Bereichen die Bedürfnisse der Anwender befriedigen: als vollwertiges PC-Betriebssystem mit dem Schwerpunkt Lernsoftware, als Verwaltungssystem für Schulen (Stundenpläne, Raumpläne etc.), als Server und Client für Computerkabinette und als AllroundBetriebssystem für den täglichen Bedarf.«51

50 Die Weltbank informiert darüber in einer Übersicht zu IuK-Initiativen in Afrika wie folgt: »Edubuntu involves a group of people who distribute a complete Linux-based operating system to schools for classroom use, with future versions being made available for university use. Edubuntu also provides communitybased support. Edubuntu philosophy promotes free and open source software and espouses that software should be freely available, that software tools should be usable by people in their local language, that software should be used by anyone including people with disabilities, and that people should have the freedom to customise and change their software in whatever way they see fit.« »Quick guide: ICT in education initiatives in Africa«, in: World Bank, Global ICT Department, http://www.infodev.org/en/publication.347.html 51 LinuxUser. Das Magazin für die Praxis, Ausgabe 12/2006, http://www.linuxuser.de/ausgabe/2006/12/068-edubuntu/index.html

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Abbildungen 12 und 13: Edubuntu classroom, Darstellung der Anbindung ans globale Datennetz, und Edubuntu-Logo.52

Die deklarierten Ziele von Edubuntu sind: 1. Kinder im Vorschulalter sollen bildende Lernspiele zur Verfügung haben, die Spaß machen. 2. Im Kindergarten- und Schulalter und darüber hinaus sollen Schüler die beste open source-Software zur Verfügung haben, die es gibt. 3. Die Werkzeuge oder Geräte, die Lehrer für ihre Schulklasse brauchen, sollen einfach zu installieren und mit minimalem Aufwand nutzbar sein. 4. Für Schulen sollen leistungsfähige und preiswerte Lernplattformen für Bildung im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehen. Hinter Edubuntu steht die Shuttleworth Foundation des südafrikanischbritischen Multimillionärs Mark Shuttleworth, der sein Geld mit digitalen Zertifizierungen und Internet-Sicherheitssystemen machte, bevor er sein Unternehmen gewinnträchtig verkaufte. Berühmt wurde er 2002 als zweiter Privatmensch, der sich einen Flug ins All gönnte. Diejenigen, die zusammen mit Shuttleworth Edubuntu, Linux und andere free software-Projekte entwickeln und verbreiten, haben zuvor allesamt

52 Quelle: Edubuntu, http://edubuntu.org/

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nicht persönlich aus dem All auf die Erde geblickt. Daher können wir annehmen, dass sich kosmopolitische Ansichten und planetarische Projekte offenkundig auch erdgebunden entwickeln lassen. Es wäre zu wünschen, dass es den Universitäten weltweit gelingt, sich an Großprojekten des Teilens und Schenkens namhaft zu beteiligen. Wenn sich die Universitäten allerdings wie einst von den Akademien der Wissenschaften abhängen lassen, dann sei’s drum. Emanzipatorische Wissenschaft findet ihren Ort, so oder so.

Die neue Universität Eine Idee verschlingt ihre Protagonisten P ETER F ISCHER -A PPELT

E INLEITUNG 1. Reform – warum und wozu? Wenn die Politik im Zeitalter einer nie dagewesenen Wissensrevolution »Leitlinien für die Entwicklung der Hochschulen« aufstellt, dann würde man erwarten, dass sie ihr Reformvorhaben nicht nur instrumentell mit vorgeblichen Schwächen der Hochschulen im internationalen Leistungswettbewerb begründet. Wenn dieses Reformprojekt auf nichts weniger als eine Jahrhundertreform hinausliefe, dann dürfte man erwarten, dass die Protagonisten dieser Politik die Bildungsidee nicht verschweigen, die ihrem Vorhaben voranleuchten soll. Es ist die Public-Choice-Theorie, die den alten Gedanken der Körperschaft Universität verdrängt hat (vgl. Abb.). Wenn in Europa Studium und Lehre, Prüfungen und Abschlüsse in ihrer bisherigen Gestalt durch ein gänzlich neues Modell gestufter Phasen und Grade für alle Studiengänge abgelöst werden müssen, dann würde man es begrüßen, wenn historische und vergleichende Analysen den umwälzenden Eingriff rechtfertigten. Wenn die »Forschungsexzellenz« auf die »Kompetenzcluster« regionaler Leitbilder ausgerichtet und Studienangebote dementsprechend »umgeschichtet« werden sollen, dann würde man eine nachvollziehbare Abwägung darüber für notwendig halten, welche Exzellenzcluster einer betroffenen Universität dafür preisgegeben werden sollen. Nichts von alledem ist jedoch beachtet und geleistet worden, um das veri-

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table Vorhaben der Begründung einer neuen oder der Beendigung der bisherigen Universität zu rechtfertigen. Wenn ferner eine grundstürzende Neuorganisation die Universitäten auf diese Ziele ausrichten soll, damit sie die Vorgaben der Ziel- und Leistungsvereinbarungen in scheinbarer Autonomie erreichen können, dann fragt sich zumindest, wie sich ein solcher Eingriff in die institutionelle Freiheitsgarantie für Forschung und Lehre demokratisch legitimieren lässt. Wenn schließlich sogar ins Auge gefasst wird, die neuen Sektionen, sechs Großfakultäten, zu sechs Spezialhochschulen zu verselbständigen und damit die Universität aufzulösen, dann sollten doch die Gründe dafür nicht völlig unbekannt sein und nicht gänzlich ungenannt bleiben, warum gleichartige Abrichtungen eines ganzen Hochschulsystems zur puren Nützlichkeit im Zeitalter des französischen Absolutismus und in dem des sowjetischen Kommunismus spektakulär gescheitert sind.

2. Vorgehen An vier Etappen der Universitätsgeschichte und an vier Typen der modernen Universität möchte ich zeigen, dass die Idee einer neuen Universität durchaus nicht auf dieses Modell des Utilitarismus hinausläuft, das allen anderen überlegen wäre. Ein derartiges Ziel wird im europäischen Kontext auch der Bologna-Prozess nicht erreichen. An vier der Universität zugewachsenen Rollen lässt sich des Weiteren zeigen, dass die Idee der neuen Universität sehr wohl auf einer einzigen Grundfunktion, dem studium, beruht; sie muss kraftvoll und unabhängig bleiben, um alle weiteren Rollen zu integrieren. Wenn nicht, treten an die Stelle der vier (und mehr) integrativen Universitätstypen vier funktional bestimmte Hochschultypen, welche die Frage nach der neuen Universität wiederum in Gang bringen.

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E TAPPEN

DER R EKONSTRUKTION DER NEUEN U NIVERSITÄT

1. Grundlagen Jede Periode der Universitätsgeschichte beginnt mit einer Neubegründung der Bildungsidee, die dieser neben der Kirche ältesten Institution des Abendlandes vorschwebt. Unbeschadet der Tatsache, dass die Universität als höchste Bildungseinrichtung in der Gesellschaft Fragehaltung und Erkenntnisstreben, ja Neugier und Kontemplation verlangt und vermittelt, ist ihr Grundgedanke doch zutiefst praktischer Natur. Die Idee eines gemeinschaftlichen Studiums der Wissenschaft mit dem Ziel der Erkenntnis der Wahrheit setzt voraus, dass die in diesem Studium liegende Behauptung der Freiheit in der Perspektive einer unendlichen Aufgabe steht. Nie wäre es möglich, es sei denn in einem vernunftlosen Roboterstaat, die Erkenntnis des Menschen von sich selbst und seiner Welt ohne diesen Imperativ der Freiheit zu begründen und zu vollziehen. Es ist der Gedanke der Freiheit zur Gestaltung, der die Integrationsleistungen im Felde der Wissenschaften und der Künste wie im Felde des politischen und gesellschaftlichen Handelns hervorbringt und mithin auch jeder humanistischen Bildungsidee ihren Sinn gibt.

2. Frieden als Aufgabe in der Stadtrepublik der Antike Schon die Akademie von Athen, die der Universität, mit langen Unterbrechungen zwischen Platonismus und Neuplatonismus, von 387 v. Chr. bis 529 n. Chr. vorausging, formt den Gedanken der Freiheit zur Idee der institutionellen Autonomie aus. Ihre Bildungsidee ist von der Überzeugung getragen, dass der heroische und agonale Wettbewerb der frühgriechischen Tradition, der Kampf der Wagen und Gesänge, wie er für Homers Ilias kennzeichnend ist, im Leben der Stadtrepublik durch die friedliche Kooperation der Diskutanten im Modus von Vortrag und Dialog ersetzt werden muss, wohlgemerkt in einer Gemeinschaft der Lehrenden und der Lernenden, in der nach dem Vorbild des Sokrates ein jeder der Fragende ist. Als die Akademie von Athen der größeren Integrationskraft des christlichen Denkens weichen muss und 529 vom byzantinischen Kaiser Justi-

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nian I. geschlossen wird, folgt eine Periode von annähernd 600 Jahren, in der die fortdauernde Existenz einer multidisziplinären höheren Bildungseinrichtung in Europa nicht nachweisbar ist. Rom und der Westen hielten den Wellen der Völkerwanderung nicht stand, während das byzantinische Imperium die Anläufe aus dem Norden und Osten abwies. Die alles überstrahlende Bildungsidee des Zweiten Roms und des Zweiten Athens, das reine Gegenbild des »finsteren Mittelalters«, reflektierte sich in der kulturellen Anziehungskraft, dem vollendeten diplomatischen Instrumentarium, der politisch-symbolischen Kaisermacht des Rhomäer-Reiches. Sie prägte das öffentliche und private Schulwesen, zeitweise auch in Gestalt der »Magnaura« das Hochschulwesen. Doch verband sich das Studium der Grammatik, der Rhetorik und der Philosophie nicht mit dem der Theologie und der Jurisprudenz zur Gründung einer hohen Ausbildungsstätte für die Berufe des Kirchen- und Staatsdienstes. Die spirituelle Gestalt der byzantinischen Orthodoxie hatte tiefgehenden Einfluss auf die Bildung der slavischen Kultur, sie besaß aber nicht die Kraft, bedeutende Institutionen gelehrter Studien von dauerhafter Existenz und Wirkungsweise zu begründen. Der orthodoxe Klerus wies infolgedessen, von vielen großartigen Ausnahmen abgesehen, einen eklatanten Mangel an theologischer Bildung auf. Dies wiederum wirkte sich nach der Kirchentrennung von 1054 über Jahrhunderte bis heute hinderlich auf die Annäherung von Ost- und Westkirche aus. Es bestand lange kein Frieden zwischen West und Ost. Wenn wir uns die Strukturelemente vergegenwärtigen, die in dieser langen Anfangszeit die Gestaltbildung einer Institution akademischer Studien begünstigen oder behindern, so sticht als erstes der »Sitz im Leben« ins Auge, das politisch-soziale Paradigma. Es ist der Stadtstaat Athen, nicht der kaiserliche Hof von Konstantinopel, der die Akademie hervorbringt und ihr Bedeutung für das Leben der Bürger verleiht. Es ist zweitens die rhetorische Ausrichtung auf den angeredeten Menschen, den homo politicus, nicht primär die grammatische und hermeneutische Beschäftigung mit den unverrückbaren literarischen Grenzsteinen der Väter, nicht der homo literatus, dessen Bildung die Akademie ursprünglich bezweckt. Es ist drittens die Methode der Urteilsbildung und Beweisführung, die Dialektik, nicht diejenige der Versenkung in das Erkannte, die Mystik, welche die Ordnung des Redens bestimmt. Und schließlich, viertens, zielt dieses Studium auf die rechtlich-politische Entscheidung des Staatsbürgers im Areopag der Stadtrepublik Athen, nicht auf die literarisch-moralische Erziehung

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des idealen Bildungsbürgers im byzantinischen Reich. Spiritualisierung entzieht der Bildung die politische Relevanz.

3. Freiheit als Herausforderung des Denkens in der Integration der mittelalterlichen Kultur Als Zentrum der wissenschaftlichen Bildung geht die Universität des Mittelalters mit ihrer dialektischen Methode der Befragung und Vereinheitlichung überkommenen Wissens auf die soziale Revolution des 12. Jahrhunderts zurück. Ihr verdanken sich die Zünfte, Gilden und Orden, aber auch die neuen Formen gemeinschaftlichen Studiums und akademischen Lebens, die sich in den Universitäten herausbilden. Ihr Studium steht jedermann offen, ihre Unterrichtssprache ist Latein, ihre Disciplina generalis wird überall anerkannt, doch gibt es nur wenige graduierte Absolventen; ihre formell befähigten Lehrer genießen Freizügigkeit, ihre Akkreditierung beruht auf einer Entscheidung des Papstes oder des Kaisers. Diese Sonderstellung der Universitäten wird am Ende des 13. Jahrhunderts mit der politischen Formel sacerdotium, imperium, studium des Kölner Kanonikers Alexander von Roes untermauert. Mit ihr wird das Studium zum selbständigen Weltamt gegenüber kirchlicher und staatlicher Macht erhoben. Wer die Rhetorik preisgibt, handelt sich die Scholastik ein. Diese Warnung könnte über der Entwicklung der ältesten Universitätsgründungen auf der Diagonale von Bologna über Paris bis nach Oxford stehen. In aufsteigender Linie verstärkt sich im Laufe der Ausbildung einer spezifischen Lehr- und Forschungskultur dieser Prototypen der europäischen Universität die Tendenz, »das Wissen zu haben um der Erkenntnis willen und nicht, um einen praktischen Gebrauch davon zu machen.« Es ist die Lehre des Aristoteles, des loyalen und zugleich kritischen Schülers Platons aus der Athener Akademie, die aus dieser folgenreichen These spricht.1 Die Philosophie des Stagiriten trägt den Riesenbau der mittelalterlichen Kultur, aber sie bringt ihn auch durch den hervortretenden Antagonismus von erfahrungsbezogener Vernunft und offenbarungsbezogener Autorität zum Einsturz.

1

Vgl. Aristoteles: Metaphysik, hg. von Seidl, Horst, 2 Bde., Hamburg: Meiner 1978, Bd. I 2, 982 b 20-28.

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Wenn es nun zutreffen sollte, dass als »wahrhaft grundlegend und richtungsweisend für Ursprung und Wesen der Universitäten«, wie es der Mediaevist Herbert Grundmann herausarbeitet, nichts anderes als »das gelehrte wissenschaftliche Interesse, das Wissen- und Erkennen-Wollen« dieser mittelalterlichen Hochschulen anzusehen ist, dann dürfte in dieser idealisierenden Formel zumindest nicht nur die Stärke, sondern auch die Schwäche der europäischen Universität dieser dreihundert Jahre anklingen, mit Folgewirkungen für die vorgreifende Legitimationsstrategie gleichartiger moderner Universitätsauffassungen. Doch ist dies trotz der Unterstützung durch die Wissenstheorie des Aristoteles nur eine halbe Wahrheit. Denn die Bildungsidee der mittelalterlichen Universität scheint mir eher in der Richtung zu liegen, wie dem Menschen angesichts der zunehmend auseinanderfallenden Wissensdimensionen von Gott und Welt die Frage nach der Wahrheit seines Denkens nicht einerseits zur völligen Aporie wie in der Mystik geraten oder andererseits in einer duplex veritas enden muss, eine Lösung, die von Rom – bewundernswert, möchte man fast sagen – stets kühl zurückgewiesen wurde. Positiv formuliert, folgt das Programm der mittelalterlichen Universität der schon 1077 ausgegebenen Losung fides quaerens intellectum (der Glaube, der nach Einsicht sucht) des Anselm von Canterbury. Nichts anderes als diese Explikations- und Integrationsbemühung von Glaube und Vernunft ist es, die der theologischen Summe des Thomas von Aquin ihre Schärfe und Weite gibt, ehe die Verschiebung der Gewichte die Kräfte der Integration versiegen lässt. Die Freiheit des Denkens musste erst errungen werden.

4. Gerechtigkeit als Aufgabe des Denkens im Zeitalter von Humanismus und Reformation Mit einer zum Formalismus erstarrten Spätscholastik und einem in allen Disziplinen erneuerungsbedürftigen Studium tritt die Universität um 1500 in das Zeitalter des Humanismus und der Reformation ein. Diese beiden am Begriff der Gerechtigkeit orientierten, jedoch im Prinzip gegenläufigen Denkbewegungen versetzen das Studium in ein verändertes Spannungsfeld, das die neue Universität der dritten Generation von Anfang an durchzieht. Betrachten wir die Synthese, die der Bildungsreformer Philipp Melanchthon (1497 - 1560), Praeceptor Germaniae, seit 1519 ins Werk setzt.

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Sie beruht auf der einen Seite auf einer tiefgreifenden Erneuerung der Systeme von Wissenschaft und Bildung aus den antiken Wurzeln der »freien Künste«, des hermeneutischen Triviums von Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie des mathematischen Quadriviums mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Es ist ein an der sprachlichen Verfassung des Menschen orientiertes und deswegen philologisch fundiertes Programm unter der ciceronischen Vorstellung der humanitas, einer moralischen Anweisung zum menschenwürdigen, gerechten Leben. In diesem Ziel der zur Königin aller Tugenden erhobenen Gerechtigkeit terminiert andererseits nach dem Römerbrief die paulinische Lehre von der Erkenntnis Christi, die dem Menschen das Vermögen zur wahren Tugend der Gerechtigkeit wie zur Gewissheit der vollendeten Seligkeit zu schenken vermag und als Gabe des göttlichen Geistes schenkt. Diese harmonisierende Konstruktion, deren Abweichung von Luther ich hier nicht erläutern kann, findet ihre Äquivalenz in der dem menschlichen Geist eingeborenen Idee des natürlichen Sittengesetzes, die der Synthese von humanistischer Philosophie und paulinischer Theologie eine in manchen Augen tragfähige, in anderen Augen fragwürdige Basis gibt. Diese anthropologisch begründete Synthese vom Eingang der göttlichen in die menschliche Gerechtigkeit lässt in allgemeinerer Form als Bildungsidee des neuen Zeitalters die eruditio, die Heranbildung des sittlichreligiösen Individuums erkennen, das auf dem höchsten Niveau des humanistischen und fachlichen Wissens steht. Doch solange die Vermittlung des Wissens ganz im Dienste dieses Erziehungsideals steht, kann es sich im Curriculum der Artistenfakultät nicht voll entfalten. In der territorialstaatlichen Ordnung der Neuzeit beschränkt dieser Mangel die neue Funktion der Universität als Zentrum beruflicher Ausbildung auf die Vorbereitung für höhere Ämter im Dienste des Landesfürsten. Das schon im Mittelalter vernachlässigte Quadrivium entwickelt sich in seinen Beiträgen zu Technik, Bauwesen und Architektur weitaus stärker außerhalb als innerhalb der Universitäten. Umgekehrt wächst der Druck auf eine Forcierung der Nützlichkeit der Ausbildung. Den Universitäten entstehen Konkurrenten in Gestalt von Akademien, Spezialhochschulen, Gewerbeschulen und Handelsakademien. Der Dirigismus absolutistischer Staaten implementiert eine Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, deren Effizienz die Universitäten kaum etwas an eigener innovativer und finanzieller Kraft entgegenzusetzen haben. Selbst die Reformuniversitäten in Halle und Göttingen mit ihrem

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neuen Begriff der Wissenschaft, gegründet auf Beobachtung und Erfahrung, Hypothese und Experiment, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Universität im Zeitalter der Aufklärung zum auslaufenden Modell wird. Napoleon ratifiziert den universitätsfeindlichen Zug der Zeit mit einer Serie von Universitätsschließungen, doch die Aufklärung überliefert die Idee der neuen Universität durch Kant an Schelling, Fichte, Schleiermacher zur Neugestaltung durch Wilhelm von Humboldt.

Fazit Fragen wir beim Übergang zur Moderne als der vierten Etappe der Universitätsgeschichte nach den Auffälligkeiten, die sich aus dieser Rekonstruktion der neuen Universität über einen Zeitraum von 2.100 Jahren ergeben. 1. Bei der Gründung und Organisation eines genossenschaftlichen Studiums kommt der Bildungsidee die Initiativleistung, der Institution die Garantierolle zu. 2. Das Modell einer neuen Universität taucht nur dann auf, wenn eine neue Bildungsidee größere Integrationskraft als die bisher maßgebliche zu entfalten beginnt und weitere Bedingungen, z.B. politische (Athen), soziale (Cluny), theologische (Luther), erkenntnistheoretische (Kant), dies erzwingen. 3. Jede Bildungsidee imprägniert das Wissen der Zeit durch eine außerhalb seiner selbst liegende Aufgabe, ohne dass sich das Erkenntnisstreben und Erkenntnisverfahren in seiner eigenen (methodischen) Logik davon abhängig machen lässt. Humanistisch formuliert: Die Rhetorik muss in der Dialektik fundiert und die Dialektik in die Rhetorik integriert sein. Ein Wissen um seiner selbst willen gibt es im Prinzip nicht. Instrumentalisierung jedoch entzieht der Bildung die praktische Relevanz. In Bezug auf die institutionelle Existenz der Universität lassen sich drei Aussagen treffen: 1. Der Institution Universität fehlt bis zur Gründung der Prager KarlsUniversität durch Kaiser Karl IV. (1348) die Verbindung von Stiftungsmacht, Schutzgarantie und solider Finanzausstattung. 2. Ihr fehlt ferner ein starker innerer Integrationsrahmen. Die mittelalterliche Universität ist eine in Nationen und Fakultäten organisierte

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Schwurgemeinschaft von Personen, deren Einheit nur zeremoniell und symbolisch dargestellt wird. Sie ist keine Einheit und wird auch nicht als solche aufgefasst. Daran ändert sich in der Neuzeit wenig. 3. Ihr fehlt schließlich die äußere Integration in ihre Gesellschaft; sie ist ihr gegenüber isoliert. Die Anfänge der Platonischen Akademie mit ihrem Bezug auf die Stellung des Bürgers in der Stadtrepublik Athen bilden dazu das Gegenmodell.

II. T YPEN

DER R EKONSTRUKTION DER NEUEN U NIVERSITÄT

1. Grundtypen Ich unterscheide hier abweichend von der üblichen Ansicht nicht drei, sondern vier Typen der modernen Universität, weil ihnen aus dem Ursprungsumfeld ihrer jeweiligen politischen Kultur eine ganz eigene, spezifische Mission zukommt. Dies ist aus der Faktorenbeschreibung auf der oberen Seite der anliegenden Übersicht erkennbar. Sie beschränkt den Vergleich auf die westliche, nordatlantische Weltregion und lässt offen, ob abgesehen von der Wirkungsgeschichte dieser vier Universitätstypen andere, gleichrangige Modelle bestehen. Diese Grundtypen werden gewöhnlich als die Forschungs-, die Ausbildungs- und die Erziehungsuniversität nach deutschem, französischem und englischem Muster beschrieben, während die amerikanische Public University nach dem Muster des Land-Grant College unbeachtet bleibt. Umso mehr Bewunderung findet die amerikanische Privatuniversität, man könnte sie auch die philantropische Universität nennen, die jedoch nach den Elementen ihrer Mission keinen eigenen Grundtypus darstellt.

2. Das Humboldt-Modell Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) ist als Staatsmann in preußischen Diensten unter napoleonischer Besetzung der Erfinder einer singulären Theorie der neuen Universität. Sie ist durch Gedanken der Aufklärung, der

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Romantik und des Neuhumanismus vorbereitet und antwortet auf die Problemlage der Universität am Ende des 18. Jahrhunderts. Nicht in einem voluminösen Werk, sondern auf wenigen Seiten des »Litauischen Schulplans« (1809) und in einem erst später veröffentlichten Gutachten »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« (1810) ist diese Skizze niedergelegt. Nach Humboldts Bildungsidee ist die Universität diejenige autonome Institution, die dem Menschen durch individuelles und gemeinschaftliches Studium die selbstständige »Einsicht in die reine Wissenschaft« gibt und so durch Bildung des Charakters zum Handeln führt. Die Formel »Bildung durch Wissenschaft« verkürzt diese Mission der Universität um die praktische Dimension und spiritualisiert dadurch den Begriff der Bildung mit erheblichen Folgen für den Quietismus der Universität und ihrer Absolventen nach der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848. Ansatz dieser Definition ist die Krise im Wissen des Menschen von sich selbst und seiner Bestimmung, die offenkundig war, seit Kant der theoretischen Vernunft jede Möglichkeit der Erkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit absprach und diese Ideale in das Forum der praktischen Vernunft wies. Nach Humboldt kann daher das Wissen nicht länger eine Funktion der Erziehung sein; umgekehrt ist davon auszugehen, dass die alte eruditio, die Heranbildung des Menschen, eine Funktion des Wissens ist. Das heißt: Die Universität verfügt nicht mehr über ein ihr äußerliches Erziehungsideal, sondern ihre erziehende Kraft folgt unmittelbar der inneren Grunderkenntnis der Wissenschaft selbst. Oder, wie Humboldt sagt: »Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um.« Hinzufügend pointiert er barsch: »Und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun.«2 Dieser Angelpunkt in der Verbindung von Theorie und Praxis, die Charakterbildung, ist die starke und die schwache Stelle der Humboldt’schen Konzeption der neuen Universität: stark, weil sie der Universität eine Veranke-

2

Humboldt, Wilhelm von: »Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« (1809/10), in: ders.: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Werke in fünf Bänden, hg. von Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, Bd. IV, S. 255-266, hier S. 258.

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rung im Persönlichkeitsideal der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft gibt; schwach, weil sie das Forum nicht benennt, in dem diese Charakterbildung sich zu bewähren hat. So wird aus beidem, Stärke und Schwäche, der Bildungsbürger der deutschen Kultur, nicht der Citoyen einer demokratischen Kultur. Der ingeniöse Schlussstein der Theorie Humboldts ist schließlich die Rolle der Autonomie im Prozess des individuellen und gemeinschaftlichen Studiums. »SelbstActus« nennt er die Einsicht, die den Charakter zum Handeln führt: »Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand« sagt er, »ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fließt zugleich die ganz äußere Organisation der Universitäten«.3 Humboldt leitet also die Autonomie der Körperschaft Universität weder aus dem sozialen Gefüge ihrer Mitglieder noch aus dem Zweck ihrer Tätigkeit, sondern unmittelbar aus dem Ursprung ihrer Mission ab. In dieser von innen kommenden Ursprungsrationalität und nicht in einer primär nach außen gerichteten Zweckrationalität liegt die spezifische Neukonzeption des Begriffes studium, die einen mystisch-kontemplativen Zug trägt; in ihr ist aber auch eine eigentümliche Weltferne der Universität begründet, die erkennbar wird, wenn der Gelehrte nur einen Weg kennt, den von der heimischen Bibliothek zum Katheder und wieder zurück an den eigenen Schreibtisch. Daran hat sich manches geändert.

3. Das napoleonische Modell Mit einem gewissen Sarkasmus könnte man sagen, dass das napoleonische Modell der Universität in der Schließung aller dreiundzwanzig Universitäten besteht, die am Ende des Ancien régime in Frankreich existierten. Im Unterschied zu Preußen kam es zu Beginn des 19. Jahrhunderts weder zur Entwicklung der Idee noch zur Gründung einer neuen Universität. Statt dessen absorbiert der Terminus l’université imperiale den Begriff der Universität für das gesamte staatliche Unterrichtswesen, das bis heute in Akademien gegliedert ist, Verwaltungsbezirke, die im Auftrag des zuständigen

3

Humboldt, Wilhelm von: »Der Königsberger und der litauische Schulplan« (1809), in: Werke in 5 Bänden, hg. von Flitner, Andreas/Giel, Klaus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, Bd. IV, S. 168-196, hier S. 191.

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Bildungsministers bis 1968 von einem président, danach im Austausch des Namens mit der Leitungsinstanz einer Universität von einem recteur geleitet wurden. Dass es überhaupt wieder Universitäten und nicht nur Unterrichtsfakultäten unter der Leitung eines doyen gibt, ist auf verschiedene Reformansätze des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückzuführen, die auch von dem Erfolg der deutschen Universitäten beeinflusst waren. Diese Ansätze kulminierten schließlich in dem berühmten Loi d’Orientation von 1968, mit dem die demokratisch begründete Universität in das Industriezeitalter eintreten sollte, als es schon seiner Transformation in eine Dienstleistungsgesellschaft entgegenging. Dieser Ausfall der Universität im Zentrum einer aktiven Bildungsgesellschaft mit egalitären wie elitären Zügen hat dazu geführt, dass sich andere Institutionen horizontal ausdifferenzierten und ein Vier-SektorenModell hervorbrachten. In ihm gibt es einen Elite-bildenden Sektor mit den Grandes Écoles, einen berufs- oder ausbildungsorientierten Sektor mit Berufsfakultäten und Spezialhochschulen, einen sozialisatorischen Sektor, der die neuen Fächer der alten Artistenfakultät umfasst, und einen akademischen Sektor außeruniversitärer Forschungsinstitutionen. Die Spätfolgen dieses Ausfalls der Universität in der französischen Moderne zogen jüngst ihre Kreise durch Europa, als der zuständige französische Minister am 13. und 14. Mai 1998 seine Kollegen aus Deutschland, Großbritannien und Italien nach Paris einlud, um ihnen seine Sorgen über die Isolierung Frankreichs hinsichtlich der Äquivalenz und Anerkennung seiner Studienabschlüsse in der Welt der Globalisierung vorzutragen. Es war die Geburtsstunde des Bologna-Prozesses.

4. Das englische Modell Das englische Universitätssystem bestand noch bis vor dreißig Jahren aus der Bauidee des eloquenten Gelehrten John Henry Newman und einem neugothischen Haus mit drei Geschossen. Es residierten auf der obersten Etage die Universitäten Oxford und Cambridge; auf der mittleren das system der University of London, das bedeutende Institutionen wie das University College, das inzwischen ausgetretene Imperial College und die London School of Economics einschloss; im Erdgeschoss alle übrigen Universitäten. Seither hat sich daran nur geändert, dass in der Bauidee und auf der

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unteren Etage eine stärkere Differenzierung eintrat. Die ökonomischtechnologische Nützlichkeit hielt auch hier ihren Einzug und brachte etwa zehn Universitäten mit neuem Programm in Stellung, während gleichzeitig die Polytechnics aus dem Souterrain ins Erdgeschoss aufstiegen. John Henry Newman (1801-1890) hat der englischen Universität der Zeit zwischen 1850 und 1980 ihre Bildungsidee gegeben. Sein Einfluss auf die Universitäten des viktorianischen Zeitalters ist vergleichbar dem Einfluss Wilhelm von Humboldts auf die Universitäten der wilhelminischen Periode. Mit fünfzehn Jahren im calvinistisch-methodistischen Geiste bekehrt, wurde er als Anglikaner einer der Führer der Oxfordbewegung, die das anglokatholische Erbe der Kirche von England neu zu beleben suchte. Dieses Erbe deutete er als einen der drei Zweige des römischen Katholizismus, erfuhr damit aber die Zurückweisung der anglikanischen Bischöfe. Daraufhin trat er 1845 zur katholischen Kirche über, wurde Rektor der neuen katholischen Universität in Dublin und erhielt 1879 seine Ernennung zum Kardinal. In Dublin war es auch, wo er im Jahre 1852 zunächst fünf Vorlesungen hielt, die später zusammen mit weiteren Diskursen als Buch unter dem Titel »The Idea of a University« erschienen. Man wird nicht sagen können, dass der Universitätsdenker John Henry Newman an dem Belegungsplan des akademischen Baus interessiert war, denn dieser folgte ohnehin den historischen Besitzständen. Was ihn dagegen zu inständiger Rede veranlasste, war die Absicht, dem Bau im Atrium die wegweisende Idee einzupflanzen, die allen und jedem die Zukunft verbürgen würde: »the education of the intellect«. In seinem Sechsten Diskurs, »Knowledge Viewed in Relation to Learning«, erläutert er diese Idee so: »[...] it is, I believe, as a matter of history, the business of a University to make this intellectual culture its direct scope, or to employ itself in the education of the intellect, – just as the work of a Hospital lies in healing the sick or wounded, of a Riding or Fencing School, or of a Gymnasium, in exercising the limbs, of an Almshouse, in aiding and solacing the old, of an Orphanage, in protecting innocence, of a Penitentiary, in restoring the guilty. I say, a University, taken in its bare idea, and before we view it as an instrument of the Church, has this object and this mission; it contemplates neither moral impression nor mechanical production; it professes to exercise the mind neither in art nor in duty; its function is intellectual culture; here it may leave its scholars, and it has done its work when it has done as much as this. It edu-

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cates the intellect to reason well in all matters, to reach out towards truth, and to grasp it.«4

In dieser zunächst eindrucksvollen Lehre von der Bildung (cultivation) des Intellekts zur Vernunft ist der Intellekt getreu der Metaphysik des von Newman hoch verehrten Aristoteles als ein Vermögen gedacht, das nach Art eines Samens seine in ihm angelegte Entelechie wie unter natürlichen Bedingungen der Kultivierung bis zur Blüte entfaltet. Daher kommt es auch, dass das Wissen im Erziehungsprozess niemals für andere Zwecke als für die Bildung dieses geistigen Vermögens zur Vernunft, gewissermaßen dem höchsten Vermögen des Menschen, in Anspruch genommen werden kann. Diese Auffassung des Wissens, das nur Zwecken der inneren Bildung des Menschen dienen kann, diese These vom knowledge for its own sake, das dem englischen Liberal Arts-Modell seine Dignität gibt, entspringt derselben Theorie des Aristoteles, die ich zuvor als ein tragendes Fundament der mittelalterlichen Universität dargestellt habe. Ihre Bedeutung für die Moderne spielt insofern eine große Rolle, als der Positivismus, der sich über die Naturwissenschaften auch auf andere Fächer ausgebreitet hat, seine hervorbringende, wenn auch inzwischen abgestorbene Wurzel in dieser intrinsischen Auffassung des Wissens hat. Die Verselbstständigung der Forschung zu staatlicher und wirtschaftlicher Förderung, nach der Isolierung der Ausbildungsrolle der zweite Spin-off-Effekt der auf der Einheit von Forschung und Lehre gegründeten Zentralfunktion der modernen Universität, hat in jener Lehre Newmans ihr anthropologisches Fundament, auch wenn dies den praktischen Zielsetzungen solcher Förderung nicht mehr anzusehen ist.

5. Das amerikanische Modell Der bestechendste Zug der neuen Universität in den Vereinigten Staaten von Amerika ist das Bündnis von Demokratie und Bildung, »the essential partnership of democracy and education«, jene grandiose Solidarität der

4

Newman, John Henry: The Idea of a University. Discourse 6, Knowledge Viewed in Relation to Learning, (1852) London/New York/Bombay/Calcutta: Longmans, Green & Co. 1907, § 1.

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Vernunft mit ihren autonomen Kindern, die das amerikanische Hochschulsystem in all seinen Zweigen und an allen Orten gleichermaßen kennzeichnet. »Democracy cannot succeed without education; education cannot succeed without democracy« (Robert L. Clodius). Diese Verklammerung von Demokratie und Bildung zu einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis hat es in Europa bis 1969 niemals gegeben. Sie weist auf die Hauptursache des Vorsprungs, den das amerikanische Bildungssystem in seiner Gesamtheit, d.h. mit all seinen gewährleistenden und kompensatorischen Elementen, im Jahrhundert nach Aufnahme seiner europäischen Anregungen gegenüber allen anderen Teilen der Welt gewann. Man könnte das amerikanische Hochschulsystem in seiner gesellschaftlichen Verankerung ein Lambda-Modell nennen. Der kleinere, aber umso robuster konstruierte Pfeiler der Philanthropie stützt den längeren Pfeiler der amerikanischen Staatsuniversität. Die mit Freigebigkeit gepaarte Bildungsinitiative einzelner vermögender Bürger in den religiösen Gemeinschaften der villages führt zuerst 1636 zur Gründung von Harvard College in Cambridge, Massachusetts, und zieht zahlreiche andere Gründungen gleicher Art nach sich. Dann ist es der Modernisierungsdruck auf den übernommenen Typus des religiös bestimmten englischen Colleges, der im 19. Jahrhundert die Gründung von Institutionen erzwingt, die public higher education als ihre Mission übernehmen. Ihre Bildungsidee ist die Chancengewährung für jeden jungen Menschen, mit dem Ziel, entsprechend seiner Befähigung und Neigung und nach Maßgabe strikter Standards allgemeiner Bildung und professioneller Ausbildung einen nützlichen Beruf ergreifen zu können, insbesondere in den Bereichen von Landwirtschaft und Technik. Der Prototyp dieses gesellschaftlichen Versprechens ist das amerikanische Land-Grant College, das sich zu so bedeutenden staatlichen Universitäten wie dem MIT im Osten oder den Big Ten im mittleren Westen oder der University of California mit ihren neun Diamanten von Berkeley über UCLA bis San Diego entwickelte. Es verdankt sich der Kongressvorlage des Senators Justin Smith Morrill, die 1862 mit der Unterschrift des Präsidenten Abraham Lincoln dazu führte, dass die Bundesregierung genügend Land für jeden Einzelstaat zur Verfügung stellte, der mindestens ein College für die Ausbildung in Landwirtschaft und neuen Technologien gründen würde.

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Dieser amerikanische Impuls zur demokratischen Entwicklung und praktischen Erweiterung des Hochschulsystems wurde seit 1876 durch die Anregungen der deutschen Forschungsuniversität erweitert, die sich zuerst in der Gründung der Johns Hopkins University niederschlugen – »Göttingen in Baltimore«. In Deutschland jedoch blieb dieses Modell der neuen Universität in Amerika, das Land-Grant College, unbeachtet. Was zehntausend amerikanische Studenten an lehrreichen Erkenntnissen aus deutschen Universitäten nach Hause trugen, eröffnete im stolzen wilhelminischen Deutschland den umgekehrten Transfer nicht. Stattdessen waren es ein halbes Jahrhundert später die Vertriebenen aus deutschen Universitäten, die unfreiwillig diese Lernerfahrung nachholen mussten und mit einer starken humanistischen Bereicherung an Amerika zurückerstatteten.

III. F UNKTIONEN

DER NEUEN

U NIVERSITÄT

Ich versuche, diesen Durchgang durch die beschriebenen vier Modelle der neuen Universität in systematischer Absicht zu resümieren. 1. Die Universität ist das höchste Zentrum der Bildung in der Gesellschaft, insofern sie jedem Qualifizierten ohne andere Einschränkungen das Studium des Wissens in der auf Einheit und Gemeinschaft gestellten Verbindung von Forschung und Lehre ermöglicht. In dieser Grundfunktion liegt die Fähigkeit zur Erneuerung der Universität durch Chancengewährung, durch Lehrbildung und durch Konsensfindung. Diese Definition stellt das frühere Verständnis der europäischen Universität vom Kopf auf die Füße, insofern sie drei wichtige Elemente aus der sozialen Rolle der Universität – Chancengleichheit, Lehrbildung und Konsensfindung – auf die kommunikative Struktur des Wissens bezieht und mit dieser in die Grundfunktion der Universität integriert. Es ist die Verbindung des amerikanischen mit dem deutschen Modell der Universität. Über beiden könnte inzwischen stehen: Serving the World. 2. Die Universität ist das einzige Zentrum wissenschaftlicher Ausbildung in der Gesellschaft, das die berufliche Vorbereitung von Fach- und Führungskräften für alle Sektoren der Arbeit in ständiger Auseinandersetzung mit der Praxis auf der Basis und in Spannung zu der beschriebenen Grundfunktion gewährleistet.

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Diese zweite Rolle der Universität, die seit dem Beginn der Neuzeit entstanden und in der Moderne enorm gewachsen ist, beruht in der Heranbildung zur selbstständigen fachlichen Urteilsbildung auf der Grundfunktion der Universität. Diese Ausbildungsrolle trägt in sich die Tendenz, die Grundfunktion zu überlagern oder sich von ihr zu trennen. Dann ergibt sich das napoleonische Modell der aufgeteilten Universität. Umgekehrt ließe sich aber auch die Isolierung der Grundfunktion gegenüber der Ausbildungsrolle der Universität denken; dann ergäbe sich bis zu seiner Korrektur das englische Modell der Liberal-Arts-Universität. 3. Die Universität ist das einzige Zentrum der durch Drittmittel staatlicher, wirtschaftlicher und anderer Herkunft geförderten Forschung, die derartige Programme und Projekte mit der Möglichkeit der Nachwuchsförderung und der Erteilung von akademischen Graden bis hin zur Promotion auf der Basis und in Spannung zu der beschriebenen Grundfunktion durchführt. Diese dritte Rolle der Universität, die mit der gesonderten Wissenschaftsförderung des preußischen Staates, aber auch anderer Staaten große Ausmaße angenommen hat, um auf einschlägigen Gebieten relevante Forschung überhaupt zu ermöglichen, trägt die Tendenz in sich, die Grundfunktion der Universität teils zu aktivieren, teils sich von dieser Grundfunktion zu trennen. Die Probleme dieser Entwicklung kann ich hier nicht weiterverfolgen; ich habe sie in einer Kellogg-Lecture vor der Association of American Universities behandelt. 4. Die Universität ist auch ein Zentrum umfangreicher Dienstleistungen für Stadt und Region, vom Krankenhaus bis zum Botanischen Garten und von der staatlich delegierten Einfuhrkontrolle bestimmter Güter bis zur Vielfalt von Museen. Die Ausführung dieser Funktion erfordert eine andere Form des Wirtschaftens und des Managements als die übrigen Funktionen. Zwischenzeitlich hatte sich, bis zum Verhalten der Studierenden hin, die Auffassung entwickelt, dass die Universität überhaupt und im Ganzen als eine Serviceeinrichtung zu verstehen sei, bis dahin, dass ihre Studienaufgaben im Kern therapeutischen Charakter haben. Diese Auffassung wird durch das Bologna-Modell, denke ich, auf den rationalen Kern eines Studiums, dessen Leistungen in bestimmter Zeit zu erbringen sind, zurückgeführt werden. 5. Schließlich spielt die Universität auch die Rolle einer sozialen Einrichtung sowohl in sich selbst wie in der Gesellschaft. Fast alle Reformen der letzten vierzig Jahre hatten hier ihren Ansatzpunkt. Denn einerseits sind

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Hochschulen riesige Ressourcenspeicher für Chancengewährung und sozialen Aufstieg. Andererseits sind Institutionen mit derartigen Freiräumen und einer so kreativen und adoleszenten Virulenz schwer in die Gesellschaft zu integrieren. Sie bedürfen einer auf breite Beteiligung angelegten Organisation ihrer inneren Beratungs- und Entscheidungsprozesse, um Konflikten, die unvermeidlich sind, den Rahmen ihrer Austragung zu geben. Vielleicht habe ich verständlich machen können, in welchen Chancen und Risiken die Universität heute lebt und welcher »Staatskunst« es bedarf, sie in ihren konfligierenden Rollen zusammenzuhalten. Man könnte mit Monteverdi sagen: »Die Gegensätze sind es, die unsere Seele bewegen.« Aber sie werden auch unseren Verstand und unsere Vernunft bewegen, den Kampf für die Zukunft einer der freiesten Institutionen zu kämpfen, die uns die Geschichte als Erbe und Auftrag überliefert hat.

Mehr und bessere Bildung durch Markt und Wettbewerb? Thesen zur politischen Ökonomie der aktuellen Bildungsdebatte R ALF P TAK

Bildung ist wieder ein gesellschaftliches Thema, nachdem die Bildungspolitik seit den großen Bildungsreformen der 1970er-Jahre lange Zeit vor sich hin dümpelte. Mit dem Beginn dieses Jahrzehnts wurde die Bildungsfrage wiederentdeckt, wobei Regierung und Unternehmensverbände die Wortführer der Debatte sind, die sich seither mit Forderungen nach einer Umstrukturierung der Bildungsinstitutionen überschlagen. Im Herbst 2008 riefen Bundeskanzlerin Merkel und die Spitzen der Arbeitgeberverbände BDA und BDI gar unisono die ›Bildungsrepublik Deutschland‹ aus. Zwar suggeriert die symbolische Aufwertung der Bildung einen Konsens über die steigende gesellschaftliche Bedeutung von Bildung, wer aber glaubt, dass deshalb die strukturellen Defizite des deutschen Bildungssystems beseitigt werden, sieht sich getäuscht. Es geht auch nicht um mehr Bildung und mehr Chancengleichheit für alle oder den Ausbau demokratischer Lehrund Lernprozesse. Politische Bildung wird in den aktuellen Debatten nicht einmal am Rande erwähnt. Die aktuelle Bildungsrhetorik überdeckt, dass verschiedene Interessengruppen an einer Neuausrichtung des Bildungssystems arbeiten, in deren Zentrum die institutionelle Transformation der Bil-

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dung entlang neoliberaler Prämissen steht.1 Hauptziel ist die Zurichtung des Bildungssystems auf seine ökonomische Zweckmäßigkeit, sowohl im Hinblick auf die Ziele wie auf die Steuerungsverfahren: Erstens durch die Engführung von Bildung als Qualifizierung von Arbeitskraft, deren Anforderungen maßgeblich von Unternehmen und ihren Verbänden bestimmt werden, zweitens durch die Steuerung der Bildungspolitik mittels marktwirtschaftlicher oder marktähnlicher Instrumente und drittens durch die Liberalisierung des Bildungssektors zur Schaffung eines neuen globalen Wachstumsmarktes. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Bildung, der nicht wegzudiskutieren ist. Schon die Bereitstellung der Bildung als öffentliches Gut erfordert eine volkswirtschaftliche Entscheidung über die aufzubringenden finanziellen Mittel des Staates. Öffentliche Bildung war auch nie eine Veranstaltung frei von ökonomischen Zwecken. Sie ist seit der Herausbildung moderner Bildungssysteme immer auch (berufliche) Ausbildung, die auf eine produktive Verwendung der Arbeitskraft zielt: Ausbildung und Qualifizierung erhöhen die Chancen und die Autonomie der abhängig Beschäftigten am Arbeitsmarkt, wie die Gewerkschaften seit jeher betonen. Verändert haben sich allerdings die Prämissen der Bildungsprozesse, die durch die Fokussierung auf Kernkompetenzen zu einer funktionalen Beschränkung des Bildungszwecks führen und zugleich diejenigen selektiert, die den gestiegenen Qualifikationsanforderungen aus eigener Kraft nicht gerecht werden können. Zudem geht es bei den gegenwärtigen Reformen im Bildungswesen, ob im Bereich frühkindlicher Erziehung, in den allgemeinbildenden Schulen, in der beruflichen Weiterbildung oder im Wissenschaftsbetrieb um eine grundlegende Veränderung der bildungspolitischen Steuerung entlang ökonomischer, genauer marktwirtschaftlicher Grundsätze. Dabei handelt es sich um eine Tendenz, die sich in einem schleichenden Prozess vollzieht, der in den meisten Bildungsbereichen zwar nicht auf eine vollständige Vermarktlichung ausgerichtet ist, aber durch die Implementierung einzelner marktwirtschaftlicher Anreizinstrumente das Bildungssystem politisch und ökonomisch neu justiert. Im Mittelpunkt stehen die Ini-

1

Vgl. Ptak, Ralf: »Grundlagen des Neoliberalismus«, in: Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/ders.: Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 13-86.

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UND BESSERE

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tiierung von Wettbewerb und die Förderung von privatem unternehmerischen Handeln. Diese Entwicklung ist kein ideologisches Projekt, sondern Ausdruck handfester Interessenpolitik und zugleich der Versuch, auf die strukturellen Wachstumsprobleme des entwickelten Kapitalismus zu reagieren. Die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Bildungssektors – zur Legitimation oft verbrämt durch die neoliberale Usurpation emanzipatorischer Begriff wie etwa ›Selbstverantwortung‹ und ›Autonomie‹ – stützt sich auf dabei zwei theoretische Debatten: Die These von der Wissensgesellschaft, die maßgeblich durch die Bildungssoziologie geprägt wurde und die Humankapitaltheorie, die insbesondere von neoklassischen und neoliberalen Ökonomen entwickelt wurde.

D ER

THEORETISCHE H INTERGRUND DER GEGENWÄRTIGEN B ILDUNGSREFORMEN

Wissensgesellschaft ist ein analytischer und zugleich ideologischer Begriff, der sich in sozialwissenschaftlichen Debatten seit den 1990er-Jahren als Umschreibung einer post-industriellen gesellschaftlichen Formation weitgehend unkritisch durchgesetzt hat.2 Nach Auffassung der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), die in dieser Debatte eine wesentliche Rolle spielt, ist die Wissensgesellschaft in erster Linie ein ökonomisches Phänomen, das durch die stetig steigende Bedeutung immaterieller Produktion gekennzeichnet ist, konkret durch den wachsenden Anteil wissensbasierter Wertschöpfung, die mittlerweile zu achtzig Prozent das Wirtschaftswachstum bestimmen soll. Abgesehen von dem Problem, Wissen und seine Vergegenständlichung in Realkapital zu messen, was auch von Nico Stehr3, dem führenden deutschen Theoretiker der Wissensgesellschaft, zugestanden wird, sind aus historischer und ökonomischer Sicht grundlegende Zweifel an der These von der epochalen Bedeutungslo-

2

Vgl. Bittlingmayer, Uwe H.: Wissensgesellschaft als Wille und Vorstellung,

3

Vgl. Stehr, Nico: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen

Konstanz: UVK 2005. der modernen Ökonomie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 32, 61, 83.

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sigkeit materieller Produktion angebracht.4 Obwohl also kaum belastbare Indikatoren für den Übergang zur Wissensgesellschaft existieren,5 stimmt der Begriff mit der wahrgenommenen Realität vieler Menschen überein, in der die Wissensproduktion und ihre Verwertung gesellschaftlich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Auf der quantitativen Ebene haben die Informations- und Kommunikationstechnologien ein expotentielles Wachstum der globalen Wissensnutzung ermöglicht (soweit die materiellen Voraussetzungen zur allgemeinen Nutzung auf politischer Ebene geschaffen wurden6), deren Fülle aber zugleich neue Unübersichtlichkeiten produziert hat und damit die erweiterten Möglichkeiten der Informationsbeschaffung tendenziell ins Gegenteil verkehrt.7 Zudem stehen den neuen technischen Möglichkeiten einer umfassenden und allgemeinen Wissensaneignung interessengeleitete politische, vor allem aber ökonomische Begrenzungen entgegen, die meist mit dem Schutz von Innovationsprozessen begründet werden. Diese Grenzen werden durch die Konstruktion von Eigentums- und Nutzungsrechten gesetzt, die neue Märkte konstituieren. Damit ist die Kommodifizierung von Wissen und Bildung ein wesentliches Kennzeichen der Wissensgesellschaft.8 Die »Wis-

4

Vgl. Ptak, Ralf: »Vom Wert des Wissens. Paradoxien der Wissensgesellschaft«,

5

Vgl. Prisching, Manfred: »Was ist das Neue an der Wissensgesellschaft«, in:

in: Forum Wissenschaft 3 (2008), S. 27-30. Jahrbuch Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik. Band 3 Ökonomik des Wissens. Marburg: Metropolis 2004, S. 309-335; Mittelstraß, Jürgen: »Wie die Lust an der Wissenschaft ausgetrieben wird«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.08.2009. 6

Vgl. Welsch, Johann: »Die schleichende Spaltung der Wissensgesellschaft«, in:

7

Vgl. Laughlin, Robert B.: Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wis-

WSI Mitteilungen 4 (2002), S. 195-202. sensgesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 110ff; Prisching, M.: Was ist das Neue an der Wissensgesellschaft, S. 311. 8

Vgl. Lohmann, Ingrid: »After Neoliberalism – Können nationale Bildungssysteme den ›freien Markt‹ überleben?«, in: dies./Rilling, Rainer (Hg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft, Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 104.

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sensökonomie«, resümiert denn auch der Physiknobelpreisträger Laughlin,9 sei »eine herrlich ironische Bezeichnung für eine Zeit zunehmender Knappheit von Wissen«. Schließlich muss Wissen, soll es marktförmig werden, durch politische und institutionelle (z.B. rechtliche) Eingriffe erst zu einem knappen Gut geformt werden. Ist das Wissen überwiegend in Realkapital, also verdinglichter Produktion, gebunden, stellt die Verknappung kein Problem dar. Das darin vorhandene Wissen ist aber wiederum an ein gesellschaftliches Basiswissen gebunden, das eben nicht – verstärkt durch die diffundierende Wirkung moderner IuK-Technologien – einfach zu vermarktlichen ist. Der Hebel dafür ist die Beschränkung des Zugangs zu (hier ist die Schnittstelle zur Bildung) und des Ausschlusses der Nutzung von Wissen. Das allerdings hat nicht nur weitreichende politische, soziale und kulturelle Konsequenzen, sondern ist auch ökonomisch kontraproduktiv. Denn die Privatisierung des Wissens mag zwar einzelnen Unternehmen zusätzliche Gewinnmöglichkeiten verschaffen, volkswirtschaftlich aber bewirkt sie negative externe Effekte, weil durch die Verzögerung der Ausbreitung von Wissen die wirtschaftliche Dynamik beschränkt und damit das gesamtwirtschaftliche Wachstum geschwächt wird.10 Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung betont den Zusammenhang von Bildung/Wissen und ökonomischer Entwicklung: »Für eine entwickelte und rohstoffarme Volkswirtschaft wie Deutschland ist der Bestand an Humankapital, also neben praktischen Erfahrungen vor allem der zu wirtschaftlich verwertbaren Wissen geronnene Bestand an Bildung, eine der wichtigsten Ressourcen für das Wachstum der Produktion und damit der Einkommen insgesamt.« 11

9

Vgl. Laughlin: Das Verbrechen der Vernunft, S. 130.

10 Vgl. Schui, Herbert: »Die ›knowledge driven economy‹ und das Eigentum am Wissen«, in: Klages, Johanna/Timpf, Siegfried (Hg.): Facetten der Cyberwelt. Hamburg: VSA 2002, S. 84-105. 11 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland. Jahresgutachten 2004/5. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2004, S. 422.

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Allerdings stützt sich der Humankapitalansatz, der im Rahmen der neoklassischen und neoliberalen Theorie seit den 1960er-Jahren entwickelt wurde,12 auf ein marktwirtschaftliches Verständnis von Bildungsprozessen, in denen Bildungsanbieter und -nachfrager ihre Bildungsplanung nach individuellen zweckrationalen Entscheidungen ausrichten. Bildung wird als eine privatwirtschaftliche Investition verstanden, in der die Inputs den Outputs der Wissens- bzw. Bildungsproduktion gegenüber gestellt werden. Eine Investition in das Humankapital war dann erfolgreich, wenn der Output größer ist als der Input, d.h. wenn der in Einkommen ausgedrückte Ertrag einer beruflichen Tätigkeit eine ausreichende Verzinsung der aufgebrachten individuellen Ressourcen (Zeit und Geld) zur Aneignung von Bildung und Wissen erbracht hat. Am Ende werden also die Kosten der Aus- und Weiterbildung mit den Erträgen der privaten Bildungsinvestition abgeglichen. Damit ist allerdings nichts über den gesamtwirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Nutzen der privaten Investition in Bildung gesagt. Voraussetzung dieser verkürzten ökonomischen Zweckrationalität ist, dass die Aneignung von bzw. die Verfügung über Wissen und Bildung Preise bekommt und nicht (mehr) als öffentliches Gratisgut zur Verfügung steht. Deshalb wird in allen Bereichen der Wissens- und Bildungsproduktion nach messbaren Indikatoren gesucht, werden ganze Evaluierungsbataillone entsandt, um scheinbar Erfolgreiches von Nicht-Erfolgreichem zu unterscheiden und Standards gesetzt, die den marktwirtschaftlichen Wettbewerb möglich machen sollen. Diese Standards und Evaluierungsindikatoren ersetzen gewissermaßen die fehlenden Preissignale im Bildungssektor und konstituieren so Quasimärkte. Neben der sozialen Polarisierung ergeben sich als Folge dieser Vermarktlichungstendenz von Bildungsprozessen wiederum negative externe Effekte für die gesamte Volkswirtschaft (wie umgekehrt ein gut ausgebautes und für alle gesellschaftlichen Gruppen zugängliches Bildungssystem positive externe Effekte hat). Zudem verkennt die Theorie des Humankapitals, dass Wissen erst dann eine gesellschaftliche Funktion bekommt und seinen gesamten Nutzen entfaltet – sei es in

12 Vgl. Schultz, Theodore W.: Investment in Human Capital: The Role of Education and of Research, New York: Free Pr. 1971; Becker, Gary S.: Human Capital: A Theoretical an Empirical Analysis with Special Reference to Education, New York: Columbia University Press 1975; Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart: Piper 1971, S. 115-143.

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ökonomischer, politischer oder kultureller Hinsicht – wenn es kooperativ und kommunikativ verarbeitet wird. Marktmechanismen können das individualisierte, verstreute Wissen der Individuen, entgegen der Behauptung des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayek, nur sehr begrenzt zusammenführen.13 Das strenge Regime marktgesteuerter Wissensproduktion führt im Gegenteil mit seiner aus der Industrie entliehenen, vermeintlich objektivierenden Politik der Standardisierung, Modularisierung und Qualitätssicherung zu einem entleerten, bürokratisierten Wissenschaftsbetrieb, in dem Kontrolle und Misstrauen herrschen und damit Kreativität und individuelle Urteilskraft auf der Strecke bleiben.14

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ÖKONOMISCHE K RISE ALS DES B ILDUNGSUMBAUS

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Die Neuausrichtung des Bildungssektors entlang marktwirtschaftlicher Grundsätze steht in engem Zusammenhang mit den strukturellen ökonomischen Problemen hochentwickelter Industriegesellschaften und der tiefen Krise des neoliberalen Projekts. Das neoliberale Transformationsprojekt des Kapitalismus stützt sich seit der Krise in den 1970er-Jahren auf drei wesentliche Säulen: Erstens die umfassende Globalisierung der Weltwirtschaft, verstanden als beschleunigte und intensivierte Form internationaler Arbeitsteilung, in welche die aufstrebenden Entwicklungs- und Schwellenländer durch ein strenges Regime der Handelspolitik (WTO, Weltbank, IWF) als Rohstofflieferanten und verlängerte Werkbänke integriert wurden; zweitens die Liberalisierung der nationalen Kapitalmärkte zur Schaffung eines deregulierten globalen Finanzmarktes als Quelle einer erweiterten Akkumulation und drittens die Transformation der Wohlfahrtsstaaten, die durch ein Absenken staatlicher Transferleistungen und die Verpflichtung auf das unternehmerische Selbst bei gleichzeitiger Stärkung des autoritären Elements gekennzeichnet ist. Die drei Säulen sollen nun im Folgenden erläutert werden:

13 Vgl. Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus, S. 41ff. 14 Vgl. Mittelstraß, Jürgen: »Wie die Lust an der Wissenschaft ausgetrieben wird«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.08.2009.

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1. Eine Folge neoliberaler Globalisierung ist der verschärfte internationale Standortwettbewerb. Die in der Regel aus Kostengründen erfolgte Verlagerung von Produktion in Schwellen- oder Entwicklungsländer hat massive Auswirkungen auf die nationalen Arbeitsmärkte. Das betrifft nicht nur die Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch die berufliche Qualifikation, da die Auslagerung von Produktion in Länder mit niedrigen Lohn-, Arbeitsund Umweltstandards die einfachen Qualifikationsprofile in den alten Industriestaaten entwertet. Neben den Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte verändert sich damit auch die strategische Position im internationalen Standortwettbewerb. Wollen die alten Industriestaaten ihre ökonomische Vormachtstellung gegenüber den aufholenden Schwellenländern wie Brasilien, Indien oder China längerfristig behaupten, liegt der Schlüssel nach herrschender Lesart in Innovation und technischem Fortschritt, was wiederum verstärkte Bildungsinvestitionen impliziert. Das ist der wesentliche Grund, warum die Unternehmensverbände auf eine Bildungsoffensive der Regierung drängen. 2. Die internationale Finanzmarktkrise seit 2007/8 stellt das Modell eines finanzmarktgetriebenen kapitalistischen Akkumulationsmodells grundlegend in Frage.15 Nachdem das fordistische Wachstumsmodell durch das Ende der Rekonstruktionsperiode der Nachkriegszeit in den frühen 1970erJahren ins Stocken geraten war – sichtbar an sinkenden Wachstumsraten, aufkommender Massenarbeitslosigkeit und fallenden Profitraten –, sollte durch die Liberalisierung der nationalen Geld- und Kapitalmärkte (einschließlich der Freigabe der Wechselkurse) und die Schaffung eines weitgehend deregulierten internationalen Finanzmarktes16 ein neuer globaler Wachstumsschub generiert werden. Die Vorstellung von profits without production und damit der Versuch einer allmählichen Loslösung von der physisch-materiellen ökonomischen Wertschöpfung war eine zentrale neoliberale Reaktion auf die Strukturkrise jener Zeit. Nach der Asienkrise Ende

15 Vgl. Huffschmid, Jörg: »Neue Quellen des Profits«, in: junge Welt vom 19.05.2009; Zeise, Lucas: Ende der Party. Die Explosion des Finanzsektors und die Krise der Weltwirtschaft, Köln: Papyrossa 2008. 16 Vgl. Altvater, Elmar: »Globalisierter Neoliberalismus«, in: Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (Hg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden:VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 50-68.

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der 1990er-Jahre, dem Platzen der Dotcom-Blase zu Beginn des neuen Millenniums und der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Grenzen dieses Akkumulationsmodells endgültig sichtbar geworden. Dieser kritische Punkt ist nicht zuletzt eine Folge der Generierung von Gewinnen aus Finanzvermögen, die dauerhaft stärker gewachsen sind als das Sozialprodukt selbst. Um das System aufrecht zu halten, mussten stets neue liquide Mittel in das System gepumpt werden, damit die Gewinnansprüche in Gestalt von Zinsen, Dividenden und Renten bedient werden konnten. Entstanden ist eine »strukturelle Überakkumulation«,17 die durch eine immer schwieriger werdende Verwertung des angehäuften Kapitals gekennzeichnet ist. Soll der Finanzmarktkapitalismus tatsächlich überwunden werden, bedürfte es allerdings nicht allein einer strengen Regulation der Finanzmärkte zur Eindämmung der Krisenanfälligkeit und der Rückführung des Bankensektors auf die Kernfunktion der Investitionsfinanzierung. Notwendig wäre insbesondere eine grundlegende Korrektur der in den letzten zwanzig Jahren zu beobachtenden Einkommensverteilung von unten nach oben, die maßgeblich zur Schaffung überschüssiger Liquidität beigetragen hat, welche stets nach neuer gewinnträchtiger Anlage sucht. Ohne die Korrektur der Verteilungssituation und die radikale Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik werden die Mechanismen des Finanzmarktkapitalismus auch nach der Krise wirken. Da die bisherige Entwicklung allerdings wenig Anlass zur Hoffnung auf die notwendigen Veränderungen gibt, ist ein Szenario wahrscheinlich, in dem weitere Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge für Märkte geöffnet werden und somit eine neue Privatisierungsrunde eingeläutet wird. Das betrifft in Deutschland insbesondere den Bildungssektor, der aufgrund seiner Größe und bisherigen staatlichen Regulierung einen potentiellen Wachstumsmarkt für anlagesuchendes Kapital darstellt. Zudem ist von einem starken Druck auf die gesetzliche Rentenversicherung auszugehen (wie auch auf die anderen Säulen der sozialen Sicherung), deren weitere Privatisierung neue Anlagemöglichkeit für Finanzdienstleister eröffnen könnte.18 Die bisherige Krisenpolitik der Großen Koalition verstärkt diesen

17 Krüger, Stephan: »Finanzmarktkrise: Der Umschlag des Kredit- in das Monetarsystem«, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12 (2008), S. 19-39. 18 Vgl. Christen, Christian: »Marktgesteuerte Alterssicherung. Von der Entwicklung zur Implementierung eines neoliberalen Reformprojekts«, in: Butterwegge,

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Trend: Die ökonomisch und politisch widersinnige »Schuldenbremse«, mit der die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Verfassungsrang erhält, schränkt die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume des Staates weiter ein und behindert massiv dringend notwendige staatliche Zukunftsinvestitionen.19 Damit sind »Sachzwänge« zur weiteren Liberalisierung und Privatisierung des öffentlichen Sektors politisch vorprogrammiert. 3. Der in den beiden vergangenen Jahrzehnten erfolgte Umbau des Sozialstaates hat im Zusammenspiel mit einer neoliberal inspirierten Wirtschaftspolitik das Verhältnis von Markt und Staat sowie von Gesellschaft und Individuum neu geordnet. Im Ergebnis muss festgehalten werden, dass nicht nur die ungleiche Verteilung der Einkommen zugenommen hat, sondern auch, dass der »neue« Sozialstaat auf materieller Ebene zu einer Politik der Minimalsicherung tendiert, wodurch die bestehenden sozialen Ungleichheiten zementiert oder ausgeweitet werden. Trotz dieser Entwicklung ist es gelungen, die neoliberale Formel von der »Selbstverantwortung« der Individuen ideologisch und institutionell fest in der Gesellschaft zu verankern. Die darüber transportierte Idee des »vorsorgenden Sozialstaats« basiert jedoch auf einem negativen Freiheitsverständnis, das austeilende (materielle) Gerechtigkeit weitgehend ablehnt und an ihrer Stelle die individuellen Chancen zum Marktzutritt erhöhen will. Dieser Staat soll also die Einzelnen befähigen, in der Marktwirtschaft ihren Platz zu finden – Ausbildungsfähigkeit, Employability und Knowledgeability sind hier die Schlagworte. Aufgabe der Bildungsinstitutionen ist es demnach, die so definierten Kernkompetenzen bereit zu stellen und damit den Abbau sozialer Leistungen zu kompensieren. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat diese Verschiebung früh erkannt, als er davon sprach, dass »Bildung die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts [ist]. Über Bildung wer-

Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (Hg.): Neoliberalismus. Analysen und Alternativen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 181-199. 19 Vgl. Bofinger, Peter/Horn, Gustav u.a.: »Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder«, http://www. dgb.de/2009/05/aufruf_bofinger_horn_schuldenbremse.pdf/; dieses Artikels wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

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den Lebenschancen erworben und verteilt.« 20 Noch markanter formulierte es Bundeskanzlerin Merkel: »Die Bildungsrepublik ist der beste Sozialstaat.«21 Das wertet die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung zwar auf, zeugt aber zugleich von der Funktionsverschiebung der Bildung als Instrument individueller Marktvorbereitung.

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SCHLEICHENDE T RANSFORMATION DES B ILDUNGSSYSTEMS Um die aktuellen Entwicklungen im Bildungssektor richtig einordnen zu können, lohnt ein Blick auf zwei weitere Aspekte: Die Frage, wer die treibenden Akteure dieses Prozesses sind und welche Bemühungen zur Überwindung der bekannten strukturellen Defizite des Bildungssystems tatsächlich unternommen werden. Auf der internationalen Akteursebene ist vor allem die Europäische Union zu nennen, die mit ihrer wettbewerbsorientierten Lissabon-Strategie und dem universalisierenden Bologna-Prozess einen, wenn nicht den entscheidenden institutionellen Rahmen der gegenwärtigen Bildungsreformen gesetzt hat. Der zweite Hauptakteur ist die OECD, die als Zusammenschluss der ›alten‹ Industriestaaten mittels PISA- und anderen Vergleichsstudien die Bildungssituation ihrer Mitglieder als zentralen Wettbewerbsfaktor reifer Volkswirtschaften definiert. Dass die PISA-Studien zugleich die überdurchschnittliche soziale Polarisierung im deutschen Bildungswesen offen legen, ist dabei eher ein – wenn auch bemerkenswertes – Nebenprodukt, das nicht über den eigentlichen Zweck dieser Vergleichsstudien hinwegtäuschen sollte: die effiziente Produktion von Humankapital zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Auf nationaler Ebene sind es vor allen Dingen die zentralen Arbeitgeberverbände BDA und BDI,22 das Institut der deutschen Wirtschaft sowie die Bertelsmann AG als größter europäi-

20 Rüttgers, Jürgen: Zeitenwende – Wendezeiten. Das Jahr-2000-Projekt: die Wissensgesellschaft, Berlin: Siedler Verlag 1999, S. 38. 21 Merkel, Angela: »Die Bildungspolitik ist der beste Sozialstaat«, in: Das Parlament, Debattendokumentation vom 19.09.2008, S. 1-3. 22 Vgl. BDA/BDI: Beschluss des gemeinsamen Präsidiums von BDA und BDI. Deutschland muss »Bildungsrepublik« werden, Berlin 2008.

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scher Medien- und Bildungskonzern mit ihrer Stiftung, die entlang der drei genannten Prämissen nachhaltige Interessenpolitik betreiben. Der große Einfluss der Unternehmenslobbyisten zeigte sich erstmals 2002 in Gestalt einer gemeinsamen bildungspolitischen Erklärung der Wirtschaftsministerkonferenz (WMK), der Kultusministerkonferenz (KMK) mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft (BDI, BDA, DIHK, ZDH), in der die »Bedeutung des Wettbewerbs und der internationalen Konkurrenzfähigkeit des Bildungsstandortes Deutschland«23 betont wurde, um anschließend die Eckpunkte zukünftiger Bildungsreformen zu umreißen. Die Bildungsgewerkschaften und andere Akteure des Bildungswesens waren bezeichnenderweise nicht beteiligt. Auch die Wandlung von Bildung in Humankapital zielt durchaus auf eine Bildungsexpansion, zumindest soweit sich neue Märkte dafür schaffen lassen. Ob Bildungsgutscheine zur Steuerung des Kindertagesstättenbedarfs oder der Weiterbildung, ob Standardisierung und Modularisierung der Lehrinhalte, ob Studiengebühren, Rankings oder die Herausbildung von Kernkompetenzen im Rahmen von Profilbildungsprozessen – immer geht es um die Etablierung von Wettbewerb und die Stärkung privater Akteure. Diese Entwicklung bedient vielfältige privatwirtschaftliche Interessen von Beratern aller Art, Ratingagenturen, Evaluierungsbüros oder sich formierenden Bildungskonzernen.24 So sind beispielsweise die PISA-Studien nicht zuletzt eine einträgliche Einkommensquelle für ein ganzes Konsortium kommerzieller Testagenturen.25 Faktisch sind sämtliche Bildungssektoren zu einer permanenten Reformbaustelle geworden, die alle Akteure einem institutionellen und sozialen Dauerstress aussetzt, ohne dass sich die Arbeits- und Lernbedingungen der Beteiligten oder die Ergebnisse der Bildungsprozesse in der Breite verbessern. Das liegt auch daran, dass die alt-

23 Gemeinsame Erklärung von Kultusministerkonferenz (KMK), Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK), Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), Berlin, den 28.11.2002, S. 1. 24 Vgl. Resch, Christine: Berater-Kapitalismus oder Wissensgesellschaft. Zur Kritik der neoliberalen Produktionsweise, Münster: Westfälisches Dampfboot 2005. 25 Vgl. Jahnke, Thomas: »Die Pisa-Unternehmer. Eine Kritik«, in: Forschung & Lehre (2008) H. 1, S. 26-27.

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bekannten strukturellen Probleme des deutschen Bildungssystems bisher weder aufgearbeitet noch gelöst wurden. Kennzeichnend dafür ist die chronische Unterfinanzierung der Bildung, die im vergangenen Jahrzehnt weiter angewachsen ist. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Gesamtheit der Bildungsausgaben von 6,9 % im Jahr 1995 auf 6,2 % in 2006 gesunken.26 Allein die öffentlichen Bildungsausgaben fielen von 4,1 % im Jahr 1995 auf 3,7 % in 2008, wobei sie auch nach dem ›Pisa-Schock‹ sukzessive reduziert wurden. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass die Aufwendungen um 10,3 Mrd. € per anno steigen müssten, um nur das Niveau von 1995 zu halten. Gemessen an den öffentlichen Bildungsausgaben von 1975 wären es sogar 35,3 Mrd. €, da die öffentlichen Bildungsausgaben in der letzten großen bildungspolitischen Reformperiode auf 5,1 % des BIP gestiegen waren.27 Auch im internationalen Vergleich, dem ein erweiterter Begriff öffentlicher Bildungsfinanzierung zugrunde liegt, zeigt sich die mangelnde Ressourcenausstattung des deutschen Bildungssektors: Mit 4,4 % des BIP in 2005 liegt Deutschland deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 5,4 % und damit weit hinter der Spitzengruppe der skandinavischen Länder, die zwischen 7,0 % und 8,3 % ihrer wirtschaftlichen Leistung für den Bildungsbereich verwenden.28 Eine im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellte Studie beziffert den zusätzlichen jährlichen Bildungsbedarf für Deutschland auf etwa 40 Mrd. €, um nur die dringendsten Zukunftsinvestitionen finanzieren zu können.29 Neben den fundamentalen Finanzierungsproblemen bleibt die scharfe soziale Selektion ein herausragendes Strukturproblem des deutschen Bildungssystems, das durch das Festhalten am mehrgliedrigen Schulsystem und eine zunehmende Exklusion angeblich nicht-ausbildungsfähiger Schüler und Schülerinnen zementiert wird. Die Tatsache, dass die individuellen Bildungschancen signifikant an den sozialen Status gebunden sind, wiegt

26 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.): Bildungsfinanzbericht 2008. Wiesbaden: 2008, S. 77f. 27 Vgl. GEW: Transparent. Wirtschaftspolitik & Bildungsfinanzierung, Ausgabe 1/2009, Frankfurt/Main. 28 Vgl. OECD: Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren 2008, Bielefeld: W. Bertelsmann 2008, S. 282. 29 Vgl. Jaich, Roman: Gesellschaftliche Kosten eines zukunftsfähigen Bildungssystems. Arbeitspapier 165 der HBS, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung 2008.

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umso schwerer, je mehr die Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt steigen und Bildung damit in immer höherem Maß über den Marktzutritt bestimmt. Die Schwächen des institutionellen Rahmens deutscher Bildungspolitik wurden nochmals durch die Föderalismus-II-Reform verstärkt, die nicht nur zu einer weiteren Fragmentierung und zunehmender Unübersichtlichkeit der Bildungspolitik führt, sondern auch falsche ökonomische Anreize setzt.30 So versuchen Bundesländer wie Hessen und Baden-Württemberg ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren anderorts abzuwerben, um auf diesem Weg die eigenen Ausbildungskapazitäten in der Lehrerausbildung zu Lasten anderer Bundesländer zu reduzieren. Die Einführung marktwirtschaftlicher bzw. marktähnlicher Steuerungsformen in der Bildungspolitik erfolgt also auf Grundlage eines gesellschaftspolitisch vernachlässigten und ökonomisch unterversorgten Bildungssystems, an das zugleich steigende, vor allem arbeitsmarktpolitische Erwartungen gerichtet sind. Dieser Widerspruch ist zugleich ein entscheidender Hebel zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen. So erklärt sich etwa die wachsende Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken oder die Akzeptanz gegenüber privatwirtschaftlichen Bildungsunternehmen wie der PHORMS AG, die auf die kommerzielle Übernahme bisher öffentlicher Schulen ausgerichtet ist, sowohl mit der desolaten Grundausstattung vieler allgemeinbildender Schulen wie auch mit der Hoffnung, die Arbeitsmarktchancen des eigenen Nachwuchses zu erhöhen. Die miserablen materiellen Bedingungen in vielen Bereichen des Bildungssystems, aber auch die Inflexibilität und Intransparenz der staatlichen Bildungsträger lassen das Vordringen privater Akteure auf den ersten Blick wie eine Befreiung erscheinen, die vermehrten Kapitaleinsatz und das Ende staatlicher Bevormundung verspricht. Was auf der dezentralen Ebene als funktionale Verbesserung bestehender Missstände gepriesen wird, ist faktisch die schrittweise Umsetzung eines global angelegten Paradigmenwechsels vom öffentlichen Gut Bildung zu dessen Kommodifizierung. Diese Umsetzung erfolgt gewissermaßen schleichend über Sachzwänge produzierende institutionelle Weichenstellungen wie das internationale Handelsabkommen für Dienstleistungen (GATS) der Welthandelsorganisation (WTO) oder die genannten Initiativen

30 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2008, Köln: Papyrossa 2008, S. 229ff.

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der EU und der OECD.31 Der Soziologe Richard Münch verdeutlicht den Zusammenhang anhand des PISA-Regimes, das mit seinen Testreihen die internationale Standardisierung des Bildungswesens vorantreibt und damit eine wettbewerbliche self-fullfilling prophecy generiert,32 deren implizite Normen das Handeln der Bildungsakteure – oftmals unbewusst – beeinflussen oder gar bestimmen. Er spricht zu Recht von einer »Art der Modernisierung als Mittel- und Zielverschiebung unter der Hand«,33 weil die Vorgaben von supra- oder transnationalen Organisationen und ihren Beratungsagenturen gemacht werden, die den nationalstaatlichen demokratischen Kontrollverfahren entzogen sind. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum die wettbewerbsorientierte Steuerung der Bildungspolitik und die schrittweise Privatisierung des Sektors ohne nennenswerte gesellschaftliche Debatten erfolgt, obwohl es um eine der wichtigsten Säulen öffentlicher Daseinsvorsorge geht.

AUSBLICK Die gewachsene Bedeutung der Bildung geht mit einer ökonomischen Transformation des deutschen Bildungssystems einher. Auch wenn der ökonomische Zweck zum herrschenden Leitbild der Bildungspolitik wird, so beschreibt der Begriff der ›Ökonomisierung‹ diesen Prozess doch nur unzureichend. Im Kern geht es um die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Anreiz- und Steuerungssysteme in allen Bildungssektoren und um die Etablierung einzelner neuer Bildungsmärkte, wobei in der Praxis nicht selten »dysfunktionale Hybride«34 entstehen. Damit wird Bildung als öffentliches Gut grundlegend in Frage gestellt, was umso schwerer wiegt, weil diese

31 Vgl. Wallimann, Isidor: »Über Bologna-Prozess und GATS zum privatisierten europäischen Hochschulraum«, in: Liesner, Andrea/Lohmann, Ingrid (Hg.): Bachelor bolognese. Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur, Opladen: Barbara Budrich 2009, S. 185-190. 32 Vgl. Münch, Richard: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 17. 33 Ebd., S. 19. 34 Ebd., S. 9.

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grundlegende Neuausrichtung weitgehend ohne öffentliche Debatte und damit ohne politische Legitimation umgesetzt wird. Die von handfesten ökonomischen Interessen geleiteten Akteure marktwirtschaftlicher Modernisierung stützen sich auf institutionell geformte Sachzwänge internationaler Organisationen und die vermeintlichen Effizienz- und Funktionsgewinne neuer Bildungsstrukturen. Ein weiterer Hebel zur Durchsetzung sind die desolaten materiellen Zustände im Bildungswesen selbst, die nach Jahrzehnten der Unterfinanzierung entstanden sind. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn viele Betroffene in den marktwirtschaftlichen Freiheits- und Effizienzversprechen eine letzte Hoffnung sehen. Festzuhalten aber bleibt, dass weder der paternalistische Staat noch ein selektives Marktsystem der Bildung eine Zukunft geben. Ein emanzipatorisches Bildungssystem mit einer starken politischen Bildung kann sich nur auf eine umfassende Partizipation der Beteiligten und die ausreichende Finanzierung der Bildung im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge stützen.

Reflexionen über Idee und Aufgabe der Universität

Das Prinzip Universität als unbedingtes Recht auf Kritik1 P LINIO W. P RADO J R .

Die Universität sind wir, hier und jetzt. Denn es gibt keine Universität ohne eine Verantwortung, hier und jetzt, in Bezug auf das, was kommt (auf die Zukunft und das, was kommen oder sich ereignen kann im Sinne eines unvorhersehbaren Ereignisses).2 Und wenn wir hier sind, dann weil wir uns, wie mir scheint, Sorgen darüber machen, was heute mit der Universität geschieht, um ihre Zukunft und ihre Verantwortung in Bezug auf das, was kommt. Ich werde mich auf einen einzigen, aber sehr wesentlichen Punkt konzentrieren, nämlich den Punkt, der die Essenz der Universität berührt. Von diesem Punkt ausgehend werde ich mich bemühen, kurz zu umreißen, was meiner Meinung nach im Hinblick auf den Widerstand gegen die aktuelle Offensive der liberalen Politik, die dem wesentlichen Prinzip der Universität neun Jahrhunderte nach seiner Begründung ein Ende bereiten will, auf dem Spiel steht.

1

Übersetzung des Manuskripts des Vortrags auf der Konferenz Schöne neue Bildung? am 17.06.2010 an der Universität Hamburg, Übersetzung aus dem Französischen: Harriet Thiele, modifiziert durch die Hg.

2

Wortspiel des Autors im Französischen zu den Begriffen »à-venir«, »avenir«, »ce qui peut venir«, »évènement«; Anm. d. Ü.

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1. Unter dem »Prinzip Universität« verstehe ich das Prinzip, das ursprünglich die Universität als einen Ort der unbedingten, freien und öffentlichen Ausübung des Denkens begründet hat. Das ist die Bedeutung von autonomia in ihrem ursprünglichen, grundlegenden Sinn: Dass der Geist sich sein eigenes Gesetz (nomos) gibt. Das Prinzip der Autonomie oder der Autarkie (autarkeia im Sinne der Schulen der Weisheit der Antike, die der Ursprung der Universität sind) ist ein entscheidendes konstituierendes Prinzip. Es errichtet die Universität als einen strukturell souveränen Ort, und zwar durch das Befragen, Hinterfragen und das freie reflexive Untersuchen. In einem Wort: durch die Kritik. An der Universität hat man das Recht und die Pflicht, jede diskursive Behauptung (ob ihrer Wahrheit, Korrektheit, Schönheit, …) zu untersuchen und eigenständig zu beurteilen (krinein, kritisieren). Nichts steht über der Hinterfragung und der kritischen Untersuchung, nichts ist vor ihr sicher, alles muss der freien und öffentlichen Kritik der Vernunft unterzogen werden können: die Autorität der Tradition, die der übernommenen Auffassungen, die Ziele der Gesellschaft, die bürgerlichen Gesetze, die technischen oder wirtschaftlichen Zwänge des Systems, die Entscheidungen des Staates. Dazu gehören selbstverständlich auch die Ausführungen, die ich gerade hier mache.

2. Folglich ist dem Prinzip Universität als solchem eigen, dass es keinerlei Macht und keinerlei externen Zwecken (finalités) untergeordnet ist, weder wirtschaftlichen, politischen, ideologischen, von den Medien bestimmten, technischen oder technokratischen. Das ist die absolute Bedingung dafür, dass z.B. die Idee des rechten Lebens (vie juste) – die Idee eines Lebens, das lebenswert ist, die Idee von dem, was wir sein sollen, oder die eines besseren Zusammenlebens – ein Teil der Realität werden kann, indem sie diese verändert, indem sie das Leben verändert. Die gesamte Geschichte der westlichen Universität – seit der Erfindung der universitas der Professoren und Studierenden in Bologna gegen Ende des 11. Jahrhunderts, und der Constitutio Habita im darauffolgenden Jahr-

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hundert (1158), die diese universitas im Recht als von jeglicher Macht unabhängig errichtete, bis zu ihrer Neugründung und den modernen kritischen Überlegungen – von Humboldt und der Gründung der Berliner Universität bis Schopenhauer und Nietzsche, von Max Horkheimer bis Rudi Dutschke, von John Newman und Charles S. Peirce bis Drew Faust, von Émile Durkheim bis Jacques Derrida, … – setzt dieses Prinzip der Autonomie voraus und bekräftigt es. Denn nur unter dieser einen – unbedingten – Bedingung ist Universität möglich. Und nur so kann sie der Verantwortung, die ihr in der Welt von heute und morgen obliegt, gerecht werden. Das heißt: der Ort sein, wo das Wissen reflektiert wird, wo sich die Gesellschaft erdenkt und wo die Zukunft geschmiedet wird.

3. Man sieht also deutlich: Im Herzen des Prinzips Universität stellt die grundlegende Fähigkeit, frei und öffentlich zu kritisieren, Fragen zu erarbeiten und Zwecke (fins) zu gestalten, gleichzeitig die Bedingung und das Versprechen einer Emanzipation der Menschheit dar. Wir haben da in nuce, als Teil des Universitätsprinzips selbst, die Minimalcharta jeder Universität, die dieses Namens würdig ist, und insbesondere der modernen Universität: • die unbedingte Forderung nach freier und öffentlicher Ausübung des kritischen Denkens (auf der Suche nach der Wahrheit um ihrer selbst willen, mit welchen Konsequenzen auch immer); • der Anstoß eines Bildungsprozesses 3 der menschlichen Gemeinschaft durch die Aneignung von kritischem Wissen und Gegenwissen, also der Emanzipationsprozess4 schlechthin. Man findet diese beiden Punkte im Detail in der Diskussion von Philosophen und Gelehrten, die von 1807 bis 1810 in Berlin vor dem Hintergrund der Kant’schen Kritik stattfand und die zur Gründung der ersten modernen

3

Anm. d. Hg.: deutsch im Original

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Anm. d. Hg.: deutsch im Original

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Universität führte, die den in den sogenannten entwickelten und Entwicklungsländern im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstandenen Universitäten als Vorbild diente. Ich werde darauf jetzt nicht weiter eingehen. Ich möchte vielmehr Folgendes anmerken: Es erscheint demnach deutlich, dass in der modernen Zeit die Begründung der Universität nicht gedacht und umgesetzt werden kann, ohne auf eine Philosophie der Geschichte zurückzugreifen, die sie legitimiert. Diese stellt sich letztlich immer, sicherlich mit gewissen Abweichungen, als eine Erzählung dar, in der sich ein Subjekt / Selbst5 in Richtung seiner Vervollkommnung bewegt, wie man dieses Subjekt auch nennen mag: Geist, Nation, Volk (historisch oder geschichtlich6) oder auch Proletariat oder Menschheit. Die Universität findet somit ihre Daseinsberechtigung als wichtige Akteurin im Prozess der Vervollkommnung eines Subjekts.

4. Nun ist es aber gerade diese Aussicht auf die Verwirklichung oder Emanzipation eines Subjekts mit allgemeiner Bestimmung, die im 20. Jahrhundert und ganz deutlich in den 60er Jahren zu verblassen beginnt. Die neue doxa, die im Zuge der erneuten Entfaltung des Kapitalismus aufkommt – die Technokratie – kann mit dem modernen Szenario der Vervollkommnung des Geistes oder der Emanzipation der gesamten Menschheit schon nichts mehr anfangen. Den einzigen Zweck (enjeu), den die Entscheider von nun an anerkennen, ist die Optimierung der Leistung des Systems und die Wertsteigerung der Investitionen. Das ist die »Reduzierung des Wissens auf einen Gegenstand des Marktes«,7 wie bereits Jacques Lacan, unmittelbar nach 1968, bei der Gründung der Universität von Vincennes (Université de Paris 8) anmerkte. Heute, 40 Jahre später, ist die aktuelle Verschärfung des technokratischen Diskurses, der seinen Zynismus offen zeigt, in vielerlei Hinsicht nichts weiter als die Vollendung dieser Reduzierung vor dem Hintergrund

5

Anm. d. Hg.: »Subjekt / Selbst« deutsch im Original.

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Anm. d. Hg.: deutsch im Original.

7

Lacan, Jacques: »D’une réforme dans son trou« (1968), in: Figures de la psychanalyse No. 17, Paris: Erès 2009.

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des triumphierenden globalen Liberalismus. Die Bürger, die von den ›Experten‹-Beschlüssen über die großen gesellschaftlichen Entscheidungen ausgeschlossen sind, werden dazu angehalten, ihr Streben den Zwecken (fins) des Systems ›anzupassen‹. Für die Universität und was sie bedeutet, ist dies nicht mehr die Zeit der Gelehrten, der Philosophen und der praktischen Kritiker, die daran festhalten, ihr Prinzip entwerfen zu wollen, sondern die Stunde der Verwaltungsbeamten mit ihrem rein unternehmerischen Ansatz, die danach streben, die Universität der Ratio des Investitionsertrags, des Return on Investment zu unterwerfen. Die aggressive Offensive der ›Reformen‹ seitens liberaler Manager, die heute überall den Richtlinien internationaler Organe des ›kognitiven Kapitalismus‹ gehorchen – dem European Round Table of Industrialists (ERT), der Organisation für Zusammenarbeit und wirtschaftliche Entwicklung (OECD), der Welthandelsorganisation (WTO), der Zentralbank, der Europäischen Kommission –, zeigt, dass die Universität ganz klar, in ihrem wesentlichen Prinzip, die letzte Trutzburg ist, die es um jeden Preis zu erobern und zu unterwerfen gilt. Ich werde in diesem Zusammenhang nur eine Erklärung zitieren, die dem Bericht Education and European Competence des ERT von Januar 1989 entnommen ist: »Bildung und Ausbildung werden als lebenswichtige strategische Investitionen für den zukünftigen Erfolg des Unternehmens gesehen, [doch] das Unternehmen hat nur einen geringen Einfluss auf die Lehrpläne, und die Lehrenden haben ein unzureichendes Verständnis des wirtschaftlichen und geschäftlichen Umfeldes und vom Begriff des Gewinns.«8

5. Die Strategie des globalen Liberalismus für den ›großen Wissensmarkt‹ möchte dem unbedingten Prinzip Universität gerne ein Ende bereiten. Das heißt: der Universität insgesamt, wie sie seit fast einem Jahrtausend erdacht, gewünscht, gefordert wird.

8

European Round Table of Industralists: Education and European Competence. ERT Study on Education and Training in Europe. Brüssel: Elsevier 1989.

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Das drücken die Konzepte, die das aktuelle Stadium des liberalen Kapitalismus beherrschen, deutlich aus, indem sie in Wissen als strategisch wichtige Größe investieren – die »neue Phase der Wirtschaftsgeschichte«, wie die Ökonomen sagen, in die wir seit den 1990er Jahren eingetreten seien. Ich spreche hier von den Konzepten der ›Kenntnisökonomie‹, der ›Wissensökonomie‹, des ›intellektuellen Kapitals‹, des ›kognitiven Kapitals‹, des ›Humankapitals‹. Sie besagen alle, dass Wissen – technologisches, wissenschaftliches, Management- oder Innovationswissen – das wichtigste Arbeitsmittel des Systems geworden ist, dass das System dieses Mittel bis zu seiner vollen Ertragsleistung mobilisieren muss, denn von diesem Wissen hängt der einzige, von nun an entscheidende Vorteil in der Welt der Globalisierung ab: die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Schon in den 1970er Jahren hatten Daniel Bell und Alain Touraine diese Veränderung mit dem Namen »post-industrielle Gesellschaft« bezeichnet. Hieran knüpfte Jean-François Lyotard das Entstehen der »postmodernen Kondition«. Was man heute den »Bologna-Prozess« oder die »Lissabon-Strategie« nennt, sind umfassende Verfügungen im Sinne dieses Programms zur Annektierung des Wissens durch den liberalen Kapitalismus. Damit beginnt der Aufstieg der Theorie des ›Humankapitals‹. (Ich erinnere daran, dass der Untertitel des berühmten Buchs von Gary Becker, Human Capital, folgende entscheidende Präzisierung enthält: with Special Reference to Education.9) Die Universitäten sollen von nun an die neuen Zentren des kognitiven Kapitalismus nach dem neuen Modell der industriellen ›Unternehmensuniversität‹ werden.

6. Doch die Optimierung der Leistungen und der Gewinne, wie vom kognitiven Kapitalismus gefordert, definiert nur einen technischen, technowirtschaftlichen Zweck (enjeu) und kann als solche keinen allgemeinen

9

Becker, Gary S.: Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, with Special Reference to Education, (1964) 3rd ed., University of Chicago Press 1993.

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Zweck (finalité) für das Wissen oder die Universität darstellen. Genauso wenig, wie sie ein Lebensziel für die gesamte Gesellschaft sein kann. Im Übrigen wissen wir alle inzwischen, dass die Ausweitung und die allgegenwärtige Durchdringung durch die techno-wirtschaftlichen Zwänge des Systems keineswegs eine Verbesserung der conditio humana, eine Steigerung der Aufklärung, der Sensibilität, der Toleranz oder der Kultur in den Köpfen, einen Fortschritt der Menschheitsgeschichte hin zur Emanzipation und auch kein Versprechen eines gerechteren Lebens für die kommenden Generationen mit sich führt. Es ist vielmehr von all diesem das Gegenteil, das wir bei der immer schnelleren Verbreitung jenes Systems in diesem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts beobachten. Zum Beispiel: die zunehmende Entmenschlichung in den Gesundheitsberufen (wo heutzutage selbst die Patienten zunehmend entsprechend ihrer ›Rentabilität‹ ›sortiert‹ werden), bei der Justiz (wo der notorische Mangel an ›menschlicher Bildung‹ der Richter und Staatsanwälte katastrophale gerichtliche ›Funktionsstörungen‹ erzeugt), beim Ingenieurwesen und den Technologien (wo nur noch reine, simple Fertigkeiten vermittelt werden und man letztlich ›halbseitig Wissensgelähmte‹ hervorbringt, denen eine Bildung10, die diesen Namen auch verdient, also eine kritische und reflexive, amputiert wurde. Ganz zu schweigen von den Studiengängen und Ausbildungen im Zusammenhang mit Information und Journalismus sowie Wirtschaft und Verwaltung, inklusive des Unternehmertums. Ihnen allen mangelt es gewaltig an einer Ausbildung der Person und sogar des Geistes, dieser Ausbildung »zum Beruf des Menschseins«11, um es mit Montaignes Worten auszudrücken. Trotz dieser Situation wird von dem technowissenschaftlichen, liberalen und demokratischen (oder demokratisch-medialen) System alles eingerichtet, um diese eine kritische Frage – bis in die Universitäten hinein – vergessen zu machen: Die Frage nach den Zwecken (fins), den Zielen des Lebens.

10 Anm. d. Hg.: deutsch im Original. 11 Anm. d. Hg.: deutsch im Original.

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7. Und dabei ist die Universität vom Prinzip her und par excellence kompetent und verantwortlich in Bezug auf diese Frage nach den Zwecken (fins). Sie ist ein letzter Ort, wo es noch möglich ist, diese Frage zu stellen und zu erarbeiten: die Frage nach dem Sinn, nach den Zielen des Lebens, nach der Bedeutung und der Bestimmung des Menschen. Darum wird die Universität, und in ihr das Aufkommen der neuen zeitgenössischen Geisteswissenschaften (humanités), mehr denn je unverzichtbar in einer Welt, in der man ständig die zerstörerischen Auswirkungen der Hegemonie der Leistungs- und Gewinnoptimierungszwänge in Bezug auf alles beobachten kann, auch auf das, was lebendig und menschlich ist, den Geist und die Körperseele; in einer Welt, in der die Wissenschaften, inklusive der Lebenswissenschaften, immer mehr zu einem industriellen Faktor, einem »ökonomischen Faktor«, wie es heißt, und schließlich zu einem Geschäft werden; in der man bezüglich der Gewinne, die beispielsweise von Genetikpatenten abgeworfen werden, nunmehr von Genodollars spricht. (Dieser Neologismus, der in einem Wort das Erbe des Lebenden und seine kommerzielle Ausbeutung verknüpft, fasst alleine schon das Schicksal zusammen, das dem Menschen und dem Leben heutzutage bereitet wird.) Wir stehen also tatsächlich vor einer entscheidenden historischen, ja sogar zivilisatorischen Wende. Denn auch wenn man das alles vielleicht nicht als so ernst betrachtet – die Ausweitung des Gesetzes des Güterhandels auf alles: Wissen, Sprache, Lebendes, Menschliches, inklusive Körper und Seele –, so fällt es doch schwer, nicht zu erkennen, dass wir es heute, auf dem Gipfel der Zivilisation, mit einer neuen Art der Barbarei zu tun haben. Eine Barbarei auf dem Höhepunkt der technowissenschaftlichen Entwicklung vor dem Hintergrund des globalen Liberalismus, die sich unter dem gemeinen und vom Konsens geprägten Namen des »weltweiten Wirtschaftswettbewerbs« entfaltet.

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8. Die Sache ist ernst, die Herausforderung sicherlich komplex, aber die allgemeine Linie, der es zu folgen gilt, ist klar, zumindest in ihren groben Zügen. Sie ist zweierlei und Teil des ureigenen Universitätsprinzips. Einerseits ist das Prinzip Universität per definitionem ein kritisches Prinzip des Widerstands gegen jegliche Form der Unterwerfung und gleichermaßen gelegentlich ein Prinzip des Ungehorsams, der »civil disobedience« im Sinne Henry David Thoreaus. Das Prinzip des Ungehorsams besagt, dass wir angesichts der notorischen Ungerechtigkeit eines Gesetzes das Recht und sogar die Pflicht haben, uns ihm zu widersetzen. (Kant hat uns gelehrt, dass jegliches Gesetz, das sich, um in Kraft zu treten, einer echten Diskussion entziehen muss, genau dadurch bereits seinen grundlegend ungerechten Charakter bescheinigt.) Doch andererseits ist das unbedingte Prinzip Universität zugleich die Arché – der Ausgangspunkt und Leitfaden jeglichen Entwurfs und jeglicher Neuerfindung der kommenden universitas der Lehrenden und Studierenden, einer universitas, die der Komplexität der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist. Dieses Prinzip ordnet das Wesen der Universität in den Bereich ein, wo grundlegendes Untersuchen und Lehren untrennbar, unvollendet, unfunktional und nicht zweckgebunden sind. Dieser Bereich bildet den zentralen historischen und grundlegenden Kern der Universität. Er umspannt auf einzigartige Weise die Kenntnisfelder, die direkt mit der Frage des Menschlichen (und folglich des Unmenschlichen), ihrer Bedeutung und ihren Zwecken (fins) in Verbindung stehen: Kunst, Literatur, Philosophie, Geisteswissenschaften und kritische »Gegengeisteswissenschaften« (»contre sciences« humaines critiques, wie Michel Foucault gesagt hätte). Nennen wir sie im weitesten Sinne moderne und zeitgenössische Geisteswissenschaften. Sie sind für eine ethische, ja sogar politische Suche nach einem lebenswerten Leben, einem Leben, das es verdient, gelebt zu werden, absolut erforderlich. Sie sind der Ort schlechthin für diese praktische Forschung im Einklang mit der ›Lebenskunst‹ (der berühmten techne tou biou) der Schulen der Weisheit der Antike, deren zeitgenössische Erbinnen par excellence sie sind. Anders gesagt, sind sie unverzichtbar für die Erarbeitung der heute entscheidenden Frage: nach dem Einklang (oder der Unvereinbarkeit) von

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Sinn und Existenz, der Frage »Was ist Leben?«, »Wie soll man leben und wofür?«. Jede Initiative, die heute darauf abzielt, die Universität und ihre Verantwortlichkeiten neu zu denken (und alles muss neu gedacht werden!), muss unweigerlich von diesem wesentlichen Kern der neuen Geisteswissenschaften ausgehen.

9. Es ist kein Zufall, wenn gerade dieser historische und überaus wichtige Kern die zentrale Zielscheibe der aktuellen liberalen Angriffe darstellt. Man kann sagen, dass das Kritische und Grundlegende, was bei der derzeitigen historischen Wende, d.h. bei dem Streit und dem heute offenen Krieg zwischen der Universität (getreu ihres Prinzips) und dem globalen Liberalismus (in seiner ›kognitiven‹ Phase), auf dem Spiel steht, letztendlich das Schicksal der Antwort ist, die es von nun an auf die Frage nach dem Sinn, die Frage »Wie leben und wofür?« zu geben gilt. Mit der Offensive seiner Organe und seiner internationalen Lobby will der liberale Kapitalismus – der ›universelle Auflöser‹ jeglichen Sinns, jeglichen Prinzips – seine Hegemonie festigen, indem er den Menschen seinen eigenen ›Sinn‹ der Existenz diktiert (der sich letztendlich zusammenfassen lässt als Konkurrenz im Kriege befindlicher Interessen, die allein durch das Gesetz des Marktes reguliert werden). Er strebt folglich danach, den historischen und wesentlichen Ort par excellence für die Erarbeitung dieser Frage nach dem Sinn und den Zwecken (fins), den die Universität, und in ihrem Herzen die Geisteswissenschaften, darstellt, zu verabschieden (seiner Autonomie und seiner prinzipiellen Souveränität zu entheben). Doch diese Annektierungsunternehmung stößt sich heute und auch in Zukunft an einer inneren Grenze, die auf das Wesen der in der Universität verrichteten Arbeit selbst zurückgeht: der Arbeit des Geistes. Denn der globale liberale Kapitalismus, basierend auf einer ›Wirtschaft der Kenntnis‹, kann noch so sehr versuchen, die Universität in ein Universitätsunternehmen und die autonome Lehrbeziehung (die universitas von Lehrenden und Studierenden) in ein kommerzielles Verhältnis von Dienstleistern und Kunden zu verwandeln: Er wird von den Aktivitäten des Geistes nur dann profitieren können (sie mobilisieren, sie bis zur vollen Ertragsleistung er-

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forschen), wenn er immer auch das Existenzrecht eines nicht-kontrollierten, unvollendeten, nicht-funktionalen Bereichs zugesteht, der das Wesen der Universität selbst ausmacht. Anders gesagt, durch das Einspannen, Anpassen und Managen der Aktivitäten des Geistes um jeden Preis (bei dem zwangsläufig ihr kritisches Potenzial neutralisiert wird), würde das System sie letztendlich vielmehr lähmen, sterilisieren und austrocknen. Wie Drew Faust während ihrer Rede anlässlich ihrer Amtseinführung als Präsidentin der Harvard University 2007 mahnt: Es gibt keine Universität, die diesen Namen verdient, die nicht »von Natur aus eine Kultur der Ruhelosigkeit und sogar der Widerspenstigkeit« pflegt, eine »Kultur der kreativen Widerspenstigkeit«. Und Faust unterstreicht auf ihre Art auch, was ich das Prinzip Universität nenne: »Wir führen sie [die Universität] um ihrer selbst willen fort, weil sie uns zu verstehen gibt, was uns durch die Jahrhunderte zu Menschen gemacht hat, und nicht, weil sie unsere globale Wettbewerbsfähigkeit verbessern kann.«12

10. Andererseits ist der systemische Standpunkt des technowissenschaftlichen Kapitalismus konstitutiv ungeeignet, wenn es um die Frage nach dem Sinn geht, die Frage nach dem lebenswerten Leben, nach dem besten Ziel des Lebens für das Zusammen-Sein – was sich an dem irrwitzigen Zustand der Welt derzeit erkennen lässt. Die Geisteswissenschaften, im genannten Sinne, jedoch sind historisch und per definitionem in diesen Fragen nach dem Sinn und den Zwecken (fins) kompetent. Was auf dem Spiel steht, die Herausforderung, ist tatsächlich von erheblicher Größe: heute die Frage »Was heißt Leben?« zu beantworten, eine »techne der Lebenskunst« zu erarbeiten, und zwar unter den zeitgenössischen Bedingungen, nämlich denen des ›kognitiven Kapitalismus‹.

12 Faust, Drew: »Installation Address«, October 12, 2007, http://harvardmagazine. com/breaking-news/installation-address; Der Hyperlink wurde zuletzt am 10.01. 2011 überprüft.

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Nur die Universität und, genauer gesagt, die neuen Geisteswissenschaften werden in der Lage sein, sich dieser Herausforderung zu stellen; aber eine Universität der Zukunft, eine andere Universität, sogar eine Universität außerhalb oder jenseits ihrer selbst, in der die Zeit für die freie und öffentliche Ausübung des Denkens, der Forschung, der Lehre und des Experimentierens als absolut unverletzbar geschützt, geehrt und gefördert anerkannt wird. Das ist die wichtigste Bedingung, damit diese Universität getreu ihres Prinzips der Ort sein kann, wo in der modernen Welt Männern und Frauen noch eine Chance gegeben wird, herauszufinden und herauszuarbeiten, was sie sein sollen.

Die Universität als Ort öffentlicher Vorlesung1 J AN M ASSCHELEIN , M AARTEN S IMONS

Sowohl die Bildungsuniversität als auch die unternehmerische Universität enthalten Deformationen der spezifischen öffentlichen Form der Universität. Indem wir über Bildung und Exzellenz hinausgehen, wollen wir der Universität nicht den Rücken kehren, sondern vielmehr die spezifische Form der Universität genauer untersuchen. Die Besonderheit der Universität liegt weder in der Tatsache begründet, dass sie drei (getrennte) Funktionen kombiniert, noch darin, dass ihre Mitarbeiter drei Rollen ausfüllen (Forschung, Lehre, Dienst an der Öffentlichkeit), noch in der Tatsache, dass ihre Lehre forschungsbasiert ist, sondern sie liegt in ihrer spezifischen pädagogischen Form begründet: einer Form, die zugleich Erforschung, Bildung und Weltverfertigung (Mondialisation) umfasst. Als Form ist die Universität ein raumzeitliches Dispositiv, das Text, Bilder und Objekte in Dinge umwandelt, die Interesse wecken, in Gedankendinge oder in Fragestellungen. Es ist eine Form, die Materie in öffentliche Materie (in eine Welt) umwandelt, ein Publikum von Studierenden und Professoren versammelt und zu öffentlichen Figuren macht. Diese Form schließt eine besondere Erfahrung der Zeit (als gegenwärtige Zeit, als Lücke), des Raums

1

Der Beitrag basiert auf dem Abschnitt »Die Welt-Universität als Veröffentlichungs- und Versammlungsdispositiv« in Masschelein, Jan/Simons, Maarten: Jenseits der Exzellenz – Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, Zürich: Diaphanes 2010.

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(als heterotoper Raum) und der Materie (als Themen oder Dinge von Belang) mit ein. Sie impliziert ein besonderes akademisches Ethos (ein experimentelles Ethos des öffentlichen Vernunftgebrauchs und des öffentlichen Denkens) und steht in Zusammenhang mit einer bestimmten Kunst (des Darstellens, nicht des Vorführens oder Kultivierens), einer bestimmten Architektur und einer Selbstdisziplin. Die paradigmatische (aber sicher nicht exklusive) Figur dieser spezifischen pädagogischen Form ist das Kolleg bzw. die öffentliche Vorlesung,2 und die wesentlichste Kunst, Architektur und Selbstdisziplin lassen sich dieser öffentlichen Vorlesung zuordnen.3 Was wir deutlich machen wollen, ist, dass die pädagogische Form der Universität eine öffentliche Form ist, wobei wir öffentlich in einem breiten Sinne beziehen wollen auf Dinge und Menschen, die »ent-eignet« sind, nicht mehr gebunden, die losgelöst sind von Partikularinteressen (sozialer Gruppen, Berufe, Märkte, Staaten, ...) und Gepflogenheiten (in der Sphäre der Produktion und Reproduktion). Es gibt eine Geschichte der Deformation dieser öffentlichen Form, das heißt ihrer Neutralisierung oder Zähmung, um Partikularinteressen, eine bestimmte Ordnung und herkömmliche Gepflogenheiten zu schützen. Aber neben dieser Kartographie gibt es auch eine Morphologie der pädagogischen

2

Im Begriff der Vorlesung wird hier stets der Begriff des Kollegs mitgedacht, der aber im Deutschen im alten Sinne des Wortes außer Gebrauch geraten ist. Dieser bedeutete nicht nur Vorlesung, sondern im Besonderen das gemeinsame Lesen von Professor und Studenten, wie es in der frühen Neuzeit an den Universitäten üblich war – und somit die öffentliche Ausrichtung dieses Tuns, um die es uns den gesamten Text über gehen soll.

3

Auf eine bestimmte Weise setzen wir die Studien von Ivan Illich und Friedrich Kittler fort, die auf die Praxis des Kollegs als der Gründungsgeste der (mittelalterlichen) Universität hingewiesen haben, sowie die Studien Readings, der sich ebenfalls auf den »Schauplatz des Lehrens« und die »Zeit des Studiums« als eine Quelle für den Widerstand gegen die Universität der Exzellenz bezieht; vgl. Readings, Bill: The university in ruins, Cambridge, London: Harvard University Press 1996, sowie in: Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Zürich: Diaphanes 2010; Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800 – 1900, München: Wilhelm Fink 1987. Allerdings betonen wir besonders ihre öffentliche Dimension.

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Form der Universität, die wir durch eine Überprüfung der spezifischen Versuche, eine öffentliche Form zu erfinden und zu artikulieren, eröffnen können. Unser Anliegen hierbei ist nicht das eines Historikers, aber es ist dennoch hilfreich, einige der wichtigsten Bewegungen zu untersuchen, die Dimensionen dieser öffentlichen pädagogischen Form zum Ausdruck bringen.

B EWEGUNGEN UND E RFINDUNGEN – D IE P ROFANIERUNG DES B UCHES Man hat die Universitäten als die wichtigste Hinterlassenschaft bezeichnet, die uns vom Mittelalter geblieben ist. Ihr Ursprung liegt in einer bestimmten Versammlung von Menschen, die eine besondere pädagogische Form (eine besondere Art des Studiums und der Lehre) einschloss und eine besondere Art zu leben ermöglichte, die von den unmittelbaren Anforderungen der ökonomischen und sozialen Welt und von der Ordnung der Domschulen und Klöster losgelöst war, aus denen sie entstanden sind.4 Das Modell dieser Versammlung war nicht die pythagoräische Gemeinschaft (die Platons Akademie inspiriert hatte), sondern die mittelalterliche Assoziation, die man universitas nannte. Dieser Ausdruck wurde zur Bezeichnung aller möglichen Arten von Assoziationen gebraucht und musste deshalb präzisiert werden: als universitas magistrorum et scholarium oder universitas studii. Entscheidend hierbei ist, dass dies keine Vereinigung von Meistern und Schülern, Gesellen oder Lehrlingen (operae), sondern von Magistern (später Professoren) und Studierenden war. Die erste Bewegung kann also zusammengefasst werden in der Erklärung: Wir sind keine Schüler, Jünger, Gesellen, Lehrlinge, sondern Studierende – universitas studii. Diese Erklärung bedeutet auch eine DeIdentifikation mit Praktiken der Initiation oder Vorbereitung, um Teil einer bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen oder Berufsgruppe zu werden. Affirmiert wird hingegen, dass die Zeit des Studiums eine »freie Zeit« ist (griechisch scholé, Muße), das heißt Zeit, die frei von sozialen,

4

Vgl. Verger, Jacques: »Patterns«, in: Hilde de Ridder-Symoens (Hg.): A History of the University in Europe, Vol. I, Universities in the Middle Ages. Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 35-72.

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religiösen oder ökonomischen Sorgen ist und frei, sich auf den Text einzulassen. Die Universität war also eine neue Form der scholé, des öffentlichen Studiums (außerhalb der Abgeschiedenheit der Klosterzelle), und ihre Bewohner waren Magister und/als Studierende, für die die Suche nach Wahrheit und Wissen keine private Berufung, sondern eine öffentliche Aktivität war. Ihr Herzstück war eine bestimmte Form des öffentlichen Kollegs, das an die Geburt des Buchs-als-Text gebunden war, das nicht mehr als Symbol der kosmischen und göttlichen Realität galt, sondern als Materialisierung von Abstraktionen und Konzepten, sprich von Gedanken. Eine der wichtigsten Erfindungen der mittelalterlichen Universität ist in der Tat der geschriebene Text als optisches Objekt (der also im heutigen Sinne des Wortes lesbar ist, anstatt hörbar), als Buch-als-Text, das dem öffentlichen Studium zugänglich ist und es überhaupt erst ermöglicht.5 Die Erfindung des lesbaren Textes sorgt dafür, dass Worte von einem bestimmten Gebrauch durch eine bestimmte Gruppe losgelöst werden und nicht mehr »sakral« sind. Das Buch-als-Text verlangte nach Interpretation und Kommentar. Die öffentliche Vorlesung war ein collegium, eine gemeinsame Lektüre und die Versammlung einer denkenden Öffentlichkeit um einen gemeinsamen Text. Das verfügbare Buch-als-Text beinhaltet eine Profanierung, das heißt die Zugänglichkeit für den öffentlichen Gebrauch. Und obwohl es anfangs nicht an die curiositas der Renaissance und die »rationale« Kritik der Aufklärung gebunden war, verlangte dieses öffentliche Studium keinen Gehorsam, sondern eine kommentierende, interpretierende Herangehensweise, die mit einem amor veritatis und amor sciendi verbunden war. Es brachte für keinen Beruf einen unmittelbaren Nutzen, führte aber zu dem Recht (und manchmal der Pflicht), öffentlich an allen europäischen Universitäten Kollege abzuhalten (licentia ubique docendi). Wir können die Einzelheiten dieser mittelalterlichen Erfindung nicht vertiefen, und zweifellos wurde sie von Anfang an von allen möglichen Strategien begleitet, ihre öffentliche Form zu bändigen, und auf eine beständige Lebensführung nach dem göttlichen Gesetz und seiner moralischen Ordnung verpflichtet. Die Versuche, diesen Akt der Profanierung zu neutralisieren und die vermeintlichen religiösen, sozialen und politischen

5

Vgl. Illich, Ivan: In the Mirror of the Past. Lectures and Addresses 1978-1990, New York/London: Marion Boyars Publishers 1992.

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Gefahren geschriebener/lesbarer Texte einzudämmen, sind offensichtlich zahllos, aber die Bewegung war entscheidend für die Erfindung einer öffentlichen pädagogischen Form. Die zweite Bewegung war Ausdruck des Versuchs, eine öffentliche pädagogische Form jenseits des Nationalstaats und seiner bürgerlichen und juristischen Einhegung aller menschlichen Angelegenheiten zu erfinden. Sie lässt sich auf den Punkt bringen in der Formulierung: Wir sind keine Beamten, keine Geschäftsträger der Kirche, keine angestellten Lehrer, sondern »Gelehrte«. Gefordert wird – wie Kant sehr deutlich formuliert – eine öffentliche Sphäre, in der der Gebrauch der Vernunft um seiner selbst willen betrieben wird und in Anbetracht derer die öffentliche Sphäre, die der Staat für sich selbst reklamiert, nichts anderes als ein Ort des Gehorsams und des Privatgebrauchs der Vernunft ist. Worum es dieser Bewegung geht, ist die De-Identifikation mit dem Privatgebrauch der Vernunft und allen Arten der Domestizierung der Vernunft, aber zugleich die Affirmation des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft. Es ist lohnend, sich diese Bewegung und die Unterscheidung, die sie zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft trifft, ein wenig genauer anzusehen, da sie uns Hinweise auf ein bestimmtes akademisches Ethos liefern kann. In seinem Traktat Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? verbindet Kant die Aufklärung bekanntlich mit der Freiheit, und »zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«.6 Kant fährt fort, indem er deutlich macht, was er unter dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft versteht, nämlich »denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht«. Als »Gelehrter«, der sich an »ein Publikum im eigentlichen Verstande« richtet, betrachtet man sich selbst »als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgerschaft«. Deshalb ist man als Gelehrter ein Weltbürger, der, wie Kant sagt, keine Schüler lehrt, sondern »öffentlich seine Gedanken äußert« und damit beschäftigt ist, sie »dem Publikum mitzuteilen«. Als Gelehrter spricht man »zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt«, und »in sei-

6

Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: »Was ist Aufklärung?«, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. von Weischedel, Wilhelm, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977.

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ner eigenen Person«. Gelehrte legen ihre Gedanken »der Welt öffentlich vor« und fürchten sich nicht »vor Schatten«. Kant stellt diesem öffentlichen Gebrauch der eigenen Vernunft den Privatgebrauch gegenüber, den jemand von ihr macht, der »in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte« handelt, also »von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet«. In diesem Fall handelt man als »Teil der Maschine«. Und als Teil einer öffentlichen Institution (einer Maschine mit öffentlichen Zwecken) spricht man »im Namen eines anderen«, und das Sprechen wird zu einer Art Unterrichten oder Lehren. Kant zufolge ist der Gebrauch, den man als Teil einer sozialen Maschine oder Institution von seiner Vernunft macht, rein privat, da diese »immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung« ist. Versuchen wir zu reformulieren, was Kant hier sagt. Zunächst einmal unterscheidet Kant nicht nur zwischen dem privaten und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft, sondern auch zwischen dem öffentlichen Gebrauch und dem zu öffentlichen Zwecken. Der öffentliche Charakter ist also nicht an eine Institution und ihre Zwecke gebunden (das heißt, an den Ort oder die Sphäre des Gebrauchs und/oder ihre erklärten Ziele, den Dienst an einer bestimmten Gemeinschaft oder Nation), sondern an eine Figur und das Ethos, das diese Figur auszeichnet. Es ist die Figur des Gelehrten, und wie Kant feststellt, kann jedermann diese Figur sein. Diese Figur ist ein Weltbürger, aber nicht, weil sie Teil einer bestimmten Gemeinschaft ist oder ein bestimmtes Territorium bewohnt (zum Beispiel alle Menschen, die auf der Erde wohnen). Sie ist ein Weltbürger, weil und soweit sie sich selbst als Bewohner der Welt begreift, die sie durch und im Gebrauch ihrer Vernunft, dadurch dass und wie sie spricht, ins Leben ruft. Der öffentliche Charakter dieses Sprechens ist nicht an eine bestimmte Domäne oder Sphäre gebunden, das heißt eine Domäne oder Sphäre mit klaren Grenzen und Operationsregeln (die deshalb als Maschine gelten kann). Wir könnten hier, neben dem Staat als Maschine, auch an eine Wissenschaft oder Kultur denken. Der öffentliche Charakter bezieht sich stattdessen auf einen bestimmten Gebrauch der Vernunftbegabung, einer Begabung, die, wie Kant zu Beginn seines Essays erläutert, jeder besitzt, einzig eingeschränkt durch Faulheit und Feigheit. Der öffentliche Charakter hat folglich mit dem spezifischen Gebrauch selbst zu tun. Dieser spezifische Gebrauch liegt vor, wenn wir uns nicht den Regeln einer »Maschine« oder »Institution« unterwerfen und

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wenn wir uns nicht an ein Publikum wenden, das durch diese Institution und ihr Tribunal festgelegt wird. Institutionen bleiben, trotz ihrer großen Zielgruppen, »häusliche Versammlungen«, die einen Privatgebrauch der Vernunft erfordern. Der öffentliche Gebrauch dagegen liegt vor, wenn wir das Publikum in seinem eigentlichen Sinn ansprechen, das heißt ein Publikum, das sich aus jedem zur Vernunft Begabten konstituiert, also ein Publikum jenseits jeder Maschine oder Institution. Infolgedessen ist auch die Figur des Gelehrten durch ein egalitäres Ethos charakterisiert; er spricht die anderen unter der Voraussetzung der Gleichheit an – im Sinne der Profanierung der Vernunft als etwas, dessen sich jedermann bedienen kann, der nicht zu faul oder zu feige dazu ist; er spricht im eigenen Namen und demonstriert dadurch ein Ethos, demzufolge man auch sich selbst aussetzen muss. Dies ist ein experimentelles Ethos, weil der Gelehrte sich selbst den Grenzen (der Institution oder Maschine) aussetzt und die Sache, über die er spricht, zu einer öffentlichen Angelegenheit, sprich, sie öffentlich macht. Kant unterscheidet dieses Ethos sehr genau vom Ethos des Gehorsams dessen, der als Teil einer Maschine handelt, das heißt der Figur, die Regeln gehorcht und sich selbst dem Tribunal einer »häuslichen Versammlung« unterwirft, in deren Namen die Maschine operiert (auch wenn es eine Maschine mit öffentlichen Zwecken ist). Kant bejaht demnach eindeutig die Möglichkeit eines öffentlichen Vernunftgebrauchs. Er verschließt allerdings diese Möglichkeit gleich wieder, insofern er (1) dessen Öffentlichkeit auf ein lesendes Publikum beschränkt und insofern als (2) die Vernunft für ihn letztlich ein sehr spezielles urteilendes Ethos des Gehorsams impliziert.7 In seinen kritischen Schriften, die sich mit den allgemeinen Prinzipien der Vernunft befassen, transformiert er die Öffentlichkeit (definiert als die Welt jenseits jeglicher häuslichen Versammlung) in ein neues Königreich (eine neue häusliche Versammlung, eine neue Maschine): das Reich der universalen Vernunft mit seinen Gesetzen und seinem eigenen Tribunal. An diesem Punkt – und von ihm selber – wird der öffentliche Gebrauch der Vernunft gezähmt, indem Kant die Grenzen darstellt, innerhalb derer der korrekte Vernunftgebrauch sich be-

7

Vgl. Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?«, in: Erdmann, Eva/Forst, Rainer/Honneth, Axel (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/Main, New York: Campus 1990, S. 35-54.

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wegen sollte – und er beginnt seine Leser als »Richter« anzusprechen. Oder aber es geht um die Zähmung durch Kultivierung und die Neutralisierung der öffentlichen pädagogischen Form.

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Die dritte Bewegung behauptet: Dieses Institut ist nicht die Universität, und wir sind keine Generation (kein modemes Subjekt), sondern Studierende. In diesen Behauptungen hört man das Echo der De-Identifikation von 1968 mit Formen der Autorität, die auf Kultur (und allen anderen Formen des Paternalismus) fußen, und mit einem rigiden, national verfassten und bürokratisch organisierten akademischen System. Die Behauptung, dass die Institution nicht die Universität ist, dass Studierender zu sein nicht mit dem Objekt der institutionalisierten Pädagogik der Aufklärung gleichzusetzen ist, bedeutet, dass Studium und Lehrinhalte von dem heiligen Projekt der Bildung abgelöst sind. Studierender zu sein, heißt, Teil einer Bewegung zu sein und deshalb eine gegenwärtige Situation, ein Jetzt zwischen Vergangenheit und Zukunft zu inaugurieren. Die Affirmation, Studierender zu sein, wird gleichzeitig zur Affirmation eines revolutionären Ereignisses und zu dem Enthusiasmus, der die Geschichte transzendiert. Die Studierenden lehnten die historische Universität ab. Sie weigerten sich, entweder anzuerkennen, dass sie eine unreife Generation seien, die in eine Tradition eingefügt ist, oder als Intellektuelle die neuen Türhüter der Kultur zu werden, die im Namen derer sprechen, die nicht für sich selber sprechen können. Die Affirmation, Studierender zu sein, ist hier die De-Identifikation sowohl damit, ein unreifes Kind, wie damit, ein reifer Erwachsener zu sein. Worauf es ankommt, ist, wie Readings schreibt, »dass das Bildungs-Narrativ – ein einfacher Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, von der Abhängigkeit zur Emanzipation (das kantische Narrativ der Aufklärung, das den Wissensprozess der Moderne selber prägt) – von den Studierenden im Namen einer Ungewissheit zurückgewiesen wurde«. 8 Damit bricht der »Zeitpfeil« ab, der in der historischen Universität institutionalisiert war, und damit zerfällt auch jegliche teleologische Auffassung davon, was es

8

Readings: The University in Ruins, S. 147.

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bedeutet, Studierender zu sein. Und alle anderen »gesellschaftlichen Positionen« gleich mit. Die öffentliche Sphäre dringt in die Universität ein, die Kraft kollektiver Überlegung und Imagination und sowohl Vergangenheit als auch Zukunft werden aus der öffentlichen Sphäre heraus neugeformt. ProfessorInnen können nicht länger im Namen der (ihrer) Kultur oder der Zukunft vorgeben, ihr Wissen gelte für die neue Generation. Und die Studierenden tragen nicht länger den Stempel des »Zeitpfeils«, den die historische Universität ihnen eingeprägt hat, und sie greifen nicht länger nach einer souveränen sozialen und politischen Position als Intellektuelle. Studierender zu sein, ist nun jedoch gleichermaßen durch Enthusiasmus wie durch Offenheit und Unsicherheit markiert und schließt die intensivierte Erfahrung einer Anbindung an das soziale, ökonomische und politische Leben in einer de-institutionalisierten Universität mit ein. Eine neue öffentliche pädagogische Form wird erfunden, um Studierende und Professoren zu versammeln und die Universität zu organisieren und zu »leben«. Die Profanierung der Kultur und der Institutionen eröffnet Studierenden und ProfessorInnen eine neue Form, die Zukunft (und die Vergangenheit) kollektiv zu imaginieren und nach Zeit und Raum für das Studium, die Lehre, die Forschung, die öffentliche Diskussion innerhalb oder außerhalb der demontierten Institutionen zu suchen. Studierende und ProfessorInnen haben keine spezifischen Interessen – als Teil einer öffentlichen Sphäre sind sie vielmehr interessiert und an eine Welt jenseits der Nationalkultur, rigider Bürokratie und institutioneller Logik angebunden. Revolutionärer Enthusiasmus wird selbstverständlich sofort kanalisiert, Bewegungen werden institutionalisiert, Anführer entpuppen sich als politische Kandidaten, und die Bindung an die Öffentlichkeit wird nach der Logik des Dienstes an der Öffentlichkeit umgedeutet. Interessengruppen, Identitätsprojekte, öffentliche Umfragen und Pädagogiken selbstgeleiteten und individualisierten Lernens zu organisieren, scheint eine wirksame Strategie gewesen zu sein, um die öffentliche Imagination zu neutralisieren. Dennoch hat die Profanierung der geheiligten Trennlinie zwischen den Generationen, des sakralen Charakters des zu Überliefernden (Wissen und Kultur) und des »Zeitpfeils« Versuche eingeleitet, eine öffentliche pädagogische Form neu zu erfinden.

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D IE P ROFANIERUNG DER P RODUKTION UND Z IRKULATION Diese Erklärung bringt die letzte Bewegung auf den Punkt: Wir sind kein Humankapital. Wir sind keine Lernenden, wir sind Studierende. Vielleicht auch, und dies ist die Erklärung, die in diesem Essay artikuliert werden soll: Wir sind keine Unternehmer, keine Wissensproduzenten, keine Innovatoren, wir sind ProfessorInnen. Möglicherweise kommt hier eine DeIdentifikation mit der Produktion zum Ausdruck, die Profanierung der Zeit des Investierens, Rechnens und Wählens sowie der Ausbruch aus den personalisierten Kreisläufen des Lernens und der endlosen Akkumulation von Leistungsergebnissen. Es geht um die Profanierung der Zeit der Produktion, Transmission und Innovation von Wissen sowie des Raums der Umgebung, der Zirkulation und der Mobilisierung. Aber vielleicht sollten wir noch eine andere Profanierung zur Kenntnis nehmen. Ungeachtet früherer Momente der Profanierung und ungeachtet der Vermassung und Demokratisierung pflegte die akademische Gemeinschaft ihr Publikum weiterhin als ein Publikum von Lesern anzusprechen, als Leute von Bildung, als Träger und Repräsentanten der Kultur. Vielleicht werden wir heute Zeugen einer Profanierung des Denkens und der Sprache, das heißt, Denken und Sprechen werden von Kulturen, Sprachen und ihren raum-zeitlichen Fixierungen abgekoppelt. Was sonst bedeutet der sogenannte Konsumenten-Student, der Netzwerk- und OnlineStudent – der so oft von ProfessorInnen mit einem kulturellen Selbstverständnis kritisiert oder lächerlich gemacht wird –, wenn nicht, dass jeder denken und sprechen kann. Natürlich könnte man der ängstlichen Auffassung sein, diese Demokratie im Denken und Sprechen – sowie die klare Botschaft: »Ihr Professoren habt uns nicht beizubringen, wie man denkt und spricht« – unterminiere die Fundamente der Universität. Und diese Botschaft ist für jene ProfessorInnen besonders schwer zu ertragen, die genau erklären wollen, dass und wie wir alle in der Sprache gefangen sind, gefangen in einer endlosen Reihe von Repräsentationen und verurteilt zu endloser Konstruktion und Rekonstruktion der Realität. Lautet die Botschaft hier nicht: »Hört auf, über die (Un-)Möglichkeit des Denkens nachzudenken, hört auf, über die (Un-)Möglichkeit des Sprechens zu sprechen, denkt und sprecht statt dessen über etwas«?

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Eine Demokratie im Denken und Sprechen anzunehmen bedeutet deshalb, anzunehmen, jedermann sei fähig, zu sprechen und zu denken, und bedeutet weiterhin, die Erfahrung des Denkens und Sprechens zu ermöglichen, als Art und Weise, eine gemeinsame Frage kollektiv zu behandeln. Diese Profanierung des »Kommunizierens« inauguriert vielleicht sogar die Erfindung einer pädagogischen Form, in der Studierende und ProfessorInnen sich für etwas interessieren und in der das zum Thema wird, was ein denkendes Publikum versammelt. Unsere Morphologie liegt mit dieser vierten Bewegung auf einer Linie, aber sie greift auch auf die früheren Bewegungen zurück, in der Annahme, dass eine Form etwas Erfundenes ist und neu erfunden werden kann und soll. Unser Versuch, die spezifische Form der Universität zu klären, ist der Versuch, eine spezifische pädagogische Form zur Sprache zu bringen, und die Vorlesung muss als paradigmatische Artikulation dieser Form betrachtet werden. Auf eine besondere Weise und als eine bestimmte Form integriert die öffentliche Vorlesung, was heutzutage in die sogenannten Lehr-, Forschungs- und Service-Funktionen unterteilt wird, und operiert als ein Dispositiv, das Denken öffentlich macht und ein Publikum um eine Sache des Denkens versammelt.9

ARTIKULATIONEN DER F ORM DER U NIVERSITÄT – E INE F RAGE DER ÖFFENTLICHEN V ORLESUNG Es mag merkwürdig erscheinen, die öffentliche Vorlesung heute wieder in den Vordergrund zu rücken. Max Horkheimer hat sie bereits 1953 als »Symptom des Archaismus« und »missglückte Säkularisierung der Predigt« bezeichnet,10 in welcher die ProfessorInnen als Wächter der (wissenschaftlichen) Wahrheit das Publikum als Hörerschaft ansprechen. Ja, warum eigent-

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Vgl. Latour, Bruno: »From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public«, in: ders./Weibel, Peter (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Karlsruhe/Cambridge: The MIT Press 2004, S. 14-41.

10 Horkheimer, Max: »Fragen des Hochschulunterrichts«, in: ders.: Gegenwärtige Probleme der Universität, (Frankfurter Universitätsreden 8) Frankfurt/Main: Klostermann 1953, S. 24-40.

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lich sprechen ProfessorInnen im Zeitalter des Internets immer noch in öffentlichen Vorlesungen zu Massen von Studierenden? Und dennoch halten nicht nur ProfessorInnen an dieser archaischen Unterrichtsform fest, auch Studierende scheinen nach öffentlichen Vorlesungen zu verlangen und stellen sogar die Tendenz zu sogenannten aktivierenden Unterrichtsformen in Frage. In Übereinstimmung mit Horkheimer könnte man monieren, die Studierenden bevorzugten öffentliche Vorlesungen, weil sie Transparenz und einen klaren Überblick brauchen, oder sie bedürften einer Art von Doktrin, um sich in einer immer komplexer werdenden Welt zu orientieren. Man bemerkt jedoch mit Überraschung, dass Horkheimer seine kritischen Kommentare über den akademischen Unterricht und die öffentliche Vorlesung mit der Idee beschließt, dass wir diese anachronistischen Momente und archaischen Formen – die er auch als ein »Refugium« bezeichnet und die, über kontraktuelle Beziehungen hinaus, auf Vertrauen zwischen Studierenden und Professoren beruhen – vielleicht brauchen. Der Grund dafür ist, dass man sich in der RaumZeit der Vorlesung auf etwas Gemeinsames konzentriert, das heißt auf eine Sache und ihre Wahrheit, und dies nicht nur als Mittel zum Zweck. Die gemeinsame Sache verlangt Hingabe und Anteilnahme, sie bringt zum Vorschein, worum es beim Leben und beim Zusammenleben gehen könnte, und deshalb kann sie inspirierend oder bildend sein. Die öffentliche Vorlesung macht aus der Figur des Akademikers (des Gelehrten, mit Kant gesprochen) die öffentliche Figur des Professors. Diese Figur betritt den Hörsaal nicht als Wissenschaftler, der Tatsachen präsentiert und wie diese Tatsachen produziert wurden. Sie oder er enthüllt keine Welt von Fakten, zu der sie oder er Zutritt hat und die Studierenden (noch) nicht. Aber er ist auch kein bloß Unterrichtender, der den Hörsaal in eine Lernumgebung verwandelt und den Studierenden die Welt der Lernressourcen zugänglich macht, um sie zu befähigen, ihre produktiven und zunehmend individualisierten Lernkreisläufe zu beginnen. Während einer Vorlesung stellt der Professor etwas in den Raum, und dieser Akt umfasst zwei Bewegungen: Er spricht über eine Sache, aber diese Dinge und sein Reden werden zugleich den Hörern gegenwärtig gemacht, die dadurch zu einem Publikum werden, einem Publikum von Studierenden. Es kommt hierbei nicht nur darauf an, dass den Studierenden etwas sichtbar gemacht und vermittelt wird. Eine Vorlesung zu halten, ist eine Form des Redens, die zu zögernd ist, um die Studierenden um Fakten

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herum zu versammeln, auch viel zu bedacht, um ihnen den produktiven Umgang mit Ressourcen beizubringen. In der Vorlesung spricht man in Gegenwart eines Publikums über Dinge von Belang. Im Gegensatz zur Unterrichtsstunde spricht der Professor, die Professorin zu einem Publikum und betrachtet sich selbst nicht als wesentlich verschieden vom versammelten Publikum. Während der Vorlesung wird etwas in einer solchen Weise dargestellt, dass das Publikum sich fähig fühlt, Anschluss an das Dargestellte zu finden und sich mit ihm zu befassen, in seiner Gegenwart zu denken. Während der Vorlesung setzt sich der Professor den Dingen von Belang aus, die er oder sie präsentiert, und lädt, wie Goffman betont, die Studierenden ein, sich auf etwas einzulassen, unter der Voraussetzung der Gleichheit aller in Hinblick auf die Deutung und Bewertung dessen, was im Spiel ist.11 In der Tat, eine Sache in den Raum zu stellen; schließt einen Akt der Profanierung mit ein. Tatsachen und Ressourcen werden zu Themen und möglicherweise zu Dingen von Belang, indem Worte und Dinge von bestimmten Verwendungen und spezifischen Interessen losgelöst und sozusagen frei zu jedermanns Verfügung gestellt werden. Deshalb wird, wie klein oder spezifisch der zentrale Gegenstand der Vorlesung auch sein mag, die Sache zu einem Gegenstand des Denkens und provoziert infolgedessen Fragen darüber, wie man sich darauf beziehen solle. Um es sehr allgemein zu sagen, während der Vorlesung enthüllt etwas seinen öffentlichen Belang, das heißt, es enthüllt die Frage, wie wir mit ihm leben und uns ihm gegenüber verhalten wollen. Eine Vorlesung umfasst folglich stets die Einladung, ein interessiertes und beteiligtes Publikum zu werden, und begegnet Studierenden nicht als einer Gruppe von Unwissenden oder Lernenden. Der Professor präsentiert in der Vorlesung die Welt nicht als eine Sammlung von Fakten und Ressourcen, sondern indem er sie zu einem gemeinsamen Anliegen macht. Im Hörsaal wird die Welt zu einem realen und gemeinsamen Thema und werden die Hörer zu einer Anteil nehmenden Öffentlichkeit. Diesen wollen wir den Begriff Studierende vorbehalten wissen, sofern Studieren beinhaltet, sich in Gegenwart eines Themas oder gemeinsamen Anliegens dem Denken zu widmen. In diesem Sinne bedeutet, Stu-

11 Goffman, Erving: Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen, Konstanz: UVK 2005.

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dierender zu werden, stets auch, sich aus dem Hörsaal davontragen zu lassen, über den Vortragenden hinaus hin zum Thema, hin zur Welt, und somit sowohl hier als auch dort zu sein. Genau deshalb ist eine Vorlesung auch keine Vorführung oder Unterhaltung. Es gibt keine Bühne, keine Rollen, kein Drehbuch (es ist keine »häusliche Versammlung«, um Kants Formulierung zu verwenden), dafür gibt es jemanden, der die Welt präsentiert und Studierende als Publikum versammelt. Worum es eigentlich geht, ist eine Form des öffentlichen Nachdenkens (der öffentliche Gebrauch der Vernunft). Der Hörsaal und die öffentliche Vorlesung sind der Ort und die Zeit, wo Leute ohne klare Position sind, wo sie sich exponieren, wo sie außerhalb der Zeit der Produktion und Mobilisierung stehen, weil sie durch eine Herausforderung zum Denken verlangsamt werden, durch die Provokation, sich an einen Gegenstand zu binden und ihn zu hinterfragen. Diese Provokation findet ihren Ort (das heißt, sie findet statt), indem ein Gegenstand in den Raum gestellt und sein Schutz und seine Aneignung (zum Beispiel als Fakten aufgrund eines bestimmten Gebrauchs von Methoden und Theorien oder als Gegenstand einer bestimmten Disziplin) annulliert wird. Der Professor spricht keine Wahrheit aus im Namen von etwas oder jemand anderem, er spricht nicht im Namen der Welt draußen, sondern die Welt wird in und durch seine Rede als Thema gegenwärtig. Der Professor, die Professorin spricht auf diese Weise immer in seinem, in ihrem eigenen Namen – was nicht heißt, dass er oder sie bloß persönliche Ansichten über etwas äußert. Etwas wird real und denkbar in Ideen, Worten, Äußerungen, Bildern, Textfragmenten. Der Professor, die Professorin sagt Wahres, und das Kriterium für Wahrheit ist nicht in erster Linie an Validität oder Verlässlichkeit gebunden (das verweist, in Kants Worten, auf eine Maschine), sondern daran, ob es Denken provoziert. Der Professor agiert als Parresiastes, also als jemand, der frei heraus spricht, über eine Frage und im eigenen Namen. Was sich während einer Vorlesung ereignet, ist, dass sein Denken zu einem öffentlichen Denken wird, indem es etwas zum Thema macht. Dass diese Provokation zum Denken stattfindet, führt auch dazu, dass das Lehren seiner Absicherungen durch gewisse Lehrmethoden und didaktische Kunstgriffe entledigt wird, welche Themen in Ressourcen oder Fakten überführen und die Studierenden davon abhalten, sich zu exponieren und ein Publikum zu werden. Anstatt Lektionen darüber zu erteilen, wie die Welt ist, anstatt Umgebungen mit wirksamen Lern-Ressourcen zu schaffen, bietet die

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Vorlesung die Möglichkeit, durch öffentliches Nachdenken eine Welt zu erschließen oder Dinge öffentlich zu machen und ein Publikum um diese Dinge zu versammeln. Es ist eine Möglichkeit des öffentlichen Denkens, das sich durch die Deutung der Dinge vor einer Hörerschaft artikuliert, während man sich selber in der Präsenz dieser Dinge befindet – wodurch man diese sozusagen zum Sprechen bringt, sie zu einem Thema macht und ihnen Präsenz verleiht. Oft schlecht artikuliert, zögernd, fragend, tastend, suchend, aber diese Präsenz ist das Ereignis, das zum Denken provoziert. Fakten und Ressourcen oder die Professorin als Forscherin oder Unterrichtende provozieren kein Denken, sondern appellieren an Wissen und Produktionsfähigkeit. In der Vorlesung geht es darum, den Dingen selbst die Kraft zu verleihen, die Studierenden (und den Professor selbst) zum Denken zu provozieren, anstatt die Studierenden auf die Tatsachen zu verweisen, die sie kennen sollten, oder auf die Ressourcen, die sie für ein produktives Lernen zu nutzen haben. Kurz gesagt, die einzigartige pädagogische Form der Universität ist die Form, die das Denken öffentlich macht und ein Publikum um Gedanken herum versammelt.

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Im Lichte der voranstehenden Überlegungen wird klar, dass die Besonderheit der öffentlichen Rolle der Universität nicht in erster Linie in der Forschung liegt (in der Veröffentlichung von Forschungsarbeiten und in der Information der Öffentlichkeit über die Ergebnisse) oder in Unterricht oder Lehre (der Vermittlung von Wissen an eine Gruppe von »Lernenden«), sondern hauptsächlich im öffentlichen Nachdenken (dem Studium) und in der öffentlichen Rede des Professors, in Hörsälen, Auditorien und Seminarräumen. Dabei sollten wir allerdings die spezielle Architektur dieser Orte nicht außer Acht lassen. Hörsäle oder Seminarräume sind häufig darauf ausgelegt, Menschen um etwas zu versammeln, um dieses Etwas, diese Sache öffentlich zu machen und dem Publikum zu ermöglichen, ins Dasein zu kommen. Hörsäle sehen aber nicht aus wie ein Theater oder Parlament. Sie haben keine Bühne, keine Arena, kein Halbrund. Sie sind oft nicht so gestaltet, dass eine Aufführung gut sichtbar ist oder die Blicke auf den Redner (gleichsam als dem »Vorsitzenden«) gelenkt werden. Als pädagogische Form scheinen sie konzipiert zu sein, Menschen als Gleiche (als Publikum) um etwas zu ver-

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sammeln, versammelt von jemandem, der sich seine Gedanken über etwas Öffentliches macht. Deshalb unterscheidet sich die Bauweise dieser Räume wohl von der Bauweise aktueller flexibler (Lern-)Umgebungen, die auf schnellen Unterricht, klare Visualisierung von Fakten und die Verfügbarkeit von Lernressourcen ausgerichtet sind. Diese physischen und virtuellen Lernstätten ermöglichen Wissensproduktion und -vermittlung und somit die Zirkulation und Mobilisierung des Humankapitals, wirken aber dem Öffentlichmachen des Denkens oft entgegen. Wir wollen hier nicht dafür eintreten, all die alten Hörsäle zu restaurieren, obschon viele von ihnen immer noch die Gelegenheit zum öffentlichen Nachdenken geben. Wir wollen jedoch darauf hinweisen, dass das Öffentlichmachen des Denkens irgendwo und irgendwie stattfindet und dass es wichtig sein könnte, diese öffentlichen pädagogischen Orte zu erfinden oder wieder zu erfinden. Deshalb wollen wir detaillierter untersuchen, was sie auszeichnet. Diese Orte können, mit Foucault, als Heterotopien beschrieben werden, als eine Art Sanktuarium, das die bestehende soziale Zuweisung von Räumen und die Aufteilung von Orten, heute vielleicht auch des (ökologischen) Raums der Umgebungen, der Zirkulation und Mobilisierung, aufhebt. In seinem berühmten Essay Andere Räume behauptet Foucault, dass selbst in unserer Zeit, der Zeit der »Netzwerke«, in der der Raum in Form von Relationen oder Verbindungen zwischen Orten (des Lernens, der Produktion, der Akkumulation) Gestalt annimmt, dass es also selbst heute noch Räume, Heterotopien, gebe, die in gewisser Weise »heilig« seien.12 Das »Heilige«, auf das sich Foucault bezieht, ist primär in dem Sinn zu verstehen, den wir auch in den Begriffen »Asyl« oder »Sanktuarium« finden; Horkheimer benutzte das Wort »Refugium«, als er über die anachronistischen Momente der Vorlesung sprach, die anfänglich keine Zeit/keinen Raum von besonderem religiösen Wert bezeichneten, sondern eine Zeit/einen Raum, in der/in dem die Gesetze aufgehoben oder außer Kraft gesetzt waren (die Gesetze der Politik, der Ökonomie und der Religion, des Staates, des Marktes und der Kirche).

12 Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz/Gente, Peter/Paris, Heide/Richter, Steffen (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1991, S. 34-46.

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In unserer Terminologie sind diese »heiligen Orte« genau solche, an denen alles und jeder profaniert und seiner Bindungen entledigt, quasi enteignet wird. Sie werden zu öffentlichen Orten (wo das Heilige im eher klassischen Sinn, also dem eines Ortes, der seine Bedeutung von einer bestimmten Religion bezieht, ungültig ist). Eine Heterotopie ist ein »Ort ohne Ort«, ein »lieu sans lieu«, ein Ort, der in gewisser Weise außerhalb der üblichen Ordnung der Orte – oder Stätten –, steht, auch wenn er immer noch ein konkreter »Ort« oder »Standort« mit seiner eigenen Ordnung, seinen eigenen Techniken, Ritualen, Redeweisen ist. Er ist nicht einfach ein leerer Raum. Faubion beschreibt ihn als Limbus, in dem man keinen Status hat (und folglich ohne Position ist – außerhalb der Maschine, um Kants Formulierung zu verwenden), einen realen Raum, der das Alltägliche bedroht und herausfordert, aber zugleich für den Utopisten und all die großartigen (noch) nicht existierenden Orte, die er oder sie im Sinn hat, langweilig ist.13 Dieser Platz ist aber auch kein innerer oder intimer Raum. Foucault zufolge ist er ein Ort, an dem wir exponiert, ausgesetzt sind, das heißt, »durch den wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt«.14 In diesem Sinne kann der Hörsaal als Heterotopie beschrieben werden. In ihm werden wir einer gemeinsamen Sache ausgesetzt und in ein öffentliches Nachdenken hineingezogen. Ausgesetzt werden ist hier keine Relation des Wissens (und der damit einhergehenden Asymmetrien zwischen denen, die bereits wissen, und denen, die noch nicht wissen) und auch keine Relation der Nützlichkeit (und der Unterschiede zwischen denen, die etwas nutzen können, und denen, die das nicht können). Die Relation des Sich-Aussetzens ist vielmehr eine Relation der Provokation und findet als Ereignis statt, das ein denkendes Publikum um eine wichtige Angelegenheit versammelt. Als Heterotopie umfasst der Hörsaal Strategien der Kom-munisation, der Vergemeinschaftung, das heißt Strategien, die es ermöglichen, am munus, an der Aufgabe einer Sache teilzunehmen.

13 Faubion, James D.: »Heterotopia: An Ecology«, in: de Cauter, Lieven/Dehaene, Michiel (Hg.): Heterotopia and the city. Public space in a post-civil society, Oxford: Routledge Chapman & Hall 2008, S. 31-40. 14 Foucault: Andere Räume, S. 38.

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Ein Thema, das Nachdenken provoziert und eine Sache in einen Gegenstand des öffentlichen Nachdenkens verwandelt, wirft allerdings sofort die Frage auf, wie man angesichts des Themas zusammenleben soll. Immunisierungsstrategien installieren klare Aufteilungen, Hierarchien und Rollen und halten einen davon ab, sich zu exponieren, oder verhindern, dass eine Sache zum Thema wird. Objekte, Tatsachen, Ressourcen können kein Publikum versammeln, können kein Nachdenken provozieren. Einen Raum von Themen zu betreten, bedeutet jedoch nicht, in eine Welt der Imagination einzutreten, es bedeutet zuallererst, einen realen Raum zu betreten, in dem Menschen als Gleiche zusammenkommen, unter Zurücklassung ihres sozialen Habitus sozusagen, in dem die Dinge und Worte von ihrer gewöhnlichen Verwendung losgelöst und in dem alle an eine gemeinsame Sache angeschlossen werden. Mit Bezug auf Isabelle Stengers könnten wir sagen, dass in dieser Heterotopie sich etwas wirklich ereignet – der Hörsaal ist irgendwie ein »magischer Ort« und die Vorlesung ein »magisches Ritual«.15 Der magische Moment kommt dann zustande, wenn etwas zum Thema wird und öffentliches Denken tatsächlich stattfindet. Die Vorlesung, als eine Art magisches Ritual, »entzündet ein Publikum ins Dasein«, das heißt, sie versammelt Menschen als Gleiche in der »Gegenwart von etwas« und verlangsamt sie, lässt sie zögern, lässt sie (wieder) denken.16 Der Hörsaal ist nicht nur ein »anderer Ort«, sondern auch eine »andere Zeit«. Als Heterochronie ist er ein Ereignisraum, das heißt ein Ort, an dem etwas geschieht, stattfindet, seinen Ort findet. Die öffentliche Vorlesung versammelt Menschen in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, bricht den Zeitpfeil, verwandelt Zeit in »öffentliche Zeit« oder scholé. Freie Zeit ist jedoch keine Freizeit, sondern sie wird außerhalb der besetzten Zeit (Zeit der Bildung, der Produktion, der Mobilisierung, der Zirkulation) zur Zeit des Studiums und Denkens, des Zögerns und des Verlangsamens in der Gegenwart von einem Ding. Anders als in der iso-

15 »Magisch« bezieht sich hier namentlich auf die Vorstellung einer »Anrufung« oder eines »Zusammenrufens«, im Sinne von »etwas erscheinen lassen«, vgl. dazu Stengers, Isabelle: »The Cosmopolitical Proposal«, in: Latour/Weibel (Hg.): Making Things Public, S. 994-1003. 16 Marres, Noortje: »Issues spark a public into being. A key but often forgotten point of the Lippmann-Dewey debate«, in: Latour/Weibel (Hg.): Making Things Public, S. 208-217, hier S. 208.

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lierten Zeit im einsamen Studierzimmer verwandelt sich etwas nicht nur in eine Angelegenheit des Interesses, sondern in eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses. Der Hörsaal ist der Ereignisraum des öffentlichen Studiums und des öffentlichen Denkens. Wir wollen erneut betonen, dass »die eigentliche Sphäre des Denkens«, um mit Hannah Arendt zu sprechen, nicht die Sphäre ist, von der »die westliche Metaphysik von Parmenides bis Hegel geträumt hat« als »von einem zeitlosen, raumlosen, übersinnlichen Bereich«, sondern das, was sie die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft nennt. Aber diese Lücke, eine andere Bezeichnung für die Gegenwart, »ist nicht die Gegenwart, wie wir sie gewöhnlich verstehen«, also »nicht ein Kontinuum, nicht ein Fluß von ununterbrochen Aufeinanderfolgendem«.17 Es ist nicht die kulturelle Gegenwart (eine Entwicklungsphase) oder die unternehmerische Gegenwart (eine Marktchance), sondern das, was nur ins Dasein tritt, wenn wir uns selber einsetzen und uns also auch dem aussetzen, was geschieht, uns befassen mit dem, was in der Gegenwart gegenwärtig ist. Die »Übung im Denken« (die Arendt zufolge nicht erlernt werden kann, sondern wieder und wieder durchgeführt werden muss) erfordert die Selbsterfahrung als jemand, der »zu etwas fähig ist«, unter Aufhebung der historischen Zeit (und der historischen Notwendigkeit), der biographischen Zeit (und der psychologischen Notwendigkeit), der sozialen Zeit (und der soziologischen Notwendigkeit) – das heißt »NichtZeit-Raum«, wie Arendt sagt. Aber diese Aufhebung ist gleichzeitig eine Anbindung, eine Anbindung an die Gegenwart, an das Thema, das gegenwärtig gemacht wird, und deshalb ein Engagement im öffentlichen Denken. Die öffentliche Vorlesung zieht uns in die gegenwärtige Zeit, die Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo wir »bei der Sache« sind (und deshalb in gewisser Weise abwesend), in die Zeit des öffentlichen Nachdenkens, in der wir Zeit und Raum vergessen. Wahrscheinlich kennen wir alle diese Art von Vorlesungen oder öffentlichen Momenten, oder haben sie gekannt. Es sind die Momente, in denen wir spüren, dass sich wirklich etwas ereignet und dass dieses Ereignis etwas mit der öffentlichen Rede zu tun hat. In der öffentlichen Rede steht etwas auf dem Spiel, eine Sache (ein Text, ein Bild, ein Virus, ein Fluss, ein Neuron) wird zum Thema, und die Hörer wer-

17 Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München: Piper 1994, S. 14-17.

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den zum Denken in seiner Gegenwart provoziert. Das hat zur Folge, dass, wenn wir Hörer einer Vorlesung sind, wir selbst und unsere Beziehungen zu diesen Dingen auf dem Spiel stehen und dass wir beginnen müssen, für uns selbst zu sehen und zu denken. Öffentliche Vorlesungen sind deshalb mit dem Entstehen eines neuen Bewusstseins verbunden oder mit einem Überraschen des Selbst, das die eigenen privaten Angelegenheiten übersteigt, dadurch dass Dinge zu einer öffentlichen Angelegenheit werden.18 Die Magie der Vorlesung kommt vielleicht dem nahe, was Latour ein »kollektives Experiment« nennt.19 Während einer Vorlesung und im Angesicht des präsentierten Themas wird auf die Probe gestellt, wer wir sind und was wir denken. Es ist keine experimentelle Situation, in der ProfessorIn und Studierende unbeteiligte Beobachter wären, sondern sie sind ein Teil der Situation, oder genauer, man wird ProfessorIn und Studierender gerade durch die Teilnahme an der kollektiven Versammlung um Dinge von Belang. Als öffentliches Ereignis führt diese Situation die Frage ein, wie wir zusammen leben werden mit einer Sache, die zum Thema geworden ist. – An dieser Stelle können wir das besondere Ethos dieser paradigmatischen Figuren klären, die an dieser einzigartigen pädagogischen Form der Universität (der öffentlichen Vorlesung und dem öffentlichen Denken) beteiligt sind: das Ethos des Professors, der Professorin und der Studierenden.

D AS E THOS DES P ROFESSORS DES S TUDIERENDEN

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Der Professor kann als »Wahrheitssager« oder Parresiastes beschrieben werden.20 ProfessorIn zu sein, bedeutet dann, Bekenntnis, professio, abzulegen, was nicht einfach heißt, etwas festzustellen, zu konstatieren, wie die Dinge sind, und zu beschreiben, was ist. Professio leitet sich vom Lateinischen profero her, was mehrere Bedeutungen hat: sich aus freiem Willen anbieten,

18 Vgl. Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen Verlag 2010. 19 Vgl. Latour, Bruno: Politics of nature: How to bring the sciences into democracy, London: Harvard University Press 2004. 20 Vgl. Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit, Berlin: Merve 1996.

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zum Vorschein bringen, verschieben/vertagen (ex professo heißt öffentlich, offen; professus bezieht sich auf das, was man öffentlich gemacht hat). In Übereinstimmung mit diesen ursprünglichen Bedeutungen meint »Bekenntnis ablegen« einen Modus des Sprechens, der etwas zur Welt hinzufügt, der deshalb auch eine Welt schafft und dadurch zu einer Invokation/Konvokation des Denkens führt. Der Professor verleiht einer Sache seine Stimme, bringt eine Angelegenheit zur Sprache, stellt sie in den Raum und macht sie gegenwärtig, und indem er dies tut, schafft er in den Dingen eine Kraft, die uns zum Denken veranlasst. Aus diesem Grund hat der Professor vielleicht auch etwas von einem Gewährsmann, einem Zeugen, einem Diplomaten, denn alle diese »Rollen« haben damit zu tun, etwas präsent zu machen, etwas auf eine Weise zu Gehör zu bringen (die Stimmen von Personen, Dingen, Ereignissen), die geeignet ist, es neu zu denken zu geben.21 Was ein Professor, eine Professorin sagt, schließt immer eine erklärte Verpflichtung oder Bindung mit ein.22 Als ProfessorIn Mathematik oder Literatur zu lehren, heißt nicht einfach, Mathematik oder Literatur zu unterrichten, es erfordert vielmehr die Selbstverpflichtung durch ein öffentliches Versprechen, sich einer Sache zu widmen, sich ihr hinzugeben (und sich ihr gewidmet, hingegeben zu haben). Der Professor spricht nicht einfach nur über etwas, über Objekte und Fakten, sondern bringt stets auch seine Hingabe an die Sache zum Ausdruck. Sie ist für ihn stets eine Sache von Belang, von Interesse. Dem Professor zuzuhören, geht folglich stets mit einer Art Verpflichtung gegenüber dem Thema einher, über das er spricht. Offensichtlich hat der Professor somit die Anmutung des Enthusiasten, nicht des Experten. Gewissermaßen ist er stets eine Art Amateur, also jemand, der bis zu einem gewissen Grad liebt, worüber er spricht. Die Vorlesung ist also der Ort, wo jemand etwas zu denken gibt, weil er auch sein eigenes Denken darbietet oder seine eigenen Gedanken demonstriert und zeigt. In diesen Augenblicken werden Ideen und Worte exponiert, werden sie öffentlich, und weil Menschen um sie versammelt werden, gehören sie nicht länger irgendjemandem, sondern jedem (oder niemand im Besonderen).

21 Vgl. Stengers: The Cosmopolitical Proposal. 22 Vgl. Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001.

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Der öffentliche Gebrauch der Vernunft durch den Professor, die Professorin beinhaltet ein experimentelles und egalitäres Ethos. Es ist diese Haltung, die etwas in ein gemeinsames Thema verwandeln kann, die Dinge und Worte freigibt und somit jeden einlädt, sich einzulassen, das heißt, Studierender zu werden. Im Hörsaal ist man kein Studierender im Sinne von Intelligenz, Vorbildung, Kultiviertheit, Lernfähigkeit. Eine Sache, die zum Denken provoziert, macht gleich, sie versetzt auf ein und dieselbe Ebene von Sorgfalt, Interesse und vielleicht sogar Mut, dem Mut, am öffentlichen Denken teilzuhaben und sich der Frage gegenüber zu sehen – die vielleicht sogar aus einem bestimmten Thema hervorgeht –, wie wir mit ihr zusammen leben werden. Studierender zu sein bedeutet also, in die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft einzutreten, in einen »anderen Ort« und eine »andere Zeit«, und dem Zeit zu widmen, wofür man Sorge tragen sollte. Studierender zu sein heißt immer, Studierender von etwas, einer Sache, zu sein, eines Dings von Belang. Deshalb – und ungeachtet der je aktuellen Studierendenzahlen – ist Studieren immer kollektives Studieren, und Studierender zu sein, steht immer im Zeichen des Öffentlichen. Studieren wird hier von der Versöhnung durch Bildung ebenso unterschieden wie von dem endlosen Kreislauf des Lernens. Die Zeit des Studiums ist die Zeit des Sich-Schwächens, des Sich-Verlierens im Angesicht zum Beispiel eines »Textes« oder von »Dingen«. Was jede echte »Studienzeit« ausmacht, ist in der Tat die Zeit des Experimentierens, die ein Sich-Exponieren umfasst. Texte oder Dinge sind nicht bloß eine Spielwiese, auf die man seine Gedanken und Handlungen projiziert, oder Ressourcen, die man im Geist des Unternehmertums ausbeuten kann, sondern sie werden tatsächlich zu etwas, dem Menschen ausgesetzt sind und in deren Gegenwart sie denken können und sollen. Diese Art des Sich-Aussetzens ist fraglos unbequem, nicht nur weil es in dieser experimentellen Situation keine Kriterien oder Regeln mehr gibt, nach denen man die Dinge, mit denen man konfrontiert wird, bewerten könnte, sondern auch weil in der Gegenwart einer Sache stets die eigene Position auf dem Spiel steht.

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S CHLUSSBEMERKUNG – D IE U NIVERSITÄT IHRE Ö FFENTLICHKEIT

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Die Entstehung der unternehmerischen Universität wird mittlerweile von vielen Warnrufen begleitet, die darauf hinweisen, dass Universitäten sowie das akademische und studentische Leben radikal privatisiert werden. Diskussionen über Eigentumsrechte, Open Source, Forschungsfinanzierung und (europäische) Staatsbürgerschaft sind nur einige der Themen, die die Sorge um die öffentliche Rolle der Universität in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Die aktuellen Debatten über die Erneuerung oder die Verteidigung der öffentlichen Rolle der Universität werden auf verschiedenen Ebenen geführt: Auf einer Ebene wird darüber diskutiert, ob die Finanzierung, Ausstattung oder Regulierung der Universitäten und ihrer Aktivitäten privat oder öffentlich organisiert werden sollten: Wer zahlt? Wer entscheidet? Zweitens konzentriert sich die Diskussion darauf, wer von den Ergebnissen profitiert und ob Bildung, Wissen oder Dienstleistungen öffentliche (nicht-konkurrierende und nichtausschließende) oder private Güter sind: Wer hat Zugang? Wer sind die Nutznießer? Eine dritte Ebene der Diskussion über die öffentliche Rolle der Universität besteht darin, die Sphäre der Universität als eine öffentliche Sphäre zu betrachten, die die Studierenden auf ihre Rolle als verantwortliche Bürger vorbereitet. Hierbei wird die Universität als ein geschützter Raum aufgefasst, in dem man zivile demokratische Fähigkeiten erlernen kann – das universitäre Leben als eine Form der Sozialisierung in Hinblick auf »staatsbürgerliche Employabilität«. Jede dieser Diskussionen, so wichtig sie auch zweifellos sind, ist auf Überlegungen beschränkt, die sich auf eine einzelne Funktion (Bildung, Forschung, Dienstleistung), eine Organisationseigenschaft oder auf den Staat oder die Nation beziehen. Um die öffentliche Rolle der Universitäten jenseits der Exzellenz erneut zu bekräftigen, sollten wir allerdings vielleicht die Praktiken, die man heute Bildung, Forschung und Dienstleistung nennt, der Probe der spezifischen pädagogischen Form der Universität unterziehen, anstatt zu versuchen, herauszufinden, wie diese Funktionen wieder miteinander verbunden werden oder wie sie wieder öffentlich werden könnten. Oder um es anders zu sagen: Wir können und sollten diese Form neu erfinden, indem wir uns an die Devise halten: »Wir sind kein Humankapital, keine Gemeinschaft der Lernenden, keine Unternehmer, sondern Studierende und Professoren.« Vielleicht ist diese

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gemeinschaftliche These heute, und gerade heute, Ausdruck einer einzigartigen communitas von Studierenden und ProfessorInnen. Und deshalb sollten wir versuchen herauszufinden, was dabei helfen könnte, aus Hochschullehrern (wieder) ProfessorInnen zu machen und aus Lernenden Studierende. Wir sollten erneut darüber nachdenken, wie man einen Text, einen Virus oder einen Fluss wieder in einen Grund zum Nachdenken verwandelt; wie man die Örtlichkeiten so gestaltet, dass sich das Denken in der Gegenwart des Themas oder der Sache vollzieht; wie man zum Beispiel den Hörsaal konzipieren soll, seine Architektur (das Innere und Äußere des Habitats), seine Vortragstechnik, seine materielle Art, Studierende zusammenzubringen; wie man vermeidet, dass eine Vorlesung zu einer Vorführung oder einem Schauspiel wird, und stattdessen dafür sorgen kann, dass sie ein öffentlicher Akt des Wahrheitssagens bleibt; wie man eine gewisse Nähe (sowohl räumlich als auch zeitlich) herstellt, um imstande zu sein, »in der Gegenwart von« zu denken; wie man Zeit und Raum bekommt, um sich im kollektiven Studium zu beteiligen und einzusetzen; wie man neue Informations- und Kommunikationstechnologien nutzt, um öffentliches Denken und kollektives Studium zu provozieren. Dies sind spezifische Fragen über die »Architektur und Didaktik der Weltuniversität«, die wir hier nicht ausführlicher diskutieren können. Aber wir möchten betonen, dass vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben darin besteht, die heutigen, auf die Lernenden zentrierten und von der Nachfrage getriebenen Lehr- und Lerndiskurse und die damit verbundenen Mobilisierungsdiskurse und Technologien der Unterrichtsqualität und Exzellenz zu verlangsamen. Wir könnten damit anfangen, uns an Humboldts Äußerung von 1810 zu erinnern, dass der Professor nicht für den Studierenden und der Studierende nicht für den Professor da sei; an der Universität seien beide für die Wahrheit da – und müssen sich, aus unserer Perspektive, über ein Thema Gedanken machen. Aber für wen ist die Universität und ihre einzigartige pädagogische Form ein Ding von Belang? Im andauernden akademischen Krieg und bei der permanenten Mobilisierung der Hochschullehrer und Studierenden ist diese Frage vielleicht eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen, vielleicht sogar Ausdruck eines naiven Pazifismus. Wir hoffen, dass dieser Essay dennoch dazu beiträgt, die Universität wieder zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen – die Universität und ihre Öffentlichkeit.

Anmerkungen zum öffentlichen Charakter der Lehre in der Erziehungswissenschaft S TEPHANIE M AXIM

»Es kann nicht darum gehen (wie man uns oft und töricht nachsagt), sich ausschließlich der Lehre zeitgenössischer Doktrinen zu widmen. Wir müssen vielmehr von ihrem gemeinsamen ›Wissen‹ ausgehen, müssen uns an der Herkunft dessen, was geschieht, an der Herkunft des Endes und des Anfangs, mit denen wir untrennbar verbunden sind, bilden. Wir müssen uns also an der Wahrheit einer tatsächlichen Historizität bilden, die uns für die metaphysische Unterweisung (des Subjekts, des Wissens, des Staates, usw.) untauglich gemacht hat. Bilden und sich bilden impliziert von nun an, diese Enteignung zu denken, in die unsere Geschichte uns gezwungen hat.«1

Schulen und Universitäten, in denen sich vereinzelt oder gelegentlich auch gemeinschaftlich kaum mehr ereignet, als ein instrumentelles Abarbeiten von formalen Leistungsvoraussetzungen oder als der Versuch, einem Plan von Ausbildung zu folgen, der darauf ausgerichtet ist, ein bestimmtes Wissen und Kompetenzen aufzubauen, von denen andere annehmen, es handele sich hierbei um diejenigen Wissensbestände und Kompetenzen, die ge-

1

Nancy, Jean Luc: »Philosophie und Bildung«, in: Bolz, Norbert W. (Hg.): Wer hat Angst vor der Philosophie? Eine Einführung in Philosophie, Paderborn: Schöningh 1982, S. 239f.

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braucht würden, um die Zukunft produktiv oder gerecht zu gestalten, verhindern, dass eben gerade diese Zukunft in einem demokratischen Sinn allen offen steht und zu einer gemeinsamen Angelegenheit wird. Auch solchen Schul- und Universitätskarrieren, wenn man sie so nennen möchte, kann man gewiss nicht absprechen, dass sie in irgendeiner Weise bildend wirken. Je unbewusster sie verlaufen, desto wirksamer sind sie wahrscheinlich. Ebenso erfordern sie sicherlich auch ein gewisses Maß an selbsttätiger Auseinandersetzung mit dem vorgegebenen »Stoff«. Aber der »Stoff« bleibt eben »Stoff« und wird in seiner Bedeutung für die Frage, wie man zu dem geworden ist, was man ist und wie man (zusammen)lebt, nicht befragt. Ein Studium, das, oder ein Unterricht, der sich dieser Frage nicht widmet, unterstützt bzw. produziert eine Haltung gegenüber der Welt, die Adorno einen »überwertigen« oder auch »übermächtigen Realismus« genannt hat. In einer solchen Haltung erscheint die gegenwärtige Einrichtung der Welt als die einzig mögliche, und das Verlangen, sich möglichst bruchund schmerzfrei in ihr einzurichten, übermächtig. Im vermeintlichen Realismus schneidet der Blick auf das Gegebene das Gegebene ab von seiner historischen Gewordenheit und Kontingenz, und die Zukunft scheint nicht nur verstellt, sondern verschüttet vom Status quo. Hierzu gehört auch das Unvermögen, diese Haltung selbst reflektierend in Betracht zu ziehen und danach zu fragen, von welchen Denk- und Sprachgewohnheiten sie begrenzt und gebildet wird. Man könnte sagen, die weite Verbreitung eines überwertigen oder übermächtigen Realismus gefährde die Demokratie. Aber eine solche Aussage erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu abstrakt, führt die tiefe Verankerung dieses Realismus in der Gesellschaft doch dazu, dass gegenwärtig, recht konkret und öffentlich weitgehend unbehelligt, bestimmte Bevölkerungsgruppen herausgegriffen und identifiziert und auf der Grundlage ihnen zugeschriebener Eigenschaften oder Verhaltensweisen diffamiert und diskriminiert werden können. Dies hängt auch eng mit der von Adorno als »Erfahrungsunfähigkeit« beschriebenen Unfähigkeit zusammen, sich in seinem Erleben, Denken und Selbstverständnis von einer Sache oder Erfahrung berühren zu lassen, sich differenziert auf sie einzulassen und dem nachzuspüren, was sich dem Begriff, den man sich von ihr macht, widersetzt. Die Frage danach, wohin Erziehung führen soll und mit welchem Recht jemand darüber entscheidet, einen anderen zu erziehen, enthält zumindest

M AXIM: A NMERKUNGEN ZUM ÖFFENTLICHEN C HARAKTER

DER

L EHRE

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potenziell die Chance, dass eine Gesellschaft sich in ihrem Selbstverständnis und in den bestehenden Strukturen des Zusammenlebens, auch und besonders hinsichtlich der Ausschlüsse, die sie konstituiert, befragt. In einer Demokratie erscheint diese Nachfrage unerlässlich, und es versteht sich von selbst, dass sie nicht ausschließlich die Angelegenheit der Erziehungswissenschaft sein kann. In einem Studium, das auf eine pädagogische Tätigkeit ausgerichtet ist, muss dieser Frage entsprechend Raum zugestanden werden. Erstaunlicherweise, oder eben vielleicht auch gerade nicht erstaunlicherweise, ist dies für Studierende im täglichen Seminarbetrieb eher selten selbstverständlich. So scheinen einige die Frage danach, ob das, was ist, auch sein soll, für eine spinnerte Nachfrage zu halten, die zu nichts führt, da die Realität ist wie sie ist und es rationaler erscheint zu lernen, wie man in ihr zurechtkommt. Anderen erscheint diese Frage wenig relevant, da sie Mündigkeit als einen Zustand begreifen, in dessen Besitz sie sich ohnehin befinden. Aber auch diejenigen, die weniger darauf konzentriert sind, sich mit der Macht des Bestehenden abzufinden, zeigen oftmals schnell Ermüdungserscheinungen, wenn der Diskurs über die Frage, wohin Erziehung führen soll, zur Problematisierung pädagogischer Ansprüche führt, die sich nicht umstandslos in konkrete pädagogische Utopien überführen lassen. Denn der Erziehungsanspruch gerät in der Demokratie notwendigerweise selbst in eine Krise, weshalb Erziehung in ihr nur als eine gedacht werden kann, die darauf ausgerichtet ist, sich selbst zu überschreiten. Dies zu bedenken und dies zu bedenken geben zu wollen, ist in sich selbst schon ein intellektuell anspruchsvolles und schwieriges Unternehmen. Obendrein erfordert es aber eine gewisse Leidenschaft für die Frage nach dem ZusammenLeben, die zwar alle angeht, die sich aber naturgemäß nicht geplant und schon gar nicht im Rahmen einer institutionellen Lehrveranstaltung herstellen lässt. Man muss in der Konzeption eines erziehungswissenschaftlichen Studiengangs dennoch damit rechnen, dass für die Auseinandersetzung mit Erziehung und Bildung, gerade weil sie das ZusammenLeben betreffen, ein rein akademisches Interesse nicht ausreicht – manchmal vielleicht sogar hinderlich sein kann. Dem widerspricht keineswegs, dass Studierende oftmals die Frage danach, woher ihre Fragen stammen und aus welchem historisch gewachsenen Kontext heraus bestimmte pädagogische bzw. erziehungswissenschaftliche Fragen und Probleme überhaupt als solche auftau-

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chen können, als ausschließlich akademisch und lebensfern empfinden. Aus meiner Sicht handelt es sich hierbei um ein Lehrproblem, dessen öffentlicher Charakter erstens in den Begriffen von Bildung und Erziehung liegt, in die das erziehungswissenschaftliche Studium ja einführen soll, und zweitens darin besteht, dass der überwertige oder übermächtige Realismus, der es Studierenden so schwer macht, sich lebendig denkend mit Erziehung und Bildung auseinanderzusetzen, gesellschaftlicher Natur ist. Aus diesem Grund kann dieses Problem, das sich tagtäglich in der Lehre und in der Prüfungspraxis zeigt, von Lehrenden nicht ausschließlich individuell bearbeitet werden. Es müsste aber die Diskussion über die Reform der Studienreform im Fach Erziehungswissenschaft anleiten. Das gilt auch für die von Adorno angesprochene Erfahrungsunfähigkeit, die nicht selten dazu führt, dass eine differenzierte Auseinandersetzung im Seminar blockiert wird und der Wunsch, Unverstandenes, Irritierendes und Beunruhigendes so schnell wie möglich zu glätten, den Gegenstand auf einer Distanz hält, die die Studierenden gar nicht wahrnehmen, weil sie liebgewordene Deutungsmuster für lebensnah und unmittelbar empirisch halten (z.B. wenn sie umstandslos auf den Begriff der Kultur als Erklärungsmuster zurückgreifen). Nun ist die Unfähigkeit, sich auf eine Sache einzulassen und mit ihr intim zu werden, sicherlich kein spezifisches Problem von Studierenden und hängt eng mit den schnelllebigen Zwängen des Alltags und mit einer Form des Effektivitätsdenkens zusammen, das in bestimmten Kontexten sinnentleerend wirkt – und zwar auffallend häufig, ohne auch nur annäherungsweise bemerkt zu werden. Leider führt sie im erziehungswissenschaftlichen Studium jedoch oftmals dazu, dass in ihm gerade das unwahrscheinlich wird, was u.a. sein Gegenstand ist, nämlich Bildung. Manche Studierenden bemerken das mit einer gewissen Melancholie und meinen nahezu resignativ, das Studium böte leider kaum die Gelegenheit, in »die Tiefe zu gehen«. Wie schwierig es ist (und nicht nur unter diesen Umständen), sachgemäß in den Begriff der Bildung einzuführen, wird schon in dieser Formulierung deutlich, in der der Versuch, sich differenziert auf etwas einzulassen, zusammenfällt mit dem Gefühl, etwas tiefgehend betrachtet und durchdrungen zu haben. Insofern Bildung immer auf den Anderen bezogen ist, gerät man in der Auseinandersetzung mit diesem Begriff unweigerlich an den Rand dessen, was man im Rahmen der überlieferten Subjektkonzeptionen und ihrer Kritik denken und formulieren kann. In

M AXIM: A NMERKUNGEN ZUM ÖFFENTLICHEN C HARAKTER

DER

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dieser Bewegung verliert das sich bildende Subjekt seine Beherrschung und Beherrschbarkeit, und es bleibt auf ein Anderes bezogen, dessen es sich nicht vollkommen bemächtigen kann. Hier wäre eine fachliche Diskussion darüber hilfreich, wie man im Rahmen eines Grundlagenmoduls Erziehungswissenschaft überhaupt ein erstes Verständnis für die reflexive Figur des Selbst, die mit der Ausrichtung auf die Begriffe Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen das gesamte Modul durchwebt, schaffen kann. Letztendlich kann aber auch eine solche Diskussion offensichtlich nicht gänzlich unabhängig von der Frage geführt werden, unter welchen Bedingungen wir lehren und studieren. Zweifellos steckt in diesen Überlegungen eine Reihe von Fragen und problematischen Formulierungen: Was ist Demokratie, in deren Namen ich argumentiere? Was wird heute überhaupt unter Öffentlichkeit verstanden? Wie hängen Demokratie und Öffentlichkeit zusammen? Und wer sind dieses »man« und dieses »wir«, von denen ich so häufig spreche? Letztendlich basieren meine Überlegungen aber auf der Überzeugung, dass eine Demokratie Institutionen braucht, die einen (Zeit-)Raum schaffen und sichern sowie Begegnungen ermöglichen, in denen man sich solchen Problematisierungen widmen kann. Oder untergräbt die institutionalisierte Form eine solche Begegnung?

Bologna-Prozess: Umgangsweisen, Kritik und Perspektiven

Widersprüche des Bologna-Prozesses bei der Neuorganisation von Wissensvermittlung mit Blick auf den Arbeitsmarkt K LEMENS H IMPELE

Im vergangenen Jahr feierte der Bologna-Prozess seinen zehnten Geburtstag. Dies wurde von zahlreichen Akteurinnen und Akteuren genutzt, eine erste Bilanz zu ziehen: Die »Risiken und Nebenwirkungen« der Studienreform wurden von Martin Winter1 beschrieben, der Deutsche Hochschulverband2 stellte die Ziele der Reform in Frage, zudem gab es kritische Auseinandersetzungen mit dem Bologna-Prozess durch hochschulpolitische Verbände3. Auch der Bildungsstreik setzte sich unter anderem mit der durch die Umstellung auf das neue Studiensystem verbundenen Erhöhung des 1

Vgl. Winter, Martin: Das neue Studieren. Chancen, Risiken, Nebenwirkungen der Studienstrukturreform: Zwischenbilanz zum Bologna-Prozess in Deutschland, hg. vom Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2009.

2

Vgl. Scholz, Christian/Stein, Volker: Bologna-Schwarzbuch, hg. im Auftrag des Präsidiums des Deutschen Hochschulverbandes, Bonn: Deutscher Hochschulverband 2009.

3

Vgl. Hochschulrektorenkonferenz: Zum Bologna-Prozess nach 2010. Entschließung der 5. (a.o.) Mitgliederversammlung am 27.1.2009, Bonn: Hochschulrektorenkonferenz 2009; fzs – freier zusammenschluss von studentInnenschaften: Bologna nach 2010 – Schwerpunkte aus studentischer Sicht, Berlin: HRK 2008.

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Drucks (Anwesenheitspflichten, Prüfungsdichte, Zulassungsbeschränkungen beim Master) auseinander.4 Insgesamt ist bei diesen Auseinandersetzungen oft auf die instrumentelle Ebene geachtet worden. Die Kritik entzündete sich beispielsweise an der Frage, wie die Leistungspunkte erworben werden können (Prüfungsdichte), wie stark die Anwesenheit kontrolliert wird, wie der Übergang in ein Masterstudium geregelt ist, usw. Diese Strukturelemente müssen jedoch mit der Frage der Reformziele und der Reformmöglichkeiten verknüpft werden, um tatsächlich zu einer sinnvollen Bewertung der Reform zu gelangen. In einem Gutachten für die MaxTräger-Stiftung und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind die Reformpotenziale anhand von vier Bereichen – der sozialen Dimension, der Frage der Berufsqualifizierung, der Frage nach dem Lebenslangen Lernen und der Frage der Mobilität – untersucht und bewertet worden.5 Auch bei der hier im Zentrum stehenden Frage der Widersprüche des Bologna-Prozesses bei der Neuorganisation von Wissensvermittlung mit Blick auf den Arbeitsmarkt geht es weniger um die instrumentelle Ebene – wenngleich es auch hier handwerkliche Fehler gibt –, als vielmehr um die Frage, was Hochschule mit Blick auf die Anforderungen von Gesellschaft und Arbeitsmarkt heute leisten kann, soll und muss.

D IE

SOZIALE

D IMENSION

Die soziale Dimension des Bologna-Prozesses umfasst einerseits die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft – auch mit Blick auf die Geschlechterzusammensetzung –, andererseits aber auch die Frage der Studierbarkeit.6 Die Frage der Zusammensetzung der Studierendenschaft ist 4

Vgl. Himpele, Klemens: »Vom Bildungsstreik zur Bewegung?«, in: Blätter für

5

Vgl. Banscherus, Ulf/Gulbins, Annerose/Himpele, Klemens/Staack, Sonja: Der

deutsche und internationale Politik, (2009) H. 8, S. 11-15. Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland. Eine Expertise im Auftrag der MaxTraeger-Stiftung, Frankfurt/Main: GEW 2009. 6

Vgl. ebd; »Den Europäischen Hochschulraum verwirklichen« – Kommuniqué der Konferenz der europäischen Hochschulministerinnen und -minister am 19. September 2003, Berlin; »Der Europäische Hochschulraum – die Ziele verwirk-

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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gleichsam zentral, wenn in einer Gesellschaft eine tatsächliche Offenheit angestrebt wird. Nur wenn es gelingt, die Gesellschaft so zu gestalten, dass der Zugang zu Bildung und das erfolgreiche Durchlaufen der Bildungsinstitutionen tatsächlich unabhängig von der sozialen Herkunft möglich ist, wird das Bildungssystem – zumindest auf der formalen Ebene – dem Anspruch einer demokratischen Gesellschaft gerecht. Die Forderung nach einer entsprechenden Öffnung ist dabei einerseits sozial- und demokratietheoretisch zu begründen, andererseits haben Arbeitgeber erkannt, dass ein steigendes (Aus-)Bildungsniveau auch in ihrem Interesse sein kann. Werden bestimmte Fertigkeiten und Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt knapp, dann steigen allerdings die Löhne für Menschen mit diesen spezifischen Fähigkeiten, was nicht im Interesse der Wirtschaft ist. Mit Blick auf die Bologna-Reformen ist zu betonen, dass die soziale Selektivität keine Erfindung des Bologna-Prozesses ist, sondern auch schon zuvor beobachtbar war. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – wurde die umfassendste Reform der Hochschulen seit Jahrzehnten nicht dafür genutzt, die soziale Selektivität zu verringern. Es ist bemerkenswert, dass die AutorInnen des offiziellen Evaluationsberichts anlässlich des Gipfels von Budapest und Wien zu folgendem Ergebnis kommen: »Higher education across the EHEA countries looks substantially different from ten years ago – perhaps with the exception of the social dimension.«7

H OCHSCHULZUGANG

UND - ÜBERGÄNGE

Die soziale Selektion des deutschen Bildungssystems tritt nicht erst beim Übergang in die Hochschule auf, vielmehr bleibt die Frage des Schulsystems – und zuvorderst die Frage des gegliederten Schulsystems, in dem nur

lichen«. Kommuniqué der Konferenz der für die Hochschulen zuständigen europäischen Ministerinnen und Minister am 19.-20. Mai 2005, Bergen; »Auf dem Wege zum Europäischen Hochschulraum: Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung«, 18. Mai 2007, London. 7

Westerheijden, Don F. et al.: The Bologna Process Independent Assessment. The first decade of working on the European Higher Education Area, Vol. 1: Detailed assessment report, Australian Federal Ministry of Science and Research 2010, S. 107.

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ein Teil der Schulen zu einer Hochschulzugangsberechtigung führen – zentral. Dennoch: Auch beim Hochschulzugang findet eine weitere Selektion statt, wie die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks dokumentieren. Beispielsweise nehmen die Kinder von Beamten mit Hochschulabschluss zu 84 Prozent ein Hochschulstudium auf, die Kinder von Beamten ohne akademischen Abschluss jedoch nur zu 43 Prozent. Bei den Angestellten sind es 64 Prozent der Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss, aber nur 26 Prozent der Kinder von Eltern ohne Hochschulabschluss.8 Die Gründe, eine erworbene Hochschulzugangsberechtigung nicht einzulösen, sind vielfältig.9 Genannt werden – bei möglichen Mehrfachnennungen – vor allem finanzielle Gründe wie die Studiengebühren10 (69%) sowie die fehlende Bereitschaft, einen Studienkredit aufzunehmen (71%). Zudem werden die lange Dauer des Studiums (52%) und die unkalkulierbaren und unübersichtlichen Anforderungen eines Studiums (45%) genannt, ferner Wartezeiten auf Grund von Zulassungsbeschränkungen (39%). Dabei haben – verglichen mit älteren Erhebungen – insbesondere die finanziellen Motive beim Studienverzicht zugenommen. Für die Frage der sozialen Selektion entscheidend ist der Hinweis, dass die soziale Zusammensetzung der Gruppe der Studienberechtigten, die ihre Studienoption nicht einlösen, ein strukturelles Ungleichgewicht aufweist: Je bildungsferner das Elternhaus, desto

8

Vgl. Isserstedt, Wolfgang/Middendorff, Elke/Kandulla, Maren/Borchert, Lars/ Leszczensky, Michael: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn und Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010, S. 72.

9

Vgl. Heine, Christoph/Quast, Heiko/Beuße, Mareike: Studienberechtigte 2008 ein halbes Jahr nach Schulabschluss. Übergang in Studium, Beruf und Ausbildung, Hannover: HIS Hochschul-Informations-System 2010. S. 37 und 97.

10 Dieser Aspekt wurde gesondert untersucht, mit dem Ergebnis, dass bis zu 18.000 Studienberechtigte des Jahrgangs 2006 wegen der Studiengebühren ihre Studienoption nicht einlösen; vgl. Heine, Christoph/Quast, Heiko/Spangenberg, Heike: Studiengebühren aus der Sicht von Studienberechtigten. Finanzierung und Auswirkungen auf Studienpläne und -strategien, Hannover: HIS HochschulInformations-System 2008, S. 15.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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höher die Wahrscheinlichkeit, dass von der Studienberechtigung kein Gebrauch gemacht wird.11 Die Probleme der sozialen Selektivität beim Hochschulzugang sind nicht neu, die Frage der Zulassungsbeschränkungen, der Studiengebühren und der Studienfinanzierung werden in Deutschland seit Langem thematisiert.12 Die soziale Selektivität ist demnach auch kein Ergebnis des Bologna-Prozesses. Die Tatsache, dass es einen sozialen Bias gibt, wurde bei der Umsetzung der Bologna-Reformen jedoch schlicht ignoriert. Anstatt das Reformpotential des Bologna-Prozesses offensiv zu nutzen, indem die Zweistufigkeit als Instrument zur Öffnung der Hochschulen eingesetzt wird,13 haben andere Ziele im Vordergrund gestanden: Studienzeitverkürzung, Employability und Praxisnähe sowie fehlende Mittel für eine bessere

11 Vgl. Isserstedt et al.: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden, S. 96. 12 Vgl. Aktionsbündnis gegen Studiengebühren: Argumente gegen Studiengebühren. Eine Widerlegung von Behauptungen, Bonn: ABS 1999; Achelpöhler, Wilhelm: »Das Numerus-clausus-Urteil und seine Folgen«, in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler/freier zusammenschluss von studentInnenschaften/Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft/Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (Hg.): Menschenrecht auf Bildung, Marburg: BdWi-Verlag 2009; Achelpöhler, Wilhelm/Bender, Konstantin/ Himpele, Klemens/Keller, Andreas: Die Einführung von Studiengebühren und der internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNSozialpakt), Stellungnahme im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften, Berlin 2007,

http://www.gew.de/Binaries/Binary29691/sozialpakt_innenteil_web-1.

pdf; alle Hyperlinks dieses Artikels wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft; Dohmen, Dieter/Hoi, Michael: Bildungsausgaben in Deutschland – eine erweiterte Konzeption des Bildungsbudgets, Köln: Forschungsinstitut für Bildungsund Sozialökonomie 2004; Keller, Andreas: »Nachhaltiger Funktionsverlust. Zur widersprüchlichen Geschichte des BAföG«, in: BdWi/fzs (Hg.): Bildungsfinanzierung. BdWi-Studienheft 1, Marburg: BdWi-Verlag 2002, S. 22-26. 13 Vgl. Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

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Ausstattung der Hochschulen14. Durch das Ignorieren der sozialen Selektion ist das Problem in Deutschland nicht nur nicht gelöst, sondern partiell sogar verschärft worden. Den reformbedingten Überforderungen – für eine tiefgreifende Hochschulreform standen schlicht nicht ausreichend Mittel zur Verfügung – begegneten zahlreiche Hochschulen durch das Einführen von Zulassungsbeschränkungen. Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass der Anteil der zulassungsbeschränkten Studiengänge bei den Bachelor-Studiengängen mit 52,1 Prozent über dem Anteil der Zulassungsbeschränkungen bei den traditionellen Studiengängen, die zu einem ersten Abschluss führen, liegt (49,9%).

Alle Studiengänge Bachelorstudiengänge

verfahren

Auswahl-

ZVS-

beschränkung

Zulassungs-

lokale

beschränkung

Zulassungs-

keine

insgesamt

Studiengänge

Tabelle 1: Zulassungsbeschränkungen in traditionellen Studiengängen und beim Bachelor 2009/10

8.127

3.944

48,5%

4.075

50,1%

108

1,3%

5.817

2.786

47,9%

3.019

51,9%

12

0,2%

2.310

1.158

50,1%

1.056

45,7%

96

4,2%

andere grundständige Studiengänge

Quelle: HRK 2009; eigene Berechnungen.

14 Vgl. Bultmann, Torsten: »Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf – Widersprüche und Konfliktlinien des Bolognaprozesses und der Reorganisation der Hochschulen«, in: Brüchert, Oliver/Wagner, Alexander (Hg.): Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen, Marburg: BdWi-Verlag 2007, S. 147-154; Hirsch, Nele: »›Bologna-Prozess‹ und der Kampf an den Hochschulen«, in: Z. – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 19 (2008), 74, S. 22-27; Himpele, Klemens/Prausmüller, Oliver: »›Bologna‹ – und weiter?«, in: Kurswechsel (2010) 1, S. 114-118.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

| 173

Dieser Effekt fällt vermutlich noch stärker aus, wenn die Reihenfolge der Umstellung der Studiengänge berücksichtigt wird. Denn vor allem Studiengänge mit staatlichen und kirchlichen Abschlüssen sind noch nicht auf die gestufte Studienstruktur umgestellt,15 demnach auch die Rechtswissenschaft und die Medizinstudiengänge mit traditionell hohen Zulassungsbeschränkungen. Außerdem wurde die Situation in Deutschland dadurch verschärft, dass auch der Zugang zum Master in vielen Fällen nicht sichergestellt ist. Neben dem »kapazitären« Numerus Clausus sind hier auch definierte Mindestnoten beim ersten Studienabschluss als Zugangsvoraussetzung festgeschrieben, so dass ein Bachelorabschluss alleine nicht zur Zulassung zum Master ausreicht: Das Bachelorstudium muss auch mit einer bestimmten Note abgeschlossen worden sein.16 Neben der Frage der sozialen Herkunft spielt bei Übergängen im Hochschulsystem immer auch das Geschlecht eine Rolle. Die Betrachtung nach Geschlecht zeigt einen abnehmenden Frauenanteil im Verlauf des Studiums und der Hochschulkarriere. Abbildung 1 macht deutlich, dass Frauen bei den Studienberechtigten (53,3%) noch die Mehrheit stellen, bei den Studierenden (47,8%) sind sie jedoch schon hinter die Männer zurückgefallen. Ein ähnliches Bild findet sich bei den Abschlüssen: Vom Erstabschluss (52,2% Frauenanteil) über die Promotion (41,9%) bis zur Habilitation (23,4%) geht der Frauenanteil kontinuierlich zurück. Bei den Beschäftigten

15 Vgl. HRK: Statistische Daten zur Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Sommersemester 2010. Statistiken zur Hochschulpolitik 1/2010, Bonn: HRK, S. 5. 16 Vgl. exemplarisch Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit, S. 22. – Einen etwas anderen Weg geht hier die Republik Österreich: Im Universitätsgesetz 2002 (UG 2002) ist seit der Novelle im Jahr 2009 sicherzustellen, »dass die Absolvierung eines Bachelorstudiums an der jeweiligen Universität jedenfalls ohne weitere Voraussetzungen zur Zulassung zu mindestens einem facheinschlägigen Masterstudium an dieser Universität berechtigt.« Allerdings ist auch hier keine völlige Freiheit beim Masterstudium vorgesehen, denn im gleichen Absatz heißt es auch: »Weiters können im Curriculum qualitative Zulassungsbedingungen vorgeschrieben werden, die im Zusammenhang mit der erforderlichen Kenntnis jener Fächer, auf denen das jeweilige Masterstudium aufbaut, stehen müssen« (UG 2002, § 64, Abs. 5).

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ist der Frauenanteil bei den wissenschaftlichen und künstlerischen MitarbeiterInnen mit 38,5 Prozent deutlich höher als bei den Professuren insgesamt (17,4%) und den C4- bzw. W3-Professuren (13,3%). Hier gab es in den letzten Jahren Zuwächse auf niedrigem Niveau. Abbildung 1: Frauenanteil auf den verschiedenen Stufen der akademischen Karriere 2008

Quelle: Statistisches Bundesamt 2009, eigene Darstellung.

Die Befürchtung, dass die Einführung einer zusätzlichen Studienstufe die Universitätslaufbahn der Frauen im Vergleich zu Männern negativ beeinflussen könnte,17 ist demnach naheliegend. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass entsprechende Studien in Deutschland nicht nach Geschlecht getrennt ausgewiesen werden.18 Da den Daten des Statistischen Bundesam17 Vgl. Inversin, Laurent/Teichgräber, Martin: Frauen und Männer im Bolognasystem. Indikatoren zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden an den universitären Hochschulen, Neuchâtel: Schweizer Bundesamt für Statistik 2009. 18 Vgl. Scharfe, Simone: »Übergang vom Bachelor- zum Masterstudium an deutschen Hochschulen«, in: Statistisches Bundesamt (Hg.): Wirtschaft und Statistik 4 (2009), S. 330-339; Alesi, Bettina/Schomburg, Harald/Teichler, Ulrich: Humankapitalpotenziale der gestuften Hochschulabschlüsse in Deutschland: Weite-

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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tes nicht zu entnehmen ist, welche AbsolventInnen eines Bachelorstudiums ein Masterstudium anschließen, muss derzeit auf Hilfsdaten zurückgegriffen werden. Dies sind die Daten der Prüfungsstatistik, denen zu entnehmen ist, wie hoch der Frauenanteil an den Bachelor- und den Masterabschlüssen der einzelnen Studienrichtungen ist. Tabelle 2 sind die entsprechenden Ergebnisse zu entnehmen. Tabelle 2: Frauenanteil an Abschlussprüfungen Bachelor und Master sowie in traditionellen Studiengängen 2008 Frauenanteil Abschlüsse 2008 (in Prozent) Fächergruppe Sprach- und Kulturwissenschaften Sport Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwiss. Mathematik, Naturwissenschaften Humanmedizin/Gesundheitswiss. Veterinärmedizin Agrar-, Forst- und Ernährungswiss. Ingenieurwissenschaften Kunst/Kunstwissenschaften Insgesamt

Insgesamt

Diplom u. ä.

Lehramtsprüfungen

75,9 50,0 51,7 40,2 60,1 84,7 56,5 22,6 65,8 51,1

75,3 41,0 48,6 40,9 61,2 86,6 61,2 25,2 63,7 52,9

80,5 57,3 62,7 69,0 85,1 82,1 31,1 82,1 75,3

FHAbschluss

Bachelor

Master

54,9 20,3 74,5

76,4 56,3 56,1 38,7 79,7

70,7 61,3 47,4 29,6 46,5

53,4 20,3 64,3 42,4

58,8 28,9 60,4 54,0

58,2 25,3 54,8 42,6

69,4

Quelle: Statistisches Bundesamt 2009; eigene Darstellung.

Es zeigt sich ein erheblich geringerer Frauenanteil bei den Masterabschlüssen, wenn man dies mit den entsprechenden Werten der Bachelorabschlüsse vergleicht. Insgesamt – über alle Fächergruppen – beträgt die Differenz über 11 Prozentpunkte.19 Denkbar ist, dass Frauen den Master zu einem späteren Zeitpunkt machen als Männer; hier wäre es hilfreich, wenn Untersuchungen zum neuen Studiensystem künftig grundsätzlich nach Geschlecht getrennt ausgewiesen würden.

res Studium, Übergang in das Beschäftigungssystem und beruflicher Erfolg von Bachelor- und Master-Absolventen, Studien zum deutschen Innovationssystem, Nr. 13-2010, Kassel: Internationales Zentrum für Hochschulforschung 2010. 19 Vgl. Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit, S. 23ff.

176 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG ?

S TUDIERBARKEIT Neben der Zulassung ist auch die Frage der Studierbarkeit Bestandteil der sozialen Dimension. Im Folgenden geht es um die Frage des Studienabbruchs, da hier ein erhebliches Reformpotential der Bologna-Reformen gesehen wurde:20 Durch die kürzere Studienzeit bis zum ersten Abschluss sollte auch die Erfolgsquote erhöht werden. Erste Untersuchungen zeigen hier jedoch durchwachsene Ergebnisse: So ist an den Fachhochschulen die Abbruchquote im Bachelor mit 39 Prozent erheblich höher als im Diplom (21%). An den Universitäten brechen hingegen 29 Prozent in den traditionellen Diplom- und Magisterstudiengängen das Studium ab, jedoch nur 25 Prozent in den Bachelorstudiengängen.21 Dabei geben 20 Prozent als ausschlaggebenden Grund für den Studienabbruch die Überforderung an, was eine erhebliche Steigerung gegenüber der letzten Befragung (2000; 12%) darstellt. Diese Entwicklung wird von Heublein et al.22 unter anderem auf die Umstellung des Studiensystems zurückgeführt. Interessant ist auch die Entwicklung der anderen Abbruchgründe.23 Insgesamt lässt sich feststellen, dass insbesondere der Einstieg in das Studium den Studierenden schwerer zu fallen scheint. Zudem finden Studienabbrüche in Bachelorstudiengängen durchschnittlich bereits nach 2,9 Semestern statt, in traditionellen Studiengängen hingegen nach 8,4 Semestern.24 Von einer nachhaltigen Verringerung der Abbruchquote im Zuge der Umstellung des Studiensystems kann jedenfalls nicht die Rede sein, von einer zeitlichen Vorverlagerung des Abbruchs hingegen schon. Insgesamt zeigt sich, dass die Umstellung der Studiengänge nicht zur Öffnung der Hochschulen genutzt wurde. Dies ist schon den formalen Zulassungsregeln zu entnehmen. Aber auch die Frage, wie eine Hochschule

20 Es stellen sich im Zusammenhang mit der Studierbarkeit auch weitere Fragen, etwa die nach der Studienfinanzierung und der Erwerbsarbeit. 21 Vgl. Heublein, Ulrich et al.: Ursachen des Studienabbruchs in Bachelor- und in herkömmlichen Studiengängen. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Exmatrikulierten des Studienjahres 2007/08, Hannover: HIS Hochschul-Informations-System 2010, S. 7. 22 Vgl. ebd., S. 21f. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd., S. 47ff.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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kulturell für bestimmte, derzeit benachteiligte Bevölkerungsgruppen attraktiver wird, wurde nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet. Die Studierbarkeit ist – gemessen an den Studienabbrüchen – durch die Reform nicht verbessert worden. Wird die Ausweitung akademischer Bildung als ein Ziel der Reformen verstanden – die Diskussion über künftige Fachkräftemängel flammt in schöner Regelmäßigkeit auf –, dann kann die vertane soziale Öffnung als ein widersprüchliches Ergebnis der Studienstrukturreform interpretiert werden. Es ist jedenfalls nicht gelungen, über den Weg der neuen Studiengänge tatsächlich einen höheren Anteil der Bevölkerung an die Hochschulen zu bekommen. Dies kann nur durch eine soziale Öffnung der Hochschulen gelingen, da die sogenannten bildungsnahen Schichten bereits heute zu einem erheblichen Teil studieren und dieses »Potenzial« somit ausgeschöpft wird.

B ERUFSQUALIFIZIERUNG

UND

ARBEITSMARKT

Der Bachelorabschluss soll »eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene«25 darstellen, also berufsqualifizierend sein. Dieser Anspruch ist zentral bei der Umstellung des Studiensystems, da sich zahlreiche andere Ziele – übersichtlichere Studiendauer, kürzere Studienzeiten – nur dann realisieren lassen, wenn der Bachelor als akademischer Abschluss grundsätzlich auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert wird. Auch aus der Perspektive einer sozialen Öffnung ist diese Berufsqualifizierung notwendig, damit Menschen, denen ein Hochschulstudium bisher zu weit weg schien, tatsächlich eine Option geboten werden kann. Es stellen sich jedoch mindestens zwei grundsätzliche Fragen: Wird der Bachelorabschluss tatsächlich akzeptiert? Und was ist mit Praxisbezug und Berufsqualifizierung eigentlich gemeint?

25 Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister. 19. Juni 1999, Bologna, http://www.bmbf.de/pub/bologna _deu.pdf

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N ACHLASSENDE AKZEPTANZ Die Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) befragt regelmäßig Studienanfängerinnen und Studienanfänger. Dabei wurden auch die Gründe für die Wahl eines Bachelorstudiums erfragt. Zwischen den Wintersemestern 2000/01 und 2007/08 hat sich hier das Antwortverhalten massiv verändert: Die Nennung der kurzen Studienzeit als Grund für die Wahl eines Bachelorstudiums ging in diesem Zeitraum von 45 auf 29 Prozent zurück, die Nennung der guten Arbeitsmarktchancen sogar von 60 auf 37 Prozent.26 Auch Bargel et al.27 diagnostizieren einen starken Rückgang der positiven Einschätzung der Arbeitsmarktchancen mit einem Bachelorabschluss. Die Studierenden bewerten die Arbeitsmarktchancen mit einem Bachelorabschluss demnach zunehmend skeptisch. Als Erklärung hierfür werden informationsökonomische Argumente angeführt, d.h. das mit der Studienstrukturreform verbundene Misstrauen und die allgemeinen Unsicherheiten schlagen durch.28 Das größere Problem ist jedoch die fehlende konzeptionelle Auseinandersetzung mit den neuen Abschlüssen seitens der Arbeitgeber.29 Unternehmensbefragungen machen zwar einerseits deutlich, dass BachelorabsolventInnen in der Regel nicht auf der Stufe von AbsolventInnen einer Berufsausbildung eingestellt werden sollen. Allerdings gaben im Jahr

26 Vgl. Heine, Christoph/Willich, Julia/Schneider, Heidrun/Sommer, Dieter: Studienanfänger im Wintersemester 2007/08. Wege zum Studium, Studien- und Hochschulwahl, Situation bei Studienbeginn, Hannover: HIS Hochschul-Informations-System 2008, S. 172. 27 Vgl. Bargel, Tino/Ramm, Michael/Multrus, Frank: Studiensituation und studentische Orientierungen. 10. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen, Bonn und Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2008, S. 43. 28 Vgl. Klös, Hans-Peter: »Neue Signale für den Arbeitsmarkt – Zur Akzeptanz gestufter wissenschaftlicher Abschlüsse in der betrieblichen Praxis«, in: WSIMitteilungen (2010) 5, S. 257-262; Dettleff, Henning: »Der Bachelor auf dem Arbeitsmarkt: Erfahrungen der Wirtschaft mit einem neuen Studienabschluss«, in: Himpele, Klemens/Keller, Andreas/Staack, Sonja (Hg.): Endstation Bologna? – Zehn Jahre Europäischer Hochschulraum, Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag 2010, S. 75-79, hier S. 75. 29 Vgl. Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess, S. 35ff.

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2004 38 Prozent der befragten Unternehmen an, dass BachelorabsolventInnen auf der Ebene der beruflichen Aufstiegsfortbildung (Fachwirt, Meister) angesiedelt werden, und nur 30 Prozent der Unternehmen stellen BachelorabsolventInnen auf der Ebene traditioneller Hochschulabschlüsse ein.30 Ferner ist – zumindest für die Ingenieurwissenschaften – bekannt, dass sich die Tätigkeitsbereiche von Bachelor- und MasterabsolventInnen unterscheiden.31 Auch im öffentlichen Dienst sind die Bachelorabschlüsse den traditionellen Hochschulabschlüssen nicht gleichgestellt. Um den Aufstieg in den höheren Dienst zu schaffen, müssen sich BachelorabsolventInnen die Möglichkeit eines Masterstudiums im Laufe ihrer Berufskarriere offen halten. Damit sind mindestens zwei Probleme angesprochen:32 • Die Befürchtung, dass Bachelorabsolventinnen und -absolventen AbsolventInnen einer Berufausbildung direkt verdrängen, scheint unbegründet. Allerdings führt die Einstellung auf der Ebene der Aufstiegsfortbildung zu einem Abschneiden des bisherigen Karrierepfads beruflich gebildeter Personen, insbesondere in kleineren und mittelständischen Betrieben. Wenn es demnach die Notwendigkeit einer stärkeren Akademisierung dieser Tätigkeitsfelder gibt, dann muss den beruflich Gebildeten der Weg an die Hochschulen ermöglicht werden, etwa, indem nach der Berufsausbildung ein Master angeschlossen werden kann. Dies erfordert jedoch, dass sich sowohl Hochschulen als auch Arbeitgeber diesen neuen Herausforderungen stellen. Andernfalls erfolgt die Einstellung der Bachelorstudierenden zu Lasten des beruflichen Vorankommens der beruflich Gebildeten. • Im öffentlichen Dienst führt eine – zum Teil nur geringfügig – verkürzte Studiendauer zu erheblichen Einschränkungen bei den Karrierechancen. Dies dürfte die Attraktivität des Bachelorabschlusses erheblich senken.

30 Vgl. Konegen-Grenier, Christiane/Koppel, Oliver: Akzeptanz und Karrierechancen von Bachelor- und Masterabsolventen deutscher Hochschulen, IWTrends 2/04, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft 2004, S. 12. 31 Vgl. ebd., S. 7. 32 Vgl. Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess.

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Zwischenzeitlich liegen Ergebnisse einer ersten großen Befragung von BachelorabsolventInnen vor.33 Die Ergebnisse sind zwar mit Vorsicht zu interpretieren, da die Stichprobe insgesamt mit einer Beteiligung von 37.000 AbsolventInnen zwar groß ist, der Anteil der BachelorabsolventInnen jedoch noch sehr gering. Dennoch lassen sich erste Tendenzen darstellen. Befragt wurde der AbsolventInnenjahrgang 2007 im Sommersemester 2009. Zunächst ist festzuhalten, dass 58 Prozent der AbsolventInnen eines Bachelorstudiengangs an Fachhochschulen, jedoch lediglich 20 Prozent der BachelorabsolventInnen an Universitäten den Einstieg in eine reguläre Beschäftigung gefunden haben. 34 Prozent der BachelorabsolventInnen an Fachhochschulen und 72 Prozent an Universitäten setzen das Studium fort.34 Insgesamt lässt sich als Ergebnis der Erhebung festhalten, dass BachelorabsolventInnen aus Fachhochschulstudiengängen sehr viel angemessener beschäftigt werden als UniversitätsabsolventInnen; diese geben deutlich häufiger an, dass sie nicht qualifikationsadäquat beschäftigt werden. Zudem ist das Gehalt von BachelorabsolventInnen von Universitäten im Durchschnitt 20 Prozent geringer als das der Magister- und DiplomabsolventInnen; bei BachelorabsolventInnen von Fachhochschulen ist der Gehaltsunterschied mit 15 Prozent allerdings ebenfalls beachtlich.35 Die skeptische Haltung der Studierenden gegenüber der Arbeitsmarktsituation von BachelorabsolventInnen scheint demnach nicht unbegründet zu sein, da es offenbar bisher nicht gelungen ist, adäquate Beschäftigungen und Bezahlungen für Absolventinnen und Absolventen der Bachelorstudiengänge zu sichern.

P RAXIS

UND

B ERUFSQUALIFIZIERUNG

Ein zentrales Ziel der Bologna-Reform in Deutschland war die Umsetzung eines stärkeren Praxisbezugs des Studiums. Allerdings ist hierbei nicht de-

33 Vgl. Alesi: Humankapitalpotenziale; Schomburg, Harald: Generation Vielfalt. Ausgewählte Ergebnisse des Projekts »Studienbedingungen und Berufserfolg. Befragung Jahrgang 2007«, Kassel: Internationales Zentrum für Hochschulforschung 2009. 34 Vgl. Alesi: Humankapitalpotenziale, S. 31. 35 Vgl. ebd., S. 41.

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finiert worden, was darunter verstanden werden soll. Dies führt beinahe zwangsläufig zu eng geführten Praxisbegriffen. So sei eine stärkere Praxisorientierung etwa dann gewährleistet, wenn VertreterInnen der beruflichen Praxis im Akkreditierungssystem und den Hochschulgremien vertreten seien. Ferner müssten die Praxisphasen des Studiums ausgeweitet werden.36 Dabei ist längst bekannt, dass eine Praxisorientierung eben nicht aus einem reinen Praktikum oder dem Einbinden von UnternehmensvertreterInnen bestehen kann und dass Studierende durch ein Hochschulstudium Fertigkeiten erwerben sollen, die allgemeine Problemlösungskompetenzen, Teamfähigkeit usw. beinhalten. Eine Engführung des Praxisbegriffs auf technische Fertigkeiten wird daher weder dem gesellschaftlichen Anspruch an ein Studium noch den Bedürfnissen der Unternehmen gerecht. Vielmehr gilt es, einen kritischen Praxisbegriff zu entwickeln und zu schärfen und dabei die gesellschaftliche Relevanz von Bildung und Ausbildung mitzudenken.37 Um hier zu sinnvollen und weiterführenden Ergebnissen zu kommen, muss die kurzfristige Fixierung auf »Beschäftigungsfähigkeit« zu Gunsten einer allgemeinen Kompetenzbeschreibung zurücktreten. Insgesamt stellt sich derzeit weniger die Frage, ob die Absolventinnen und Absolventen von Bachelorstudiengängen eine Beschäftigung finden, sondern welche Qualität diese hat. Es deutet einiges darauf hin, dass sie hierbei erhebliche Abstriche gegenüber den traditionellen Abschlüssen hinnehmen müssen. Zum Zweiten ist gesellschaftlich völlig ungeklärt, welcher Praxisbegriff einem Hochschulstudium zu Grunde gelegt werden soll. Dies ist jedoch entscheidend bei der Frage, welche Rolle Hochschulen einnehmen sollen und welches Verständnis von Erwerbsarbeit zu Grunde gelegt wird.

36 Vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst: Bachelor, Master und Auslandserfahrungen. Erwartungen und Erfahrungen deutscher Unternehmen, Bonn: DAAD 2007. 37 Vgl. Banscherus et al.: Der Bologna-Prozess, S. 49ff; Lüdecke, Christoph: »Praxisrelevanz und Employability-Ansatz«, in: BdWi/fzs/GEW (Hg.): Bildung – Beruf – Praxis. Bildungsreform zwischen Elfenbeinturm und Verwertungslogik, Marburg: BdWi-Verlag 2007, S. 21-22; Kuda, Eva: »Dauerhafte Beschäftigungsfähigkeit?«, in: ebd., S. 26-28; Wildt, Johannes: »Praxisbezug in Studium und Lehre«, in: ebd., S. 32-35.

182 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG ?

W IDERSPRÜCHE

DES

B OLOGNA-P ROZESSES

Der Bologna-Prozess ist widersprüchlich, was nicht zuletzt an den unterschiedlichen Interessen der handelnden Akteure liegt. Eva Hartmann hat zu Recht darauf hingewiesen,38 dass der Bologna-Prozess auch die normative Setzungsmacht Europas in der Welt stärkt. Andreas Keller39 benennt die Widersprüche des Reformprozesses deutlich: Einerseits kann der BolognaProzess die neoliberale Umstrukturierung des europäischen Hochschulwesens begünstigen, andererseits kann er eben auch genutzt werden, emanzipatorische hochschulpolitische Entwicklungen zu befördern. Torsten Bultmann40 zielt in dieselbe Richtung, wenn er schreibt, dass der BolognaProzess der Kommodifizierung wissenschaftlicher Bildung diene und diese somit »lediglich eine Eins-zu-Eins-Umsetzung neoliberaler Konzepte« darstelle. Bultmann macht deutlich, dass es auch Interessen an einer Umstrukturierung der Hochschulen in der genannten Richtung gibt. Sich darauf zurückzuziehen hieße jedoch, die Widersprüche des Prozesses nicht zu politisieren. Auch Himpele und Prausmüller41 kommen letztlich zu folgendem Ergebnis: »Die Debatte über eine neue Architektur des europäischen Hochschulraums könnte jedoch [...] dazu beitragen, neue Handlungsspielräume für kritisches Studieren, Lehren und Forschen zu erschließen.«

»B OLOGNA«

ALS NEOLIBERALES

P ROJEKT ?

Die Bologna-Reform findet nicht frei von anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen statt. Die konkrete Umsetzung in zahlreichen europäi-

38 Vgl. Hartmann, Eva: »Europa als neue normative Weltmacht? Einsichten aus dem Bologna-Prozess«, in: Himpele et al.: Endstation Bologna, S. 19-26. 39 Vgl. Keller, Andreas: »Chancen und Risiken des Bologna-Prozess«, in: Forum Wissenschaft (2003) 3, S. 43-45. 40 Vgl. Bultmann, Torsten: »Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf – Widersprüche und Konfliktlinien des Bolognaprozesses und der Reorganisation der Hochschulen«, in: Brüchert, Oliver/Wagner, Alexander (Hg.): Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen, Marburg: BdWi-Verlag 2007, S. 147-154, hier S. 148. 41 Vgl. Himpele/Prausmüller: Bologna – und weiter?, S. 117.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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schen Ländern tendiert denn auch dazu, die Studienstrukturreform für eine Kommodifizierung der Wissenschaft zu nutzen. So ist in Deutschland der Druck auf die Studierenden massiv gestiegen, einerseits durch Anwesenheitsverpflichtungen, andererseits durch permanente Prüfungen, die zudem in die Endnote einfließen. Da gleichzeitig der Zugang zu den Masterstudiengängen nicht frei ist, ist eine Konkurrenz um Noten ab dem ersten Semester entfacht – das Verstecken von Büchern in der Bibliothek und das Herausreißen von Lösungsseiten sind insofern zweckrationale Verhaltensweisen der Studierenden, was viel über den ›Erfolg‹ des erhöhten Drucks aussagt. Zum Zweiten standen das Ziel der Studienzeitverkürzung und die dadurch erhofften Einsparungen im Vordergrund.42 Dies sollte durch ein Ausscheiden eines erheblichen Teils der Studierenden nach dem Bachelor erreicht werden: »Als erster berufsqualifizierender Abschluss ist der Bachelor der Regelabschluss eines Hochschulstudiums und führt damit für die Mehrzahl der Studierenden zu einer ersten Berufseinmündung«.43 Der Wissenschaftsrat schrieb seinerzeit sogar, dass »differenzierte Abschlüsse nur dann einen Sinn« machten, »wenn nach einem berufsqualifizierenden Abschluss der unmittelbare Abschluss eines weiteren Studienprogramms mit dem Ziel einer höheren Qualifizierung im Fach nicht als Regelfall vorgesehen wird«.44 Damit orientierte sich die Umsetzung der Reform eben nicht an der Frage, in welchem Verhältnis Wissenschaft und Praxis zueinander stehen. Nicht die Frage, wie viel Zeit Wissenserwerb benötigt, sondern die Frage, wie die Studienzeiten verkürzt werden können, stand im Zentrum – was eine inhaltliche Studienreform erheblich erschwert. Wissenschaftsfremde Ziele verbunden mit einem technischen Verständnis von Erwerbsarbeit (und den hierfür benötigten Qualifikationen) prägten die Umsetzung der Reform: »Die Studierenden sollten für den Arbeitsmarkt möglichst effi-

42 Vgl. Bultmann: Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf, S. 148. 43 KMK: 10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.06.2003, Berlin, Bonn, S. 2, http://www. kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_06_12-10-The sen-Bachelor-Master-in-D.pdf 44 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Einführung neuer Studienstrukturen und -abschlüsse (Bakkalaureus/Bachelor – Magister/Master) in Deutschland, Berlin 2000, S. 26, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4418-00.pdf

184 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG ?

zient und kostengünstig ›beschäftigungsfähig‹ gemacht werden«.45 In dieser Diktion ist dann ein Qualifikationsbegriff maßgeblich, demzufolge das »Eintrainieren eines instrumentell abrufbaren arbeitsmarktrelevanten ›Wissens‹ Vorrang hat vor der Aneignung einer selbständigen wissenschaftlichen Urteilsfähigkeit«.46 Ein zentrales Problem ist der Bezug des Bologna-Prozesses zur Lissabon-Strategie der Europäischen Union. Diese sollte Europa bis 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« machen – und damit Bildung zu einer abgeleiteten Größe der wirtschaftlichen Entwicklung. Bildung steht nicht mehr für sich selbst, sondern wird ökonomischen Zielen untergeordnet. Das widerspricht jedoch ebenfalls dem Ziel einer inhaltlichen Studienreform und steht überdies einer emanzipatorischen Bildung im Wege. Um Missverständnissen vorzubeugen: Bildung hat immer auch die Funktion, den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen und ist nie frei von ökonomischen Zwängen.47 Es stellt sich jedoch die Frage, welchen Zielen die Bildungspolitik in welchem Ausmaß folgt, was als Lebensstandard definiert und von welchem Arbeitsmarkt ausgegangen wird.

S TUDIENREFORM

ALS

F ORTSCHRITT ?

Den Interessen, die eine stärkere Employability in den Mittelpunkt der Debatte stellen, stehen weitreichende Reformkonzepte entgegen. Banscherus et al.48 benennen die (ungenutzten) Potentiale der Bologna-Reform: »Eine ernsthafte Orientierung der Hochschulreform an den Bologna-Zielen – der

45 Hirsch: »Bologna-Prozess« und der Kampf an den Hochschulen, S. 23. 46 Bultmann: Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf, S. 148; vgl. auch: Gilles, Markus: »Die total verwaltete Uniwelt«, in: Brüchert, Oliver/ Wagner, Alexander (Hg.): Kritische Wissenschaft, Emanzipation und die Entwicklung der Hochschulen, Marburg: BdWi-Verlag 2007, 173-196. 47 Vgl. Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2006. Mehr Beschäftigung braucht eine andere Verteilung, Köln: Papyrossa 2006, S. 105ff. 48 Vgl. Banscherus, Ulf/Himpele, Klemens/Staack, Sonja (2009b): »Zehn Jahre Bologna – Studienreform zwischen Anspruch und Wirklichkeit«, in: Forum Wissenschaft (2009) 4, S. 12-15.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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sozialen Dimension, der Etablierung wirklich berufsqualifizierender Studienabschlüsse sowie der Idee des lebenslangen Lernens – würde nicht nur eine Öffnung der Hochschulen in die Gesellschaft bedeuten. Eine solche Orientierung wäre auch vollständig inkompatibel mit der kleinstteiligen Prüfungskultur, den unflexiblen Studienstrukturen und dem zunehmend hierarchischen Umgang von Lehrenden und Lernenden miteinander, wie sie an den deutschen Hochschulen Einzug gehalten haben.« Es ist mit anderen Worten sehr wohl möglich, die soziale Öffnung, die Frage des Praxisbegriffs und die Frage des Lebenslangen Lernens im Kontext der BolognaReformen zu denken. Diese Chancen wurden bisher jedoch kaum genutzt.

W IDERSPRÜCHE

UND

ANKNÜPFUNGSPUNKTE

Die Zielsetzung der deutschen Kultusbürokratie, dass der Bachelor zum Regelabschluss werden soll, kann angesichts der tatsächlichen Übergangsquoten in ein Masterstudium von 72 Prozent an Universitäten49 als (vorläufig?) gescheitert gelten. Die Interessen der Studierenden – eine Vertiefung des Wissens und die Verbesserung der beruflichen Chancen – stehen dem Ziel der Studienzeitverkürzung durch das gestufte Studiensystem entgegen. Dabei, so wurde gezeigt, orientieren sich die Studierenden durchaus an den Gegebenheiten des Arbeitsmarkts. Und hier ergibt sich der vielleicht größte Widerspruch der Reformen. Bei der Bologna-Reform geht es nicht zuletzt um die Neuordnung des Verhältnisses von beruflicher Praxis und wissenschaftlicher Qualifikation, die sich regelmäßig in Forderungen nach einer stärkeren Praxisorientierung erschöpft. Im Kern geht es jedoch darum, den neuen Produktionsbedingungen gerecht zu werden. Dies ist eng verbunden mit der Debatte um den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Hierbei wird unterstellt, dass die Produktionstechniken zunehmend komplexere Fertigkeiten voraussetzen, die durch ein entsprechendes Bildungsangebot erworben werden müssen.50 Da49 Vgl. Alesi et al.: Humankapitalpotenziale der gestuften Hochschulabschlüsse in Deutschland, S. 31. 50 Vgl. allgemein zur entsprechenden Debatte: Ptak, Ralf: »Vom Wert des Wissens«, in: Forum Wissenschaft (2008) 3, http://www.bdwi.de/forum/archiv/ archiv/1663127.html.

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mit aber fällt eine wesentliche Begründung für die Segmentierung des Bildungssystems weg, die sich eben gerade durch die Aufteilung in geistige Arbeit einerseits und einfache, handwerkliche Tätigkeiten andererseits herleitet.51 Wenn sich nun jedoch eine zunehmend wissensintensive Produktionsweise durchsetzt, dann ist das hochselektive deutsche Bildungswesen mit der Bereitstellung entsprechender Arbeitskräfte überfordert. Nicht ohne Grund wird in der entsprechenden Debatte gern auf Skandinavien und die dortigen Studierendenquoten verwiesen. Deutschland, so liest man mindestens einmal jährlich bei der Vorstellung des OECD-Berichts Bildung auf einen Blick, benötige mehr AkademikerInnen. Eine höhere Bildungsbeteiligung lässt sich jedoch nur erreichen, wenn entweder die selektive Grundstruktur des deutschen Bildungssystems beseitigt wird – hier hat die Volksabstimmung in Hamburg allerdings deutlich gezeigt, welche Auseinandersetzungen an dieser Stelle zu führen wären. Oder der Anteil der sogenannten nicht-traditionellen Studierenden an den Hochschulen müsste erheblich erhöht werden. Unter nicht-traditionellen Studierenden versteht man Studierende, die nicht über eine klassische Biografie an die Hochschulen gelangen, in Deutschland demnach vor allem Studierende ohne Abitur. Sie machen hierzulande etwa ein Prozent aller Studierenden aus, was im internationalen Vergleich ein sehr geringer Wert ist.52 Dies macht jedoch das enorme Potenzial dieser Gruppe deutlich: Sollen tatsächlich relevante Steigerungen der Studierendenzahlen erreicht werden, dann müssten die Hochschulen für eben diese Gruppe geöffnet werden. Eine solche Öffnung der Hochschulen – d.h. eine soziale Öffnung einerseits und eine Öffnung in die Gesellschaft über das Lebenslange Lernen andererseits – würde den Charakter der Hochschulen nachhaltig verändern. Die Frage eines neuen Produktionsregimes – verbunden mit einem neuen Sozialstaatsregime, das die sozialen Risiken zunehmend privatisiert und Bildung so zu einer individuellen Investitionsentscheidung degradiert – stellt sich nicht nur bei der Menge akademisch gebildeter Menschen, sondern auch bei der Frage, wie und was erlernt werden soll. Einerseits lässt sich an dieser Stelle die Debatte um einen Praxisbegriff politisieren. Ande-

51 Vgl. Bultmann: Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf, S. 150f. 52 Vgl. Orr, Dominic/Schnitzer, Klaus/Frackmann, Edgar: Social and Economic Conditions of Student Life in Europe. Synopsis of Indicators. Final Report. Eurostudent III 2005-2008, Hannover: HIS 2008.

H IMPELE : W IDERSPRÜCHE DES B OLOGNA -PROZESSES

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rerseits stellt sich auch die Frage des Lebenslangen Lernens neu, da die Zeiten eines einmaligen Wissenserwerbs, verbunden mit einer lebenslang mehr oder weniger gleichbleibenden Berufstätigkeit, kaum in die aktuellen Bedingungen passen. Dies jedoch würde massive strukturelle und kulturelle Anpassungen bedeuten, etwa die der Studienbedingungen an ältere Studierende, die Vervielfältigung der Hochschulzugänge, eine entsprechende kulturelle Vielfalt und eine Anerkennung der beruflich erworbenen Kompetenzen. Die Auswirkungen wären erheblich. Bultmann umreißt sie wie folgt: »es geht um die Aufhebung der Hochschulen, nicht als Bildungseinrichtungen, sondern als statuszuweisende Institutionen.« 53

F AZIT Die derzeitige Hochschulreform findet unter den gegebenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen statt. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die beschriebenen Reformpotenziale des Bologna-Prozesses nicht genutzt worden sind. Vielmehr herrscht eine technokratische Umsetzung vor, die jedoch erhebliche Widersprüche und Widerstände – wie den Bildungsstreik – ausgelöst hat. Die Rolle der Hochschulen in einer Gesellschaft ist umkämpft. Die Widersprüche der Bologna-Reformen machen dabei auch deutlich, dass die Frage nach der Bedeutung von Wissenschaft und Bildung nicht entschieden ist. Diese Auseinandersetzung gilt es zu politisieren. Dabei kann einerseits auf die Reformziele des Bologna-Prozesses selbst rekurriert werden, andererseits geht es darum, die Rolle von Hochschulen in der Gesellschaft aktiv zu formulieren. Eine reine Oppositionshaltung zu den Hochschulreformen ist dabei wenig hilfreich, verkennt sie doch die Anknüpfungspunkte und Widersprüche des gesamten Prozesses. Auch die Forderungen nach einer Rückkehr zur alten Studienarchitektur zeugt bestenfalls von erheblichen Verdrängungsmechanismen: Die meisten der heute diskutierten Probleme gab es auch schon vor »Bologna«. Daher gilt: »Der Status quo muss überwunden werden, der Status quo ante kann hierfür keine Richtlinie sein«.54

53 Bultmann: Künftige Perspektiven von Wissenschaft und Beruf, S. 153. 54 Banscherus: Der Bologna-Prozess, S. 90.

Warum ich mich am Bologna-Prozess beteiligt habe K ARL D IETER S CHUCK

Ich war ab März 2003 Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und von Oktober 2005 bis September 2010 Dekan der inzwischen neu geschaffenen, dortigen Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Mit meinem Dekanat stehe ich in dieser Fakultät gewissermaßen für die erste Phase der Umsetzung der Bologna-Idee, und in diesem Zusammenhang frage ich mich, welche Probleme uns in der Zeit der Gestaltung des Bologna-Prozesses und der Einführung des neuen Studiensystems besonders beschäftigt haben. Zwei davon möchte ich hier skizzieren. So habe ich mich immer wieder gefragt, ob nicht in Vergessenheit geraten ist, was wirklich mit der Bologna-Erklärung vereinbart wurde. Deshalb hier die wesentlichen Passagen ihres Originaltextes vom 19. Juni 1999 zur Erinnerung: »Wir (die Vertragsstaaten) bekräftigen unsere Unterstützung der in der SorbonneErklärung dargelegten allgemeinen Grundsätze, und wir werden unsere Maȕnahmen koordinieren, um kurzfristig, auf jeden Fall aber innerhalb der ersten Dekade des dritten Jahrtausends, die folgenden Ziele, die wir für die Errichtung des europäischen Hochschulraumes und für die Förderung der europäischen Hochschulen weltweit für vorrangig halten, zu erreichen:



Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, auch durch die Einführung des Diplomzusatzes (Diploma Supplement) mit dem Ziel, die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäi-

190 | S CHÖNE NEUE B ILDUNG ?

schen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern.



Einführung eines Systems, das sich im wesentlichen auf zwei Hauptzyklen stützt: einen Zyklus bis zum ersten Abschluȕ (undergraduate) und einen Zyklus nach dem ersten Abschluȕ (graduate). Regelvoraussetzung für die Zulassung zum zweiten Zyklus ist der erfolgreiche Abschluȕ des ersten Studienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert. Der nach dem ersten Zyklus erworbene Abschluȕ attestiert eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene. Der zweite Zyklus sollte, wie in vielen europäischen Ländern, mit dem Master und / oder der Promotion abschlieȕen.



Einführung eines Leistungspunktesystems – ähnlich dem ECTS – als geeignetes Mittel der Förderung gröȕtmöglicher Mobilität der Studierenden. Punkte sollten auch auȕerhalb der Hochschulen, beispielsweise durch lebenslanges Lernen, erworben werden können, vorausgesetzt, sie werden durch die jeweiligen aufnehmenden Hochschulen anerkannt.



Förderung der Mobilität durch Überwindung der Hindernisse, die der Freizügigkeit in der Praxis im Wege stehen, insbesondere:



für Studierende: Zugang zu Studien- und Ausbildungsangeboten und zu entsprechenden Dienstleistungen;



für Lehrer, Wissenschaftler und Verwaltungspersonal: Anerkennung und Anrechnung von Auslandsaufenthalten zu Forschungs-, Lehr- oder Ausbildungszwecken, unbeschadet der gesetzlichen Rechte dieser Personengruppen.



Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung im Hinblick auf die Erarbeitung vergleichbarer Kriterien und Methoden.



Förderung der erforderlichen europäischen Dimensionen im Hochschulbereich, insbesondere in bezug auf Curriculum-Entwicklung, Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, Mobilitätsprojekte und integrierte Studien-, Ausbil1

dungs- und Forschungsprogramme.«

Ich würde mir wünschen, dass wir in den kommenden Diskussionszusammenhängen auf diese sechs Punkte der Bologna-Vereinbarung zurückkommen. Man wird dabei nämlich – das ist meine Hypothese – feststellen, dass

1

Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna, http://www.bmbf.de/pub/bologna_ deu.pdf; der Hyperlink wurde zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

S CHUCK: W ARUM ICH

MICH AM

B OLOGNA -PROZESS

BETEILIGT HABE

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die Ergebnisse des Bologna-Prozesses in einem nur losen Zusammenhang mit den an unserer Einrichtung geschlossenen Vereinbarungen stehen – und dass mithin die häufig beklagten Folgen und Nebenwirkungen aus dem Umsetzungsprozess selbst und nicht aus den ursprünglichen Vereinbarungen heraus entstanden sind. Warum das so gekommen ist, das sollten wir intensiv diskutieren. Es wird von allerlei Kräften von außen, z.B. von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräften, gesprochen. Ich empfehle dringend, genauso intensiv die Kräfte im Inneren unserer Kultusbürokratien, unserer Bildungssysteme und unseres Hauses zu betrachten, die zu den aktuellen Ausformungen des neuen Studiensystems geführt haben. Da haben wir viel gedankliche Arbeit vor uns, das genau auseinander zu halten, was »Huhn« und was »Ei« des bisher erreichten Standes ist. Die zweite Frage für mich ist die danach, warum ich an dem BolognaProzess teilgenommen und schon etwa seit 1998 dabei »mitgemacht« habe. 1998 war längst in Sicht, dass es diese Bologna-Vereinbarung geben wird, und den meisten Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern war klar, dass wir ein Studiensystem haben, das viele Probleme aufweist. Und seinerzeit gab es hier im Fachbereich Erziehungswissenschaft die rechtliche Notwendigkeit, für die Studiengänge nun endlich, nach eineinhalb Jahrzehnten, durch die universitären Gremien verabschiedete und für die Behörden genehmigungsfähige Studienordnungen vorzulegen. Das war schon eine Merkwürdigkeit für sich: 1983 war die Prüfungsordnung verordnet worden, und erst 15 Jahre später sollte die Vorläufigkeit praktizierter Studienordnungen rechtlich korrekt überwunden werden. In diesem Kontext haben wir uns in der Behindertenpädagogik – ich bin als behindertenpädagogischer Psychologe tätig – auf den Weg gemacht, das Studium der behindertenpädagogischen Fachrichtungen neu zu konzipieren. Wir haben zwischen 2000 und 2002, in enger Abstimmung mit dem Lehrerprüfungsamt, im relativ kurzen Zeitraum von zwei Jahren ein sogenanntes Sequenzenmodell entwickelt, welches das Studium der Behindertenpädagogik auf dem Boden der Prüfungsordnung von 1983 und unter Berücksichtigung der Bologna-Ideen formal und inhaltlich gänzlich neu strukturierte. Nach diesem Sequenzenmodell wurde bis zur Einführung des Bachelor-/Masterstudiensystems gearbeitet. Dieses Modell hatte Elemente, die gut in die neue Zeit hätten gerettet werden können. Dazu gehörte, dass wir uns mit dem Sequenzenmodell gegenüber den Studierenden dazu verpflichteten, die prüfungsordnungsgemäßen Lehrveranstaltungen absehbar, regel-

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mäßig und in inhaltlich sinnvollen Abfolgen – in Sequenzen eben – anzubieten. Gleichzeitig gab es für die Studierenden relativ große, dennoch verbindliche Freiräume zum Studieren und zur Auswahl von Veranstaltungen in Wahlbereichen. Mit dem Sequenzenmodell wurden damit ganz neue Formen der Verbindlichkeit für die Hochschullehrenden und die Studierenden eingeführt, mit der Konsequenz, dass es sehr schnell zu einer deutlichen Reduktion der durchschnittlichen Studienzeit in den behindertenpädagogischen Studiengängen kam, die bald nur wenig über der Mindeststudienzeit lag. Eine zentrale Begründung für die Teilnahme an der Einführung des neuen Studiensystems war für mich genau dieses: die Unkalkulierbarkeit und Beliebigkeit des alten Studiensystems zu überwinden, ohne in eine Regelungswut und eine Beschneidung von notwendigen Freiräumen für selbstbestimmte Studienanteile zu verfallen. Das ist die eine Seite meiner Begründung. Die andere Seite – und darüber bitte ich ernsthaft zu diskutieren – ist diese: Die Bewährungsprobe steht dem Bachelor-Master-System mittel- und langfristig darin bevor, ob sich damit die Beteiligung breiter Bevölkerungskreise an einer wissenschaftlichen, tertiären Bildung erhöhen lässt. Ich trete in meinen fachlichen Zusammenhängen dafür ein, die Bildungsbeteiligung der Gesamtbevölkerung zu erhöhen. In diesem Zusammenhang streiten wir uns zur Zeit um die inklusive Schule, wir streiten um die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte behinderter und randständiger Menschen. Die Erhöhung der Bildungsbeteiligung ist also das Erste. Das Zweite muss unmittelbar folgen: die Erhöhung der Akademisierungsquote. Im internationalen Vergleich haben wir hierzulande mit vergleichsweise niedrigen Akademisierungsquoten großen Nachholbedarf, wodurch viele Probleme unseres Bildungssystems in einem zentralen Fokus deutlich werden. Ich habe am Bologna-Prozess teilgenommen in der Hoffnung, dass wir eines Tages sehr viel mehr junge Menschen in die Hochschulen und Universitäten bekommen, denen wir Abschlüsse auf Bachelor-Niveau vermitteln können. Das gilt für viele Berufsgruppen, die augenblicklich für ihre Aufgaben z. B. in sozialen und Bildungsbereichen im internationalen Vergleich minderqualifiziert werden. Ich wünsche mir, dass wir ein gestuftes Ausbildungssystem entwickeln, das genau dieses realisiert, nämlich eine erhöhte Bildungsbeteiligung breiter Bevölkerungsschichten und eine Ausweitung universitärer Angebote, wie es z. B. den Finnen zu gelingen

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B OLOGNA -PROZESS

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scheint. Die Finnen berichten von Akademisierungsquoten, die sich in Bereichen jenseits von 80 Prozent bewegen. Man kann sich darüber streiten, inwiefern dies mit unseren Berechnungsweisen und Verhältnissen vergleichbar ist. Bei uns reden wir jedoch von einer Akademisierungsquote von 40 bis 43 Prozent. Diese Differenz mag ein weiterer Hinweis darauf sein, dass unser Bildungssystem erheblichen Erneuerungsbedarf hat. Die Perspektive einer Erhöhung der Akademisierungsquote war für mich beim Eintritt in den Bologna-Prozess verlockend. Die Irrungen und Wirrungen dieses Prozesses sollten uns ganz entschieden und zu allererst danach fragen lassen, wie wir selbst als Akteure in diesem Prozess an den Ergebnissen beteiligt sind, die nun beklagt werden, und wie wir die Differenzen zwischen ursprünglicher Programmatik und aktuellem Entwicklungsstand selbst (mit)hergestellt haben.

»…dass gestufte Studiengänge als Allheilmittel wirken würden, war im Ernst nicht zu erwarten…« Eine Zwischenbilanz E VA A RNOLD

Seit mehr als einem halben Jahrzehnt arbeiten Mitglieder erziehungswissenschaftlicher Fakultäten an deutschen Hochschulen an der Umstellung der Studiengänge auf das gestufte Studiensystem. Nach mehreren Jahren Vorbereitungszeit starteten die Bachelorstudiengänge zum Beispiel an der Universität Hamburg zum Wintersemester 2007/08: Drei Zulassungsjahrgänge wurden seitdem eingeschrieben, ein Teil der Studierenden des ersten Jahrgangs wird ihr Bachelorstudium in Kürze abschließen, und im Wintersemester 2010/11 beginnen die Masterstudiengänge – an der hiesigen Fakultät, die hier als Fallbeispiel dient, in der Bewegungswissenschaft, der Psychologie, der Erziehungswissenschaft sowie den Lehramtsstudiengängen. Vergleicht man die Rückmeldungen und Beschwerden, die von Studierenden und Lehrenden im Wintersemester 2007/08 eingingen, mit den Feedbacks im Sommersemester 2010, zeigt sich, dass die Schwierigkeiten der unmittelbaren Umstellungsphase weitgehend überwunden wurden. Viele Missverständnisse der Anfangszeit wurden aufgeklärt, praktische Probleme der Studienorganisation wurden gelöst; Lehrende und Studierende haben sich an die neuen Abläufe gewöhnt und beginnen, sie kreativ zu gestalten. In mündlichen und schriftlichen Befragungen, die im vergangenen Wintersemester durchgeführt wurden, äußern sich die Studierenden mehr-

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heitlich zufrieden mit der Wahl ihres Studiengangs und der Gestaltung der absolvierten Module. Sie schätzen die Anforderungen überwiegend als angemessen ein und fühlen sich gut auf die Prüfungen vorbereitet. Während der Vorlesungszeit wenden die meisten Studierenden zwar mehr als 40 Stunden pro Woche für das Studium auf, in der vorlesungsfreien Zeit ist die Arbeitsbelastung jedoch meist deutlich geringer, so dass der Mehrheit der Studierenden der schwierige Balanceakt gelingt, neben dem Studium zu jobben, sich ehrenamtlich zu engagieren und/oder familiäre Verpflichtungen zu erfüllen.1 Zugleich scheint aber kaum jemand mit den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen wirklich zufrieden zu sein: Von den Grundprinzipien der gestuften Studiengänge, z. B. dem studienbegleitenden Prüfungssystem, bis zu den Details der alltäglichen Organisation erscheinen viele Aspekte hinderlich oder zumindest lästig. Weit verbreitet ist etwa das Empfinden eines erheblichen Zeit- und Leistungsdrucks im Studium, auch die Überzeugung, dass ein Universitätsstudium mehr Wahlfreiheit vorsehen müsse, als es derzeit der Fall ist. Die neue Studienstruktur wird von vielen Studierenden und Lehrenden als Korsett empfunden, das weniger stützt als dass es einengt. Versprechungen, die mit der Umstellung verbunden waren, wurden nicht eingehalten: So sind Auslandsaufenthalte nicht erleichtert worden, und auch ein Wechsel von einer Universität zu einer anderen ist nicht leichter, sondern eher mühsamer geworden. Angesichts dieser Situation fordern Studierende und Lehrende zu Recht, dass nicht nur Detailprobleme kurzfristig beseitigt werden, sondern dass die Studiengänge erneut grundlegend umgestaltet werden. Gewünscht werden Lösungen, die die Vorteile des früheren Systems mit denen des neuen verbinden, ohne dabei Nachteile des einen oder anderen in Kauf zu nehmen. Aber wie soll das gelingen? Reichen moderate Veränderungen der gestuften Studiengänge? Muss ein völlig neues System entwickelt werden und wenn ja, wie könnte es aussehen? Oder wäre die Rückkehr zu den traditionellen Studiengängen die richtige Entscheidung?

1

Vgl. Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft: Chancen und Herausforderungen im BachelorStudiensystem. Modulevaluation 2009, http://www.epb.uni-hamburg.de/files/ MEV_2009_Gesamtbericht_170610.pdf – Alle Hyperlinks in diesem Artikel wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

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Ohne diese Frage beantworten zu können, möchte ich eine These zur Diskussion stellen: Von der Einführung des gestuften Studiensystems wurde in Deutschland nicht weniger erwartet als die Lösung aller Probleme, die von verschiedenen Interessengruppen in den vergangenen 30 bis 40 Jahren diagnostiziert wurden: mangelnde Flexibilität und starre Verrechtlichung der Studiengänge, überlange Studiendauer und hohe Abbruchquoten, mangelnde Auslandserfahrungen von Lehrenden und Studierenden, geringe Attraktivität eines Studiums an deutschen Hochschulen bei ausländischen Studierenden und Wissenschaftlern, fehlende Orientierung an den Erfordernissen des Arbeitsmarkts und, zumindest in einigen Studiengängen, hohe curriculare Beliebigkeit. Die Umstellung auf das gestufte Studiensystem sollte diese und weitere Probleme – ohne zusätzliche Kosten – beheben. Die Reform ist daran, wie vorauszusehen war, gescheitert, nicht nur wegen zu hoher Erwartungen und mangelnder Ressourcen, sondern weil die genannten Ziele teilweise in Konflikt miteinander stehen, so dass die Erreichung eines Ziels die Verwirklichung anderer unmöglich macht. Wenn diese These zutrifft, kann es keine Reform der Reform geben, die zum Erfolg führt, solange nicht die Ziele der neuerlichen Änderungen geklärt, die bestehenden Zielkonflikte benannt und Prioritäten gesetzt werden. Weder Veränderungen innerhalb der bestehenden Studiengänge noch die Rückkehr zum vorigen oder die Entwicklung eines neuen Systems werden die bestehende Unzufriedenheit beseitigen, wenn es nicht gelingt, im Konsens festzulegen, welche Aufgaben die Hochschulen im Bereich von Studium und Lehre vordringlich erfüllen sollen.

D AS

URSPRÜNGLICHE

Z IEL DER B OLOGNA -R EFORM

Das ursprüngliche Ziel der Reform war bekanntlich die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums zur Förderung der arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger sowie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems. In der »Erklärung von Bologna« wurde 1999 beschlossen, diese Ziele durch Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse sowie eines Diplomzusatzes (Diploma Supplement) zu verfolgen. In Aussicht genommen wurde ein System mit zwei Hauptzyklen, einem mindestens dreijährigen Zyklus bis zum ersten Abschluss (undergraduate),

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der eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene attestiert, und einem weiteren Zyklus (graduate), der mit dem MasterAbschluss oder der Promotion endet. Weitere Entscheidungen betrafen die Einführung eines einheitlichen Systems der Verrechnung von Studienleistungen (ECTS), die Förderung der Freizügigkeit sowie der Zusammenarbeit im Bereich der Qualitätssicherung und die Entwicklung gemeinsamer Curricula, Forschungs- und Lehrprogramme.2 Wer die Herausforderungen kennt, die die Vereinheitlichung von Bildungsangeboten allein zwischen den deutschen Bundesländern stellt, kann ermessen, wie ambitioniert das Ziel ist, einen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Die Umsetzung gestaltete sich in den vergangenen zehn Jahren schwierig, nicht zuletzt, weil manche Länder nicht auf traditionelle Merkmale ihres jeweiligen Systems verzichten wollen. In Deutschland bedeutete die Umstellung bekanntlich erhebliche Veränderungen in der Gestaltung der Studiengänge, die nur mit zusätzlichem Aufwand geplant und verwirklicht werden konnten. Um den Beteiligten diese Arbeit schmackhaft zu machen, wurde eine bestimmte Argumentationsfigur verwendet: Es wurden Probleme beschrieben, mit denen das traditionelle System der Diplom-, Magister- und Staatsexamensstudiengänge behaftet war, und in Aussicht gestellt, dass sie durch das neue System behoben werden würden. Auf diese Weise wurden bei allen Beteiligten vielfältige Erwartungen geweckt. Einige dieser Erwartungen möchte ich im Folgenden etwas genauer beschreiben.

Zusatzziel 1: Mobilität während des Studiums fördern Die Schaffung eines gemeinsamen, offenen Hochschulraums in Europa ist das erklärte Ziel des Bologna-Prozesses. Im Verlauf der Diskussion ist allerdings aus dem Ziel, die »gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen« zu erleichtern, eine viel weiter gefasste Zielsetzung geworden, nämlich die Förderung der (internationalen) Mobilität während des Studiums. Studierende sollen innerhalb Europas von einer Hochschule zu einer anderen

2

Vgl. Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna, http://www.bmbf.de/pub/ bologna_deu.pdf

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wechseln oder nach einer Phase an einem anderen Hochschulort an die ursprünglich besuchte Universität zurückkehren können und die erbrachten Leistungen dort anerkannt bekommen. Um Vergleichbarkeit nicht nur der Abschlüsse, sondern auch einzelner Studienelemente zu erreichen, wurde in Deutschland die Modularisierung der Studiengänge beschlossen, d.h. die Gliederung der Studiengänge in durch eine Prüfung abgeschlossene Einheiten. Module sind umfangreicher als Lehrveranstaltungen, sollen aber überschaubarer sein als (Teil-) Studiengänge. Sie sollen, so die Erwartung, bei einem Wechsel des Studiengangs oder Studienorts übertragbar sein, so dass Studierende, aufbauend auf den bereits absolvierten Modulen, ihr Studium ungehindert fortsetzen können. Diese Idee ist gut – allerdings schafft Modularisierung nur dann Erleichterung, wenn es um Module ähnlicher Größe und ähnlichen inhaltlichen Zuschnitts geht. Ist dies nicht der Fall, wird das Anerkennungsgeschäft eher schwieriger, weil die zusätzliche und nicht selten sperrige Strukturierung der Studiengänge in Module berücksichtigt werden muss. Um nun die Anerkennung wieder zu erleichtern, müssten jedoch die Strukturen vereinheitlicht werden – über gemeinsame Rahmenrichtlinien, erlassen von einer europäischen Behörde für die Anerkennung von Studiengängen. Eine solche Behörde und ihre Arbeitsweise mag sich niemand vorstellen, der die Abläufe und Ergebnisse der Arbeit der Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutschland kennt.

Zusatzziel 2: Studiengänge flexibilisieren Eine zweite Erwartung, die mit der Umstellung der Studiengänge verbunden war, ist die verstärkte Profilierung von Studiengängen. Bis zum Jahr 2002 bestand in Deutschland mit den Rahmenprüfungsordnungen ein System der länderübergreifenden Koordinierung: Eine »Gemeinsame Kommission für die Koordinierung der Ordnung von Studium und Prüfungen«, eingesetzt von den Ländern auf der einen und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) auf der anderen Seite, erarbeitete Musterrahmenordnungen und fachspezifische Rahmenprüfungsordnungen, die durch KMK und HRK beschlossen und durch die jeweiligen örtlichen Hochschulprüfungsordnungen in geltendes Prüfungsrecht umgesetzt wurden. Da die Änderung von Rahmenprüfungsordnungen über KMK und HRK erfahrungsgemäß sehr auf-

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wändig war, erschien dieses System als zu statisch, um flexibel auf dynamische wissenschaftliche Entwicklungen oder auf den Wandel des Arbeitsmarkts reagieren zu können. Das System der Rahmenprüfungsordnungen wurde deshalb abgeschafft und durch das der Akkreditierung von Studiengängen ersetzt. Vergleichbarkeit von Abschlüssen wird nun über ländergemeinsame Strukturvorgaben gesichert, die deutlich weniger differenziert formuliert sind als die früheren Rahmenordnungen.3 Das Ziel, mehr Gestaltungsfreiheit bei der Entwicklung von Studiengängen zu schaffen, wurde im Prozess der Umsetzung der Bologna-Reform einerseits erreicht und andererseits deutlich verfehlt. Erreicht wurde, dass Hochschulen, allenthalben unabhängig voneinander, Studiengänge im gestuften Studiensystem entwickelt haben, die gleiche, ähnliche oder deutlich voneinander abweichende Bezeichnungen tragen, ohne dass auf Anhieb ersichtlich wäre, ob die Abschlüsse inhaltlich oder funktional vergleichbar sind. Während es früher z.B. eine Rahmenprüfungsordnung für Diplomstudiengänge im Fach Psychologie gab, in der die Gegenstände und Fachgebiete des Studiengangs bezeichnet und auch der Umfang der Teilgebiete festgelegt waren, konnten die psychologischen Fachbereiche die Bachelorund Masterstudiengänge weitgehend frei strukturieren und z.B. entscheiden, ob diese alle bisherigen Bereiche abdecken oder sich auf bestimmte Fachgebiete konzentrieren sollen. Zwar geben die Fachgesellschaften, in diesem Fall die Deutsche Gesellschaft für Psychologie, Empfehlungen für die gestuften Studiengänge, die die Vergleichbarkeit der Abschlüsse sichern sollen; sie sind jedoch für die Hochschulen nicht bindend. Diese Entwicklung bietet Studieninteressierten vielfältige Alternativen, da sie nicht nur entscheiden können, ob sie Psychologie, Kommunikationspsychologie oder Psychology and Neuroscience studieren möchten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Profilen innerhalb der Studiengänge wählen können, die zum Bachelor-Abschluss im Fach Psychologie führen. Mobilität, sei sie im In- oder Ausland, wird durch diese Entwicklung jedoch, wie erwähnt, eher erschwert, da sich die Inhalte verwandter Studiengänge wie auch der Zuschnitt der Module zum Teil stark unterscheiden.

3

Vgl. Hochschulrektorenkonferenz: Ländergemeinsame Strukturvorgaben gemäß § 9 Abs. 2 HRG für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen, http://www.hrk-bologna.de/bologna/de/download/dateien/2003_10_10LaendergemeinsameStrukturvorgaben.pdf

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Deutlich verfehlt wurde das Ziel, mehr Gestaltungsfreiheit für die Studiengangsentwicklung zu schaffen. Im Zuge der Reform hat praktisch jede Ebene mit Gestaltungsverantwortung – EU-Mitgliedsländer, deutsche Bundesländer, Hochschulen, Fakultäten, Fächer – jeweils eigene Konkretisierungen der Festlegungen der jeweils übergeordneten Ebene vorgenommen, die die Komplexität erhöhen und die Handlungsspielräume einengen. Die durch die Kultusministerkonferenz erlassenen gemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen werden nicht nur durch 16 Hochschulgesetze der Länder konkretisiert, sondern von den einzelnen Universitäten in Rahmenprüfungsordnungen gegossen, welche wiederum von den Fakultäten bzw. Fächern je unterschiedlich ausgelegt werden. Im Ergebnis entstanden komplexe Regelwerke in kaum zu überschauender Vielfältigkeit, die aber Studierenden und Lehrenden den Eindruck vermitteln, jede Handlung sei präzise vorgeplant und festgelegt.

Zusatzziel 3: Studiendauer verkürzen Zu den dominanten Problemdefinitionen des deutschen Hochschulwesens gehört seit Jahrzehnten die faktische Dauer der (universitären) Studiengänge bis zum Abschluss. So führte z.B. der Wissenschaftsrat mehrere Untersuchungen durch, die belegen, dass die Regelstudienzeiten im traditionellen Studiensystem zum Teil erheblich überschritten wurden.4 Die Überschreitung der Regelstudienzeit in vielen Studiengängen wurde nicht nur vom Wissenschaftsrat vehement problematisiert – teils unter dem Gesichtspunkt hoher Kosten, die mit den verlängerten Studienzeiten verbunden sind, teils unter dem Aspekt des Alters von Absolventinnen und Absolventen, die »verspätet« auf den Arbeitsmarkt gelangen. Mit der Umstellung auf das gestufte Studiensystem wurde deshalb das Ziel verbunden, die tatsächlichen Studienzeiten zu verkürzen – nicht nur durch ein auf drei Jahre verkürztes Studium bis zum ersten Abschluss, sondern auch durch erheblichen Druck auf die Hochschulen, dafür zu sorgen, dass die Regelstudienzeiten eingehalten werden können.

4

Vgl. z. B. Wissenschaftsrat: Entwicklung der Fachstudiendauer an Universitäten von 1999 bis 2003, http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/6825-05. pdf

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Es ist dieses zusätzliche Ziel der Reform, das m. E. die nachhaltigsten Veränderungen im Studienalltag hervorgebracht hat. Über 20 bis 30 Jahre hatten sich alle Beteiligten im deutschen Hochschulsystem mit den Studiengängen gut arrangiert: Studierende genossen die Freiheit der Wahl ihrer Lehrveranstaltungen, Lehrende den erheblichen Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung ihrer Lehrverpflichtungen, die Hochschulpolitik profitierte von dieser Situation, in der sich Ausstattungsmängel leicht verschleiern ließen, Hochschulverwaltungen konnten studienorganisatorische Probleme leicht hinter der Unvorhersehbarkeit studentischen Wahlverhaltens bezüglich der besuchten Veranstaltungen verstecken, und die Wirtschaft schließlich profitierte von der Möglichkeit, junge, gut ausgebildete und engagierte Menschen als studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu geringen Kosten beschäftigen zu können. Dieses Arrangement wurde gestört durch den erheblichen Druck auf die Hochschulen, im Zuge der Reform die Studiendauer zu senken, d.h. kürzere Studiengänge zu konzipieren und dafür zu sorgen, dass Regelstudiendauer und tatsächliche Studiendauer sich so weit als möglich annähern. Das Zauberwort lautet »Studierbarkeit« und bedeutet unter anderem, dass in Lehrveranstaltungen ausreichend Plätze zur Verfügung stehen, was im traditionellen Studiensystem keine Selbstverständlichkeit war, und dass Pflichtveranstaltungen »überschneidungsfrei« angeboten werden. Es muss also sehr viel präziser als bisher geplant werden, wann welche Veranstaltungen für welche Studierendengruppen angeboten werden – und Lehrende wie Studierende müssen sich an diese Planungen halten. Die Gestaltungsfreiheit wird dadurch für beide Seiten eingeschränkt, was in aller Regel nicht als Fortschritt bewertet wird. Das Bemühen um die tatsächliche »Studierbarkeit« der neuen Studiengänge hat an der Universität Hamburg viel in Bewegung gesetzt. Mit Vereinbarungen über die Verteilung der Fachanteile und dem so genannten Zeitfenstermodell für die Lehramtsstudiengänge wurde ein Grad der Abstimmung zwischen den Fachbereichen und Fakultäten erreicht, der vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Studierende der Lehramtsstudiengänge haben zudem eine Anlaufstelle, bei der sie Koordinationsprobleme vorbringen können und die sich aktiv um Lösungen zwischen den Fachbereichen bemüht. Dennoch wird von vielen Studierenden die Verkürzung der Studienzeiten derzeit nicht als Vorteil, sondern als Bedrohung der eigenen Handlungs-

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freiheit erlebt. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht vielmehr die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten bei der Festlegung des Semesterstundenplans: Während die inhaltlichen Alternativen oft nicht reduziert wurden, so wurde zumindest die zeitliche Reihenfolge festgelegt, so dass nicht mehr frei gewählt werden kann, welche Pflichtveranstaltung zu welcher Zeit besucht wird. Reduziert erscheint damit auch der Handlungsspielraum, um das Studium mit anderen Lebensbereichen in Einklang zu bringen – mit dem Job, mit einem ehrenamtlichen Engagement oder familiären Verpflichtungen. Diese Nachteile scheinen die Vorteile eines gut organisierten, überschneidungsfreien (Pflicht-)Lehrangebots derzeit zu überwiegen – vielleicht auch, weil es in vielen Fällen nicht gelungen ist, den Anteil der obligatorischen Studienanteile zugunsten eines attraktiven Wahlangebots zu begrenzen.

Zusatzziel 4: Studienabbrüche vermeiden Auch die Zahl bzw. Quote der Studienabbrüche gehört zu den Problemen, die durch die Umstellung auf das gestufte Studiensystem wenn nicht behoben, so doch gemindert werden sollte. Gemittelt über alle Fächergruppen lag die Quote derer, die das Studium ohne Abschluss beendeten, in den 1990er Jahren bei 24 bis 26 Prozent.5 Fächerspezifische Auswertungen sprachen dafür, dass diese Quote in den Sprach- und Kulturwissenschaften besonders hoch, im Fach Medizin dagegen vergleichsweise gering war. Verursacht werden Studienabbrüche offenbar durch ein ganzes Bündel von Gründen, die von mangelndem Interesse an den Studieninhalten, geringer Leistungsfähigkeit und ausbleibenden Prüfungserfolgen bis zum Vorhandensein attraktiver beruflicher Alternativen reichen.6 Es hat dem Image der neu eingeführten Bachelorstudiengänge sehr geschadet, dass sie von einigen Beteiligten von vornherein als attraktivere Al-

5

Vgl. Heublein, Ulrich; Schmelzer, Robert; Sommer, Dieter: Die Entwicklung der Studienabbruchquote an den deutschen Hochschulen. Ergebnisse einer Berechnung des Studienabbruchs auf der Basis des Absolventenjahrgangs 2006, http://www.his.de/pdf/21/his-projektbericht-studienabbruch.pdf

6

Vgl. Heublein, Ulrich; Spangenberg, Heike; Sommer, Dieter: Ursachen des Studienabbruchs. Analyse 2002, http://www.bmbf.de/pub/ursachen_des_studien abbruchs.pdf

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ternative zum Studienabbruch bezeichnet wurden. Vielfach wurde argumentiert, der Bachelorabschluss biete Studierenden, die ein Diplom- oder Magisterstudium nicht bis zum Ende durchhalten, die Möglichkeit, die Hochschule doch noch mit einem Abschluss zu verlassen. Auch die stärkere Strukturierung der Studiengänge wurde als eine Unterstützungsmaßnahme für Studierende dargestellt, denen es im traditionellen Studiensystem schwerfiel, sich im Universitätsbetrieb zurechtzufinden.

Zusatzziel 5: Praxisferne überwinden Dass der erste Studienabschluss »eine für den europäischen Arbeitsmarkt relevante Qualifikationsebene attestieren« sollte, wurde bereits in der Erklärung von Bologna festgeschrieben, wobei keineswegs eindeutig ist, ob damit das Erreichen einer allgemeinen »Beschäftigungsfähigkeit« oder die Vorbereitung auf ein klar definiertes Berufsbild gemeint ist. Während im angelsächsischen Raum mit dem Begriff Employability eher das zuerst genannte Ziel bezeichnet wird, herrscht im deutschsprachigen Raum die Auffassung vor, »Berufsqualifizierung« bedeute die Passung eines Kompetenzprofils zu einem spezifischen beruflichen Tätigkeitsfeld. Dass das Erreichen einer ersten beruflichen Qualifikation mit dem ersten Studienabschluss als Reformziel in Deutschland sehr viel Aufmerksamkeit erregt hat, mag auch damit zusammenhängen, dass die Mehrheit der Absolventinnen und Absolventen universitärer Studiengänge in Befragungen deren »Praxisferne« kritisierte:7 Lehramtsstudiengänge, Medizinerausbildung, aber auch Betriebswirtschaft, ganz zu schweigen von Germanistik oder Politologie, galten als stark wissenschaftsorientiert; die Studiengänge seien zu stark an wissenschaftlichen Disziplinen und zu wenig an Erfordernissen der beruflichen Tätigkeiten ausgerichtet, wissenschaftlichmethodische Fragen seien zu stark, anwendungsorientierte zu schwach vertreten.

7

Vgl. Briedis, Kolja; Minks, Karl-Heinz: Zwischen Hochschule und Arbeitsmarkt. Eine Befragung der Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen des Prüfungsjahres 2001, http://www.bmbf.de/pub/his_projektbericht_12_03. pdf

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Auch dieses Spannungsfeld sollte, so die Erwartung, mit der Umstellung auf das gestufte Studiensystem zu Gunsten eines verstärkten Berufsbezugs aufgelöst werden. In Bachelorstudiengängen wurde vielerorts die Vermittlung so genannter »berufsqualifizierender Kompetenzen« als verpflichtendes Studienelement festgeschrieben, wobei die entsprechenden Inhalte häufig ebenso rasch wie einseitig auf Fremdsprachen, Gesprächsführung und Präsentationstechniken verengt wurden. Bisher vorhandene Angebote in diesen Bereichen, die von Studierenden freiwillig wahrgenommen wurden und bei ihnen beliebt waren, wurden verpflichtend für alle Studierenden festgeschrieben – wobei der damit verbundene Arbeitsaufwand auf das verfügbare Zeitvolumen angerechnet wird und damit Zeit »verbraucht«, die Hochschullehrende lieber in fachliche Inhalte investieren würden.

Zusatzziel 6: Curriculare Beliebigkeiten vermeiden Schließlich wurde allen voran den geisteswissenschaftlichen Studiengängen nachgesagt, dass ihre Inhalte weitgehend beliebig seien und vor allem den Interessen der jeweiligen Lehrenden folgten. In Bezug auf die Erziehungswissenschaft wurde kritisiert, dass es keinerlei Übereinkünfte gebe, welche wissenschaftlichen Theorien und Konzepte, Forschungsmethoden und Befunde zum verbindlichen »Kanon« der Studiengänge gehören sollten, so dass Studierende, die ihr Studium an unterschiedlichen Orten absolviert haben, kaum über einen gemeinsamen Wissensbestand verfügten. Um diesem Problem entgegenzutreten, wurde seit Ende der 1990er Jahre – mit mehr oder weniger Erfolg – über ein Kerncurriculum diskutiert, in dem ein für alle Studierenden verbindlicher Kern festgelegt und der durch Wahlangebote ergänzt werden sollte.8 Auch der Gedanke der curricularen Verbindlichkeit ist in die Reform hineingetragen worden, und zwar in Gestalt von Modulbeschreibungen, die

8

Die DGfE legte zwischenzeitlich, zuerst 2008, in erweiterter Fassung 2010, entsprechende Empfehlungen vor, die sich als »Richtschnur für die weitere Entwicklung« erziehungswissenschaftlicher Haupt- und Nebenfach- sowie Lehramtsstudiengänge verstehen; vgl. Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Empfehlungen der DGfE«, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der DGfE, Jg. 21 (2010), Sonderband.

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sowohl die Ziele als auch die Inhalte des jeweiligen Moduls festlegen. Damit werden den Gestaltungsmöglichkeiten von Lehrenden deutlichere Grenzen gesetzt als durch die Prüfungsordnungen der traditionellen Studiengänge, die sich überwiegend darauf beschränkten, Fachgebiete oder Studienschwerpunkte zu benennen und ihnen eine bestimmte Zahl von Semesterwochenstunden zuzuweisen. Vorteil der neuen Regelung ist, dass sich die Ziele und Inhalte von Studiengängen genauer beschreiben lassen, z.B. in Transcripts of Records, mit denen Studierende gegenüber anderen Hochschulen, potentiellen Arbeitgebern und anderen Stellen differenziert nachweisen können, mit welchen Inhalten sie sich beschäftigt und welche Kompetenzen sie erworben haben. Erkauft wird dieser Vorteil durch Festlegungen, die von Studierenden und Lehrenden derzeit als mangelnde Wahl- und Gestaltungsfreiheit erlebt werden.   F AZIT Mobilität während des Studiums zu erleichtern, Studiengänge zu flexibilisieren, die Studiendauer zu senken, Studienabbrüche zu vermeiden, Praxisferne auf der einen und curriculare Beliebigkeiten auf der anderen Seite zu vermeiden, sind Zielsetzungen, die an deutschen Hochschulen mit dem Bologna-Prozess verbunden wurden. Weitere Wünsche und Erwartungen kommen hinzu, wie etwa die Erhöhung der Akademisierungsquote, die Akademisierung weiterer Berufsbilder oder die Steigerung der Attraktivität deutscher Hochschulen bei Studierenden und Lehrenden aus dem Ausland. Dass die Einführung der gestuften Studiengänge als Allheilmittel für alle Probleme des deutschen Studiensystems wirken könnte, war im Ernst nicht zu erwarten. Dass sich diese Probleme in diesem Prozess ohne zusätzliche Ressourcen lösen lassen würden, erst recht nicht. Auch dass eine langjährig etablierte Praxis der Gestaltung des universitären Alltags ohne Friktionen auf veränderte Abläufe umgestellt werden könnte, war außerordentlich unwahrscheinlich. Dass ein Umstellungsprozess dieser Größenordnung aufwändig, langwierig und von Enttäuschungen und Rückschlägen begleitet sein würde, war hingegen im Grunde vorherzusehen. Dass eine erneute Umorientierung des Studiensystems die enttäuschten Erwartungen an den Bologna-Prozess erfüllen könnte, halte ich allerdings ebenfalls für sehr wenig wahrscheinlich. Weder die Rückkehr zum traditio-

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nellen System noch die Entwicklung eines gänzlich neuen Konzepts werden dazu führen können, dass alle Wünsche erfüllt werden. Was wir stattdessen benötigen, ist eine Verständigung über die Ziele, deren Erreichung vordringlich erscheint, und ein Plan, wie sich die Situation mit so wenig Aufwand wie möglich und so nahe wie möglich an diese Ziele annähern lässt. Zu den Zielen, die ich persönlich als erstrebenswert ansehe, gehört die Anerkennung und Nutzung des Umstands, dass die Voraussetzungen und Interessen der Studierenden vielfältig sind. Die Studierenden, die in unserer Fakultät Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Psychologie oder Bewegungswissenschaft studieren oder in einem Lehramtsstudium eingeschrieben sind, haben individuelle Biografien, befinden sich in unterschiedlichen Lebenssituationen, kommen mit unterschiedlichen Einstellungen und Fähigkeiten in die Universität, verfolgen unterschiedliche Ziele und Interessen und durchlaufen individuelle Lernprozesse. Wie sich eine große Fakultät in die Lage versetzen kann, Studierende auf ihren individuellen Wegen zu unterstützen, ist eine Frage, die ich gern beantwortet sehen würde. »Heterogenität und Bildung« sollte daher nicht nur, wie es der Fall ist, ein Forschungsschwerpunkt der Fakultät sein, sondern auch ein Grundsatz der Gestaltung der Studiengänge – in welchem System auch immer.

Wider die öffentlich und privat verordnete Verdummung im Zeichen von »Exzellenz« Für Lernprozesse mit Menschen dienlichem Anfang und Ende1 W OLF -D IETER N ARR

Bologna. Der Name der hierfür ansonsten »unschuldigen«, traditionsreichen Stadt symbolisiert seit Ende des letzten Jahrhunderts einen sogenannten Prozess. Der »Bologna-Prozess« wurde von den Kultusministern einiger EU-Länder in Gang gesetzt – oder anders genannten Leuten, die dafür regierungsamtliche Zuständigkeit reklamierten – mit dem vorgegebenen und entsprechend propagierten Ziele, die europäische Bildungs- und Wissenschaftspolitik europäisch aufzuladen. Der Austausch zwischen den Ländern der EU sollte dem »Europa ohne Grenzen« gemäß hindernisfrei verstärkt werden. Folgt man der europäischen Einbildung in der Pluralität ihrer Länder, steht Europa als Wiege »moderner Kultur und Zivilisation« ohnehin an der Spitze menschenmöglicher Originalität und Schöpferkraft (Weltkriege, Kolonialismus, im deutschen Fall Konzentrations- und Vernichtungslager und anderes bilden nur nachzusehende Ausrutscher im Prozess europäischer, angelsächsisch global gedehnter Zivilisation). Diese Spitzenstellung sollte bildungs- und wissenschaftspolitisch erhalten und gestärkt werden. Damit das Ganze des unionierten Europas seine Teile synthetisch übertreffe und seinerseits befruchte. Dazu waren die vielförmigen Studien1

Der Autor hat uns freundlicherweise seinen Vortrag, gehalten an der FH Cottbus am 26.05.2009, zum Abdruck zur Verfügung gestellt.

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gänge und Prüfungen samt ihren Titeleien anzugleichen. Qualifizierte Flexibilitäten und von ihnen ermöglichte Mobilitäten »innovativ« aufschäumend über Europa und über Europa hinaus. »Exzellenz« wurde darum wenigstens in deutschen Landen alles summa cum laude promoviert, was da geforscht und wachsend angewandt werden sollte. In der BRD wenigstens − europäische Parallelen schneiden sich nicht erst im Unendlichen, kapitalistisch vertäut − wurde das mit trojanischen Bildungseselchen gefüllte Kürzel »Bologna-Prozess« weithin mit willigen oder lautlos sich beugenden Professoren und machtriechenden Universitätspräsidenten lautlos rasch »durchgeführt«. Ein passendes Lieblingsverbum aus der LTI.2 »Wissenschaft als Beruf«, darin auch »Lehre als Beruf«, ist längst ein handfester, privilegienbesetzter Job geworden. Auch wenn längst alle von Anfang an verwesenen Versprechen zwischenzeitlich wie ein Orwell’scher Goodspeak klingen, studentische Proteste nicht nur in der 2. Deutschen Republik für manche, nicht allzu tiefgründige Unruhe gesorgt haben, darum manche Modifikationen und Bremsspuren zu bemerken sind, bleibt der Kern des europäischen Bildungs- und Forschungsprogramms und seiner Praxis herrschender Interessen hart. Es geht um eine andere, durchaus nicht nazistische, Gleichschaltung all dessen, was da Bildung und Forschung heißt. Es mag formell noch staatlich (und schon pseudoöffentlich), informell jedoch privat organisiert sein. Am besten im neuen PPP-Mobil. Das heißt: Public Private Partnership. Und diese Gleichschaltung am Beginn des neuen, des 21. Säkulums gehorcht den funktionalen Imperativen, marktgängige Fertigkeiten, Habitus und Innovationen auszubilden, einzutrimmen und zu erfinden. Damit dem »Markt« in seiner weltweiten Präsenz gedient werden könne, ist es politisch-soziologisch in Korrespondenz und als Unterfutter zur politischen, naturwüchsig unpolitisch geadelten Ökonomie notwendig, dass die Ungleichheit in den Ländern und zwischen ihnen erhalten bleibe und gefördert werde. Darum hat Bildungs- und Forschungspolitik dem Prinzip der bodenlos arroganten »Leistungsgerechtigkeit« zu gehorchen. Hinaus- und Hinaufprüfen lautet konsequent die »wissenschaftlich« kostümierte Devise. Jede und jeder sind, herrschaftsgedrungen, ihres bildungspolitischen Glü-

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Klemperer, Victor: Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen (1947), Stuttgart: Reclam 2007. − Lehrveranstaltungen werden bekanntlich auch durchgeführt.

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ckes Schmied. Dem, der noch einen seltsamen Mangel demokratischer, nicht zu reden von menschenrechtlicher Legitimation spüren sollte − »postdemokratisch« unangebrachte gefühlige Kinkerlitzchen − sei mit der Generalsekretärin der Studienstiftung des Deutschen Volkes zugeraunt – welch ein Bildungsdom –, dass man mit den ungleichen Stipendien gerade darauf aus sei, eine »Verantwortungselite« zu kreieren. Die nötige Präsentation und Analyse der prächtig geplanten und implementierten schönen neuen Bildungs- und Forschungswelt kann ich und will ich auch in der schriftlichen Fassung eines Vortrags nicht leisten. Ich beschränke mich auf drei Abschnitte. In einem ersten werde ich mich thesenförmig verdichtet zum »Bologna-Prozess« äußern. All das, was ich sage, ist wohlbekannt. Es hat aber längst quasinatürliche Qualitäten selbst bei manchen Kritikern, den Studierenden nicht zuletzt, angenommen, die keine Erinnerungen vor Bologna haben und sich eine Welt nach Bologna auch darum nicht vorstellen können (A.). In einem 2. Abschnitt (B.) ritze ich an, was in Sachen Bildung »eigentlich« erforderlich wäre. Den selbstverständlich zentralen Forschungssektor lasse ich notgedrungen aus dem Spiel. Er funktioniert, blasphemisch, nach dem Matthäusprinzip: »Wer da hat, dem wird gegeben, damit er der Fülle habe.« Sonst müsste ich einen Holzschnitt holzschnittartig referieren, sprich, selbst zu polemischen Zwecken bis zur Unkenntlichkeit verkürzt. In einem dritten Abschnitt (C.), noch atemloser gehalten, werden einige Gedanken zur immer drängelnden und meist notgedrungen abgewiesenen oder mit wenig Antwortbrot versehenen Frage geäußert: Was um aller Bildung willen tun?

A. Der schlingernde, aber vorangehende »BolognaProzess« – Einige seiner Merkzeichen 1. Bologna ist alt. Ich meine nicht die Stadt. Auch der nach ihr benannte »Prozess«. Universitäre Lehre und Lernen sind längst aus allen Fugen geraten. Sie unterlaufen in den Lehr- und Lernformen vor allem, jedoch auch in den fachbespickten Lerninhalten die Forderungen des Tages und damit der Zukunft. Darum verfehlt die Kritik, die nur an der Bologneser Schaumkrone ansetzt, ihre Aufgabe. Darum ist ein Zurück zu den seligen Zuständen vor Bologna verfehlt, selbst wenn es möglich wäre. Schon seit Jahrzehnten, ein bald verschüttetes Motiv der Studentenbewegung 1967, wird die Uni-

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versität blockiert, erdrosselt und umfunktioniert. Eine Quadriga nicht apokalyptischer, aber Bildungswirklichkeit niedertrampelnder Reiter ist staubwirbelnd machtvoll zu sichten. Sie zerreitet das Bildungsfeld: •







durch eine an sich begrüßenswerte Expansion der Studierendenzahlen und mit ihr verbundenen wachsenden Größen, auf die bildungsorganisatorisch immer zu spät und primär bürokratisch reagiert wird; durch eine zunehmende Finalisierung der Ausbildungsziele, der Fachcurricula, ihrer Notengatter und Abschlussgrade auf professionelle Karrieren. Sie sind geradezu schicksalhaft von den Nachfragen aus dem Arbeitsmarkt abhängig mit ihren konjunkturellen Höhen, Tiefen, Versandungen und neuen beruflichen Optionen; durch die unübersichtliche und hermetische Ausdifferenzierung der Fächer, die längst Lichtenbergs Beobachtung allgemein bestätigen: dass wer nur ein Fach verstehe – und dies bestenfalls in den curricularen Korsettagen –, der verstehe auch dieses nicht recht. Das »Feindbild« der Studentenbewegung, der triefäugige »Fachidiot«, regiert; durch den widersprüchlich dynamischen Zustand der Universität als Trümmer- und Innovationshaufen, dessen Profiteure im Sinne privater, nicht allein privatkapitalistischer Ziele so fremd gehen, dass ein Zuhausebleiben seinerseits unangemessen erscheint. Sprich: Wer das Wort »Autonomie«, gar völlig antiquiert Humboldts Formel »Einsamkeit und Freiheit« in den Mund nimmt, täuscht sich und andere, welcher Deklinationsart er/sie immer anhänge.

2. Bologna als bildungspolitisches Stichwort indiziert also eine weitere Etappe auf dem erfolgreichen Weg, die Studiengänge und die studentischen Bildungsrennen in ihnen zu enteignen. Was ist nicht alles Gescheites, Halbgescheites und Dummes über Bildung geschrieben worden (ansatzweise am Besten immer noch von Sokrates, von Rousseau, von Hegel, von Simone Weil). Und es hält damit an. Die in Bachelor und Master geteilten Studiengänge zeichnet aus, dass sie von vornherein außenbestimmte Bildungsziele denjenigen aufherrschen, die durch das NC-Gatter geschleust worden sind. Außenbestimmung wird zur überwiegenden Erfahrung derjenigen, die sich notgedrungen den Studienbedingungen unterwerfen. Subjecta. Die Irrelevanz der eigenen, Selbstbewusstsein erringenden Person und ihres Lernens, aufrecht geh-, kritik- und urteilsfähig zu werden, gehört

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zur Haupterfahrung aller. Lust am Studium, schon durch die gerichtete Schule erheblich beeinträchtigte Neugier und in Rahmenbedingungen eigene Gestaltung des Studiumsverlaufs werden zu Spinnereien. 3. Dass die meisten Versprechungen, die mit den Spaghettis à la carte Bolognese verbunden worden sind, eitel Dunst und Schein darstellen, konnte von Anfang an gesehen werden: • •





dass die Mobilität zunehme, sprich mehrere in- und ausländische Universitäten mit jeweils neuen Erfahrungen besucht werden könnten; dass die Zahl der Studienabbrecher sinke. Schlechterdings verantwortungslos, ein solches Versprechen vorzugaukeln, ohne die fächerspezifischen, universitätsallgemeinen, die auf den Arbeitsmarkt bezogenen und die sozialen Herkunftsgründe wahrzunehmen, die schlechten Bedingungen zu ändern und neue zu schaffen; dass die Arbeitsmarktchancen just der studierenden Schnellbleichen in Gestalt von Personen stiegen, wie bekanntlich halbgebackene Semmeln einen reißenden Absatz nehmen; dass die wie wenig später durch Hartz IV zum geflügelten Bürokratiewort gewordene Formel »Fördern und Fordern« in der umgekehrten Rangfolge kontrollgerichtet auch das Studium dirigiere.

4. Das Studium wird substantiell entleert. Gleichviel, ob als Bachelor kurz geschnitten, ob als Master beendet. Dafür sorgt, dass solche Lehr- und Lernformen übernommen und erneuert werden, die keines problembezogenen Austauschs von Lehrenden und Lernenden bedürfen. Einführungsvorlesungen beispielsweise; Handbuch-Darlegungen; Seminare, die Paukstoff präsentieren. Der deutlichste Ausdruck der professoral geleiteten Verdummung besteht in der »Modularisierung«. Sie wird darum oft weitergegeben und technologisch reproduziert. Wie Fertiggerichte in den Supermärkten wohlfeil zu erstehen und nach kurzem Aufwärmen zu essen sind – damit man sich nachzivilisatorisch erhalte –, so werden die Fächer, ob sie über angeblich geschlossene Paradigmata und Methoden verfügen oder nicht, in einer Serie von eingeführten Normalgerichten problemverschlossen gepackt und hirnlicher Schnellaufnahme gemäß verabreicht. Mit anderen Worten, sachliche und methodische Probleme werden in einem Studium entbeint, das entsprechend examinierte Normalabschlüsse und genormt einsetzbare

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Personen bietet – oder auch arbeitslose Arbeitsagenturmobilisierte. Damit ist nicht nur die wissenschaftliche Unruhe homolog zur Uhr aller Lernmechanik entnommen worden. Es ist auch dafür gesorgt, dass man von den Studierenden nur die Crème de la Crème forschend, innovierend, leitend weiter gebrauchen könne. 5. Darin besteht die zweitschlimmste Folge. Die Einübung von Ungleichheit, als sei sie in Hirnen und Habitus der Studierenden naturgegeben. Wer nur den Bachelor gemacht hat, hat nur verdient, was des Bachelors ist. Bachelor, bleib’ bei deinen Leisten. Ungleichheit erscheint nur als bildungslogische Folge naturgegebener und im freien Willen der Einzelnen begründeter Anstrengungen. Und wollte jemand das nachhaltige Bildungswachstum in seiner »Ökologie« in Frage stellen? Hat jemand Einwände gegen die neue Arroganz (und menschenrechtlich demokratische Ignoranz) derjenigen, die das »System« wie die »systemischen« Banken »leistungsgerecht« tragen (und darum alle Boni verdienen)? Bis an die Schwelle der Gegenwart bestand ein Haupteinwand gegen die Universitäten darin, dass sie hohe Klassen- und Geschlechterschranken setzten, in sie hinein zu gelangen. Darum wurden viele, bis heute unzureichende Versuche unternommen, Bauernkindern und Arbeiterkindern und jungen Frauen den Weg in die Universitäten zu erleichtern und die sozial elitären Hürden herabzusetzen. Abgesehen von nach wie vor bestehenden, erheblichen sozialen, in die Schulen zurückreichenden Diskriminierungen wird mit der Bachelor-/ Master-Teilung zum ersten Mal in deutschen Landen eine gleichzeitig sublimere und in die Personen verlagerte Klassenteilung durch das Studium legitimiert. Der allgemeine disziplinäre Verinnerlichungs- und Individualisierungsprozess – oh Freund der Analyse Foucault! – verlängert allemal die klassenpolitisch verlegten Spurweiten der Schienen. 6. Das wird am Spießrutenlauf durch Noten einsichtig, der das Studium kanalisiert, sanktioniert und prämiert. Wie im allgemein hoch gehaltenen, von Norbert Elias geradezu naiv beschriebenen »Prozess der Zivilisation« wird darauf gesetzt, dass die außen gesetzte Notendisziplinierung als Selbstdisziplinierung verinnerlicht werde. Und wer diese Verinnerlichung am Besten geschafft hat, wird graduierte Leistungskönigin oder ihr männliches Pendant. Diese Art Studieneinteilung und Abfolge, die zugleich einer individualistisch nach innen verlagerten Taylorisierung gleicht – gedankenfertig,

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schnell und im Einzelnen kompetent die vorab normierten Studienteile verfertigen –, hat zur weiteren Folge eine schier restlose Verdinglichung des Studiums. Problematisierungsfähigkeit, Phantasie und allemal persönlich zu lernende Kritik der wissenschaftlichen und politischen Urteilskraft bleiben als Kollateralgüter liegen. Die schaffen bekanntlich allenfalls kritische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Hinnahme und Tun, was man soll, sind jedoch gefragt. 7. Am Beginn hob ich hervor, dass ein Lob der Vergangenheit nicht angebracht sei. In nahezu keiner Hinsicht. Die Spuren der Universitäten während der nationalsozialistischen Herrschaft, ihrer nicht Kritik bekennenden Professoren, allenfalls in »machtgeschützter Innerlichkeit« zurückgezogen (Thomas Mann), ihrer nazistisch bekennenden oder mitlaufenden Studenten »arischen Geblüts« schrecken, solange Menschen aus der Geschichte nicht nur lernen, dass man nichts lerne. Eines freilich besaßen die Universitäten beispielsweise noch zu meiner Studentenzeit in der zweiten Hälfte der 50er Jahre jedenfalls – in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und brisenhaft auch in den naturwissenschaftlichen, den ingenieurwissenschaftlichen, den medizinischen (ich befinde mich nun fast im 110. Semester, ein nicht tragfähiger Langzeitstudent!): eine Fülle von Nischen; sanktionslos aufschiebbare Prüfungen; ungleich mehr Spielräume, sich mitsamt den Examina das Studium ein gutes Stück weit selbst zusammenzusetzen und damit auch – mit Karl Valentin über die Differenz von Säuen geredet – zwischen »dummen und undummen Professoren« auszuwählen. Diese Wahlchancen verschiedener Art bargen, wie sich versteht, Risiken in sich. Zum Beispiel: das Studium zu vertändeln. Zum Beispiel: sich zwischen all den Nischen und Wahlchancen nicht zurecht zu finden. Darum bleibt es sinnvoll, viele Geländer anzubieten. Die Studienfreiheit, jedoch nicht nur als Phrase, und eine kräftige Brise Ulrich von Hutten aus der Zeit des deutschen Humanismus, sind für das Studium (junger) Erwachsener unabdingbar: Damit sie Personen werden. Damit Lernen in angstfreier, kognitiv befreiender Neugier geschehe und also lernoffen bleibe (Ulrich von Hutten: »O Wissenschaft, es ist eine Lust zu leben. Die Studien blühen, die Geister regen sich.«) 8. Nicht von ungefähr kommt, dass Teilung, Beschleunigung, Zunahme an Kontrolle mit zentralisierenden Effekten verbunden sind. Außerdem nimmt

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die Außensteuerung zu. Letztere wird freilich im Sinne der oben genannten PPP, der Schleifung der institutionellen und habituellen Grenzen, zugleich als Innensteuerung wirksam. Das akademisch wissenschaftliche »Gefühl«, die früher mit korrupten Sprengseln wie selbstverständliche Annahme schwinden, dass zwischen Wissenschaft(en), ihren Vertretern einerseits und »Markt« und seinen Anforderungen andererseits Differenzen bestünden, die explizite Übersetzungsregeln forderten. »Markt«, im Sinne von weltmarktmächtigen Postulaten, die u.a. nationalstaatlich übersetzt werden, ist nun (fast) alles. Das ist des exzellenten Pudels harter und weicher Kern zugleich. Er ist passend zu scheren, zum Hundefriseur zu schicken und monetär zu parfümieren. Die Zunahme an Zentralisierung, zuerst an den universitären Präsidenten und ihren bürokratischen Untersätzen zu beobachten, geht zum Teil auf die nicht rechtzeitig gründlich reformierte akademische Selbstverwaltung zurück. Letztere ist seit langem ein aufwändiges Desaster. Sie hat dem Krähenprinzip zu immer neuem Blockaderuhm verholfen. Die Art und Weise jedoch, wie die Präsidialverwaltung bis ins Prüfungsdetail heute in die Fachbereiche »durchgreift«, ist dem bürokratischen Effizienzpostulat geschuldet. Sie ist außerdem ein Ausdruck des mit Bologna verbundenen Versuchs, die Universitäten und ihre Fächer den ökonomischtechnologischen Hauptströmungen gerecht zu kanalisieren. Von den Zielen aus betrachtet: Lehre, Lernen, Kritik, Forschung, Wahrheit im Sinne von peinlicher Transparenz u.ä.m., fährt das Zentralisierungs- und Kontrolltandem in gesamtpolitisch kostenreiche Einbahnstraßen. Diese Feststellung verschlägt freilich in Sachen Herrschaftskorrektur wenig, wenn Lernen keine Herrschaftssache ist und ihre Vertreter, wie die Universitätspräsidenten, allgemein mit Matthias Claudius gesprochen »getrost« substantiell aufklärerische Wege in Forschung und Lehre »belachen« können (siehe an Weisheit nicht auszuschöpfen: »Der Mond ist aufgegangen...«). 9. Die Summe des »Bologna-Prozesses« ist nüchtern zu ziehen und eindeutig. Das, was damit – zuvor schon verfahrene Zustände in seinen Änderungen perfektionierend – angestrebt wird, ist kurz und knapp als AntiUniversität zu bezeichnen. Mit wissenschaftlichem Lernen, aufklärerisch orientierter Forschung, mit dem Versuch, durch diese besondere Institution die Chancen der Humanisierung der Gesellschaft und ihrer Demokratie zu verbessern, mit allem dem und Ähnlichem haben die »Reformen« in perverser Umstülpung nichts zu tun. Die mit dem »Bologna-Prozess« verbun-

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denen Instrumente und Maßnahmen sind darum nicht mit einigen Retouchierungen und Modifikationen so umzubiegen und anzuwenden, dass man von Reformschritten reden könnte, die den drückenden Problemen der Universitäten heute in angemessener Richtung gerechter würden. Ohne die Kritik zu wattieren, darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass selbstredend an den Universitäten eine Fülle von Lehr- und Lernprozessen, von Lehrenden und Lernenden stattfinden und agieren, die trotz schwieriger Kontextbedingungen das betreiben, was Lehre und Lernen verlangen. Fast keine Institution wie kein Mensch sind faulig schimmligen Tomaten vergleichbar, die in Gänze missraten und darum wegzuwerfen sind. Was bleibt den jüngeren Kolleginnen und Kollegen, was bleibt vor allem den Schülerinnen und Schülern anderes, die zu Recht studieren wollen, als zu lehren und zu studieren, so gut es die Bedingungen irgend zulassen? In einem ähnlichen Vortrag habe ich jüngst den Studierenden zugerufen, sie sollten sich um ihres Selbstwerdens, ihrer Bildung, ihres späteren Berufs willen, nicht ihre Neugier aufs Studium, ihre Lust zu studieren, ihr Interesse, mit einem guten Abschluss die Uni zu verlassen, vermiesen, versauern oder sonst wie verstellen lassen. Als liefe man sein Leben lang oder nur Jahre, weil einem vieles – und dies vielleicht aus gutem Grund – nicht passt, miesepetrig durch die blumigen oder auch regnerischen Gassen. Das gilt. Nie wird man auf einige Dauer Umstände, übrigens auch in sich selbst, finden, die die Langeweile des FFE, von Friede, Freude, Eierkuchen erlaubten. Also gilt es, heute wie gestern und morgen um die eigene Lehre, um das eigene Lernen zu kämpfen. Dabei mag man sogar – und tatsächlich nach dem alten lateinischen Schulspruch – am meisten lernen (non scholae – non universitati [Küchenlatein] – sed vitae discimus). 10. Lachen, Ironie, Spaß und Kritik sind Gesellen, die man, so irgend möglich, nie zu lange vergessen sollte. Wer hielte den Jammer sogenannter großer Politik anders aus (von Zwergen der Zwerge betrieben). Und zynisch sollte man um seiner selbst willen schon nicht werden. Wenn das gelingt, kann auch die Gefahr vermieden werden, dass man bequem rationalisierend, rationalisierend bequem, den Umfang eines Fehlers auf die Dauer zu übersehen geneigt ist. Das, was »Bologna-Prozess« genannt wird; das, was insgesamt die Universitätspolitik ausmacht, die »Exzellenzinitiative« und der umgesetzte Versuch, »Clusters of Excellence« zu schaffen, das und damit verbundene Begleitphänomene sind geradezu radikal falsch. Sie blo-

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ckieren dringende Reformen. Sie lassen lebenswichtige Forschungen mitsamt allem Ethikgeschwätz verantwortungslos laufen. Sie verstärken die ohnehin menschenrechtlich demokratisch katastrophalen Ungleichheiten. Sie blockieren Lehr- und Lernprozesse, die selbstbewusst handlungsfähige Personen förderten. Und sie verstärken die Vereinzelung zwischen denen, die kooperieren müssten: den Lehrenden, den Forschenden und den Studierenden. Nicht Individualisierung im Sinne selbstständig gehfähiger Personen – Atomisierung, das abwertende griechische Synonym, ist Trumpf. Darum gibt es kein Mitlaufen und Mitmachen über die Minima schmutziger Hände hinaus, die niemand vermeiden kann.

B.

Andere bildungspolitische Formen und Inhalte – Nur ein erinnernder Ruf

1. Aus dem bundesbildnerisch gerundeten Mund Frau Schavans entspringen junge Kritiker des Bachelor-Studiums reformwillig beruhigende Töne. Kultusminister verlautbaren. Die Rektorenkonferenz gleicher Weise. Der Wissenschaftsrat und andere hehre Gremien bekannter Kurzsichtigkeit stimmen ein. Am großen Werk des Bachelors wird gewerkstückelt: Es könnten auch acht statt sechs Semester sein. Das engstarre, genauer, und wörtlich, das engstirnige Prüfungsraster werde etwas flexibilisiert. Stipendien, freilich noch mehr elitär, sprich eigenartig »leistungsgestuft«, sollen in dieser Weise allgemein vergeben werden. Blumendolden verströmen betörenden Duft für nicht Immun- oder Bologna- Geschädigte. Umfragen haben ergeben (Mai 2010), dass die Studierenden etwa an der Freien Universität zu Berlin mit dem Bachelorstudium, nicht zuletzt seinem »wissenschaftlichen« Gehalt (sic!) mehrheitlich zufrieden sind. Kann, ja muss der hier schreibende Kritikaster nicht endlich lernen? Es sei denn, er sei, bezeichnend für seine Position, argumentetaub. Jedes Reförmchen ist aktuell zu begrüßen, das ein falsches Studienmuster, und sei es noch so sachte, korrigiert, das falschen Habitus prägt und kognitiv unterfordert, zugleich aber prüfungsharscht. Indes dürfen die Reförmchen nicht einen Augenblick vergessen lassen, dass zum einen der Bachelor nur ein Teilstück des »BolognaProzesses« darstellt. Zum anderen korrigieren die leichten Veränderungen den lernwidrigen Charakter des Bachelorstudiums nicht. Die angeführten Umfragen können nicht als Beleg zureichender Änderungen angeführt wer-

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den. Die dem Anscheine nach neutralen Fragen sind Studierenden gestellt worden, die andere Möglichkeiten nicht kennen. Sie sind, um quantitativer Ergebnisse willen, an Studierende gerichtet worden, ohne die Fragen und Antworten auf ihren kognitiven und habituellen Gehalt zu überprüfen. Solche Umfragen können nur diejenigen als »Wahrheitstest« akzeptieren, die bachelor-unkritisch solche Umfragen unkritisch auslegen, als gäben sie gegründete Wirklichkeit wieder. Der Schluss des vorhergehenden Abschnitts, A. 10., gilt uneingeschränkt weiter. Die neuen modularisierten Studiengänge und ihre Armierung mit Prüfungen sind grundfalsch. Werden sie, um des wichtigsten Werts substanzloser Politik, mit Akzeptanzfähnchen bespickt, ändert das ihre Disqualität nicht. 2. Ginge man darauf aus, das zu eruieren, was bildungspolitisch gegenwärtig – das heißt zukunftsgerichtet – Not tut, wären an erster Stelle drei zusammenhängende Schritte zu tun. (Der Verf. ist dabei, sie mit Kolleginnen und Kollegen zu gehen. Ob’s auch nur konzeptionell etwas wird, wird sich zeigen.) Zum Ersten käme es darauf an, anhand einer nicht zu verkürzten und zu lückenhaften Phänomenologie gegenwärtiger, letztlich global gegebener Probleme herauszufinden, welche Kenntnisse und Fähigkeiten im Sinne von studierten Minima verlangt sind, damit entsprechend ausgebildete Personen nicht mit schmalem Fachwissen, ansonsten orientierungs- und urteilslos, in einer ihnen weithin verschlossenen Welt herumirren, statt zu agieren. Zum Zweiten bedarf es einer Anamnese dessen, was Menschen brauchen, vor allem solche, die sich noch im besten Lernalter befinden, um wie die kleinen Kinder, nur etwas verschoben, die ihnen vorgesetzte »Wirklichkeit« begreifen zu können. Um ihrerseits ergreifend in dieser urteilsund handlungsfähig zu werden. Der allgemeine, für jedes Menschenkind geltende Anspruch und das ihm zugrundeliegende rumorende Bedürfnis auf Bildung mit den damit verbundenen Ansprüchen ist historisch anthropologisch herzuleiten. Daraus wird zuerst einsichtig, dass Lernen, das Kennzeichen von homines sapientes schlechthin, immer primär als sozial gebettetes Lernen stattfindet (oder blockiert wird). Also muss es kognitive und habituelle Bedingungen eng aufeinander bezogen umfassen. Der zweite Bestimmungs- und Begründungsschritt ist mit dem dritten eng verbunden. Es kommt darauf an, legt man auf demokratische und menschenrechtliche Umgangsformen und Kriterien des Handelns wert, möglichst genau einzukreisen, welcher Kenntnissozialisationen und Fertigkeiten

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es bedarf, damit friedsam konfliktfähige, Andere und Andersartigkeiten achtende Bürgerinnen und Bürger möglichst dafür förderliche Lernbedingungen antreffen. 3. Eine der ersten Konsequenzen der unter 2. genannten Schritte dürfte sein, eine tertiäre Lernphase, konventionell Studium genannt, für alle jungen Erwachsenen vorzusehen (und periodisch wiederholt für alle in Berufen befindlichen). Anders haben Minima demokratischen Verhaltens keine Chance. Anders riskiert man Gewalt zeugende Verwerfungen. Menschen werden in heutigen Gesellungen zu Bürgerin und Bürger in kleinen oder größeren Kreisen nur, wenn sie ein gutes Stück ihrer Wirklichkeit verstehen. Das heißt auch, sokratisch die Grenzen des Wissens, ja des Wissbaren ahnen. Um zu solchem »Wirklichkeitswissen« in der Lage zu sein, gehört heute notwendig mit Abstraktionen hantieren zu können dazu, ohne sich ihnen ohnmächtig oder projektiv preiszugeben. Weil gegenwärtige Wirklichkeit von dem ausgemacht wird, was man pauschal »Informationsgesellschaft« nennt, gehört das methodologisch-technologische Verständnis über Aussagewert und Interpretationsbasis von nie selbstverständlichen Informationen ebenso nötig zu aller Bildung, wie die Vermittlung von Urteilsfähigkeit anstelle verkürzter Vorurteile. Dazu aber sind eine wohlausgebildete, nie ruhende Vorstellungskraft und eine Basis des Urteilens vonnöten, die allen Dogmatismus vermeidet (Kant hat das trefflich begründet). 4. Damit kognitive und habituelle Lernformen und Lerninhalte sich dauernd untereinander befruchten können, sind eine Reihe von Lernformen und die praktische Vermittlung prinzipieller methodologischer Fähigkeiten erforderlich. Zu den Lernformen gehört die weitgehende Anlage von Studiengängen im Sinne des von John Dewey formulierten Prinzips: learning by doing. Zu ihnen zählen gleicherweise exemplarisch-experimentelle Lernformen. Methodologisch ist das Verfahren vom (fachlich) Besonderen zum (überfachlich) Allgemeinen geboten, um in jeder Disziplin interdisziplinäres Lernen einzugemeinden. Vom eher Induktiven zum eher Deduktiven geht auch der Weg, das Theoretisieren zu üben. Dieser Weg wird durch die Vermittlung fertiggebackener Paradigmata meist nur blockiert. Hinzu gesellen sich neben Kurstypen, die blockartig angelegt sind, die Wochen und Monate rund um ein Problem kreisen, die aller Zusammensicht nötige Teilnehmende Beobachtung, die ethnographische Methode schlechthin.

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Was tun? Die Dauerfrage, jeden Tag zu erneuern, und prekäre Antwortsplitter

1. Der Rückgriff auf bewährte Muster genügt nicht. Neue Kontexte und neue Dimensionen der Wirklichkeit würden von vornherein verfehlt, abgesehen von allemal wenigstens nachträglich erkenntlichen Mängeln. Das viel zitierte Rabbi-Wort ist ernst zu nehmen: Tradition heißt nicht Asche aufzubewahren, sondern die Flamme am Brennen zu erhalten. Und wie viele Leuchtfeuer, phosphoroi, erhellen unsere Zeit. Um sich aber verlässlich, zukunftsgewandt im Sinne einer in Erfahrungen begründeten, aber nicht in Erfahrungen aufgehenden Weise zu orientieren, ist ein utopischer Horizont erforderlich. Das, was Ernst Bloch docta spes genannt hat, die gelernte, immer neu lernende Hoffnung. Sie meint das Gegenteil einer Illusion perfekten Glücks oder konflikt- und widerspruchsfreier Plansysteme. Solche reichten von der Frühmoderne bis zu den regierenden Terrorismen des 20. Jahrhunderts. Diese perfekten Zwangsmuster waren nicht für Menschen »aus Fleisch und Blut« vorgesehen. »Übermenschen« waren für sie erforderlich. Sie waren entsprechend mörderisch totzuschaffen. Eine universitäre Utopie müsste im Sinne der drei Schritte, die im Abschnitt B.2. skizziert worden sind, aus den uns historisch kenntlichen Erfahrungen von Menschen mit Menschen rekonstruiert und in den Kontext der dynamischen Faktoren der heutigen Wirklichkeit gestellt werden. Ein solcher, nicht planquadratisch ausgeführter utopischer Horizont aber ist unabdingbar, will man nicht reaktionär in der Vergangenheit versumpfen oder urteilslos opportunistisch in der Gegenwart taumeln, ohne genauer zu ahnen und bewusst anzustreben, was für einen selbst, was für Menschen heute und morgen um ihrer immer gefährdeten Menschlichkeit Willen am Wichtigsten wäre. 2. Mit einer kriterienklar vorgestellten Universität, wie sie sein könnte und müsste, verfügte man auch über ein Maßverhältnis. Dieses kann und darf im Einzelnen nicht eindeutig ausfallen und geeicht sein (als wäre es erlaubt, in der Küche der Gegenwart für zukünftige Esser fertige Speisen stellvertretend auszudenken). Allein eine profilierte Vorstellung andersartiger, »wahrhafter« Universität und ihrer angemessenen Lehr-/Lernprozesse erlaubte jedoch eine nüchterne und radikale Kritik der gegenwärtigen Zustände. Sich kein X für ein U vormachen zu lassen, kann als einer der ersten

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grundsätzlichen Lernschritte gelten, den wir schon mit kindlich gerundeten Beinen anstreben, fallsanft mit kleinen Kniewunden. Und dann geht Lernen weiter. Gegenwärtig heißt das, wie in allen menschlichen Gegenwarten, zu einer täglichen Gratwanderung in der Lage zu sein. In der Regel sind die gegebenen Umstände nicht so eingerichtet, dass man sich in ihnen wohlig einzurichten vermöchte. Gerade im Studium wird das offenkundig. Umso wichtiger ist, nicht schon spätestens im zweiten Semester zu resignieren oder zu tun und mit sich tun zu lassen, was in Richtung der herrschenden Regeln des Mainstreams treibt. Das Bachelorstudium ist, ich wiederhole mich, grundfalsch. Aber auch in ihm, (das niemand einfach abschaffen kann, es sei denn, er oder sie traue sich einen Ausweg im Niemandsland zu), im schier totmodularisierten Studium, sage ich, kann man, teils wider den Strom, teils mit dem Strom, eigenes Schwimmen üben. Dafür, dass man die unzureichenden Lehrangebote im eigenen Sinne ausnütze, ist es nicht nur wichtig, sich neu und neu vorzustellen, was man will, was einem frommt, was einem passt und nicht passt. Dann wird man Lücken, Umgehungsmöglichkeiten und Zusätze entdecken. Dafür, dass man ein Stück widerständiges Verhalten lernt und erfolgreich übt, ist es ratsam, sich mit anderen Studierenden, und sei’s mit wenigen, sei’s mit einer und einem zusammenzutun. Die Universität, als bürokratisch unübersichtliches Monstrum, dissoziiert. Sie treibt Atomspaltung in dem Sinne, dass sie soziale Zusammenhänge nicht befördert, sondern, nicht zuletzt durch dauernd eingepaukte Konkurrenz, mit positiven und negativen Sanktionen zerhackt. Also ist selbst der geringste, allemal schwierige und oft jedenfalls zeitlich kostenreiche Versuch, Assoziationen zu bilden, ein wichtiger Gegenschritt (mit Assoziationen hebt übrigens alle Politik im herrschaftsfreien Sinne an). 3. Eine alte Erfahrung besagt, je mehr Kontrolle, je mehr Prüfungen und abverlangte Anforderungen, desto mehr versuchen die Kontrollunterworfenen, die Geprüften, Auswege, Umwege, diese und jene Tricks, auch Täuschungen. Das gehört auch heute universitär zur Überlebens-, ja zur Lerndevise. Dass man möglichst nicht um der bloßen Faulheit willen, sondern mit eigener Vernunft lernt, listig sich zu verhalten, Löcher auszumachen, hier und dort das zu betreiben, was Religionsgemeinschaften den »frommen Betrug« nennen (pia fraus). »Fromm« wird ein Betrug in diesem Sinne dann, wenn er auf die Rettung substantiellen Lernens abzielt, möglichst so-

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gar durch das offizielle Lehr- und Lernkonzept legitimiert. Der hauptsächliche Lernfortschritt besteht darin – und wiederum sind Assoziationen hilfreich –, dass eine Studierende und ein Studierender dem Bachelor- und Modularisierungs-, aber auch dem Master- und Exzellenzunwesen ausgesetzt, die Bedingungen dieser Studiengänge erfüllen. Dass sie aber, indem den Bedingungen entsprochen wird, einen allmählich zunehmenden intellektuell-habituellen Emanzipationsprozess durchlaufen. Emanzipation, das heißt wörtlich, sich aus dem Griff eines aufgeherrschten Studiums befreien. Lernen durch Gegenlernen lautet die Kurzformel. Summa summarum besteht die bleibende Aufgabe, die die Bachelorund Masterstudierenden aller Art mit Leuten wie mir vereint, wie sie von Theodor W. Adorno, dem Philosophen und Gesellschaftsanalytiker des 20. Jahrhunderts schlechthin, in seinen Minima Moralia 1946 formuliert worden ist: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht, sich dumm machen zu lassen.«3

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Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008.

Hochschulpolitisches Engagement in Zeiten, in denen niemand mehr Zeit hat T ILL P ETERSEN

1. S ELBSTVERWALTUNGS -M ODUL : N ICHT VORGESEHEN »§ 9 Allgemeine Rechte und Pflichten (1) Die Hochschulen und ihre Mitglieder sind gehalten, die ihnen durch Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes und durch dieses Gesetz verbürgte Freiheit in Lehre und Studium, Forschung und Kunst im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor der Gesellschaft auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung zu nutzen und zu bewahren.[...] (3) Die Mitwirkung an der Selbstverwaltung ist Recht und Pflicht der Mitglieder«.1

In der gesamten Bundesrepublik waren die Landesregierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte wenig schüchtern, die Vorgaben von Bertelsmann-stiftung und Co. umzusetzen und die akademische Selbstverwaltung unter dem Vorwand globaler »Wettbewerbsfähigkeit« zu einer unternehmensartigen »Managementstruktur« zu verhunzen. Ausdruck dieser Politik sind die Reduzierung, Hierarchisierung, Kompetenzbeschneidung und Bürokratisierung der Gremien und Leitungsorgane. Die Konsequenzen sind Hochschulen, in denen kaum jemand weiß, was der

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Hamburgisches Hochschulgesetz, Juli 2001, Fassung vom November 2010.

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oder die andere macht, entsprechendes Chaos und zermürbender Verwaltungsaufwand, um trotzdem alles irgendwie am Laufen zu halten. Dass dies immer noch gelingt, ist wesentlich dem Umstand zu verdanken, dass – gegen den Trend – viele der in den siebziger Jahren erkämpften Möglichkeiten zur demokratischen Verständigung und Entscheidungsfindung wiederum verteidigt werden konnten. Immer noch können Studierende, Lehrende und Mitglieder des Technischen und Verwaltungspersonals in gemeinsamen Gremien über die weitere Entwicklung ihrer Einrichtung beraten. Ebenso existiert – bis auf in einigen wenigen ausgeprägt konservativen Regionen – die studentische Interessenvertretung in Verfassten Studierendenschaften fort. Diese kämpferisch bewahrten Möglichkeiten demokratischer Beteiligung zur Geltung zu bringen, fällt den Mitgliedern der Hochschulen jedoch immer schwerer. Die Verwaltung ertrinkt mit reduziertem Personal in der genannten Chaosbewältigung. Die Lehrenden müssen einen Großteil ihrer Zeit mit der Erfüllung von Ziel- und Leistungsvereinbarungen und der Jagd nach Drittmitteln vertun. Und die Studierenden? Sie finden unter den restriktiven Bedingungen der durchmodularisierten und strikt gegliederten gestuften Studiengänge ebenfalls kaum mehr die Ruhe für die demokratische Wahrnehmung ihrer Interessen. Selbst wenn zwischen den dicht aufeinander folgenden Lehrveranstaltungen, dem Büffeln für die nächste studienbegleitende Prüfung, der Lichtung des Durcheinanders in der elektronischen Anmelde- und Prüfungsverwaltung, dem Jobben für die Studiengebühren und dem Versuch, durch die Berge von formalen Vorgaben für das Studium durchzusteigen, noch das eine oder andere Zeitfenster für die Wahrnehmung ihrer demokratischen Bürgerpflichten durchhuscht: In einem solch entfremdeten Fließbandlernen ist der Kopf meist für diese eigentlich erfreuliche Sache nicht frei. So wird, was an Demokratiemöglichkeiten strukturell gerettet wurde, kulturell massiv beschränkt.

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2. H EGEMONIEKAMPF UM DIE W ISSENSCHAFT I: H ERRSCHAFTSSICHERUNG ODER E MANZIPATION »Nicht nur der Glaube versetzt Berge: die Kraft des Wissens ist ganz ebenso zuverlässig. Das Wissen ist revolutionär. Wer mehr weiß, hat für die Unwissenden mitgelernt und lebt für ihre Befreiung, und selbst wenn er gerade das nicht wüßte.«2

Angesichts der desaströsen Auswirkung der gestuften Studiengänge drängt sich die Frage auf, mit welcher Funktion diese überhaupt eingeführt wurden. Für die Ausrichtung von Bildung und Wissenschaft sowie ihrer Subjekte auf ihre unmittelbar profitable Verwertbarkeit. Zur Vertiefung dieser These soll hier ein Blick in die jüngere Geschichte helfen. Im Adenauer-Deutschland nach 1945 diente das Hochschulstudium der Ausbildung der funktionalen Eliten: Es ging um die intellektuelle Herrschaftssicherung im restaurierten Kapitalismus. Die 68-er wendeten sich gegen die reaktionäre bis faschistische Kontinuität – einstige Chargen des braunen Regimes in Staatsämtern und auf Professorenstellen gehörten zum Alltag –, gegen den Kalten und den Vietnamkrieg sowie gegen den Muff der allgegenwärtigen Spießerkultur der »Wirtschaftswunder«-Ära. In dieser Gegnerschaft konnte positiv der kritische Bezug der Wissenschaften auf die (Ausbeutungs-)Gesellschaft und als Teil dessen die soziale Öffnung der Studiengänge durchgesetzt werden. In dieser emanzipatorischen Tradition stehen die klassischen Magister-, Diplom- und Staatsexamensstudiengänge, die als Teil und in Folge der 68er-Umwälzung an den Hochschulen inhaltlich umfassend neu konzipiert wurden. Mit dem Wegfall der Systemalternative 1989 kam es in den Hochschulen zu einem Verfall der inhaltlichen Stringenz oder wenigstens klar nachvollziehbarer Konfliktlinien in den Studieninhalten. Mit dem damals postulierten »Ende der Geschichte«3 fehlte den Wissenschaften zunehmend die Motivation, Teil einer über das jeweilige »Jetzt« hinausgehenden Entwicklung zu sein, auch wenn diese Perspektive nicht zwingend über den Kapitalismus

2

Mann, Heinrich: »Geheime Schulen« (1935), in: ders.: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe in neun Bänden, Bd. 6, Bielefeld: Aisthesis 2009.

3

Vgl. Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte, Berlin: Kindler 1992.

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hinausweisen musste. Diese Schwäche der wachsenden Beliebigkeit nutzten die Apologeten des Neoliberalismus für die Delegitimierung der klassischen Studiengänge und zur Durchsetzung der pur marktorientierten BA/MAStudiengänge: Die Wissenschaften sollten nun wieder dominant der Herrschaftssicherung dienen durch die Zulieferung von »Humankapital«. Versuche einer echten Studienreform von unten durch eine gesellschaftsbezogene inhaltliche Neustrukturierung, wie in Hamburg z.B. in der Informatik, Physik oder Geschichtswissenschaft, wurden mit dieser dominanten Politik erstickt. Für die Zwecke dieser zweiten Restauration (seit 1989/90) ist demokratische Beteiligung hinderlich: Sie ist nicht nur vergeudete Zeit bei der zügigen Produktion von »Humankapital«, sondern bildet vor allem eine politischphilosophische Gefährdung der Ideologie von Wissenschaft als »Standortfaktor«. Je mehr die Lernenden auch institutionell Subjekte der Wissenschaftsentwicklung sind und sich selbst als solche begreifen, desto größer ist der Widerspruch zur inhaltlichen Reduzierung der Einzelnen auf die dienstbare Ware Arbeitskraft. Für die notwendige Renaissance von »68« und Aufklärung kommt es daher darauf an, in neuer Qualität inhaltliche Fäden der Emanzipation für die Wissenschaftsinhalte zu spinnen. Demokratische Partizipation ist dabei dann nicht nur das formale Recht der Beteiligung, sondern inhaltlich zu erfassen als Teil des Prozesses, die Bedingungen für die Verfügung der Menschen über ihre gemeinsame bewusste Entwicklung zu erlangen.

3. H EGEMONIEKAMPF UM I NTERESSEN

DIE

W ISSENSCHAFT II:

»Die einen haben das ›Recht‹, für das Vaterland sterben zu dürfen, andere ›dürfen‹ zu Hungerlöhnen arbeiten wobei dann wieder andere die saure Pflicht haben, vierundzwanzig Aufsichtsratsposten bekleiden zu müssen.«4

Der marktorientierte Zweck der gestuften Studienabschlüsse wird von den Befürwortern des Systems offen thematisiert. Den Aufschlag machten der

4

Wrobel, Ignaz [Kurt Tucholsky]: »... zu dürfen«, in: Die Weltbühne, 14.10.1930. Nr. 42, S. 597.

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Bundesverband der Deutschen Industrie und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die 1990 eine Konferenz unter dem Titel »Hochschule 2000 – Wirtschaft und Wissenschaft im Dialog«5 durchführten. Unter dem Grundkonsens, dass Bildung ein »Standortvorteil« sei und es um die Ausbildung von »Humankapital« (gemeint sind verwertbare Arbeitskräfte) gehe, stellte hier exemplarisch der Unternehmensberater Roland Berger die Forderung, »mehrstufige Ausbildungssysteme sollen Hochschulausbildungen für Karrieren mit mehr praktischer Orientierung einerseits und solche mit mehr wissenschaftlicher sowie Theorie- und Forschungsorientierung andererseits ermöglichen«. Drei Jahre später manifestierte sich diese Position in dem vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung vorgelegten »Eckwertepapier«, in dem es einleitend heißt: »Der Standort Deutschland muß auch in den Bereichen Bildung und Ausbildung sowie Wissenschaft und Forschung gesichert werden […] nicht zuletzt im Hinblick auf den sich verschärfenden weltweiten Wettbewerb.« 6

In diesem Dokument von 1993 wird gleich zu Beginn die Einführung folgender Unterscheidung gefordert: »1. Differenzierung an Universitäten zwischen, a) theoriebezogenem, berufsqualifizierendem Studium und b) Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für Tätigkeiten in Forschung und Wissenschaft.«

Die studentische Antwort damals: der »Eckwerte-Streik« an nahezu allen deutschen Hochschulen. Im Jahr 1997 rechtfertigt dasselbe Ministerium, mit Jürgen Rüttgers immer noch von der CDU gestellt, eine beabsichtigte Änderung der Hochschulgesetzgebung mit dem Positionspapier »Hochschulen für das 21. Jahr-

5

Bundesverband der Deutschen Industrie (Hg.): Hochschule 2000: Wirtschaft und Wissenschaft im Dialog, Köln: Deutscher Instituts-Verlag 1990.

6

Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung des bildungspolitischen Spitzengesprächs: Eckwertepapier, Bonn 1993, http://www.hopo-www.de/konzepte/ eckwerte/welcome.html; alle Hyperlinks dieses Artikels wurden zuletzt am 10.01.2011 überprüft.

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hundert«.7 Mit den schon bekannten Schlagworten »Wissensgesellschaft«, »Bildung als Standortfaktor« und »Humankapital« wird hier schon konkret für den »Bachelor für die Masse« und den »Master für die wissenschaftliche Elite« gesprochen und ein »Credit-Point-System« gefordert. Erneut antworten die Studierenden mit bundesweiten Streiks, die als »Lucky Streik« bezeichnet werden. Diese Kennzeichnung wird aber der zentralen Forderung »Bildung für alle« und damit der Ernsthaftigkeit der Ablehnung einer biologistischen Trennung in Masse und Elite und der Positionierung für ein egalitäres Menschenverständnis nicht gerecht. So sind auch diese Proteste wirksam: Wie schon mit dem »Eckwerte«-Streik gelingt es, die flächendeckende Einführung der gestuften Studienabschlüsse ebenso abzuwenden wie die angedrohten Studiengebühren. Die Seite der Unternehmen reagiert mit erhöhtem Druck auf die politisch Verantwortlichen auf gesamteuropäischer Ebene. Der European Round Table of Industrialists drängt nachdrücklich darauf, dass die für Wissenschaft zuständigen Minister in Bologna die Bedingungen für die Durchsetzung der gestuften Studiengänge schaffen. Die Thematisierung der beabsichtigten Trennung in »Masse« und »Elite« wird dabei geflissentlich umgangen und lieber von »internationalem Austausch« und »Kooperation« gesprochen. Das dahinter stehende Anliegen dürfte aber inzwischen klar geworden sein: Die am »Standort« ansässigen Unternehmen verlangen nach akademisch qualifizierten Arbeitskräften, bei denen der ganze Quatsch von kritischer Reflexion, Verantwortung der Wissenschaft und Ansprüche der Emanzipation nicht nur überflüssig, sondern auch störend sei. Eine weiterführende wissenschaftliche Weltaneignung soll demnach allein einer kleinen akademischen »Elite« vorbehalten sein. Die Handelskammer Hamburg spricht explizit davon, dass das Humboldt’sche Bildungsideal überholt sei und der Konzeption der Ausbildung von »Humankapital« weichen müsse.8

7

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Hochschulen für das 21. Jahrhundert. Diskussionspapier zur geplanten Novelle des Hochschulrahmengesetzes, Bonn: BMBF 1997.

8

Handelskammer Hamburg (Hg.): Hamburger Hochschulen reformieren – Mehr Freiheit für unternehmerisches Handeln, Hamburg 1999.

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Mit der europaweiten Etablierung des BA/MA-Systems hat sich der Unternehmerlobbyismus zwischenzeitlich durchgesetzt, allerdings um den Preis einer ebenfalls in ganz Europa diskutierten aktuellen Krise der Wissenschaften.

4. S CHEITERN »General, der Mensch ist sehr brauchbar. Er kann fliegen und er kann töten. Aber er hat einen Fehler: Er kann denken.«9

Die Ausführungen erlauben einen neuen Blick auf das Scheitern des BA/MA-Systems. Das Problem sind nicht einfach nur formale Fehler und Inkonsistenzen oder sogar nur übliche Kinderkrankheiten einer Reform. Die Ursache des notwendigen Scheiterns liegt im irrealen Menschenbild hinter den Zwecken dieser Studienreform. Die Idee der schlau-dummen Studierenden kann nicht funktionieren. Schlau genug für die Arbeit auf dem gegebenen, hohen wissenschaftlichtechnischen Entwicklungsniveau und gleichzeitig zu dumm für die kritische Reflexion sozialer Widersprüche, entsprechende Bekämpfung der Ausbeutung und Ansprüche demokratischer Verfügung – so mag der Traum des perfekten Menschen der Herren Ackermann & Co. aussehen, real aber kann das nicht klappen. Entweder die Menschen eignen sich eine wissenschaftlich-analytische Durchdringung von Zusammenhängen an oder nicht. Wenn sie aber angeeignet ist, gilt sie für alles im Leben und nicht nur bei der Lohnarbeit. »Fachidioten« werden dem heutigen Stand der Produktivkraftentwicklung nicht gerecht. Statt also in diesem Widerspruch, wie aktuell mit dem BA/MA-System, die Dequalifizierung überwiegen zu lassen, steht für den Ausgang aus der Krise eine neue Dominanz der emanzipatorischen und kritischen Ansprüche an Wissenschaft und Bildung an. Diese positive Entwicklungsperspektive muss Motor für die aktuellen Proteste werden.

9

Brecht, Bertolt: »General, Dein Tank ist ein starker Wagen« (1938), in: ders. Ausgewählte Werke in 6 Bänden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, Bd. 3.

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5. AUSBLICK »Jeder Zusammenbruch bringt intellektuelle und moralische Unordnung mit sich. Man muss sich nüchterne und geduldige Leute schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.«10

Die Krise des Studiensystems ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklungskrise erhöhen den Druck auf die Hochschulen, sich selbst neu Rechenschaft über ihre gesellschaftliche Funktion abzulegen. Die sich so eröffnende Möglichkeit einer humanistischen Neuorientierung der Wissenschaft erfordert dabei das kritische Engagement der Studierenden. Die akademische Selbstverwaltung und die Verfasste Studierendenschaft bieten dafür reichlich Gelegenheit. Es lohnt sich also, aus dem Hamsterrad des entfremdeten Studiums herauszutreten, sich mit anderen zu assoziieren und selbst Teil der Problemlösung zu werden. Die zeitliche Enge ist dafür zwar eine Einschränkung, aber kein Sachzwang. Wenn der Widerspruch zwischen den Zwecken der Studienanforderungen und dem eigenen objektiven Interesse gesellschaftlicher Emanzipation erkannt ist, eröffnet dies einen bewussteren Umgang mit dem entfremdeten Charakter des Studiums. Statt der Flucht in Privatleben und/oder Freizeitbeschäftigung zum Ausgleich kann sich stattdessen für die bewusste kritische Praxis als die wirklich befreiende Tat entschieden werden. Während Ersteres die deprimierenden Studienbedingungen und ihre Ursachen letztlich akzeptiert und perpetuiert, kann in dem solidarischen Engagement sogar bereits jene menschenbezogene kritisch-analytische Weltaneignung vorweggenommen werden, die mit dem politischen Wirken institutionell verallgemeinert werden soll. Als beispielgebend können die historischen Kämpfe der Arbeiter und Arbeiterinnen für die Herausbildung der ersten Arbeitervereine und Gewerkschaften gelten. Diese Kämpfe waren möglich, trotz Arbeitszeiten von weit über 90 Stunden in der Woche unter unmenschlichsten Arbeitsbedin-

10 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte (1929-1935), H. 28, § 11, Hamburg: Argument 1996.

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gungen. Die Kämpfe wurden gerade wegen dieser widrigen Bedingungen begonnen. Dabei konnten die brutal ausgebeuteten Menschen nicht einfach in eine Gewerkschaft eintreten, Rechtsschutz in Anspruch nehmen oder sich an den Betriebsrat wenden. All diese Dinge mussten erst noch entwickelt, erarbeitet, gegen Widerstand in den eigenen Reihen erstritten und bei niedrigsten Löhnen finanziert werden. Gegen die Rohheit der Lebensbedingungen war mit diesen solidarischen Kämpfen auch die eigene Kultivierung verbunden. Die eigene intellektuelle und kulturelle Entwicklung der Arbeiter waren notwendige Voraussetzung und Teil der Erringung der angestrebten Ziele.11 Eine Neuentdeckung und erweiterte Verwirklichung emanzipatorischdemokratischer Bildung und Wissenschaft ist für die weitere positive gesellschaftliche Entwicklung unumgänglich. Sich zum Teil eines solchen Prozesses zu machen, ist kein Märtyrertum, sondern bereits der Beginn einer persönlich und allgemein befreienden Entwicklung. Insofern sollten wir alle die Überschreitung nicht nur des BA/MASystems mit vollem Engagement und viel Freude angehen. »Wir wollen auf Erden glücklich sein, Und wollen nicht mehr darben; Verschlemmen soll nicht der faule Bauch Was fleißige Hände erwarben. Es wächst hienieden Brot genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder. Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen! Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen.«12

11 Literarisch ist dies ausgesprochen eindrucksvoll verarbeitet in Émile Zolas Roman »Germinal« von 1885, der wiederum filmisch gelungen umgesetzt wurde durch Claude Berri im Jahr 1993. 12 Heine, Heinrich: »Deutschland. Ein Wintermärchen«, Caput I, (1844), in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Windfuhr, Manfred, Bd. 4, Hamburg: Hoffmann und Campe 1985.

Autorinnen und Autoren

Arnold, Eva, Prof. Dr., ist seit 1989 an der Universität Hamburg im Arbeitsbereich Pädagogische Psychologie des Fachbereichs Erziehungswissenschaft tätig. Von 2004 bis 2005 war sie dort Prodekanin für Studium und Lehre; von 2005 bis 2010 versah sie dieses Amt in der neu gegründeten Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. In dieser Funktion erarbeitete sie gemeinsam mit den Vertreterinnen und Vertretern der Fächer sowie mit Studierenden die Umstellung der Studiengänge auf das gestufte Studiensystem. Im Jahr 2008 gründete sie die Servicestelle Evaluation, die die Umsetzung des Konzepts der Fakultät zur Qualitätsentwicklung in Studium und Lehre unterstützt. Seit Oktober 2010 ist sie Dekanin der genannten Fakultät. Fischer-Appelt, Peter, Dr. theol., Dr. h.c. mult., Prof., lehrt seit 1962 Systematische Theologie. Mitgründer und Vorsitzender der Bundesassistentenkonferenz 1968/69; Präsident der Universität Hamburg 1970-1991; Vorsitzender des United Nations University Ten Year Evaluation Committee 1986-87; im Europarat Präsident der Konferenz für Hochschulfragen 1989/90 und Vorsitzender der Lenkungsgruppe für das Programm zur Reform der Hochschulgesetzgebung in Mittel- und Osteuropa (LRP) mit Leitung von 65 Beratungsmissionen 1991-2000. Hochschulbezogene Publikationen u.a.: Kreuznacher Hochschulkonzept (Hg.) 1968; Wissenschaft und Politik 1971; The Future of the University as a Research Institution (Kellogg Lecture 1980) 1982; Concepts of University (Øyen-Festschrift) 1997; One Europe to Tend (Final Report LRP) 2000; The University of Reason (Muller-Festschrift) 2004. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Salzburg.

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Himpele, Klemens ist Diplom-Volkswirt und arbeitet als Referent im Bereich Hochschule und Forschung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Zuvor war er bei Statistik Austria in Wien und in einem Bildungsforschungsinstitut in Berlin beschäftigt. Er ist Mitglied im Beirat des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) und war während seines Studiums Referent für Bildungspolitik des AStA der Universität zu Köln sowie Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS). Lohmann, Ingrid, Dr., Professorin für Historische Bildungsforschung an der Universität Hamburg. Stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), Mitglied der Leibniz-Sozietät und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland; Analyse und Kritik der Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Bildungseinrichtungen mit zuletzt diesen Veröffentlichungen: »Momentaufnahme der gegenwärtigen Regierungsweise des Bildungssystems«, in: I. Sylvester/I. Sieh/M. Menz/H.-W. Fuchs/J. Behrendt (Hg.): Bildung – Recht – Chancen. Rahmenbedingungen, empirische Analysen und internationale Perspektiven zum Recht auf chancengleiche Bildung, 2009; Hg., mit Andrea Liesner: Bachelor bolognese. Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur, 2009; Bildung am Ende der Moderne. Beiträge zur Kritik der Privatisierung des Bildungswesens. E-Book, Universität Hamburg 2010. Masschelein, Jan, Dr., ist Professor für Bildungsphilosophie an der Universität Leuven in Belgien. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Kritische Theorie. Gegenwärtig konzentriert sich seine Forschung auf die öffentliche Rolle von Bildung. Er ist Autor zahlreicher Beiträge auf diesem Gebiet, u.a.: Pädagogisches Handeln und Kommunikatives Handeln, 1991; Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, 1996 (mit Michael Wimmer); Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des Europäischen Bildungsraums, 2005 (mit Maarten Simons); Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität, 2010; The learning society from the perspective of governmentality, 2007 (Mitherausgeber).

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Maxim, Stephanie, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Allgemeine Erziehungswissenschaft des Fachbereichs Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Mielich, Sinah, studiert Erziehungswissenschaft im Diplomstudiengang an der Universität Hamburg. Mitglied im Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft und Mitorganisatorin der Konferenz »Schöne neue Bildung?«; Mitautorin von »Endlich scheinfrei! Eine studentische Sicht auf die Studienreform«, in Liesner/ Lohmann (Hg.): Bachelor bolognese. Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur, 2009. Muhl, Florian, studiert Erziehungswissenschaft im Diplomstudiengang an der Universität Hamburg. Mitglied im Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft und Mitorganisator der Konferenz »Schöne neue Bildung?«. Narr, Wolf-Dieter, Prof. Dr., Politikwissenschaftler, lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für empirische Theorie der Politik am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität Berlin; Mitgründer und Mitsprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie. Pazzini, Karl-Josef, Dr., ist Professor für Bildende Kunst & und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Psychoanalytiker in eigener Praxis, Mitbegründer der »Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse« und des »Psychoanalytischen Kollegs«, Mitbegründer des Jüdischen Salons am Grindel (Hamburg) und der »Wissenschaftlichen Assoziation: Kunst – Medien – Bildung«, Mitherausgeber der Reihen »psychoanalyse« sowie »Theorie Bilden« und »Kunstpädagogische Positionen«. Arbeit an: Wahn-WissenInstitution, Bildung vor Bildern, Psychoanalyse & Lehren, Setting in der Psychoanalyse, Unschuldige Kinder; siehe auch http://mms.uni-hamburg.de/ blogs/pazzini/ Petersen, Till, studiert Lehramt Oberstufe allgemeinbildende Schulen an der Universität Hamburg. Er ist Mitglied im Fachschaftsrat Erziehungswissenschaft, im Rat der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft und aktiv in weiteren Gremien der akademischen Selbstverwaltung und der Verfassten Studierendenschaft. Hochschulpolitisch

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organisiert ist er in der Hochschulgruppe Liste LINKS, einem der Gründungsmitglieder des bundesweiten »Sozialistisch-demokratischen Studierendenverbands« (Die Linke.SDS). Prado Jr., Plínio W., ist Philosoph an der Universität Paris 8 Vincennes in Saint-Denis. Ausgewählte Publikationen zum Thema: »Die Universität, das Selbst und der gegenwärtige Markt«, in: Unbedingte Universitäten (Hg.): Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität, 2010; Das Prinzip Universität, 2010; siehe auch http://www.atelier-philosophie.org/ Ptak, Ralf, Dr. rer. pol., Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Vertretungsprofessor für ökonomische Bildung an der Universität Köln. Mitglied der Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik und des Wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland. Arbeitsgebiete: Markttheorie, ökonomische Theoriegeschichte, politische Ökonomie der Bildung. Letzte Veröffentlichungen u.a.: »Neoliberalism in Germany: Revisiting the Ordoliberal Foundations of the Social Market Economy«, in: P. Mirowski/D. Plehwe (Eds.): The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, 2009; »Grundlagen des Neoliberalismus«, in: C. Butterwegge/B. Lösch/R. Ptak: Kritik des Neoliberalismus, 2008; »Vom Wert des Wissens. Paradoxien der Wissensgesellschaft«, in: Forum Wissenschaft (2008) H. 3. Rieger, Laura, studiert Erziehungswissenschaft, Volkskunde / Kulturanthropologie und Psychologie im Magisterstudiengang an der Universität Hamburg; Mitorganisatorin der Konferenz »Schöne neue Bildung?«. Schuck, Karl Dieter, Dr., ist Professor für Psychologie der Behinderten am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. In Forschung und Lehre beschäftigt er sich mit schulischen und außerschulischen Entwicklungsmöglichkeiten von behinderten und von Behinderungen bedrohten Menschen, mit besonderen Schwerpunkten in der Bearbeitung diagnostischer und integrationspädagogischer Fragestellungen. Er war ab dem 1. April 2003 Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und bis Oktober 2010 Gründungsdekan der dortigen, neu gegründeten Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft. Seit 1998 hat er sich als Hochschullehrer und als Amtsträger mit der Implementation des gestuften Bachelor-/Master-Studiensystems beschäftigt.

A UTORINNEN

UND

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Wilhelm, Eva, studiert Erziehungswissenschaft, Volkskunde/Kulturanthropologie und Soziologie im Magisterstudiengang an der Universität Hamburg; Mitorganisatorin der Konferenz »Schöne neue Bildung?«. Wimmer, Michael, Dr. phil., Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse; Differenzphilosophie und Erziehungswissenschaft; Psychoanalyse, Medientheorie und Kulturwissenschaft; Ethik, Politik und Pädagogik. Publikationen: Der Andere und die Sprache. Vernunftkritik und Verantwortung, 1988; Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, 1996 (mit Jan Masschelein); Dekonstruktion und Erziehung, 2006; zahlreiche Beiträge und Herausgeberschaften, zuletzt: Lehren bildet?, 2010 (mit Karl-Josef Pazzini und Marianne Schuller).

Theorie Bilden Stefan Dierbach Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1468-8

Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0

Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3

Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4

Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9

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Theorie Bilden Sönke Ahrens Experiment und Exploration Bildung als experimentelle Form der Welterschließung

Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven

2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1654-5

2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1

Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit

Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten

2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2

2010, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1176-2

Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung

Florian von Rosenberg Bildung und Habitustransformation Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen

2006, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-455-3

Juni 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1619-4

Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze

Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband

2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9

2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-489-8

Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe

Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium

Juni 2011, ca. 342 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1680-4

Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7

2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1

Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-469-0

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